Stimme und Sprechen am Theater formen: Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ›für alle‹ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 9783839444849

How are voice and speech formed in different social contexts and which role do the practices of the theater play in this

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German Pages 340 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
DANK
1. Sprechstimmbildung ‚für alle‘ – von der Ausweitung einer künstlerischen Übungspraxis
2. Theoretische Grundlagen
3. Die Disziplinierung der Stimme und des Sprechens: Historische Betrachtung der Sprechstimmbildung vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
4. Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft: Untersuchung der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum von 1990 bis in die Gegenwart
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
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Stimme und Sprechen am Theater formen: Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ›für alle‹ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
 9783839444849

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Dorothea Pachale Stimme und Sprechen am Theater formen

Theater  | Band 114

Dorothea Pachale (Dr.) ist Theaterwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Dorothea Pachale

Stimme und Sprechen am Theater formen Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ›für alle‹ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Diese Publikation wurde 2017 unter dem Titel »Die Formung der Stimme und des Sprechens. Untersuchung zur Sprechstimmbildung zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Gegenwart« als Dissertation an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: cliersch / photocase.de (Detail, bearbeitet) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4484-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4484-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Sprechstimmbildung ‚für alle‘ – von der Ausweitung einer künstlerischen Übungspraxis | 9

2.

Theoretische Grundlagen | 51

2.1 Disziplinar- und Performancegesellschaft als Ausgangspunkt für die Analyse von Sprechstimmbildung | 52 2.2 Ökonomische Dynamiken zwischen Disziplinierung und Virtuosität: Sprechstimmbildung im Spannungsfeld von Leistung, Effizienz und Wirkung | 61 2.3 Theoretische Perspektivierungen von Subjektbildungsprozessen und Übungspraktiken in Hinblick auf die Untersuchung von Sprechstimmbildung | 71 3.

Die Disziplinierung der Stimme und des Sprechens: Historische Betrachtung der Sprechstimmbildung vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts | 79

3.1 Normierung des Sprechens durch das Theater – Die „Deutsche Bühnenaussprache“ (1898) von Theodor Siebs | 84 3.1.1 Intensivierung der Bemühungen um eine Normierung der Aussprache Ende des 19. Jahrhunderts | 85 3.1.2 Die Siebs’sche Aussprachekodifizierung als disziplinierende Normsetzung | 94 3.2 Disziplinierung durch Übung und Methode – Julius Heys Übungsbuch „Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags. I. sprachlicher Theil.“ (ca. 1882) | 110 3.2.1 Vom „Exemplarischen“ zum „Elementaren“ (Foucault): die Entstehung neuartiger Übungsbücher für die Stimme im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts | 113 3.2.2 Julius Heys disziplinierendes Übungsprogramm der Sprechstimmbildung | 118 3.2.3 Die Überarbeitungen des „Kleinen Heys“ durch Fritz Volbach (1912) und Fritz Reusch (1953) | 134 3.3 Die Institutionalisierung der Sprechstimmbildung innerhalb des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts | 141

3.3.1 Die institutionelle Verankerung des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zwischen 1897 und 1933 | 144 3.3.2 Die Ausgestaltung der Sprecherziehung in Lehrplänen und Schulungsangeboten | 161 3.3.3 Die Forderung nach ‚Ganzheit‘ in der inhaltlichen Konzeptionierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ | 168 3.4 Sprechstimmbildung in der Zeit des Nationalsozialismus | 186 3.4.1 Die ideologische Positionierung der Sprecherziehung im Nationalsozialismus | 190 3.4.2 Die verstärkte institutionelle Verankerung der Sprecherziehung | 201 3.4.3 Die Stimme in der nationalsozialistischen Rhetorik und der Stellenwert der Sprechstimmbildung in der Rednerschulung | 210 4.

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft: Untersuchung der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum von 1990 bis in die Gegenwart | 217

4.1 Die institutionelle Verankerung und ökonomischen Dynamiken der gegenwärtigen Sprechstimmbildung | 220 4.1.1 Sprechstimmbildung als Angebot im ‚freien Bereich‘ | 222 4.1.2 Ökonomische Dynamiken und Wirkungskonzepte der gegenwärtigen Sprechstimmbildung | 234 4.2 Zwischen Uniformität und Diversifizierung: Zum Stellenwert von Aussprachenormen in der Perfomancegesellschaft | 243 4.3 Zwischen Standardisierung und Spezialisierung: Die gegenwärtigen Übungsbücher für die Sprechstimme | 259 4.3.1 Der Fokus auf dem Körper: Themen, Übungen und Übungsansätze der Übungsprogramme | 263 4.3.2 Das Üben mit Übungsbuch und elektronischen Medien | 278 4.3.3 Entwürfe von Subjektivität im Hinblick auf die Wirkung und Bewertung von Stimme und Sprechweisen | 285 4.4 ‚Vorführen‘ und ‚Mitmachen‘: Die Praktiken des Übens in den Seminaren zur Sprechstimmbildung | 292 5.

Fazit | 307

6.

Literaturverzeichnis | 313

DANK

Ich möchte mich bei Bettina Brandl-Risi und Matthias Warstat für die vertrauensvolle Betreuung dieser Arbeit bedanken. Clemens Risi danke ich für seine Unterstützung und die Begeisterung für das Thema. Meinen Kolleginnen und Kollegen im theaterwissenschaftlichen Forschungskolloquium am Institut für Theater- und Medienwissenschaft Erlangen gilt mein besonderer Dank für ihr unermüdliches Mitlesen, die zahlreichen hilfreichen Anregungen und die stets konstruktive Kritik: Vivien Aehlig, Katharina Baur, Hans-Friedrich Bormann, Annika Gloystein, Anna Kampen, Denis Leifeld, Alexandra Martin, André Studt und Tessa Theisen. Ohne Ingrid Rauh hätte sich die Möglichkeit, diese Dissertation zu schreiben, vielleicht nicht aufgetan und für ihre Hilfe in allen arbeitsalltäglichen Fragen während der letzten Jahre bin ich sehr dankbar. Das Interesse, die Geduld und der Zuspruch meiner Familie und Freunde haben diesen Schreibprozess begleitet und wesentlich dazu beigetragen, ihn zu einem guten Abschluss zu bringen. Besonders danke ich meinen Eltern für ihre Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Ohne Holgers Humor und seine pragmatische Sicht wäre diese Arbeit kaum fertig geworden.

1

Sprechstimmbildung ‚für alle‘ – von der Ausweitung einer künstlerischen Übungspraxis

Szene 1 Juni 2013. In einem Seminarraum sitzen zwölf Personen in einem Halbkreis. Vor ihnen sitze ich auf einem Stuhl und lese laut folgende Sätze von einem Blatt ab „Wie wär's wohl, wenn wir weilten / Wo wogende Wellen weich winken / Wo wonniges Wehen im Walde / Wenn Westwinde wiegen und weben?“1 Die Seminarleiterin, eine ausgebildete Schauspielerin, die ein eintägiges Seminar zum Stimmtraining gibt, fordert mich auf, eine Hand flach zwischen die Sitzfläche des Stuhles und meine Pobacke zu legen und die Sätze noch einmal zu lesen. Die Hand diene der Stütze. Ich wiederhole die Sätze. Danach fragt sie in die Runde, ob eine Veränderung zu hören war. Die anderen Seminarteilnehmer bestätigen das mit Nachdruck. Ich verlasse das Seminar mit dem Rat, Sätze mit ‚W‘ zu üben.

1

Die Sätze stammen aus dem Lehrbuch von Julius Hey „Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags. I. Sprachlicher Teil. Anleitung zu einer naturgemässen Behandlung der Aussprache als Grundlage für die Gewinnung eines vaterländischen Gesangstyles“, S. 73, dessen erster „sprachlicher“ Teil um 1882 in Mainz erschien und in überarbeiteter Form und mit neuem Titel bis heute verlegt wird: Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens. Nach dem Urtext von Julius Hey. Neu bearbeitet von Fritz Reusch. Mainz 1997. In der vorliegenden Studie werden von den heutigen Rechtschreiberegeln abweichende Schreibweisen in älteren Zitaten beibehalten und nicht weiter markiert.

10 | Stimme und Sprechen am Theater formen

Szene 2 Februar 2015. Ich stehe in meinem Wohnzimmer. In jeder Hand halte ich einen etwa 20 Zentimeter langen und circa fünf Zentimeter dicken Holzstab. Die Stäbe laufen jeweils an einem Ende spitz zu, das andere Ende ist so vertieft, dass die Spitze genau hinein passt. Ich schwinge mit den Armen nach vorne und hinter den Rücken, so dass die Stäbe aufeinandertreffen. Wenn es dabei knallt, ist die Bewegung zu heftig, gibt es einen angenehmen Klang, ist sie richtig. Bei der Vorwärtsbewegung gehe ich leicht in die Knie, der Blick richtet sich nach unten, bei der Rückwärtsbewegung strecke ich mich, die Augen wandern nach oben. Während der Bewegung singe ich einen Laut, der sich ungefähr wie ‚schü‘ anhört, von einem tiefen Ton zu einem höheren und wieder zurück. Die Übungen mache ich im Rahmen eines Einzeltrainings zur Sprechstimmbildung bei einer Logopädin und Sängerin. Szene 3 Mai 2015. „Menschen begeistern“ steht im Titel der Website eines Stimmtrainers und „Speakers“, die den Leser mit der Frage begrüßt: „Sie wollen keine Kunden, sondern Fans?“2 Seine Vortrags- und Seminarangebote werden beworben als „begeisternde Vorträge und Masterclass-Seminare“. Dazu gehört auch das Seminar „Die Macht der Stimme“. In der Seminarbeschreibung wird die Bedeutung der Stimme für die Kommunikation unterstrichen: „Erfolgreiche Führungskräfte führen mit ihrer Stimme. Souveränität, Kompetenz und Zuversicht – oftmals entscheidet in Präsentationen, Meetings und Verhandlungen allein der Stimmklang über die Durchschlagskraft Ihrer Botschaft.“ Das Seminar richtet sich an „Menschen, die ihren beruflichen und privaten Erfolg durch einen bewussten Einsatz der Stimme steigern wollen“. Ziele des Seminars sind unter anderem: „In Präsentationen kompetent und überzeugend klingen; […] Ruhige und klare Stimme in wichtigen Verhandlungen; Mehr Aufmerksamkeit […] in Meetings; Mehr Persönlichkeit durch Klang, Volumen und Dynamik; Langsames, souveränes und selbstsicheres Sprechen; Bessere Verständlichkeit durch präzise Artikulation; Mehr Lebendigkeit und Ausdruckskraft in der Stimme.“ Das Seminar geht einen Tag lang. Szene 4 Juli 2016. Ich stehe in einem Seminarraum im Kreis mit sechs weiteren Personen. Die Seminarleiterin steht mit im Kreis und wie in einem Wechselgesang aus 2

www.pauljohannesbaumgartner.de vom 03.11.2016. Die folgenden Zitate finden sich auf der Website, bzw. der Unterseite zum Seminar ‚Die Macht der Stimme‘ und dem zum Download bereitgestellten PDF-Dokument.

Einleitung | 11

Chorleiter und Chor gibt sie auf unterschiedlichen Tonhöhen einen Laut vor, der sich wie ein ‚Hö‘ [Hɐ] anhört, wobei das ‚ö‘ eher in eine Mischung aus ‚a‘ und ‚e‘ zu driften scheint. Wir als Gruppe antworten mit dem gleichen Laut auf der gleichen Tonhöhe; die Leiterin betont immer wieder, dass es wichtig ist, den Laut mit der Vorstellung eines erleichternden Seufzers zu verbinden. Der Atem soll frei fließen. Nach einiger Zeit wird das ‚Hö‘ gedoppelt und dann noch ein ‚mmmma‘ angehängt, so dass die Lippen vibrieren. Szene 5 Oktober 2016. Ich stehe in meinem Büro und habe ein Übungsbuch für Stimmtraining aufgeschlagen.3 Es enthält ein Warm-up-Programm für die Stimme, das ich nacheinander durchgehe.4 Dazu gehören eine Atemübung mit einem langgezogenen ‚f‘, das mit einer Armbewegung begleitet wird, Lockerungsübungen für Kiefer, Lippen und Zunge (den Kiefer ausstreichen, mit den Lippen flattern, die Zunge in alle möglichen Richtungen strecken und bewegen), seufzen, die sogenannte ‚Kauübung‘, um die Indifferenzlage zu finden, Summübungen für die Resonanz sowie mit geschlossenen Lippen gähnen. Die hier geschilderten Szenen 5 geben einen ersten Einblick in den Untersuchungsgegenstand dieser Studie: die Diskurse6 und die damit verbundenen Übungspraktiken der Sprechstimmbildung7. In den Blick genommen werden 3

Hammann, Claudia: Fitness für die Stimme. Körperhaltung – Atmung – Stimmkräftigung. 4. akt. Aufl. München, Basel 2011.

4

Ebd. S. 75.

5

Die Szenen sind zugleich eine Art Chronik meiner Begegnung und Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Sprechstimmbildung, die auch darin bestand, diese Praktiken selbst auszuprobieren. Liest man diese Beschreibungen ohne weitergehende Erklärung oder Kontextualisierung, mag das, was da betrieben wird, befremdlich oder belustigend erscheinen. Doch bietet das Befremden auch einen distanzierten Blick auf etwas, was als Praxis in ihren sozialen Zusammenhängen selbstverständlich erscheinen würde.

6

Die vorliegende Untersuchung schließt sich an Positionen der Diskursanalyse an, die Praxis als Teil von Diskursen auffasst, Diskurse also nicht nur als sprachlich verfasst versteht (vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009. S. 94-95). Um zu vergegenwärtigen, dass es in dieser Arbeit insbesondere auch um die (Übungs-)Praktiken der Sprechstimmbildung geht, wird der Aspekt der Praxis gelegentlich neben dem Verweis auf die Diskurse noch einmal extra genannt.

7

Der Begriff ‚Sprechstimmbildung‘ kommt in diesen Diskursen selbst nicht zur Verwendung; gegenwärtig ist meist die Rede von ‚Stimmtraining‘ oder ‚Sprechbildung‘,

12 | Stimme und Sprechen am Theater formen

sollen jene Formen und Angebote der Sprech- und Stimmschulung, die sich an eine breite Zielgruppe richten; also an Personengruppen, die nicht bereits in ihrer Berufsausbildung eine umfassende Ausbildung der Stimme erhalten haben, wie dies beispielsweise bei Schauspielern und Sängern der Fall ist. Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Beobachtung, dass es vielfältige Bezüge zwischen dem Theater, insbesondere der Schauspielerausbildung, und den Formen der Sprechstimmbildung für eine breite Zielgruppe gibt, so dass sich hier ein für die Theaterwissenschaft relevantes, aber bislang in dieser Fokussierung noch nicht erforschtes Untersuchungsgebiet ergibt. Dieses Buch konzentriert sich auf den deutschsprachigen Raum 8 und nimmt insbesondere zwei zeitliche Phasen in den Blick, in denen sich die Beschäftigung mit der Sprechstimme im deutschsprachigen Raum verdichtet und eigenständige Formen annimmt. Dies ist zum einen der Zeitraum zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhunderts und zum anderen eine Phase, die in den 1990er Jahren beginnt und bis in die Gegenwart anhält. Unter der Bezeichnung ‚Stimmtraining‘ haben seit den 1990er Jahren die Angebote für die Ausbildung der Sprechstimme im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor zugenommen und finden sich – wie in den geschilderten Szenen bereits skizziert – als Übungsbücher auf dem Buchmarkt, als Einzelschulung oder Gruppenseminar bei einem frei arbeitenden Stimmtrainer oder in unterschiedlichen Institutionen. Die Angebote richten sich an eine breit gefächerte Zielgruppe: oft sind sie auf Erfordernisse des Berufslebens9 ausgerichtet, doch es wird auch der Bereich des in den 1920er Jahren waren ‚Sprechtechnik‘ oder ‚Stimmbildung‘ gebräuchlich. Mit diesen Begriffen verbinden sich jeweils bereits bestimmte Konzeptualisierungen und Schwerpunktsetzungen. Um diese in ihrer Historizität beschreibbar zu machen, soll ‚Sprechstimmbildung‘ in der vorliegenden Untersuchung als neutraler Begriff fungieren, der im weiteren Verlauf noch zu konkretisieren sein wird. Wenn ich von ‚Stimmtraining‘ spreche, meine ich die gegenwärtigen Erscheinungsformen der Sprechstimmbildung, die sich selbst auch als solche bezeichnen. 8

Dies ist insofern gerechtfertigt, da die Entwicklung der Sprechstimmbildung eng mit nationalsprachlichen – und darüber hinaus auch mit nationalpolitischen – Entwicklungen verbunden ist, was wiederum nicht heißt, dass es keine Austauschprozesse sprechstimmbildnerischer Diskurse und Praktiken zwischen verschiedenen Ländern und Sprachkulturkreisen gegeben hätte und gibt; diese können jedoch nur am Rande aufgezeigt werden und bedürften einer eigenen eingehenden Untersuchung.

9

Teilweise richten sich die Angebote an spezielle Berufsgruppen, zum Beispiel Übungsbücher, die für Lehrer bestimmt sind. Oft werden die Berufe jedoch nicht konkret benannt; es geht um Tätigkeiten, bei denen viel gesprochen wird oder die Stimme als wichtiger Teil der beruflichen Interaktion mit anderen gesehen wird.

Einleitung | 13

Privaten adressiert10; man kann also von einer grundsätzlich weit gefassten Ausrichtung dieser Angebote sprechen.11 Sprechstimmbildung lässt sich damit den vielfältigen Formen und Praktiken der Selbstoptimierung, Weiterbildung und Körperarbeit der Gegenwart zuordnen, die individuelle Praktiken und Maßnahmen, aber auch organisierte Formen wie Seminare und Coachings umfassen und die große Verbreitung über die entsprechende Ratgeberliteratur erfahren.12 Zu diesen Praktiken zählen Diätkuren und Fitnessprogramme ebenso wie Ratgeber zur Glücksfindung und Schönheitsoperationen. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung konstatiert für diese Praktiken der Optimierung und Körpermodifikation in den vergangenen Jahrzehnten eine Zunahme13 und hat sich den unterschiedlichen Praktiken in zahlreichen Untersuchungen zugewandt 14, 10 Die Unterteilung erfolgt also nach einem Kriterium des Ökonomischen: alles, was nicht dem Erwerbsleben zugehört, wird dem Bereich des Privaten zugeschlagen, wobei, wie wir noch sehen werden, diese Grenzziehungen sowohl in den gesamtgesellschaftlichen Dynamiken als auch in der Sprechstimmbildung selbst dazu tendieren, obsolet zu werden. Zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts findet sich im Diskurs der Sprechstimmbildung hingegen stärker noch der Aspekt des Öffentlichen als ein Kriterium, das neben den Aspekt des Ökonomischen tritt: Sprechstimmbildung soll man dann betreiben, weil man öffentlich auftritt und beispielsweise Reden hält, unabhängig davon, ob dies innerhalb beruflicher oder anderer Kontexte geschieht. 11 Aus dieser breiten Adressierung resultiert die etwas sperrige Bezeichnung ‚Sprechstimmbildung, die sich an eine breite Zielgruppe richtet‘, bzw. die etwas kürzere Fassung ‚Sprechstimmbildung für ‚alle‘‘. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit nur von Sprechstimmbildung gesprochen wird, ist diese breit ausgerichtete Form gemeint. 12 Vgl. Jürgen Straub, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Anna Sieben: Homo modificans, homo modificatus. Ein Vorwort zur aktuellen „Optimierung des Menschen“. In: dies. (Hrsg.): Menschen machen. Die hellen und dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme. Bielefeld 2012. S. 9-26. Hier S. 16. Sowie Ralf Mayer, Christiane Thompson: Inszenierung und Optimierung des Selbst. Eine Einführung. In: dies. und Michael Wimmer (Hrsg.): Inszenierung und Optimierung des Selbst. Zur Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien. Wiesbaden 2013. S. 7-28. Hier S. 7. 13 Vgl. dazu bspw. Paula-Irene Villa: Die Vermessung des Selbst. Einsicht in die Logik zeitgenössischer Körperarbeit. In: Aviso. Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern 3 (2012). S. 14-19. Hier S. 19. Sowie Straub; Sabisch-Fechtelpeter; Sieben: Homo modificans, homo modificatus. S. 21. 14 So hat sich etwa Stefanie Duttweiler in ihrer Dissertation „Sein Glück machen“ mit Ratgebern zum Thema Glück befasst (vgl. Stefanie Duttweiler: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz 2007). Die Beiträge

14 | Stimme und Sprechen am Theater formen

wobei Sprechstimmbildung in diesem Zusammenhang noch nicht eingehender erforscht wurde15. Betont wird dabei auch, dass Selbstoptimierung und Körpermodifikationen kein grundsätzlich neues Phänomen seien, sondern als anthropologische Konstante zu verstehen sind.16 Es verändern sich aber die Formen und die gesellschaftlichen Ansprüche, mit denen diese Praktiken vollzogen werden und damit auch das Ausmaß der Angebote. Für die Gegenwart lässt sich dabei eine Tendenz zur Individualisierung erkennen, deren „Zumutung [...] [darin] besteht, sich ständig selber in der sozialen Welt positionieren zu müssen. Hierfür ist der Körper ein probates Mittel, da er im Alltag unsere sichtbarste ‚Visitenkarte‘ darstellt“17. Individualisierung meint dabei nicht, dass der einzelne frei von sozialen Zwänge oder normativen Vorgaben agieren kann, im Gegenteil sind auch in der Gegenwart „Entscheidungen über den eigenen Körper als Entscheidungen über das Selbst hochgradig normativ, sie sind getränkt von Sozialität“ 18. Geschichtliche Veränderung hinsichtlich einer Individualisierung meint hier vielmehr, dass die Entscheidungen über Lebens- und Körpergestaltung stärker in dem von Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband „Schön normal“ befassen sich überwiegend mit Schönheitsoperationen, aber auch mit Fitness und Kosmetik sowie mit Performancekunst, die sich mit Körperpolitik auseinandersetzt (vgl. PaulaIrene Villa (Hrsg.): Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld 2008). Um Biotechnologien geht es auch in dem von Jürgen Straub, Katja Sabisch-Fechtelpeter und Anna Sieben herausgegebenen Sammelband „Menschen machen“. 15 Für den französischen Sprachraum hat Pierre Bourdieu sich in einer Reihe von Schriften mit Praktiken des Sprechens und des sprachlichen Tauschs auseinandergesetzt, ohne dabei explizit auf sprechstimmbildnerische Praktiken einzugehen. Die Schriften sind in deutscher Übersetzung in dem Band „Was heißt Sprechen?“ zusammengefasst (Bourdieu, Pierre: Was heißt Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Mit einer Einführung von John B. Thompson. Übersetzt von Hella Beister. 2. erw. und überarb. Aufl. Wien 2005). 16 Vgl. Straub; Sabisch-Fechtelpeter; Sieben: Homo modificans, homo modificatus. S. 21. Mit Körpertechniken in der Frühen Neuzeit befasst sich bspw. der von Rebekka von Mallinckrodt herausgegebene Ausstellungskatalog und Sammelband „Bewegtes Leben“, in dem der von Marcel Mauss geprägte Begriff der ‚Körpertechnik‘ zu Grunde gelegt wird (vgl. Rebekka von Mallinckrodt (Hrsg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Ausstellung der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 29. Juni bis 16. November 2008. Wolfenbüttel 2008). 17 Villa: Die Vermessung des selbst. S. 19. 18 Villa, Paula-Irene: Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen. In: dies. (Hrsg.): Schön normal. S. 7-20. Hier S. 8.

Einleitung | 15

dem Einzelnen überantwortet werden und dass sich die Organisationsformen und beherrschenden Dynamiken von Körperkulturen verändert haben, wie Thomas Alkemeyer in Anschluss an Zygmunt Bauman beschreibt: „Die treibenden Kräfte der Gestaltung, Überwachung und Produktion gesellschaftlich anerkannter wie geduldeter Körper haben sich vom Staat zum Markt verschoben – mit den weit reichenden Folgen für die Individuen, denen nun das Management für ihre Körper aufgebürdet wird.“19 Diese sich wandelnden Formen der Einbindung des Körpers in gesellschaftliche Dynamiken sind mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Begrifflichkeiten beschrieben worden, Zygmunt Bauman etwa spricht von der „flüssigen Moderne“ und beschreibt die Veränderungen mit den Begriffen der „Produzenten- und Konsumentengesellschaft“.20 In der vorliegenden Studie werden die Sprechstimme und ihre Formung in Beziehung zu der gesellschaftstheoretischen Analyse Michel Foucaults zur Disziplinargesellschaft und der daran anschließenden Beschreibung der Performancegesellschaft durch Jon McKenzie gesetzt. Ausgehend von den beiden Gesellschaftsanalysen wird es möglich, Sprechstimmbildung hinsichtlich ihrer Techniken der Körperformung, ihrer institutionellen Einbindung sowie ihrer ökonomischen und normativen Ausrichtung zu untersuchen und dabei herauszuarbeiten, wie die an eine breite Zielgruppe gerichteten Angebote der Sprechstimmbildung von den Praktiken des Theaters beeinflusst werden. Zudem eröffnen die beiden Gesellschaftsanalysen den Blick auf die historische Entwicklung der Sprechstimmbildung, da McKenzie zufolge die Formation der Performance19 Alkemeyer, Thomas: Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults. In: APUZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (2007). S. 9-18. Hier S. 16. Vgl. zudem Zygmunt Bauman: Politische Körper und Staatskörper in der flüssig-modernen Konsumentengesellschaft. In: Markus Schroer (Hrsg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt a.M. 2005. S. 189-214. 20 Bauman: Politische Körper. S. 196 f. Markus Schroer differenziert die verschiedenen Facetten von Individualisierung und beschreibt ebenfalls den „gewaltige[n] Markt“, der um den Körper entstanden ist (vgl. Markus Schroer: Einleitung. Zur Soziologie des Körpers. In: ders. (Hrsg.): Soziologie des Körpers. S. 7-47. Hier S. 20). Gabriele Klein hingegen arbeitet mit dem Begriff der Mediengesellschaft, um die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1970er Jahren zu beschreiben (vgl. dies.: Das Theater des Körpers. Zur Performanz des Körperlichen. In: Schroer (Hrsg): Soziologie des Körpers. S. 73-91. Hier S. 85.). In dem von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist herausgegebenen Sammelband „Selbst-Bildungen“ werden diese Dynamiken unter dem Fokus der Subjektivierung behandelt (vgl. Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hrsg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013).

16 | Stimme und Sprechen am Theater formen

gesellschaft die der Disziplinargesellschaft allmählich ablöst. Damit lässt sich die gegenwärtige Ausprägung der Sprechstimmbildung in Bezug zu der Entwicklung ausgehend von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg setzen, in der der Sprechstimme und ihrer Ausbildung im deutschsprachigen Raum bereits verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Teilweise scheint hier auf die Sprechstimme zuzutreffen, was Alkemeyer für körperliche Praktiken allgemein im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert diagnostiziert21; ähnlich den kollektiv organisierten Formen der Körperertüchtigung gab es starke Bemühungen um eine staatlich organisierte, institutionell verankerte Formung der Sprechstimme. Dies zeigt sich beispielsweise in der Etablierung eines eigenen Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ an deutschen Universitäten und in den Bemühungen, Sprecherziehung umfassend in den Schullehrplänen zu verankern. Gleichzeitig haftet den Praktiken der Sprechstimmbildung in dieser Zeit jedoch auch etwas Prekäres an, scheinen die Stimme und das Sprechen sich schwerer in institutionalisierte Formen der Disziplinierung zu fügen, als dies etwa bei Übungsprogrammen zur sportlichen Ertüchtigung der Fall ist. Es wird in dieser Untersuchung also zu fragen sein, wie sich die gegenwärtigen Formen der Sprechstimmbildung von deren Erscheinungsformen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unterscheiden und welche Gemeinsamkeiten sie in den beiden Phasen aufweisen; dabei wird auch herausgearbeitet, inwiefern sich in der Entwicklung der Sprechstimmbildung teilweise ambivalente Tendenzen zeigen, die sich nicht nahtlos in eine strikte Gegenüberstellung der Dynamiken von Disziplinar- und Performancegesellschaft fügen und damit auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaftsanalysen Foucaults und McKenzies erlauben. Innerhalb dieser beiden ‚Hochphasen‘ der Sprechstimmbildung geht die Untersuchung den Fragen nach, welchen normativen Mechanismen und Dynamiken die Stimme und das Sprechen jeweils unterworfen sind, wie sich die Übungspraktiken der Sprechstimmbildung gestalten und welche institutionelle Verankerung die Sprechstimmbildung in diesen Zeiträumen erfährt. Zur systematischen Bestimmung von Stimme und Sprechen Mit Sprechstimmbildung wird in dieser Untersuchung eine Praxis bezeichnet, bei der die auf das Sprechen ausgerichtete Stimme ebenso wie Prozessaspekte des Sprechens geformt und verändert werden sollen. Dabei geht es um körperlich-mentale Aspekte, die beeinflusst werden sollen und die in sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozessen eine Rolle spielen. Diese bewusst eher 21 Vgl. Alkemeyer: Aufrecht und biegsam.

Einleitung | 17

offen gehaltene Konzeption – wobei der Begriff ‚Sprechstimmbildung‘ selbst weder um 1900 noch in der Gegenwart verwendet wird 22 – soll es ermöglichen, die historisch bedingten Vorstellungen davon, wie bei einer Formung der Sprechstimme vorzugehen ist und welche Voraussetzungen dieses Vorgehen beeinflussen, in ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zu erfassen. So gibt es durchaus divergierende Haltungen dazu, ob bei der Arbeit an der Sprechstimme physiologische oder mentale Prozesse im Vordergrund stehen sollten und ob von einer individualistischen oder dialogischen Konzeption auszugehen ist; die Diskurse der Sprechstimmbildung setzen die Sprechstimme in unterschiedlichen Akzentuierungen in Bezug zu Vorstellungen von Körper, Seele und Geist – wobei auch diese Begriffe zeitgebunden sind – sowie zu Interaktion und Kommunikation. Implizit oder explizit gehen die Ansätze der Sprechstimmbildung also von bestimmten Annahmen und systematischen Konzeptionen von Stimme und Sprechen aus, die mit weiterreichenden Vorstellungen beispielsweise von ‚Persönlichkeit‘ oder sozialem Verhalten verbunden sind. Eine historische Darstellung der sich wandelnden Vorstellungen von Stimme und Sprechen bedürfte einer eigenen Untersuchung.23 Sie können in dieser Arbeit jeweils nur aus der Perspektive der jeweiligen Sprechstimmbildungsformen in ihrer Historizität beleuchtet werden. Zum besseren Verständnis soll an dieser Stelle aber ein kurzer Einblick in gegenwärtige Konzeptionen von Stimme und Sprechen und deren jeweilige Schwerpunktsetzungen gegeben werden. Mit dem Gegenstandsbereich Stimme und Sprechen befassen sich gegenwärtig mehrere Wissenschaften. Dazu gehören die Medizin, speziell die Phoniatrie (Stimm- und Sprachheilkunde), die Linguistik, die Sprechwissenschaft, die Phonetik24, die Akustik, aber auch die Psychologie, die Kommunikationswissenschaften und die Philosophie. Je nach disziplinärer Ausrichtung können das Interesse an Stimme und Sprechen sowie ihre systematische Bestimmung variieren; es reicht von theoretisch-analytischen Zugängen bis zu pädagogischen und

22 Siehe Fußnote 7. 23 In Ansätzen liegt diese in Darstellungen wie Karl-Heinz Götterts „Geschichte der Stimme“, Anette Langes „Eine Mikrotheorie der Stimme“ oder Mladen Dolars „His Master’s voice“ vor, wobei Lange und Dolar insbesondere Einblicke in die Geschichte der Theorien von Stimme geben (vgl. Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 1998. Anette Lange: Eine Mikrotheorie der Stimme. München 2004. Malden Dolar: His Master’s voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt a.M. 2007). 24 Die Phonetik wird dabei teilweise als Fachgebiet der Linguistik verstanden, aber auch von der Sprechwissenschaft zu ihrer Disziplin gezählt.

18 | Stimme und Sprechen am Theater formen

therapeutischen Anwendungsweisen.25 Eine Darstellung aus Sicht der Phoniatrie beschreibt Sprechen als „die äußere Form der Sprache und dieser untergeordnet“26: „Das Sprechen stellt die Fähigkeit dar, Gedanken durch hörbare Worte mittels der Sprechund Stimmorgane auszudrücken. Als Artikulation bezeichnet man die Bewegungen der peripheren Sprechorgane, um die Lautsprache zu formen. Unter Phoniation (Stimmproduktion) versteht man das mit Hilfe des Stimmapparats hervorgebrachte Schallereignis als Grundlage der Stimm- und Sprachproduktion [Hervorhebungen im Orig.].“27

Hervorgehoben wird die Bedeutung des Hörens für den Spracherwerb und das Sprechen sowie die Tatsache, dass ein psychischer Prozess – ein „zunächst unstrukturierter vorsprachlicher Gedanke[, der] […] eine sprachliche Umsetzung (Verbalisation) in den Sprachregionen der Großhirnrinde [erfährt]“ 28 – der Initiation des physiologischen Vorgangs des Sprechens vorausgeht. Bei diesem wird dann „durch Muskeltätigkeit die Luft in Schwingungen versetzt und ein physikalisch-akustischer Prozess ausgelöst, bei dem die erzeugten Klänge und Geräusche Symbolfunktion übernehmen“29. Dass die physiologisch-motorischen Prozesse durch eine Mitteilungsabsicht „als Reaktion auf Ereignisse der Umwelt oder Innenwelt“30 ausgelöst werden, ist eine für die Sprechstimmbildung relevante Erkenntnis, die, wie wir noch sehen werden, jedoch nur teilweise Eingang in ihre Übungsansätze gefunden hat.

25 Gerhard Friedrich, Wolfgang Bigenzahn und Patrick Zorowka weisen darauf hin, dass sich „[a]us der Komplexität und Vielschichtigkeit des Phänomens ‚Stimme und Sprache‘ […] unterschiedliche Sichtweisen, Zugänge, aber auch Probleme in der interdisziplinären Kommunikation [ergeben]“ (dies.: Phoniatrie und Pädaudiologie. Einführung in die medizinischen, psychologischen und linguistischen Grundlagen von Stimme, Sprache und Gehör. 4. korr. Aufl. Bern 2008. Hier S. 21). 26 Ebd. S. 25. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 26. 29 Ebd. Den umgekehrten Weg geht das Hörerlebnis, bzw. der Verstehensprozess: hier folgt auf den physikalisch-akustischen Prozess die Weiterleitung auf physiologischer Ebene in das Nervensystem, um in einem psychischen Prozess ‚verstanden‘ zu werden (vgl. ebd.). 30 Vgl. Ines Bose, Ursula Hirschfeld, Baldur Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. Phonetik, Rhetorik, Sprechkunst. 2. überarb. und erw. Aufl. Frankfurt a.M. 2016. Hier S. 4.

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Die Beschreibung der Stimme aus physiologischer Sicht erfolgt zunächst nach den folgenden drei Merkmalen: der Tonhöhe und der damit verbundenen mittleren Sprechstimmlage, Stimmstärke und Lautstärkenumfang sowie dem Stimmklang.31 Der Stimmklang setzt sich zusammen aus verschiedenen Tönen: er „ist abhängig von Anzahl und Stärke der im Klangspektrum enthaltenen Obertöne. Diese werden durch den Schwingungsvorgang der Stimmlippen sowie durch Resonanzerscheinungen im Ansatzrohr beeinflusst.“32 Mit dem Oberbegriff der Heiserkeit werden Stimmklänge beschrieben, in denen Geräuschanteile enthalten sind und die damit als pathologisch gelten.33 Des Weiteren kann der Stimmeinsatz beschrieben werden (ein sogenannter weicher Stimmeinsatz gilt mittlerweile als physiologische Norm, ein harter oder gehauchter als Abweichung) sowie die Tonhaltedauer und die Tragfähigkeit. 34 Stimmgattungen und Stimmregister sind Kategorien, die aus der Bestimmung der Gesangsstimme stammen.35 Die Phonetik (insbesondere in ihrer sprechwissenschaftlichen Verortung) nimmt die Bildung der einzelnen Sprachlaute in den Blick, beschäftigt sich aber auch mit den suprasegmentalen Merkmalen des Sprechens. Zu diesen zählen „Sprechmelodie, Lautheit, Dauer, Sprechgeschwindigkeit, Sprechspannung, Pausen sowie (indexikalisch bedingte) Stimmqualität und Stimmausdruck (Timbre) und deren jeweilige Variation“36. Stärker als der Physiologie geht es ihr dabei um die Frage, welche Funktion diese Merkmale in gesprochenen Äußerungen übernehmen, wie etwa die der Akzentuierung, Gliederung und Rhythmi-

31 Vgl. Friedrich; Bigenzahn; Zorowka: Phoniatrie und Pädaudiologie. S. 56 und 73. Diese Beschreibungskategorien finden sich bereits in antiken Rhetoriken. 32 Ebd. S. 56. 33 Vgl. ebd. Bei der Beschreibung von Heiserkeitsformen stellt sich die Problematik, „Klangphänomene mit sprachlichen Mitteln unverwechselbar zu definieren“ (ebd. S. 56), und Friedrich listet einige Adjektive auf, die zur Beschreibung herangezogen werden. Diese sind bspw. „krächzend, scheppernd, nasal, gellend, tonlos, gaumig, schwebend, schwer, verschleiert“ (ebd. S. 76). Eine Form der „standardisierten Bewertung von Stimmklängen mit dem Gehör [Hervorhebung im Orig.]“ (ebd. S. 75) ist das ‚RBH‘-Schema. Mit H werden Abstufungen der Heiserkeit beschrieben und diese werden dann spezifiziert nach der Behauchtheit (B) und Rauigkeit (R) (vgl. ebd. S. 76). 34 Unter Tragfähigkeit versteht man „die Durchdringungsfähigkeit der Stimme im Störlärm. Die Tragfähigkeit ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal und bestimmt die stimmliche Effizienz der Stimmproduktion.“ (Ebd. S. 59). 35 Vgl. ebd. S. 58 f. 36 Bose; Hirschfeld; Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. S. 38 f.

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sierung37, und sie betont, dass die Verwendung dieser Merkmale „situationsabhängig und individuell unterschiedlich, dies jedoch innerhalb bestimmter Regelbereiche bzw. Erwartungsnormen“ ist.38 In diesen Ansätzen gerät neben der Beschreibung von Stimm- und Sprechmerkmalen die kommunikative Dimension der Stimme und des Sprechens bereits in den Blick. Dennoch merkt der Mediziner Gerhard Friedrich kritisch an, dass in traditionellen Untersuchungsmethoden der Phoniatrie der „kommunikativen Funktion [der Stimme] im individuellen sozialen Umfeld des Betroffenen“39 zu wenig Beachtung geschenkt würde, und fordert, dass die organischen, psychologischen und sozialen Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen seien. Indem er betont, wie eng die Stimme „mit der Gesamtpersönlichkeit des Menschen verwoben ist“40, und die Stimme „als das persönlichste Ausdrucksmittel eines Menschen“ beschreibt, lenkt er das Augenmerk dann aber vor allem auf die psychische Dimension der Stimme.41 Damit folgt er einer in den Diskursen um die Stimme gängigen Verbindung von Stimme und Persönlichkeit, die diese Verbindung häufig über die römischen Begriffe ‚persona‘ und ‚personare‘ herstellt42, ohne dass dabei in der Regel das zugrunde gelegte Konzept von Persönlichkeit oder Subjekt genauer erläutert wird. Kritik an einer rein physiologischen, aber auch an einer nur individualpsychologisch ausgerichteten Konzepti37 Vgl. ebd. S. 39 f. 38 Ebd. S. 40. 39 Friedrich; Bigenzahn; Zorowka: Phoniatrie und Pädaudiologie. S. 77. 40 Ebd. S. 85. 41 Mathelitsch, Leopold; Friedrich, Gerhard: Die Stimme. Instrument für Sprache, Gesang und Gefühl. Berlin, Heidelberg 1995. Hier S. 3. 42 Dass es sich bei dieser Herleitung um eine Fehlinterpretation handelt, betont mit Verweis auf Manfred Fuhrmann der Sprechwissenschaftler Hellmut Geißner: „Das Konstrukt ‚Seele‘ wird oft gekoppelt an das Konstrukt ‚Person‘. Dabei kommt den Phonognomen die ‚berüchtigte Etymologie‘ (Fuhrmann 1979, 85) zu Hilfe, dass ‚personare‘ auch einmal mit ‚Hindurchtönen‘ übersetzt wurde. Das stammt aus der Praxis des römischen Theaters. Doch da war persona gerade nicht die Person, sondern die Maske. Sie entindividualisierte, depersonalisierte den Schauspieler; ging es doch nicht um seine Identität, sondern um die der Rolle [Hervorhebungen im Orig.].“ (Geißner, Hellmut: Imitation und Identität – Was antworten Sie auf die Frage: ‚Wer bist du?‘ In: Thomas Kopfermann (Hrsg.): Das Phänomen Stimme: Imitation und Identität. 5. Stuttgarter Stimmtage 2004. Hellmut Geissner zum 80. Geburtstag. St. Ingbert 2006. S. 31-41. Hier S. 35. Vgl. dazu auch Manfred Fuhrmann: Persona, ein römischer Rollenbegriff. In: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität. München 1979. S. 83-106).

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onierung von Stimme und Sprechen hat hingegen der Sprechwissenschaftler Hellmut Geißner formuliert, der das Augenmerk statt dessen auf das Dialogische und die soziale Formung von Stimme und Sprechen lenken möchte. 43 An diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass es über die Beschreibung von Merkmalen von Stimme und Sprechen hinaus recht unterschiedliche Akzentuierungen dabei geben kann, wenn man die komplexen Phänomene Stimme und Sprechen zu fassen versucht. In der vorliegenden Untersuchung werden über die Übungspraktiken, die normativen Vorgaben und die institutionelle Einbettung der Sprechstimmbildung insbesondere die soziale Dimension der Stimme und des Sprechens sowie die Historizität ihrer diskursiven Verfasstheit in den Blick genommen. Gleichzeitig gilt es den Untersuchungsgegenstand dieser Studie einzugrenzen: untersucht werden Übungsformen und normative Vorgaben, die bei der Stimme und grundlegenden Aspekten des Sprechens ansetzen. Weitergehende Fragen sprecherischer Gestaltung, etwa die von Redekonzeptionen oder der Gestaltung von künstlerischen Texten, werden ausgeklammert, beziehungsweise werden nur am Rande thematisiert, insofern sie für das Verständnis der jeweiligen historischen Sprechstimmbildungsformen relevant sind. So wird beispielsweise auf den Stellenwert des gesprochenen Wortes im Nationalsozialismus und die Frage, welche Rolle die Stimme bei den Redeinszenierungen der Nationalsozialisten spielte, eingegangen, da sich hieran wichtige Differenzierungen für die Praxis der Sprechstimmbildung aufzeigen lassen. Auf eine ausführliche Diskussion der Funktion der Stimme in öffentlichen Reden vom deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Zeit des NS-Regimes, die beiden deutschen Staaten bis in die gegenwärtige Bundesrepublik muss jedoch verzichtet werden44, ebenso wie die Entwicklungen und Überlagerungen von Sprechsti43 Vgl. Hellmut Geißner: Sprechwissenschaft. Theorie der mündlichen Kommunikation. Königstein/Ts. 1981. Sowie ders.: Imitation und Identität. Noch einen Schritt weiter geht der Philosoph Bernhard Waldenfels, der die Stimme nicht von ihrer Produktionsseite zu fassen sucht, sondern vom Hören her (vgl. ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010. Hier S. 180-207). 44 Dies ist auch deshalb nicht möglich, weil differenzierte Voruntersuchungen noch weitgehend fehlen. Die Sprechwissenschaftlerin Irmgard Weithase hat in ihren Publikationen zwar schon Vorarbeit geleistet, allerdings bedürften ihre Untersuchungen einer Präzisierung, teilweise auch einer kritischen Revision. In ihrer „Geschichte der gesprochenen Sprache“ werden bspw. keine politischen Reden und Redestile behandelt (vgl. Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen Sprache. Zwei Bände. Tübingen 1961). In „Goethe als Sprecher und Sprecherzieher“ nimmt sie eine recht schematische Einteilung im Wandel von Sprechstilen nach „extensiven“ und „intensiven“ Sprechstilen vor (vgl. Irmgard Weithase: Goethe als Sprecher und Sprecherzie-

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len in diesen Zeiträumen in der vorliegenden Untersuchung nicht nachgezeichnet werden können.45 Geschichtlicher Abriss zur Entwicklung der Sprechstimmbildung Für die Beschäftigung mit der Sprechstimme und ihrer Formung gilt – wie für die Körper- und Selbstoptimierungspraktiken allgemein –, dass sie nicht erst zu einem bestimmten Zeitpunkt ‚erfunden‘ wurden. Allerdings variiert gerade mit Blick auf die Sprechstimmbildung, die sich nicht nur an Schauspieler und Sänger richtet, das Ausmaß an Aufmerksamkeit und das spezifische Interesse, mit der man sich ihr zu unterschiedlichen Zeiten widmete. Jenseits des Schauspielerberufs fand die Pflege und Ausbildung der Sprechstimme bereits in der antiken Rhetorik Beachtung, allerdings in einer deutlich anderen Gewichtung als dies in den modernen Übungsbüchern, die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, der Fall ist. Unter dem Gesichtspunkt der ‚actio‘ oder ‚pronuntiatio‘46 – also dem Abschnitt der Redelehre, der sich mit dem Halten der Rede her. Weimar 1949. Hier S. 10-17). Johannes Schwitalla hat in einem Aufsatz die Prosodie von Politikerreden aus dem 20. Jahrhundert untersucht und nach 1945 eine Entwicklung hin zu weniger pathetischen Sprechstilen diagnostiziert, so wie er auch eine Differenz zwischen Nationalsozialisten und demokratischen Rednern feststellt (vgl. Johannes Schwitalla: Vom Sektenprediger zum Plauderton. Beobachtungen zur Prosodie von Politikerreden vor und nach 1945. In: Heinrich Löffler, Karlheinz Jakob, Bernhard Kelle (Hrsg.): Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Berlin, New York 1994. S. 208224). Reinhart Meyer-Kalkus kritisiert an Schwitalla und Weithase eine zu vereinheitlichende Sicht: Statt in „Kategorien einer regelmäßig getakteten oder teleologisch zielgerichteten Stilgeschichte“ zu denken, fordert er die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die[…] Simultaneität verschiedener Stile, Schulen und Traditionen“ in einer Geschichte der Sprechkunst zu berücksichtigen (ders.: Zwischen Pathos und Pathosschwund. Zur Sprechkunst in Deutschland nach 1945. In: Passions in Context. International Journal for the History and Theory of Emotions 1 (2010). Internetpublikation.

www.passionsincontext.de/uploads/media/05_Meyer-Kalkuspdf_01.pdf

vom

15.09.2017. S. 1-37. Hier S. 11). 45 Anregende Vorarbeiten hierzu liefert Reinhart Meyer-Kalkus in dem bereits zitierten Aufsatz „Zwischen Pathos und Pathosschwund“ sowie in einem Beitrag in der FAZ, in dem er das problematische Aufeinandertreffen des Vortragsstils Paul Celans auf die Hörgewohnheiten der Gruppe 47 beschreibt (vgl. ders.: Das Gedicht läuft beim Sprechen durch den ganzen Körper. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.02.2014). 46 Quintilian differenziert die beiden Begriffe: ‚pronuntiatio‘ bezeichnet nun den stimmlichen Vortrag, ‚actio‘ das „Auftreten des Redners […], vom Mienen- und Gebärden-

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befasst – werden vor allem Fragen behandelt, wie die Stimme bei einem Vortrag zu klingen hat oder wie bestimmte inhaltliche Aussagen mit dem Stimmklang unterstützt werden sollten. Es handelt sich also sowohl um Beschreibungen von Stimmeigenschaften47 als auch um normative Vorgaben, die vor allem auf die Stimmwirkung zielen und in denen sich Stimmideale und Sprechnormen spiegeln. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Verhaltensratschläge und Diätempfehlungen, um die Stimme zu schonen und bei Kräften zu halten. Zur konkreten Ausbildung und Einübung von Stimme und Sprechen finden sich jedoch nur vereinzelte Hinweise, die meist in anekdotischer Form erzählt werden; so wird beispielsweise berichtet, dass Demosthenes mit Steinen im Mund geübt habe, um seine Aussprache zu schulen. Zur praktischen Ausbildung der Stimme wird der Redner an Schauspieler verwiesen, die ihn den richtigen Gebrauch der Stimme lehren sollen.48 Das diesbezüglich vorhandene Wissen zur Stimmausbildung wurde also vorrangig mündlich vermittelt, so dass nicht mehr nachvollzogen werden kann, worin es bestand und wie es didaktisch umgesetzt wurde.49 spiel über Körperhaltungen bis hin zur Kleidung und Haartracht“ (Meyer-Kalkus, Reinhart: Rhetorik der Stimme (Actio II: Pronuntiatio). In: Ulla Fix, Andreas Gardt, Jürgen Knape (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Zwei Bände. Band 1. Berlin, New York 2008. S. 679-688. Hier S. 681). 47 Vgl. Rüdiger Campe, Markus Wilczek: Stimme, Stimmkunde. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Neun Bände. Band 9. Tübingen 2009. S. 83-99. Hier S. 84. 48 Vgl. hierzu bspw. die Ausführungen in der Schrift „Rhetorica ad Herennium“ (Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – deutsch. Hrsg. und übersetzt von Theodor Nüsslein. 2. Aufl. Düsseldorf, Zürich 1998. Hier S. 153). Auch Cicero nahm Unterricht bei einem Schauspieler (vgl. Bernd Steinbrink: Actio. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Neun Bände. Band 1. Tübingen 1992. S. 43-74. Hier S. 47). 49 Simon Schlingplässer, der selbst als Sprecherzieher arbeitet, versucht in seiner Untersuchung „Phonaskia – das Üben der Stimme“ eine Rekonstruktion antiker Stimmbildungspraktiken auf Grundlage der gesellschaftlichen Umstände und Anforderungen (vgl. ders.: Phonaskia – Das Üben der Stimme. Sprecherzieherische Stimmbildung in Griechenland. Saarbrücken 2007). Er schließt damit implizit an die Thesen Arnim Krumbachers an, der bereits 1920 in einem Aufsatz die antiken Stimmbildungspraktiken darstellt, sich dabei aber auch nur auf Anekdoten und sehr verstreuten Hinweise stützen kann (vgl. Arnim Krumbacher: Die Stimmbildung der Redner im Altertum bis auf die Zeit Quintilians. Paderborn 1920). Krumbacher konstatiert dennoch für die Antike eine Hochphase stimmbildnerischen Wissens, die erst seit 1900 wiederbelebt würde (vgl. ebd. S. 107-108). Aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung antiker

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Gleichzeitig zeigt sich an dem Verweis an den Schauspieler als Lehrer bereits eine Austauschbeziehung zwischen Rhetorik und Schauspielkunst, in der zwar einerseits Differenzen zwischen Schauspieler und Redner markiert werden, andererseits aber auch ein Transfer von Wissen und Techniken vorgeschlagen wird.50 Im christlichen Mittelalter finden sich teils ablehnende Haltungen, teils positive Rezeptionen der antiken Rhetorik; zu Fragen der Sprechstimmausbildung wird jedoch nichts Neues ausgeführt. Auch die Rhetorikbücher der Neuzeit greifen auf die antiken Lehrbücher zurück und folgen diesen insofern, als auch sie vorrangig normative Aspekte der Stimmwirkung beschreiben und bezüglich der Stimmausbildung nicht über die Tradierung der antiken Anekdoten hinausgehen. In den Lehrplänen der Schulen finden sich teilweise Hinweise auf Übungen zum freien Vortrag51 und das Schultheater des 16. und 17. Jahrhunderts Quellen muss diese Frage jedoch Spekulation bleiben und Steinbrink weist darauf hin, „daß die Anweisungen zum rednerischen Vortrag noch nicht sehr weit gingen“ (Steinbrink: Actio. S. 45). Umfassend und detailreich hat in jüngster Zeit Verena Schulz die tradierten Quellen zur Stimme in der antiken Rhetorik zusammengetragen und ausgewertet. Auch sie konstatiert die lückenhafte Überlieferung und verweist auf die mündlich vermittelte Übungspraxis, über die keine Informationen vorliegen (vgl. Verena Schulz: Die Stimme in der antiken Rhetorik. Göttingen 2014. Hier S. 3). 50 Auf Nähe und Differenzen zwischen Redner und Schauspieler in der antiken Rhetorik geht auch Ursula Geitner ein: „Der Redner muß […] in der Wahl seiner Mittel vorsichtiger, geschickter, ja raffinierter sein, als es vom Schauspieler verlangt wird. An diesen ist der Verdacht der Täuschung und des Betrugs, welchen der Orator von sich abzuwenden hat, kaum sinnvoll zu richten. Im Hinblick auf die zu verwendenden Techniken gibt es jedoch keine signifikante Differenz.“ (Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Hier S. 88). 51 In einer protestantischen Schulordnung aus dem Jahre 1546 finden sich beispielsweise die Vorgaben, dass die „Knaben beiderlei, durch Regel und Exempel zur lateinischen Sprache angeleitet, schicklich reden und schreiben lernen. […] Vornehmlich aber muß der kleinen Knaben, als der Fiberlisten, fleißig abgewartet werden, daß dieselbigen lernen: reinlich lesen und schreiben, sondern aber den Katechismus Lutheri laut, langsam, deutlich und unterschiedlich zu recitieren“ (Vormbaum, Reinhold (Hrsg.): Die evangelischen Schulordnungen des sechzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1860. Hier S. 54). Vgl. dazu auch Rüdiger Campes Ausführungen: „Pädagogisch bleiben freilich bis ins 18. Jahrhundert die Deklamation, der Schulaktus und das Schultheater orale Vermittlungsorte gestisch-stimmlicher actio [Hervorhebungen im Orig.].“ (Campe; Wilczek: Stimme, Stimmkunde. S. 89).

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dürfte dem „in den Rhetoriken oft ausgesparten Bereich von memoria und actio“52 Raum gegeben haben. Wie genau Fragen der Stimmbildung und Sprechschulung im Schultheater und Rhetorikunterricht der Schulen und Universitäten, insbesondere in der Homiletik, behandelt wurden, bedürfte einer eigenen Untersuchung, die jedoch auch mit dem Problem konfrontiert wäre, dass die Stimme wie insgesamt der Bereich der ‚actio‘ als nur schwer in schriftlicher Form zu behandeln angesehen wurde.53 Mit dem Rückgang der Rhetorik als eigenständigem, wissenschaftlichem Fachgebiet Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts verteilen sich ihre Fragestellungen und Gegenstände auf unterschiedliche Fächer und Wissenskulturen.54 Fragen des mündlichen Ausdrucks werden unter den Begriffen ‚Beredsamkeit‘ und ‚Wohlredenheit‘ behandelt55 und um 1800 52 Steinbrink: Actio. S. 56. 53 Vgl. ebd. 54 Auf die Geschichte der Rhetorik als Fachdisziplin kann hier nicht genauer eingegangen werden. Vgl. dazu Gert Ueding und Bernd Steinbrink, die in ihrem „Grundriß der Rhetorik“ zum Umbruch im 18. Jahrhundert schreiben: „Im 18. Jahrhundert ereignen sich in der Rhetorikgeschichte allerdings Umbrüche so schwerwiegender Art, daß sie häufig als Abschluß der rhetorischen Tradition beschrieben wurden. Genauere historische Forschungen haben diese Auffassung grundsätzlich korrigiert. Gewiß verliert die Schulrhetorik im Ausbildungswesen ihre beherrschende Stellung, was, wie Manfred Fuhrmann gezeigt hat, mit der Krise der Lateinschulen, dem Zurückdrängen des Lateinischen als Unterrichtsfach und Wissenschaftssprache zusammenhängt, darüber hinaus mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften und der Differenzierung der europäischen Kultur in Nationalkulturen. Der Geltungsverlust ist dramatisch, daran läßt sich nichts deuteln, er verhindert aber nicht das Weiterleben rhetorischer Theorie unter dem Deckmantel neuer Terminologien und aufgefächert in Disziplinen wie Poetik und Literaturtheorie, Geschichtsschreibung und Pädagogik, Hermeneutik und Psychologie. Statt vom Ende wäre als von einer Transformation der Rhetorik zu reden […].“ (Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 5. Aufl. Stuttgart 2011. Hier S. 1-2) Vgl. dazu auch Ingrid Lohmann, die diesen Prozess in ihrer Untersuchung als „Vergesellschaftung der Redekunst“ bezeichnet hat (Lohmann, Ingrid: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850. Münster, New York 1993. Hier S. 6). 55 Vgl. Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. S. 6. Lohmann beschreibt zudem, dass zwischen 1825 und 1845 Übungen zum mündlichen Vortrag Teil der administrativen Verfügungen für die preußischen Gymnasien waren, diese nach dem Vormärz dann jedoch wieder aus den Akten verschwanden (vgl. ebd. S. 234). Die Frage, in welchem Kontext Übungen zum mündlichen Ausdruck in der

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entsteht – neben eigenständigen Schauspieltheorien56 – eine wahre „Flut von Hand- und Lehrbüchern“57 zu Fragen der Deklamations- und Vortragskunst. Doch auch diese enthalten noch kaum Hinweise zur Ausbildung und Schulung der Stimme und des Sprechens, geschweige denn Übungsprogramme für Stimme und Sprechen.58 Einzig die Frage einer normativen Festsetzung der Sprachlaute des Deutschen gewinnt hier bereits an Raum, die Ende des 19. Jahrhunderts mit Theodor Siebs’ „Deutscher Bühnenaussprache“59 in eine Kodifizierung der deutschen Aussprache münden wird. Der Rückgang der Rhetorik als eigenständigem Wissensgebiet geht im deutschsprachigen Raum seit den 1720er Jahren mit einer Kritik einher, die das von der Rhetorik überlieferte Wissen als Verstellungskunst negativ bewertet und mit dem höfischen Umfeld gleichsetzt. 60 Demgegenüber wird ein bürgerlich konnotierter Diskurs von Natürlichkeit und Individualität Schule verankert werden, hängt auch mit den das 19. Jahrhundert begleitenden Debatten um den Stellenwert des Deutschunterrichts im Vergleich zu den altphilologischen Fächern zusammen. Auch hier geht es um die Frage, wie Wissensbestände der Rhetorik transformiert werden – eine Frage, der hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann (den Hinweis verdanke ich Annette Bühler-Dietrich). 56 Exemplarisch seien hier Johann Jakob Engels „Ideen zu einer Mimik“ genannt, in denen die Stimme zwar in einigen Kapiteln behandelt wird, aber auch hier ähnlich den antiken Rhetoriken nur unter der Frage, welche Affekte der Stimmklang zum Ausdruck bringt. Fragen der Ausbildung und Einübung von Stimme und Sprechen werden nicht behandelt (vgl. Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. Zwei Bände. Berlin 1785-1786. Band 2. Hier S. 78-94 und S. 291-302). Zur Lösung der Schauspieltheorie aus dem Rahmen der Rhetorik vgl. Steinbrink: Actio. S. 63. Sowie Dietmar Till: Rhetorik und Schauspielkunst. In: von Mallinckrodt (Hrsg.): Bewegtes Leben. S. 61-84. 57 Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001. Hier S. 224 f. 58 Auch Goethes „Regeln für Schauspieler“ stellen kein Übungsprogramm im detaillierten und umfassenden Sinne dar, wenn auch einige der normativen Vorgaben schon in Richtung von Übungsanweisungen gehen; schließlich sind sie aus einer Übungssituation zwischen Goethe und den beiden Schauspielern Karl Franz Grüner und Pius Alexander Wolff 1803 entstanden, wurden aber erst posthum veröffentlicht (vgl. dazu Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld 2012. Hier S. 138-144). 59 Siebs, Theodor (Hrsg.): Deutsche Bühnenaussprache. Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben. Berlin, Köln, Leipzig 1898. 60 Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung. S. 1.

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etabliert61, der diese als anthropologische Konstituenten und nicht mehr nur als Wirkungsanforderung konzipiert.62 Dieser bedient sich häufig des Schauspielers als Figur, von der es sich abzugrenzen gilt, wobei der Schauspieler gleichzeitig in seiner ambivalenten Funktion erscheint, die Möglichkeiten von Verstellung allererst vor Augen zu führen. Kritik an Verstellung, Forderungen nach Natürlichkeit und Abgrenzung vom Schauspieler finden sich als Argumentationsfiguren auch in den Ende des 19. Jahrhunderts sowie in der Gegenwart dichter werdenden Diskursen der Sprechstimmbildung immer wieder, allerdings in jeweils unterschiedlicher, zeittypischer Akzentuierung. So sehr die Sprechstimmbildung für ‚alle‘ in engen Austauschbeziehungen zum Bereich des Theaters und der performativen Künste steht, lassen sich in ihren Diskursen jedoch auch distanzierende und ablehnende Haltungen gegenüber dem Theater finden.63 Ende des 19. Jahrhunderts verdichtet sich dann die Aufmerksamkeit für die Sprechstimme und ihre Ausbildung und nimmt spezifische Formen an, die in dieser Form neu sind: So entstehen eigene Übungsbücher, die dezidierte Übungsprogramme für die Stimme und das Sprechen enthalten und deren Ausrichtung mit der physiologisch-medizinischen Forschung zur Stimme zusammenhängt. Es kommt hier also erstmals zu einer schriftlichen Fixierung des Übungswissens um die Stimme und das Sprechen. Zudem münden die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Aussprache in ihre erstmalige Kodifizierung: Die Siebs’sche „Bühnenaussprache“ erhebt dabei als Ausspracheregelung für das Theater zugleich den Anspruch einer Regelung für die Aussprache des Deutschen allgemein. Darüber hinaus kommt es auch im Feld der Wissenschaften zu einer Ausdifferenzierung: Seit der Jahrhundertwende entsteht an deutschen Universitäten aus Lektoraten für Vortragskunst ein eigenes Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, das sich um eine Institutionalisierung seiner Fachinhalte – Sprechstimmbildung, künstlerischer Vortrag und Redeschulung – an den Universitäten und Schulen sowie um eine Regulierung des Bereichs der frei arbeitenden Sprechstimmbildner bemüht. Diese Entwicklungen lassen sich als Verdichtung des Diskurses um die Formung von Stimme und Sprechen beschreiben, in der Art, dass hier in großem Ausmaße, explizit und in detaillierter schriftlicher Form Fragen der Sprechstimmbildung behandelt werden sowie intensive Debatten um eine Institutionalisierung dieser Inhalte geführt werden. 61 Vgl. ebd. S. 1 f. 62 Vgl. ebd. S. 8. 63 Diese werden in der Theaterwissenschaft unter dem Begriff der ‚Theaterfeindlichkeit‘ gefasst, so dass die vorliegende Untersuchung also auch einen Beitrag zu diesem Forschungsbereich liefert, ohne dass dieser Aspekt jedoch im Zentrum der Untersuchung stehen kann.

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Dieser Diskurs steht im deutschsprachigen Raum auch im Zusammenhang mit den nationalstaatlichen Entwicklungen des Deutschen Reiches und bildungspolitischen Debatten, die eine Aufwertung des Deutschunterrichts anstreben.64 In der Weimarer Republik wird Sprecherziehung schließlich in den Richtlinien der Lehrpläne verankert, deren Umsetzung jedoch nur in geringem Maße erfolgt. Im Nationalsozialismus erfährt die Sprecherziehung eine tendenziell stärkere Unterstützung, die sich vor allem auf die Verankerung in den Schullehrplänen auswirkt. Innerhalb der Rednerschulung ist der Stellenwert der Sprecherziehung und Rhetorikschulung jedoch nicht unumstritten. Die vor allem auch durch die NSPropaganda untermauerte Bedeutung der öffentlichen Reden Hitlers für den Erfolg der NSDAP sowie Hitlers eigene Ausführungen in „Mein Kampf“ verschafften dem ‚gesprochenen Wort‘ jedoch einen deutlichen Prestigegewinn. An diesen versuchten einige Sprecherzieher anzuschließen, indem sie Verbindungen zwischen ihren Fachinhalten und ideologischen Positionen des Nationalsozialismus unterstrichen. Die Unterstützung, die die Sprecherziehung im Nationalsozialismus erhielt, mag mit dazu beigetragen haben, dass das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keine größere Unterstützung erfuhr. Innerhalb des Faches, das sich nun Sprechwissenschaft nennt, kommt es in der BRD zu einer Schwerpunktverlagerung hin zu Fragen rhetorischer Kommunikation, während die Sprechstimmbildung in den Hintergrund des Fachinteresses tritt.65 Einflussreich wird hier insbesondere der Ansatz Hellmut Geißners, rhetorische Schulung weniger als Redelehre denn als Gesprächsschulung, die die Teilnahme an demokratischen Entscheidungsprozessen ermöglichen soll, zu konzipieren. In der Deutschen Demokratischen Republik hingegen erfährt die 64 Zu einer tatsächlichen Aufwertung des Deutschunterrichts kam es letztendlich erst in der Weimarer Republik (vgl. dazu Martina G. Lüke: Zwischen Tradition und Aufbruch. Deutschunterricht und Lesebuch im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt a.M. 2007 (= Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 60). S. 288). Die Bemühungen der Sprechkundler zielen dann insbesondere auf den Deutschunterricht, auch wenn sie Sprecherziehung als Lehrgrundsatz für alle Fächer verstanden wissen wollen. 65 Vgl. dazu auch Klaus Ross: Sprecherziehung statt Rhetorik. Der Weg zur rhetorischen Kommunikation. Opladen 1994. Hier S. 28-31. Von Hellmut Geißner geprägt etablierten sich auch die Bezeichnungen ‚rhetorische‘, ‚ästhetische‘ und ‚therapeutische‘ Kommunikation (vgl. Hellmut Geißner: Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein/Ts. 1982). Fragen der Sprechstimmbildung behandelt Geißner unter dem Begriff ‚Elementarprozesse‘ nur noch als Anhang seines Buches „Sprecherziehung“ (vgl. ebd. S. 199-215).

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phonetische Forschung und die daran anschließende Herausgabe neuer Aussprachekodizes eine starke Förderung und es wird insbesondere der, auch vor 1945 schon starke, Fachstandort an der Universität Halle unterstützt. Im Bereich der Sprechstimmbildung wird insbesondere die Sprechausbildung von angehenden Lehrkräften weitaus systematischer durchgeführt als in der BRD. 66 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands entwickelt sich Halle zum stärksten Fachstandort, der gleichzeitig der einzige ist, an dem man Sprechwissenschaft und Sprecherziehung gegenwärtig als eigenen Studiengang studieren kann. Und selbst dort kämpfen die Fachvertreterinnen gegen Kürzungen und Einschränkungen.67 Der genaue Entwicklungsgang der institutionalisierten Sprechstimmbildung in Form der Fachentwicklung der Sprechwissenschaft in den beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990 kann in dieser Studie nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr wird die vorliegende Untersuchung einen Überblick über die Entwicklung der Aussprachkodizes und eine Skizze der Fachentwicklung geben68, um sich dann intensiv der Phase zuzuwenden, in der wiederum eine Zunahme an Angeboten zur Sprechstimmbildung zu verzeichnen ist. Diese zweite ‚Hochphase‘ der Sprechstimmbildung beginnt langsam in den 1990er Jahren und intensiviert sich in den 2000er Jahren noch einmal. Wie bereits eingangs beschrieben, wird Sprechstimmbildung hier, oft unter der Bezeichnung Stimmtraining, in vielfältiger Form angeboten. Sie ist dabei nur teilweise mit der Sprecherziehung verknüpft und ist in ihrer institutionellen Verankerung in vielfältiger Weise von den ökonomischen Dynamiken der gegenwärtigen Gesellschaft geprägt.69 Sie zeigt sich als Teil einer umfassenden Selbstoptimierung, in der Soziales und Ökonomisches verschmilzt und die auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen ausgerichtet ist. Während diese eine Dynamik 66 Vgl. Hannelore Krafts und Baldur Neubers Aufsatz „Zur Entwicklung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung am Beispiel Sachsens“, in dem sie für die DDR eine systematischere sprechstimmbildnerische Ausbildung der Lehrer beschreiben, als dies seit den 1990er Jahren in Gesamtdeutschland der Fall war (vgl. dies.: Zur Entwicklung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung am Beispiel Sachsens. In: Marita Pabst-Weinschenk, Roland W. Wagner, Carl Ludwig Naumann (Hrsg.): Sprecherziehung im Unterricht. München, Basel 1997. S. 115-122). 67 Vgl. Lutz Anders, Ines Bose, Ursula Hirschfeld et al.: Nach 100 Jahren: Wohin gehst du, deutsche Sprechwissenschaft? In: Ines Bose (Hrsg.): Sprechwissenschaft. 100 Jahre Fachgeschichte an der Universität Halle. Frankfurt a.M. 2007 (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik 22). S. 25-30. 68 Vgl. Kapitel 4.1.1. und 4.2. 69 Diese Angebote stehen teilweise in Bezug zur Sprecherziehung, können aber auch ganz unabhängig von ihr sein.

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aufweisen, die es zunehmend unberechenbar macht, was in welcher Situation gefordert ist, zeigt sich in den Übungspraktiken und -diskursen der Sprechstimmbildung eine Tendenz zur Standardisierung und Uniformität, die an Übungsformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts anknüpft. Die beiden Hochphasen der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum sind also nicht nur dadurch miteinander verbunden, dass der Stimme, dem Sprechen und ihrer Formung beide Male verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wird, sondern es lassen sich auch Verbindungslinien in den konkreten Praktiken nachzeichnen. Bezüge zum Theater Der Fokus dieser Untersuchung liegt auf der Sprechstimmbildung, die sich an eine breite Zielgruppe richtet, gleichzeitig zeigen sich hier zahlreiche Bezüge zu den spezialisierten Sprechstimmbildungspraktiken des Sprech- und Musiktheaters. Auch wenn die Ausbildung der Stimme von Sängern und Schauspielern hier also nicht im Mittelpunkt steht, so geht es doch um die Einflussnahme von Diskursen der Sprechstimmbildung aus dem Bereich der darstellenden Künste auf die Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung für ‚alle‘. Diese besteht beispielsweise darin, dass Übungsbücher und Methoden der Sprechstimmbildung, die zunächst im Kontext der Schauspielerausbildung entstanden sind, mit der Zeit an eine breitere Zielgruppe gerichtet werden. Das trifft bereits für das Übungsbuch von Julius Hey70 zu, das Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist und das, obwohl stark umstritten, noch heute in Stimmtrainingsseminaren – ebenso wie in der Schauspiel- und Gesangsausbildung – verwendet wird, gilt aber auch für jüngere Methoden der Sprechstimmbildung71. Seminare zur Sprechstimmbildung werden gegenwärtig zu einem großen Teil von Schauspielern oder Sängern – wobei es einen großen Anteil an Frauen unter den Lehrenden gibt – gegeben, die darin einen Nebenverdienst oder ein eigenes Auskommen finden.72 Bereits in den 1920er Jahren grenzten sich die um Institutionalisie70 Vgl. Fußnote 1. 71 Bspw. die von Kristin Linklater in den 1950er und 1960er Jahren im Rahmen der Schauspielerausbildung entwickelte Linklater-Methode, die mittlerweile auch in VHS-Seminaren angeboten wird. 72 Dabei besteht gleichzeitig auch eine Art zirkulärer Austausch mit dem Bereich der therapeutischen Sprechstimmbildung und der Logopädie: auch Logopäden geben Kurse zur allgemeinen Sprechstimmbildung, es gibt aber auch Logopäden, die sich von Schauspielern eine Methode der Sprechstimmbildung aus dem Bereich der Schauspielerausbildung beibringen lassen. Schauspieler und Sänger wiederum machen Zusatzausbildungen als Logopäden. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um die therapeutische Sprechstimmbildung, sondern um die Sprechstimmbildung, die man in

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rung eines eigenen Universitätsfaches bemühten Sprecherzieher (hier sind im universitären Kontext überwiegend Männer tätig, wenngleich es auch Frauen in diesem Berufsfeld gab) von Schauspielern ab, die Sprechstimmbildung nach einer eigenen Methode unterrichteten, und versuchten über die Einführung einer Sprecherzieherprüfung diesen Bereich zu regulieren. 73 Die – bereits erwähnte – einem weiten Sinne als prophylaktisch bezeichnen könnte; damit ist gemeint, dass es hier zwar auch um gesundheitliche Belange gehen kann – man will die Stimme schulen, um sie gesund zu erhalten –, es aber vor allem in einem allgemeineren Sinn um ‚Optimierung‘ und Normierung geht, ohne dass diese auf die Abwehr von als ‚Krankheit‘ oder ‚Störung‘ klassifizierten Phänomenen ausgerichtet sein muss. Als den Zuständigkeitsbereich der Sprachheilpädagogik und Logopädie beschreiben Manfred Grohnfeldt und Ute Ritterfeld „alle Erscheinungsformen an Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- und Schluckstörungen in allen Altersgruppen“ (dies.: Grundlagen der Sprachheilpädagogik und Logopädie. In: Manfred Grohnfeldt (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 1. Selbstverständnis und theoretische Grundlagen. Stuttgart, Berlin, Köln 2000. S. 15-47. Hier S. 16). Zwar sind die Übergänge zwischen allgemeiner und therapeutischer Sprechstimmbildung an sich fließend (vgl. Marita Pabst-Weinschenk: Therapeutische Kommunikation. In: dies. (Hrsg.): Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. München 2004. S. 209210. Hier S. 210) und insbesondere die Halle’sche Sprechwissenschaft zählt diese auf Grund der Fachentwicklung in der DDR zu ihrem Fachbereich, doch es gibt auch institutionell-ökonomisch geregelte Abgrenzungen: therapeutisch tätig sein dürfen in Deutschland nach dem Logopädiegesetz von 1980 nur Personen mit einer Zusatzqualifikation im Bereich Logopädie; die Therapie von Phänomenen, die als Störung klassifiziert sind, wird von der Krankenkasse finanziert (vgl. Pabst-Weinschenk: Therapeutische Kommunikation. S. 209). Austausch und Einflussnahmen, insbesondere vom therapeutischen Bereich auf den der allgemeinen Sprechstimmbildung, gab es und gibt es nach wie vor, wie auch die vorliegende Untersuchung zeigen wird, ohne dass dabei jedoch der Fokus auf diese Wechselbeziehungen gerichtet werden kann. 73 Diese Abgrenzungsbemühungen sind zugleich ob ihrer Ambivalenz bemerkenswert: Erich Drach als einer der Sprecherzieher, der sich am stärksten um eine Regulierung des Bereichs der Sprechstimmbildung bemühte, war selbst ausgebildeter Schauspieler. 1919 empfahl er Schauspielern die Weiterbildung zum Sprecherzieher (vgl. Erich Drach: Der Sprechlehrer. In: Der neue Weg (1919). S. 411-412) und wetterte in den Folgejahren heftig gegen Schauspieler, die diese Weiterbildung, und damit die theoretische Fundierung, nicht hatten. Mehr dazu siehe Kapitel 3.3 (vgl. zur Biographie Erich Drachs Marita Pabst-Weinschenk: Die Konstitution der Sprechkunde und Sprecherziehung durch Erich Drach. Faktengeschichte von 1900 bis 1935. Magdeburg, Essen 1993. S. 106-110).

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von Theodor Siebs ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte vereinheitlichende Regelung für die Bühnenaussprache war von Siebs von Anfang an auch als allgemeine Aussprachenorm der deutschen Sprache geplant – ein Status, der ihr, trotz vielseitiger Kritik, mit der Zeit auch zuerkannt wurde und den sie bis in die 1960er Jahre – nach 1945 zumindest in der BRD – behaupten konnte. Die gegenwärtigen Diskurse der Sprechstimmbildung betonen zudem die – meist affektiv gedachte – Wirkung, die man mittels der Stimme bei einem Gegenüber erzielen kann, wobei dann die Sprechstimmbildung helfen soll, diese Wirkung zu optimieren. Gleichzeitig erscheint dieser instrumentelle Charakter der Stimme jedoch auch suspekt, so dass ‚Authentizität‘ und ‚Natürlichkeit‘ eingefordert und vor ‚Schauspielerei‘ gewarnt wird.74 Die Verwendung einer Ausbildungstechnik, der professionelle Schauspieler sich bedienen, um sich auf ihre Darstellungsaufgaben vorzubereiten, scheint also auch Probleme aufzuwerfen, wenn sie auf Momente sozialer Interaktion im Alltag übertragen werden soll. Trotz der inhaltlichen und personalen Nähe, die zwischen dem Bereich der performativen Künste und dem der Sprechstimmbildung für eine breite Zielgruppe besteht, zeigen sich hier zahlreiche Abgrenzungsbemühungen vom Bereich der Schauspielkunst. In diesen findet der seit dem 18. Jahrhundert intensivierte rhetorikfeindliche Diskurs um Natürlichkeit seinen Widerhall, der sich teilweise auch gegen Schauspieler und Theater richtet. Theaterfeindliche Haltungen finden sich also auch im Diskurs der Sprechstimmbildung gerade dort, wo es eine große Nähe zum Theater gibt.75 Und schließlich zielen die Übungssettings gegenwärtiger Sprechstimmbildungsseminare häufig darauf, die durch Übungen veränderte Wirkung der Stimme in Szene zu setzen und durch die – teilweise euphorischen – Reaktionen der Teilnehmer der Seminare zu beglaubigen; insofern hier eine Aufführungssi-

74 Auf die hierbei deutlich werdenden Aspekte von Theaterfeindlichkeit wird in der Untersuchung entsprechend eingegangen. 75 Vgl. dazu die Einleitung zum Band „Theaterfeindlichkeit“, in der Stefanie Diekmann, Christopher Wild und Gabriele Brandstetter hervorheben, dass das Verhältnis von Theater und Theaterfeindlichkeit nicht als „starre Opposition“ verstanden werden muss, sondern auch „als ein symbiotisches und produktives zu begreifen [ist], in dem gegensätzliche Positionen unauflöslich miteinander verknüpft sind und sich wechselseitig bedingen“ (Diekmann, Stefanie; Wild, Christopher; Brandstetter, Gabriele: Anmerkungen zu einem unterschätzen Phänomen. In: dies. (Hrsg.): Theaterfeindlichkeit. München 2012. S. 7-15. Hier S. 7 f.).

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tuation aus Darsteller und Publikum geschaffen wird, haben die Übungssettings selbst also einen theatralen Charakter.76 Auch die Sprechstimmbildung, die sich gerade nicht an Schauspieler oder Sänger, sondern an eine breite Zielgruppe richtet, stellt somit ein Phänomen dar, das aus theaterwissenschaftlicher Perspektive von Interesse ist und dessen Untersuchung sich an vielfältige Fragestellungen bestehender Forschungsfelder der Theaterwissenschaft, aber auch anderer Geistes- und Kulturwissenschaften anschließt. Verortung der Untersuchung zur Sprechstimmbildung im Forschungskontext Die Theaterwissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten verstärkt ein breit ausgerichtetes Forschungsinteresse für Fragestellungen über den Bereich der performativen Künste hinaus entwickelt und versteht sich entsprechend nicht nur als Kunst- sondern auch als Kulturwissenschaft. Umrissen wurde dieses breite Interesse mit dem Konzept der ‚Theatralität‘, das zugleich sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen umfasst. Die vorliegende Untersuchung zur Sprechstimmbildung schließt an verschiedene Fragestellungen an, die unter dem Konzept von ‚Theatralität‘ – über die Theaterwissenschaft hinaus auch in anderen Sozialund Kulturwissenschaften – diskutiert wurden. So werden mit der Fokussierung der Praktiken und Diskurse der Sprechstimmbildung, die sich an eine breite Zielgruppe richtet, Fragen nach der Selbstdarstellung in sozialen Interaktionsprozessen des Alltags und damit zusammenhängenden Subjektentwürfen aufgeworfen, da Sprechstimmbildung zum einen als Vorbereitung oder Einübung auf diese Prozesse hin verstanden werden kann, zum anderen selbst an der Konstruktion von Subjektentwürfen beteiligt ist. Selbstdarstellung – im Sinne einer sozial geregelten und damit normativ geformten Inszenierung von Selbst77 – sowie die 76 Vgl. zum Begriff der ‚Theatralität‘ in dieser Bedeutung Erika Fischer-Lichtes Einleitung „Theatralität als kulturelles Modell“ in: dies.: Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Tübingen, Basel 2004. S. 7-26. 77 Dieses Verständnis von Selbstdarstellung steht im Gegensatz zu Konzeptionen, die Selbstdarstellung im Sinne von ‚Zum-Ausdruck-Bringen‘ eines wesenshaft und innerlich konzipierten Selbst verstehen (vgl. dazu auch Erika Fischer-Lichte: Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance. In: dies., Isabel Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel 2000. S. 59-70. Hier S. 69 f.). Unabhängig davon, mit welchen Subjektvorstellungen der Aspekt der Selbstdarstellung in unterschiedlichen Diskursen verknüpft wird, verweist er auf Momente sozialer Interaktion, in der die Akteure selbst in den Fokus rücken, sei es durch körperliche Merkmale oder ihr jeweiliges Verhalten und Handeln. In diesem Sinne wird er auch in der

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performativen Aspekte der Subjektkonstitution sind aus soziologischer und gendertheoretischer Perspektive als anthropologische Konstante beschrieben worden, etwa von Erving Goffman in seiner 1959 erschienenen Studie „The Presentation of Self in Everyday Life“78 oder in den Untersuchungen zur Geschlechterkonstitution von Judith Butler79, und beschreiben damit den grundlegend theatralen Charakter menschlichen Seins.80 Daneben gibt es gesellschaftsanalytische Untersuchungen, die für die letzten Jahrzehnte eine zunehmende gesellschaftliche Fokussierung auf Aspekte der Selbstdarstellung, beziehungsweise auf Momente der Interaktion, in denen das Zusammenspiel von Selbstdarstellung und der dabei erzielten Wirkung auf ein Gegenüber an Bedeutung gewinnt, konstatieren.81 Während diese Entwicklungen in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft sowie anderen Kultur- und Sozialwissenschaften mit dem Begriff der ‚Inszenierung‘ in den Blick genommen wurden82, beschreibt der Amerikaner Jon McKenzie in seiner Untersuchung „Perform or else“83 ‚performance‘ als Leitparadigma der gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Entsprechend der Bedeutungsvielfalt des angloamerikanischen Begriffs geraten damit nicht nur Aspekte von Darstellung und die Wirksamkeit von Aufführungen in den Blick, sondern auch Fragen nach Leistung und Effizienz. Diese entwickeln in der Performancegesellschaft eine neue normative Dynamik, die sich dem Einzelnen als ständig neue Handlungsherausforderung stellt. In verschiedenen theaterwissenschaftlichen Untervorliegenden Untersuchung verwendet, wobei die Diskurse der Sprechstimmbildung zugleich darauf untersucht werden, welche Subjektentwürfe sie jeweils mit den Momenten der Selbstdarstellung verbinden. 78 Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959. Der Titel der 1969 erstmals erschienenen deutschen Übersetzung lautet: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Aus dem Amerikanischen von Peter WeberSchäfer. München, Zürich 2003. 79 Vgl. u.a. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 2013. 80 Vgl. dazu auch Matthias Warstat: Theatralität. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2. akt. und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2014. S. 382-388. Hier S. 383 f. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: dies.; Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. S. 1-30. Hier S. 22. Sowie Herbert Willems, Martin Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Wiesbaden 1998. 83 McKenzie, Jon: Perform or else. From Discipline to Performance. Abingdon 2001.

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suchungen der letzten Jahre 84 wurde McKenzies Gesellschaftsanalyse herangezogen, um aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage nachzugehen, wie sich Praktiken des Kunsttheaters und der Performancekunst sowie von angewandtem Theater zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen verhalten. 85 An diese Überlegungen anschließend wird auch die vorliegende Untersuchung zur Sprechstimmbildung Jon McKenzies Analyse zum Ausgangspunkt nehmen, um dem Zusammenhang der Übungspraxis der Sprechstimmbildung und ihrer Diskurse mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nachzugehen. McKenzie kontrastiert zudem die Entwicklungen der Performancegesellschaft mit den Strukturen und Mechanismen der von Michel Foucault beschriebenen Disziplinargesellschaft 86, wobei sich McKenzie zufolge der Umbruch zwischen diesen beiden Gesellschaftsparadigmen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu entwickeln beginnt. Damit können die beiden Gesellschaftsanalysen als Ausgangspunkt genommen werden, um die Beziehungen zwischen der Sprechstimmbildung Anfang des 20. Jahrhunderts und der gegenwärtigen zu beschreiben und den Einfluss der beiden Gesellschaftsformationen auf die Diskurse – und insbesondere auch auf die Praktiken – der Sprechstimmbildung zu untersuchen. Auch die Dimension von Selbstdarstellung und Subjektkonstitution lässt sich mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen in den Blick nehmen, wenn danach gefragt wird, auf welche Entwürfe von alltäglicher Selbstdarstellung und Subjektbildung hin die Diskurse der Sprechstimmbildung jeweils ausgerichtet sind. Umgekehrt bietet die Auswertung des Untersuchungsmaterials zur Sprechstimmbildung auch die Möglichkeit, die Thesen Foucaults und McKenzies an den Quellen zu überprüfen und zu fragen, inwiefern sich hier bezogen auf den deutschsprachigen Raum und einen eng umrissenen Bereich der Stimm- und Sprechformung Modifikationen ihrer Beobachtungen und Diagnosen ergeben.87 84 Bspw. Matthias Warstat: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. München 2011. Oder Kai van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie. München 2013. 85 Matthias Warstat stellt bspw. einen Bezug zwischen den überfordernden Handlungsanforderungen der Performancegesellschaft und daraus resultierenden Erschöpfungsphänomenen wie Depression und Burn-Out her und fragt nach den Konsequenzen, die das für Theaterkunst und Theatertherapie hat (vgl. Warstat: Krise und Heilung. S. 174-187). 86 Für die vorliegende Untersuchung maßgeblich sind vor allem die Ausführungen in „Überwachen und Strafen“ (vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 14. Aufl. Frankfurt a.M. 2013). 87 Dies ist auch insofern angebracht, als Foucaults gesellschaftsanalytische Thesen nicht unangefochten sind (vgl. dazu beispielsweise Hans-Ulrich Wehler: Michel Foucault.

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Darüber hinaus sind die gesellschaftlichen Dynamiken in Hinblick auf Austauschprozesse zwischen dem Bereich der Kunst und anderen Lebensbereichen, insbesondere dem der Wirtschaft und der Arbeit, in zahlreichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen in den Blick genommen worden. 88 So untersuchen Luc Boltanski und Ève Chiapello in „Der neue Geist des Kapitalismus“89, wie Formen der sogenannten ‚Künstlerkritik‘ – also Positionen, mit denen Künstler sich von der kapitalistischen und bürgerlichen Gesellschaft distanzierten – in kapitalistische Konzepte von Arbeit integriert wurden, um diese zu stabilisieren90. Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung oder Kreativität, die seit dem 18. Jahrhundert vorrangig mit künstlerischen Tätigkeiten verbunden wurden, entwickeln sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu attraktiven Modellen für Managementkonzepte und Arbeitsprozesse aller Art. 91 Dabei geraten insbesondere auch die neuen Anforderungen an die handelnden Subjekte in Die ‚Disziplinargesellschaft‘ als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der ‚Bio-Politik‘. In: ders.: Die Herausforderungen der Kulturgeschichte. München 1998. S. 45-95). 88 Auch McKenzie geht auf diese Austauschprozesse ein, wenn er beschreibt, wie Theorien und Ratgeber zur Betriebsführung auf Ideale künstlerischer Arbeit zurückgreifen (vgl. McKenzie: Perform or else. S. 81-88). 89 Boltanski, Luc; Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2013 (= édition discours. Klassische und zeitgenössische Texte der französischen Humanwissenschaften 38). 90 Vgl. dazu auch Ève Chiapello: Evolution und Kooption. Die ‚Künstlerkritik‘ und der normative Wandel. In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hrsg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010. S. 38-51. Sowie Luc Boltanski und Ève Chiapello: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel. In: Ebd. S. 18-38. 91 Vgl. dazu Matzke: Arbeit am Theater. S. 73-76: „Gerade die künstlerische Praxis und der Lebensentwurf ‚Künstler‘ scheinen hier ein Modell für eine Neuorientierung des Arbeitskonzepts zu bieten. Der Künstler muss individuelle Ressourcen einbringen: eigene Ideen, oft auch die eigenen Produktionsmittel. Er agiert nicht auf einem vorher definierten Feld, sondern seine Aufgabe ist es, sich selbst Probleme und Aufgaben zu suchen und für die Bearbeitung jeweils neue Methoden zu finden. Als Initiator seiner Projekte gibt es für den Künstler keine Arbeitslosigkeit. Organisationstheorien sehen im Künstlersubjekt eine historische Avantgarde der Ich-AG. Der Künstler wird zum vorbildlichen Unternehmer erklärt, der Neues verkauft, für das er selbst die Nachfrage erst schaffen muss.“ (Matzke: Arbeit am Theater. S. 76) Sowie auch Wolfgang Ullrich: Was will die Wirtschaft von der Kunst? In: Jan Verwoert (Hrsg.): Die IchRessource. Zur Kultur der Selbst-Verwertung. München 2003. S. 87-104.

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den Blick, die nun in allen Lebensbereichen mit unternehmerischen Fähigkeiten ausgestattet sein müssen92, ihre Arbeit mit Kreativität, Improvisationstalent und spielerischer Leichtigkeit versehen sollen93 und dabei zunehmend mit ihrer ganzen Person in ökonomische Verwertungsprozesse eingebunden werden.94 Werden bei diesen Untersuchungen teilweise stark verallgemeinerte Kunst- und Künstlerkonzepte, beziehungsweise Praktiken der unterschiedlichsten Kunstformen zu Grunde gelegt95, so zieht Paolo Virno, in Anschluss an Überlegungen von Karl Marx, die Tätigkeit darstellender Künstler heran, um die Charakteristika dieser Tätigkeit mit den Merkmalen gegenwärtiger Arbeitsprozesse zu vergleichen. Er greift dafür auf den Begriff der ‚Virtuosität‘ zurück, der seit dem 18. und 19. Jahrhundert eine starke Verhaftung mit den performativen Künsten aufweist96 und mit dem zudem das Verhältnis von Darstellung, überwältigender Wirkung auf ein Gegenüber und Bewertungsdynamiken betrachtet werden kann.97 Paolo Virnos Charakterisierung des Arbeitenden in der postfordistischen Gesellschaft als Virtuosen wird in der vorliegenden Untersuchung zur Sprechstimmbildung als Anknüpfungspunkt dienen, um die Wirkungsanforderungen, auf die Sprechstimmbildung als gegenwärtige Praxis ausgerichtet ist, in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig ergänzt die Untersuchung zur Sprechstimmbil92 Vgl. dazu insbesondere Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2013. 93 Vgl. dazu Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels: Über- und Unterbietung, Outperformance und Gleichheit, Selbstinszenierung und kollektive Virtuosität = eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2012. S. 7-23. Hier S. 21. 94 Vgl. dazu Jan Verwoert: Unternehmer unserer Selbst. In: ders. (Hrsg.): Die IchRessource. S. 45-56. Sowie Diedrich Diederichsen: Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. In: Menke; Rebentisch (Hrsg.): Kreation und Depression. S. 118-128. Und Andreas Reckwitz: Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse: Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativsubjekts. In: ebd. S. 98-117. 95 Annemarie Matzke hat darauf hingewiesen, dass in der Literatur zu Management und Arbeitsorganisation selten differenziert wird, welches Künstlerbild hier in Anschlag gebracht wird, bzw. wie konkrete künstlerische Praktiken kontextualisiert und historisiert werden müssen. Auch werde oft übersehen, dass „künstlerische Arbeit […] genauso verkauft und gehandelt werden muss wie andere Formen der Arbeit auch“ (Matzke: Arbeit am Theater. S. 76). 96 Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 8. 97 Zur „Ausrichtung auf die Wirkung […] [als] Grundbedingung von V[irtuosität]“ vgl. Bettina Brandl-Risi: Virtuosität. In: Fischer-Lichte; Kolesch; Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. S. 405-409. Hier S. 406.

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dung die Arbeiten zum Transfer von Konzepten aus dem Bereich der Kunst in andere Lebensbereiche um die Perspektive auf die Übungspraktiken einer künstlerischen Ausbildungstechnik. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern sich die Übungspraktiken verändern und welche Verschiebungen in der normativen Ausrichtung zu beobachten sind, wenn Sprechstimmbildung sich nicht mehr an Schauspieler oder Sänger richtet, sondern an eine breite Zielgruppe. Die Arbeit leistet damit auch einen Beitrag zu den eingangs bereits angeführten sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu gegenwärtigen und historischen Formen von Körperbildungspraktiken und Selbstoptimierung und ergänzt diese um den im deutschsprachigen Raum noch wenig beachteten Bereich von Stimmund Sprechformung. Mit der Fokussierung von Übungspraktiken schließt die Arbeit zur Sprechstimmbildung an ein weiteres Forschungsfeld an, das in der Theaterwissenschaft in den vergangenen Jahren verstärkt Beachtung erfahren hat, nämlich die Prozesse der Ausbildung und der Probe im Bereich des Kunsttheaters. 98 Dabei sind zum einen die Institutionalisierungsprozesse der Schauspielerausbildung verstärkt in den Blick geraten 99, zum anderen hat die Probe als Form der „Erarbeitung einer Inszenierung“100 verstärkte Aufmerksamkeit erfahren 101. Ordnet man 98

Matzke beschreibt Üben als eine von mehreren verschiedenen Probentechniken, wobei die Probe der Erarbeitung einer Inszenierung und der Vorbereitung der Aufführung dient: „Die Probe als Übung und Training zielt auf die Gewährleistung der Wiederholbarkeit der Inszenierung.“ (Matzke, Annemarie: Probe. In: Fischer-Lichte; Kolesch; Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. S. 270-273. Hier S. 270) Sie spricht hier mit dem Üben also den Aspekt der Wiederholung an, den auch Foucault, wie wir noch sehen werden, als Charakteristikum der disziplinierenden Übung beschreibt (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 207). Übungen und Üben als Mittel der Leistungssteigerung und der Leistungssicherung sind somit Bestandteil von Proben- und Ausbildungsprozessen im Bereich des Kunsttheaters. Zum theaterwissenschaftlichen Interesse an Probenprozessen siehe auch die Beiträge in Melanie Hinz (Hrsg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Berlin 2011.

99

Vgl. dazu Wolf-Dieter Ernst: Rhetorik und Wissensdynamik in der Schauspielerausbildung. Ernst Possart, Julius Hey und die Rutz-Sieversche Typenlehre. In: Stefan Hulfeld (Hrsg.): Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2009 (= Maske und Kothurn 51). S. 283-301. Sowie ders.: „...dann wurde zu kleineren Scenen geschritten“. In: Petra Stuber, Ulrich Beck (Hrsg.): Theater und 19. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich, New York 2009. S. 95-114.

100 Matzke: Probe. S. 270. 101 Vgl. Matzke: Arbeit am Theater.

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diese Untersuchungen in das von Rudolf Münz entworfene und von Stefan Hulfeld und Andreas Kotte weiterentwickelte Modell des Theatralitätsgefüges ein, das sich als ein Analysemodell versteht, um zu zeigen, wie Theatralität „Gesellschaft konstituiert“102, so geraten hier der Bereich des Kunsttheaters und dessen vorbereitende Übungspraktiken in den Blick. Sprechstimmbildung, die sich an eine breite Zielgruppe richtet, lässt sich entsprechend als vorbereitende Praxis für den Bereich des Lebenstheaters verstehen (wobei hier die Grenzlinien zwischen Vorbereitung und Auftritt weniger scharf gezogen sind). Zwar geht es in der vorliegenden Arbeit nicht darum, das Theatralitätsgefüge eines bestimmten Zeitabschnittes zu untersuchen, sie kann aber dazu beitragen, ein differenzierteres Bild dieser vorbereitenden Praxis im Bereich des Lebenstheaters zu gewinnen und deren – oben bereits skizzierte – Beziehungen und Transferprozesse zu den vorbereitenden Praktiken im Kunsttheater zu erhellen. Die Frage nach den Abgrenzungsbewegungen von Theater in diesem Bereich des Lebenstheaters erweitert und ergänzt zudem die theaterwissenschaftlichen Forschungen zur Theaterfeindlichkeit.103 Den Transfer aus Bereichen der Theaterkunst in andere Lebensbereiche, insbesondere pädagogische, therapeutische und wirtschaftliche, nehmen auch die jüngsten theaterwissenschaftlichen Forschungen zum angewandten Theater in den Blick, wobei dabei wiederum ein anderer Aspekt von Theatralität zum Tragen kommt. Mit dem Fokus auf den Ästhetiken des angewandten Theaters gehen die Untersuchungen im Forschungsprojekt ‚The Aesthetics of Applied Theatre‘104 der Frage nach, wie strukturelle Merkmale des Theaters in anderen gesellschaftlichen Bereichen zum Einsatz kommen, für welche Zielsetzungen sie hierbei verwendet werden und welche ästhetischen, politischen und ethischen Fragen dies aufwirft. Auch hier leistet die vorliegende Untersuchung einen Beitrag, indem sie den Blick auf den Transfer von Ausbildungstechniken des Theaters in andere gesellschaftliche Bereiche lenkt. Zudem wird gezeigt, inwiefern Übungssettings in den Sprechstimmbildungskursen selbst einen theatralen Charakter haben.105 102 Vgl. Andreas Kotte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln 2005. Hier S. 302312. 103 Vgl. Diekmann; Wild; Brandstetter (Hrsg.): Theaterfeindlichkeit. 104 Vgl. www.applied-theatre.org/about-us vom 23.11.2016. 105 Dagegen kann diese Untersuchung keine Einzelanalyse von den Aufführungssituationen des Alltags bieten, auf die Sprechstimmbildung vorbereiten möchte, also beispielsweise von Präsentationen in einem Unternehmen, Kundengesprächen, Meetings oder Schulstunden. Diese ließen sich nach Erika Fischer-Lichte unter den Aspekten von Performance, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung als theatral

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Schließlich knüpft diese Arbeit an dem gesteigerten Interesse an, das die menschliche Stimme in den vergangenen Jahren in der Theaterwissenschaft, aber auch in anderen Kultur- und Geisteswissenschaften, erfahren hat. Im Zuge der „‚performativen Orientierung‘“106 der Kultur- und Geisteswissenschaften geriet die Stimme als „performatives Phänomen par excellence“107 aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. 108 Insbesondere in aufführungsanalytischen Untersuchungen der Theaterwissenschaft wurde die Stimme in Hinblick auf ihre spezifische Materialität und Fragen der Körperlichkeit untersucht.109 Jenny Schrödl hat dabei in ihrer Untersuchung „Vokale Intensitäten“ die Abkehr des postdramatischen Theaters von den Stimm- und Sprechidealen des ‚dramatischen‘ Theaters beschrieben und damit für den Bereich des Kunsttheaters den Wandel normativer Vorgaben nachgezeichnet.110 Das Interesse des postdramatischen Theaters an Stimmen und Sprechweisen, die gerade nicht geschult wirken, steht dabei in einer gewissen Diskrepanz zur Vielzahl gegenwärtiger Stimmtrainingsangebote, die eine Schulung der Stimme für jedermann in Aussicht stellen. Auch der Germanist Reinhart Meyer-Kalkus geht in seiner Untersuchung

analysieren (vgl. Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. S. 20), wobei auch die Funktion der geschulten oder ungeschulten Stimme und Sprechweise dabei in den Blick genommen werden könnte. Thematisiert werden diese Situationen aber insofern, als danach gefragt wird, auf welche Szenarien Sprechstimmbildung in ihren Zielsetzungen ausgerichtet ist. 106 Kolesch, Doris; Krämer, Sybille (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a.M. 2006. S. 10. 107 Ebd. S. 11. 108 Ganz unterschiedliche Fachperspektiven auf die Stimme bietet der bereits zitierte Aufsatzband „Stimme“, herausgegeben von Doris Kolesch und Sybille Krämer. Ebenso der Sammelband von Doris Kolesch, Vito Pinto, Jenny Schrödl (Hrsg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld 2009. Starke Aufmerksamkeit erfuhren insbesondere Fragen nach der Medialität der Stimme. Vgl. dazu bspw. Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hrsg.): Medien/Stimmen. Köln 2003. Sowie Brigitte Felderer (Hrsg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Berlin 2004. Und Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme. Berlin 2002. 109 Vgl. u.a. Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater. Bielefeld 2012. Sowie Doris Kolesch, Jenny Schrödl (Hrsg.): Kunst-Stimmen. Bonn 2004. 110 Vgl. Schrödl: Vokale Intensitäten. S. 102-110.

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„Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert“111 dem Wandel von ästhetischen Normen der Stimme und des Sprechens nach, wobei er neben dem Theater auch auf Rezitationskunst, Tonfilm und Radio eingeht. Fokussieren diese Arbeiten die normativen Vorgaben, die im Bereich der Künste für Stimme und Sprechen gelten, so kann auch hier die Untersuchung der Sprechstimmbildung die Normen in den Blick nehmen, die für das Sprechen jenseits von Theater und künstlerischem Vortrag gelten. Sie tut das vor allem in Hinblick auf die Normierungsbestrebungen der Aussprache. Um ausführlich der von Meyer-Kalkus112 angeregten Fragestellung nachzugehen, welchem historischen Wandel Sprechstile und Hörgewohnheiten unterliegen, bedürfte es weitergehender Untersuchungen.113 Die vorliegende Arbeit kann hierfür vielleicht weitere Impulse geben. Neben den normativen Vorgaben, an denen Stimme sich ausrichtet, wird in den Untersuchungen zur Stimme häufig die expressive Kraft der Stimme in Hinblick auf die Individualität eines Menschen betont.114 Auch hier hallt der rhetorikskeptische Natürlichkeitsdiskurs der Aufklärung nach, der im körperlichen Ausdruck einen verlässlichen Hinweis auf das ‚Innere‘ des Menschen zu finden hofft und von einem substantiellen Persönlichkeitsmodell ausgeht. So folgert Meyer-Kalkus aus dieser Expressivität, dass „[i]n der Stimme […] jeweils die ganze Person verkörpert“ 115 ist. Petra Bolte-Picker hingegen betont in Anschluss an Untersuchungen von Helga Finter, dass „dem sprechenden Subjekt im Laufe seines Lebens eine wandelbare voix plurielle zugeeignet [ist], die zwischen Körper und Sprache […] positioniert ist“116. Darauf aufbauend untersucht Bolte-Picker die Stimmkonzeptionen physiologischer Stimmexperimente des 19. Jahrhunderts und arbeitet deren diskursiv verfassten Charakter heraus. Auch wenn die vorliegende Arbeit zur Sprechstimmbildung nicht der an das psycho111 Der Titel ist etwas irreführend, da Meyer-Kalkus durchaus ausführlich auch Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert mit einbezieht. 112 Vgl. Meyer-Kalkus: Zwischen Pathos und Pathosschwund. Sowie ders.: Das Gedicht läuft beim Sprechen durch den ganzen Körper. 113 Wie bereits erwähnt, stellen die Arbeiten der Sprechwissenschaftlerin Irmgard Weithase hierzu zwar reichhaltiges Material zusammen, bedürften aber auch einer kritischen Überprüfung. Ihrer These vom Wechsel ‚extensiver‘ und ‚intensiver‘ Sprechstile (vgl. Weithase: Goethe als Sprecher) widerspricht Meyer-Kalkus in seinem Aufsatz „Zwischen Pathos und Pathosschwund“ (S. 6-8). 114 Vgl. bspw. Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. S. 37-38. Sowie Kolesch; Krämer (Hrsg.): Stimme. S. 11. 115 Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. S. 34. 116 Bolte-Picker, Petra: Die Stimme des Körpers. Vokalität im Theater der Physiologie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2012. Hier S. 84.

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analytische Vokabular Lacans anknüpfenden Perspektive der Untersuchung Bolte-Pickers folgt, so wird doch auch hier in Anschluss an Fragen der Subjektbildung auf die diskursive Verfasstheit von Stimme eingegangen.117 Unter den Begriffen ‚actio‘ oder ‚pronuntiatio‘ gehören Fragen von Stimme und Sprechen seit jeher zum Fachgebiet der Rhetorik118, dennoch wurde diesem Bereich auch in der modernen Rhetorikforschung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt119. So widmet ein aktuelles Einführungsbuch zur Rhetorik diesem Themengebiet gerade einmal eineinhalb Seiten.120 Mit Blick auf die Diskurse von Verstellung und Natürlichkeit befasst sich Ursula Geitner in ihrer Untersuchung „Die Sprache der Verstellung“ unter anderem mit der Konzeption von ‚actio‘ und ‚pronuntiatio‘ in der antiken Rhetorik und deren Stellenwert in neuzeitlichen Texten. Von den rhetorikkritischen Diskursen, die Geitner beschreibt, lässt sich wiederum ein Bogen zu den theaterwissenschaftlichen Untersuchungen zu Theaterfeindlichkeit schlagen, wie sie von Stefanie Diekmann, Christopher Wild und Gabriele Brandstetter in dem Aufsatzband „Theaterfeindlichkeit“ vorgestellt werden. Kritik an Rhetorik und Ablehnung von Theater überschneiden sich in ihrer Negativbewertung des Schauspielers als Sinnbild für Verstellung und Künstlichkeit. Mit seiner „Geschichte der Stimme“ hat KarlHeinz Göttert einen umfangreichen Überblick über Entwicklungen und Quellen von der Antike bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben, wobei er die Geschichte der Stimme als eine Art Verlustgeschichte im Wechselspiel mit anderen medialen Entwicklungen beschreibt. Aspekte der Ausbildung der Stimme werden immer wieder gestreift, jedoch nicht dezidiert behandelt. Verena Schulz hat 117 Nur am Rande kann in der vorliegenden Untersuchung der Zusammenhang von Stimme und technischen Apparaturen gestreift werden, insofern dieser in den Praktiken und Diskursen der Sprechstimmbildung Erwähnung findet. Hier wären weitergehende Untersuchungen notwendig, um die Verbindung von Sprechstimmbildung und technischer Entwicklung eingehender zu untersuchen. Anknüpfungspunkt böten dabei folgende Arbeiten und Aufsätze: Pinto, Vito: Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film. Bielefeld 2012. Macho, Thomas: Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme. In: Kolesch; Krämer (Hrsg.): Stimme. S. 130-146. Hörisch, Jochen: PhonoTechniken. In: Kolesch; Pinto; Schrödl (Hrsg.): Stimm-Welten. S. 99-114. 118 Mit der Zeit etablierte sich ‚pronuntiatio‘ als Bezeichnung für den stimmlichen Vortrag, während ‚actio‘ die Gesten und Gebärden, aber auch den Gesamtrahmen des Vortrags beschreibt (vgl. Steinbrink: Actio. S. 43. Und: Ueding; Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. S. 236). 119 Vgl. dazu auch Till: Rhetorik und Schauspielkunst. S. 62. 120 Vgl. Ueding; Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. S. 236-237.

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sich ausführlich mit der „Stimme in der antiken Rhetorik“ befasst und umfangreich alle einschlägigen Quellen ausgewertet, wobei sie insbesondere das Interesse der Autoren an der Stimmwirkung, der Affektübertragung und der Stimmphysiognomie herausarbeitet – während konkrete Anweisungen zur Stimmausbildung in den Quellen kaum zu finden sind. Bettine Menke hingegen versteht Stimme in ihrem Aufsatz „Die Stimme der Rhetorik – Die Rhetorik der Stimme“ im übertragenen Sinne und untersucht, wie durch rhetorische Figuren unterschiedlichen Standpunkten eine Stimme verliehen wird.121 Gehört der stimmliche Vortrag zum Gegenstandsbereich des Faches Rhetorik, so ist gleichzeitig Rhetorik ein Teilgebiet des Faches Sprechwissenschaft, das sich in Deutschland aus der Sprechkunde entwickelt hat und mit der Sprecherziehung als didaktischem Anwendungsbereich verbunden ist.122 Die Sprechwissenschaft vereint unterschiedliche Teilgebiete in ihrer Disziplin und hat je nach Standort und Fachvertretern unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erfahren, die auch aus der unterschiedlichen Fachentwicklung in der BRD und der DDR resultieren. Während die ersten Fachvertreter der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ in den 1920er Jahren Sprechtechnik, Vortragskunst und Rhetorik als die drei gleichberechtigten Teilgebiete ihres Faches beschrieben 123, benennt die Halle’sche Sprechwissenschaft heute Phonetik, Rhetorik und Sprechkunst sowie Sprechen in den Medien und die therapeutische Behandlung von Stimm- und Sprechstörungen als wichtige Teilgebiete des Faches124. Halle 121 Menke, Bettine: Die Stimme der Rhetorik. – Die Rhetorik der Stimme. In: Kittler; Macho; Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. S. 115-132. Der Aufsatz von Karl-Heinz Göttert „Vox – Ein vernachlässigtes Kapitel der Rhetorik“ hingegen bringt im Vergleich zur seiner „Geschichte der Stimme“ wenig Neues (vgl. ders.: Vox – Ein vernachlässigtes Kapitel der Rhetorik. In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Die Aktualität der Rhetorik. München 1996. S. 57-66). 122 Teilweise

wird

das

Fach

mit

der

Doppelbezeichnung

‚Sprechwissen-

schaft/Sprecherziehung‘ geführt, teilweise – insbesondere in Halle – nur als ‚Sprechwissenschaft‘. 123 Vgl. Friedrich Buch, Erich Drach, Albert Fischer, Ewald Geißler, Martin Seydel, Richard Wittsack: Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst an deutschen Universitäten. In: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920). S. 235-236. Hier S. 235. 124 Vgl. bspw. Bose; Hirschfeld; Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. Sowie Lutz Anders, Ines Bose (Hrsg.): Aktuelle Forschungsthemen der Sprechwissenschaft 1: Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, Sprache und Sprechen von Hörfunknachrichten. Frankfurt a.M. 2009 (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik 30). Und Ursula Hirschfeld, Baldur Neuber (Hrsg.): Aktuelle

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ist gegenwärtig der einzige Standort in Deutschland, an dem man Sprechwissenschaft als eigenes Fach studieren kann und von Halle gehen die stärksten Forschungsimpulse im Bereich der Sprechwissenschaft aus. Die Halle’sche Sprechwissenschaft ist methodologisch stark empirisch ausgerichtet und hat insbesondere durch ihre phonetischen Forschungen das „Deutsche Aussprachewörterbuch“ – die aktuellste Kodifizierung der deutschen Standardaussprache – maßgeblich herausgebracht.125 Der Sprechstimmbildung widmet sie sich insbesondere im Rahmen der Sprechkunst, unter anderem da Sprecherziehung in der Schauspielerausbildung eines der traditionellen Berufsfelder für Sprecherzieher ist.126 In der Rhetorikforschung grenzt sich die Halle’sche Sprechwissenschaft explizit von Herangehensweisen ab, die in der BRD einflussreich waren, insbesondere von Hellmut Geißners hermeneutischer Herangehensweise.127 Wie bereits erForschungsthemen der Sprechwissenschaft 2: Phonetik, Rhetorik und Sprechkunst. Frankfurt a.M. 2009 (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik 31). 125 Sie knüpft damit an die Forschungstradition der in der DDR erschienenen Aussprachewörterbücher „Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (WDA) und „Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (GWDA) an (vgl. Eva-Maria Krech, Eduard Kurka, Helmut Stelzig et al. (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Aussprache (WDA). Leipzig 1964. Und dies. (Hrsg.): Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (GWDA). Leipzig 1982). Wichtige Vorarbeiten für das „Deutsche Aussprachewörterbuch“ lieferte etwa Uwe Hollmach mit seinen „Untersuchungen zur Kodifizierung der Standardaussprache in Deutschland“ (vgl. ders.: Untersuchungen zur Kodifizierung der Standardaussprache in Deutschland. Frankfurt a.M. 2007 (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik 21)). 126 Wobei der Bereich der Sprechkunst über die Tätigkeit des Schauspielers hinausreicht, wie Martina Haase in ihrem Beitrag zur „Einführung in die Sprechwissenschaft“ betont (vgl. Bose; Hirschfeld; Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. S. 180 f.). Beispielhaft für eine Untersuchung zur Sprechstimmbildung im Kontext der Sprechkunst sei hier Matthias Walters Untersuchung „Die Arbeitsweise von Kristin Linklater im Vergleich mit der Methode des Gestischen Sprechens“ genannt (in: Hirschfeld; Neuber (Hrsg.): Aktuelle Forschungsthemen der Sprechwissenschaft 2. S. 297-318). Im Bereich der Sprechkunst zeigt sich auch die engste Anknüpfung an theaterwissenschaftliche Fragestellungen (vgl. Bose; Hirschfeld; Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. S. 195-199). 127 Vgl. Bose; Hirschfeld; Neuber et al.: Einführung in die Sprechwissenschaft. S. 102. Hier führt Baldur Neuber aus: „Das Geißnersche Konzept fußt durchgängig auf hermeneutischen Vorstellungen, während in der Rhetorischen Kommunikation Hallescher Prägung unterschiedliche philosophische und psychologische Untersetzun-

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wähnt, prägte Geißners Fokussierung auf die Gesprächsrhetorik maßgeblich die westdeutsche Sprechwissenschaft. Wie im Laufe der Untersuchung noch zu zeigen sein wird, wandte sich Geißner jedoch gegen Ende seiner Schaffenszeit gegen die Konzeption des eigenen Faches und forderte eine Umorientierung und Umbenennung in Richtung Kommunikationspädagogik.128 Marita PabstWeinschenk publizierte neben einer Facheinführung129 insbesondere zur Frage der Umsetzung von Sprecherziehung in der Schule130. In ihrer Dissertation „Erich Drachs Konzept der Sprechkunde und Sprecherziehung“ 131 sowie der daneben erschienenen „Faktengeschichte“132 widmet sie sich der Fachgeschichte und einem der frühsten Fachbegründer, Erich Drach. Die Publikation führte zu einer heftigen Kontroverse mit Geißner, unter anderem um die nationalsozialisti-

gen eine Rolle spielten und spielen, u.a. auch konstruktivistische und systemische Grundlegungen.“ (Ebd.) Norbert Gutenberg weist in seiner „Einführung in die Sprechwissenschaft und Sprecherziehung“ darauf hin, dass umgekehrt die von Geißner beschriebene Fachkonzeption, seine „empathische gesprächsparadigmatische Fundierung […] allemal zu eng [wäre]: in seinem Sinne wären z.B. alle Publikationen der Halleschen Tradition nicht ‚sprechwissenschaftlich‘“ (Gutenberg, Norbert: Einführung in die Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. Frankfurt a.M. 2001. S. 13). Zur Kontroverse um die methodische Ausrichtung des Faches finden sich zudem Beiträge von Hellmut Geissner und Eberhard Stock in Bose (Hrsg.): Sprechwissenschaft. 100 Jahre Fachgeschichte an der Universität Halle. S. 47-86. 128 Vgl. Hellmut Geißner: Kommunikationspädagogik. Transformationen der ‚Sprech‘Erziehung. St. Ingbert 2000 (= Sprechen und Verstehen. Schriften zur Kommunikationstheorie und Kommunikationspädagogik 17). Auf diesem Weg folgte ihm Thomas Kopfermann (vgl. Thomas Kopfermann: Pädagogische und didaktischmethodische Grundlagen der Sprecherziehung. In: ders.: Lies, damit ich ihn selbst höre. Schriften zur Kommunikationspädagogik. Hrsg. und eingeleitet von Hellmut K. Geißner. St. Ingbert 2008. S. 171-186. Hier S. 173). 129 Pabst-Weinschenk, Marita (Hrsg.): Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. München 2004. 130 Pabst-Weinschenk; Wagner; Naumann (Hrsg.): Sprecherziehung im Unterricht. Sowie Marita Pabst-Weinschenk: Die Sprechwerkstatt. Sprech- und Stimmbildung in der Schule. Braunschweig 2000. 131 Pabst-Weinschenk, Marita: Erich Drachs Konzept der Sprechkunde und Sprecherziehung. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der Sprechwissenschaft. Magdeburg, Essen 1993. 132 Pabst-Weinschenk, Marita: Die Konstitution der Sprechkunde und Sprecherziehung durch Erich Drach. Faktengeschichte von 1900 bis 1935. Magdeburg, Essen 1993.

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schen Verstrickungen der ersten Fachvertreter.133 In „Wege und Irrwege der Sprecherziehung“ arbeitete anschließend auch Geißner Teile der frühen Fachgeschichte auf.134 Lässt sich also für die Forschungsausrichtung der Sprechwissenschaft in Westdeutschland eine starke Fokussierung auf den Bereich der Rhetorik, insbesondere unter dem Einfluss der Geißner’schen Gesprächsrhetorik konstatieren, so waren in Ostdeutschland eine stark empirisch ausgerichtete phonetische Forschung sowie eine stärkere Anbindung auch des therapeutischen Bereichs maßgeblich. Die vorliegende Untersuchung zur Sprechstimmbildung knüpft an vielen Stellen an die sprechwissenschaftlichen Untersuchungen zur Fachgeschichte sowie zu Fragen der Aussprachekodifizierung an. Sie ergänzt diese jedoch auch um eine neue Perspektive, die zum einen enger gefasst ist, da sie sich auf Fragen der Formung von Stimme und Sprechen konzentriert und damit Teilgebiete der Sprechwissenschaft nur am Rande streift. Zum anderen wird Sprechstimmbildung aber nicht nur im Rahmen der Sprecherziehung betrachtet, so dass sich daraus ein weiter gefasster Blick auf Praktiken und Diskurse der Sprechstimmbildung ergibt, die nicht in den sprechwissenschaftlichen Diskursen aufgehen. Nimmt die Sprechwissenschaft Bezüge zwischen Theater und Sprecherziehung insbesondere in ihrem Fachbereich der Sprechkunst in den Blick, so stülpt die vorliegende Untersuchung die Perspektive gewissermaßen um und folgt der Frage, wie das Theater und seine Praktiken Sprechstimmbildung in einer breiten gesellschaftlichen Ausrichtung beeinflussen. Schließlich wird der Blick auf die theatralen Aspekte und performativen Prozesse des Übens von Stimme und Sprechen gelenkt, woraus sich in der Zukunft interessante Anknüpfungspunkte

133 Vgl. dazu die wechselseitigen Beiträge von Geißner und Pabst-Weinschenk in: Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, Sprechpädagogik, Sprechtherapie, Sprechkunst. I/94 (S. 34-47); II/94 (S. 46-71); I/95 (S. 32-46, S. 47-58); II/95 (S. 5768). 134 Geißner, Hellmut: Wege und Irrwege der Sprecherziehung. Personen, die vor 1945 im Fach anfingen und was sie schrieben. St. Ingbert 1997. Die Beschäftigung mit der eigenen Fachgeschichte mag auch zu Geißners Überlegungen in Richtung einer Kommunikationspädagogik beigetragen haben (vgl. Geißner: Kommunikationspädagogik. S. 30-38). Zur Aufarbeitung der Fachgeschichte trug auch Klaus Roß bei (vgl. ders.: Sprecherziehung statt Rhetorik). Auslöser war der Aufsatz von Raimund Hethey: Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit? Einige notwendige kritische Blicke auf die Geschichte der Rhetorik im 20. Jahrhundert. In: Joachim Dyck, Walter Jens, Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 7. Tübingen 1988. S. 133-141.

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für einen Austausch zwischen Sprechwissenschaft, Theaterwissenschaft und ‚performativer Pädagogik‘ ergeben können.135 Mit diesen Ansätzen sind die Forschungsfelder umrissen, an die sich die Untersuchung der Sprechstimmbildung anschließt, und es wurden dabei bereits einige der Fragestellungen skizziert, denen diese Arbeit nachgehen möchte. Die Gesellschaftsanalysen von Foucault und McKenzie werden als Ausgangspunkt dienen, um die beiden ‚Hochphasen‘ der Sprechstimmbildung – Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die Entwicklungen seit den 1990er Jahren bis in die Gegenwart – zueinander in Beziehung zu setzen und die Praktiken und Diskurse der Sprechstimmbildung in ihrer jeweiligen institutionellen Einbindung sowie in ihrer ökonomischen und normativen Ausrichtung zu untersuchen. Dabei wird zum einen der Frage nachgegangen, welche typisch disziplinierenden Ausprägungen die Sprechstimmbildung in der ersten Phase erfährt, zum anderen wird gefragt, inwiefern sich die Formung der Sprechstimme nicht ganz in die Muster disziplinargesellschaftlicher Strukturen einfügt. Mit Blick auf die Entwicklungen der Performancegesellschaft wird danach gefragt, welche Praktiken der Sprechstimmbildung fortgesetzt werden und welchen Veränderungen sie in der Dynamik der Performancegesellschaft unterliegen. Mit Hilfe des Begriffs der ‚Virtuosität‘ wird dabei in den Blick genommen, auf welche veränderten Anforderungen Sprechstimmbildung in der Gegenwart ausgerichtet ist. Damit verbunden sind Fragen nach Subjektentwürfen und Prozessen der Subjektbildung, die auf grundlegende Aspekte der Selbstdarstellung im Alltag abzielen und dabei auch die Angst vor Verstellung und ‚Schauspielerei‘ thematisieren. Es gilt aber auch den vorbereitenden Charakter der Sprechstimmbildung zu berücksichtigen und damit die Formen und Prozesse des Übens, sei es in den Übungsprogrammen der Ratgeberliteratur oder in den Übungssettings der Gruppenseminare, zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit nimmt den Bereich der Sprechstimmbildung anhand verschiedener theoretischer Perspektivierungen in den Blick, die es erlauben zentrale Aspekte dieses Diskurses herauszuarbeiten. Methodisch gesehen ist sie dabei keine Diskursanalyse im engeren Sinne 136, greift jedoch auf zahlreiches Quellenmaterial aus unterschiedlichen Bereichen zurück, so dass es zum einen 135 Zum Gebiet der ‚performativen Pädagogik‘ vgl. Leopold Klepacki: Leiblichkeit – notwendiger Ausgangs- und Bezugspunkt unterrichtlicher Bildungsprozesse? Theoretische Grundüberlegungen zu einer performativen Didaktik. In: ders., Andreas Schröer, Jörg Zirfas (Hrsg.): Der Alltag der Kultivierung. Studien zu Schule, Kunst und Bildung. Münster 2009. S. 15-32. Sowie Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hrsg.): Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven. Weinheim 2007. 136 Vgl. Landwehr: Historische Diskursanalyse. S. 100-131.

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gerechtfertigt ist, von einem Diskurs der Sprechstimmbildung zu sprechen, und zum anderen anhand der Quellen zentrale Thematiken und Dynamiken dieses Diskurses herausgearbeitet werden können, die sich um die Aspekte der Normierung, die Praktiken des Übens und die Formen der Institutionalisierung gruppieren sowie ökonomische Dynamiken thematisieren. Während für die Analyse der Sprechstimmbildung zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend Textquellen137 – Aussprachekodizes, Zeitschriftenaufsätze zur Aussprachenormierung sowie zu Fachfragen der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, Übungsbücher zur Sprechstimmbildung sowie Richtlinien für schulische Lehrpläne – herangezogen werden, werden diese Quellen in der Analyse gegenwärtiger Formen der Sprechstimmbildung zum einen um die audiovisuellen Datenträger, die den Übungsbüchern beigelegt sind, sowie um die Websites von Stimmtrainern ergänzt. Zum anderen war es in der Gegenwart möglich, an Seminarangeboten zur Sprechstimmbildung teilzunehmen und dadurch diese Praxis durch eine ergänzende Herangehensweise, die der teilnehmenden Beobachtung, in den Blick zu nehmen. Im folgenden Kapitel werden zunächst die theoretischen Grundlagen, auf denen die Untersuchung der Sprechstimmbildung aufbaut, ausführlich dargestellt und die Fragestellungen, denen hier nachgegangen werden soll, präzisiert. In einem ersten Abschnitt geht es dabei um die Merkmale von Disziplinar- und Performancegesellschaft; ein zweiter Abschnitt beleuchtet die unterschiedlichen ökonomischen Dynamiken der beiden Gesellschaftsformationen, die für die Performancegesellschaft eine Fokussierung von Selbstdarstellungs- und Wirkungsaspekten mit sich bringt; ein dritter Abschnitt stellt verschiedene Perspektivierungen von Subjektbildungsprozessen vor und geht auf Fragen zur Übungspraxis ein. Daran anschließend nimmt Kapitel drei die erste ‚Hochphase‘ der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnt und mit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende geht, in den Blick. Dabei wird zunächst die Normierung der Aussprache durch Theodor Siebsʼ Regelwerk „Deutsche Bühnenaussprache“ von 1898 untersucht, da dies zudem einen Einblick in die für die Sprechstimmbildung relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ermöglicht. Daran anschließend werden am Beispiel des ersten Bandes von Julius Heys Übungsbuch „Deutscher Gesangs-Unterricht“, das bereits vor der Siebsʼschen Regelung erschienen ist, die Ausgestaltung der Übungsprogramme und -praktiken Ende des 19. Jahrhunderts sowie die daran anschließenden methodischen Debatten 137 Seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts existieren auch Tondokumente, die jedoch für die hier verfolgten Fragestellungen nicht von zentraler Bedeutung sind und keine ausführliche Berücksichtigung erfahren haben.

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untersucht. Diese stehen in Bezug zu den um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert einsetzenden Bemühungen ein eigenes Universitätsfach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zu etablieren, die einhergingen mit dem Versuch, Sprecherziehung – und damit auch die Sprechstimmbildung – in der schulischen Ausbildung zu verankern und den Bereich der frei arbeitenden Sprechstimmbildner zu regulieren. Stellt die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 einen gewissen Aufschwung für diese Institutionalisierungsbemühungen dar, so ist gleichzeitig die Bedeutung der Sprechstimmbildung für die politische Rhetorik der Zeit des NS-Regimes kritisch zu befragen. Kapitel vier befasst sich mit der Sprechstimmbildung seit den 1990er Jahren. Hier wird zunächst danach gefragt, welche Veränderungen sich in Hinblick auf die Institutionalisierung der Sprechstimmbildung sowie auf die Normierung der Aussprache ergeben haben. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, wie sich die neuen ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft auf die Angebote der Sprechstimmbildung auswirken, wobei insbesondere die Websites von Stimmtrainern in den Blick geraten. Anschließend werden die Übungsbücher zur Sprechstimmbildung auf ihren Aufbau, die behandelten Thematiken und ihre Übungen und Übungsansätze hin untersucht, wobei sich insbesondere die Frage stellt, wie die Übungsprogramme dieser Bücher im Vergleich zu den Übungsbüchern, die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen sind, gestaltet sind. Daneben wird der Frage nachgegangen, welche Übungsszenarien und -settings die Bücher entwerfen und welche Funktion den den Büchern beigelegten elektronischen Medien wie CDs und DVDs dabei zukommt. Schließlich wird wie auch bei den Websites darauf eingegangen, welche Entwürfe von Subjektivität sich in Hinblick auf die Wirkung und Bewertung von Stimme in den Büchern finden In der abschließenden Analyse von Seminaren zur Sprechstimmbildung wird es insbesondere darum gehen, welche Übungssettings dort zu finden sind und wie dabei die Wirkung von Stimme und Sprechen in Szene gesetzt wird.

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Theoretische Grundlagen

Um die Praktiken und Diskurse der Sprechstimmbildung sowohl in ihrer gegenwärtigen Ausprägung als auch in ihrer geschichtlichen Dimension untersuchen zu können, bieten die im Folgenden vorgestellten theoretischen Positionen unterschiedliche Perspektivierungen des Untersuchungsgegenstandes und ermöglichen es, die in der Einleitung angerissenen Fragen zu differenzieren. Den Ausgangspunkt bilden die Gesellschaftsanalysen Michel Foucaults und Jon McKenzies. Mit der Disziplinargesellschaft und der Performancegesellschaft beschreiben Michel Foucault und Jon McKenzie jeweils eine Macht-WissensKonstellation, in der spezifische Strukturen und Dynamiken so wirken, dass sie Einfluss auf Diskurse und deren Praktiken nehmen, beziehungsweise diese in ihrer jeweiligen Form erst hervorbringen. Sprechstimmbildung lässt sich anhand der beiden Gesellschaftsanalysen in Hinblick auf ihre Techniken der Körperformung, ihre institutionelle Einbindung sowie ihre ökonomische und normative Ausrichtung untersuchen. McKenzie zufolge löst die Performancegesellschaft die Disziplinargesellschaft seit 1945 allmählich ab; die historische Entwicklung der Sprechstimmbildung kann somit in Beziehung zu diesen Transformationsprozessen betrachtet werden. Dabei kann zunächst danach gefragt werden, welche unterschiedlichen Ausprägungen Sprechstimmbildung in der Disziplinarund Performancegesellschaft jeweils erfährt. Darüber hinaus geraten jedoch auch Merkmale in den Blick, in denen sich die Sprechstimmbildung in beiden Zeitphasen gleicht, beziehungsweise an denen ambivalente Tendenzen sichtbar werden, so dass die strikte Abgrenzung der Mechanismen und Dynamiken beider Gesellschaftsformationen anhand des Materials auch kritisch befragt werden kann. Da beide Gesellschaftsformationen maßgeblich von ökonomischen Dynamiken geprägt sind, von denen auch die Sprechstimmbildung in besonderer Weise betroffen ist, werden diese gesondert behandelt werden. Dabei wird auf Paolo Virnos Übertragung des Virtuositätsbegriffs auf postfordistische Arbeitsstruktu-

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ren – sowie daran anschließende Untersuchungen – Bezug genommen, da diese erlauben, die neue Fokussierung von Wirkungs- und Bewertungsprozessen in der Performancegesellschaft zu thematisieren, und Fragen nach der Funktion und Ausrichtung von Sprechstimmbildung in der Gegenwart nachzugehen. Den Fragen, die eine Untersuchung von Sprechstimmbildung, insbesondere ihrer Übungs- und Ausbildungspraktiken, in Hinblick auf Prozesse der Subjektbildung aufwirft, soll zum einen in Anschluss an McKenzies Überlegungen zu den unterschiedlichen Subjektformen in Disziplinar- und Performancegesellschaft nachgegangen werden. Zum anderen bieten Judith Butlers Ausführungen zur Subjektivierung Ansätze, die Praxis der Sprechstimmbildung und ihre Konzeptionierungen von Stimme und Sprechen in Bezug zu Subjektivierungsprozessen zu setzen. Für die Untersuchung der Übungspraktiken gerät insbesondere die von Foucault beschriebene Form der disziplinierenden Übung in den Blick, woran sich die Frage nach ihrer Tradierung oder Transformation in der Performancegesellschaft anschließt.

2.1 DISZIPLINAR- UND PERFORMANCEGESELLSCHAFT ALS AUSGANGSPUNKT FÜR DIE ANALYSE VON SPRECHSTIMMBILDUNG In „Überwachen und Strafen“ beschreibt Michel Foucault den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, der sich in Europa zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert vollzieht, als „Formierung der ‚Disziplinargesellschaft‘“1: „Der Übergang von einem Projekt zum anderen, vom Modell der Ausnahmedisziplin zu dem der verallgemeinerten Überwachung, beruht auf einer historischen Transformation: der fortschreitenden Ausweitung der Disziplinarsysteme im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, ihrer Vervielfältigung durch den gesamten Gesellschaftskörper hindurch […].“2

Ähnlich diesem Transformationsprozess löst, Jon McKenzie zufolge, im 20. Jahrhundert eine Gesellschaftsmatrix, die vom Prinzip der Performance bestimmt ist, die Disziplinargesellschaft allmählich ab: „Performance will be to the twentieth and twenty-first centuries what discipline was to the eighteenth and nineteenth: an onto-historical formation of power and knowledge.“3 In seinem

1

Foucault: Überwachen und Strafen. S. 241.

2

Ebd.

3

McKenzie, Jon: Perform or else. S. 176.

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Buch „Perform or else“ analysiert er, wie sich diese Performancegesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen, vor allem von Ökonomie und Technologie geprägten Phasen entwickelt und insbesondere seit den 1990ern, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ihre Dynamik voll entfaltet. 4 Während sich die Formation der Disziplinargesellschaft ausgehend von Europa auch in den durch Kolonialisierung unterworfenen Ländern ausbreitete, sieht McKenzie die USA als Zentrum der Performancegesellschaft. Durch die hegemoniale Stellung der USA seien jedoch mittlerweile auch die Dynamiken der Performancegesellschaft ein globales Phänomen, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen in den industrialisierten Ländern und den sogenannten Entwicklungsländern.5 Diesen Diagnosen folgend lässt sich die erste Hochphase der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg der Disziplinargesellschaft zuordnen, während die zweite, gegenwärtige Phase seit den 1990ern in eine Zeit fällt, in der sich die Dynamiken der Performancegesellschaft bereits stark entfaltet haben. Durch deren globale Reichweite lassen sich McKenzies Untersuchungsansätze auch auf den deutschsprachigen Raum übertragen, auch wenn berücksichtigt werden muss, dass manche Entwicklung in den USA weiter vorangeschritten oder stärker ausgeprägt sein mag als in Europa. Foucault legt in seiner Analyse besonderes Augenmerk darauf, wie der Körper durch die räumlich und zeitlich organisierten Kontroll- und Ausbeutungsmechanismen der „Disziplinen“6 eine spezifische Formung erhält. Neu an dieser Körperformung sind: die „Größenordnung der Kontrolle“, da das Detail in den Fokus rückt; der „Gegenstand der Kontrolle“, bei dem es nun um „die Ökonomie und Effizienz der Bewegungen und ihrer inneren Organisation“ geht; sowie die „Durchführungsweise“, die „in einer durchgängigen Zwangsausübung [besteht], die über die Vorgänge der Tätigkeit genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert“.7 Als Mechanismen der räumlichen Aufteilung und Kontrolle beschreibt Foucault die Klausur, die Parzellierung, die Zuweisung von Funktionsstellen sowie den Rang. 8 Die Organisation der Zeit erfolgt über die Unterteilung „in sukzessive oder parallele Abschnitte“, die „nach einem analytischen Schema organisiert [werden] – als Ab4

Ebd. S. 181.

5

Ebd.

6

Als Disziplinen bezeichnet Foucault die „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen“ (Foucault: Überwachen und Strafen. S. 175).

7

Vgl. ebd.

8

Vgl. ebd. S. 181-191.

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folge von möglichst einfachen Elementen, die sich mit zunehmender Komplexität miteinander verschränken“.9 Im Zentrum der Körperformung steht die Technik der Übung.10 Diese erhält ihre spezifische Form in der Disziplinargesellschaft durch ihre Einordnung in die Machstrukturen und ökonomischen Logiken.11 Insbesondere die serielle Anordnung in gestuften Levels, wodurch durch „Stetigkeit“ und „Zwang“ Anforderungen und Leistung gesteigert sowie die Individuen charakterisiert werden können, gibt der Übung ihre typische disziplinierende Form.12 Weiteres Charakteristikum der Disziplinargesellschaft ist die spezifische Entfaltung der „Macht der Norm“ 13. Durch die Festsetzung von Normwerten, die „sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen“14 können, lassen sich die Individuen in Bezug auf diese Normen charakterisieren und, indem die Techniken der Disziplinierung auf diese Normen ausgerichtet sind, tendenziell auch uniformieren.15 Die Disziplinierung entfaltet ihre Macht also über eine spezifische Strukturierung von Raum und Zeit, die eine kontinuierliche Kontrolle und ‚Zwangsausübung‘ ermöglicht. Diese Strukturierung zeigt sich in den verschiedenen Institutionen der Disziplinargesellschaft in je spezifischer Weise, etwa in der Sequenzierung des Ausbildungsweges in der Schule oder der strategischen Anordnung der Arbeiter in der Fabrik. Die Strukturierung richtet sich dabei nach Kriterien der Effizienz und Leistungssteigerung und ist auf Machtausübung ausgerichtet.16 Für die Untersuchung von Sprechstimmbildung wirft dies Fragen danach auf, wie diese im letz9

Ebd. S. 203.

10 Auf diese gehe ich in Abschnitt 2.3 noch einmal gesondert ein. 11 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 209. Die Übung dient „dann […] dem haushälterischen Einsatz und nutzbringenden Zusammentreffen der Lebenszeit sowie der Ausübung von Macht über die Menschen mittels der so organisierten Zeit“ (ebd.). 12 Ebd. S. 208. 13 Ebd. S. 237. 14 Ebd. S. 236. 15 Vgl. ebd. S. 236-237: „[D]ie einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen [werden] auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist[, bezogen]. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ‚Natur‘ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ‚wertenden‘ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität.“ 16 Vgl. ebd. S. 175. Auf die ökonomischen Aspekte gehe ich unter 2.2. noch ausführlich ein.

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ten Drittel des 19. Jahrhunderts als disziplinierende Praxis entsteht: an welchen normativen Setzungen ist sie ausgerichtet? Inwiefern entfalten sich Ausbildungsund Übungspraktiken der Sprechstimmbildung als disziplinierende Techniken? Welche institutionelle Einbindung erfährt sie und von welchen ökonomischen Prinzipien ist sie geprägt? McKenzie geht in seiner Charakterisierung der Performancegesellschaft von den Bedeutungsfacetten des englischen Wortes ‚performance‘ aus und arbeitet exemplarisch an drei unterschiedlichen Paradigmen heraus, welche normative Kraft und welche Dynamiken das Prinzip Performance in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entfaltet. So zeigt er an Theorien zur Cultural Performance, dass der Begriff hier auf den Bedeutungsaspekt der Wirkung zielt und Performance mit dem Aspekt der Liminalität, Grenzüberschreitung und Transformation verbunden wird.17 In Theorien zur Betriebsführung wird der Begriff im Sinne von Effizienz verwendet, das heißt einer Minimierung von Input und Maximierung von Output.18 In technologischen Kontexten beschreibt der Performance-Begriff vor allem die Leistung, die erzielt werden kann.19 McKenzie sieht in den drei Paradigmen keine voneinander unabhängigen Bereiche, sondern Ausdruck der neuen, die Gesellschaft prägenden Macht-Wissens-Konstellation. Während der Begriff ‚performance‘ McKenzie zufolge in den Performance Studies lange Zeit vorwiegend in seinem transgressiven, befreienden oder widerständigen Potenzial betrachtet wurde, sieht McKenzie hingegen dessen normative Ausrichtung und Wirkung als zentral an: „all three paradigms valorize the testing and contesting of norms“20. Dabei besteht der normative Aspekt insbesondere darin, Anforderungen des wirksamen, effektiven und leistungsorientierten Handelns gerecht zu werden, wobei die Kriterien, woran sich dieses bemisst, variabel sind und auch die Anforderungen selbst ständig wechseln können: „the atmosphere is complex, highly pressurized by challenges and counterchallenges to perform efficiently one moment, effectively another, and efficaciously the next“21. Entsprechend identifiziert McKenzie ‚challenge‘ als einen weiteren zentralen Begriff, an dem die Dynamiken der Performancegesellschaft greifbar werden: es gilt, ständig neue Herausforderungen anzunehmen, ans Limit zu gehen, Risiken einzugehen und Grenzen auszutesten. Die titelgebende Formel „perform or else“ verweist auf die drohenden Konsequenzen, wenn dies nicht gelingt. Während in der Disziplinargesellschaft Normen als stabile Bezugspunk17 Vgl. McKenzie: Perform or else. S. 29-53. 18 Vgl. ebd. S. 55-94. 19 Vgl. ebd. S. 95-135. 20 Ebd. S. 132. 21 Ebd. S. 187.

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te festgesetzt werden, um Individuen danach zu charakterisieren und ein System der Bewertung aufzubauen, erscheinen Normen in der Performancegesellschaft als eine relative Größe, die in ihrem Bezug auf den zu erzielenden Effekt bestimmt werden. Ob ein Handeln wirkungsvoll, im Verhältnis von Input und Output effektiv oder leistungsstark war, lässt sich meist erst im Nachhinein sagen und hängt von den sich ständig ändernden Variablen ab. Damit rückt eine Dynamik aus Wirkung und Bewertung in den Fokus22, in der zudem Veränderung zur erfolgversprechenden Maxime wird. Ein weiterer Unterschied zwischen Disziplinargesellschaft und Performancegesellschaft besteht McKenzie zufolge darin, dass durch die Normen der Disziplinargesellschaft eine Tendenz zur Vereinheitlichung und Homogenisierung 23 in Gang gesetzt wird, während die Performancegesellschaft im Gegensatz dazu eine Dynamik der Diversifizierung entfaltet. Diese sieht McKenzie zum einen in der größeren Diversität, die von Personen in Machtpositionen verkörpert wird: „[W]hile the power figures of discipline have been almost exclusively white European men, those of performance may be much more diverse. The emergence of postcolonial nations, the increasing importance of cultural differences for both social groups and global markets, and the emergence of women and people of color as astronauts, managers, politicians, and media stars, all suggest that the performance stratum will eventually be populated by culturally diverse power figures.“24

Zum anderen beschreibt McKenzie auch in Hinblick auf die Konturierung von Subjektpositionen eine zunehmende Desintegration.25 Die Relativierung der Anforderungen in Hinblick auf das Ergebnis bei gleichzeitiger Beschleunigung und Dynamisierung der Anforderungen bewirkt somit in der Performancegesellschaft eine Diversifizierung und Vervielfältigung von Subjektpositionen und Verkörperungen von Macht und stellen einen Teil der Transformationen zwischen den beiden Gesellschaftsformationen dar. Für die Praxis der Sprechstimmbildung stellt sich damit die Frage, inwiefern auch sie diesen normativen Dynamiken unterliegt und ob sich beispielsweise jene Tendenz zur Diversifizierung hier beobachten lässt. 22 Auf diesen Aspekt gehe ich im Abschnitt 2.2 noch genauer ein. 23 Dabei ist zu betonen, dass es sich um eine Tendenz handelt, dass also keineswegs alle gleich sind, aber eben an standardisierten Maßstäben gemessen werden und Konformität dabei zugleich den Zielpunkt darstellt (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 237). 24 McKenzie: Perform or else. S. 181. 25 Auf diesen Aspekt gehe ich in Abschnitt 2.3 genauer ein.

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McKenzie weist wiederholt darauf hin, dass sich der Transformationsprozess zwischen Disziplinar- und Performancegesellschaft schrittweise und in Übergängen vollzieht und nicht abgeschlossen ist, worauf auch die vorsichtigen Formulierungen im obigen Zitat – „suggest“, „eventually“ – verweisen.26 Dennoch sieht McKenzie eine eindeutige und umfassende Entwicklung hin zum Prinzip der Performance: „No, the term ‚performance‘ has not been coined in the past halfcentury. Rather, it has been radically reinscribed, reinstalled, and redeployed in uncanny and powerful ways. What has occurred has been the articulation and rapid extension of performance concepts into formalized systems of discourses and practices, into sociotechnical systems that have themselves become institutionalized first within the United States and then subsequently worldwide.“27

Mechanismen der Disziplinierung verschwinden McKenzie zufolge zwar nicht einfach, werden jedoch in eine andere Dynamik eingebunden, so dass von einer Dominanz des Performanceprinzips gesprochen werden kann: „[E]ven though disciplinary mechanisms are still operational, their institutional forms and functions have been so radically displaced that their terrains have begun to overlap, their codes mix, their limen erode. The breakdown of extended families, the half-life of their nuclear replacement, the mutual incorporation of school and business and military, the collusion between unions and management and government, the multiculturalism of multinational corporations, the ‚coverage‘ of all this by mass multimedia technologies – these events index the performative displacement of disciplinary mechanisms in the West. Yet the disintegrative effects of performance have also begun to be felt around the world.“28

Insbesondere an Prozessen der Ausbildung lassen sich sowohl die Veränderung als auch die Tradierung disziplinierender Mechanismen und Institutionen beobachten. Für die Disziplinargesellschaft beschreibt Foucault die „Zeit der Ausbildung“ zum einen als getrennt von der „Erwachsenen-Zeit“, zum anderen ist es eine in sich auf besondere Weise strukturierte Zeit:

26 Auch Foucault weist darauf hin, dass es sich bei der Entwicklung zur Disziplinargesellschaft nicht um einen radikalen Bruch handelt, sondern eher um eine Art Verdichtung, bzw. Schwellenwertübertretung (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 278. U.a. auch S. 175 f.; bzw. S. 177). 27 McKenzie: Perform or else. S. 13. 28 Ebd. S. 187 f.

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„Diese Disziplinarzeit greift allmählich auf die pädagogische Praxis über – und spezialisiert die Zeit der Ausbildung, indem sie sie von der Erwachsenen-Zeit, von der BerufsZeit ablöst; indem sie durch abgestufte Prüfungen voneinander geschiedene Stadien organisiert; indem sie Programme festlegt, die jeweils während einer bestimmten Dauer ablaufen müssen und Übungen von zunehmender Schwierigkeit enthalten; indem sie die Individuen je nach dem Durchlauf durch diese Serien qualifiziert.“29

Die Schule als für die Disziplinargesellschaft typische Ausbildungsinstitution, in der der Ausbildungsprozess sequenziell nach Jahrgängen und räumlich nach Klassen gegliedert ist und in denen das Lernziel in Prüfungen kontrolliert wird, gibt es nach wie vor. Jedoch können zum einen die Grenzen zwischen Institutionen verschwimmen, wie McKenzie es für die Verflechtungen von Schule, Militär und Wirtschaft beschrieben hat. Zum anderen ist die Ausbildungszeit nicht mehr so eindeutig bestimmten Lebensabschnitten und speziellen Institutionen zugewiesen, wodurch das ‚lebenslange Lernen‘ zum Prinzip wird: „On the performance stratum, then, the educational lecture machine is not only becoming democratized and digitized: along with performance itself, it is becoming assigned throughout one’s personal and social life. Perpetual learning, high performance living: [...]. With performativity, life becomes one long continuing ed program.“30

Damit gewinnen Formen der Weiterbildung an Bedeutung, wodurch auch eine Vervielfältigung der Bildungsangebote eintritt. Dies gilt sowohl für den Bereich der Erwachsenenbildung31 als auch für die Ausbildungszeit der Kinder und Jugendlichen – man denke etwa an die Vielzahl privater Nachhilfeinstitute für Schüler. Blickt man von dieser umfassenden Diagnose auf die konkreten Ausprägungen der Sprechstimmbildung, stellt sich auch hier die Frage, inwieweit die von Foucault und McKenzie beschriebenen Mechanismen und Dynamiken in diesem Bereich zu beobachten sind. In welchen Ausbildungsinstitutionen ist Sprechstimmbildung verankert und wie wird sie dabei strukturiert? Ist Sprechstimmbildung Teil der für die Disziplinarzeit typischen Ausbildungsinstitutionen wie der Schule? Werden für die Sprechstimmbildung disziplinierende Übungsprogramme mit festgelegten Leistungsstufen entworfen, an deren Ende Prü29 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 205. Vgl. dazu auch McKenzie: Perform or else. S. 186. 30 McKenzie: Perform or else. S. 185. 31 Für Deutschland beschreibt diese Entwicklung bspw. Ludwig Pongratz (vgl. Ludwig A. Pongratz: Zeitgeistsurfer. Beiträge zur Kritik der Erwachsenenbildung. Weinheim 2003).

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fungen Auskunft über das erreichte Leistungsniveau geben? Wie gestalten sich die Praktiken der Sprechstimmbildung, wenn sie im Rahmen von Weiterbildungsangeboten stattfinden? Dass es im Transformationsprozess von der Disziplinar- zur Performancegesellschaft auch zur Tradierung disziplinartypischer Mechanismen und Techniken kommt, zeigt sich am Beispiel der Medialität der Wissensvermittlung. McKenzie beschreibt, wie diese maßgeblich von technologischen Entwicklungen geprägt wird und im Wechsel vom Buch zum Internet zum Ausdruck kommt. 32 Wissen wird demnach nicht mehr primär in Büchern niedergelegt und verbreitet; vielmehr sind Computer und das Internet die neuen Formen, in denen Wissen gestaltet wird. Für die gegenwärtige Sprechstimmbildung spielt das Internet zwar durchaus eine Rolle, insofern es als Plattform dient, auf der Sprechstimmbildner in Form ihrer Websites für ihre Angebote werben – es erfüllt also einen wirtschaftlichen Zweck und trägt zugleich zur normativen Konturierung der Sprechstimmbildung bei. Dennoch bedient sich die gegenwärtige Sprechstimmbildung nach wie vor in ausgeprägtem Maße der Form des Übungsbuchs, beziehungsweise des Ratgebers. Auch wenn die Funktion dieser Bücher durchaus auch darin besteht, Sprechstimmbildung zu bewerben und den Leser gegebenenfalls zu einem Sprechstimmbildungsunterricht mit einem Lehrer zu bewegen, so enthalten die Bücher doch in erster Linie Anwendungswissen der Sprechstimmbildung.33 Foucault hat in seiner Untersuchung das Handbuch als Medium beschrieben, in dem die typischen Mechanismen der Disziplinierung zum Ausdruck kommen: „Bestand im 16. Jahrhundert das militärische Exerzieren hauptsächlich darin, einen Kampf nachahmend zu spielen und die Tüchtigkeit oder Kraft des Soldaten insgesamt zu steigern, so folgt im 18. Jahrhundert der Leitfaden des ‚Handbuchs‘ dem Prinzip des ‚Elementaren‘ – und nicht mehr dem des ‚Exemplarischen‘.“34

32 Insgesamt spielen die Entwicklungen im Bereich der digitalen Computertechnik eine zentrale Rolle in der Dynamik der Performancegesellschaft, da sie maßgeblich auch zur Beschleunigung von Prozessen, u.a. Kommunikationsprozessen, beitragen. 33 Rebekka von Mallinckrodt weist darauf hin, dass der Zweck der Traktateliteratur der Neuzeit zu einem guten Teil darin bestand, die dort beschriebenen Körpertechniken überhaupt erst bekannt zu machen und für deren Erlernen zu werben (vgl. Rebekka von Mallinckrodt: Einführung: Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. In: dies. (Hrsg.): Bewegtes Leben. S. 1-14. Hier S. 10 f.). 34 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 204.

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Diese Entwicklung findet sich im Bereich der Sprechstimmbildung etwas zeitverzögert insofern, als die Intensivierung des Diskurses um die Sprechstimmbildung Ende des 19. Jahrhunderts gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass in dieser Zeit erstmals Übungsbücher für die Sprechstimme entstehen. Diese verschwinden in der Performancegesellschaft jedoch nicht, sondern erleben seit den 1990ern eine verstärkte Nachfrage. In ihnen scheinen sich also disziplinierende Techniken fortzusetzen; man kann sie als Übergangsphänomen zwischen Disziplinar- und Performancegesellschaft verstehen, wobei dann auch zu fragen ist, inwiefern sich das tradierte Medium des Übungsbuchs in den Dynamiken der Performancegesellschaft verändert. Sprechstimmbildung als eine Praxis zwischen Disziplinar- und Performancegesellschaft kann also zunächst daraufhin untersucht werden, welche jeweils charakteristischen Ausprägungen sie in den beiden Formationen erfährt, wobei dies ihre Übungspraktiken, ihre institutionelle Einbindung und Strukturierung sowie ihre normative Ausrichtung und ökonomische Dynamik umfasst. Daran schließt sich – McKenzies These einer allmählichen Veränderung folgend – die Frage an, welche disziplinierenden Merkmale der um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts ausgeprägten Sprechstimmbildung in die Gegenwart tradiert werden und inwiefern diese dennoch von den veränderten Dynamiken der Performancegesellschaft erfasst werden. Der Blick auf ambivalente Ausprägungen der Sprechstimmbildung, die sich der klaren Zuordnung zu einer der beiden Gesellschaftsdynamiken entziehen, soll darüber hinaus zum Anlass werden, deren strikte Abgrenzung voneinander kritisch zu befragen.

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2.2 ÖKONOMISCHE DYNAMIKEN ZWISCHEN DISZIPLINIERUNG UND VIRTUOSITÄT: SPRECHSTIMMBILDUNG IM SPANNUNGSFELD VON LEISTUNG, EFFIZIENZ UND WIRKUNG Performance- und Disziplinargesellschaft gleichen sich darin, dass es beide Male in ausgeprägtem Maße um ökonomische Zusammenhänge geht, was unter anderem daran sichtbar wird, dass die Begriffe ‚Leistung‘ und ‚Effizienz‘ für die Analyse beider Gesellschaftsformationen eine zentrale Rolle spielen.35 Diese ökonomischen Mechanismen entfalten sich in der Disziplinar- und Performancegesellschaft in jeweils unterschiedlicher Dynamik und Ausprägung. In beiden Formationen jedoch haben die jeweiligen ökonomischen Mechanismen und Dynamiken Relevanz für alle Lebensbereiche und sind nicht nur im Bereich der Wirtschaft wirksam. So beschreibt Foucault in seiner Untersuchung den Entwicklungszeitraum der europäischen Industrialisierung in ihrer kapitalistischen Ausrichtung, in deren Zentrum die Produktion von Waren und die dazu gehörende Institution der Fabrik stehen. Doch auch in anderen in dieser Zeit entstehenden Institutionen, wie dem Schulsystem, dem modernen Militärapparat oder dem neuzeitlichen Krankenhaus, liegt der Fokus der Disziplinarmechanismen darauf, Prozesse in kleinste zeitliche und räumliche Einheiten zu zerlegen und darüber eine möglichst effiziente Organisation der Abläufe zu erreichen. Zugleich geht es um die „Vermehrung der Kräfte“, um damit „die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen“.36 Dabei erfolgt die Leistungssteigerung nach festgesetzten Maßstäben. Gleichzeitig sollen die Kräfte geschwächt werden, „um sie politisch fügsam“ zu machen und Kontrolle zu gewinnen. 37 Es handelt sich also um eine Art Gerüst aus nach ökonomischen Prinzipien funktionierenden Strukturen und Mechanismen, in das das Individuum eingebunden ist und für die – wie unter 2.1 bereits ausgeführt – „Zwang“ und „Stetigkeit“ charakteristisch sind. Für die Performancegesellschaft hingegen beschreibt McKenzie eine zunehmende Veränderung der Produktions- und Wirtschaftsprozesse, die Effizienz und

35 Das ist ein Aspekt, der deutlicher zu Tage tritt, wenn man den Begriff ‚performance‘ ins Deutsche übersetzt, da er dann seiner Bedeutungsvielfalt beraubt wird und man ihn einer Bedeutungsebene, z.B. der der Leistung oder der Effizienz, zuweisen muss. Gleichzeitig bietet sich hier gerade die Möglichkeit, die Schnittmenge und Differenz dieser Aspekte in der Disziplinar- und Performancegesellschaft herauszuarbeiten, etwas, das McKenzie in seiner Untersuchung nicht unternimmt. 36 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 177. 37 Ebd.

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Leistung an andere Dynamiken bindet, als dies in der Disziplinargesellschaft der Fall war, und durch die der Aspekt der Wirkung in den Fokus rückt. Diese Dynamiken erfahren eine Ausweitung in alle Lebensbereiche – eine Entwicklung, die auch in anderen Untersuchungen beschrieben und als „Ökonomisierung des Sozialen“ bezeichnet wurde.38 In der Disziplinargesellschaft gleichen sich zwar die ökonomischen Strukturen und Mechanismen, die die Institutionen durchdringen und die Praktiken prägen, untereinander, doch sind die einzelnen Bereiche und Lebensabschnitte durch klare Grenzen markiert und voneinander getrennt und unterscheiden sich in ihren Funktionen. Dies gilt für die Institutionen, aber auch für die Trennung von Ausbildungszeit und Berufszeit oder von Arbeitszeit und Freizeit. Für die Performancegesellschaft hingegen ist typisch, dass sich solche Grenzziehungen auflösen und die verschiedenen Dimensionen ineinanderfließen, bis sie ununterscheidbar werden.39 Damit einher geht auch eine Verschiebung von Ansprüchen und Kategorien. So wurde verschiedentlich untersucht, wie Konzepte, die zuvor künstlerischen Tätigkeiten zugeschrieben wurden, auf Arbeitsprozesse im Allgemeinen übertragen werden, etwa wenn Arbeit nun kreativ, improvisiert oder spielerisch sein soll.40 Solche Verschiebungen 38 Vgl. bspw. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. S. 12. In „Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen“ ist die Bezeichnung titelgebend (Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M. 2000). Auch der von Jan Verwoert herausgegebene Aufsatzband „Die IchRessource“ befasst sich mit diesen Dynamiken. 39 Kai van Eikels beschreibt das als Prozess, in dem die Ökonomisierung des Sozialen sich „durch eine Sozialisierung des Ökonomischen [vollendet], durch Prozesse, in denen wir beides nicht mehr auseinanderdividiert bekommen, so wildentschlossen wir auch teilen“ (van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 314). 40 Auf einschlägige Untersuchungen wurde bereits in der Einleitung verwiesen. Vgl. z.B. Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 21. Luc Boltanski und Ève Chiapello gehen in ihren Untersuchungen der Frage nach, wie Forderungen der sogenannten ‚Künstlerkritik‘ nach mehr Autonomie, Kreativität und Authentizität durch den Kapitalismus integriert wurden. Vgl. dazu Chiapello: Evolution und Kooption. S. 50. Sowie Boltanski und Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Vgl. dazu außerdem Matzke: Arbeit am Theater. S. 73. Wie bereits erwähnt, weist Matzke auf die Problematik hin, dass hierbei meist „von einem schematischen Bild des Künstlers jenseits der Beschreibung konkreter künstlerischer Praktiken und deren Kontextualisierung innerhalb einer künstlerischen Tradition ausgegangen wird. Im Zentrum steht meist das individuelle Künstlersubjekt, das sich und seine Ressourcen für die künstlerische Arbeit einsetzt. Dass die künstlerische Arbeit über die Suche im Unbe-

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lassen sich als Forderungen in den Diskursen der Managementliteratur beobachten, etwa als Aufforderung „Seien Sie virtuos!“ 41. Davon zunächst zu unterscheiden ist die Verwendung von Kategorien aus dem Bereich künstlerischer Tätigkeit, um Entwicklungen und Dynamiken der Arbeitswelt zu beschreiben, wie es etwa Paolo Virno tut, wenn er mit Bezug auf darstellende Künstler das Konzept der Virtuosität zur Charakterisierung gegenwärtiger Arbeitsdynamiken gebraucht; auf diesen Ansatz wird noch genauer eingegangen werden. Diese Verschiebungen gehen einher mit Veränderungen der Produktionsund Arbeitsformen in der westlichen Welt. McKenzie hat diese Entwicklung in drei Phasen unterteilt. In der ersten Phase zwischen 1945 und 1972, die McKenzie dem Fordismus zuordnet, gleichen die Strukturen noch denen des Wirtschaftssystems der Disziplinargesellschaft, mit dem Unterschied, dass die Rechte der Arbeiter zunehmend gestärkt werden.42 Wachstum und Stabilität prägen die Organisation und Vertragsgestaltung von Arbeit. Anzeichen der Performancegesellschaft zeigen sich hier insofern schon, als technologische Entwicklungen auf den Weg gebracht werden, die später einflussreich werden. Nach wie vor spielt in den Industrienationen die Produktion von Waren eine große Rolle. In der zweiten Phase, der des Postfordismus, kommt es mit den Krisen der beginnenden 1970er Jahre zu einschneidenden Veränderungen in der Wirtschaft und Finanzwelt und somit auch bei den Arbeitsbedingungen: „A post-Fordist, high performance capitalism has since emerged, one that is socially unstable and multinatikannten und das kreative Spiel hinausgeht, dass sie genauso verkauft und gehandelt werden muss wie andere Formen der Arbeit auch, wird dabei oft übersehen.“ (Matzke: Arbeit am Theater. S. 75). 41 Diese Aufforderung findet sich bei Tom Peters: TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die Ich-AG. Berlin, Düsseldorf 2001. Hier S. 136 (zitiert nach van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 286). Auf diese Verwendungsweise verweisen zudem auch Brandstetter, Brandl-Risi und van Eikels in ihrer Einleitung zum Band „Prekäre Exzellenz“ (dies.: Über- und Unterbietung. S. 21). Die Diskurse der Managementliteratur nehmen auch Boltanski und Chiapello in den Blick (vgl. dies.: Der neue Geist des Kapitalismus). 42 McKenzie spricht in diesem Zusammenhang von den „more socially conscious practices of Performance Management“ (McKenzie: Perform or else. S. 182). Hinzu kommen, v.a. in der sozialen Marktwirtschaft der BRD, ausgeprägte staatliche soziale Sicherungssysteme. Joachim Hirsch und Roland Roth weisen darauf hin, dass man trotz der Unterschiede zwischen bspw. den USA und der BRD für diese Gesellschaften von einer „globale[n] Formation“ des Fordismus und Postfordismus mit ähnlichen Merkmalen sprechen kann (Hirsch, Joachim; Roth, Roland: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus. Hamburg 1986. S. 47).

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onally incorporated.“43 Diese Entwicklungen der Destabilisierung und Internationalisierung verschärfen sich in der dritten Phase, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er beginnt.44 Durch die Digitalisierung beschleunigen und verändern sich Abläufe, die Forderung nach ‚Flexibilität‘ beinhaltet auch die Erwartung an die Arbeitenden, sich stetig wechselnden Anforderungen anzupassen. Insbesondere verändert sich die Art der Arbeit: Arbeitsplätze in der industriellen Produktion werden in den westlichen Ländern abgebaut, der sogenannte Dienstleistungssektor nimmt zu. Statt der Produktion von Waren geht es nun um Information und Imagevermarktung. 45 Damit rücken an Stelle des Produkts zunehmend der Arbeitende und seine „work performance [Hervorhebung im Orig.]“46 in den Fokus. Durch diese Verlagerung verändern sich die Parameter, an denen Leistung und Effizienz gemessen werden. Indem es nicht mehr um Produkte geht, steht das Handeln im Fokus und die Dimension der Wirkung gewinnt an Bedeutung. Zugleich werden Effizienz und Leistung nicht mehr über raum-zeitliche Mechanismen und Strukturen sowie feste normative Bezugsgrößen festgelegt und kontrolliert. Somit wird zugleich unklarer und vielfältiger, worin die Leistung besteht und was jeweils effizient ist, und die Bewertung darüber hängt zunehmend von der erzielten Wirkung ab – einer Dimension, die für die Mechanismen der Disziplinargesellschaft marginal war. Um diese neue Dynamik aus Leistung, Effizienz und Wirkung genauer in den Blick zu nehmen, lohnt es sich zum analytischen Vokabular McKenzies das Konzept der Virtuosität hinzuzunehmen, mit dem Paolo Virno die Entwicklung der postfordistischen Arbeitswelt umreißt. Im Rückgriff auf Überlegungen von Karl Marx beschreibt er in „Virtuosität und Revolution“47, wie sich „[i]n der 43 McKenzie: Perform or else. S. 182. 44 Vgl. ebd. S. 183. 45 Dabei greifen dann auch die technologischen Veränderungen: Mit der zunehmenden Bedeutung des Computers und der Digitalisierung für die Abwicklung von Arbeitsprozessen ändern sich Kommunikationsstrukturen und -abläufe. 46 Van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 288. 47 Virno, Paolo: Virtuosität und Revolution. Die politische Theorie des Exodus. In: ders.: Exodus. Hrsg. und aus dem Italienischen übersetzt von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig. Wien, Berlin 2010. S. 33-78. Virno greift dabei eine Differenzierung von Karl Marx auf, der intellektuelle Arbeit in zwei Formen unterteilt: eine Form der Arbeit, bei der noch Waren produziert werden, auch wenn es sich um immaterielle Arbeit handelt. Und Tätigkeiten, „die in sich selbst ihre Vollendung finden, ohne sich in einem Werk zu vergegenständlichen, das sie überlebt. Die zweite Art der intellektuellen Arbeit kann man am besten durch das Beispiel der ausführenden, der ‚executirenden Künstler‘ erläutern, nehmen wir z.B. eine PianistIn oder eine TänzerIn, aber es

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Organisationsweise der postfordistischen Produktion […] die Tätigkeit ohne Werk von einem speziellen und problematischen Fall zum Prototyp der Lohnarbeit im Allgemeinen“48 entwickelt. Eine Eigenschaft, die vorher insbesondere bestimmten künstlerischen Tätigkeiten zukam, wird nun zum Merkmal jeglicher Arbeit: „Die Ähnlichkeit zwischen PianistIn und KellnerIn, die Marx erkannt hat, findet eine ungeahnte Bestätigung in jener Epoche, in der alle Lohnarbeit etwas von der ‚ausführenden KünstlerIn‘ hat. Wenn das Produkt ‚nicht trennbar vom Act des Producirens‘ ist, ruft dieser Akt die Person auf, die ihn vollbringt, und vor allem das Verhältnis zwischen dieser und jener Person, die den Akt angeordnet hat oder an die er gerichtet ist.“49

Da es außer dem performativen Moment der Arbeit kein materielles oder immaterielles Produkt mehr gibt, das die Arbeitsleistung ausmacht, steht der Arbeitende, der nun nicht mehr Arbeiter, sondern Angestellter, beziehungsweise freischaffender Dienstleister ist, im Fokus und mit ihm seine Beziehung zu einem Gegenüber: „Die ‚Gegenwart anderer‘ ist beides, Instrument und Gegenstand der Arbeit; deshalb verlangen die Produktionsverfahren immer einen bestimmten Grad an Virtuosität.“50 Mit dem Begriff der ‚Virtuosität‘, der im 18. und 19. Jahrhundert in besonderer Weise mit dem „künstlerischen Performer“ 51 verbunden war, ist die Vorstellung von einer überragenden, alles Erwartbare übersteigenden Leistung verknüpft, die zugleich nur in ihrer Wirkung auf ein Gegenüber und durch dessen Bewertung – ‚das ist virtuos‘ – Anerkennung findet.52 Indem Virno die neue Form der Arbeit als „servile Virtuosität“53 charakterisiert – und zählen auch im Allgemeinen all jene dazu, deren Arbeit sich in einer virtuosen Ausführung auflöst: Redner, Lehrer, Ärzte, Priester.“ (Virno: Virtuosität und Revolution. S. 37 f.). Virno bezieht sich hier auf das unveröffentlichte sechste Kapitel des ersten Kapitalbandes von Marx. 48 Virno: Virtuosität und Revolution. S. 40. 49 Ebd. S. 47-48. 50 Ebd. S. 41. 51 Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 8. Der Begriff der ‚Virtuosität‘ wurde im Verlauf seiner Geschichte nicht allein für Darbietungen in der Kunst gebraucht. Allerdings kommt es seit dem 18. Jahrhundert verstärkt in Bezug auf künstlerische Darbietungen zur Anwendung (vgl. Brandl-Risi: Virtuosität. S. 405 f.). 52 Vgl. Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels.: Über- und Unterbietung. S. 8. Vgl. zur „Konzeptualisierung von Virtuosität in den performativen Künsten“ auch Brandl-Risi: Virtuosität. S. 406. 53 Virno: Virtuosität und Revolution. S. 49.

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damit das Konzept der Virtuosität aus dem Bereich der Kunst wieder in den des Ökonomischen und Politischen überträgt – , betont er also zum einen die Abhängigkeit des Arbeitenden von diesem Gegenüber, zum anderen wird deutlich, dass die Arbeitsleistung sich nicht mehr im Durchschnittlichen erschöpfen darf, sondern auf Steigerung und Überbietung ausgerichtet ist. Damit rückt in den ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft statt der Institutionen, Strukturen und Mechanismen der Disziplinierung eine ‚Szene der Interaktion‘ zwischen einer handelnden Person und einem Gegenüber in den Fokus. Entsprechend gewinnen Wirkungs- und Bewertungsdynamiken an Bedeutung. Auf diese Wirkungs- und Bewertungsdynamiken zur Ermittlung von Arbeitsleistung, aber auch als Phänomen, das alle Lebensbereiche erfasst, geht Kai van Eikels, an Virnos und McKenzies Arbeiten anschließend, in seiner Untersuchung „Die Kunst des Kollektiven“ ein. Er verweist zum einen auf die „Theatralisierung von Arbeit“, die in der Zunahme von Situationen besteht, in denen „Arbeitende […] ihren Vorgesetzten, Kollegen, Unternehmenspartnern und Kunden die eigene Arbeit vor[stellen], teils informell, teils indem sie durchgestaltete Referate halten, Folien zeigen, Schaubilder projizieren, auf Flipcharts zeichnen usw.“.54 Zudem diagnostiziert er, dass die Performancegesellschaft „eine ungemeine Ausweitung und Veralltäglichung des Evaluationswesens“55 erfährt, wobei die „Permanenz des Bewertens und Bewertetwerdens im Zusammenleben ideologische Züge bekommt“.56 Auch hier zeigt sich der bereits beschriebene Zusammenfall des Sozialen mit dem Ökonomischen: „Sozialer Interaktionsprozess und sozio-ökonomischer Evaluationsprozess verschmelzen, und sämtliche Anstrengungen zur Etablierung einer unbestechlichen Rationalität des Messens und Bewertens von Menschen als Performern halten diese Verschmelzung nicht auf, sondern liefern der persönlichen Willkür und Kontingenz des Zwischenmenschlichen bloß ein offizielles Dokument, das ihr erlaubt, zu dessen vertraulicher Zusatzklausel zu werden.“57

54 Van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 147 f. Van Eikels verweist dabei auch auf „die Rhetorik-Kurse, Workshops über ‚mitreißendes‘ Vortragen und den professionellen Umgang mit PowerPoint“, die „reguläre Weiterbildungsprogramme [komplementieren]“, sowie auf die „Flut von Ratgebern zum Thema Präsentation für alle Ebenen der Hierarchie vom Konzerndirektor bis zum Außendienstmitarbeiter“ (ebd.). 55 Ebd. S. 41. 56 Ebd. S. 42. 57 Ebd.

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Ein festes System von Kriterien, nach denen bewertet wird, gibt es dabei nicht; vielmehr sind diese variabel. Entsprechend diesen Bewertungsdynamiken kommt es, van Eikels zufolge, nicht mehr in erster Linie auf objektivierbare Maßstäbe an, sondern auf Affizierung des Gegenübers. Auch dieses „affektiv aufgeladene[…] intensive[…] Verhältnis von Performer und Publikum“ ist – wie Bettina Brandl-Risi betont – eine „Grundbedingung von Virtuosität“, wie sie sich im Kontext der Künste entwickelt hat. 58 In der gegenwärtigen Performancegesellschaft ist dies nun nicht mehr nur ein Ausnahmephänomen, das sich in Aufführungen im Bereich der Kunst findet, sondern wird zu einer Anforderung, die sich an alltägliche Arbeitsprozesse richtet. Van Eikels macht dies am Beispiel der Präsentationskultur in Unternehmen deutlich, bei der es nicht nur um Informationsvermittlung geht, sondern vielmehr darum, das Publikum auf einer emotionalen Ebene zu erreichen: „Solches Präsentieren soll mehr als informieren; die Formate, Techniken und Verfahren, die dabei zum Einsatz kommen, stellen Beziehungen zwischen ökonomischen Leistungsmaßstäben und theatralen Wirkungskriterien her. Die Dynamik der Erwirtschaftung von Mehrwert komprimiert sich in die einer (Selbst-)Inszenierung, bei der das Mehr in Form einer begeisternden Performance als solches selbst in Szene zu setzen ist. ManagementKonzepte sehen die Produktivität von Präsentationen darin, dass sie ihr Publikum affizieren und zu eigenen, ebenfalls potenziell begeisternden Leistungen animieren. Es geht explizit um Affektivität, um emotionales Affizieren und Affiziertwerden – um eine konzeptuelle Verbindung zwischen der Steigerung, die sich schließlich als Produktivitätsoder Gewinnzuwachs zeigt, und dem Sichsteigern von Affekten, das zugleich ein SichHineinsteigern von Personen in die Rollen des Affizierenden und des Affizierten bedeutet.“59

Damit „verdoppelt sich tendenziell jede Szene der Informationsvermittlung durch eine Szene der Übertragung“60, womit zugleich das Versprechen verknüpft ist, dass eine affektive Steigerung auch einen ökonomischen Mehrwert generiert. In Arbeitsprozessen, in denen es nicht mehr um das Herstellen eines Produkts geht, sondern Arbeit auf ein Gegenüber ausgerichtet ist, rückt entsprechend die affektive Dimension dieser Beziehung in den Vordergrund. Mit dieser Bewertungsdynamik geht einher, dass nicht mehr nur ein Teilaspekt, sondern die ganze Person zur Disposition steht; Gelingen oder Scheitern ist an die Affizierungsprozesse gebunden: 58 Brandl-Risi: Virtuosität. S. 406. 59 Van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 148. 60 Ebd.

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„Die Performance des virtuosen Künstlers in ihrer hoch gespannten und heiklen Interaktion mit dem Publikum stellt den exemplarischen Fall einer Existenzialisierung von Leistungsbewertung im Zeichen von Steigerung dar: Wo es dem Virtuosen nicht gelingt, die Begeisterung des Publikums hervorzurufen, fällt das Urteil im wörtlichen Sinne vernichtend aus. Genau diese Erfahrung, mit der gesamten Person und Persönlichkeit in eine irreguläre Konkurrenz einzutreten, deren Gewinner und Verlierer immerzu und immer neu nach ständig wechselnden Kriterien ermittelt werden, definiert die zeitgenössische sozioökonomische Szene des Virtuosen.“61

Darüber hinaus betont van Eikels den Aspekt der Souveränität, der in dieser Beziehung ebenfalls eine Rolle spielt. Neben dem, „was jeweils konkret zur Beurteilung ansteht“ werde auch bewertet, „inwiefern der Geprüfte mit seiner performance ein überzeugendes Souveränitätsversprechen leistet [Hervorhebung im Orig.]“.62 Souveränität meint dabei Führungskompetenz und Sicherheit, ruft aber auch den Moment der „technischen Meisterschaft“ auf, den Virtuosität ebenfalls umfasst.63 Während sich jedoch beim virtuosen Künstler beschreiben lässt, worin seine Meisterschaft besteht und welche Standards und Normen er dabei hinter sich lässt, so ist dies beim gegenwärtigen Virtuosen des Alltags schwerer zu bestimmen, worin sich wiederum ein Merkmal der Performancegesellschaft zeigt. Liegt der Schwerpunkt auf Momenten der Interaktion, auf Kommunikationsprozessen und Imagevermarktung, so scheint es sich am ehesten um eine Meisterschaft der Selbstdarstellung64 zu handeln. Das bedeutet nicht, dass Fachwissen oder Fertigkeiten bedeutungslos sind; Aspekte, die sich auf Merkmale der Person und ihres Handelns beziehen, gewinnen aber an Bedeu-

61 Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 15. 62 Van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 41. 63 Vgl. Brandl-Risi: Virtuosität. S. 405. Ein weiteres Charakteristikum des Virtuosen ist, dass er die Schwierigkeiten seines Tuns mit scheinbarer „Mühelosigkeit“ (ebd. S. 406) und „wunderbare[r] Leichtigkeit“ (Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 9) bewältigt. „Vollbringe Schwieriges mit Leichtigkeit!“ – auch diese Anforderung stellt sich nun, wie van Eikels betont, neben der Forderung das Gegenüber zu affizieren und souverän zu agieren an die Individuen der Performancegesellschaft (van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 286). 64 Wie in der Einleitung bereits erwähnt, meint Selbstdarstellung hier nicht das ZumAusdruck-Bringen eines stabilen und wesenhaften Selbst, sondern verweist auf den Aspekt sozialer Interaktion, bei dem der Akteur selbst in den Fokus rückt, sei es durch körperliche Merkmale oder sein oder ihr jeweiliges Verhalten und Handeln.

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tung.65 Mit dem Konzept des Virtuosen lässt sich also eine Arbeits- und Lebenswelt beschreiben, in der Interaktionsprozesse in den Fokus ökonomischer Dynamiken geraten, wodurch Wirkungs- und Bewertungsdynamiken an Bedeutung gewinnen, bei denen Affizierung und Souveränität sowie eine Meisterschaft der Selbstdarstellung zu den Anforderungen an die Individuen gehören. Für die Untersuchung der Sprechstimmbildung lassen sich an diese Beobachtungen unterschiedliche Fragestellungen anschließen. Verband sich mit dem Konzept des virtuosen Künstlers auch die Vorstellung, dass seine technische Meisterschaft auf Übung beruht, sich prinzipiell also erlernen lässt66, so stellt sich die Frage, inwiefern es möglich ist, sich auf die Anforderungen der gegenwärtigen Performancegesellschaft vorzubereiten. Die Vielzahl an Ratgebern und Optimierungsmaßnahmen legen nahe, dass dies trotz der variablen Bezugsgrößen und undurchsichtigen Bewertungsmatrices möglich sei. Wie eingangs bereits beschrieben gibt es dabei, zusätzlich zu Weiterbildungen zur fachlichen Qualifizierung, zunehmend Angebote zu einer umfassenden Selbstoptimierung. Diese reichen von Yogakursen über Krafttraining67 zu Coachingseminaren für richtiges Auftreten im Vorstellungsgespräch bis hin zum Stimmtrainingskurs. Eine plausible Antwort auf die Frage, wie man die Meisterschaft der Selbstdarstellung üben kann, wäre dann zum Beispiel sich eine Technik wie Sprechstimmbildung von einem Profi der Darstellung, beispielsweise einem Schauspieler, beibringen zu lassen. Dabei muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass Sprechstimmbildung bereits um 1900 ein gesteigertes Interesse erfuhr, also kein ausschließliches Phänomen der Performancegesellschaft darstellt. Zu fragen ist also danach, auf welche Ziele und Anforderungen Sprechstimmbildung in den jeweiligen Gesellschaftsformationen ausgerichtet ist und welche Formen sie annimmt – und inwiefern sich diese in den jeweiligen Zeiträumen unterscheiden oder aber gleichen. Diese Frage stellt sich besonders mit Blick auf die Institutionalisierungsprozesse von Sprechstimmbildung, bei denen auch ökonomische Dynamiken von Bedeutung sind und die zudem den unter 2.1 bereits angesprochenen Bildungs65 Diese Fokussierung der handelnden Person verweist bereits darauf, dass es hier auch um Fragen der Subjektivierung geht. Auf diese wird in Abschnitt 2.3 genauer eingegangen. Zur Zunahme der Bedeutung ‚persönlicher‘ Merkmale im Verhältnis zum Aspekt des Fachwissens vgl. Diederichsen: Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. 66 Vgl. Brandstetter; Brandl-Risi; van Eikels: Über- und Unterbietung. S. 11. Und van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 259. 67 Gerade an den Angeboten zu Entspannungstechniken, Selbstfindung und Fitness wird die Verschränkung des Ökonomischen mit dem Sozialen deutlich, da auch diese letztendlich auf eine Regenerierung und Steigerung der Leistungsfähigkeit zielen.

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und Weiterbildungsbereich betreffen. So geht es um die Frage, ob Sprechstimmbildung Teil schulischer Ausbildungscurricula und damit Teil einer disziplinierenden Form von Effizienz ist, die sich aus den Prinzipien der Segmentierung und Überprüfung ergibt. Oder wird Sprechstimmbildung überwiegend auf einem freien Weiterbildungsmarkt angeboten und damit einem individuellen Anspruch von Leistungssteigerung überlassen? Darüber hinaus wird zu fragen sein, wer jeweils die Kosten für diese Bildungsangebote trägt und wer sie aus welchen Gründen in Anspruch nimmt. Wer sind die Menschen, die von Sprechstimmbildung als Arbeit ihren Lebensunterhalt finanzieren und inwiefern ist Sprechstimmbildung geprägt von marktökonomischen Dynamiken, etwa der Nachfragesteigerung durch Werbung? Inwiefern bestimmen die ökonomischen Dynamiken auch die inhaltliche Ausrichtung von Sprechstimmbildung? Lassen sich beispielsweise die für das Performanceprinzip typischen Anforderungen, begeisternd und souverän zu wirken, in den Zielsetzungen des gegenwärtigen Stimmtrainings wiederfinden? Und falls ja, wie bereitet das Stimmtraining darauf vor? Mit dieser Frage geraten bereits die unterschiedlichen Subjektentwürfe und Übungspraktiken der Sprechstimmbildung in den Blick, um deren theoretische Perspektivierung es im folgenden Abschnitt geht.

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2.3 THEORETISCHE PERSPEKTIVIERUNGEN VON SUBJEKTBILDUNGSPROZESSEN UND ÜBUNGSPRAKTIKEN IN HINBLICK AUF DIE UNTERSUCHUNG VON SPRECHSTIMMBILDUNG Wie in der Einleitung bereits ausgeführt, lässt sich Sprechstimmbildung als eine Praxis beschreiben, bei der die auf das Sprechen ausgerichtete Stimme ebenso wie Prozessaspekte des Sprechens geformt und verändert werden sollen. Es geht also um körperlich-mentale Aspekte, die beeinflusst werden sollen und in sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozessen eine Rolle spielen, wobei Sprechstimmbildung selbst als soziale Praxis des Übens und der Ausbildung gesehen werden muss. Somit geht es bei der Sprechstimmbildung auch um Fragen von Subjektbildungsprozessen, die jedoch aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven in den Blick genommen werden können und entsprechend differenziert werden müssen. Daran schließen sich Überlegungen zur Konzeption und Ausrichtung der sprechstimmbildnerischen Übungspraxis an. McKenzie nimmt in seiner Gegenüberstellung von Merkmalen der Disziplinar- und der Performancegesellschaft68 die grundsätzliche Subjekt-ObjektKonstellation, die die Macht-Wissens-Konstellation der Disziplinar- und Performancegesellschaft jeweils hervorbringt, in den Blick: „The stratum of discipline attempts to construct and solidify highly centered, unified human subjects and highly stable fields of objects. […] The performance stratum, by contrast, constructs and proliferates decentered subjectivities and highly unstable object fields.“69 Sind Subjektpositionen, die Individuen in der Disziplinargesellschaft einnehmen, nach McKenzie charakterisiert durch Zentrierung und Abgeschlossenheit, so zeichnen sich Subjektpositionen der Performancegesellschaft durch Fragmentierung und Diversität aus und unterliegen zugleich der neuen Dynamik des ständigen Wechsels: „Across the performance stratum, hybrid, hyphenated subjects rapidly emerge and immerge, passing through a variety of subject positions and switching quickly between innumerable language games. Multitasking, channel-surfing, attention-deficit disorders: these portend the emergence of fractal, (n-1) dimensional subjectivities.“70

68 Vgl. McKenzie: Perform or else. S. 179-190. 69 Ebd. S. 179. 70 Ebd. S. 180.

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McKenzies Analyse macht somit deutlich, wie Formen von Subjektivität von den jeweiligen Macht- und Wissensformationen abhängen und geprägt werden, wobei er dabei auch den Bezug zwischen Alltagsdiskursen und Theoriediskursen betont71 und die Wirkmächtigkeit der „plurality of subject positions […] to individuals and society“ insbesondere für die USA konstatiert. 72 Für die Untersuchung von Sprechstimmbildung heißt das, dass deren Praktiken und Diskurse daraufhin befragt werden können, auf welche Formen von Subjektivität sie ausgerichtet sind. Wie wird die Stimme, wie werden Sprechweisen auf diese Subjektmodelle bezogen? Lässt sich die Diversifizierung und Fragmentierung von Subjektpositionen in der Ausrichtung der gegenwärtigen Übungsprogramme, den normativen Setzungen, der Übungsweise oder der Kontextualisierung des Übens finden oder kommt hier vielmehr die Vorstellung einer in sich einheitlichen, abgeschlossenen Subjektform zum Tragen? Diese Fragen lassen sich jedoch noch differenzieren und erweitern, greift man auf Judith Butlers Überlegungen zu Prozessen der Subjektbildung zurück.73 Butler nimmt in ihren Untersuchungen zur Geschlechteridentität insbesondere den „performativen Charakter“74 der Subjektwerdung in den Blick. Ein Subjekt ist man demnach nicht einfach im Sinne einer gegebenen, festen Identität; vielmehr wird das Subjekt in sich wiederholenden „Akten“75 hervorgebracht; dabei werden Normen wirksam, während gleichzeitig die Möglichkeit der Abweichung oder des ‚Nichteinlösens‘ der normativen Erwartung besteht.76 Im Anschluss daran lassen sich auch stimmliche Verlautbarungen und Sprechweisen als Teil dieses sich wiederholenden Aktes der Subjektkonstitution verstehen, wobei dabei nicht nur Geschlechterzugehörigkeit, sondern auch andere Aspekte von Subjektivität markiert werden können (z.B. Alter, sozialer Status, Klassenzugehörigkeit, Bildungsstand, Herkunft aus einem bestimmten Kulturraum, Beruf). Diese sind dann nicht als essentialistische Eigenschaften eines Körpers oder 71 Vgl. ebd. 72 Ebd. 73 Auf Butler rekurriert auch McKenzie in seiner Untersuchung, allerdings mit einem anderen Fokus als es hier geschieht: McKenzie zieht Butler einerseits heran, um die normative Kraft der Performancegesellschaft zu betonen, andererseits sind auch Butlers Schriften Teil des theoretischen Diskursen, der zugleich die Performancegesellschaft normativ prägt (vgl. ebd. S. 166-172; S. 179 f.). 74 Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2003. S. 301-320. Hier S. 302. 75 Ebd. S. 301 f. 76 Vgl. ebd. S. 302.

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Individuums zu verstehen, sondern als „Verkörperung von Möglichkeiten, die durch historische Konventionen sowohl konditioniert wie beschnitten sind [Hervorhebung im Orig.].“77 Stimmliche Verlautbarungen und Sprechweisen werden in dieser Perspektive auf Subjektwerdung als normativ geprägt verstehbar. Für die Stimme bedeutet dies, dass sie nicht nur aus einer physiologischen Perspektive in den Blick genommen werden kann und auch nicht als feste Einheit verstanden werden muss; Sprechweisen erscheinen weniger als Eigenschaften eines Individuums, sondern werden in ihrer sozialen und historischen Bedingtheit fassbar. Trotz der Betonung des performativen Charakters versteht Butler Subjektwerdung durchaus auch als auf Langfristigkeit ausgerichteten Prozess78, den sie insbesondere in „Psyche der Macht“ in seiner biographischen Dimension in den Blick nimmt. Diese biographische Dimension ist in Hinblick auf die Stimme und Sprechweisen insofern relevant, als gerade die im Laufe der Biographie diesbezüglich ausgeprägten Muster und Verhaltensweisen und deren beharrliches Auftreten Konflikte für die Subjektkonstitution erzeugen können: Die dialektalen Lautmuster der Kindheit brechen sich Bahn, auch wenn man das gerade nicht möchte und es der Sprechsituation unangemessen erscheint; die in den bisherigen sozialen Interaktionen gepflegte Lautstärke reicht nicht aus, um eine große Hörerschaft zu erreichen; bestimmte Situationen lassen einen das Sprechtempo erhöhen, so dass die Stimme in kurzer Zeit heiser wird. Solche Erfahrungen mögen ganz konkret dazu veranlassen, an der eigenen Stimme oder Sprechweise zu arbeiten. Aus theoretischer Perspektive zeigen sie, dass der Prozess der Subjektivierung auch als Konflikt unterschiedlicher normativer Erwartungen erscheinen kann, der aus der Konfrontation von biographisch erworbenen oder erlernten Mustern und neuen sozialen Anforderungen entsteht. In diesem Sinne kann man also sagen, dass stimmliche Verlautbarungen und Sprechweisen subjektbildend sind, insofern sie Anteil an den Prozessen der Subjektkonstitution haben und zwar bezogen sowohl auf den Moment als auch auf langfristige Zeiträume. Diese Prozesse sind in der Butlerʼschen Perspektive zunächst situationsunspezifisch, das heißt unabhängig davon, ob es sich um eine Übungssituation handelt: ob beim Vortrag vor einem großen Auditorium im beruflichen Kontext, im privaten Zwiegespräch mit einer vertrauten Person, beim Von-sichGeben von Lauten im Vis-à-Vis mit dem Stimmlehrer oder dem Erproben einer 77 Ebd. S. 305. 78 Darauf verweist auch Matthias Warstat: Im Versteck. Die verborgene Seite der Subjektkonstituierung. In: Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl et al. (Hrsg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012. S. 175-182. Hier S. 177.

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neuen Sprechweise in der Gruppe eines Volkshochschulkurses zum Stimmtraining – immer wird hierbei Subjektivität hervorgebracht, wobei dies nicht als ein vom Subjekt vollständig kontrollierbarer Vorgang gedacht wird. Sowohl aus der McKenzie’schen als auch aus der Butlerʼschen Perspektive auf Subjektivierungsprozesse können die mit Konzepten wie ‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ meist verbundenen Vorstellungen von Stabilität und Wesenshaftigkeit als diskursive Phänomene befragt werden. Die Diskurse der Sprechstimmbildung können daraufhin untersucht werden, inwiefern sie mit solchen Vorstellungen operieren und in welches Verhältnis die Stimme dazu gesetzt wird. Letztendlich stellt sich dabei vor allem die Frage, welche Funktionen der Praxis der Sprechstimmbildung vor dem Hintergrund solcher Konzeptionen zugewiesen werden. Neben dieser Perspektive auf Subjektivierungsprozesse in ihrem grundlegenden Charakter stellen sich für die Untersuchung von Sprechstimmbildung jedoch auch noch Fragen auf einer anderen Ebene. Auch Sprechstimmbildung selbst kann man als subjektbildende Praxis bezeichnen, da sie versucht Einfluss auf jene Prozesse zu nehmen, in denen Subjektivität mittels Stimme und Sprechen mithervorgebracht wird. Sie gerät dabei in ihrem vorläufigen und vorbereitenden Charakter in den Blick und lässt sich unter dem Aspekt befragen, inwiefern hier eine Ausrichtung und Einübung auf bestimmte normative Vorgaben hin erfolgt und welche das sind. In dieser Perspektive wird der normierende Charakter von Sprechstimmbildung als subjektbildender Praxis betont, wodurch wiederum das Moment der Unterwerfung und Machtausübung in den Vordergrund tritt. Darüber hinaus lässt sich Sprechstimmbildung jedoch auch unter dem Aspekt betrachten, dass sie die Möglichkeit bietet, ein gewisses Maß an Kontrolle oder zumindest Einflussmöglichkeiten über die Stimme und das Sprechen zu erlangen und somit auch ein Stück Handlungsfreiheit in Bezug auf die eigene stimmliche ‚performance‘ verschafft. Dass der normierende und unterordnende Charakter von Subjektbildung kein grundsätzlicher Widerspruch zu Möglichkeiten der Handlungsfreiheit ist, ist eine Ambivalenz, auf die auch Butler verweist und die ihr zufolge nicht nach der einen oder anderen Seite aufzulösen ist.79 Entsprechend kann auch Sprechstimmbildung daraufhin befragt werden, inwiefern sie zwischen normierendem und ‚ermächtigendem‘ Charakter changiert. Daran anschließend stellt sich hier auch noch die Frage, welche Spannungen und Verschiebungen in der Ausrichtung und Konzeption der Sprechstimmbildung entstehen, wenn Übungs- und Ausbildungspraktiken, die zunächst für die spezielle Berufsgruppe der Schauspieler und Sänger konzipiert waren, übertragen werden auf eine alltagsbezogene Ausbildung von Stimme und Sprechen. Hier fließen theaterfeindliche Diskurse ein, wenn das Sprechen im Alltag von der Sprechwei79 Butler: Psyche der Macht. S. 22.

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se der Schauspieler abgegrenzt wird, da das Alltagssprechen nicht ‚künstlich‘ wirken soll, oder der Schauspieler als Negativbeispiel für Verstellung fungiert, dem Forderungen nach Ehrlichkeit und Authentizität in der Alltagskommunikation gegenüber gestellt werden. Mit dem vorbereitenden Charakter von Sprechstimmbildung geraten auch die Prozesse des Übens in den Blick, an denen unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden können. Für Foucault ist die Übung eine Technik, die im Zentrum der Disziplinierungsmechanismen steht. In ihrer disziplinierenden Form ist die Übung gekennzeichnet von bestimmten strukturellen Merkmalen, ihrer normativen Ausrichtung und ihrer Einbindung in die Machtstrukturen und ökonomischen Logiken der Disziplinargesellschaft. So beschreibt Foucault die Übung als „Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen“80. Disziplinierende Übungen sind dadurch charakterisiert, dass sie immer eingebunden sind in ein Übungssystem oder Übungsprogramm aus vielen Übungen, die jeweils „differenzieren“81 sollen. Durch diese wird ein Prozess in Einzelschritte zerlegt, so dass der Gesamtablauf aus den einzelnen Übungen zusammengesetzt werden soll. Die Übung dient nach Foucault der „ständige[n] Charakterisierung des Individuums. […] Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwangs sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung.“ 82 Ihre neue und für die Disziplinierung typische Ausrichtung besteht darin, dass sie „dem haushälterischen Einsatz und nutzbringenden Zusammenraffen der Lebenszeit [dient] sowie der Ausübung von Macht über die Menschen mittels der so organisierten Zeit“.83 Die Übung ist also keine ‚Erfindung‘ der Disziplinargesellschaft und gewisse disziplinierende Merkmale konnten Übungen auch schon vor dieser Zeit haben84, in der Disziplinargesellschaft erhält die Übung aber einen besonderen Stellenwert. Damit einher geht auch die schriftliche Fixierung und Veröffentlichung von Übungsschritten in den bereits erwähnten Handbüchern. Für die Untersuchung von Sprechstimmbildung stellt sich also die Frage, inwiefern ihre Übungen diese typischen Merkmale disziplinierender Übungen 80 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 207. 81 „[D]ie gemeinsamen Übungen spielen eine differenzierende Rolle[…] und jeder Differenz entsprechen bestimmte Übungen. Am Ende jeder Serie beginnen andere und verzweigen sich ihrerseits. So ist jedes Individuum in eine Zeitreihe eingespannt, die sein Niveau und seinen Rang definiert. Zucht-Polyphonie der Disziplinarübungen.“ (Ebd. S. 205). 82 Ebd. S. 208. 83 Ebd. S. 209. 84 Vgl. ebd. S. 208.

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aufweisen: gibt es strukturierte Übungsprogramme, in denen aufeinander aufbauende Übungen Prozesse der Stimmgebung und des Sprechens zerlegen und über die Gesamtheit der Übungen wieder zu einem Gesamtablauf zusammensetzen? Dienen diese Übungen der Charakterisierung und Differenzierung von Individuen? Inwiefern sind die Übungen ausgerichtet auf Leistungssteigerung? Für die Gegenwart schließt sich daran die Frage an, welchen Stellenwert und welche Ausprägungen Übungen in der Performancegesellschaft erhalten. Gibt es in der Sprechstimmbildung nach wie vor Übungsprogramme mit disziplinierendem Charakter oder erhält das Üben in der Performancegesellschaft eine neue Ausformung? Wie bereiten die Übungen auf die neuen Anforderungen der Performancegesellschaft vor, die sich ja, wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben, zum einen durch ihre Unabwägbarkeit, zum anderen durch eine Fokussierung auf Aspekte der Selbstdarstellung auszeichnen? Setzt Sprechstimmbildung es sich zum Ziel, auf einen virtuosen Stimmeinsatz vorzubereiten? Wenn ja, mit welchen Mitteln? Darüber hinaus ist auch nach dem Übungsansatz zu fragen, mit dem die jeweiligen Übungen und Übungsprogramme arbeiten, der wiederum mit Fragen der Subjektivierung verbunden ist. Wie werden die Stimme und das Sprechen konzipiert und wie wird entsprechend der Übungsansatz gestaltet? Wird die Stimme in erster Linie als anatomisch-physiologisches Phänomen betrachtet oder liegt der Schwerpunkt auf den mentalen Aspekten des Sprechens? Liegt der Fokus auf dem sprechenden Individuum oder wird der interaktive Charakter des Sprechens betont? Welche Auswirkungen haben solche Konzeptualisierungen auf die Übungspraktiken? Neben diesen Aspekten, die sich auf die Strukturierung und Ausrichtung der Übungen beziehen, lassen sich auch die Übungssettings oder Übungsszenarien in den Blick nehmen. Hierzu gehört insbesondere auch die Frage, wer mit wem in welchem institutionellen Rahmen übt. Handelt es sich um ein Übungssetting aus Lehrer und Schüler oder ist es eine Gruppe, die mit einem Gruppenleiter übt? Übt eine einzelne Person mit Hilfe eines Übungsbuches oder einer Übungs-CD alleine? Was und wie üben sie jeweils und welche Dynamik entfalten die Übungen? Diese Fragen lassen sich auch auf die Übungsbücher beziehen, insofern diese daraufhin befragt werden können, welche Übungsszenarien sie entwerfen: ergänzen sie ein Übungsduo aus Lehrer und Schüler oder dienen sie einem Übenden als Leitfaden zum Selbststudium? Welcher Status und welche Funktion kommen dem Schüler und dem Lehrer jeweils zu?85

85 Kai van Eikels geht in seiner Untersuchung der Frage nach der Unmündigkeit und Mündigkeit des Übenden nach (vgl. van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 252), wobei es ihm darum geht, wann der Übende den Stellenwert erhält, eine sozial aner-

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Mit diesen Überlegungen zu den Strukturen und normativen Wirkungsmechanismen von Disziplinar- und Performancegesellschaft, insbesondere den unterschiedlichen ökonomischen Dynamiken, sowie zu Konzepten von Subjektivierung und Übungspraktiken sind die theoretischen Grundlagen beschrieben, auf denen im Folgenden die Untersuchung der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum in ihren beiden Hochphasen aufbaut. Das folgende Kapitel befasst sich mit der historischen Betrachtung der Sprechstimmbildung.

kannte Handlung eingeübt zu haben, und wann das Üben gewissermaßen als sinnloses Tun verurteilt wird (vgl. ebd. S. 252 f.).

3

Die Disziplinierung der Stimme und des Sprechens Historische Betrachtung der Sprechstimmbildung vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rücken das Sprechen und die Stimme im deutschsprachigen Raum in den Blick disziplinargesellschaftlicher Normierungsund Disziplinierungsmechanismen. Dies zeigt sich in den Bemühungen um eine Normierung der deutschen Aussprache, die in Theodor Siebs’ „Deutscher Bühnenaussprache“ von 1898 ihre erste kodifizierte Form erhält und an der sich die ambivalente Dynamik der von Foucault beschriebenen „Macht der Norm“ 1 aufzeigen lässt. Zudem fixieren Übungsbücher für die Sprechstimmbildung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zahlreich erscheinen, erstmals den Disziplinarmechanismen folgende schriftliche Übungsprogramme für die Sprechstimmbildung. Um die Jahrhundertwende schließlich setzen Bemühungen ein, ein eigenes Universitätsfach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zu etablieren, Sprecherziehung in den Schullehrplänen zu verankern und den Bereich der frei arbeitenden Sprechstimmbildner zu regulieren. Hier lässt sich zum einen aufzeigen, wie versucht wird, Sprechstimmbildung in die disziplinargesellschaftlichen Institutionen einzubinden, zum anderen wird zugleich sichtbar, dass Praxis und Diskurs der Sprechstimmbildung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vollständig in den disziplinierenden Strukturen aufgehen. Auch für die Zeit des Nationalsozialismus, in der Sprechstimmbildung stärkere institutionelle Unterstützung erfährt, muss ihr Geltungsbereich differenziert betrachtet werden. Lässt sich an den Formen der Sprechstimmbildung in ihrer ersten Hochphase also 1

Foucault: Überwachen und Strafen. S. 237.

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deutlich eine Ausrichtung auf disziplinargesellschaftliche Strukturen und teilweise auch die Wirksamkeit disziplinierender Mechanismen beobachten, so zeigt sich zugleich, dass sich Stimme und Sprechen auch bis zu einem gewissen Grad diesen Disziplinierungsformen widersetzen. Die Sprechstimmbildung in dieser Zeit weist, insbesondere hinsichtlich ihrer tatsächlich erfolgten Institutionalisierung, Merkmale auf, wie McKenzie sie für das Wirkungsprinzip der Performancegesellschaft beschrieben hat. In diesem Spannungsverhältnis ist die Sprechstimmbildung der ersten ‚Hochphase‘ also als ambivalent zu beschreiben und geht nicht vollständig in der Gegenüberstellung der beiden Gesellschaftsformationen auf. Bevor in den folgenden Unterkapiteln die einzelnen Bereiche Aussprachenormierung, Übungsmethodik und Institutionalisierungsprozess ausführlich dargestellt werden, ist hier zuvor noch auf einige Entwicklungen und Zusammenhänge zu verweisen, die für das Verständnis der Sprechstimmbildung in dieser Phase wichtig sind. Dies sind zunächst Entwicklungen in Medizin und Physiologie. Auch wenn in dieser Arbeit, wie eingangs bereits beschrieben, nicht die Formen therapeutischer Behandlungen der Sprechstimme im Fokus stehen, müssen einige Aspekte aus diesem Bereich kurz skizziert werden, da Medizin und Physiologie auch Einfluss auf die allgemeine Sprechstimmbildung nehmen. Zudem lassen sich auch hier Normierungseffekte beobachten.2 So erlebt im 19. Jahrhundert die Erforschung des ‚normalen‘ Stimmbildungsablaufs 3 und des Sprechvorgangs einen Aufschwung.4 Die Entwicklung von neuen Untersuchungstechniken und -apparaturen, wie beispielsweise des Kehlkopfspiegels, erlaubt eine weitergehende Untersuchung des Sprechvorgangs auch am lebenden Menschen – während zuvor vor allem Kehlköpfe von Leichen untersucht wurden.5 Die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde6 und die medizinische Stimm- und 2

Wie bereits in der Einleitung erläutert, kann in dieser Arbeit nicht ausführlich auf

3

Hier ist der körperliche Vorgang der Stimmerzeugung gemeint, nicht die Ausbildung

4

Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 77-79.

5

Vgl. Giulio Panconcelli-Calzia: Quellenatlas zur Geschichte der Phonetik. Hamburg

therapeutische Formen der Sprechstimmbildung eingegangen werden. der Stimme.

1940. Hier S. 30. Untersuchungen an Leichen werden dabei auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen. Zu den Konzeptionen von Stimme, die sich mit diesen Untersuchungen verbanden, vgl. Bolte-Picker: Die Stimme des Körpers. 6

Die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde erhält an der Universität Rostock 1901 ein erstes Ordinariat in Deutschland (vgl. 100 Jahre Lehrstuhl für Ohren- und Kehlkopfheilkunde. Das erste Ordinariat in Deutschland am 24. März 1901. Rostock 2001 (= Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock 24)).

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Sprachheilkunde (Phoniatrie)7 entstehen als medizinische Spezialfächer. Erreicht die operative Behandlung von Stotterern 1841 ihren ‚Höhepunkt‘, so werden im Laufe des 19. Jahrhunderts für die Behandlung von Stotterern zunehmend didaktische Heilverfahren erprobt. Daraus entstehen die Sprachheilkunde und Logopädie als pädagogische, beziehungsweise therapeutische Praxis, die „alle Erscheinungsformen an Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- und Schluckstörungen“ behandelt.8 Auch wenn bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts Sprachheilanstalten gegründet wurden9, „setzt sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis durch, dass Sprachstörungen auch ein gesellschaftliches, insbesondere wirtschaftliches und militärisches Problem darstellen und öffentliche Maßnahmen notwendig machen“10. In der Abgrenzung von der ‚gesunden‘ Stimme und dem ‚normalen‘ Sprechen zur Störung oder Krankheit werden therapeutische Maßnahmen entwickelt. Hier wird deutlich, dass das zunehmende Interesse für die Sprechstimme auch von ökonomischen und gesellschaftspolitischen Faktoren motiviert ist, durch die die Stimme und das Sprechen überhaupt in den Fokus disziplinierender Mechanismen geraten. Dies gilt auch für die Sprechstimmbildung, also den Bereich, der nicht der heilpädagogischen oder therapeutischen Behandlung zuzuschreiben ist, und der in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht. Auf Bezüge zwischen Sprechstimmbildung und physiologischer Forschung wird insbesondere bei der Untersuchung der Übungsbücher noch genauer einzugehen sein. Ging es auch im medizinischen Bereich um gesellschaftspolitische Interessen, so spielen diese insbesondere bei Fragen der Aussprachenormierung eine Rolle. Wie noch zu zeigen sein wird, stehen die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 ebenso wie die daran anschließenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamiken in Zusammenhang mit den Forderungen, die im 7

Die Phoniatrie wurde 1905 von Hermann Gutzmann „als Universitätsfach an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin etabliert“ (vgl. Otto Braun, Heidrun MachaKrau: Geschichte der Sprachheilpädagogik und Logopädie. In: Manfred Grohnfeldt (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Fünf Bände. Band 1: Selbstverständnis und theoretische Grundlagen. Stuttgart 2000. S. 47-79. Hier S. 68).

8

Grohnfeldt; Ritterfeld: Grundlagen der Sprachheilpädagogik und Logopädie. S. 16. Sprachheilpädagogik und Logopädie unterscheiden sich in ihrem Selbstverständnis: die Sprachheilpädagogik fühlt sich eher einem pädagogischen Selbstverständnis verpflichtet (vgl. ebd. S. 25), während die Logopädie sich „als medizinischer Hilfs- und Heilberuf“ (ebd. S. 27) versteht.

9

Als ‚Anfang‘ kann man die erste Taubstummenschule sehen, die Samuel Heinicke 1778 in Leipzig gründete (vgl. Braun; Macha-Krau: Geschichte der Sprachheilpädagogik und Logopädie. S. 51).

10 Ebd. S. 47-79.

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Bereich der Normierung des Sprechens und den Institutionalisierungsbestrebungen erhoben werden. Ökonomische Aspekte werden relevant, wenn es um Forderungen nach einer Sprechstimmbildung für noch nicht als ‚krankhaft‘ eingestufte Störungen geht. Dass Sprechstimmbildung neben dem medizinischtherapeutischen Bereich entsteht, ist auch auf sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse zurückzuführen, die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zu einer Zunahme öffentlicher Redeanlässe führten.11 Schließlich sind auch die sich etablierende Phonetik und die Schwerpunktsetzungen der Sprachwissenschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, da hierdurch das große Interesse für die Beschäftigung mit den Einzellauten der Sprache sowohl in der Aussprachenormierung als auch in den Übungsansätzen der Sprechstimmbildung nachvollziehbar wird. Diese Entwicklungen werden im Zusammenhang mit der Vorgeschichte zur Siebs’schen Regelung im folgenden Unterkapitel dargestellt. Der Einfluss, den das Theater auf den Bereich der allgemeinen Sprechstimmbildung ausübt, wird vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts besonders greifbar: so soll die als Regelung der Bühnenaussprache konzipierte Siebs’sche Kodifizierung auch als Norm für die Aussprache des Deutschen im Allgemeinen gelten. Übungsbüchern für die Sprechstimme lösen sich aus dem Kontext der Schauspiel- und Gesangsausbildung und richten sich an eine weiter gefasste Zielgruppe. Und neben der Sprechstimmbildung – zu diesem Zeitpunkt meist als ‚Sprechtechnik‘ bezeichnet – sowie der Rhetorik stellt der Vortrag von Gedichten und dramatischen Texten eine der drei Säulen des Faches Sprechkunde dar, wodurch auch hier die Nähe zu den performativen Künsten deutlich wird. Gleichzeitigt gibt es auch Abgrenzungsbewegungen vom Bereich des Theaters, insbesondere in Hinblick auf die Lehrkompetenz der im Bereich der Sprechstimmbildung arbeitenden Schauspieler, die jedoch wiederum darauf verweisen, wie nah allgemeine Sprechstimmbildung und Theater auch in personeller Hinsicht beieinander lagen. Damit verbunden ist auch die Sorge, dass Sprechstimmbildung zu einer künstlichen Sprechwirkung erziehen könnte, die Sprechweise von Schauspielern sich also auf das Alltagssprechen überträgt. Hieran lassen sich theaterfeindliche Tendenzen erkennen, die um eine Abgrenzung des Bereichs des Kunsttheaters vom alltäglichen Leben bemüht sind. Zum Teil stehen die Institutionalisierungsbemühungen um das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ im Austausch mit dem medizinischtherapeutischen Bereich.12 Die ersten Fachvertreter unterteilen ihr Fach in drei 11 Vgl. Kapitel 3.1. 12 Auf die Kontakte und Bezugnahmen Erich Drachs, einer der für die Institutionalisierung des Faches maßgeblichen Sprecherzieher, zu den Phoniatern der Zeit weist

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Teilbereiche: Sprechstimmbildung – meist als Stimmbildung oder Sprechtechnik bezeichnet – Vortragskunst und Rhetorik, wobei unter ersterem dann auch Aspekte des gesunden Sprechvorgangs gefasst werden. Der Schwerpunkt liegt allerdings nicht auf therapeutischem Arbeiten. Mit dem Institutionalisierungsprozess gehen Bestrebungen einher, Sprecherziehung in der Schule zu verankern und der Sprechstimmbildung damit eine breit ausgerichtete Wirkung zu verschaffen. Daneben bemüht sich die institutionalisierte ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ um Regulierung des Bereichs der frei arbeitenden Sprechstimmbildner, wobei sich die Fachvertreter von den methodischen Ansätzen der ersten Übungsbücher sowie der starken Fokussierung auf die Einzellaute der Sprache abgrenzen. Die inhaltliche Konzeptionierung des Faches lässt sich dabei, auch mit Blick auf sprachtheoretische und reformpädagogische Strömungen der Zeit, als eine Ausrichtung auf ‚Ganzheitlichkeit‘ beschreiben. Unter nationalsozialistischer Herrschaft erhoffen sich die Fachvertreter der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ eine verstärkte Förderung ihres Faches und ihrer Anliegen, die sie teilweise auch erhalten. In Hinblick auf den Bereich der Sprechstimmbildung ist hier jedoch zu differenzieren zwischen der Verankerung der Sprecherziehung in der Schule und ihrer Funktion in der Rednerausbildung der NSDAP. In diesem Kontext ist auch die Wirkungsmacht, die der Rede und der Stimme des Redners in der nationalsozialistischen Propaganda zugewiesen wurde, kritisch zu befragen.

Pabst-Weinschenk hin (vgl. dies.: Konstitution der Sprechkunde. S. 75-78). So hielt Drach bspw. beim II. Internationalen Kongreß für Logopädie und Phoniatrie, vom 15. bis zum 17. Juli 1926 in Wien, einen Vortrag (vgl. ebd. S. 286). Trotz der Verbindungen entwickeln sich ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ und Phoniatrie, bzw. Logopädie in institutioneller Hinsicht unabhängig voneinander.

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3.1 NORMIERUNG DES SPRECHENS DURCH DAS THEATER – DIE „DEUTSCHE BÜHNENAUSSPRACHE“ (1898) 13 VON THEODOR SIEBS Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt es mit der von dem Germanisten Theodor Siebs herausgegebenen „Deutschen Bühnenaussprache“ zur ersten Kodifizierung von Ausspracheregeln für das Deutsche, die weitreichende Beachtung erhält und als normative Instanz Anerkennung findet.14 Obwohl in einem Ausschuss aus Germanisten und Vertretern deutscher Bühnen unter Siebs’ Federführung als Regelung für das Theater entworfen, verband Siebs damit von Anfang an den Anspruch einer allgemein gültigen Ausspracheregelung für die deutsche Sprache. An dieser Regelung lässt sich somit zum einen exemplarisch die Funktion, die das Theater für eine Normierung des Sprechens im deutschsprachigen Raum einnimmt, sowie die damit zusammenhängende Verknüpfung von Aussprache, Theater und nationalpolitischen Bemühungen aufzeigen und zugleich problematisieren. Zum anderen zeigt sich an der Siebs’schen Regelung und der Geschichte ihrer Rezeption die von Foucault beschriebene „Macht der Norm“ 15 als einer der zentralen Mechanismen in der Disziplinargesellschaft.16 Wie Foucault ausführt, entfalten die Normierungsprozesse dabei eine Dynamik, die zwei aufeinander bezogene Effekte hervorbringt. Zum einen zielen sie auf Uniformität, zum anderen generieren sie Differenzierungsmaßstäbe, durch die Normabweichungen messbar werden. So beschreibt Foucault die Disziplinargesellschaft als

13 Siebs, Theodor (Hrsg.): Deutsche Bühnenaussprache. Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben. Berlin, Köln, Leipzig 1898. 14 Während andere, auch vor dem ‚Siebs‘ vorgebrachte Vorschläge zur Aussprachekodifizierung, wie bspw. die Wilhelm Viëtors, weitgehend unbeachtet blieben, gelang es Theodor Siebs breiten institutionellen Rückhalt für seine Regelung zu erlangen und diese als Maßstab zu etablieren. Die Autoren des Deutschen Aussprachewörterbuchs (DAWB) sprechen von einer „weithin als verbindlich angesehenen Aussprachenorm“ (Krech, Eva-Maria; Stock, Eberhard; Hirschfeld, Ursula et al.: Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin, New York 2009. S. 9. Vgl. auch Uwe Hollmach: Untersuchungen. Hier S. 64). 15 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 237. 16 Vgl. ebd.

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„ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt.“17

Indem eine Norm „als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert“18 gesetzt wird, wird gleichzeitig sichtbar und messbar, inwiefern das Individuum die Norm erfüllt oder wie weit es von ihr entfernt ist. Da Homogenität oder Uniformität in Bezug auf diese Norm als Forderung gilt, wird die Abweichung von der Norm zugleich bewertbar und sanktionierbar. Normierungsprozesse haben somit einen ambivalenten Charakter: sie etablieren Uniformität als Ziel und Anspruch, gleichzeitig ermöglichen sie zu allererst Differenzierung und Bewertung. In dieses Spannungsfeld von Vereinheitlichung und bewertbarer Differenzierung lässt sich auch die Siebs’sche Ausspracheregelung einordnen. Bevor ich auf die Siebs’sche Regelung eingehe, werde ich die Entwicklungen, die dem ‚Siebs‘19 vorausgehen, umreißen, um aufzuzeigen, in welchen Diskurs der Normierung von Aussprache (und Sprechen) diese Regelung eingebettet ist. Dies ist wichtig, um später sowohl den Stellenwert als auch die Problematik dieser Regelung verstehen und einordnen zu können. 3.1.1 Intensivierung der Bemühungen um eine Normierung der Aussprache Ende des 19. Jahrhunderts Vorstellungen von einer überregionalen Aussprachenorm gab es auch schon vor Beginn des 19. Jahrhunderts, allerdings wurde diese von den wenigsten Sprechern realisiert.20 Eine überregionale Aussprachenorm war nicht in verbindlicher 17 Ebd. 18 Ebd. S. 236. 19 So die Kurzform, mit der das Siebs’sche Aussprachewörterbuch – in Analogie zu dem von Konrad Duden begründeten Nachschlagewerk für die Rechtschreibung – betitelt wird (vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 65-66). 20 Mattheier, Klaus J.: Standardsprache als Sozialsymbol. Über kommunikative Folgen gesellschaftlichen Wandels. In: Rainer Wimmer (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin, New York 1991. S. 41-72. Hier S. 53 f. Sowohl Mattheier als auch Werner Besch weisen darauf hin, dass die „Herausbildung und Verbreitung einer sprechsprachlichen Version der Standardsprache“ (Mattheier: Standardsprache. S. 53) noch wenig erforscht ist (vgl. dazu auch Werner Besch: Aussprache-Standardisierung am grünen Tisch? Der ‚Siebs‘ nach 100 Jahren.

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Form kodifiziert oder im Detail fixiert. Eduard Kurka bezeichnet diese Norm als „integrative Ausgleichsform“21, die auf der Basis der sogenannten hochdeutschen Schriftsprache weitgehend in niederdeutschen Lautformen ausgesprochen wird. Die von der ‚Zweiten‘ oder ‚Hochdeutschen Lautverschiebung‘ erfassten Dialekte des mittel- und süddeutschen Raums werden im sprachgeographischen Sinne als hochdeutsche Dialekte bezeichnet22; aus diesen entwickelte sich im 16. Jahrhundert im mitteldeutschen Raum die hochdeutsche Schriftsprache, die als „überregionale[…] Kanzlei-, Geschäfts- und Literatursprache“23 fungierte und maßgeblich von Luthers Schriften geprägt wurde. Im Bereich der niederdeutschen Dialekte musste diese Sprache „Buchstabe für Buchstabe wie eine Fremdsprache erlernt werden“24 und führte bei den Norddeutschen zum „Bemühen […] um eine möglichst korrekte, dialektfreie Aussprache der Buchstaben beim Lautlesen“25, woraus sich die schriftnahe, überwiegend niederdeutsche Lautung der „integrativen Ausgleichsform“ herausbildete, die jedoch bis ins 19. Jahrhundert nicht über die Dialekte und regional gefärbte Ausspracheformen dominierte.26

In: Jannis K. Androutsopoulo, Evelyn Ziegler (Hrsg.): Standardfragen. Soziolinguistische Perspektiven auf Sprachgeschichte, Sprachkontakt und Sprachvariation. Frankfurt a.M. 2003 (= Vario Lingua 18). S. 15-25). 21 Kurka, Eduard: Die deutsche Aussprachenorm im 19. Jahrhundert – Entwicklungstendenzen und Probleme ihrer Kodifizierung vor 1898. In: Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Existenzformen der Sprache. O.O. 1980 (= Linguistische Studien. Reihe A. 66/II). S. 1-67. Hier S. 2. 22 Vgl. [Art.] Hochdeutsch. In: Hadumod Bußmann (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. akt. Aufl. Stuttgart 2002. S. 281. 23 von Polenz, Peter: Altes und Neues zum Streit über das Meißnische Deutsch. In: ders., Johannes Erben, Jan Goossens (Hrsg.): Sprachnormen: lösbare und unlösbare Probleme. Kontroversen um die neuere deutsche Sprachgeschichte. Dialektologie und Soziolinguistik: Die Kontroversen um die Mundartforschung. Tübingen 1986 (= Kontroversen, alte und neue 4). S. 183-202. Hier S. 184. 24 Ebd. S. 194. 25 von Polenz, Peter: Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte von Adelung bis heute. In: Dieter Cherubim, Karlheinz Jakob, Angelika Linke (Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin, New York 2002. S. 1-23. Hier S. 8. 26 Zu einer umfassenden Ausweitung der „Standardisierungsvorstellung[en] von dem schriftlichen Medium auch auf das mündliche Medium, auf die Sprechsprache“, kam es nach Mattheier erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Mattheier: Standardsprache als Sozialsymbol. S. 48).

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Im 18. und 19. Jahrhundert waren es im deutschsprachigen Raum vor allem Theater, an denen man sich um eine einheitliche Aussprache bemühte.27 Dies hatte zum einen mit den Arbeitsbedingungen und Erfordernissen des Theaterbetriebs zu tun: die Schauspieler kamen aus unterschiedlichen Regionen und wechselten häufig ihren Arbeitsplatz, so dass sie ihre Aussprache untereinander und für ein wechselndes Publikum angleichen mussten, um verstanden zu werden. 28 So gibt es Hinweise in Autobiografien von Schauspielerinnen und Schauspielern, die deren Bemühen um eine dialektfreie Aussprache zeigen, zugleich aber auch deutlich machen, dass es zu diesem Zeitpunkt keineswegs eine einheitliche Aussprachepraxis gab.29 Beeinflusst wurden diese Bemühungen auch von ästhetischen Ansprüchen, etwa wenn Goethe in den „Regeln für Schauspieler“30 vor dem Dialektsprechen auf der Bühne warnt: „Wenn mitten in einer tragischen Rede sich ein Provinzialismus eindrängt, so wird die schönste Dichtung verunstaltet und das Gehör des Zuschauers beleidigt. Daher ist das Erste und Notwendigste für den sich bildenden Schauspieler, daß er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige reine Aussprache zu erlangen suche. Kein

27 Im 19. Jahrhundert kamen Deklamierklubs hinzu, in denen man sich um eine einheitliche Aussprache bemühte. Vgl. DAWB. S. 10. 28 Vgl. Max Mangold: Gesprochenes und Geschriebenes Deutsch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Werner Besch (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. neueste und vollst. neubearb. Ausg. Vier Bände. Band 2. Berlin 2000. S. 1967-1980. Hier S. 1975 f. Sowie Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Zwei Bände. Band 1. Tübingen 1961. S. 333. Allerdings bedürfte es hier differenzierter Untersuchungen, die zwischen den Wandertheatergruppen und der zunehmenden ‚Sesshaftwerdung‘ der Schauspieler gegen Ende des 18. Jahrhunderts unterscheiden sowie die unterschiedlichen Genres sowie Größe und geographische Lage der Theater berücksichtigen. Dass bestimmte Theaterformen auch als Negativ-Beispiel herangezogen wurden, zeigt der Hinweis Johann Gottlieb Radlofs, der sich über die Mundart von Rednern beklagt, „deren gleich man sonst nur auf Puppen-Theatern und DorfJahrmärkten vernimmt“ (Radlof, Johann Gottlieb: Die Sprachen der Germanen. Frankfurt a.M. 1817. Hier S. XVIII). 29 Vgl. Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Band 1. S. 355. Sowie Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 5-10. 30 Die Regeln entstanden aus der Ausbildungsarbeit Goethes mit den Schauspielern Karl Franz Grüner und Pius Alexander Wolff im Jahre 1803 und erschienen erst posthum.

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Provinzialismus taugt auf der Bühne! Dort herrsche nur die reine deutsche Mundart, wie sie durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft ausgebildet und verfeinert worden.“31

Während Goethe sich hier auf einen ungeschriebenen, von „Geschmack, Kunst und Wissenschaft“ gebildeten ‚Common Sense‘ beruft, bemüht sich Theodor Siebs in seiner „Deutschen Bühnenaussprache“ um eine Fixierung der Ausspracheregeln. Er beruft sich dabei auf die Goethe’schen Hinweise, denn auch in seiner Regelung geht es in erster Linie darum, eine einheitliche Aussprachenorm der Laute gegen ‚Abweichungen‘ im Dialekt sowie gegen Nachlässigkeit der Umgangssprache festzuschreiben. Bei der Siebsʼschen Regelung sind damit, wie wir noch sehen werden, aber auch politische Implikationen verknüpft; und auch zuvor spielten nicht nur alltagspragmatische und ästhetische Überlegungen eine Rolle, wenn den Theatern eine vereinheitlichende und vorbildhafte Funktion hinsichtlich der Aussprache zugewiesen wurde. Über die Einheitlichkeit der Sprache sollte auch die ‚Einheit‘ der Nation hergestellt werden und das Theater sollte dabei als Leitmedium fungieren. So stellt der Dichter Johann Gottfried Seume die Forderung, „sich auf die Bühne als die Norm der Entscheidung in zweifelhaften Fällen der Aussprache, des Akzents, selbst der Grammatik“32 zu berufen, weist aber auch darauf hin, dass die deutschsprachigen Theater diesem Anspruch noch nicht entsprechen und betont dabei den einheitlichen Charakter, den eine Nationalsprache haben soll: „Jedes unserer Theater hat noch seinen eigenen, den andern oft sehr unangenehmen Dialekt und Akzent; und die wahre, reine Sprache der Nation muß weder Dialekt noch Akzent haben.“33 Dass die (Aus-)Sprache und das Theater Teil nationalpolitischer Auseinandersetzungen war – und ist –, zeigt sich insbesondere auch an der Geschichte des ‚Burgtheaterdeutsch‘. So ist mit der Begründung des Wiener Burgtheaters als ‚Nationaltheater‘ 1779 durch Josef II auch ein gegen Preußen gerichteter Anspruch auf die „kulturelle Vorherrschaft in den deutschsprachigen Regionen“ 34 31 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedemar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp et al. 40 Bände. Band 18: Ästhetische Schriften 1771-1805. Frankfurt a.M. 1998. Hier S. 860 f. 32 Böwe, Kurt (Hrsg.): Über Schauspieler und Schauspielkunst. Ausgewählte Abhandlungen von August Wilhelm Iffland und Johann Gottfried Seume. Dresden 1965. Hier S. 102. 33 Ebd. 34 Peter, Birgit: Mythos Burgtheaterdeutsch. Die Konstruktion einer Sprache, einer Nation, eines Nationaltheaters. In: Beate Hochholdinger-Reiterer, Birgit Peter (Hrsg.): Burgtheater. Mythos, Eros, Imago. Wien, Köln, Weimar 2004 (= Maske und Kothurn 50). S. 15-27. Hier S. 16.

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verbunden. In der Folge wird das „berühmte Burgtheaterdeutsch“ 35 zum „Mythos“36 und Vorbild, das sich jedoch einer konkreten Beschreibung entzieht.37 Wie Birgit Peter betont, „ist diese Burgtheatersprache keine festgeschriebene, sondern scheint erst aus den Gegensätzen, Abgrenzungen zu entstehen“ 38. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bildete der ‚Weimarer Deklamationston‘ den Antagonisten, von dem sich, laut Eduard Devrient, der „natürliche[…], oft prosaische Ton, der am Burgtheater herrschte“39 absetzte; seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zielt die Abgrenzung zunehmend gegen Berlin und ‚das Preußische‘ – eine Polemik, die sich noch in Debatten um die Direktion Claus Peymanns am Burgtheater Ende des 20. Jahrhunderts findet.40 Auch in den Debatten um die Siebs’sche Aussprachenormierung geht es, wie wir noch sehen werden, um Konflikte zwischen dem norddeutschen und süddeutschen Raum, die vorbildliche Funktion des Burgtheaterdeutsch für die Sprache findet am Rande der Beratungen Erwähnung, nimmt aber keinen Einfluss auf die Inhalte der Regelung. Entsprechend dieser Verbindung von nationalpolitischen Interessen mit Fragen der sprachlichen Einheit41 kommt es nach der Reichsgründung von 1871 zu einer Verdichtung der Interessen um eine normierende Vereinheitlichung der Aussprache.42 Befördert werden diese zudem von den gesellschaftlichen und 35 Haider-Pregler, Hilde: Theater und Schauspielkunst in Österreich. Hrsg. vom Bundespressedienst Wien. Wien o. J. Hier S. 74. 36 Vgl. den Aufsatz von Peter: Mythos Burgtheaterdeutsch. 37 Wie Peter mit Verweis auf Haider-Pregler schreibt, hatte „die Nationalbühne den staatlichen Auftrag […], zur Verbreitung – aber vor allem zur Artikulation – einer ‚gepflegten deutschen Hochsprache‘ einen wesentlichen Beitrag zu leisten“ (ebd. S. 18). Sie verweist dabei auch darauf, dass die ‚Entstehung‘ des Burgtheaterdeutsch mit unterschiedlichen Ereignissen in Verbindung gebracht wird, so mit Kotzebues einjähriger Dramaturgie im Jahre 1798, wodurch der Konversationston des Burgtheaters begründet worden sei, oder aber mit Heinrich Laubes künstlerischer Direktion von 1849 bis 1867, der besonderen Wert auf die Wortregie legte (vgl. ebd.). 38 Ebd. S. 17. 39 Devrient, Eduard: Geschichte der Deutschen Schauspielkunst. In zwei Bänden neu herausgegeben von Rolf Kabel und Christoph Trilse. Band 2. München, Wien 1967. Hier S. 135. 40 Vgl. Peter: Mythos Burgtheaterdeutsch. S. 26 f. 41 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 24. 42 Mattheier beschreibt dies als eine Entwicklung der deutschen Standardsprache von einem „Sozialsymbol“ des Bildungsbürgertums zu einem „Nationalsymbol“, bzw. ab 1871 zu einem „Staatssymbol“ (vgl. Mattheier: Standardsprache als Sozialsymbol. S.

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ökonomischen Veränderungen43, die zum einen zu mehr Mobilität und Austausch, zum anderen zu einer Zunahme von öffentlichen Redeanlässen führen44. Voraussetzung für eine normierende Festschreibung von Ausspracheregeln war dabei zudem die Etablierung der Phonetik als Wissenschaft, die wiederum auf physiologischen Forschungen zur Lautbildung aufbaute45, und die mit einer positivistisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Sprachwissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einherging, die sich auf die Sprachlaute konzentrierte und Lautgesetze als Naturgesetze verstand.46 Diese Entwicklungen mündeten schließlich in die kodifizierte Aussprachenormierung durch Siebs, die ihren Ausgangspunkt ebenfalls in der Vereinheitlichung der Bühnenaussprache nahm, dabei jedoch zugleich – wie wir noch sehen werden – einen weiter gefassten Geltungsansprach vertrat. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Phonetik international sowie im deutschsprachigen Raum als eigenständige Wissenschaft, die die Sprachlaute erforscht.47 An dieser Entwicklung zeigt sich das zunehmende Interesse an Sprache und Stimme und deren detailgenauer Erforschung. Zudem sind die Untersuchungen der Phonetik Voraussetzung für eine Normierung der Aussprache sowie die Einübung der Stimme auf bestimmte Normen hin, auf die ich in Kapitel 3.2 49 f. Vgl. dazu auch ders.: Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: sprachgeographisch, sprachsoziologisch. In: Besch (Hrsg.): Sprachgeschichte. S. 1951-1966. Hier S. 1955). Die Autoren des DAWB weisen darauf hin, dass auch die Bemühungen um eine Regelung der Rechtschreibung dazu beitrugen, eine solche Regelung auch für die Aussprache festzulegen (vgl. DAWB. S. 8). 43 Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünf Bände. Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1848-1914. München 1995. S. 487-699. 44 Mattheier nennt als Beispiel die „zunehmende überregionale Vernetzung des Vereinswesens“ (Mattheier: Standardsprache. S. 55). Kurka betont die zunehmende Bedeutung des gesprochenen Wortes „auf Massenversammlungen der Arbeiterklasse, bürgerlicher Parteien [sowie] in Debatten des Reichstages“ (Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 13). 45 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 13 f. 46 Diese Ausprägung der Sprachwissenschaft wird als ‚junggrammatische Schule‘ bezeichnet (vgl. Gerhard Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Unter dem besonderen Aspekt der Grammatik-Theorie. 2. Aufl. Leipzig 1973. Hier S. 1420). 47 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 14. Meine folgenden Ausführungen lehnen sich weitgehend an Kurkas Darstellung an.

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eingehen werde. Die Phonetik baute auf „Forschungsergebnissen anderer Disziplinen, z.B. der Anatomie, Physiologie sowie der physikalischen Akustik“ 48 auf und bediente sich teilweise auch ihrer Methoden49. So hatte sich die Lautphysiologie „als naturwissenschaftliche Disziplin mit sprachwissenschaftlicher Zielsetzung“50 im deutschsprachigen Gebiet bereits seit den 1840er Jahren herausgebildet.51 Seit den 1860er Jahren wurde „[d]ie naturwissenschaftliche und empirische Basis der Lautsysteme […] weiter ausgebaut“ und „mit sprachwissenschaftlicher Abstraktion und Selektion“ verbunden.52 Ihre prominenten Vertreter sind Ernst Wilhelm Brücke, Carl Ludwig Merkel und Eduard Sievers53, die auch in Stimmübungsbüchern und sprechkundlichen Texten immer wieder zitiert werden. Ende der 1880er Jahre wurde die Phonetik eine Wissenschaftsdisziplin an den Universitäten und fand „Eingang in den akademischen Lehrbetrieb“. 54 Ausdruck der internationalen Bemühungen um die phonetische Forschung und die „Standardisierung von Schrift- und Lautzeichen“55 ist die Entwicklung einer einheitlichen Lautschrift, der API-Transkription, beziehungsweise IPATranskription, die durch den internationalen Zusammenschluss von Phonetikern 1886 in der Association Phonétique Internationale (API)56 vorangebracht und 1888 in einer ersten Fassung vorgelegt wurde.57 Siebs hingegen verwendet in seiner Ausspracheregelung nicht die Lautschrift der API, die erst 1957 von den Herausgebern der 16. Auflage des ‚Siebs‘ übernommen wird. Voraussetzung für eine Normierung der Aussprache mithilfe der Phonetik war die Entwicklung „weiterführende[r] methodologische[r] Ansätze zur kom48 Ebd. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd. S. 15. 53 Brücke, Ernst Wilhelm: Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute für Linguisten und Taubstummenlehrer. Wien 1856. Merkel, Carl Ludwig: Anatomie und Physiologie des menschlichen Stimm- und Sprachorgans (Anthropophonik). Nach eigenen Beobachtungen und wissenschaftlichen Versuchen begründet. Leipzig 1857. Ders.: Physiologie der menschlichen Sprache (physiologische Laletik). Leipzig 1866. Sievers, Eduard: Grundzüge der Lautphysiologie. Leipzig 1876. 54 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 15. 55 Ebd. S. 16. 56 Der englische Name heißt „International Phonetic Association“, entsprechend wird die Lautschrift auch IPA-Lautschrift genannt. 57 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 16. Klaus J. Kohler: Einführung in die Phonetik des Deutschen. Berlin 1977. Hier S. 152 f.

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plexen Erfassung von Normen unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte“ 58 seit den 1870er Jahren, so dass erst davon ausgehend überhaupt eine weitergehende Verständigung über Normierungsgrundlagen und Normierungskriterien der Aussprache möglich wurde: „Gleichzeitig häufte sich seit den 80er Jahren die Kritik an der mangelnden phonetischen Fundierung der germanistischen Sprachwissenschaft. […] Es mehrten sich die Stimmen in der Laut- und Sprachwissenschaft, die eine wissenschaftlich begründete Vereinheitlichung der Aussprache als gesellschaftliche Notwendigkeit und Aufgabe forderten und für möglich hielten.“59

In diesem Zusammenhang bildete sich auch die sogenannte „junggrammatische Schule“ in der Sprachwissenschaft heraus, die sich von der vorhergehenden „romantischen Sprachwissenschaft“ – maßgeblich geprägt von Joachim Grimm und Wilhelm Humboldt – abgrenzte, indem sie weniger das Sprachganze und den Zusammenhang der Sprache mit dem gesamten Geistesleben in den Blick nahm, als vielmehr die Sprache „in eine Fülle von formalen und lautlichen Einzelheiten“ zerlegte und ihre Arbeitsweise an positivistisch- naturwissenschaftlichen Methoden orientierte60: „Eben darin besteht der Atomismus der Junggrammatiker: Sie vereinzelten in ihren geschichtlichen Untersuchungen die sprachlichen Formen, lösten sie aus ihren systemhaften und funktionalen Zusammenhängen, so daß ihre historische Grammatik letztlich zur Geschichte einzelner Laute und Formen wurde und die kommunikative, inhaltliche Seite der Sprache vernachlässigte.“61

Dieser „Atomismus“ und die Konzentration auf einzelne Laute, statt auf den Inhalt, finden sich auch in den ersten Übungsbüchern zur Sprechstimmbildung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstehen und auf die wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen. Zu den Junggrammatikern gehörte auch Eduard Sievers, der neben Moritz Trautmann und Wilhelm Viëtor einflussreich für die phonetische und sprachwissenschaftliche Forschung nach 1871 wurde. 62

58 Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 19. 59 Ebd. S. 20. 60 Vgl. Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. S. 17. 61 Ebd. S. 19. 62 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 25. Sievers nahm an den Beratungen der ‚Siebskommission‘ teil. Viëtor war eingeladen, konnte aber nicht persönlich teil-

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Sievers nahm dann auch an den Beratungen der Siebs-Kommission teil, Viëtor, der verhindert war, äußerte sich schriftlich dazu. Es gab verschiedene Vorschläge, auf welcher Grundlage und nach welchen Maßstäben die Aussprache zu normieren sei.63 So regte Viëtor eine Untersuchung auf der Grundlage von Fragebogenerhebungen an, in der Lehrer auf ihre Einschätzung von Lautungsstufen hin befragt wurden64 – eine Methode, die zunächst auf Kritik stieß.65 1885 veröffentlichte Viëtor ein Aussprachewörterbuch66, das sich jedoch nicht durchsetzte.67 Einflussreich wurde vielmehr die Aussprachekodifizierung von Theodor Siebs von 1898. Die Regelung wurde zwar auch kritisiert, konnte sich aber dennoch als Norminstanz etablieren. An den mit dieser Regelung verknüpften Forderungen und Anliegen sowie den Reaktionen darauf lassen sich die disziplinargesellschaftlichen Normierungsdynamiken und Machtmechanismen aufzeigen, die am Ende des 19. Jahrhunderts das Sprechen in Hinblick auf die Aussprache erfassen. Zudem wird in der Siebs’schen Regelung die Aussprache am Theater in ein hierarchisierendes und normatives Verhältnis zur allgemeinen Aussprache gesetzt und stellt damit eine jener Schnittstellen zwischen dem Bereich der Kunst und sprechstimmbildnerischen Maßstäben für eine breite Zielgruppe dar.

nehmen und äußerte sich nur schriftlich. Zum detaillierten Vergleich der Positionen von Sievers, Trautmann und Viëtor vgl. ebd. S. 25-29. 63 Vgl. ebd. S. 30-40; S. 42-51. Vgl. dazu auch DAWB. S. 8-10. 64 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 21. Hollmach: Untersuchungen. S. 67. 65 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 21-22. U.a. kritisiert auch Siebs, zumindest implizit, in der ersten Auflage der „Deutschen Bühnenaussprache“ die Verwendung von Fragebögen: „Will man den Lautstand einer Mundart wissenschaftlich feststellen, so darf man die Leute nicht fragen, wie sie dieses oder jenes Wort aussprechen, sondern muss die unbefangene Rede beobachten.“ (Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 13). 66 Viëtor, Wilhelm: Die Aussprache der in dem Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den preußischen Schulen enthaltenen Wörter. Heilbronn 1885. 67 Erst der Arbeitskreis zur Erstellung des „Wörterbuchs der deutschen Aussprache“ um Hans und Eva-Maria Krech in den 1950er und 1960er Jahren knüpfte wieder an die Arbeit Viëtors an. Die Vorschläge Viëtors gehen ebenfalls von der „niederdeutschnorddeutsch geprägten Bühnennorm als Grundlage“ (Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 44) aus, lassen aber mehr Varianten zu und stellen damit eine Norm dar, die eher der Sprechrealität entsprach. Zu den Details vgl. ebd. S. 44-50.

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3.1.2 Die Siebs’sche Aussprachekodifizierung als disziplinierende Normsetzung Am 14. April 1898 kommen in Berlin auf Veranlassung von Theodor Siebs Vertreter des deutschen Bühnenvereins sowie Vertreter der Germanistik zusammen.68 Anlass des Treffens ist es, eine einheitliche Regelung für die deutsche Bühnenaussprache zu finden. Die Ergebnisse der Beratung veröffentlicht Siebs im gleichen Jahr „im Auftrage der Kommission“ unter dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache“.69 Der Inhalt der Regelung macht zum einen deutlich, dass

68 Die Angaben dazu, wer an dem Treffen teilnahm, gehen auseinander. Siebs nennt in seiner Veröffentlichung Graf Bolko von Hochberg, Karl Freiherr von Ledebur und Dr. Eduard Tempeltey als Vertreter des Bühnenvereins und Prof. Dr. Eduard Sievers, Prof. Dr. Karl Luick und sich selbst als Vertreter der Germanistik (vgl. Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 3 f.). Viëtor, der, wie erwähnt, zu dem Treffen eingeladen war, aber nicht kommen konnte und seine Anmerkungen schriftlich einreichte, nennt außerdem die Namen [Emil] Claar, Baron von Puttlitz und [Max] Staegemann als weitere Vertreter der Bühnenleitung und sich selbst sowie Seemüller als weitere Vertreter der Germanistik (vgl. Wilhelm Viëtor: Deutsches Lesebuch in Lautschrift. Erster Teil. Fünfte durchgesehene Aufl. Leipzig, Berlin 1914. Hier S. V). Viëtor und Seemüller werden von Siebs als verhindert erwähnt (vgl. Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 3), die weiteren Vertreter der Bühnenleitung nicht. Da die Protokolle des Treffens nicht erhalten, bzw. nicht auffindbar sind (vgl. Eberhard Stock: Die Siebssche Aussprachekodifizierung als historisches Problem. In: EvaMaria Krech (Hrsg.): Beiträge zur deutschen Standardaussprache. Bericht von der 16. Sprechwissenschaftlichen Fachtagung am 15. und 16. Oktober 1994 an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Hanau 1996. S. 41-65. Hier S. 45) bleiben nur Spekulationen, in welchem Zusammenhang sie mit der Kommission standen. Gustav Heinrich Gans Edler Herr zu Puttlitz, der von 1873 bis 1889 das Karlsruher Hoftheater als Intendant leitete, kann zudem an dem Treffen nicht teilgenommen haben, da er bereits 1890 gestorben war. 69 Der vollständige Titel lautet: Deutsche Bühnenaussprache. Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben. Im Auftrage der Kommission herausgegeben von Theodor Siebs. Berlin, Köln und Leipzig 1898. Neben Siebs’ Ausführungen zu den „Allgemeinen Grundlagen und Ziele[n] der Arbeiten“ zu Beginn des Werkes (vgl. ebd. S. 5-24), ist der Vortrag Sievers’ zur „Bedeutung der Phonetik für die Schulung der Aussprache“ (vgl. ebd. S. 25-

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es hier nicht um den medizinisch-therapeutischen Bereich des Sprechens und dessen normative Abgrenzungen geht: Zweck ist, eine einheitliche Aussprache der deutschen Sprachlaute festzuschreiben; diese werden zwar auch in ihrer physiologisch korrekten Bildung beschrieben, dabei geht die Regelung jedoch nicht auf ‚Sprechfehler‘ wie Lispeln oder Stottern ein, sondern setzt die grundsätzliche Fähigkeit zur Bildung der Laute voraus. Der Fokus liegt also nicht darauf, das ‚normale‘, ‚gesunde‘ Sprechen von Abweichungen abzugrenzen, die als ‚Störung‘ oder ‚Sprechfehler‘ eingestuft werden. Vielmehr soll eine Lautform in Abgrenzung von dialektalen Lautbildungen oder von Formen der Umgangssprache als Norm gesetzt werden. Zum anderen finden sich zahlreiche Hinweise auf das Theater, die die Normierung auch als eine ästhetische Setzung erkennbar machen, und darüber hinaus zeigen, dass mit der Regelung auch eine Disziplinierung der Schauspieler angestrebt wird. Beispielsweise räumt Siebs ein, dass zwar der „Affekt […] einen gewissen Einfluss auf die Aussprache der Sprachelemente […] ausüben kann“, so dass Laute dadurch stärker behaucht oder betont würden.70 Dem fügt er hinzu: „Man würde zu weit gehen, wollte man solche Erscheinungen schlechtweg als Unarten bezeichnen, mag auch ihr übermässiges Auftreten zu tadeln sein.“71 Auch wenn er den Schauspielern „einen gewissen Spielraum“ lassen möchte, so sei jedoch die Aussprache „vor Uebertreibung […] nur dadurch [zu schützen], dass wir gewisse Normen angeben“.72 Neben der Übertreibung droht auf der anderen Seite „Bummelei“ und Nachlässigkeit in der Aussprache der Schauspieler, der ebenfalls entgegen zu wirken ist.73 Den ästhetischen Maßstab bildet dabei das Sprechen in „klassischen und historischen Stücken“74, die Aussprache im Gesang wird – zumindest in den ersten Auflagen – noch ausgeklammert, da sie für das Sprechen irrelevant sei.75 Auch wenn also meist allgemein von ‚der Bühne‘ oder ‚dem Theater‘ gesprochen wird, steht dahinter eine Hierarchisierung und Abgrenzung von Gattungen und Darstellungsformen. Neben diesen Normierungen für das Sprechen im Theater geht es Siebs jedoch um mehr, wie seine Ausführungen in der „Deutschen Bühnenaussprache“ zeigen. So schreibt er im Vorwort, das Buch möge „als eine Art Handbuch für 30) abgedruckt. Dem folgen die Ausführungen zu den einzelnen Sprachlauten (vgl. ebd. S. 33-76) sowie ein Wörterverzeichnis (vgl. ebd. S. 77-93). 70 Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 14. 71 Ebd. 72 Ebd. S. 15. 73 Ebd. S. 17. 74 Ebd. S. 16. 75 Vgl. ebd. 22.

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die mustergültige Aussprache des Deutschen dienen“76. Er betont die Notwendigkeit von „Bestimmungen über die mustergültige Aussprache“ 77 des Deutschen sowohl für den Unterricht in der Schule als auch für Ausländer, die Deutsch lernen wollen. Trotz der konstatierten „Unarten“ und „Bummelei“ werde auf der Bühne das einheitlichste Deutsch gesprochen und wenn man die, aus Sicht von Siebs, geringen bestehenden Unterschiede einheitlich regele, hätte mit diesen „für die Bühne geschaffenen Bestimmungen […] auch der Lehrer eine Richtschnur gewonnen“78. In Fortsetzung der – im vorangegangenen Abschnitt skizzierten – Tradition im deutschsprachigen Raum, dem Theater eine Vorbildfunktion für das Sprechen zuzuweisen, nimmt auch Siebs das Theater zum Ausgangspunkt seiner Ausspracheregelung. Deren normierende Funktion zielt dabei in zwei Richtungen: einmal auf das Theater selbst, zum anderen über das Theater hinaus auf die Aussprache der deutschen Sprache im Allgemeinen. Dass die Siebs’sche Ausspracheregelung im Gegensatz zu Vorschlägen anderer Wissenschaftler79 überhaupt Einfluss gewinnen konnte, lag daran, dass Siebs von Anfang an den Rückhalt verschiedener Institutionen suchte.80 So hatte er sich im Vorfeld der Beratungen um die Unterstützung des deutschen Bühnenvereins bemüht81, dessen Vertreter dann auch an den Beratungen teilnahmen. Schauspieler wurden hingegen zunächst nicht zu den Beratungen hinzugezogen. Darüber hinaus warb Siebs auch um die Unterstützung des Vereins der deutschen Philologen und Schulmänner, die sich auf der 44. Versammlung ihres Vereins 1897 auf folgenden Beschluss einigten: „Die im ernsten Drama übliche deutsche Bühnenaussprache pflegt als Norm für die deutsche Aussprache zu gelten. Sie ist aber nicht im deutschen Sprachgebiete durchaus dieselbe und ist, vom wissenschaftlichen Standpunkte bemerkt, nicht in jeder Beziehung zu billigen. Deshalb ist aus orthoepischen82 Gründen für Bühnen- und Schulzwecke eine ausgleichende Regelung der Aussprache wünschenswert; sie ist aber auch darum wichtig, weil dereinst etwaige Verbesserungen der Orthographie auf ihr werden fussen müssen. […] Die germanistische Sektion der 44. in Dresden tagenden Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner würde es mit Freude begrüssen, wenn der deutsche Bühnen76 Ebd. S. 4. 77 Ebd. S. 7. 78 Ebd. S. 8. 79 Wie bspw. die Vorschläge Viëtors (vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 63 f.). 80 Vgl. Stock: Die Siebssche Aussprachekodifizierung als historisches Problem. S. 44. 81 Vgl. Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 5. 82 Orthoepie oder Orthoepik ist – analog zur Orthographie – die Lehre von der richtigen Aussprache der Wörter.

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verein bereit wäre, sich zu gemeinsamer Arbeit an diesem nationalen Werke mit der germanistischen Wissenschaft zu verbinden.“83

Die Vorarbeiten zu dem Treffen stammten in erster Linie von Siebs, der im Vorwort des Buches auch sein methodisches Vorgehen erläutert. So wolle man keine „neue Sprechweise schaffen, sondern nur die vorhandene feststellen“ 84. Dazu hatte Siebs die „Aussprache mit ihren feinen Unterschieden“ 85 während Theatervorstellungen mitgeschrieben. Eine Befragung der Schauspieler lehnt er ab, da dies für die Beobachtung der Aussprachegewohnheiten nicht maßgeblich sei, und begründet damit auch, dass keine Schauspieler an den Beratungen teilnehmen.86 Dies wurde ihm im Anschluss an die Veröffentlichung ebenso vorgeworfen, wie sich an anderen Aspekten der Regelung heftige Kontroversen entzündeten. Dennoch trug die institutionelle Rückversicherung87, um die Siebs sich im Vorfeld, aber auch in den auf die Veröffentlichung folgenden Jahren bemühte, zur Etablierung der Regelung bei. Siebs bezog zudem doch noch Schauspieler in den Beratungsprozess mit ein und 1908 wurde „nach erneuter Beratung mit Mitgliedern der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger die Regelung für die Bühne als maßgeblich erklärt“88. Bei einer erneuten Tagung des Beraterausschusses 1922 bekräftigte ein Vertreter des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung den Anspruch der Regelung auch für den Schulbereich. Ab diesem Zeitpunkt trug die Regelung den Untertitel „Hochsprache“ und erschien bis 1930 in insgesamt 15 Auflagen. Bei der Veröffentlichung der 16. Auflage 1957 wurden die Titel umgedreht, das Buch hieß nun „Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache“.89 Die Anerkennung durch den Minister 1922 wird 83 Zitiert nach: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 5-6. 84 Ebd. S. 13. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Vgl. Stock: Die Siebssche Aussprachekodifizierung als historisches Problem. S. 44. 88 Krech, Eva-Maria: Probleme der deutschen Ausspracheregelung. In: Hans Krech (Hrsg.): Beiträge zur deutschen Ausspracheregelung. Bericht von d. 5. Sprechwissenschaftlichen Fachtagung d. Inst. f. Sprechkunde u. d. Phonet. Sammlung d. MartinLuther-Univ. Halle-Wittenberg vom 1. bis 3. Juli 1960. Berlin 1961. S. 9-47. Hier S. 15. In den folgenden ‚Siebs‘-Ausgaben werden der deutsche Bühnenverein und die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger auf dem Titelblatt genannt. 89 de Boor, Helmut; Diels, Paul (Hrsg.): Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache. 16. völlig neubearb. Aufl. Berlin 1957. Die 16. Auflage stützte sich weitgehend auf die Bearbeitungen des Beraterausschusses von 1933, also 24 Jahre vor der Veröffentlichung (vgl. ebd. S. 24).

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in der Forschungsliteratur unterschiedlich bewertet: während Eva-Maria Krech daraus folgert, dass die „Regelung […] Rechtsgeltung wie der Duden [erhielt]“90, weist Marita Pabst-Weinschenk darauf hin, dass „die Hochlautung“ bis heute nicht „[d]en Status amtlicher Regeln, wie sie für die Rechtschreibung in der Folge der großen Rechtschreibekonferenzen 1901 und 1903 entwickelt worden sind […], erreicht [hat]. Sie gilt vielmehr als stille Konvention.“ 91 Als rechtskräftige Anerkennung ist die Äußerung des Ministers wohl tatsächlich nicht zu verstehen, allerdings findet die Bühnenaussprache in den Preußischen Lehrplanrichtlinien von 1925 durchaus Erwähnung, wenn auch – wie wir noch sehen werden – nicht in der Form, wie es einigen Verfechtern der Siebs’schen Regelung vorschwebte.92 Zudem zeigen die zahlreichen Auflagen ebenso wie die nicht nachlassende Kritik – die gewissermaßen nicht an dem ‚Siebs‘ vorbeikam –, dass die Regelung einen normativen Maßstab setzte, der bis in die 1960er Jahre einflussreich blieb93. Diesen Einfluss bestätigt auch einer der schärfsten Kritiker der Regelung, der Sprechwissenschaftler Ewald Geißler94, wenn er 1938 schreibt: „Aus unserer langen Lehrerfahrung wissen wir sogar, daß es [das Buch; gemeint ist die Siebs’sche Regelung; Anm. D. P.] Geschichte gemacht hat, indem seine Regelungen in wachsenden Auflagen die lebende Aussprache tatsächlich beeinflußt haben.“95 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gestaltet sich der Normierungseffekt, den die Regelung insbesondere in ihrer Ausweitung von der Bühnenaussprache auf die allgemeine Aussprache entfaltet, dabei als eine ambivalente Dynamik aus uniformierender Ausrichtung und differenzierender Abstufung, die nach Foucault so charakteristisch für die disziplinargesellschaftliche „Macht der Norm“ ist.

90 Krech: Probleme der deutschen Ausspracheregelung. S. 18. 91 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 69-70. 92 Vgl. Klaudius Bojunga: Hochsprache und Höhere Schule. In: Walther Steller (Hrsg.): Festschrift Theodor Siebs zum 70. Geburtstag. Breslau 1933 (= Germanistische Abhandlungen 67). S. 463-478. 93 Vgl. Kapitel 4.2. Auch im DAWB wird darauf hingewiesen, dass bis 1945 der ‚Siebs‘ „die einzige als verbindlich angesehene Kodifizierung der Aussprache [blieb]“ (DAWB. S. 11). 94 Geißler war ab 1918 zunächst Lektor, ab 1932 außerordentlicher Professor für deutsche Sprachkunst an der Universität Erlangen. 95 Geißler, Ewald: Was wir gegen die „Deutsche Bühnenaussprache-Hochsprache“ auf dem Herzen haben. In: Der Rundfunk (1938) Heft 10/11. S. 320-354. Hier S. 321.

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Nationale Einheit und vereinheitlichte Aussprache Wie bereits geschildert, intensivierten sich ab 1871 die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Aussprache, die damit auch die Einheit des neuen Staatsgebildes zum Ausdruck bringen sollte.96 Ist bereits in der von der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner verabschiedeten Unterstützungserklärung für Siebsʼ Vorhaben von einem „nationalen Werke“ die Rede, so betont auch Theodor Siebs selbst den Beitrag seiner Bühnenaussprache zur nationalpolitischen sowie zur wirtschaftlichen Einigung des deutschen Reichs: „Die so von uns erhoffte Einwirkung der Bühnenaussprache auf die weiten Kreise unserer Nation hat auch eine politische Bedeutung. Ein jeder gute Deutsche, dem die völlige gegenseitige Durchdringung unserer Stämme am Herzen liegt, wird sich über diesen weiteren Schritt zur vollkommenen Einigung freuen. Wir haben schon festgestellt, dass der Einfluss der kunstmässigen Aussprache auf die Aussprache der Gebildeten sehr bedeutend ist. So werden diejenigen, die nicht allein die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen und Verkehrsinteressen im Auge haben, für dieses weitere Mittel zu inniger Verschmelzung von Nord und Süd eintreten, denn Nichts scheidet heute Ober-, Mittelund Niederdeutschland stärker als die Sprache.“97

Dass diese „innige Verschmelzung von Nord und Süd“ in Bezug auf die Aussprache jedoch nicht so einfach herzustellen ist, beziehungsweise dass die Einheit nicht als Konsens erreicht werden kann, zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung der Beratungsergebnisse. Vor allem von süddeutscher Seite aus wird die Dominanz norddeutscher Einflüsse auf die Sprachregelung konstatiert. Die Kritik richtet sich zum einen gegen die Zusammensetzung der Kommission: hier seien bis auf den Österreicher Luick nur Norddeutsche vertreten. 98 Mit Blick

96 Auf die damit verbundene weitergehende Sprachpolitik gegenüber den ‚anderen‘ Sprachen im Deutschen Reich kann hier nicht weiter eingegangen werden. Zum Wechsel der Maxime von „eine Sprache, also eine Nation“ hin zu „ein Staat, also eine Sprache“ vgl. Mattheier: Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache im 19. und 20. Jahrhundert. S. 1957 f. In die Debatten um die Siebs’sche Regelung werden meist die Österreicher (und teilweise auch die Schweizer) einbezogen; hier greift also noch nicht die staatliche Grenzziehung von 1871. 97 Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 9. 98 Vgl. dazu die Gutachten von Otto Brenner und Karl Erbe in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (Brenner, Otto: Gutachten. In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Berlin 1899. Heft 16. S. 178-182. Hier S. 178 f. und Karl Erbe: Gutachten. In: Ebd. S. 182-187. Hier S.

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auf die Theater, deren Aussprachegewohnheiten berücksichtigt wurden, wird ebenfalls bemängelt, dass es sich nur um norddeutsche Bühnen handelte und dass „[b]edeutende Bühnen, so namentlich die Heimat unserer Bühnensprache, das Wiener Hofburgtheater“99, unberücksichtigt geblieben seien. Dies habe dazu geführt, dass in den Regelungen in erster Linie norddeutsche Aussprachevarianten als Norm festgesetzt wurden.100 Die Vorbildrolle des Burgtheaters für die deutsche Aussprache war, wie ein kurzer Abschnitt in der ersten Auflage des ‚Siebs‘ verrät, wohl durchaus Thema in der Kommission gewesen. So wird im Anschluss an die „Allgemeine[n] Grundlagen“ auf einer viertel Seite auf die sich dem Vortrag anschließende Debatte hingewiesen, in der unter anderem das Burgtheater thematisiert wird: „Luick betont, dass namentlich in Österreich die gewaltige Einwirkung der Bühnenaussprache auf die Sprache der Gebildeten während dieses Jahrhunderts sich zeige, und spricht seine Freude darüber aus, dass die Unterschiede der Aussprache zwischen deutschen und österreichischen Bühnen nur so gering seien. Frh. v. Ledebur meint, dass die vielen guten Schauspieler, die gerade Österreich gestellt hat, viel dazu beigetragen haben. Sievers hebt die Degeneration der Bühnenaussprache während der letzten 30 Jahre hervor und erinnert an Laube’s Verdienste; man werde wohl daran thun, in manchen Fällen gegenüber neuen Gebräuchen, die sich einbürgern wollen, zu der guten alten Tradition zurückzukehren.“101

Hier wird also zum einen auf den Einfluss der ‚Burgtheatersprache‘ zumindest für Österreich verwiesen, zugleich wird diese mit der Direktion Heinrich Laubes – als einem der möglichen Mitbegründer des Burgtheaterdeutsch – verknüpft.102 Trotz dieser Hinweise auf das Burgtheater haben, den Kritikern zufolge, süddeutsche Aussprachegewohnheiten in der Siebs’schen Regelung keinen Niederschlag gefunden. Als Argument gegen die Dominanz der norddeutschen Aus184. Vgl. dazu auch Werner Besch: Aussprache-Standardisierung am grünen Tisch? S. 18-19). 99

Erbe: Gutachten. S. 184.

100 Vgl. Brenner: Gutachten. S. 178. Und Erbe: Gutachten. S. 184. 101 Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 24. 102 Wie in Fußnote 37 (Kap. 3.3.1) bereits erwähnt, wird die Entstehung des Burgtheaterdeutsch durchaus mit unterschiedlichen ‚Ereignissen‘ in Verbindung gebracht, u.a. der Direktion Heinrich Laubes, der von 1849 bis 1867 künstlerischer Direktor des Burgtheaters war und besonderen Wert auf die Wortregie legte (vgl. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Fünf Bände. Band 3. Stuttgart, Weimar 1999. Hier S. 173).

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spracheregeln führen sie unter anderem an, dass eine Anpassung der süddeutschen Aussprache an diese Vorgaben in vielen Fällen gar nicht möglich sei. Beispielsweise konstatiert der Würzburger Professor Otto Brenner: „So findet der Süddeutsche in den angeführten Durchschnittsformen sehr viel ihm Widerstrebendes, was sein Ohr vielleicht noch von der Bühne her erträgt, sein Mund aber sich kaum sobald aneignen wird.“103 Die von Kurka beschriebene „integrative Ausgleichsnorm“ fand also keineswegs überregionale Akzeptanz, zumindest nicht in den Einzelaspekten der Aussprachekodifizierung. Brenner schlägt vor, dass man verschiedene Varianten „[n]ebeneinander“104 zulassen solle, ein Ansatz, den auch Viëtor in seinen frühen Vorschlägen zur Ausspracheregelung vertreten hatte.105 Varianten aber sah die Siebs’sche Regelung nicht vor. Ihr ging es darum, eine einzige Ausspracheform als Norm festzuschreiben. Verteidiger der Siebs’schen Regelung beharren auf diesem Ansatz. So nimmt Edward Lohmeyer den Siebs’schen Ansatz in seinem Bericht für den Allgemeinen Deutschen Sprachverein in Schutz, indem er erläutert, es gehe darum, „daß die jetzt noch zahlreichen Zweifelsfälle beseitigt werden, die die Verzweiflung so zahlreicher Lehrender und Lernender bilden, daß klar und bestimmt festgestellt werde, was in den einzelnen Fällen die gute, die richtige Aussprache ist, daß eine Norm, ein Ideal der deutschen Aussprache aufgestellt und so nebenbei auch […] unsere deutsche Sprache in den Stand gesetzt werde, unter günstigeren Bedingungen als jetzt den schweren und wichtigen Wettbewerb mit anderen Kultursprachen aufzunehmen. Wie weit der einzelne Deutsche in seiner thatsächlichen Aussprache das Ideal verwirklicht, ist seine Sache.“106

Mit dem Hinweis, dass jeder von der Norm abweichen könne, wie es ihm beliebt, bleibt das Problem, dass in den Regeln süddeutsche Aussprachevarianten kaum repräsentiert sind, unberücksichtigt. Ignoriert wird damit außerdem die Tatsache, dass die Abweichung von einer Norm nicht nur eine Frage der eigenen Entscheidung ist, sondern auch Bewertungen und gegebenenfalls Sanktionen nach sich zieht; so bezeichnet Lohmeyer selbst die Regelung als „Gesetz-

103 Brenner: Gutachten. S. 179. Interessant an dieser Formulierung ist, dass hier die Aussprache im Theater einmal nicht als Vorbild charakterisiert wird, sondern eher als eine Behelfslösung, die man „ertragen“ muss. 104 Ebd. 105 Vgl. Kurka: Die deutsche Aussprachenorm. S. 44-50. 106 Lohmeyer, Edward: Bericht erstattet in der Sitzung am 2. Oktober 1898. In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Berlin 1899. Heft 16. S. 201-212. Hier S. 211.

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buch“107, was deren präskriptiven Charakter noch einmal unterstreicht. Sein Verweis auf den „Wettbewerb mit anderen Kultursprachen“ 108, der anscheinend für die Zeitgenossen nicht weiter erläuterungsbedürftig war, macht zudem nochmals deutlich, dass die Sprache hier als Mittel nationaler Profilierung fungiert und ökonomische Konkurrenzvorstellungen auch auf die Kultur übertragen wurden.109 Eine Vereinheitlichung der Aussprache steht dann im Dienst dieses Machtkampfes und dient der Positionierung des neuen Staates gegenüber anderen Ländern und Nationen. Um dieses Profil und damit Uniformität zu erreichen, brauchte es die Festlegung auf eine „strikte, variantenarme Norm“110. Die Festschreibung überwiegend norddeutscher Aussprachevarianten und die alarmierte Reaktion der Süddeutschen darauf verweist zudem auf das politische Machtgefüge innerhalb des deutschen Reichs mit der Konzentration auf das Machtzentrum Preußen und der Abgrenzung von Österreich; die nationale Vereinheitlichung der Aussprache war in der Siebs’schen Kodifizierung somit nicht auf Ausgleich und Konsens ausgerichtet – oder wie Werner Besch es formuliert: „Mentalitätsgeschichtlich gehört er [der ‚Siebs‘; Anm. D. P.] in die Zeit einer zentrierenden Reichsidee mit starkem Anweisungscharakter.“ 111 Dieses Bemühen um Vereinheitlichung und nationale Profilierung über die Festsetzung einer variantenarmen Norm steht jedoch in Kontrast zu einer tatsächlichen, oder zumindest möglichen Realisierung der Normvorgaben, wie ja auch Brenner in seinem Gutachten anmerkte. An der Forderung, dass die Bühnenaussprache auch als Norm für andere Kommunikationsbereiche gelten soll, wird im Folgenden deutlich werden, wie beim Prozess der Aussprachenormierung neben das erklärte Ziel der Vereinheitlichung Differenzierung und Bewertungsstrukturen als weitere Effekte hinzutreten. Die Aussprachenorm als Ausgangspunkt für Differenzierung und Bewertungsstrukturen Für weiteres Konfliktpotential sorgt im Anschluss an die Veröffentlichung der „Deutschen Bühnenaussprache“ – zusammen mit der gerade beschriebenen Tendenz einer Vereinheitlichung nach überwiegend norddeutschen Aussprache107 Vgl. Lohmeyer: Bericht. S. 207 und S. 211. 108 In England bildete sich die als Oxford-Englisch bezeichnete Hochsprache als schichtspezifische Sprache der gebildeten Schichten Südostenglands heraus, während in Frankreich die Gründung der Academie française im 17. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf die Sprachregulierung nahm. 109 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3. S. 1081 f. 110 Besch: Aussprache-Standardisierung am grünen Tisch. S. 24. 111 Ebd. S. 25.

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gewohnheiten und der Festlegung einer variantenarmen Norm – der von Siebs formulierte Anspruch, die Ausspracheregelung für die Bühne solle als Norm auch für andere Kommunikationsbereiche gelten. Indem Theodor Siebs die „Bühnenaussprache“ im Vorwort als „Handbuch für die mustergültige Aussprache des Deutschen“112 empfiehlt und in seinen folgenden Ausführungen der Bühne „die ehrenvolle Aufgabe“ zuspricht „in dieser Sache [der Aussprache; Anm. D. P.] zur Lehrmeisterin Deutschlands zu werden“, macht er deutlich, dass es ihm in Hinblick auf die gesellschaftliche Reichweite dieser Regelung nicht nur darum geht, die Ausspracheunterschiede bei Schauspielern zu verringern, sondern eine weitreichende Regelung der deutschen Aussprache zu etablieren. Er betont jedoch gleichzeitig, dass er mit der „Bühne [als] Lehrmeisterin Deutschlands“ nicht meint, „die Leute sollten ihre deutsche Aussprache fortan aus dem Theater mit nach Hause bringen“113 – er weist Theaterbesuchen also keine unmittelbare Bildungsfunktion hinsichtlich der Aussprache zu. Die Vermittlungsfunktion komme vielmehr der Schule zu, „die doch allein auf unser Volk die nötige Einwirkung üben könne“114. Von einer Einschränkung oder Anpassung der Regelungen für die Schule ist dabei in der ersten Auflage des Werkes noch nicht die Rede. Auch dass er sich bereits vor dem ersten Kommissionstreffen um die Unterstützung des Vereins der Philologen und Schulmänner bemüht, zeigt, dass es Siebs von Anfang an um eine weitreichende Normierung der Aussprache auf Grundlage einer einheitlichen Regelung ging.115 Von den Zeitgenossen wird nun weniger in Frage gestellt, dass die Bühne als Vorbild dienen könne116, als vielmehr der umfassende Anspruch der „Bühnen112 Vgl. Siebs: Deutsche Bühnenaussprache. 1898. S. 4. 113 Ebd. S. 9. 114 Ebd. S. 8. 115 In der Forschungsliteratur wird dies bisweilen anders gesehen (vgl. Besch: Aussprache-Standardisierung am grünen Tisch? S. 24; Krech: Probleme der deutschen Ausspracheregelung. S. 16 f.). Dabei beziehen sich die Autoren jedoch auf die Relativierungen von Siebs, nachdem Kritik an der ersten Ausgabe laut wurde. Wie noch zu zeigen ist, hält Siebs trotz der Kritik an dem Status der Bühnenaussprache als „Höchstform“ fest; an den Relativierungen zeigt sich meines Erachtens genau jene Differenzierungsdynamik, die typisch für disziplinargesellschaftliche Normierungsprozesse ist. 116 Vgl. die Gutachten, die im Beiheft zur Zeitschrift des Allgemeinen deutschen Sprachvereins veröffentlicht wurden, etwa das von Hermann Paul (Paul, Hermann: Gutachten. In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Berlin 1899. Heft 16. S. 189-191. Hier S. 189) sowie die Zusammenfassung von Otto Behagel (Behagel, Otto: Bericht erstattet in der Sitzung

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aussprache“ und die rigide Festschreibung bestimmter bühnenspezifischer Ausspracheeigenheiten – neben den bereits erörterten Kritikpunkten. Als Beispiel nennt Otto Behagel das Zungen-R, das zwar einer besseren Verständlichkeit auf der Bühne dient117, aber schwer zu erlernen sei118. Auch die stimmhafte Aussprache von ‚b‘, ‚d‘ und ‚g‘ sei für die Verständigung in der Kommunikation irrelevant.119 Das „Dilemma“ der Siebs’schen Ausspracheregelung liegt nach Eduard Stock darin, „daß die Rigorosität, mit der das Ideal für die Bühnenaussprache konstruiert wurde, dem Ansehen der Kodifizierung außerhalb der Bühne schadete“.120 Eine Rigorosität, die, wie bereits gezeigt, auch der Profilierung einer nationalen ‚Einheitsaussprache‘ geschuldet war. Siebs reagiert auf die Kritik, indem er ‚zurückrudert‘ und den Geltungsanspruch der Bühnenaussprache im Hinblick auf ihre Umsetzung etwas relativiert. Bei der Auffassung, „daß die Bestimmungen nicht nur für die Bühne, sondern ohne jeden Abstrich auch für Schule und Leben mustergültig sein sollten“, handle es sich um ein Missverständnis.121 In die überarbeitete Neuauflage von 1915 fügt Siebs den Abschnitt „Bühnenaussprache und Schule“ ein. In diesem räumt er für die Schule Zwischenstufen, beziehungsweise regionale Abwandlungen in Abstufung zur Bühnennorm ein: „Die Bemühungen um eine gute deutsche Aussprache in der Schule müssen sich, wie schon erwähnt, in der Richtung auf die Bühnenaussprache bewegen; doch kann diese nicht in ihrer ganzen Eigenart verlangt werden. Das vollkommene Zusammenstimmen der Sprechenden, die Fernwirkung, die Darstellung starker Affekte – alles dieses ist in der Schule entbehrlich; auch würde hier die Forderung der von der Umgangssprache vieler Gebiete stark abweichenden Bühnenaussprache oft zur Geziertheit und Unnatur führen […]. Zweifellos aber ist, daß die Schule eine über den Mundarten stehende Aussprache zu pflegen und besonders für den mündlichen Vortrag zu verlangen hat. […] Leider läßt sich des Gesamtvorstandes am 2. Oktober 1898. In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Berlin 1899. Heft 16. S. 196201). 117 Vgl. Behagel: Bericht. S. 198. 118 Vgl. ebd. S. 200. Das Zungen-R ist einer der wenigen von Siebs festgelegten Laute, bei dem zumindest die Franken nicht im Nachteil gegenüber den norddeutschen Sprechern sein dürften. So übt der Franke Brenner auch keine Kritik an dieser Lautvorschrift. 119 Vgl. ebd. S. 198. 120 Stock: Die Siebssche Aussprachekodifizierung als historisches Problem. S. 53. 121 Siebs, Theodor: Zur deutschen Bühnen- und Musteraussprache. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 16 (1901). Heft 11. S. 312-317. Hier S. 312.

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nun eine für das ganze deutsche Sprachgebiet unmittelbar geltende Norm nicht geben, weil die uns von Kindesbeinen an gewohnte Mundart überall verschieden ist. […] Wollen wir aber die einzige mittelbar zu verwendende Richtschnur, die über den Mundarten stehende Kunstaussprache der Bühne, für alle deutschen Schulen brauchbar machen, so kann es nur mit der Einschränkung geschehen, daß größere mundartliche Gebiete für die Schule diejenigen Forderungen aus der Bühnensprache nicht zu übernehmen haben, die dem heimatlichen Gebrauche allzustark widerstreben und als geziert und unnatürlich empfunden werden müssen.“122

In Siebs Warnung vor „Geziertheit und Unnatur“ klingt das Natürlichkeitspostulat des 18. Jahrhunderts und die Befürchtung vor einer auf Verstellung basierenden Kommunikation an, für die der Schauspieler als Negativfigur fungiert und das damit einen theaterfeindlichen Diskurs etabliert, der seinen Nachhall bis in die Gegenwart findet. Allerdings liegt der Akzent hier auf der Ablehnung einer gekünstelten Wirkung. Die Bezeichnung „Unnatur“ bezieht sich mehr auf eine nicht angemessene Ausdrucksweise als auf die Angst vor einer auf Verstellung basierenden Kommunikation; darin unterscheiden sich, wie wir noch sehen werden, die theaterfeindlichen Argumente im Diskurs der Sprechstimmbildung Anfang des 20. Jahrhunderts von denen der Gegenwart. Trotz dieser Warnung vor Künstlichkeit bleibt der Anspruch bestehen, dass die Bühnenaussprache die „Richtung“ vorgibt und als „Richtschnur“ dienen soll. Dies gilt auch im Hinblick auf andere Kommunikationsbereiche: „Wo immer sich die Aussprache über die bloße Mundart erhebt, sei es in der Umgangssprache der Gebildeten, in der Sprache der politischen, lehrenden und geistlichen Redner oder des deklamatorischen Vortrags, stets geschieht es in der Richtung auf die Sprache der Kunst, der deutschen Bühne.“123

122 Siebs, Theodor (Hrsg.): Deutsche Bühnenaussprache. Nach den Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die 1898 in Berlin unter Mitwirkung der Herren Graf von Hochberg, Freiherr von Ledebur, Dr. Tempeltey, Prof. Dr. Sievers, Prof. Dr. Luick, Prof. Dr. Siebs und nach ergänzenden Verhandlungen, die im März 1908 in Berlin mit der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger stattgefunden haben. Auf Veranlassung des deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger bearbeitet von Theodor Siebs. 11. Aufl. Den Gesang berücksichtigend. Bonn 1915. Hier S. 19-20. 123 Ebd. S. 4.

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Die Bühne sieht er nach wie vor als „Lehrmeisterin Deutschlands“, die die „Pflicht [hat], auf sichere Regelung zu halten“.124 Siebs verändert also nicht die Regeln der Aussprachenormierung hinsichtlich einer größeren Varianz, sondern räumt nur ein, dass es bei der Umsetzung zu Abstufungen kommen kann. Das Ziel sei schließlich nach wie vor, „einen für alle Lande deutscher Zunge einheitlich geltenden, wohl geeichten Maßstab [zu] gewinnen“.125 Die Bühnenaussprache stellt also eine Norm dar, die Richtschnur oder Maßstab sein soll und Uniformität nach wie vor als Ziel setzt. Gleichzeitig wird hier bereits eine von der Norm ausgehende Differenzierung eingeräumt, die in der Formulierung vom „wohl geeichten Maßstab“ auf die mögliche Bewertung verweist. Die Siebs’sche Aussprachenormierung zeigt also in ihrer Ausrichtung die ambivalente Struktur disziplinargesellschaftlicher Normierungsprozesse, indem sie einerseits Einheitlichkeit fordert und anstrebt, andererseits ausgehend von der Norm eine gestufte Differenzierung ermöglicht. Die Sorge, dass das Vorbild einer für Schauspieler erstellten Sprechnorm die Angemessenheit alltäglicher Kommunikation gefährdet, trägt mit dazu bei, hier eine Abstufung der Sprechebenen zu fordern. Diese ambivalente Tendenz von Vereinheitlichung und Differenzierung setzt sich im weiteren Verlauf der Etablierung des ‚Siebs‘ fort. An einer erneuten Beratung 1922 nimmt erstmals ein Vertreter vom Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – Geheimrat Dr. Schellberg – teil und teilt mit, „daß das Ministerium der Sprecherziehung den größten Wert beimesse, und daß in Schulkreisen vor allem dem Mißverständnisse begegnet werden solle, als ob es sich bei der „Bühnenaussprache“ nur um eine Sache der Bühne und nicht vielmehr um die Hochsprache als die Richtschnur für die gute Aussprache auch in der Schule handle “126.

124 Ebd. 125 Siebs, Theodor: Neues zur deutschen Bühnen- und Musteraussprache. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 25 (1910). Heft 3. S. 65-68. Hier S. 65. 126 Siebs, Theodor (Hrsg.): Deutsche Bühnenaussprache. Hochsprache. Nach den Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die 1898 in Berlin unter Mitwirkung der Herren Graf von Hochberg, Freiherr von Ledebur, Dr. Tempeltey, Prof. Dr. Sievers, Prof. Dr. Luick, Prof. Dr. Siebs und nach ergänzenden Verhandlungen, die 1908 und 1922 in Berlin mit dem Deutschen Bühnenverein und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger stattgefunden haben hrsg. von Theodor Siebs. 14. Aufl. Köln 1927. Hier S. 10.

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Infolgedessen wird bei den folgenden Auflagen dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache“ der Zusatz „Hochsprache“127 hinzugefügt.128 Entsprechend selbstbewusster klingen auch die Formulierungen im Text.129 Insbesondere in dem Abschnitt zu „Bühnenaussprache und Schule“ werden die in den vorherigen Auflagen gemachten Zugeständnisse wieder relativiert. So folgt den Hinweisen zur Rücksichtnahme auf regionale Eigenheiten die – dem Wortlaut der ministerialen Unterstützung recht ähnlich klingende – nachdrückliche Mahnung: „Hier kann nicht genug vor dem Mißverständniss gewarnt werden, als ob nun verschiedene Schulsprachen für die einzelnen Gebiete festgelegt werden sollten. Nein, stets und überall soll – namentlich beim mündlichen Vortrag – die Bühnenaussprache oder Hochsprache als Ziel im Auge behalten werden.“130

127 Der Zusatz ‚Hochsprache‘ ist, wie Mangold betont, ungenau (vgl. Max Mangold: Entstehung und Problematik der deutschen Hochlautung. In: Besch (Hrsg.): Sprachgeschichte. S. 1804-1809. Hier S. 1805). 128 1957 wird diese Tendenz noch verstärkt: Der Titel „Bühnenaussprache“ wird zum Untertitel, „Deutsche Hochsprache“ zum Haupttitel. Die Auflage von 1957 greift Beschlüsse auf, die bei der letzten Beratung zu Lebzeiten von Siebs, allerdings nun nicht mehr unter seiner Leitung, 1933, gefasst worden waren, dann aber erst einmal nicht veröffentlich wurden. Im Vorwort der Auflage von 1957 wird betont, dass „dem eigentlichen Anreger und Schöpfer der ‚Bühnenaussprache‘, dem Germanisten Theodor Siebs, eine weitere Wirkung von vornherein als Ziel vor Augen stand“ (de Boor; Diels (Hrsg.): Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache. 1957. S. 2). Es werden relativ wenige Änderungen vorgenommen und betont, dass sich das „Werk […] durchgesetzt und in all seinen Teilen als sehr standfest gezeigt“ hat (vgl. ebd. 20). In ihrem restaurativen Charakter ist die Auflage von 1957 zugleich Höhe- und Endpunkt der variantenarmen und restriktiven Entwicklung der Aussprachenormierung. Zu der Entwicklung der Aussprachenormierung nach 1945 vgl. Kapitel 4.2. 129 „Während nirgends im deutschen Sprachgebiete eine mustergültig zu nennende Aussprache herrscht, bietet uns die deutsche Bühnenaussprache – wenn wir von ihrer vor allem auf Deutlichkeit und starke Affekte berechneten Eigenart absehen – eine Richtschnur, die in der Wissenschaft und Kunst anerkannt und auch für andere Gebiete deutscher Sprachpflege, namentlich durch die Schule, nutzbar zu machen ist. – Die deutsche Bühnenaussprache kann in diesem Sinne als deutsche Hochsprache bezeichnet werden.“ (Siebs, Theodor (Hrsg.): Deutsche Bühnenaussprache. Hochsprache. 14. Aufl. 1927. S. 1). 130 Ebd. S. 20.

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Damit war die Siebs’sche Ausspracheregelung in ihrem weitreichenden normativen Geltungsanspruch als ‚richtungsweisende‘ Norm gefestigt. Dass diese Norm jedoch vor allem dazu diente, um von ihr ausgehend Differenzierungen vorzunehmen, zeigt der Status, den sie in der Folgezeit in der Schule erhielt. In den Richtlinien für das preußische Höhere Schulwesen von 1925 heißt es zur Schulsprache: „Verkehrssprache der Schule ist die in gebildeten Kreisen der betreffenden Landschaft übliche hochdeutsche Umgangssprache. Ihr mundartlicher Einschlag soll den Schülern zum Bewußtsein gebracht werden. Offenbare mundartliche Unarten sind allmählich durch Gewöhnung und Belehrung zu beheben. Für alles gehobene Sprechen ist die Bühnensprache das Vorbild.“131

Hier wird also eine hierarchische Skala eröffnet, die von der Bühnenaussprache als Vorbild für das gehobene Sprechen über die regional gefärbte hochdeutsche Umgangssprache zu „mundartlichen Unarten“ hinabführt. Die Aussprache der Schüler kann nach dieser Skala eingeordnet und bewertet werden. Insbesondere das Sprechen eines Dialekts wird dabei abgewertet. Diese Funktion der Aussprachenormierung benennt auch Siebs selbst, wenn er fordert, dass die Bühnenaussprache in der Schule weniger als „Gebot des Bühnenmäßigen“, als vielmehr als „Verbot des allzu stark mundartlich Gefärbten“ fungieren soll.132 Interessant ist daran, dass das Gebot des ‚natürlichen‘ Sprechens seinen Stellenwert verändert, je nachdem in welche Richtung die Abgrenzungsargumentation erfolgt. Gilt es das Alltagssprechen von den Sprechweisen der Schauspielkunst abzugrenzen, wird Natürlichkeit gegen „Geziertheit“ und „Unnatur“ gesetzt. Bei den Dialekten hingegen gilt es „mundartliche Unarten“ einzugrenzen, hier wird also eine gewisse, positiv konnotierte Kultiviertheit eingefordert; auch das verweist darauf, dass es vor allem um eine für die jeweilige Kommunikationssituation als angemessen bewertete Form des mündlichen Ausdrucks geht. Hier setzt sich eine Tendenz fort, die im 19. Jahrhundert zunächst vor allem den schriftsprachlichen Gebrauch von dialektalen Ausdrucksformen erfasst hatte und nun in der Aussprachenormierung auch das mündliche Sprechen diszipliniert.133 Ein uniformierender Effekt der Aussprachenormierung lag also weniger darin, dass jeder jederzeit die Bühnenaussprache realisierte, als vielmehr darin,

131 Zitiert nach Bojunga: Hochsprache und Höhere Schule. S. 474. 132 Siebs: Zur deutschen Bühnen- und Musteraussprache (1901). S. 314. 133 Vgl. Mattheier: Standardsprache. S. 53-55. Sowie ders.: Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache. S. 1964.

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dass es zu einer Sanktionierung dialektaler Sprechweisen kommen konnte.134 Gleichzeitig wird über das Festschreiben einer Höchstnorm eine hierarchische Abstufung der Sprechebenen eröffnet, die der Bewertung und Differenzierung der Sprecher in Hinblick auf die Norm dienen kann. Dass diese Differenzierungsfunktion gerade im Bereich der Aussprache so deutlich zu Tage tritt, hängt auch damit zusammen, dass über die Aussprache auch soziale Herkunft markiert wird. Dem nationalpolitischen Interesse der Vereinheitlichung steht damit ein ebenfalls machtförmiges soziales Interesse nach Differenzierung gegenüber. Beide Bestrebungen finden sich in der Siebs’schen Ausspracheregelung und ihrer Wirkungsgeschichte in einem aufeinander bezogenen, ambivalenten Verhältnis. Die Bemühungen um eine Normierung der Aussprache um die Jahrhundertwende von 1900 tragen damit die Merkmale der von Foucault beschriebenen disziplinierenden Normierungsprozesse.

134 Aufgrund der bestehenden Forschungsliteratur lässt sich dabei jedoch nur schwer beurteilen, zu welchen Sanktionen es hinsichtlich des Dialektgebrauchs im Bereich des Sprechens gekommen ist. Sofern sich darüber überhaupt Quellen finden lassen, würde dies eine eigenständige Untersuchung erfordern.

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3.2 DISZIPLINIERUNG DURCH ÜBUNG UND METHODE: JULIUS HEYS ÜBUNGSBUCH „DEUTSCHER GESANGS-UNTERRICHT. LEHRBUCH DES SPRACHLICHEN UND GESANGLICHEN VORTRAGS. I. SPRACHLICHER THEIL.“ (CA. 1882) 135 Im vorherigen Kapitel wurde beschrieben, wie das Festschreiben von Aussprachenormen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer Disziplinierung des Sprechens beitrug, insofern dabei Maßstäbe etabliert wurden, an denen die Aussprache gemessen werden konnte. Lag hierbei der Fokus auf den normativen Mechanismen, die sich in der Disziplinargesellschaft entfalten, so soll es in diesem Kapitel um die Disziplinierung der Stimme in methodischer Hinsicht gehen, wobei normative Aspekte hier durchaus auch zum Tragen kommen.136 Es geht also um die Frage, wie an der Stimme und an Sprechweisen gearbeitet und 135 Hey, Julius: Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags. I. Sprachlicher Teil. Anleitung zu einer naturgemässen Behandlung der Aussprache als Grundlage für die Gewinnung eines vaterländischen Gesangstyles. Mainz o.J. Die Angaben zur Erstveröffentlichung des Gesamtwerkes variieren: Während Alois Büchl in der MGG 1882 bis 1886 nennt, gibt Martin Geck in seinem Artikel zu Julius Hey in der „Deutschen Biographie“ 1885 bis 1887 an. Die variierenden Angaben zur Zahl der Bände (drei oder vier) kommen zustande, da Band zwei in Teil A und B gegliedert ist, was teilweise als einzelne Bände gezählt wird (vgl. Alois Büchl: Julius Hey. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart: allgemeine Enzyklopädie der Musik (MGG). Begr. v. Friedrich Blume. 2. neu bearb. Ausg. Hrsg. von Ludwig Finscher. 26 Bände in zwei Teilen. Personenteil 8: Gri-Hil. Kassel, Basel, London 2002. S. 1503-1504. Sowie Martin Geck: Hey, Julius. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972). S. 62 [Onlinefassung]; www.deutsche-bio graphie.de/gnd116785713.html#ndbcontent vom 20.06.2016). Der erste Band befasst sich mit der gesprochenen Sprache und richtet sich an Sänger, Schauspieler und Redner. Um diesen wird es hier gehen. 136 Auch in den neuen Übungsbüchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts kommen normative Aspekte zum Tragen, da die Übungen Veränderung auf bestimmte Ziele hin bewirken sollen, zum Beispiel eine ‚korrekte‘ Lautbildung (auf die Verbindung zwischen den Übungsbüchern und Bemühungen um die Aussprachenormierung wird noch einzugehen sein). Darüber hinaus ist die Art und Weise, wie geübt wird, also die Methode selbst, mit Vorgaben und Konzeptionen verbunden, die insofern auch als normativ verstanden werden können, als sie meist als der einzig richtige Weg zu üben dargestellt werden.

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geübt wurde, um diese zu verändern. In der Zeit, in der man sich intensiv mit Normierungsentwürfen für die Aussprache befasst, nimmt auch die Beschäftigung mit methodischen Überlegungen für die Sprechstimmbildung zu. So werden ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neue Übungen für die Sprechstimmbildung entworfen, statt wie zuvor nur Regeln vorzugeben137: Die Rhetorik- und Deklamationslehrbücher hatten in erster Linie beschrieben, wie die Stimme klingen soll oder wie man sprechen soll – ohne darauf einzugehen, auf welchem Weg man das erreicht.138 Dies nun versuchen die neu entstehenden Übungsbücher zu leisten.139 Es werden systematische Übungsprogramme entwickelt, schriftlich fixiert und in Lehr- und Handbüchern veröffentlicht. Damit wird die Sprechstimme von jenem Mechanismus der Disziplinierung erfasst, den Foucault als zentrale Technik der Disziplinierung beschrieben hat: der Übung. Wie in Kapitel zwei ausgeführt, erhält die Übung als „Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen“140, in der Disziplinargesellschaft einen wichtigen Stellenwert141. Charakteristisch ist dabei der Entwurf von Übungsprogrammen, die, so wie auch die Setzung normierender Maßstäbe, der Charakterisierung der Individuen dienen, darüber hinaus aber in besonderem Maße darauf ausgerichtet sind, die Körper nach den Maßgaben der Leistungssteigerung zu formen. 142 Foucault hat zudem beschrieben, wie das Handbuch in der Disziplinargesellschaft, statt beispielhafte Vorbilder zu präsentieren, nun dem „Prinzip des ‚Elementaren‘“ folgt.143 Dieser Ansatz findet sich auch in den neu entstehenden Übungsbüchern insofern, als diese den Prozess des Sprechens und der Stimmer137 Vgl. dazu den geschichtlichen Abriss in der Einleitung. 138 Einen normativen Diskurs gab es in Bezug auf die Sprechstimme seit der Antike; wie in der Einleitung bereits geschildert, findet er sich v.a. in den rhetorischen Lehrbüchern der Antike und wird in neuzeitlichen Rhetoriken wieder aufgegriffen. Allerdings sind auch die Ausführungen, wie die Stimme zu klingen hat, meist wenig detailliert. Zum Stellenwert des „Details“ in der Disziplinargesellschaft vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 179-181. Übungen finden in den rhetorischen Schriften wenig bis gar keine Erwähnung, worauf noch eingegangen wird. 139 Auch Wolf-Dieter Ernst beschreibt Julius Hey als einen der ersten, der Übungen und damit eine Methodik für die Sprechbildung entwirft, anstatt nur Regeln vorzugeben (vgl. dazu Wolf-Dieter Ernst: „… dann wurde zu kleineren Scenen geschritten“. S. 112 f.). 140 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 207 f. 141 Vgl. ebd. S. 175. 142 Vgl. ebd. S. 207-209. 143 Ebd. S. 204.

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zeugung aus ihren grundlegenden Funktionen ‚zusammensetzen‘. Dabei zeigt sich zugleich eine Orientierung am physiologisch-medizinischen Diskurs der Zeit, der die Systematik und Übungsansätze der neuen Übungsbücher stark beeinflusst und in den folgenden Jahrzehnten zu heftigen Kontroversen um die Methodik der Sprechstimmbildung führen wird.144 An einem Übungsbuch lassen sich diese Entwicklungen besonders prägnant darstellen: der erste Teil von Julius Heys Lehrwerk „Deutscher GesangsUnterricht“145 befasst sich mit der Ausbildung der Sprechstimme. Hey entwirft damit eines der ersten Lehrwerke, das ein strukturiertes Übungsprogramm für die Stimm- und Sprechbildung bietet und aus aufeinander aufbauenden Übungen besteht. Ein Schwerpunkt der Übungen liegt dabei auf der ‚korrekten‘ Bildung der Laute: Heys Übungsbuch, das circa 15 Jahre vor der Ausspracheregelung von Siebs erscheint, zeigt damit ebenfalls das große Interesse an einer Normierung der Lautgestalt der deutschen Sprache. 146 Bemerkenswert ist Heys Buch aber auch deshalb, weil es in verschiedenen überarbeiteten Fassungen unter dem Titel „Der kleine Hey“ bis heute Verwendung in der Ausbildung von Sängern und Schauspielern und – über deren Arbeit im Erwachsenenbildungsbereich – auch in den Sprechstimmbildungskursen für eine breite Zielgruppe findet. Das Buch erfreut sich also einer über 100-jährigen Popularität und Kontinuität, ist dabei – wie wir noch sehen werden – aber auch Transformationen unterworfen, die gerade die damit verbundene Konzeption eines Übungssettings und der Ver144 Darauf komme ich im Kontext der Institutionalisierungsbemühungen des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zu sprechen, da die methodische Kritik auch in Bezug auf die Profilierung des Faches zu verstehen ist. 145 Wie bereits erwähnt, variieren die Angaben zur Erstveröffentlichung des Gesamtwerkes; der erste Band ist vermutlich zwischen 1882 und 1885 entstanden. 146 So enthält Oskar Guttmanns Lehrbuch „Gymnastik der Stimme“ auch ein Kapitel zur „richtigen Aussprache des Alphabets“, er beschreibt darin allerdings nur die Laute und entwirft kein Übungsmaterial (Guttmann, Oskar: Gymnastik der Stimme. Leipzig 1882. Hier S. 94-161). Somit ist Hey in diesem Bereich tatsächlich der erste, der Übungen entwirft. Auch im Übungsmaterial des ‚Vereins zur Verbreitung der Stimmbildungslehre Professor Engel’s (e.V.)‘, auf den im folgenden Kapitel noch eingegangen wird, sowie im mehrfach aufgelegten Übungsbuch von Carl Julius Krumbach liegt der Schwerpunkt auf der Artikulationsschulung (vgl. Prof. Dr. Engel’s Stimmbildungslehre. Übungsstoff für den Unterricht im Sprechen. Hrsg. vom Verein zur Verbreitung der Stimmbildungslehre Professor Engel’s (e.V.). 4. Aufl. Dresden 1922 und Carl Julius Krumbach: Deutsche Sprech-, Lese- und Sprachübungen. Zugleich eine Ergänzung zu jedem Lesebuch und zu jeder Grammatik. Leipzig 1893).

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mittlung sprechstimmbildnerischen Wissens betreffen. Diese Langlebigkeit ist insofern auch erstaunlich, als gerade der ‚Hey‘ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem bei Sprecherziehern heftige Kritik auslöste und bis heute in Sprecherzieherkreisen als Inbegriff einer problematischen Stimmbildungsmethodik gilt.147 Bevor ich das Übungsbuch von Julius Hey und die überarbeiteten Fassungen genauer in den Blick nehme, möchte ich im Folgenden zunächst einen Überblick über die relevanten Entwicklungen im Vorfeld und Kontext des Hey’schen Lehrwerks geben. 3.2.1 Vom „Exemplarischen“ zum „Elementaren“ (Foucault): die Entstehung neuartiger Übungsbücher für die Stimme im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Zeitlich parallel zu der intensiver werdenden Beschäftigung mit einer Normierung der Aussprache verändert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Literatur, die sich mit der Sprechstimme und ihrer Ausbildung befasst. Standen die Lehren zu Deklamations- und Vortragskunst, die um 1800 bereits zahlreich erschienen, in Hinblick auf die Ratschläge zur Stimme noch stark in der Tradition der überlieferten antiken Rhetoriken148, so entsteht gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Typus von Übungsbüchern für die Sprechstimme. Diese Bücher unterscheiden sich von den älteren Vortragslehren vor allem darin, dass sie verstärkt Übungen statt Regeln vorgeben und damit die Vorgehensweise beschreiben, wie die Stimme zu formen ist, anstatt nur normativ festzuschreiben,

147 Vgl. Hellmut Geißner: Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein/Ts. 1981. S. 209: „Wenn Koartikulation und phonematische Opposition die entscheidenden Grundlagen für Lautbildungsübungen sind, dann sind alle mit Einzellauten […] und Lauthäufungen […] arbeitenden Lehrbücher als untauglich aussortiert.“ Sowie Heinz Fiukowski: Sprecherzieherisches Elementarbuch. 7. neu bearb. Aufl. Tübingen 2004. Hier S. 101: „Daraus folgt, daß mechanistisches Training und Übungen ohne Funktionsbezug abzulehnen sind, denn sie sind sinnlos. Zu ihnen gehören u.a. solche geistlosen Versuche Hey’scher Prägung wie: Klöster krönen Höhen oder Barbara saß nahe am Abhang. Diese sterilen Konstruktionen häufen unrealistisch bestimmte Laute, mit ihnen kann bestenfalls Geläufigkeitsdrill mit fragwürdigem Erfolg betrieben werden.“ 148 Vgl. Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. S. 224 f. MeyerKalkus beschreibt diese „Flut von Hand- und Lehrbüchern“ als „Sprechkunstbewegung“ (ebd. S. 224 f.).

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wie sie zu klingen hat.149 Zwar sind aus der Antike einige wenige Übungen zur Ausbildung der Stimme überliefert, diese Übungen werden jedoch eher anekdotisch tradiert: sie haben damit den von Foucault beschriebenen Charakter des „Exemplarischen“150. So wird beispielsweise berichtet, dass Demosthenes, um seine Stimme zu trainieren, gegen die Meeresbrandung ansprach 151, mit Steinen im Mund seine Artikulation schulte oder beim Bergaufgehen lange Textpassagen rezitierte152. Nero soll sich im Liegen Bleiplatten auf den Bauch gelegt haben,

149 Vgl. dazu – wie bereits in Fußnote 139 erwähnt – auch Wolf-Dieter Ernst, der Julius Heys Übungsbuch mit den Lehrbüchern von Roderich Benedix und Ernst von Possart vergleicht, die noch stärker auf normative Vorgaben ausgerichtet sind (ders.: „…. dann wurde zu kleineren Scenen geschritten“. S. 102-113). Das dreibändige Werk von Roderich Benedix, „Der mündliche Vortrag. Ein Lehrbuch für Schulen und Selbstunterricht“ von 1859 bis 1860, wiederholt v.a. die normativen Vorgaben aus der antiken Rhetorik und spricht nur in Anführungszeichen von „Übungen“ (Benedix, Roderich: Der mündliche Vortrag. Ein Lehrbuch für Schulen und Selbstunterricht. Drei Bände. Band 1: Die reine und deutliche Aussprache des Hochdeutschen. Leipzig 1859. Hier S. XI). Unter Übungen versteht Benedix dann v.a. Wortbeispiele, die bspw. die korrekte Aussprache im Blick haben – hier zeichnet sich Mitte des 19. Jahrhunderts also bereits das Interesse an der Aussprache ab. Auch in medizinischsprachheilpädagogischen Werken findet man, bspw. für Stotterer, Regeln statt Übungen (vgl. Eduard Schmalz: Beiträge zur Gehör- und Sprachheilkunde. Drei Bände. Band 1. Leipzig 1846. Hier S. 149-151). Eines der frühsten Bücher, das neben Hey bereits Übungen für die Sprechstimme vorschlägt, ist das von Oskar Guttmann „Gymnastik der Stimme“. 150 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 204. 151 Diese Anekdote wird von Armin Krumbacher als nicht glaubwürdig eingeschätzt (vgl. Armin Krumbacher: Die Stimmbildung der Redner im Altertum bis auf die Zeit Quintilians. Hier S. 26). Interessanterweise ziert genau dieses Motiv das von Verena Schulz 2014 veröffentlichte Buch „Die Stimme in der antiken Rhetorik“, was man als Hinweis darauf lesen kann, dass diese wenigen Übungen einen stark toposartigen Charakter angenommen haben und es in ihrer Rezeptionsgeschichte weniger darum geht, wie zuverlässig ihr Ursprung ist. 152 Plutarch: Grosse Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Zürich, Stuttgart 1957. Hier S. 229. Quintilian erwähnt in seiner Rhetoriklehre ebenfalls Demosthenes’ Übungen mit den Steinen und das Bergaufgehen (vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn. 5. unveränderte Aufl. Darmstadt 2011. Hier S. 629).

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um seine Atmung zu trainieren.153 Emil Palleske greift diese anekdotische Überlieferung auf, indem er 1880 kein Übungsbuch im modernen Sinne schreibt, sondern Übungsbeschreibungen in Anekdoten aus seiner eigenen Biographie ‚verpackt‘.154 Indem einige dieser Geschichten den Überlieferungen aus der Antike gleichen155, tragen sie neben dem Charakter des Biographisch-Erlebten, den Palleske ihnen zuweist, zugleich das Signum der Tradition großer Redner, in die Palleske sich damit einreiht.156 Die neuartigen Übungsbücher bieten hingegen ein systematisches Herangehen an die Ausbildung der Sprechstimme. Sie beschreiben konkret, wie man seine Stimme ausbilden soll, und präsentieren damit eine Methodik der Sprechstimmbildung.157 Dabei werden nicht nur einzelne Übungen beschrieben, sondern aufeinander aufbauende Übungsfolgen entworfen. In der Literatur zur Sprechstimmbildung kann man ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also jenen Wechsel vom „Exemplarischen“ zum „Elementaren“, den Foucault für die Handbücher in der Disziplinargesellschaft beschrieben hat, nachvollziehen. Basiert das Prinzip des „Exemplarischen“ auf der Bewunderung und Nachahmung herausragender Leistungen, so werden in der Logik des neuartigen Handbuchs Tätigkeiten oder Handlungen in Einzelabschnitte zerlegt und es werden „Abfolgen von möglichst einfachen Elementen“ entworfen, „die sich mit zunehmender Komplexität miteinander verschränken.“158 Die Sprechstimmübungsbücher tragen damit wesentlich zu einer Disziplinierung der Stimme bei: es werden Einzelübungen entworfen und diese in Übungsfolgen strukturiert und systematisiert und somit ein geordnetes und gestuftes Programm zur Leistungs153 Gaius Suetonius Tranquillus: Das Leben der Caesaren. Eingeleitet und übersetzt von André Lambert. Zürich, Stuttgart 1955. Hier S. 328. 154 Palleske, Emil: Die Kunst des Vortrags. Stuttgart 1880. Die Kapitel sind beispielsweise „Jugendgeschichte meines ‚R‘“ oder „Jugenderinnerungen meiner Lunge“ überschrieben. 155 Auch Palleske beschreibt, wie er gegen die Meeresbrandung angesprochen hat, um seine Lungen zu kräftigen (vgl. Palleske: Die Kunst des Vortrags. S. 10-14). 156 Palleskes Biographie ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass Biographien nicht als Ausdruck des authentisch Erlebten, sondern auch als Einschreiben in bestehende Narrative und als Selbstinszenierung – in diesem Fall als in der Tradition antiker Redekompetenz stehender Sprechkünstler – gelesen werden müssen (vgl. dazu Thomas Postlewait: Autobiography and Theatre History. In: ders., Bruce McConachie (Hrsg.): Interpreting the theatrical past: Essays in the historiography of performance. Iowa City 2000. S. 248-272. 157 Vgl. hierzu auch Ernst: „… dann wurde zu kleineren Scenen geschritten“. S. 112. 158 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 204.

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erhaltung und -steigerung entworfen, wie Foucault es als charakteristisch für die Disziplinarmechanismen beschrieben hat.159 Indem die Übungsprogramme den Lernfortschritt des Übenden messbar machen und ihn darüber charakterisieren, erfüllen sie zudem eine normative Funktion, die sich natürlich auch darin zeigt, dass über die Lernziele normative Vorgaben, beispielsweise in Richtung einer einheitlichen Lautung, verankert werden. Dass bis ins ausgehende 19. Jahrhundert keine detaillierten Übungsprogramme für die Ausbildung der Sprechstimme entworfen wurden, hängt jedoch auch mit der Frage der Vermittelbarkeit dieser Körpertechnik zusammen. Der Autor der antiken „Rhetorica ad Herennium“160 verweist für die eigentliche Sprechstimmbildung darauf, „daß man sich von den Männern, die sich in dieser Kunst sehr gut auskennen, die Methode erwerben soll, wie man die Stimme pflegen kann“161. Er selbst verfasst eine normative Beschreibung der Stimme und ihres Einsatzes bei der Rede und keine methodische Anleitung, da er diese der Ausbildung durch einen Lehrer überlässt. Darin gleichen ihm die Rhetorik Quintilians162 ebenso wie die neuzeitlichen Rhetoriken von Johann Matthäus Meyfarth163 und Friedrich Andreas Hallbauer164, die vieles aus den antiken Rhetoriken wiederholen und in erster Linie darauf eingehen, wie eine Stimme klingen soll, aber selbst keine genauen methodischen Anweisungen geben 165. Im 159 Vgl. ebd. S. 207-209. 160 Der Autor dieser Schrift ist unbekannt (vgl. Rhetorica ad Herennium. S. 328). 161 Rhetorica ad Herennium. S. 153. Auch bei Aristoteles „bleibt die Stimmlehre […] noch eine markierte Leerstelle. Für die Redeaufführung im Ganzen verweist er auf die Theatertechnik, die ihrerseits auf rein mündlich tradiertem Wissen basiert.“ (Campe; Wilczek: Stimme, Stimmkunde. S. 85). 162 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 163 Meyfarth, Johann Matthäus: Teutsche Rhetorica oder Redekunst. 1634. Hrsg. von Erich Trunz. Tübingen 1977. 164 Hallbauer, Friedrich Andreas: Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie nebst einer Vorrede von den Mängeln der Schul. Oratorie. Jena 1725. 165 Bspw. Meyfarth, der schreibt: „Erstlich muß die Stimme nicht zu streng und hell / auch nicht zu schwach und dunckel / sondern mittemessig seyn / wie es der Sachen Beschaffenheit / und die Nothdurfft der Begierden / welche ein Redner bwegen will / erfordert“ (Meyfarth: Teutsche Rhetorica. S. 8). Daneben werden seit der antiken Rhetorikliteratur dietätische Hinweise gegeben, welche Nahrung oder welche Verhaltensweisen für die Stimme förderlich oder schädlich sind. Diese begleiten die Literatur zur Stimme und Stimmbildung bis in die Gegenwart. Besonders kurios mutet dabei die Empfehlung des Arztes Heinrich Haeser von 1839 an, der Rauchen empfiehlt und vor zu viel Zähneputzen warnt (vgl. Heinrich Haeser: Die menschliche

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Verlauf des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kommen weitere Beschreibungskategorien häufig mit Bezug zur Musiktheorie 166, erste Beschreibungen der Sprachlaute, die das Bemühen um eine Vereinheitlichung der Aussprache im 19. Jahrhundert vorbereiten, sowie das verstärkte Interesse an Mimik und Gestik hinzu167. Eine ausführliche methodische Anleitung zur Sprechstimmbildung findet sich in schriftlicher Form jedoch weder in der griechischen und römischen Antike168 noch in der Neuzeit – gab es entsprechendes Wissen, so wurde es nur mündlich durch einen Lehrer vermittelt. Das sprechstimmbildnerische Wissen wurde also vom Lehrer verkörpert, der allein für seine Vermittlung sorgte. Dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts nun Übungsprogramme in schriftlicher Form entworfen werden, wirft Fragen danach auf, wie hier die Vermittlung der Körpertechnik Stimmbildung konzipiert wird: welche Übungssettings werden entworfen? Wie wird das Lehrer-Schüler-Verhältnis gedacht – gibt es überhaupt noch einen Lehrer oder übernimmt das Lehrbuch dessen Funktion? Neben den Einzelübungen und der Struktur der Übungsprogramme muss also auch der Aspekt der Medialität dieses Übungswissens berücksichtigt werden.

Stimme, ihre Organe, ihre Ausbildung, ihre Pflege und Erhaltung für Sänger, Lehrer und Freunde des Gesangs. Berlin 1839. Hier S. 54-55). 166 Vgl. Ulrich Kühn: Sprech-Ton-Kunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770-1933). Tübingen 2001. Hier S. 76-99. 167 Bspw. bei Hermann Heimart Cludius: Grundris der körperlichen Beredsamkeit. Für Liebhaber der schönen Künste, Redner und Schauspieler. Hamburg 1792. Bei Cludius sind die Ausführungen zu Stimme und anderen körperlichen Ausdrucksmitteln relativ gleich gewichtet; in Johann Jakob Engels „Ideen zu einer Mimik“ dagegen nimmt die Stimme im Vergleich zu den anderen körperlichen Ausdrucksmitteln eine eher marginale Stellung ein. 168 Es gibt einen Hinweis auf einen Autor namens Theodorus, der ein Buch über Stimmbildung geschrieben haben soll. Der Text ist jedoch nicht überliefert, so dass nicht zu beurteilen ist, inwiefern es eine methodische Anleitung zur Stimmbildung enthielt (vgl. Schulz: Die Stimme in der antiken Rhetorik. S. 55).

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3.2.2 Julius Heys disziplinierendes Übungsprogramm der Sprechstimmbildung Anfang der 1880er Jahre169 veröffentlicht Julius Hey, der von 1867 bis 1883 an der königlichen Musikschule in München als Gesangslehrer tätig war170, ein dreibändiges Lehrwerk mit dem Titel „Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags“ Dem Untertitel zufolge soll der erste „sprachliche[…] Teil“ eine „Anleitung zu einer naturgemässen Behandlung der Aussprache als Grundlage für die Gewinnung eines vaterländischen Gesangstyles“171 sein. Das Lehrbuch Heys erscheint also vor der Siebs’schen Ausspracheregelung von 1898, aber in einem Zeitraum, in dem infolge der Reichsgründung 1871 bereits intensiver über eine Vereinheitlichung der Aussprache des Deutschen diskutiert wurde.172 Auch in diesem ersten Band von Heys Lehrbuch geht es um eine normative Festsetzung der Lautgestalt des Deutschen, wobei der Schwerpunkt jedoch auf der Entwicklung eines Übungsprogramms liegt. Auf die Beziehungen des Hey’schen Lehrbuchs zu den Bemühungen um die Normierung der Aussprache wird im Folgenden noch einzugehen sein. Eine Gemeinsamkeit lässt sich bereits in der Zielsetzung, einen „vaterländischen Gesangstyle“ auszubilden, erkennen.173 So stellt Hey in seinem Vorwort das

169 Auf die divergierenden Angaben zur Erstveröffentlichung wurde bereits verwiesen. 170 Vgl. Stephan Schmitt (Hrsg.): Geschichte der Hochschule für Musik und Theater München. Von den Anfängen bis 1945. Tutzing 2005. Hier S. 401. 171 Hey, Julius: Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch des sprachlichen und gesanglichen Vortrags. I. Sprachlicher Theil. Mainz o.J. 172 Vgl. Kapitel 3.1. 173 Hintergrund ist Wagners Klage, dass Sängerinnen und Sänger nicht in der Lage seien, deutsche Texte verständlich zu singen (vgl. Julius Hey: Deutscher GesangsUnterricht. S. 3). Der Frage, inwiefern Wagners Bemühungen um eine „deutsche Gesangskunst“ (Hey, Julius: Richard Wagner als Vortragsmeister. 1864-1876. Erinnerungen von Julius Hey. Herausgegeben von Hans Hey. Leipzig 1911. Hier S. III), die den Anstoß für Heys Lehrbuch gaben, mit den national motivierten Bestrebungen um eine vereinheitlichte deutsche Aussprache verbunden waren, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Auf Wagners zwiespältiges Verhältnis zum ‚Deutschen‘ und – nach einer kurzfristigen Begeisterung – auch zum Deutschen Reich, weist Thomas Koebner hin (vgl. ders.: Richard Wagner und der deutsche Nationalismus. Ein Versuch. In: Gerhard Heldt (Hrsg.): Richard Wagner: Mittler zwischen den Welten. Anif, Salzburg 1990 (= Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge 3). S. 159-181).

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Bemühen um einen „deutschen Gesangstyle“174 in den Kontext des nationalpolitischen Bemühens um die Einheit des deutschen Reiches. Sein Vorwort endet mit dem Aufruf: „Möchte jeder Berufene es als eine Ehrensache betrachten, an dem Ausbau deutscher Gesangskunst mit frischer Kraft und redlichem Willen Theil zu nehmen, damit dieselbe in dem zu Einheit und Grösse gelangten Vaterlande eine umfriedete Heimstätte, sorgsame Pflege und frisches Gedeihen finde, und der innigste Ausdruck deutschen Gemüthes – der Gesang – die idealste Form gewinne.“175

Wie später in der Siebs’schen Ausspracheregelung, wird also auch bei Hey die Lautgestalt der deutschen Sprache – als charakteristischer Teil einer ‚typisch‘ deutschen Gesangskunst – in den Dienst der ‚Einheit der Nation‘ und in den Fokus sprechstimmbildnerischer Bemühungen gestellt. Der „abgetrennte erste Theil“ des Lehrwerks, um den es im Folgenden gehen wird, richtet sich entsprechend nicht nur an „Lehrer und Schüler“176 des Sologesangs, sondern auch an alle „öffentliche[n] Redner“177, soll also auch der Schulung des Sprechens dienen. 1912 veröffentlicht Fritz Volbach den ersten Teil in gekürzter und überarbeiteter Fassung unter dem Titel „Der kleine Hey. Deutscher GesangsUnterricht. Von Julius Hey. Erster Teil: Die Kunst der Sprache“178, der bis 1945 174 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 6. 175 Ebd. S 7. 176 Hey spricht in der Regel von Lehrern und Schülern, eine sprachliche Geschlechterdifferenzierung nimmt er nur vor, wenn es um spezielle Aspekte in der Ausbildung von Frauen- und Männerstimmen geht. Ausgebildet wurden an der Königlichen Musikschule sowohl Sängerinnen als auch Sänger und auch unter den Lehrkräften gab es Frauen und Männer. So war Heys Nachfolgerin die königliche Kammersängerin Johanne Jachmann-Wagner, die am 23. April 1883 als Lehrerin für Sologesang angestellt wurde (vgl. Schmitt (Hrsg.): Geschichte der Hochschule für Musik. S. 401). 177 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 1. Unter öffentlichen Rednern versteht Hey auch Schauspieler. 178 Der kleine Hey. Deutscher Gesangs-Unterricht. Von Julius Hey. Erster Teil: Die Kunst der Sprache. Zusammengefasst und umgearbeitet von Fritz Volbach. Mainz, Leipzig 1912. Der Titel „Der kleine Hey“ bezieht sich dabei auch auf die Bände zum Gesang, die von Hans Hey, einem Sohn Julius Heys, bearbeitet und als Handausgabe des Hey’schen Lehrbuchs ab 1911 herausgegeben wurden (Der kleine Hey. Praktische Handausgabe des großen Lehrwerkes der deutschen Gesangskunst "Deutscher Gesangs-Unterricht" von Julius Hey. Vier Bände. Mainz, Leipzig 1911-1912.). Reuschs Überarbeitung des sprachlichen Teils von 1953 adaptiert den Titel „Der

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in 55 Auflagen erscheint.179 Ab der zweiten Auflage fügt Volbach den Untertitel „Praktisches Lehrbuch für Schauspieler, Redner, Geistliche, Lehrer und Sänger“ hinzu, was den sprechstimmbildnerischen Fokus noch hervorhebt und die zunehmende Verselbständigung des sprachlichen Teils von den Gesangsbänden unterstreicht. 1956 wird Heys Buch von Fritz Reusch noch einmal überarbeitet und ist als „Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens“180 bis heute in Schauspiel- und Gesangsschulen in Verwendung. Ich beziehe mich im Folgenden zunächst auf Heys Originaltext; auf die Überarbeitungen gehe ich anschließend ein. ‚Mechanisches‘ Üben und Sprachnormierung auf der Grundlage eines physiologisch orientierten Übungsansatzes Julius Heys Lehrbuch ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines der ersten methodisch neuartigen Stimmbildungsbücher, da Hey unterschiedliche Übungen und Übungsfolgen für die verschiedenen Bereiche der Stimmerzeugung und des Sprechens entwirft. Sein Buch gliedert sich in drei große Abschnitte: Im ersten Abschnitt behandelt Hey der Reihe nach die Laute der deutschen Sprache und entwirft entsprechende Übungsaufgaben, die helfen sollen, die jeweiligen Einzellaute korrekt zu formen. Dabei werden die Einzellaute erst isoliert, dann in ein- und mehrsilbigen Kombinationen gesprochen. Beim ‚A‘ beispielsweise soll zunächst der Einzellaut geübt werden, anschließend empfiehlt Hey eine körperliche Lockerungsübung, die er allerdings nicht genauer erläutert: „Bevor der Schüler sich an die normale Klangentwicklung seines Sprechorgans begibt (den zusammengesetzten Silbenbildungen sonach vorausgehend) muss derselbe die grösste Beweglichkeit seiner untern Kinnlade erlangt haben.“181 Anschließend sollen aus dem ‚A‘ und ‚L‘, ‚M‘, ‚W‘ und ‚N‘ einfache Silben gebildet werden, denen Zwei- und Mehrsilber – wie „wa-na, ja-na, […] an-na, al-ma, […] ja-man-war, ja-da-war“ – folgen.182 Den Abschluss der Übungsfolge stellen die sogenannten „erweiterten Sprechübungen“183 dar. Dabei handelt es kleine Hey“ für sich, bezieht diesen aber nur noch auf den sprachlichen Teil und nicht mehr auf das Gesamtwerk. 179 2012 ist das Buch zudem im Nikol-Verlag neu herausgegeben worden: Der kleine Hey. Die Kunst der Sprache. Hamburg 2012. 180 Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens. Nach dem Urtext von Julius Hey. Neu bearbeitet von Fritz Reusch. Mainz 1997. 1. Aufl. 1956. Zur Zahl der aktuellen Auflage werden keine Angaben gemacht. 181 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 19. 182 Ebd. 183 Ebd.

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sich um Übungsverse, für die Heys Lehrbuch berühmt geworden ist; besonders der erste Vers zum ‚A‘ – „Barbara sass nah am Abhang / Sprach gar sangbarzaghaft langsam; Mannhaft kam alsdann am Waldrand / Abraham a Sancta Clara!“184 – dürfte noch heute jedem Schauspiel- und Gesangsschüler ein Begriff sein.185 Nach einem ähnlichen Muster sind die Übungen zu den anderen Lauten aufgebaut. Mit diesen Übungen verfolgt Hey das Ziel, dass der Schüler lernt, den jeweiligen Laut ‚korrekt‘ zu formen. Es geht also um Artikulationsschulung, wobei Hey, wie wir noch sehen werden, eigene normative Kriterien für die korrekte Bildungsweise der Laute aufstellt. Im zweiten Abschnitt des Buches verwendet Hey das gleiche Übungsmaterial, das nun aber der (sprachlichen) Tonbildung und nicht mehr in erster Linie der Artikulation dienen soll. Hier werden die Silbenfolgen und Übungsverse zum Teil auch gesungen. Im dritten Abschnitt geht es um Betonung, Rhythmus und Sprechausdruck. Dabei kommen dann ‚echte‘ Gedichte und Dramenausschnitte als Übungsmaterial zum Einsatz, wobei Hey auch hier einen Ansatz verfolgt, der von einfachen, einzelnen Elementen ausgeht, die dann im Laufe des Übens zu komplexeren Übungsaufgaben zusammengefügt werden. So schlägt er zum Teil nur einzelne Gedicht- oder Dramen-

184 Ebd. S. 20. 185 Die Übungsverse Heys werden oft als „sinnfrei“ (vgl. z.B. Wolf-Dieter Ernst: Rhetorik und Wissensdynamik in der Schauspielerausbildung. S. 295) oder inhaltsleer beschrieben und auch Hey ging es darum, dass der Schüler beim Sprechen der Verse nicht vom Inhalt abgelenkt würde, sondern sich allein auf die physiologische Lautbildung konzentrieren sollte (mehr dazu s.u.). Dazu ist allerdings anzumerken, dass die Verse keineswegs neutral, bzw. frei von inhaltlichen Assoziationen sind. Bspw. die Geschlechterstereotype, die darin aufscheinen, muten aus heutiger Sicht belustigend bis befremdlich an. So ist die bereits erwähnte Barbara bei den Übungen zum ‚A‘ „zaghaft“, „schmächtgen Dämchen“ werden von „kräftgen Männer“ Ständchen geträllert, es gibt „friedvoll fromme Freifrau’n“ und „feinfühlige Frauen“, denen zur Flucht verholfen wird, eine „Bäurin“ gleicht „nem‘ scheuen Mäuschen“ , eine „blonde Braut“ „bebt im Purpur“ und „blickt bleich und betrübt“. Die Männer sind „kecke[…] Kerl[e]“, „kühne[…] Krieger“, „grimme[…] Recke[n]“ oder „verruchte[…] Räuber“ (vgl. die Übungsverse zu ‚A‘, ‚Ä‘, ‚F‘, ‚B‘, ‚P‘, ‚K‘, ‚R‘). Insgesamt wecken die Verse Assoziationen an (verbrämte) Heldenepen und (triviale) Balladendichtung. Zu erwähnen ist das deshalb, weil die Verse heute unverändert in der Sprechstimmbildung zum Einsatz kommen und – meiner Beobachtung zu Folge – durchaus Reaktionen auf den Inhalt auslösen. Der von Hey beabsichtigte Effekt, dass der Schüler sich nicht auf den Inhalt konzentrieren soll, wird damit heute zumindest nicht mehr erreicht.

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fragmente als Übungsmaterial vor. Die Behandlung umfangreicherer Texte empfiehlt er aufzuschieben, „bis Tonbildung und Festigung ihre volle Reife erlangt haben, d.h. bis das Sprechorgan auch wirklich bis zu voller Widerstandsfähigkeit gediehen und eine Ermüdung nicht mehr zu fürchten ist. Dann etwa in folgender Reihenfolge: Sehnsucht – Taucher – Bürgschaft – Die Kraniche des Ibykus. – Das gewichtigste Schiller’sche Gedicht: Das Lied von der Glocke, erhält der Schüler erst spät zum Studium, dann natürlich mit der vollen Entfaltung aller Hilfsmittel eines zündenden, lichtvollen Vortrags.“186

Hey entwirft also ein strukturiertes Übungsprogramm mit Übungen, die sich aus einfachen Teilelementen zu komplexeren Übungen zusammensetzen und der Leistungssteigerung und Leistungsoptimierung dienen.187 Sein Lehrbuch ist damit Ausdruck einer auch in Hinblick auf die Methodik der Sprechstimmbildung intensiver werdenden Disziplinierung der Sprechstimme. Beeinflusst wird die Methodik der Sprechstimmbildung auch von der physiologischen Erforschung der Sprechstimme. Diese erfährt, wie bereits beschrieben, im 19. Jahrhundert einen starken Auftrieb und beeinflusst über Phonetik und Sprachwissenschaft sowie die Festschreibung gesundheitlicher Normvorstellungen auch die Normierungsprozesse von Aussprache und Stimme. Diese fließen wiederum in die Übungsbücher ein und nehmen Einfluss auf die Methodik der Sprechstimmbildung. Zu den grundlegenden und einflussreichen Werken, auf die auch Julius Hey Bezug nimmt, gehören die Lehrwerke von Carl Ludwig Merkel „Anatomie und Physiologie des menschlichen Stimm- und Sprachorgans“ (1857) sowie „Die Physiologie der menschlichen Sprache (physiologische Laletik)“ (1866). Ersteres Lehrwerk ist nach den am Stimmbildungsvorgang beteiligten Organen, beziehungsweise nach den drei Funktionsbereichen 186 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 167. 187 Hey warnt wiederholt davor, die Reihenfolge in der Komplexitätssteigerung zu missachten; man soll den Schüler nicht überfordern oder zu schnell vorgehen. Was die Abfolge der Übungen in Hinblick auf die Behandlung der Laute angeht, weist er jedoch darauf hin, dass die Auswahl der passenden Übungsaufgaben nach der „Beschaffenheit des Organs, welches der Behandlung sich darbietet“ (ebd. S. 12) zu erfolgen hat. Hier ist es also Aufgabe des Lehrers, die jeweils passenden Übungen auszusuchen. Die durch die schriftliche Fixierung bedingte Anordnung der Laute und Übungen ist also nicht als komplett statisch misszuverstehen. Darauf weist auch Volbach hin, der beschreibt, „dass Hey für jeden Schüler in der Tat gleichsam eine eigene Schule verfasste, indem er ihm, für ihn besonders passende Uebungen in ein Heft einschrieb“ (Der kleine Hey. Die Kunst der Sprache. 1912. S. IV).

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‚Atmungsorgane/Atmung; Kehlkopf/Stimmbildung; Ansatzrohr/Artikulation‘ strukturiert; eine Einteilung, die sich in den physiologischen Lehrwerken zur Stimme der Folgezeit etablieren wird.188 Auch in den Stimmbildungsbüchern werden die drei Funktionsbereiche in der Regel alle erwähnt189, allerdings werden ihnen nicht in jeweils gleichem Maße Übungen zugeteilt. So weist Julius Hey zwar darauf hin, dass Atemübungen sinnvoll sind, und fordert für die Sprechübungen einen „richtigen Athmungsmechanismus“ 190; jedoch führt er im ersten Teil seines dreibändigen Lehrwerks keine ausführlichen Atemübungen an.191 Auch Übungen zur Lockerung und Kräftigung der Gesichts- und Sprechwerkzeugmuskeln192 erwähnt er zwar – er bezeichnet sie als „Vorübungen“193

188 So z.B. bei Hermann Gutzmann: Physiologie der Stimme und Sprache. Braunschweig 1909. 189 Sie werden zunehmend auch zum Gliederungsschema, anhand dessen die Übungen strukturiert werden. Vgl. dazu Kapitel vier. 190 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 11. 191 Umgekehrt gibt es auch Übungsbücher, die sich allein der Atmung widmen, etwa das von den Stimmlehrerinnen Hedwig Andersen und Clara Schlaffhorst 1897 aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzte Übungsbuch von Leo Kofler: Die Kunst des Atmens als Grundlage der Tonerzeugung für Sänger, Schauspieler, Redner sowie zur Verhütung u. Bekämpfung aller durch mangelhafte Atmung entstandenen Krankheiten. Leipzig 1897. 192 Ein Übungsbuch, in dem Lockerungsübungen ausführlicher beschrieben werden, ist Oskar Guttmanns „Gymnastik der Stimme“. So führt Guttmann z.B. „Turnübungen“ für die Zunge an (vgl. ebd. S. 77 f.), geht aber auch auf allgemeine Körperlockerungsübungen ein und hat ein sehr ausführliches Kapitel zur Atmung. Auch beschreibt Guttmann, anders als Hey, sehr ausführlich die Stimmbildungsorgane. Gleichwohl widmet auch Guttmann ein ausführliches Kapitel der „richtige[n] Aussprache des Alphabets“ (vgl. ebd. S. 94-161). Die Beschreibung für eine der „Turnübungen“ liest sich folgendermaßen: „Derartige Übungen müssen damit ihren Anfang nehmen, daß der Schüler die Zunge ohne Quetschung und Mitbeteiligung der Kehlkopfmuskeln einfach herausstreckt und sie dann langsam zurückzieht, dies oft wiederholt und sich dabei bewußt zu werden sucht, vermittelst welcher Muskeln er dies zu thun vermochte (denn die Kenntnis der stets zu brauchenden Muskeln ist eine Hauptbedingung), dann versucht, mit der Spitze der Zunge den harten Gaumen an allen Orten, ja so viel als erreichbar auch den weichen Gaumen zu berühren, und die Zunge so weit als möglich zurückzuziehen, daß die Mundhöhle fast leer wird.“ (Ebd. S. 77) Diese gymnastischen Übungen sind mit Blick auf die weitere Entwicklung der Stimmbildungsmethodik interessant, da ihnen in den heutigen allgemeinen Ratge-

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oder „gymnastische Übungen“194 –, führt sie aber nicht genauer aus, sondern umreißt nur ihre Zielsetzung: „Gymnastik des Zäpfchens, des Gaumensegels, die Besiegung widerspänstiger Zungen-Evolutionen, energieloses Bewegen des Unterkiefers, schlaffe Lippenthätigkeit u.s.w.“195. Hey gibt auch keinen detaillierten Überblick über den Aufbau der Sprechwerkzeuge, sondern empfiehlt nur, „dass man, bevor man mit dem sprachlichen Theil beginnt, den Schüler zuvor mit den Funktionen der klangerzeugenden und klangbildenden Organe nach der physiologischen Seite bekannt macht“ 196. Auf physiologisches Wissen greift Hey aber dann ausführlich zurück, wenn es um die Beschreibung der Bildung der einzelnen Laute geht. Zum ‚W‘ schreibt er beispielsweise: „Die physiologische Bildung dieses Klingers ist uns, zum Theil von der Bestimmung der dunklen Vokale her, bekannt. Er schliesst sich stofflich jenem Vokalgebiete unmittelbar an, und bildet so den natürlichen Uebergang zu den Consonanten. Das W wird vermittelst der Lippenspalte und der tönenden Erregung der Stimmbänder gebildet. Die Zunge liegt, bis an die unteren Vorderzähne vorgeschoben, flach im Munde; die Oberlippe gehoben, legt sich die Unterlippe ganz weich, mit dem Bestreben, einen Breitenschluss zu bewirken, an die obere Zahnreihe an, woraus sich annähernd jene Mundstellung ergibt, die ich als die consonantische Bereitschaftsstellung bezeichne und von welcher später noch die Rede sein wird. Der aus dem Kehlkopf kommende dunkle Klang streicht gleichsam an den bern zu Sprechstimmbildung meist recht viel Platz eingeräumt wird – wenn auch die Beschreibungen anders ausfallen. 193 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 12. 194 Ebd. S. 129. 195 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 12. Eine der wenigen ausführlichen Beschreibungen ist folgende: „Lässt sich auf Grund eines klanglosen Vortrags mit Bestimmtheit feststellen, dass der vokale Klang durch eine mangelhafte Consonantenbildung geschädigt wird, so hat man sofort die gymnastischen Uebungen, zunächst mit der Zunge, dann dem Zäpfchen, Gaumensegel, der Kieferbewegung, Lippenstellung u.s.w. in Angriff zu nehmen und so lange fortzuüben, bis die gesammten Artikulationswerkzeuge Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und die nöthige Energie für die Ausführung aller Bewegungen erlangt haben. Zu diesem Behufe lässt man bei flachgelegter, über die Lippenränder vorgestreckter Zunge die Silben ‚na‘ und ‚da‘ in mehrmaliger rascher Folge mit energischer, tiefgehender Kinnladenbewegung üben, so dass bei dieser Vorbereitung zur Consonantenbildung die Zunge zwischen den beiden Reihen der Schneidezähne empfindlich eingeklemmt ist.“ (Ebd. S. 129) Hier arbeitet Hey also auch mit Lauten, die aber in diesem Fall eher das Hilfsmittel als das Ziel der Übung sind. 196 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 12.

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Seitenflächen (Ränder) der Zunge her und berührt die Unterlippe sehr fühlbar; eine verstärkte Tension der exspirierten Luft lässt sich bis zu vibrierender Bewegung derselben steigern.“197

Die physiologisch ‚richtige‘ Bildung der Laute stellt für Julius Hey eines der Kriterien dar, wie man zu einer einheitlichen und richtigen Lautbildung gelangt, worauf auch das Adjektiv „naturgemäss“ im Titel verweist. Die „naturgemäss funktionierenden Organe“ sind also bereits ein Schritt in Richtung einer „normale[n] Klangbildung“.198 Auch im ‚Siebs‘ wird auf die physiologische Bildung der Laute hingewiesen, jedoch wird dieser keine normsetzende Funktion zugewiesen. Hey wiederum stellt keinen direkten Bezug zu den zeitgenössischen Debatten der Phonetiker um eine Vereinheitlichung der Aussprache her, dennoch bilden die Arbeiten Merkels das gemeinsame physiologisch-anatomische Fundament dieser Entwicklungen. Zudem spricht auch Hey das Problem der von dialektalen Einflüssen stark geprägten Aussprache des Deutschen an und verweist dabei auf die Vorbildfunktion von Schauspielern und Sängern: „[Selbst] Bühnenkünstler [können] sich von ihrem theils angeborenen, theils angelernten Sprachdialekte kaum völlig befreien, während doch gerade sie vor allen Andern berufen wären, durch die Pflege einer dialektfreien kunstvollendeten Sprache mustergiltige Vorbilder für Andere zu werden!“199

Als weiterem Kriterium neben der physiologischen Bildungsweise der Laute, weist Hey „v.a. […] dem geläuterten Geschmack das unbeschränkte Recht kritischer Entscheidung“200 zu, um zu einer einheitlichen und „schönen“201 Lautgestalt der deutschen Aussprache zu gelangen. Damit führt Hey ein ästhetisches Kriterium für die Normierung der Lautgestaltung des Deutschen an, das er zudem mit dem Bereich der Musik verknüpft: „Die hier gemeinte Geschmacksläuterung aber ist das musikalisch verfeinerte Ohr, das heißt ein bis zu hoher Stufe entwickelter Tonsinn, der als die letzte entscheidende Instanz zu betrachten ist.“202 Das Argument dem musikalisch geschulten Ohr die Entscheidung in Normfragen der Ausspracheschulung zu überlassen, wird in den Diskussionen 197 Ebd. S. 72. 198 Ebd. Die „naturgemässe Behandlung“ wird ja auch im Titel schon angesprochen. 199 Ebd. S. 15. 200 Ebd. Das Kriterium des „gute[n] Geschmacks“ führt er auch in den Erläuterungen zu den Übungen immer wieder an (vgl. bspw. ebd. S. 25 und S. 30) 201 Vgl. ebd. S. 14. 202 Ebd.

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um die Aussprachekodifizierung von Siebs nicht aufgegriffen. Vielmehr grenzt Theodor Siebs in den ersten Auflagen seiner Regelung die Aussprache der gesprochenen Sprache von der des Gesangs ab. 203 Für Julius Hey ist mit dem „geläuterten Geschmack“ ein ausreichendes Kriterium gesetzt, um im Anschluss sein Übungsprogramm für eine korrekte Bildung der Laute zu entwerfen. Dabei geht er bei den einzelnen Lauten auch auf regionale Unterschiede und Gewohnheiten in der Lautbildung ein. Dass Heys Übungsprogramm an ästhetischen Normen ausgerichtet ist, wird auch deutlich, wenn er von der „Schönheit“ der Sprache und der anzustrebenden „Klangschönheit“ spricht.204 Auch dem Hey’schen Übungsbuch liegt also ein im Hinblick auf die Lautbildung der deutschen Sprache normativer Ansatz zu Grunde. Fritz Volbach schließlich wird mit der zweiten Auflage seiner Überarbeitung des Hey’schen Lehrbuchs, 1914, auf die Siebs’schen Regeln Bezug nehmen: „Das Ziel, nach dem wir alle streben müssen, ist die Einheitlichkeit der Aussprache. […] Es ist das grosse Verdienst des deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, die Notwendigkeit der Einheitlichkeit unserer Sprache und ihrer Bedeutung erkannt und die Grundsätze aufgestellt zu haben, die unser Ziel verwirklichen sollen. Der verdienstvolle Theodor Siebs hat diese im Auftrage beider genannter Vereine in seinem Buche „Deutsche Bühnenaussprache“ musterhaft bearbeitet. Sein Werk darf mit Recht eine autoritative Stellung beanspruchen. Mit ihm mich nicht in Widerspruch zu stellen, (was die Aussprache betrifft), erachte ich als eine Pflicht; […] Was unser Buch von dem Siebs’ unterscheidet, ist in erster Linie die Tatsache, dass es zugleich ein Uebungsbuch sein will.“205

Mit der Bearbeitung Volbachs, über die das Hey’sche Lehrbuch seine zahlreichen Auflagen erfährt, verbinden sich also die Normierungsbestrebungen der Aussprache mit der Entwicklung von Übungen und Übungsprogrammen für die Sprechstimme. Die physiologische Forschung beeinflusst jedoch nicht nur die normative Beschreibung der Laute, sondern nimmt noch auf anderem Weg Einfluss auf die Übungsmethodik der frühen Stimmübungsbücher. So folgt Merkel in seinen Physiologielehrbüchern einem dualistischen Menschenbild und unterscheidet den „Geist des Menschen“ und die „geistigen Bewegungen“, die in der 203 Inwiefern er sich damit von Hey abgrenzt, muss allerdings Spekulation bleiben. 204 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 101. 205 Volbach, Fritz: Die Kunst der Sprache. Praktisches Lehrbuch für Schauspieler, Redner, Geistliche, Lehrer und Sänger. 22. bis 25. Aufl. Mainz, Leipzig 1925. Hier S. V. Das Zitat stammt aus dem „Vorwort zur zweiten Auflage“ von 1914, das in der späteren Auflage abgedruckt ist.

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menschlichen Sprache zum Ausdruck kommen, von dem „leiblichen, materiellen Mittel, […] [den] Organen“ und den „mechanischen Bewegungen“, durch die Sprechen und Hören sich vollziehen.206 Er trennt also die geistigen Vorgänge, die für ihn als Anatomen und Physiologen nicht sein Interessensgebiet seien 207, von den körperlich-materiellen Prozessen der Stimmgebung und des Sprechvorgangs. Dabei spricht er wiederholt von der „Mechanik der menschlichen Stimmund Sprachlaute“208 oder, wie bereits zitiert, von den „mechanischen Bewegungen“.209 Dieser Ansatz, die körperlichen Prozesse, die mit der Vorstellung von mechanischen Vorgängen beschrieben werden, von geistig-affektiven Prozessen getrennt zu betrachten, findet sich auch in Julius Heys Übungsbuch sowie in anderen Übungsbüchern der Zeit. Er spiegelt sich zudem in den Entwicklungen der Sprachwissenschaft, die sich auf die „einzelne[n] Laute und Formen“, statt auf die „kommunikative, inhaltliche Seite der Sprache“ konzentriert. 210 Er führt zu einem Übungsansatz, der zunächst eine körperlich-mechanische Einübung von Bewegungsabläufen anstrebt, wobei der Fokus – wie beschrieben – auf der korrekten Bildung der Einzellaute liegt, also in Richtung der Sprachproduktion geht, ohne dabei jedoch auf die inhaltliche Seite des Gesprochenen zu achten. Dieses Ziel verfolgt Hey, wie er selbst ausführt, mit seinen Laut- und Silbenübungen und vor allem mit den Sprechversen, in denen ein Vokal oder Konsonant gehäuft vorkommt: „Die Gewinnung des normal klingenden Vokals […] habe ich dadurch rascher zu sichern gesucht, dass ich eine größere Anhäufung derselben zu fliessenden Sätzen verband. Durch das fortlaufende Aneinanderreihen gleichklingender Vokale wird die Klangerzeugung fliessender und unmittelbarer, der Tonanspruch natürlicher. Denn indem nur zwei Vokale 206 Merkel: Die Physiologie der menschlichen Sprache. S. 1. 207 Eine Verbindung von Physiologie und Psychologie strebt hingegen der physiologisch ausgebildete und experimentell arbeitende Psychologe Wilhelm Wundt an – etwa mit seiner 1874 erschienenen Publikation „Grundzüge der physiologischen Psychologie“ –, der Einfluss auf die sich ab 1900 etablierende Sprecherziehung nehmen wird (ders.: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874). 208 Merkel: Physiologie der menschlichen Sprache. S. 2. 209 Merkel ist insofern kein ‚reiner‘ Materialist im streng philosophischen Sinne, als er von der Freiheit des Menschen ausgeht, seinen Geist zu gebrauchen, also das Geistige durchaus anerkennt (vgl. Merkel: Physiologie der menschlichen Sprache. S. 2). Er geht aber davon aus, dass man das Geistige vom Körperlich-Mechanischen trennen könne und befasst sich allein mit den körperlichen Prozessen. Insofern kommt darin dann doch ein materialistisch-mechanisches Menschenbild zum Tragen. 210 Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. S. 19.

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untereinander alterniren (das e durch die Endsilben bedingt) erhalten sich die Bedingungen für die relativ beste Klangemission weit andauernder; Zunge, Lippen und Kiefer sind in ihren Funktionen bei dunkler oder heller Vokalbildung nicht genöthigt, immerwährend ihre Lage zu verändern, während die Aufmerksamkeit des Schülers sich fast ausschliesslich auf die Wiederkehr des gleichen Vokals richtet, und sich gleichsam im Voraus für die immer wiederkehrende Vokalbildung geschickt macht. […] Die Reihenfolge gleicher Consonanten, wie sie mir für das Sprachstudium nothwendig erschien, hat einen ähnlichen Zweck; blos dass hier mehrere Consonantenbildungsstellen durch den rasch wiederkehrenden Artikulations-Mechanismus in Thätigkeit versetzt sind, mithin eine rasche Reihenfolge die Geläufigkeit der Aussprache bedeutend steigert und ein sicheres Beherrschen des thätigen Organs erzielen hilft.“211

Es geht Hey also um „Geläufigkeit“, die Lautartikulation soll „fließender“ erfolgen; Ziel ist ein reibungsloser Ablauf der Lautproduktion. Hinzu kommt, dass durch diese Art der Übung die Aufmerksamkeit des Schülers auf nur einen Aspekt gelenkt wird; es geht also auch um Wahrnehmungskonzentration. Hier zeigt sich noch einmal besonders deutlich die von Foucault beschriebene Charakteristik des „Elementaren“: Die Laute werden einzeln geübt, bis sie ‚sitzen‘, und erst dann miteinander kombiniert. Erst wenn das Lautmaterial ‚beherrscht‘ wird, die physiologischen Abläufe der Klangproduktion eingeübt sind, folgt die affektivgeistige Ausdrucksgestaltung, die ebenfalls – wie bereits gezeigt – zunächst an Gedichtzeilen und Dramenfragmenten erfolgt und sich erst nach und nach zur Darstellung komplexerer Texte steigert. Julius Hey räumt ein, dass dieses methodische Vorgehen durchaus auch langweilig sein kann und bezeichnet das Vorgehen selbst als „mechanisch“: „Ein künstlerisch abgerundeter Vortrag konnte bei diesen Uebungen um so weniger bezweckt sein, als bei der Mehrzahl der Sprachübungen ein poetischer Gehalt nicht zu erzielen war, um den Vortrag stimmungsvoll zu beleben und zu steigern, denn es konnte sich lediglich um die schulgerechte Wiedergabe sowohl der einzelnen Sprachzeichen, als auch ihrer combinirten Folge handeln. Mithin musste vielfach dasjenige übertrieben betont und mit Absicht hervorgehoben werden, was als das Charakteristische bei der betreffenden Uebung zu gelten hatte. […] Dass unter solchen Voraussetzungen, und ausserdem in Folge tautophoner Vokalübungen, eine gewisse Monotonie dieses rein mechanischen Vortrags häufig nicht zu vermeiden war, versteht sich von selbst.“212

211 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 10 f. 212 Ebd. S. 144 f.

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Er sieht darin aber keinen Nachteil seines Übungsansatzes, vielmehr ein notwendiges Vorgehen. Der Charakter des Mechanischen wird auch dadurch noch unterstrichen, dass Julius Hey sowohl Lehrer als auch Schüler, die mit seinem Buch arbeiten, zu Geduld und Ausdauer und zu unermüdlichem, fleißigem Üben ermahnt213; die Übungen sind also so lange auszuführen, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Die Verbindung von (relativ) inhaltslosen, allein auf den körperlichen Aspekt der Lautproduktion ausgerichteten Übungen mit der Anweisung, diese ausdauernd und auf einander aufbauend zu üben, die im Begriff des ‚Mechanischen‘ gebündelt wird, wird – wie wir noch sehen werden – zum Kritikpunkt späterer Sprechstimmbildungsansätze. Entwurf eines Übungssettings aus Lehrbuch, Lehrer und Schüler In Julius Heys Lehrbuch wird nicht nur ein Übungsprogramm entworfen, sondern auch ein Übungssetting skizziert, das die Frage aufwirft, wie hier eine Ausbildungssituation zur Bildung der Sprechstimme konzipiert wird. Hey richtet sein Lehrbuch an „Lehrer und Schüler“ in der Gesangsausbildung sowie in der Ausbildung von Sprechern, zum Beispiel „öffentliche[n] Redner[n] […] insbesondere […] Schauspieler[n]“.214 Im Text werden immer wieder sowohl die Aufgaben des Lehrers als auch die des Schülers beschrieben; das Buch stellt also kein Lehrwerk für das ausschließliche Selbststudium der Schüler dar. Ein Selbststudium der Schüler ist von Hey nur dann erwünscht, wenn die Übungen dem Schüler keine Schwierigkeiten bereiten.215 Das Lehrbuch wird an den „mündlichen Unterricht“ geknüpft und steht nicht für sich alleine: „Das Dargebotene nehme man als das hin, was es sein soll: Der blosse Umriss dessen, was der mündliche Unterricht durch lebendige Vermittlung nun erst auszufüllen, weiterzubilden hat. Es sind diejenigen Hilfsmittel geboten, welche eine einsichtsvolle Unterweisung zu verwerthen wissen wird.“216

213 Vgl. ebd. S. 40 und S. 53. 214 Ebd. S. 1. 215 „Es folgt nun die Darstellung jedes einzelnen Consonaten. Jene, bei denen eine erschwerte Bildung vorausgesetzt werden muss, werden eine eingehendere Behandlung erfahren, hingegen halte ich es für überflüssig, sämmtlichen die gleiche Ausführlichkeit zuzuwenden. Ein Hinweis auf die bei der Artikulation thätigen Organe wird da hinreichen, den Schüler zum Selbststudium zu veranlassen. – Uebrigens erfordert die Mehrzahl den andauerndsten Fleiss, die äußerste Gründlichkeit.“ (Ebd. S. 58). 216 Ebd. S. 186.

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Der Lehrer wird also durch das Übungsbuch nicht ersetzt, im Gegenteil wird seine Position im Buch als ausgesprochen einflussreich dargestellt. Umgekehrt wird in dem Übungsbuch das Unterrichtssetting überhaupt erst skizziert und somit schriftlich fixiert. Das Lehrbuch ist also gleichermaßen Grundlage des Unterrichts und Entwurf für ein Übungssetting. Hey geht dabei vom Einzelunterricht aus, ohne das in besonderer Weise zu erwähnen – ein Hinweis auf Heys Tätigkeit als Gesangslehrer an der königlichen Musikschule in München, aus der heraus das Übungsbuch entstanden ist.217 Das Buch verweist auch an anderen Stellen durch seinen Inhalt auf diesen institutionellen Hintergrund, in seiner Adressierung an „öffentliche Redner“ löst es sich aber zugleich von diesem ab. Die Unterrichtseinheiten zwischen Lehrer und Schüler sollen durch das fleißige Üben des Schülers neben den Lehrstunden ergänzt werden, ein gewisser Anteil von Selbststudium – und Selbstdisziplinierung – ist also enthalten. In der Beschreibung der Aufgaben des Lehrers wird deutlich, welche Funktion dieser bei der Vermittlung des sprechstimmbildnerischen Wissens einnimmt. So fungiert der Lehrer als klangliches Vorbild, der dem Schüler „die rechte, einzige Klangfarbe“218 vormachen muss. Denn „[n]ur dadurch, dass der Schüler immer wieder das Richtige hört und nachzuahmen versucht, wird er endlich sein Ohr für die künstlerisch richtige Lautbildung erziehen“219. Beispielsweise bedarf es beim Buchstaben ‚E‘ des „lebendige[n] Beispiel[s] des Lehrers, das Vormachen erweist sich hier als das einzig Erspriessliche“220. Vormachen und Nachahmen bilden für Hey somit eine wichtige methodische Grundlage bei der Vermittlung stimmlichen Körperwissens. Dabei bedarf es der Körperlichkeit des Lehrers selbst, da nur über diese das Wissen letztendlich weitergegeben werden kann. Heys Lehrbuch relativiert somit den eigenen Vermittlungsanspruch, da es in dem Übungssetting, das es entwirft, deutlich macht, dass die Bildung der Sprechstimme durch ein Buch alleine nicht zu leisten ist. Gleichzeitig wird bei dieser Zuweisung einer starken Vorbildfunktion an den Lehrer weder die Differenz von Eigen- und Fremdwahrnehmung der Stimme thematisiert noch wird beispielsweise problematisiert, inwiefern das Vormachen durch den Lehrer den Stimmklang des Schülers beeinflusst. Neben der ‚richtigen‘ Klangproduktion 217 Hey unterrichtete dort von 1867 bis 1883; aus seinen Darstellungen kann man schließen, dass der Unterricht in erster Linie als Einzelunterricht stattfand. Stimmund Redeschulung, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Weiterbildung für Lehrer und andere Berufssprecher angeboten wird, findet dagegen meist als Gruppenunterricht statt. 218 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 21. 219 Ebd. 220 Ebd. S. 24.

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durch den Lehrer ist darüber hinaus insbesondere sein Gehörsinn, sein „Ohr“ gefragt: der Lehrer soll „mit dem eigenen Ohr auf das Ohr und den Tonsinn des Schülers entscheidend einwirk[en]“221, es ist „das verschärfte Ohr des Lehrers“, das „derart auf die vokalen Gegensätze [zwischen dem ‚Ü‘ und dem ‚I‘; Anm. D. P.] […] gerichtet sein [muss], dass eine ungeschickte Klangvermischung sofort bemerkt wird“222 und das „zuverlässige Ohr des Lehrers [erkennt], ob die sprachliche Rezitation eine natürliche vokale Tongebung aufweist oder nicht“223. Der Lehrer erfüllt somit neben einer Vorbild- zugleich auch eine Kontrollfunktion, die wiederum auf seiner Körperlichkeit beruht. Er hat auf die richtige Klangbildung „streng zu achten“224 und bei falschen Gewohnheiten „energisch […] einzuschreiten“225, wobei sich die Kontrolle zum Teil auf die gesamte Sprechweise des Schülers erstreckt, nicht nur auf seine ‚Vortragssprache‘. 226 Der Lehrer erfüllt in seiner eigenen Körperlichkeit also auch eine normative Funktion, indem er zugleich zum Vorbild und Maßstab wie auch zur Kontrollinstanz wird, der „die höchsten Anforderungen“227 sowohl stellt als auch selbst verkörpert und deren Erreichen überprüft. In einer solchen Funktionszuweisung ist der Lehrer als Person, die in direkten Austausch mit dem Schüler tritt, nicht durch das Lehrbuch zu ersetzen. Lehrbuch, Lehrer und Schüler bilden vielmehr gemeinsam die Konstellation dieses Übungssettings, in dem die Vermittlung des stimmbildnerischen Wissens zwar durch die schriftliche Form des Übungsbuchs unterstützt wird, aber nicht in ihr aufgeht. Gleichzeitig aber ist es die schriftliche Fixierung, die dieses Übungssetting dem Leser zugänglich macht und damit auch tradiert. Mit diesen Funktionszuweisungen geht auch ein bestimmter Status einher, der dem Lehrer und dem Schüler jeweils zugewiesen wird. In der von Hey entworfenen Konstellation erscheint der Lehrer als souverän agierendes Subjekt, während der Schüler in erster Linie als Ausführender in Erscheinung tritt. So braucht es den Lehrer, um aus dem von Hey zusammengestellten Übungsmaterial die passenden Übungen auszuwählen und die Reihenfolge der Übungen so anzusetzen, dass diese die Entwicklung des jeweiligen Schülers befördern und ihr nicht schaden. Insbesondere die zehn Stimmprüfungsfragen, die Hey im 221 Ebd. S. 45. 222 Ebd. S. 52. 223 Ebd. S. 122. 224 Ebd. S. 68. 225 Ebd. 226 „[M]an überwache dessen Gepflogenheiten auch bei seiner Umgangssprache und dulde keinen Verstoss gegen das Gesetz einer kunstgerechten Bildung.“ (Ebd. S. 67). 227 Ebd. S. 52.

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zweiten Abschnitt des sprachlichen Teils anführt, dienen der Einschätzung der Schülerstimme durch den Lehrer und bilden die Grundlage, um davon ausgehend mit den passenden Übungen zu beginnen.228 Der Lehrer soll das Übungsmaterial „nach Bedarf erweitern“229: Hey bietet also kein abgeschlossenes Übungskompendium, das ausschließlich zu verwenden ist.230 Um seine Vorbild- und Kontrollfunktion erfüllen zu können, muss der Lehrer gegebenenfalls durch eigene Schulung die Norm erst erreichen, das heißt sich selbst im Hinblick auf die Norm vervollkommnen, an der der Schüler gemessen wird: „Im Falle die Beurtheilung [des Unterschieds zwischen den Lauten ‚Ü‘ und ‚I‘ durch den Schüler; Anm. D. P.] erschwert wäre, muss man vermittels des eigenen Organs sich die nöthige Gewandtheit zu verschaffen trachten, damit der Schüler seine Leistung immerwährend unter den Gesichtspunkt schärfster Kritik gestellt sieht.“ 231 Der Lehrer ist also – im Gegensatz zum Schüler – selbst in der Lage, sich weiterzubilden, während es beim Schüler des Lehrers bedarf, um dessen „Sinn […] zu entwickeln“232. Der Lehrer erscheint in Heys Darstellung somit als der „denkende“233 und „verständige Lehrer“234, sein Ohr ist „zuverlässig“235 und er leitet den Schüler an236. Der Lehrer wird als souverän agierendes Subjekt dargestellt: er verkörpert das sprechstimmbildnerische Übungswissen, kann es vermitteln und mittels seiner körperlichen Fähigkeiten die Übungsfortschritte des Schülers kontrollieren; er trifft die Auswahl und Entscheidungen in Bezug auf das Übungsmaterial und dirigiert den Schüler durch „einsichtsvolle Unterweisung“237 durch das Übungsprogramm. Der Schüler wird dagegen eher in einer ausführenden Rolle dargestellt, seine Stimme und Sprechweise werden zum Objekt, das es zu behandeln und verbes228 Vgl. ebd. S. 121-123. So schreibt Hey, bevor er die Antworten auf die zehn Stimmprüfungsfragen gibt: „Aus dem Folgenden wird der verständige Lehrer nun dasjenige auszuwählen haben, was ihm für jeden besonderen Fall förderlich und zweckmässig dünkt.“ (Ebd. S. 123). 229 Ebd. S. 19. 230 Das Übungsmaterial ist auch nicht exklusiv oder Teil einer geschützten Methode, wie es in den folgenden Jahrzehnten bspw. das Übungsmaterial des ‚Deutschen Vereins für Stimmbildung (Lehrweise Prof. Dr. Engel)‘ (kurz Engel-Verein) sein wird. 231 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 52. 232 Ebd. S. 21. 233 Ebd. S. 19. 234 Ebd. S. 75; S. 123. 235 Ebd. S. 122. 236 Vgl. ebd. S. 165. 237 Ebd. S. 186.

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sern gilt. Häufig spricht Hey von dem „Organ“238, betont damit noch stärker den anatomisch-physiologischen Aspekt und die Objekthaftigkeit. Wenn die Stimme als Behandlungsobjekt unterschiedliche Vorgehensweisen erfordert, unterscheidet Hey auch zwischen weiblichen und männlichen Schülern, während er ansonsten keine geschlechterspezifischen Fragen thematisiert. 239 Als Handelnde erscheinen die Schüler nur insofern, als sie ständig zu „fleissigem“ und „ausdauernden“ Üben angehalten werden.240 Erst relativ spät im Verlauf des Übungsprogramms, nämlich dann, wenn es darum geht, die „Klangfarben der Sprache“ und darüber die „psychischen Affekte“ darzustellen, veranlasst Hey „den Schüler, das benöthigte Uebungsmaterial sich selbst aufzusuchen […]. Der Schüler wird zu grösserer Umschau auf den Gebieten unserer Literatur veranlasst und gewöhnt sich, ein Gedicht nicht blos als eine vorübergehende, oberflächliche Bekanntschaft, sondern als ein poetisches Produkt zu betrachten, dem durch vollendeten Vortrag zu vollem Verständniss zu verhelfen er eben berufen sein soll.“241

Erst hier kann der Schüler selbst Einfluss auf das Übungsprogramm nehmen und auch hier hat die Ermächtigung zum eigenen Handeln noch einen erzieherischen Effekt. Der Schüler erscheint in dieser Rollenkonstellation also als passiv und unmündig und muss erst dazu befähigt werden, selbständig zu handeln, was in der Hey’schen Übungsdramaturgie erst recht spät erfolgt. Auch die individuellen Merkmale der Schülerstimme rücken – abgesehen von den bereits erwähnten geschlechterspezifischen Problematiken – erst in den Fokus, wenn es „sich um Vorträge für die Oeffentlichkeit, also um fertige Leistungen handelt“242. Entsprechend dem Ausbildungshintergrund, den Hey vor Augen hat243, ist der Schüler erst in dem Moment, in dem er zum souverän handelnden Subjekt wird, auch zum Künstler gereift. Bezeichnend ist dabei, dass er den Ursprung seiner Meisterschaft letztendlich vergessen soll: „Der Verfolg des Studiums wird ihn [den Schüler; Anm. D. P.] allmählig ins Unbemessene seiner Kunstausübung führen und, bei stetig erweitertem geistigen Ausblick, ihn auch die Hilfsmittel zu freier künstlerischer Gestaltung vollauf finden lassen. Ihre unum238 Vgl. z.B. ebd. S. 1; S. 2; S. 165. 239 Vgl. z.B. S. 17 f. 240 Ebd. S. 49. 241 Ebd. S. 165. 242 Ebd. S. 185. 243 Wie bereits erwähnt, unterrichtete Hey von 1867 bis 1883 an der Königlichen Musikschule München.

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schränkte Verwendung wird ihn bei fortschreitender Künstlerschaft zuletzt völlig vergessen lassen, dass solcher schwungvollen, in sich fertigen Leistung eine so planvolle, auf dem festgefügten Unterbau fundamentaler Kunstgesetze ruhende, bis in die feinsten Einzelheiten sich erstreckende Anordnung zu Grunde liegt.“244

Betont wird hier noch einmal der systematische und detaillierte Aufbau der Ausbildung, der damit als Übungsstruktur mit stark disziplinierendem Charakter erkennbar wird. Wolf-Dieter Ernst hat zudem herausgearbeitet, dass hier „Kunst und Körpertechnik, Aufführung und Ausbildung“ als „zwei getrennte Verfahren“ erscheinen245, was ebenfalls auf die von Foucault beschriebene Trennung von Ausbildungszeit und „Berufs-Zeit“ verweist.246 Das Hey’sche Übungsprogramm entwirft somit eine Rollenkonstellation, in der der Schüler vor allem im Hinblick auf die Beschaffenheit seines Stimmorgans objekthaft in den Fokus rückt. Sein Handeln wird allein im ausdauernden und fleißigen Üben umrissen. Erst am Ende eines erfolgreich durchlaufenen Übungsprogramms erlangt der Schüler jenen Status eines souveränen Subjekts, den der Lehrer als steuernde und kontrollierende Instanz von Anfang an besitzt. 3.2.3 Die Überarbeitungen des „Kleinen Heys“ durch Fritz Volbach (1912) und Fritz Reusch (1953) Der erste Teil von Heys Lehrwerk wird bis 1945 in der von seinem Schüler Fritz Volbach überarbeiteten Fassung zahlreiche Neuauflagen erfahren.247 Volbach veröffentlicht 1912 – zunächst noch in Zusammenhang mit dem von Hans Erwin Hey bearbeiteten Gesamtwerk „Der kleine Hey“, das auch die Gesangsbände umfasst248 – den sprachlichen Teil von Heys „Gesangs-Unterricht“ mit dem Titelzusatz „Die Kunst der Sprache“.249 Damit wird das Buch auch im Titel sichtbarer auf das Sprechen ausgerichtet. Ab der zweiten Auflage rückt der Verweis auf Heys „Gesangs-Unterricht“ in den Hintergrund, hinzu kommt der Un244 Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 165. 245 Ernst: „…dann wurde zu kleineren Scenen geschritten“. S. 113. 246 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 205. 247 Bis 1945 erscheint es in 55 Auflagen. 248 Der kleine Hey. Praktische Handausgabe des großen Lehrwerkes der deutschen Gesangskunst „Deutscher Gesangs-Unterricht“ von Julius Hey. Vier Bände. Mainz, Leipzig 1911-1912. 249 Der kleine Hey. Deutscher Gesangs-Unterricht. Von Julius Hey. Erster Teil: Die Kunst der Sprache. Zusammengefasst und umgearbeitet von Fritz Volbach. Mainz, Leipzig 1912.

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tertitel „Praktisches Lehrbuch für Schauspieler, Redner, Geistliche, Lehrer und Sänger“, was die Ausrichtung auf das Sprechen nochmals verstärkt.250 Zudem löst sich damit der sprachliche Teil zunehmend von den Gesangsbänden. Volbach kürzt den Text Heys: Umfasste dessen „Sprachlicher Theil“ 187 Seiten, so ist Volbachs Text nur noch 108 Seiten lang. Hinzu kommt, dass Volbach Ausführungen zum Stimmapparat mit aufgenommen und überarbeitet hat, die Hey erst im dritten Teil seines „Gesangsunterrichts“ anführt.251 Volbach hat Heys Text jedoch nicht nur gekürzt, sondern auch umformuliert; für den Leser wird dabei nicht sichtbar, welche Textpassagen oder Formulierungen von Hey und welche von Volbach stammen.252 Volbach verschiebt durch seine Überarbeitung den Schwerpunkt des Übungsprogramms noch einmal in Richtung der Artikulationsübungen. Die Sprechverse stellen für Volbach die eigentliche Leistung Heys dar, die „in ihrer Vortrefflichkeit nicht übertroffen werden“253. Volbach kürzt den Abschnitt mit den Stimmprüfungsfragen, die ja vor allem der Tonbildung und Klangentwicklung dienten, und auch die Ausführungen zum Sprechen ‚richtiger‘ Lyrik und Dramatik fallen knapper aus: die Sprechverse erhalten somit im Gesamtübungsprogramm mehr Gewicht. Zudem fügt er dem Lehrbuch Hinweise aus der „Deutschen Bühnenaussprache“ von Theodor Siebs hinzu, der er „eine autoritative Stellung“ zuweist: „Mit ihm mich nicht in Widerspruch zu stellen, (was die Aussprache betrifft), erachte ich als eine Pflicht; in zweifelhaften Fällen schliesse ich mich ohne weiteres der von Siebs festgelegten und von den Bühnen anerkannten Aussprache an.“254 So fügt Volbach in die Abschnitte zu den einzelnen Lauten Wortbeispiele von Siebs ein, wenn deren „Quantität“, also die Frage, ob der Laut kurz oder lang gesprochen werden soll, zuvor nicht eindeutig festgelegt war.255 Auch dadurch erhält der Aspekt der Artikulation und Lautnormierung im Vergleich zum Heyʼschen Übungsbuch noch einmal mehr Gewicht. Volbachs 250 Volbach, Fritz: Die Kunst der Sprache. Praktisches Lehrbuch für Schauspieler, Redner, Geistliche, Lehrer und Sänger. 22. bis 25. Aufl. Mainz, Leipzig 1925. 251 Der kleine Hey. 1912. S. IV. 252 Die Reihenfolge der Laute wurde ab der zweiten Auflage (von 1914) umgestellt, zudem wurde auch der Abschnitt zum ‚dynamischen und rhythmischen Element‘ unter dem Titel ‚Die Grundzüge der Rhetorik‘ umgestaltet, gekürzt und umformuliert. Das Übungsmaterial ist teilweise gekürzt, allein die Übungsverse sind unverändert übernommen. Die Hinweise auf Übungsmaterial aus der Literatur wurden um Hinweise zur jeweils zeitgenössischen Literatur ergänzt. 253 Volbach, Fritz: Die Kunst der Sprache. 1925. S. V. 254 Ebd. 255 Vgl. z.B. ebd. S. 44.

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Überarbeitung verändert aber auch die Konstellation des Übungssettings aus Lehrer, Schüler und Übungsbuch und weist dem Übungsbuch eine veränderte Funktion zu. Der Abschnitt zu den Stimmprüfungsfragen, den Volbach kürzt und verändert, richtete sich bei Hey direkt an den Lehrer, dessen Aufgabe es war, mit Hilfe der Fragen das „Organ“ des Schülers richtig einzuschätzen. Bei Volbach verliert dieser Aspekt an Relevanz und die Fragen sind nicht mehr direkt an einen Lehrer adressiert.256 Es finden sich insgesamt weniger Hinweise auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis in Volbachs Bearbeitung und der Lehrer wird weniger als handelndes Subjekt charakterisiert. Nur an einer Stelle wird die Vorbildfunktion des Lehrers erwähnt: „Solche Lieder und Fragmente spielt oder singt man dem Schüler mit richtiger Verteilung der musikalisch-deklamatorischen Stärkegrade wiederholt vor, um das Ohr, den Geschmack und die richtige Erkenntnis für die Gegensätze wie für die gemeinsamen Berührungspunkte zwischen Sprache und Gesang daran herauszubilden […].“257

Im Gegensatz dazu gibt es anders als in Heys Text direkte Anweisungen an den Schüler, so zum Beispiel für die Bildung des ‚A‘: „Öffne langsam und weit den Mund, ziehe die Oberlippe etwas hinauf und versuche – unter gleichzeitiger Beibehaltung der vorherigen Ruhelage aller Organe – einen gehauchten Laut zu bilden.“258 Zwar ist das Lehrbuch Volbachs nach wie vor auch an den Lehrer gerichtet, doch rückt der Schüler als weiterer Adressat deutlicher in den Fokus. Indem dem Schüler direkte Handlungsanweisungen gegeben werden, wird ihm zumindest die Fähigkeit zugetraut, diese auch umzusetzen. Insgesamt sind die auf Lehrer und Schüler bezogenen Äußerungen in Volbachs Text neutraler und die Formulierungen sind weniger spezifisch, so wird häufig nur beschrieben, was ‚man‘ zu tun hat. Damit tritt zugleich der Anweisungsduktus des Übungsbuches stärker in den Vordergrund. Das Übungssetting, wie es in der Überarbeitung Volbachs erscheint, besteht also nach wie vor aus der Konstellation von Lehrer, Schüler und Übungsbuch; allerdings hat sich die Rollenkonstellation etwas verschoben, der Lehrer wird weniger stark adressiert und erscheint nicht mehr als wichtigste Person innerhalb des Übungssettings. Stattdessen zeigt sich hier bereits eine Tendenz Richtung Selbststudium des Schülers, in der der Schüler mit dem Übungsbuch und ohne die Vorbild- und Kontrollinstanz des Lehrers übt. Mit der Bearbeitung des Hey’schen Lehrbuchs durch Fritz Volbach kommt es also zu einer Verbindung der Siebs’schen Aussprachenormierung mit dem auch 256 Vgl. z.B. ebd. S. 17. 257 Ebd. S. 94. 258 Ebd. S. 33.

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bei Hey schon stark auf die Einübung der Sprachlaute ausgerichteten Übungsprogramm. Der Bereich der Artikulation erhält dabei noch einmal mehr Gewicht gegenüber anderen Bereichen der Sprechstimmbildung, die in Heys Übungsbuch behandelt wurden. Darüber hinaus löst sich das Übungsbuch zunehmend aus dem institutionellen Kontext der Gesangs- und Schauspielausbildung und verselbständigt sich zu einem Lehrbuch für die Sprechstimmbildung, das zudem ein stärker auf das Selbststudium des ‚Schülers‘ ausgerichtetes Übungssetting entwirft. Diese Tendenz wird sich in der Überarbeitung von Heys und Volbachs Text durch Fritz Reusch nach dem Zweiten Weltkrieg noch verstärken. 1956 veröffentlicht Reusch den „Kleinen Hey. Die Kunst des Sprechens“ 259. Der Titel verweist auf Volbachs Titel „Die Kunst der Sprache“, betont nun aber noch eindeutiger das „Sprechen“. Reusch weist zudem darauf hin, dass er bemüht war im Vergleich zu Volbachs Bearbeitung „die vorliegende Neubearbeitung dem Urtext wieder anzugleichen“260. Doch auch wenn Reusch betont, dass „[d]er originale Text […] vielfach so anschaulich geschrieben [ist], daß sich schon beim Lesen die richtigen Artikulationsbewegungen von selbst einstellen“261, so 259 Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens. Nach dem Urtext von Julius Hey. Neu bearbeitet von Fritz Reusch. Mainz 1997. Eine Angabe zur Zahl der Auflagen wird nicht gemacht. Als Jahreszahlen zu (Neu-)Auflagen werden 1956, 1971 und 1997 genannt. Die Bezeichnung „Der kleine Hey“ hat sich hier also endgültig auf den sprachlichen Teil verlagert und bezeichnet nicht mehr die gekürzte Fassung von Heys Gesamtwerk, die Heys Sohn, Hans Erwin Hey, herausgegeben hatte. 260 Ebd. S. 3. Die ‚10 Fragen bei der Prüfung des Stimmorgans‘, die Hey nach der Behandlung der Laute anführt, nimmt Reusch wieder auf und stellt sie, allerdings v.a. in Bezug auf die Übungsanweisungen erheblich gekürzt, an den Anfang des Buches (vgl. ebd. S. 7-14). Die Reihenfolge in der Behandlung der Laute gleicht er wieder der von Hey vorgeschlagenen an, da „Julius Hey […] seine Lautordnung ausdrücklich durch den ‚organischen Zusammenhang‘ ihrer phonetischen Bildung (bis in die Phonationsstellungen hinein) [begründet]“ (ebd. S. 3), hält sich bei den Diphthongen jedoch an den Vorschlag Volbachs. Das Kapitel „Rhythmus und Dynamik der Sprache“ ist der Hey’schen Formulierung wieder stärker angepasst, allerdings inhaltlich auch überarbeitet worden. Ein Kapitel „Das Organ der Stimme“, in dem Atmung, Tönung und Lautung beschrieben werden, ist hinzugefügt worden, die „Übungsliteratur für den Unterricht“ wurde umgearbeitet. Das Buch wurde „im Hinblick auf die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Stimmphysiologie und Phonetik sowie auf den künstlerischen Auffassungswandel der Redekunst und Sprechgestaltung“ (ebd. S. 3) überarbeitet. 261 Ebd. S. 4.

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ist der „Urtext“ Heys von Reusch nicht nur erheblich gekürzt, sondern an vielen Stellen auch umformuliert worden. Originale Formulierungen stehen dabei neben Umformulierungen oder Hinzufügungen. Wie bei Volbach ist auch bei Reusch für den Leser nicht zu erkennen, welche Passagen von Hey und welche von Reusch stammen. Die von Volbach eingefügten Bezugnahmen zur Siebs’schen Ausspracheregelung werden beibehalten, ohne dass Fragen der Aussprachenormierung ausführlich thematisiert würden. Der ‚Siebs‘ wird von Reusch auch in den aktuellen Auflagen nach wie vor als „klassische[s], allgemein anerkannte[s] Standardwerk“ bezeichnet.262 Der Text ist also eine Mischung aus Heys Vorlage, der Fassung Volbachs und der Umarbeitung Reuschs und keineswegs der Urtext mit nur einigen Hinzufügungen. Wie auch Volbach lässt Reusch jedoch die Übungsverse unverändert.263 Während für Volbach deren Vortrefflichkeit noch fraglos besteht, bedeutete für Reusch die Frage, „ob die bekannten und bewährten ‚Sprechverse‘ beibehalten oder durch neue ersetzt werden sollten […] [d]ie schwierigste Frage“ 264. Er führt den Einwand an, dass diese „hie und da als ‚mechanisch‘ empfunden werden und dem Prinzip der ‚Ganzheitsmethode‘ im Unterricht widersprechen“265. Damit verweist Reusch auf die methodischen Debatten, die sich vor allem von Seiten der Sprecherziehung an der Hey’schen Übungsmethodik entzündeten und auf die in Kapitel 3.3 noch ausführlich eingegangen werden wird. Deren Kritik ungeachtet vertritt Reusch die Auffassung, dass „die phonetisch einwandfreie Aussprache nur durch äußerste Konzentration auf die Lautbildung zu erreichen ist“ 266. Für ihn liegt „[g]erade in diesen ‚Sprech-Etüden‘, die vom Phonetischen der Lautgebärde her gesehen zweifellos genial konzipiert sind, […] das Typische und Wertvolle des ‚Kleinen Hey‘; um dieses Bewährten und Vertrautgewordenen willen sind sie in der nahezu ungekürzten Fassung beibehalten worden“267.

Dass die Verse keineswegs frei von inhaltlichen Assoziationen sind, die heute befremdlich wirken können, problematisiert Reusch nicht.268 Im Hinblick auf das 262 Ebd. S. 96. 263 Er kürzt allerdings manchmal um ein paar Zeilen. 264 Ebd. S. 4. 265 Ebd. 266 Ebd. 267 Ebd. 268 Vgl. Fußnote 185. Reusch fügt noch einige esoterische Rollenstereotype hinzu, wenn er die Selbstlaute als „Empfindungsträger“ beschreibt, „weswegen man sie auch als die weiblichen Elemente der Sprache bezeichnet hat; die Mitlaute hingegen

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Übungssetting setzt sich die Tendenz weiter fort, dass das Übungsbuch dem Selbststudium des Schülers mit dem Buch dienen soll. Es enthält wieder etwas mehr Hinweise zum Üben269 und das Buch übernimmt nun gewissermaßen die Funktion des Lehrers. Der Schüler steht wie bei Volbach im Fokus der Adressierungen. Nun ist es beispielsweise der Schüler, der richtig hören muss, ohne dabei aber durch das kundige Ohr des Lehrers angeleitet und kontrolliert zu werden. Der Lehrer wird seltener erwähnt. Die Dreierkonstellation verschiebt sich zunehmend in Richtung eines Übungssettings aus Buch und Schüler. Dem Buch kommt damit eine verstärkte Autorität zu, wobei dem Schüler zugleich mehr Handlungskompetenz zugewiesen wird. In der Fassung von Fritz Reusch wird das Übungsbuch von Hey – trotz aller Kritik durch Sprecherzieher und Sprechwissenschaftler – bis in die Gegenwart tradiert und mehrfach neu aufgelegt. 270 Es stellt damit den Fall eines am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Übungsansatzes dar, der eine über 100-jährige Kontinuität erfährt. Bereits die Veränderungen zwischen den Fassungen von Hey, Volbach und Reusch zeigen jedoch, dass dabei auch Transformationen im Text selbst stattfinden. Diese werden in der Gegenwart noch verstärkt, wenn etwa dem Übungsbuch eine DVD beigelegt wird. Die audio-visuellen Medien verändern dabei wiederum das Übungssetting. In der Gegenwart sind, anders als in der historischen Betrachtung, zudem die Anwendungskontexte beobachtbar, etwa wenn Seminarleiter in Volkhochschulkursen mit dem ‚Hey‘ arbeiten. Und so wird sich in Kapitel vier die Frage stellen, inwiefern sich ein disziplinierenden Mustern folgender Übungsansatz in den Dynamiken der Performancegesellschaft verändert.

wirken formbildend-plastisch, es sind die männlichen Formkräfte“ (Der kleine Hey. 1997. S. 38). An einer anderen Textstelle beschreibt er noch einmal die Vokale als „die ruhenden, passiven Bestandteile der Worte […]; man hat sie auch die weiblichen Elemente genannt, während die Konsonanten, durch die Artikulationsbewegung bedingt, aktiver (männlich) und daher rhythmus-bestimmender wirken“ (ebd. S. 64). 269 Diese sind im Vergleich zu den Hey’schen Formulierungen etwas positiver formuliert. Man vergleiche z.B. Reuschs Formulierung (Der kleine Hey. 1997. S. 33) mit der Formulierung Heys (Hey: Deutscher Gesangs-Unterricht. S. 53). 270 Eine genaue Angabe zur Zahl der Auflagen wird, wie erwähnt, nicht gemacht. 2003 wird das Buch mit DVD herausgegeben. Auf die Verwendung des Buches in der Ausbildung von Schauspielern, Sängern und Rednern wird im Klappentext hingewiesen. Zur Kritik der Sprecherzieher vgl. Fußnote 147 sowie die folgenden Ausführungen.

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Die Langlebigkeit, die das Hey’sche Übungsbuch erfahren hat, ist durchaus erstaunlich angesichts der Tatsache, dass der Ansatz der frühen Stimmübungsbücher in den Jahrzehnten nach ihrem Erscheinen zunehmend in die Kritik gerät, wobei Heys Sprechverse gewissermaßen zum Inbegriff einer falsch verstandenen Sprechstimmbildungsmethodik werden. So führt Erich Drach in seinem 1922 erschienenen Buch „Sprecherziehung“ aus, dass das Üben einzelner Laute oder Worte dem natürlichen Sprachfluss eher hinderlich sei und „darum auch alle die tiefsinnigen Verslein, die ‚gedichtet‘ wurden, einen bestimmten Laut zu üben: Klöster krönen öde Höhen, Mönche könnt ihr hören trösten […] [g]rundsätzlich methodisch unbrauchbar“271 seien. Und Fritz Gerathewohl vertritt besonders vehement die Haltung, dass er es „grundsätzlich ab[lehnt], sinnlose Worte und Sätze üben zu lassen – Hey: Barbara saß nah am Abhang! – weil wir keine Automaten, sondern lebendige, echt und wahr sprechende Menschen erziehen wollen“272. In die Kritik gerät das isolierte Üben der Sprachlaute insbesondere auch in der Langwierigkeit und Ausschließlichkeit, die die frühen Übungsbücher nahe legen. Grund für die Kritik ist unter anderem die sich verändernde Auffassung, dass die Lautbildung nicht einfach nur als physiologischer Vorgang verstanden werden kann, sondern im Hinblick auf das Sprechen als ganzheitlicher Prozess verstanden werden muss. Da diese Kritik im Kontext der sich ab 1900 etablierenden ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ laut wird, bei der die Forderung nach ‚Ganzheit‘ zu einem zentralen Argument wird, das sich nicht nur auf die Methodik der Sprechstimmbildung bezieht, werde ich darauf im folgenden Kapitel genauer eingehen.

271 Drach, Erich: Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule. Frankfurt a.M. 1922 (= Handbuch der Deutschkunde. Führer zu deutscher Schulerziehung 3). Hier S. 35. 272 Gerathewohl, Fritz: Idealistische Sprecherziehung und Hemmungsabbau. In: Allgemeine bayerische Lehrerzeitung 65 (1931). Heft 21/22. S. 303-304. Hier S. 303.

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3.3 DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER SPRECHSTIMMBILDUNG INNERHALB DES FACHES ‚SPRECHKUNDE/SPRECHERZIEHUNG‘ IN DEN ERSTEN JAHRZEHNTEN DES 20. JAHRHUNDERTS Nachdem in den vorherigen Kapiteln bereits auf Fragen der Normierung des Sprechens, insbesondere in Hinblick auf die Regelung der Aussprache, sowie auf die Entwicklung von Übungsprogrammen mit den damit verbundenen methodischen Setzungen der Sprechstimmbildung eingegangen wurde, geht es in diesem Kapitel um die Frage, welche Formen der Institutionalisierung Sprechstimmbildung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfahren hat. Die von Foucault beschriebenen Disziplinarmechanismen sind eng mit der Entstehung und Ausgestaltung verschiedener Institutionen verbunden273, die den modernen Staatsapparat sowie das kapitalistische Wirtschaftssystem der westeuropäischen Staaten tragen, wie beispielsweise die Schule, die Fabrik oder das Militär, aber auch das Krankenhaus oder die Universität. Mit den Zuständigkeiten der jeweiligen Institutionen verbinden sich klare räumliche und zeitliche Abgrenzungen: so markiert die Schule einen Zeitraum der Ausbildung, der beispielsweise von der „Erwachsenen-Zeit“274 getrennt ist; mit dem Krankenhaus verbindet sich eine räumliche Trennung der Gesunden von den Kranken. McKenzie zufolge beginnen sich diese Strukturen in der Performancegesellschaft aufzulösen, beziehungsweise treten in neue Beziehungen zueinander, so dass beispielsweise ‚Lernen‘ und ‚Ausbildung‘ zu einer lebenslangen Aufgabe werden. Mit der Herausbildung der Disziplinarinstitutionen entfalten die disziplinierenden Mechanismen und Techniken ihre Macht und Durchsetzungskraft 275, umgekehrt bedeutet das, dass die Frage nach der institutionellen Verankerung der Sprechstimmbildung auch eine Frage nach dem Ausmaß ihrer disziplinierenden Wirkung ist. Lassen sich einerseits intensive Bemühungen beobachten, Sprechstimmbildung in die Institutionen der Disziplinargesellschaft einzugliedern und ihr damit auch eine disziplinierende Wirkung zu verschaffen, verweist die tatsächlich erreichte institutionelle Verortung der Sprechstimmbildung bis 1933 andererseits in vielen Aspekten auf Merkmale der gegenwärtigen Performancegesellschaft voraus. Die Bemühungen um eine Disziplinierung von Stimme und Sprechen sind mit Blick auf die Institutionalisierung von Sprechstimmbildung als ambivalent zu be-

273 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 177. 274 Ebd. S. 205. 275 Wobei Foucault darauf hinweist, dass „die ‚Disziplin‘ […] weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert werden [kann]“ (ebd. S. 276).

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schreiben, so dass hier von einer Überlagerung von Strukturen und Dynamiken der Disziplinar- und Performancegesellschaft zu sprechen ist, die nicht erst – wie McKenzie es beschreibt – 1945 beginnt. Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht an deutschen Universitäten das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, das als einen Teilbereich des Faches Sprechstimmbildung umfasst, die in dieser Zeit meist als ‚Stimmbildung‘ oder ‚Sprechtechnik‘ bezeichnet wird. Anfangs werden an den Universitäten noch unterschiedliche Fachbezeichnungen verwendet, unter denen sich aber ein gemeinsames Fach herauszubilden beginnt, das die drei Teilbereiche Stimmbildung, Kunstvortrag und Rhetorik umfasst. Über die Etablierung dieses Faches wird Sprechstimmbildung bis zu einem gewissen Grad institutionalisiert und erhält verstärkte Aufmerksamkeit. Dabei geht mit der Fachkonzeption der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ eine Konzeptionierung von Sprechstimmbildung einher, die in den Kontext zeitgenössischer kulturkritischer Strömungen einzuordnen ist und teilweise eine Abgrenzung von zuvor entwickelten Vorstellungen von Sprechstimmbildung darstellt. Mit der inhaltlichen Ausgestaltung und Abgrenzung von Sprechstimmbildung innerhalb der universitären Fachetablierung ist gleichzeitig auch ein Anspruch auf institutionell-struktureller Ebene verbunden, der auf eine Etablierung der Sprecherziehung in der Schule und eine Regulierung des Bereichs frei arbeitender Sprechstimmbildner zielt. Der Prozess der Fachetablierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zwischen 1897276 und 1933277 zeigt strukturelle Merkmale, die typisch für die Mechanismen der Disziplinargesellschaft sind, zudem macht die Entstehung des Faches das erhöhte Interesse der Zeit an der Stimme und dem Sprechen deutlich. Das Bemühen, Sprecherziehung in Ausbildungsinstitutionen zu etablieren, lässt zudem die Tendenz erkennen, Stimme und Sprechen als zu disziplinierenden Aspekt des Körpers zu erfassen. Indem Sprecherziehung Teil der nach Jahrgängen gestuften 276 Den Beginn der Fachgeschichte markiert das Jahr 1897, als Theodor Horstmann „als Lehrer für Vortragskunst […] [an der Universität Leipzig] für ein Jahr auf Probe angestellt [wird], mit dem Schwerpunkt ‚Erziehung zur reinen, dialektfreien Aussprache und auf Ausbildung der allgemeinen Sprechtechnik‘“ (Pabst-Weinschenk, Marita: Anfänge der Sprecherziehung in Deutschland. In: dies., Christian Seiffert, Johannes Hasenkamp et al. (Hrsg.): Sprechkultur und Sprecherziehung in Münster. Zur Geschichte des Lektorates für Sprecherziehung und Vortragskunst im Spannungsfeld von Theater und Universität. Münster 1996 (= Sprechkommunikation. Arbeiten zur Sprechwissenschaft und Sprecherziehung 1). S. 73-94. Hier S. 91). 277 Ich werde im Folgenden den Zeitraum von Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 betrachten, da die Fachgeschichte im ‚Dritten Reich‘ eine gesonderte Betrachtung erfordert und im folgenden Kapitel behandelt wird.

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Lehrpläne wird, wird sie eingeschrieben in die zeitliche Sequenzierung und Anforderungssteigerung der disziplinargesellschaftlichen „Zeit der Ausbildung“278. Daneben etabliert die Einführung von Prüfungen für den Bereich der Sprecherziehung einen ebenfalls typischen disziplinierenden Mechanismus 279, der Auskunft darüber gibt, ob „das Subjekt das vorgeschriebene Niveau erreicht hat“, und darüber hinaus die „Gleichförmigkeit“ der Ausbildung garantiert sowie die „Fähigkeiten aller Individuen“ differenziert.280 Beide Faktoren, Prüfung und gestaffelte Lehrpläne, unterstützen die „Stetigkeit“281 und den „Zwang“282, den die Disziplinarmechanismen für ihre Durchsetzungskraft benötigen. Auch hier geht es dabei um Normen, da mit der Festschreibung von Lehrplänen und Prüfungen auch normative Setzungen verbunden sind; inwiefern sich diese auch auf die Aussprachenormen beziehen, wird im Folgenden zu zeigen sein. Neben diesen Entwicklungen, die zeigen, wie Stimme und Sprechen auch in Hinblick auf Fragen der Institutionalisierung in den Fokus der Disziplinarmechanismen geraten, weist die Institutionalisierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ (und damit auch der Sprechstimmbildung) jedoch auch Merkmale auf, die zeigen, dass sie innerhalb der Institutionen Schule und Universität nicht vollständig anerkannt und verankert wurde, sondern einen eher prekären Status innehatte. Auch ihren Anspruch auf Regulierung des Bereichs der frei arbeitenden Sprechstimmbildner kann die ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ nicht in letzter Konsequenz durchsetzen, so dass sich hier auch Formen von Sprechstimmbildungsangeboten zeigen, wie sie charakteristisch für die Gegenwart und die Merkmale der Performancegesellschaft sind. Dieser Ambivalenz in der institutionellen Ausrichtung der Sprechstimmbildung wird im Folgenden nachgegangen, indem zunächst die wichtigsten Entwicklungen der Fachetablierung skizziert werden. Dabei wird herausgearbeitet werden, inwiefern die Institutionalisierungsbemühungen deutlich auf Merkmale der Disziplinarmechanismen ausgerichtet sind, die strukturelle Verankerung der Sprecherziehung – und damit auch der Sprechstimmbildung – jedoch auch unvollständig bleibt. Anhand der Richtlinien für die Lehrpläne Preußens und der Schulungsangebote des ‚Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht‘ wird deutlich werden, welcher Stellenwert der Sprechstimmbildung, die ja nur ein Teilgebiet der Sprecherziehung darstellt, eingeräumt wird und inwiefern diese 278 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 205. 279 Die Prüfung ist, nach Foucault, ein weiteres zentrales Instrument der Disziplinierung. Vgl. ebd. S. 220. 280 Ebd. S. 204. 281 Ebd. S. 208. 282 Ebd.

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dabei Teil der disziplinierenden Mechanismen wird. Und schließlich werde ich darstellen, welche inhaltlichen Forderungen und Konzeptionen im Hinblick auf die Sprechstimmbildung mit der Fachetablierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ einhergehen und wie diese einer ‚ganzheitlichen‘ Ausrichtung des Faches folgen. 3.3.1 Die institutionelle Verankerung des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ zwischen 1897und 1933 Über das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ erfährt Sprechstimmbildung ab der Jahrhundertwende um 1900 eine gewisse Institutionalisierung, die an den Universitäten beginnt und davon ausgehend vor allem auf die Schule ausgerichtet ist. Daneben wird Sprechstimmbildung an Weiterbildungseinrichtungen angeboten, die hier als ‚freier Bereich‘ bezeichnet werden. Sowohl in der Schule als auch an der Universität wird versucht, Sprecherziehung in die disziplinierenden Strukturen dieser Institutionen einzubinden. Zudem bemühen sich die Fachvertreter der universitären Sprechkunde, den ‚freien Bereich‘ zu regulieren. Im Folgenden wird zunächst auf die Entwicklungen im Bereich der Universität und der Schule, anschließend auf die im ‚freien Bereich‘ eingegangen, wobei auch herausgearbeitet wird, inwiefern die tatsächlich erfolgte Einbindung der Sprechstimmbildung in die disziplinierenden Mechanismen unvollständig bleibt.283 ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ an Universität und Schule Die Anfänge des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ liegen um die Jahrhundertwende von 1900, als an verschiedenen deutschen Universitäten Lektorate – „meist unter der Bezeichnung ‚Lektor[at] für Vortragskunst‘“284 – eingerichtet werden.285 Trotz der unterschiedlichen Bezeichnungen verstehen sich die Lektoren als Vertreter eines Fachs und schließen sich 1920 zur ‚Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst an deutschen Universitäten‘ zusammen. Sie bezeichnen sich dabei selbst als „[d]ie wissenschaftlich gebildeten Fachvertreter

283 Dem Stellenwert, den die Sprechstimmbildung innerhalb von Sprecherziehung in den Richtlinien für die Lehrpläne und in den Weiterbildungsangeboten erhält, ist ein eigener Abschnitt (3.3.2) vorbehalten. Um die inhaltliche Konzipierung des Faches, gerade auch in Hinblick auf die Sprechstimmbildung, geht es im Abschnitt 3.3.3. 284 Vgl. Buch, Drach, Fischer et al.: Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst. S. 235. 285 Eine Übersicht über die Einrichtung von Lektoraten zwischen 1897 und 1945 findet sich bei Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 73-94.

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der Stimmkunde, Vortragslehre und Sprachkunst“286. Die Arbeitsgemeinschaft wird 1921 zur ‚Fachgemeinschaft für Sprechkunde im Reichsverband der Hochschullektoren‘287, wodurch sie „einen offiziellen Status als Vertretungsorgan“ 288 erhält; in dieser Zeit etabliert sich auch der Begriff ‚Sprechkunde‘ als Fachname.289 Allerdings weist Pabst-Weinschenk darauf hin, dass diese Fachgemeinschaft „wenig Publizität erreicht hat“ und keine Informationen zu Anzahl und Inhalt von Treffen überliefert sind.290 Es handelte sich hier also wohl weniger um ein inhaltlich arbeitendes Gremium, als vielmehr um eine formale Fachvertretung, die gleichwohl das Bemühen um Institutionalisierung und Repräsentation des Faches gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt. Auch wenn mit der Einrichtung der Lektorate an den Universitäten ein Schritt in Richtung Institutionalisierung des Faches getan ist, so nehmen die Lektorate innerhalb der Universität zunächst eine marginale Stellung ein, wie Erich Drach291 1920 beschreibt: „Im Universitätsverbande gelten sie [die Lektoren; Anm. D. P.] allesamt als Außenseiter gegenüber dem eigentlichen akade286 Buch; Drach; Fischer et al.: Arbeitsgemeinschaft von Lektoren. S. 235. 287 Vgl. Mitteilungen des Verbandes der deutschen Hochschulen 1 (1921). Heft 18. S. 184-185. Sowie Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 74. 288 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 305. Pabst-Weinschenk gibt an, dass Erich Drach, der seit 1918/19 Lektor in Berlin ist und sich maßgeblich um die Etablierung und Institutionalisierung des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ bemüht hat, der erste Geschäftsführer der AG ist (vgl. ebd. S. 304). In der Mitteilung des deutschen Hochschulverbandes wird allerdings bereits 1921 Wittsack als Vorsitzender der AG geführt. 289 Wie Hellmut Geißner ausführt, wurde der Begriff ‚Sprechkunde‘ zum ersten Mal terminologisch von Ernst Otto verwendet, der ihn auch später zum Begriff ‚Sprechwissenschaft‘ weiterentwickelt, während Drach ihn zum ersten Mal 1922 unspezifisch verwendet (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 146. Vgl auch Ernst Otto: Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft. Bielefeld und Leipzig 1919. Hier S. 1 f.). Der Begriff ‚Sprecherziehung‘ wurde laut Roß nach Erscheinen von Erich Drachs Buch „Sprecherziehung“ 1922 üblich (vgl. Roß: Sprecherziehung statt Rhetorik. S. 22). 290 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 305. 291 Erich

Drach

nimmt

im

Institutionalisierungsprozess

der

‚Sprechkun-

de/Sprecherziehung‘ eine maßgebliche Rolle als Organisator und Fachvertreter, der sich vehement für die Etablierung des Faches einsetzte, ein. So unbestritten seine organisatorische Funktion für die Fachetablierung ist, so sehr gehen die Meinungen in der Sprechwissenschaft darüber auseinander, welche inhaltliche Prägung er dem Fach verliehen hat (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 167. Sowie PabstWeinschenk: Erich Drachs Konzept der Sprechkunde und Sprecherziehung).

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mischen Lehrkörper.“292 Die finanzielle Ausstattung der Lektorate ist dürftig, die Beschäftigungsbedingungen sind aufgrund kurzer Vertragslaufzeiten und fehlender Pensionsberechtigung unbefriedigend.293 Dies zeigt nach PabstWeinschenk den „geringen Stellenwert […]: Neben Tanzen, Fechten und Fremdsprachen steht die Sprecherziehung als Sonderliebhaberei; damit wird ihr keine grundlegende Bedeutung für die universitäre Lehre zuerkannt.“ 294 Diese Einschätzung trifft besonders auf die Konzeption als eigenständiges wissenschaftliches Fach zu, die – wie wir in Kapitel 3.3.3 sehen werden – von den damaligen Fachvertretern selbst unterschiedlich vorgenommen wird.295 Martin Seydel sieht in der Verankerung an der Universität vor allem die Chance auf eine über den Ausbildungsbereich von Theater und Gesang hinausgehende große Breitenwirkung: „Ein Anfang derartiger besonderer Schulung, über die Bedürfnisse der Konservatorien und Bühnenschulen hinaus, ist nun schon längst gemacht, und zwar an den Orten, die die größte Verbreitung neuer Bildungsmittel gewährleisten, an den deutschen Hochschulen.“296 Die Sprecherziehung stehe „im Dienste aller Fakultäten“.297 Diese Positionierung, die neben den Bestrebungen steht, ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ als akademisches Fach zu etablieren298, macht sie heutigen Angeboten an der Universität, zum Beispiel im Bereich der sogenannten Schlüsselqualifikationen vergleichbar und verweist damit bereits auf die Performancegesellschaft. Die Angebote der Lektoren richten sich

292 Drach, Erich: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. In: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920). S. 236-243. Hier S. 242. 293 Vgl. ebd. sowie Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 169-179. 294 Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 80. 295 Einige der Lektoren werden mit der Zeit zu Professoren ernannt (so Emil Milan 1915 in Berlin, Ewald Geißler 1932 in Erlangen und Friedrich Karl Roedemeyer 1930 in Darmstadt). Die Zahl ist allerdings recht gering. Nach 1933 folgen Walter Wittsack 1940 als Professor in Frankfurt a.M., Alfred Simon, der 1939 außerordentlicher Professor in Leipzig wird, und 1943 Christian Winkler als sein Nachfolger (vgl. Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 84-94). 296 Seydel, Martin: Grundfragen der Stimmkunde. Leipzig 1909. Hier S. 9. Seydel ist seit 1900 Lektor an der Universität Leipzig und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der Lektoren. 297 Seydel, Martin: Sprechkunde an den Universitäten. In: Zeitschrift für Laryngologie, Rhinologie, Otologie und ihre Grenzgebiete (1929). Heft 2. S. 183-187. Hier S. 184. 298 Vgl. Buch; Drach; Fischer et al.: Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst. S. 235 f.

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an Hörer aller Fakultäten, vornehmlich an die, die später einen sogenannten Sprechberuf ausüben werden.299 Insbesondere bemühen sich die Fachvertreter der Sprechkunde und Sprecherziehung um zukünftige Lehrer, da diese in ihrem späteren Beruf nicht nur selbst ‚sprechen können‘ müssen, sondern auch als Multiplikatoren der Sprecherziehung fungieren und in der Schule sprecherzieherisch tätig sein sollen. 300 Die Lektoren wollen die Sprecherziehung möglichst verbindlich in der Lehrerausbildung an der Universität verankern, um somit die Umsetzung der Sprecherziehung in der Schule zu ermöglichen. Für Drach, der während des ersten Weltkrieges selbst kurz als Lehrer gearbeitet hat, ist die Schule die wichtigste Institution, von der er sich eine weitere umfassende Etablierung der Sprecherziehung erhofft.301 Nach Drachs Vorstellung soll Sprecherziehung dabei kein eigenes „Lehrfach, sondern Lehrgrundsatz“ sein. 302 Er und seine Kollegen sehen in der Sprecherziehung eine grundlegende Fähigkeitsschulung, die alle Schüler durchlaufen sollten. Durch die Etablierung in der Schule als einer der zentralen Disziplinarinstitutionen303 wären für die Sprecherziehung die Disziplinarmechanismen von „Stetigkeit“ und „Zwang“ wirksam geworden, durch die eine breitenwirksame Formung von Stimme und Sprechen ermöglicht worden wäre. Tatsächlich gelingt es in den 1920er Jahren auch, Sprecherziehung in den Richtli299 Vgl. Erich Drach: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 237. Drach schlägt allerdings auch vor, dass spätere Theaterkritiker sich in dieser Richtung weiterbilden sollten, um ihr Gehör zu schulen (vgl. ebd. S. 240). 300 Ihre Bemühungen gehen also in eine ähnliche Richtung, die Theodor Siebs einschlug, als er den Schulterschluss mit dem Verein deutscher Philologen und Schulmänner suchte und sich um eine Anerkennung seiner Ausspracheregelung auch durch die Schule bemühte. 301 Vgl. z.B. Erich Drach: Wissen und Können. Ein Beitrag zur Bildung des neuen Lehrers. In: Allgemeine deutsche Lehrezeitung 51 (1922) Heft 29/30. S. 340-342. Nach Geißners Einschätzung hat Drach in erster Linie eine pädagogische Ausrichtung der Sprecherziehung in der Schule im Blick (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 167). 302 „Alle Lehrer müssen in der gleichen Richtung arbeiten, dann erwächst der Erfolg von selbst, geradeso wie wir den Schüler beispielsweise zur Pünktlichkeit oder Wahrheitsliebe zu erziehen streben, ohne darum ein Fach ‚Pünktlichkeit‘ oder ‚Wahrheit‘ in den Stundenplan zu setzen.“ (Drach: Sprecherziehung. S. 6) In die gleiche Richtung argumentiert 1932 Fritz Gerathewohl in seinem Aufsatz „Sprecherziehung und Gesamtunterricht“ (Gerathewohl, Fritz: Sprecherziehung und Gesamtunterricht. In: Sprechen und Singen (1932) Heft 11. S. 145-148. Hier S. 146). 303 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 177 f.

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nien für die Lehrpläne verschiedener Schularten festzuschreiben. Dabei zeigen sich die „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens“, die 1925 erscheinen, von der Deutschkunde beeinflusst304, die sich als Bewegung in den 1910er Jahren bildete und auch die Schulform der „Deutschen Oberschule“ mit hervorbrachte.305 Die Deutschkunde propagierte in ihrer extremen Zuspitzung eine Abkehr vom humanistischen Weltbild und forderte stattdessen die „Besinnung auf deutsche Art und deutsches Wesen“ 306, was für die Schule bedeutete, den Deutschunterricht sowie die Beschäftigung mit deutschsprachiger Literatur und ‚deutscher‘ Geschichte ins Zentrum zu rücken. So heißt es entsprechend in den Richtlinien: „Im deutschen Unterricht sollen die Schüler lernen, deutsch zu reden und deutsch zu schreiben, deutsch zu fühlen, zu denken und zu wollen.“307 Insbesondere der Sprecherzieher Erich Drach stand mit Vertretern der Deutschkunde in Kontakt308; über seine Mitarbeit an den Richtlinien wurde in der sprechwissenschaftlichen Forschung spekuliert. 309 Die Aufwertung des Deutschunterrichts und damit auch der Beschäftigung mit der deutschen Sprache dürfte den Sprecherziehern in ihrem Anliegen entgegengekommen sein, auch wenn ihre Interessen nicht deckungsgleich mit denen der Deutschkundler waren. 310 Es ist 304 Norbert Hopster und Ulrich Nassen weisen jedoch darauf hin, dass die „Richtlinien […] nicht in allen Punkten mit der Deutschkunde übereinstimmten.“ (Hopster, Norbert; Nassen, Ulrich: Literatur und Erziehung im Nationalsozialismus. Deutschunterricht als Körperkultur. Paderborn, München, Wien 1983. Hier S. 28). 305 Vgl. Hellmut Geißner: Die Deutschkunde, die Richtlinien und die Psychotechnik. Erich Drachs Weg ins ‚Dritte Reich‘. In: Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft. Sprechpädagogik – Sprechtherapie – Sprechkunst 13 (1995/I). S. 47-58. Hier S. 48. 306 Stenglein, Ursula: Der Literaturunterricht an der Oberstufe der höheren Schule. Seine Ziele und Methoden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1966. Hier S. 66. 307 Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. Beilage zum Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung (1925). Heft 8. Hier S. 9. 308 1922 erscheint sein Buch „Sprecherziehung“ als dritter Band des „Handbuchs der Deutschkunde“, das einen „Führer zu deutscher Schulerziehung“ darstellen möchte, wie der Nebentitel der Reihe verrät (Erich Drach: Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule. Frankfurt a.M. 1922 (= Handbuch der Deutschkunde. Führer zu deutscher Schulerziehung 3). 309 Vgl. Geißner: Die Deutschkunde, die Richtlinien und die Psychotechnik. S. 53. Sowie ders.: Wege und Irrwege. S. 131. 310 So lehnt bspw. Johann G. Sprengel, ein Vertreter der Deutschkundebewegung, Drachs Forderung, dass „alle Lehrer während ihrer Ausbildung in die Hauptpunkte

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zudem darauf hinzuweisen, dass sich in der Betonung des „deutsche[n] Volkstums“ und der „politisch-rassistische[n]“311 Argumentation der Deutschkunde ihre Affinität zum Nationalsozialismus zeigt, wobei auch beachtet werden muss, dass die Deutschkunde nicht „ungebrochen in diesen übergangen“ ist.312 Vor diesem Hintergrund also ist die Berücksichtigung der Sprecherziehung in den neu erlassenen Richtlinien zu sehen, die in den „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens“313 von 1925 zu der Formulierung führt: „Sprecherziehung ist während der gesamten Schulzeit notwendig.“ 314 Hier wird ausgeführt, was in den jeweiligen Klassenstufen im Bereich der Sprecherziehung speziell zu unterrichten ist.315 Für die Lehrpläne der Grundschule war sie schon 1921 – allerdings in wesentlicher knapperer Form – gefordert worden316, ebenso in denkbar knapper Form 1923 in den Richtlinien für die oberen Jahrgänge der Volksschule317 und 1925 in den „Bestimmungen für die Mittelschule“.318 Damit hat die Sprecherziehung in den 1920er Jahren formal einen gewissen Stellenwert in der Schule erreicht. Eine Umsetzung im Lehralltag ist jedoch nicht erfolgt, wie Hans Lebede 1938 rückblickend diagnostiziert: „Diese Richtlinien litten ja unter ihrem Zuviel; sie gaben Anregungen, überließen aber den einzelnen Kollegien die Aufstellung besonderer Lehrpläne für ihre Schulen. Diese wiededer Sprecherziehung eingeführt werden und sie beherrschen lernen“ als zu weit gehend ab (vgl. Geißner: Die Deutschkunde, die Richtlinien und die Psychotechnik. S. 50). Umgekehrt wollte sich die Sprecherziehung, wie gezeigt, nicht auf den Deutschunterricht beschränken. 311 Hopster; Nassen: Literatur und Erziehung. S. 28. 312 Ebd. S. 22. 313 Ich konzentriere mich im Folgenden exemplarisch auf die Lehrpläne und Vorgaben für die Lehrerausbildung in Preußen. 314 Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. S. 9. 315 Vgl. Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. S. 54-57. Ausführlich gehe ich darauf unter 3.3.2 ein. 316 Vgl. Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1921). Heft 9. S. 185-188. Hier S. 187. Ausführlich gehe ich darauf unter 3.3.2 ein. 317 Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1923). Heft 9. S. 171-179. Hier S. 174. Ausführlich gehe ich darauf unter 3.3.2 ein. 318 Vgl. Bestimmungen über die Mittelschulen in Preußen. Beilage zum Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1925). Heft 12. S. 1-30. Hier S. 12. Ausführlich gehe ich darauf unter 3.3.2 ein.

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rum erstrebten Verringerung und Begrenzung des Stoffes und folgten vielfach den in Fachgruppen des Philologenverbandes ausgearbeiteten ‚Mindestlehrplänen‘ vom Herbst 1925. Darin aber war von Sprecherziehung nicht viel mehr übrig geblieben.“319

Dass eine Umsetzung in den Lehrplänen ausbleibt, überrascht nicht angesichts der Tatsache, dass es den Sprecherziehern nicht gelungen war, ein obligatorisches Prüfungsfach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ für Lehramtsstudenten zu etablieren.320 In der „Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen und Ordnung der praktischen Ausbildung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen“ von 1917 wird Sprechkunde weder als Wahlfach noch als Bestandteil des Faches Deutsch aufgeführt.321 1922 frohlockt Erich Drach zwar, dass durch einen neuen Erlass „die technisch-künstlerische Bildung der wissenschaftlichen gleichgestellt worden [sei]: Zeichnen, Musik, Sprechkunde sind Prüfungsfächer geworden.“322 Liest man allerdings in der „Prüfungsordnung für das künstlerische Lehramt an höheren Lehranstalten“ nach, so stellt man fest, dass es sich 319 Lebede, Hans: Erziehung zum Sprechen. Im Anschluß an die neuen Lehrpläne. Frankfurt a.M. 1938. Hier S. 4. 320 Die Verankerung in der Ausbildung der Volksschullehrer an den pädagogischen Akademien ist etwas besser gelungen: In der „Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen“ von 1925 wird Sprech-, Atem- und Gesangstechnik mit viermal einer Übung im ersten Halbjahr veranschlagt – was immer noch wenig ist, aber immerhin einen festen Platz in der Ausbildung einnimmt (vgl. Die Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen. Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. 1925. Hier S. 30 f.). Gerathewohl weist darauf hin, dass es auch in Bayern zu einer obligatorischen Verankerung kam, so dass Deutschlehrer, um zum Staatsexamen zugelassen werden zu können, den „Nachweis über den Besuch von Vorlesungen und Übungen über deutsche Phonetik und Stimmpflege“ vorlegen müssen. Gerathewohl betont aber auch, dass dies in den „den anderen deutschen Bundesstaaten“ noch nicht der Fall ist (Gerathewohl: Sprecherziehung und Gesamtunterricht. S. 145 f.). 321 Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen und Ordnung der praktischen Ausbildung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1917). Heft 10. S. 612-661. Einzig im Nebenfach Deutsch wird „Übung im angemessenen Vortrag deutscher Gedichte“ gefordert (ebd. S. 620). Drach weist in seinem Aufsatz „Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität“ in einer Fußnote darauf hin, dass die neue preußische Prüfungsordnung Sprecherziehung nicht vorsieht (Drach: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 238 f.). 322 Drach: Wissen und Können. S. 342.

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eher umgekehrt verhält: Zeichenlehrer und Musiklehrer – es werden sowohl Frauen als auch Männer adressiert – können nun auch eine Prüfung in einem wissenschaftlichen Fach ablegen – sie werden gewissermaßen akademisch aufgewertet; von einer Gleichstellung der technisch-künstlerischen Bildung kann jedoch nicht die Rede sein. Sprechkunde wird bei den wahlfreien Fächern aufgeführt, aber eben nur als Wahlfach für das „künstlerische Lehramt“323. Als Prüfungsfach für Studierende anderer Lehramtsstudiengänge hat sich Sprechkunde damit noch nicht flächendeckend etabliert.324 Die Ausbildung künftiger Deutschlehrer im Bereich ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ bleibt somit eher dem Zufall überlassen. So stellt Richard Wittsack 1931 fest, dass in einem „Universitäts-Studienplan für künftige Deutschlehrer […], [n]achdem 20 Seiten lang Vorschläge zum Erforschen und zur Beschäftigung mit dem Ergon, den Denkmälern der Schrift also, gemacht worden sind, […] in bester Absicht auf der 21. Seite endlich mit einem einzigen Wort auf die Sprechsprache hingewiesen [wird]. Es wird den Studenten empfohlen, sich ‚nach Bedarf, Neigung und Möglichkeit‘ auch mit Vortragsübungen und Phonetik zu beschäftigen.“325

Er beklagt, dass „[o]hne amtlichen Zwang“ – also ohne Pflichtprüfung – „bei der heutigen Studienlage an unseren Universitäten keine wesentliche Besserung eintreten“ wird.326 Zwar gebe es Studierende, die freiwillig an sprechkundlichen Übungen teilnähmen, aber das seien gerade nicht die, die es am nötigsten hätten.327 Weiterhin findet er es „grotesk“, dass in der „Ergänzung der Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen durch die Bestimmung der Teilnahme an praktischen Übungen bei dem Hochschul-Turn- und Sportlehrer“328 vom 24. März 1925 zwar eine „obligatorische Beteiligung am Turnen 323 Prüfungsordnung für das künstlerische Lehramt an höheren Lehranstalten. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 64 (1922). Heft 12. Hier S. 264. 324 Dass Drach diese Prüfungsordnung missdeutet, ist symptomatisch für seine oft optimistische Sicht auf die Erfolge bei der Institutionalisierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘. Pabst-Weinschenk spricht das „Wunschdenken“ Drachs ebenfalls an (vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 325). 325 Wittsack, Richard: Stimme und Sprache in der neuen Lehrerbildung. In: Pädagogisches Zentralblatt 11 (1931). S. 370-383. Hier S. 371. 326 Ebd. S. 375. 327 Vgl. ebd. 328 Ergänzung der Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen durch die Bestimmung der Teilnahme an praktischen Übungen bei dem Hochschul-

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verlangt [wird], aber für die doch wohl ebenso wichtige, wenn nicht noch wesentlichere Ausbildung des künftigen Lehrers in Stimme und Sprache nichts“.329 ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ etabliert sich zwar als Angebot an der Universität, bleibt aber in der Regel nur ein Wahlfach und entfaltet damit nicht die Wirkungskraft disziplinierender Mechanismen, die maßgeblich auf Kontinuität und Zwang aufbauen.330 Der Besuch eines Kurses in diesem Bereich bleibt der freiwilligen Entscheidung des Einzelnen überlassen, ist in der Regel ein einmaliges Ereignis und bindet den Einzelnen somit nicht in ein gestuftes Raster aufeinander folgender Ausbildungsschritte ein331 – Merkmale, wie sie auch für die gegenwärtigen Angebote der Sprechstimmbildung charakteristisch sind. Eine Prüfung, die zum einen Ausbildungsziele normierend festschreibt und zum anderen ermöglicht, den Einzelnen in Hinblick auf diese Normen einzustufen332, wird nur für eine kleine Gruppe (der künstlerischen Fächer) und auch dort nicht verpflichtend eingeführt. Für Lehramtsstudenten und andere ‚Sprechberufe‘ verbleibt Sprecherziehung im Bereich der freiwilligen Weiterbildung, ähnlich den Angeboten außerhalb der Universität.333 Körperlicher Fitness wird in der Lehrerausbildung ein höherer Stellenwert beigemessen als stimmlichen und sprecherischen Fähigkeiten, was zeigt, dass es durchaus Abstufungen darin gibt, inwieweit der Körper Gegenstand und Zielpunkt disziplinierender Maßnahmen wird. Durch die Einrichtung der Lektorate ist Sprecherziehung zwar institutionell an der Universität verankert worden, unter dem Aspekt der Disziplinierungsgewalt jedoch in einer strukturell schwachen Position, in der sich die disziplinierenden Mechanismen nicht voll entfalten. Für die Schule ist es zwar durchaus als Erfolg zu sehen, dass die Sprecherziehung in die Ausbildungscurricula eingeschrieben wird. Die nicht erfolgte Umsetzung zeigt jedoch wiederum ihre schwache Position. ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ erhält damit in Universität und Schule nicht die Durchsetzungskraft, durch die Sprechstimmbildung zu einem festen Bestandteil der Körperdisziplinierung auf strukturell-institutioneller Ebene werden würde. Dennoch zeigt sich die Ausrichtung und Ausgestaltung der Institutionalisie-

Turn- und Sportlehrer. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1925). Heft 7. S. 104-105. 329 Wittsack: Stimme und Sprache in der neuen Lehrerbildung. S. 377. 330 Foucault spricht von „durchgängiger Zwangsausübung“ (Foucault: Überwachen und Strafen. S. 175). 331 Vgl. ebd. S. 204 f. 332 Die Prüfung stellt für Foucault, wie bereits erwähnt, eines der zentralen Disziplinierungsinstrumente dar (vgl. ebd. S. 220). 333 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt zu den Angeboten im ‚freien Bereich‘.

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rungsbemühungen an Universität und Schule als eindeutig geprägt von disziplinargesellschaftlichen Mustern und Strukturen. ‚Freier Bereich‘ der Angebote zu Sprechstimmbildung und Sprecherziehung Im Ausbildungssystem der Weimarer Republik verstehen sich die Volkshochschulen als die Institutionen, die Weiterbildung auch nach dem Abschluss von Schule und Hochschule ermöglichen sollen.334 So formuliert auch Erich Drach mit Blick auf die Sprecherziehung den Wunsch, „daß Hochschule und Volkshochschule dem einzelnen späterhin Gelegenheit geben, das in der Schule Erworbene zu erweitern und zu vertiefen“335. In gewissem Maße ist in diesem Aufbau des Bildungssystems bereits die Idee des ‚lebenslangen Lernens‘, wie McKenzie sie für die Performancegesellschaft als charakteristisch beschreibt336, angelegt. Allerdings liegt ein Unterschied darin, dass hier die Schule noch unumstritten die Ausbildungsinstitution ist, in der die grundlegende und umfassende Bildung stattfindet – was auch im Bemühen der Sprecherzieher deutlich wird, ihr Fach in der Schule zu etablieren. In den Volkshochschulen kann es dann, wie Drach schreibt, nur um Erweiterung und Vertiefung gehen. Die Seminarangebote der Volkshochschulen337, anderer Weiterbildungseinrichtungen wie dem ‚Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht‘ oder die Schulungsangebote von Vereinen 334 Vgl. z.B. zum Aufbau des Halle’schen Bildungswesen das Überblicksschema auf der letzten Seite der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der VHS Halle (10 Jahre Volkshochschule Halle. Festschrift. 1930). 335 Drach, Erich: Sprecherziehung. In: Zeitschrift für Deutschkunde 34 (1920). S. 424429. Hier S. 428. Einige der Universitätslektoren unterrichten auch an der Volkshochschule, bspw. Richard Wittsack, der in Halle Studienleiter der Volkshochschule ist (vgl. 10 Jahre Volkshochschule Halle. S. 15). 336 Vgl. McKenzie: Perform or else. S. 185. 337 An der Nürnberger Volkshochschule werden z.B. entsprechende Kurse angeboten: „Auch die zweite Volkshochschulabteilung, die Abteilung ‚Sprachen und Literatur‘ (B) befasste sich zunächst überwiegend mit der Behandlung von Klassikern älteren und jüngeren Datums. Neben die vorwiegend behandelten Klassiker traten ab Mitte der 1920er Jahre fremdsprachliche Vortragsreihen, die sich mit der Literatur bzw. mit der Kultur und Gesellschaft anderer Länder befassten. Nach und nach etablierten sich daneben Fremdsprachenkurse sowie Rhetorik- und Stimmbildungskurse.“ (Arend, Annette: Zwischen Programm und Praxis. Die Volkshochschule Nürnberg in der Weimarer Republik unter Berücksichtigung von Teilnehmer- und Dozentenperspektiven. Münster, New York, München, Berlin 2008 (= Erlanger Beiträge zur Pädagogik 5). Hier S. 232).

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wie dem ‚Deutschen Verein für Stimmbildung (Lehrweise Prof. Dr. Engel)‘ werden hier unter dem Begriff ‚freier Bereich‘ zusammengefasst, da es sich um Institutionen und Einrichtungen handelt, die von vornherein weniger strukturelle Disziplinierungsmacht entfalten. Zum ‚freien Bereich‘ gehören weiterhin die Angebote von frei arbeitenden Sprechstimmbildnern338, die ihre Schülerinnen und Schüler nach unterschiedlichen Methoden (teilweise einer von ihnen selbst entwickelten) in Privatstunden unterrichten.339 Die Teilnahme an den Angeboten ist freiwillig und erfolgt aus eigener Motivation, das heißt man muss die Ausbildungsinstitution oder den Lehrer jeweils selbst aufsuchen, um speziell dieses Angebot in Anspruch zu nehmen. Wie gezeigt wurde, haben allerdings in der Tat auch die Angebote an der Universität größtenteils diesen freiwilligen Charakter, da die Einführung von Pflichtprüfungen ausbleibt. Insgesamt zeigen sich hier bereits Strukturen, wie sie für die Performancegesellschaft charakteristisch sind. Allerdings gibt es, wie im Folgenden ausgeführt wird, auch Tendenzen im ‚freien Bereich‘ zu institutioneller Rückbindung und disziplinierender Regulierung, die sich von den gegenwärtigen Dynamiken unterscheiden, so dass sich auch hier die ambivalente Entwicklung in diesem Bereich zeigt. Erich Drach und mit ihm andere universitäre Fachvertreter bemühen sich, den ‚freien Bereich‘ zu regulieren und institutionell rückzubinden, vor allem indem sie eine Prüfung für Sprecherzieher zu etablieren versuchen. Zusammen mit dem ‚Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht‘ leitet die Lektorengemeinschaft 1930 die Gründung des ‚Deutschen Ausschußes für Sprechkunde und Sprecherziehung‘ (DAfSuS) in die Wege.340 Der DAfSuS gilt als Vorläufer der heutigen ‚Deutschen Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung (DGSS) e.V.‘, war allerdings – im Gegensatz zu dieser – kein breit ausgerichteter Berufsverband, sondern eine eher exklusive Vertretung der „führenden Schicht des Faches“341:

338 Auch Sprecherzieher arbeiten in diesem Bereich und geben Kurse zur „Stimmbildung“ oder „Sprechtechnik“, und grenzen sich dabei, wie wir noch sehen werden, von bestimmten Methoden der Sprechstimmbildung ab. 339 Wie im nächsten Kapitelabschnitt gezeigt werden soll, stellen diese auch die Negativfolie dar, von der sich das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ abgrenzt. 340 Vgl. Herbert Ahmels: Deutscher Ausschuß für Sprechkunde und Sprecherziehung. In: Sprechen und Singen: Monatsschrift für Sprecherziehung und Stimmbildung (1931). S. 107-111. Hier S. 107. Vgl. auch Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 305. 341 So stellt es Gerathewohl in einem Brief dar. Zitiert nach Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 321.

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„Mit dem DAfSuS versucht er [Drach; Anm. D. P.], zunächst eine wissenschaftlich gebildete Führungsschicht zu organisieren, der dann später eine breite Gesellschaft für S[prech]K[unde] und S[prech]E[rziehung] folgen konnte. Das ist schon das erklärte Ziel Drachs, eine breite Gesellschaft zu begründen, wie sie erst Mitte der 60er Jahre von H. Geissner verwirklicht wird. Nur Drachs Furcht vor den Pfuschern im Bereich S[prech]K[unde] hält ihn in den 30er Jahren davon ab – er hält die Grenze zwischen FachvertreterInnen und Pfuschern für zu labil, deshalb will er erst mit einem eingegrenzten Ausschuß die fachliche Oberschicht an Universitäten, höherer Schule, Volksschule und in den Schulbehörden zusammenfassen.“342

Das hauptsächliche Anliegen des Ausschusses ist die Einführung einer einheitlichen Prüfung für Sprechlehrer und die staatliche Anerkennung dieser Prüfung.343 Dem Ausschuss gelingt es auch tatsächlich eine Prüfung einzurichten, die von den Universitätslektoren durchgeführt wird; um die staatliche Anerkennung bemüht man sich jedoch vergeblich. So steht Drach zwar mit dem zuständigen Ministerium in Kontakt, aufgrund der Umstrukturierungen unter nationalsozialistischer Herrschaft und anderer Prioritätensetzungen nach 1933 kommen diese Bemühungen allerdings zum Erliegen. 344 Die Prüfung für die frei arbeitenden Sprecherzieher trägt jedoch dazu bei, die Inhalte ihrer Arbeit zu standardisieren und an bestimmten Konzeptionen auszurichten345; sie wirkt in diesem Sinne also auch normierend und ermöglicht eine Abgrenzung der Sprecherzieher von anderen Sprechstimmbildnern, gemäß der Frage, ob diese zu den geprüften Dozenten, die nach den einheitlichen Standards arbeiten, gehören oder zu den – wie wir unter 3.3.3 noch sehen werden – als verdächtig und unqualifiziert eingestuften ‚Scharlatanen‘. Über die Etablierung der Prüfung als einem Instrument der Disziplinierung beginnt eine Kontrolle über den Bereich der frei arbeitenden Sprechstimmbildner, die Grenzziehungen erlaubt und damit normierend wirkt. Ähnlich wie an Universität und Schule fehlt jedoch auch hier das letzte Momentum der Legitimation und Durchsetzungskraft: die staatliche Anerkennung. Dass die Sprecherziehung zwischen 1919 und 1933 trotz allem einen gewissen Wirkungsgrad in der Lehrerausbildung erhält, auch wenn sie nicht zum Pflichtprüfungsfach an der Universität wird, kann man daran sehen, dass Sprecherziehungskurse zum festen Bestandteil des Seminarangebots am ‚Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht‘ (ZI) gehören. Das Zentralinstitut, das aus 342 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 297. 343 Vgl. Ahmels: Deutscher Ausschuß für Sprechkunde und Sprecherziehung. S. 107. Sowie Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 310 f. und 325 f. 344 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 326 f. 345 Auf die inhaltliche Ausrichtung gehe ich unter 3.3.3 ein.

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der Idee eines Reichsschulmuseums entstanden war, wird 1915 eröffnet und soll eine „Sammel-, Auskunfts- und Arbeitsstelle“346 sein, also unter anderem pädagogische Materialien sammeln, Auskunftsstelle für das Schulwesen sein und Fortbildungen für Lehrer anbieten. Zu den Fortbildungsangeboten gehören auch die Lehrgänge im Bereich ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, die sich an „Angehörige redender Berufe“347, insbesondere aber an Lehrer richten.348 Das Zentralinstitut ist in verschiedene Abteilungen unterteilt.349 Von 1915 bis 1925 gehört die Sprecherziehung zur Pädagogischen Abteilung, in der Drach bis 1925 als Leiter des Bereichs für Berufssprecher arbeitet.350 Ab 1925 wird die Sprecherziehung dann unter der Leitung von Hans Lebede in die Kunstabteilung eingegliedert351, wodurch sich auch eine neue inhaltliche Ausrichtung ergibt. 352 Seit 1932 erfolgt eine stärkere institutionelle Verankerung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung, da die Angebote nicht mehr über das ZI, „sondern in besonderen Lehrgängen für Studienreferendare durchgeführt [werden], die Lebede im Auftrag der Abteilung für höheres Schulwesen beim Oberpräsidenten von Brandenburg und Berlin eingerichtet und geleitet hat“353. Als eine von den Bemühungen der Universitätslektoren zunächst unabhängige Form der Institutionalisierung von Stimmbildung ist der ‚Deutsche Verein für Stimmbildung (Lehrweise Prof. Dr. Engel)‘ zu sehen, der im Folgenden als Engel-Verein bezeichnet wird.354 Er bemüht sich wie die Vertreter der Sprecher346 Zehn Jahre Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. 1915-1925. Berlin 1925. Hier S. 38. 347 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 140. 348 Auf die inhaltliche Ausrichtung des Seminarangebots gehe ich unter 3.3.2 noch ein. 349 Diese Abteilungen sind die ‚Pädagogische Abteilung‘, die ‚Auslandsabteilung‘, die ‚Ausstellungsabteilung‘, die ‚Kunstabteilung‘ und die ‚Bildstelle‘ (vgl. Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1927. Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin 1928. Hier S. 274 f. Vgl. auch Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 132). 350 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 127. 351 Vgl. ebd. S. 134 f. Sowie Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1927. S. 275. 352 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 153. 353 Ebd. S. 150. 354 Die universitären Sprecherzieher und der Verein stehen sich zunächst antagonistisch gegenüber. Das zeigt sich auch über die inhaltliche Abgrenzung, die die Sprecherzieher bei der Konzeption ihres Faches gegenüber dem Verein vornehmen (vgl. Kapitel 3.3.3). So intervenieren die Lektoren, als der Verein versucht seine Methode außerhalb Sachsens zu etablieren (vgl. Oskar Barsch: 25 Jahre Deutscher Verein für Stimmbildung. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Stimmbildung. O.O. 1934.

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zieherbewegung um die Etablierung von Stimmbildung in der Lehrerausbildung und an den Schulen355 und erzielt damit vor allem in Sachsen einige Erfolge. Der Verein wird 1909 von Schülerinnen und Schülern von Carl August Eduard Engel zunächst als ‚Verein zur Verbreitung der Stimmbildungslehre von Prof. Engel‘ in Dresden gegründet und 1927 umbenannt.356 Engel, der zunächst Kaufmann war und dann Konzertsänger wurde, hatte eine eigene Stimmbildungsmethode entwickelt und teils im Privatunterricht, teils im Auftrag von Schulämtern damit gearbeitet.357 Er stand der Arbeit des Vereins wohlwollend gegenüber; als er sich jedoch aus Altersgründen von der Vereinsarbeit zurückzog, beanspruchte 1922 sein Sohn Dr. Eduard Engel „das alleinige Recht der Auslegung und Bewertung der Lehrweise ‚mit Gültigkeit für alle Fach- und Richtfachleute‘, ferner das Recht, die Art und Weise einer Lehrberechtigungserteilung nach der Lehrweise Engels zu bestimmen und über die Ausstellung der Lehrberechtigungsurkunden eigenmächtig und unbeschränkt zu verfügen. Ferner beanspruchte er, die Prüfungsbestimmungen selbständig festsetzen zu können. Prof. Engel erklärte dazu, daß er in seinem Sohn seinen berufenen Mitarbeiter und Nachfolger erblicke.“358

Es kommt zur Trennung zwischen Prof. Engel und dem Verein; in der Folge gibt der Sohn Dr. Engel ein Buch zur Lehrweise seines Vaters heraus, das der Verein ablehnt, „weil es schwerwiegende Irrtümer aufwies und teilweise Ansichten vertrat, deren Unhaltbarkeit neue wissenschaftliche Feststellungen erwiesen hatten“359. In der Wahrnehmung der Methode durch Außenstehende wird diese Divergenz jedoch – gefördert durch die Darstellung im Buch Dr. Engels – oft nicht wahrgenommen.360 1927 gründet der Sohn einen ‚Bund der Engelschüler‘ und der Verein ändert seinen Namen.361 Zu diesem Zeitpunkt hat der Verein Hier S. 57). Mit der Zeit kommt es jedoch zu einer gewissen Annäherung des Vereins in Richtung Sprecherzieherbewegung. So heißt es bei Barsch 1934: „Der Wissenschaftliche Ausschuß hat die Aufgabe, die Lehrweise Engels, soweit möglich wissenschaftlich zu begründen und sie in das umfassendere Gebiet der Sprechkunde und Sprecherziehung einzugliedern.“ (Ebd. S. 40). 355 „Das Ziel des Vereins war deshalb die Eingliederung der Stimmbildung in die Lehrpläne.“ (Ebd. S. 58). 356 Vgl. ebd. S. 20. 357 Vgl. ebd. S. 13-16. 358 Ebd. S. 17. 359 Ebd. S. 19. 360 Vgl. ebd. S. 19. 361 Vgl. ebd.

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„über 1000 Mitglieder“362 und ist vor allem in Sachsen sehr erfolgreich, wobei sich das Vereinszentrum im Laufe der Zeit von Dresden nach Chemnitz verlagert. Lehrer erhalten durch den Verein Weiterbildungsseminare nach der EngelMethode363 und der Verein verleiht ein Diplom für Sprechlehrer364, die nach der Engel-Methode ausgebildet wurden – Vorbild für die später vom DAfSuS eingeführte Prüfung. Die Arbeit des Vereins ist insofern relevant für die Frage nach der strukturellen Verankerung der Sprechstimmbildung in Disziplinarsystemen, als die Bemühungen um Etablierung der Engel-Methode ähnlich verlaufen wie die der Universitätslektoren im Hinblick auf die Sprecherziehung. Zu den Erfolgen des Vereins gehört, dass in Chemnitz 1917 eine ‚Städtische Arbeitsstelle für Stimmpflege‘ eingerichtet wird.365 1926 stellt der sächsische Staat dann erstmals „größere Mittel für Stimmbildung“366 zur Verfügung, die in die Ausbildung der Volksschullehrer nach der Engel-Methode fließen soll367. Die Teilnahme an den Kursen ist jedoch freiwillig368, um die Etablierung als Pflichtfach bemüht sich auch der Engel-Verein vergeblich.369 Interessanterweise thematisiert der Verein das Problem der Unverbindlichkeit nicht nur, wie es ja auch die Universitätslektoren tun, sondern er versucht dem mit Disziplinierungsmaßnahmen entgegenzuwirken. Dabei erhält er zumindest argumentative Unterstützung von Seiten des Ministeriums: „Das Ministerium erwartet, daß die Teilnehmer in enger Fühlung mit der Stimmbildungsbewegung bleiben, planmäßig weiterüben und das Erlernte im Schulunterricht verwerten.“370 Besonders in Chemnitz, durch die Arbeitsstelle eine ‚Hochburg‘ der Stimmbildungslehre nach Engel, zeigt sich jedoch, dass dies nicht der Realität entspricht und vor allem die Verstetigung der Stimmarbeit bei den Seminarteilnehmern ein Problem darstellt:

362 Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 87. 363 Ebd. S. 86. 364 Der Begriff ‚Diplom‘ führt zu Konflikten und wird 1933 durch ‚Lehrberechtigung im Sprechen‘ ersetzt (vgl. Barsch: 25 Jahre. S. 38). 365 Vgl. Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 86. 366 Barsch: 25 Jahre. S. 49. 367 Vgl. ebd. 368 Widerstand gegen die Durchsetzung kommt v.a. von den Lehrern selbst: „Junglehrer, die bei ihrer Anstellung verpflichtet worden waren, einen Stimmbildungslehrgang zu durchlaufen, weigerten sich, die Vereinbarung zu erfüllen, mit dem Erfolge, daß grundsätzlich die Freiwilligkeit der Kurse festgelegt wurde.“ (Ebd. S. 53). 369 Vgl. ebd. S. 50 f. 370 Ebd. S. 50.

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„Bedenklich[…] […] war, daß sich mit der Aufnahmefreudigkeit der Chemnitzer Lehrer nicht in ausreichendem Maße der Wille zu dauernder Befestigung der erworbenen Bildungsgüter verbanden. Die Übungen des Chemnitzer Ortsvereins litten unter geringem Besuch, und eine Rundfrage ergab, daß in zahlreichen Schulen die Lehrer auf die Anwendung der Stimmbildung im Unterricht, auf die Weiterleitung an die Kinder, verzichteten.“371

Als Gegenmaßnahme wird eine Verpflichtungserklärung erstellt, „die fortan jeder Lehrer abzugeben hatte, ehe er zu einem Stimmbildungskursus zugelassen wurde. Durch diese Bestimmungen verpflichtete sich der Lernende, nach Beendigung des Ausbildungslehrgangs für sich weiter zu üben, mindestens fünf Jahre lang dem Deutschen Verein für Stimmbildung anzugehören und dessen Übungsabende regelmäßig zu besuchen, sowie die im Kurs erworbenen Bildungsgüter dauernd zu gebrauchen, insbesondere sich zu bemühen, das Erlernte möglichst auch in der Umgangssprache festzuhalten und zu verwerten.“372

Im Hinblick auf die Umsetzung im Schulunterricht verpflichten sich die Lehrer, die Kinder „nicht nur gelegentlich auf eine schöne und richtige Aussprache hin[zu]weisen [auch hier zeigt sich das Bestreben um eine vereinheitlichte Aussprache; Anm. D. P.], sondern sie bewußt und planmäßig in die Sprechtechnik ein[zu]führen, die der Deutsche Verein für Stimmbildung vertritt.“ 373 Den strukturellen Defiziten in der institutionellen Verankerung und Durchsetzungskraft der Sprechstimmbildung versucht der Verein also durch eigene Regulierungsmaßnahmen entgegenzutreten. Auch in der Ausbildung seiner DiplomLehrkräfte374 setzt der Verein relativ rigide Maßnahmen ein, um diese inhaltlich an den Verein zu binden und ihre Arbeit zu kontrollieren: „Die Diplom-SprechlehrerInnen müssen dem Verein gegenüber einmal im Jahr alle ihre SchülerInnen, die sie nach der Lehrweise Engels unterrichten, bekanntgeben; sie verpflichten sich, nur die Engel-Bücher zu verwenden, ihre Kurse in bestimmter Weise zu organisieren und dabei auch des Urhebers Engel zu gedenken. […] Für die Einhaltung der

371 Ebd. S. 53. 372 Ebd. S. 54. Oskar Barsch wertet diese Disziplinierungsmaßnahmen in seinem Rückblick als Erfolg, da die Zahl der Ausgebildeten bis 1930 kontinuierlich gestiegen ist. 373 Ebd. 374 Lehrer dürfen die Methode im Unterricht anwenden, ohne das Diplom des Vereins zu haben (vgl. Barsch: 25 Jahre. S. 54).

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Diplomierungsbestimmungen sorgen Konventionalstrafen (RM 200,-), die bei Nichtbeachtung verhängt werden.“375

Neben die Disziplinierungsmaßnahme der Selbstverpflichtung der Lehrer tritt hier die Sanktion der Geldstrafe, eine Form der ‚Sub-Justiz‘, wie Foucault sie als Merkmal der Disziplinarsysteme beschreibt.376 Auch im ‚freien Bereich‘ gibt es also Bemühungen, diesen zu strukturieren und zu regulieren, wobei ähnlich wie an Universität und Schule mangelnde Kontinuität und fehlende Verpflichtung das strukturelle Defizit bei der Institutionalisierung der Sprechstimmbildung ausmachen. Überblickt man diese Entwicklungen an Universität, Schule und im ‚freien Bereich‘, so wird deutlich, dass es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchaus zu einer Institutionalisierung von Sprechstimmbildung innerhalb des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ kommt und dass daneben zahlreiche Seminarangebote zur Sprechstimmbildung für das große Interesse zeugen, das die Ausbildung der Stimme und des Sprechens in diesem Zeitraum erfährt. Gleichzeitig fehlt diesen Entwicklungen jedoch das letzte Momentum von Durchsetzungskraft, das den disziplinierenden Mechanismen im Allgemeinen zu eigen ist, das heißt es kommt nicht zu einer umfassenden, institutionell getragenen Disziplinierung der Stimme und des Sprechens. Die Disziplinierung der Stimme und des Sprechens erhält zwar Einzug in verschiedene Disziplinarinstitutionen, erlangt dort aber keine Priorität. Trotz aller nationalpolitischen, gesellschaftlichen und medizinischen Relevanz, die man der Sprechstimme und ihrer Ausbildung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zuerkennt, scheinen sie nicht zu den Faktoren zu gehören, die zentral für die disziplinargesellschaftlichen Formen der Leistungssteigerung und Kräftevermehrung sind, und erfahren deshalb auch keine umfassende Eingliederung in die entsprechenden institutionellen Strukturen. Die Tatsache, dass sich bereits ein Bereich der frei arbeitenden Sprechstimmbildner entwickelte, weist auf die ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft voraus. Fanden frei arbeitende Sprechstimmbildner auch vor 1945 schon Kunden, dann muss es auch hier bereits ein Bedürfnis nach einer Vorbereitung auf gesellschaftliche Kommunikationsanforderungen gegeben haben.377 Auch wenn sich die ökonomischen Dynamiken seit 1945, insbesondere aber seit den 1970er Jahren fraglos verändert haben, so wäre doch ausgehend vom Befund im Bereich der Sprech375 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 294. 376 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 230. 377 Die gesellschaftlichen Kommunikationsanforderungen der Gegenwart werden in Kapitel vier ausführlich zur Sprache kommen.

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stimmbildung McKenzies strikte Abgrenzung einer auf Warenproduktion ausgerichteten Disziplinargesellschaft von der gegenwärtigen Dienstleistungsgesellschaft noch einmal zu differenzieren und der Frage nachzugehen, inwiefern gegenwärtige ökonomische Dynamiken ihre Anfänge bereits vor 1945 nehmen – auch wenn sie dort noch nicht in so ausgeprägtem Maße auftreten wie heute. Gleichzeitig ist jedoch noch einmal zu betonen, dass das vehement vertretene Anliegen, Sprechstimmbildung im Fachkontext der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ in die disziplinargesellschaftlichen Strukturen einzugliedern oder aber auch der Arbeit im ‚freien Bereich‘ disziplinierende Konturen zu geben, als charakteristisch für die erste ‚Hochphase‘ der Sprechstimmbildung zu beschreiben ist. Die institutionelle Entwicklung der Sprechstimmbildung in dieser Zeit ist somit als ambivalentes Phänomen mit Merkmalen sowohl der Disziplinar- als auch der Performancegesellschaft zu beschreiben. Wie in Kapitel 3.1 hinsichtlich der Verankerung der Aussprachenormierung in der Schule bereits angemerkt wurde, soll hier zudem noch einmal angemerkt werden, dass auch innerhalb der disziplinierenden Dynamiken ambivalente Effekte greifen: den Tendenzen zur Uniformierung, wie sie etwa dem nationalpolitischen Ziel der Vereinheitlichung der Aussprache zu Grunde liegen, stehen Differenzierungseffekte und damit auch soziale Hierarchisierungen gegenüber, die insbesondere auch mit dem Sprechen einhergehen. Das nationalpolitische Anliegen nach Vereinheitlichung steht in einem Spannungsverhältnis zu Bedürfnissen nach Differenzierung, wobei beide als Ausdruck von Macht zu verstehen sind. Von Interesse wird dies noch einmal in der Zeit des Nationalsozialismus sein, in der die Sprecherziehung zwar erheblich mehr Gewicht in den Institutionen erhält, sich aber gleichwohl auch Differenzierungseffekte beobachten lassen. 3.3.2 Die Ausgestaltung der Sprecherziehung in Lehrplänen und Schulungsangeboten Trotz der schwachen Durchsetzungskraft der Sprecherziehung auf institutionellstruktureller Ebene ist die Frage, wie Sprecherziehung in den Richtlinien für die Lehrpläne der Schule und im ‚freien Bereich‘ ausgestaltet wurde, von Interesse, wenn es darum geht, den Stellenwert der Sprechstimmbildung – die ja, wie erwähnt, nur ein Teilbereich der Sprecherziehung war378 – zu untersuchen. Dabei lässt sich auch in den Blick nehmen, inwiefern die Sprechstimmbildung hier Teil typischer Disziplinarmechanismen wird, wie es etwa die Ausrichtung auf das

378 Auf die inhaltliche Konzeption des Faches gehe ich im nächsten Kapitel ein.

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Detail,379 die Herstellung von Kontinuität in der Einübung380 sowie die gestuften Ausbildungsprogramme darstellen.381 Diese Aspekte werden exemplarisch an den Richtlinien für die Lehrpläne Preußens sowie am Schulungsangebot des ‚Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht‘ (ZI) aufgezeigt. Sprecherziehung in den Richtlinien für die Lehrpläne Preußens In den „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens“382 wird unter den „Methodischen Bemerkungen“ zum Fach Deutsch die Sprecherziehung verankert und an relativ prominenter Stelle – gleich nach dem ersten Punkt „Schulsprache“ – angeführt: „2. Sprecherziehung. Sprecherziehung ist während der ganzen Schulzeit notwendig. Sie beginnt mit Atem-, Laut- und Freisprechübungen, die sich möglichst bald von der rein körperlichen zu körperlich-geistigen Übung vertiefen. In VI und V ist der Grund zu legen, insbesondere bei den Schülern, die die richtige Gewöhnung von früher her nicht mitbringen. In den späteren Jahren muß bei jeder Sprechleistung des Schülers, vor allem beim Reden, Lesen und Vortragen, dieses Ziel im Auge behalten werden; die in der sprachgefährdeten Pubertätszeit drohenden Entwicklungshemmungen müssen vermieden werden. In ständiger Fühlungnahme mit dem Musik- und neusprachlichen Unterricht ist der Schüler dahin zu bringen, daß ihm seine persönliche Stimme- und Sprachleistung nach Tonlage und sonstiger Ausdruckseigenart bekannt wird. Zu natürlich lebendiger, zweckmäßig sinnvoller Sprechweise ist er anzuleiten.“383

Unter Sprecherziehung werden hier also zunächst Sprechstimmbildungsübungen in Form von Atem- und Lautübungen verstanden, die dann schnell zu körperlichgeistigen Übungen übergehen sollen. Diese Forderung verweist auf die methodischen Konzeptionen der Sprecherziehung, auf die im folgenden Kapitel noch 379 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 175 sowie: „Die Disziplin ist eine politische Anatomie des Details.“ (ebd. S. 178). 380 Vgl. ebd. S. 175. 381 „Diese Disziplinarzeit greift allmählich auf die pädagogische Praxis über – und spezialisiert die Zeit der Ausbildung, indem sie sie von der Erwachsenen-Zeit, von der Berufs-Zeit ablöst; indem sie durch abgestufte Prüfungen voneinander geschiedene Stadien organisiert; indem sie Programme festlegt, die jeweils während einer bestimmten Dauer ablaufen müssen und Übungen von zunehmender Schwierigkeit enthalten; indem sie die Individuen je nach dem Durchlauf durch diese Serien qualifiziert.“ (Ebd. S. 205). 382 Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens (1925). 383 Ebd. S. 9.

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einzugehen ist. Da „Lesen“, „Auswendiglernen“ (und damit verbunden der Vortrag von Gedichten) sowie „Redeübungen“ dann als eigene Punkte im Anschluss an die Sprecherziehung angeführt werden, entsteht jedoch der Eindruck, dass Sprecherziehung hier stark mit Sprechstimmbildung gleichgesetzt wird und nicht als Oberbegriff fungiert. In den Hinweisen zu den Redeübungen wird gefordert: „Durch die mündlichen Übungen soll der Schüler dazu erzogen werden, das, was er zu sagen hat, richtig, geordnet, unbefangen und eindrucksvoll auszusprechen. Ein wichtiges Mittel dazu ist, die Freude der Kinder am Erzählen zu fördern, die natürliche Frische ihres Ausdrucks, ebenso auch die natürliche Gebärdensprache zu erhalten und zu pflegen.“384

Der Schüler soll dabei nicht zu oft unterbrochen oder zurechtgewiesen werden. Er soll lernen frei zu sprechen: „Bei längeren Berichten sind die Schüler dazu zu ermutigen, sich mit Stichworten zu begnügen und die sprachliche Formung dem Augenblick zu überlassen, um so allmählich zum völlig freien Vortrag heranzureifen. Wichtig ist, daß der Schüler sich daran gewöhnt, vor der Klasse zu sprechen und seinen Hörern ins Auge zu sehen. Eine bestimmte Stellung von ihm zu verlangen, hieße zur Unnatur erziehen.“385

Neben der Sprechstimmbildung geht es hier also vor allem allgemein um den guten und sinnrichtigen Ausdruck beim Sprechen, insbesondere beim Erzählen, Lesen und Vortragen. Auch wird, wie schon bei Siebs, vor „Unnatur“ gewarnt, diesmal mit Blick auf einen möglicherweise gestellt wirkenden Vortragsstil. Im Anschluss an die „Methodischen Bemerkungen“ werden für jedes Fach die Lehraufgaben nach Jahrgängen aufgelistet, also jenes gestufte Lernprogramm entworfen, das Foucault als typisch für die „Organisation von Entwicklungen“ 386 in den Disziplinarinstitutionen beschreibt. Sprecherziehung wird hier allerdings nicht mehr direkt genannt, ihre Aufgaben teilweise unter den Bereichen „Lautlehre“ und „Mündliche Übungen“ aufgeteilt: In der Lautlehre geht es um die richtige Bildung der Laute, wobei diese zunehmend in den „Rahmen des Lesens, Redens und Vortragens“ eingebettet und in den höheren Klassen durch sprach384 Ebd. S. 9. 385 Ebd. S. 10. Die Klasse soll zum Feedback über die Vorträge angehalten werden. Es folgen ein Abschnitt zu schriftlichen Übungen sowie zu Sprachlehre, Schrifttum, literaturgeschichtliche Belehrungen, Poetik, Volkskunde, Kunstbetrachtung, philosophische Vertiefung, staatsbürgerliche Erziehung, Konzentration und Freie Arbeitsgemeinschaften. 386 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 201-203.

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geschichtliche Betrachtungen ersetzt wird. Die mündlichen Übungen sehen „Übungen im sinnvollen Lesen, Erzählen und Gedichtvortrag“, freies Berichten und Erzählen und in den unteren Jahrgangsstufen „kleine Aufführungen von Selbstgestaltetem und Auswendiggelerntem“ vor.387 In der Obersekunda geht es um „weitere Übungen im sprechkünstlerischen Lesen, Vortragen und freien Sprechen“; in der Prima werden bei den mündlichen Übungen „planmäßige Übungen in der freien Rede, im Streitgespräch und im künstlerisch geformten Vortrag“ gefordert.388 Aus dem Bereich der Sprechstimmbildung werden also in den klassenspezifischen Ausführungen nur Hinweise zur Artikulation genannt, der Schwerpunkt liegt auf dem sinnrichtigen Reden und Vortragen. Es werden keine konkreten Übungen genannt. Die mündlichen Beiträge sind nicht als Prüfungsform aufgeführt389, was diesen Lehrinhalten einen weniger verpflichtenden Charakter gibt. Sprecherziehung wird also als methodischer Grundsatz in den Richtlinien verankert – was durchaus der Forderung Drachs entspricht – und wird auch in das jahrgangsspezifische Lehrprogramm eingebunden. Die Ausführungen konzentrieren sich hierbei jedoch weniger auf die Sprechstimmbildung als vielmehr auf Sprechfertigkeit, also sinnvollen Ausdruck beim Reden, Lesen und Vortragen. Dies stellt durchaus eine Schwerpunktverlagerung im Vergleich zu anderen Entwürfen zu Schullehrplänen dar, die der Sprechstimmbildung mehr Gewicht beimessen.390 Auch wenn die Ausführungen bestimmte Übungsbereiche erwähnen, so werden jedoch keine detaillierten und konkreten Übungsprogramme aufgestellt.391 Die mündlichen Übungen im Bereich der Sprecherziehung waren zudem nicht als Gegenstand von Prüfungen vorgesehen. In den Richtlinien anderer Schulformen wird Sprecherziehung, wie bereits unter 3.3.1 erwähnt, ebenfalls verankert, jedoch in wesentlicher knapperer Form. In den Richtlinien für die Grundschule heißt es: „Auf schönen Vortrag der gelernten Gedichte, der jedoch nicht in Geziertheit ausarten darf, ist planmäßig hinzuwirken, wie auch sonst lautreine und deutliche Aussprache und ausdrucksvolles Sprechen sorgfältig, soweit erforderlich, auch durch geeignete sprechtechnische Übungen, gepflegt werden muß.“392 Auch hier zeigt sich also die 387 Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens (1925). S. 54. 388 Alle Zitate: ebd. S. 54-57. 389 Vgl. ebd. S. 3-4. 390 Vgl. bspw. die von Ministerialrat Hans Richert herausgegebenen Richtlinien für einen Lehrplan der Deutschen Oberschule und der Aufbauschule. 2. Aufl. Berlin 1924 (= Verfügungen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 6). 391 Dies war der konkreten Ausgestaltung der Lehrpläne an den einzelnen Schulen überlassen, die jedoch – wie bereits erwähnt – die Sprecherziehung ganz strichen. 392 Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule. S. 187.

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Angst vor einem unnatürlichen Vortragsstil. Der Hinweis in den „Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule“ ist wenig spezifisch auf Sprecherziehung ausgerichtet, beziehungsweise verweist auf die Unterweisungen in der Grundschule: „Vielseitige mündliche und schriftliche Übungen zur Erzielung zunehmender Sicherheit im richtigen Sprachgebrauch sind in allen Klassen fortzusetzen.“393 In den „Bestimmungen für die Mittelschule“ wird besonderer Wert auf den freien Vortrag gelegt. Er soll die Schüler „dazu befähigen, ohne Scheu vor Lehrern und Mitschülern ihre Gedanken sinnvoll und übersichtlich, deutlich und sauber gesprochen darzulegen“394. Dabei wird aber auch die Sprechtechnik erwähnt: Im Deutschunterricht bieten „Übungen im ausdrucksvollen Lesen und im Gedichtvortrage […] Gelegenheit zu sprechtechnischer Vervollkommnung, vor allem dann, wenn sie von planmäßig betriebener Stimm- und Sprachbildung begleitet werden“395. Auch hier erscheint also Sprecherziehung im Lehrplan, wenn auch nicht so ausführlich ausgeführt wie in den Richtlinien für die höheren Schulen. Die Anforderungen werden in diesen Schularten jedoch nicht so genau nach Jahrgängen spezifiziert. Mit der Verankerung in den Richtlinien für unterschiedliche Lehrpläne erlangt die Sprecherziehung formell einen gewissen Status innerhalb der schulischen Ausbildungscurricula. Die Aufschlüsselung nach jahrgangsspezifischen Anforderungen zumindest in den höheren Schulen zeigt dabei auch das Charakteristikum disziplinierender Mechanismen. Dennoch stellen diese keine detailgenaue Aufschlüsselung der Lernstufen dar und es fehlt zudem die verbindliche Festlegung von inhaltlichen Standards und die Einordnung der Leistung der einzelnen Schüler durch eine Prüfung. Dies zeigt noch einmal, dass die Sprecherziehung zwar versucht, sich in die Logiken der Disziplinarinstitution Schule einzuschreiben, es ihr aber nicht vollständig gelingt. Sprecherziehung am ‚Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht‘ (ZI) Am ‚Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht‘ werden ab 1915 einzelne Vorträge und Übungen und von 1919 bis 1925 dann umfassendere Seminare im Bereich Sprechkunde und Sprecherziehung angeboten: 1915/16 „Übungen im Sprechen“, 1918/19 eine Vorlesung „Stimmbildung und Sprachpflege im Diens-

393 Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule. S. 174. 394 Bestimmungen über die Mittelschulen in Preußen. S. 12. 395 Vgl. ebd.

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te der Schule.“396; 1919 folgt ein „Lehrgang für Sprechen, Reden, Vortragen“ 397; 1920 ein „Seminar für Berufssprecher“398; 1921 ein „Seminar für Sprechkunde“399; 1922 ein „Seminar für Sprechkunde“400 und 1924/25 ein „Lehrgang für Sprechtechnik“401. Trotz unterschiedlicher Titel bleiben die Inhalte und der Ablauf relativ konstant. Die Kurse gehen über mehrere Wochen, die Sitzungen werden von verschiedenen Dozenten bestritten, wobei meist nicht genauer aufgeführt wird, welche Themen über wie viele Sitzungen behandelt werden. Der Mediziner Theodor S. Flatau hält zum Beispiel einige medizinisch ausgerichtete Vorträge und Übungen. Im Bereich der Sprechkunde werden alle drei Teilgebiete abgedeckt, so zum Beispiel durch Richard Wittsack „Übungen im Vortrag von Dichtungen“ oder durch Adolf Damaschke „Von der Bedeutung, der Geschichte und der Anwendung der Redekunst“402, wobei der Bereich der Rhetorik im Vergleich zu Stimmbildung und Kunstvortrag etwas weniger vertreten ist. Das mag daran liegen, dass die Hauptzielgruppe Lehrer sind, auch wenn sich die Kurse laut Ankündigung an alle Berufssprecher richten.403 Im Bereich der Sprechstimmbildung werden sprechtechnische Übungen genannt404: So hält Drach 1919 Sitzungen zur „Methodik der Stimm- und Sprachbildung“, die aus einer „Vorlesung“, „Sprechtechnischen Übungen“, einem „Praktikum im Stimmbilden“ und einem „Praktikum im Deutschunterricht an einer höheren Lehranstalt“ bestehen. Es gibt zudem eine eigene Sitzung „Psychologie und Philosophie der Sprache“405. Genauere Rückschlüsse auf die Konzeption und Methodik sind jedoch 396 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 144. Sowie Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1920. Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin 1921. Hier S. 19 und S. 27. Und Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1921. Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin 1922. Hier S. 177 und 185 f. 397 Pädagogisches Zentralblatt 1 (1919/20). Hier S. 18. 398 Ebd. S. 373 f. 399 Pädagogisches Zentralblatt 2 (1921). Hier S. 206. 400 Pädagogisches Zentralblatt 3 (1922). Hier S. 313. 401 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 140-143. 402 Beide 1919 (vgl. ebd.). Sowie Pädagogisches Zentralblatt 1 (1919/20). S. 18. 403 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 140. Sowie Pädagogisches Zentralblatt 1 (1919/20). S. 18. 404 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 141. Sowie Pädagogisches Zentralblatt 1. (1919/20). S. 18. 405 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 141. Sowie Pädagogisches Zentralblatt 1 (1919/1920). S. 18.

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aufgrund der Seminarankündigungen nicht möglich. Im Vergleich zur Aufschlüsselung in den Richtlinien für die Schulen sind die Seminarankündigungen wesentlich knapper.406 1925 wechselt die Sprecherziehung im ZI von der pädagogischen Abteilung in den Bereich der Kunstabteilung und wird zusammen mit Laienspiel angeführt – es findet also eine Verlagerung weg vom Deutschunterricht hin zum Theater statt. Folgende Veranstaltungen werden für den Zeitraum 1925 bis 1929 aufgelistet: „1. Fünfter Lehrgang von Oktober bis Dezember 1925 (81 Teilnehmer, 49 Einzelzuhörer). 2. Winter 1926/27: Sprechchorübungen unter Leitung von Hannah Zweig. 3. Januar 1927: Zwei Tagungen Sprecherziehung in Gemeinschaft mit dem Thüringischen Ministerium für Volksbildung in Weimar und in Jena (Dr. Lebede und Lektor Buch; 300 beziehungsweise 250 Teilnehmer). 4. Sprechtechnikkurse unter Leitung von Graef und Schmidt-Born. 5. April bis Juni 1927: VI. Lehrgang des Sprechseminars (17 Teilnehmer). 6. Juni/Juli 1927: ‚Kursus Sprecherziehung für Ausländer und Auslandsdeutsche.‘ 7. Januar bis März 1928: Sprechtechnikkurse wie Nr. 4. 8. Übungen im Prosa-Lesen, Dr. Michelis. 9. Übungen in freier Rede und Diskussion, Dr. Gerathewohl aus München. 10. Neuzeitlicher Deutschunterricht und Sprecherziehung. Im Rahmen der Ausländerwoche, Juni/Juli 1928. 11. Sprechtechnik für Anfänger (zwei Kurse), Graef und Schmidt-Born, Oktober bis Dezember 1928. 12. Sprechchorübungen, Christians, Oktober bis Dezember 1928. 13. Sprechtechnik für Fortgeschrittene (zwei Kurse), Graef und Schmidt-Born, Januar bis März 1929. 14. Stilformen der Vortragskunst, Drach, Januar/Februar 1929.“407

Neben neuen Bereichen wie Sprechchorübungen und Sprecherziehung für Ausländer nehmen die nun explizit so benannten Sprechtechnikkurse wesentlich mehr Raum ein, auch wenn Kunstvortrag und freie Rede noch vertreten sind. Oktober bis Dezember 1929 folgt noch einmal ein Kurs „im gesundheitlichen, lautrichtigen und tragfähigen Sprechen“408. Außerdem beginnt man „die Durch406 Die zunehmend kürzer werdenden Seminarankündigungen wertet Pabst-Weinschenk als Zeichen für „die Institutionalisierung des Angebots“ (Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 144). 407 Ebd. S. 147 f. Sowie Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1928/29. Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin 1930. Hier S. 193 f. 408 Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1929/30. Mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Berlin 1931. Hier S. 196. Aufgrund der Inflation wird 1930 ein Lehrgang in Buchform mit Schallplatten herausgegeben, der die sprecherzieherischen Lehrgänge des

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führung eines großzügig angelegten Planes zur sprecherzieherischen Ausbildung der Lehrkräfte an den Berliner Schulen“, wobei je zwölf Doppelstunden für den „sprechtechnischen und den künstlerischen Teil der Arbeit“ veranschlagt werden, Rhetorik spielt hier keine Rolle mehr.409 Dieses Vorhaben zeigt zudem einen weiteren Ansatz, Sprechstimmbildung in die Lehrerausbildung zu integrieren. In überwiegendem Maße aber sind die Angebote des ZI freiwillige und kostenpflichtige Weiterbildungen. Sie dienen einer individuellen Schulung und sind nicht in eine umfassendere Ausbildungsstruktur eingebunden. Während in den Lehrplanrichtlinien der Schulen Sprechstimmbildung zwar erwähnt wird, sich die Hinweise dann aber vor allem auf Sprechfertigkeit im Sinne von sinnvollem Sprechausdruck beziehen, ist die Sprechtechnik fester Bestandteil in den Schulungsangeboten am ZI. Allerdings sind die Ausführungen wiederum wesentlich weniger spezifisch und detailliert und es gibt keine aufeinander aufbauenden Lernniveaus, sondern es handelt sich um zeitlich begrenzte Kursangebote. In den Lehrgängen des ZI gibt es auch keine Prüfung. In dem dezidierten Interesse an Sprechstimmbildung und den strukturellen Merkmalen wie der freiwilligen, aber kostenpflichtigen Teilnahme und dem Prinzip eines einmalig stattfindenden Kurses zeigt sich bereits eine Ähnlichkeit dieser Angebote zu gegenwärtigen Stimmtrainingskursen. Auch hier verweisen die konkreten Ausprägungen der sprechstimmbildnerischen Praxis darauf, dass der Geltungsbereich der von Foucault beschriebenen disziplinierenden Mechanismen sowie die von McKenzie vorgenommene zeitliche Grenzziehung zwischen den Gesellschaftsdynamiken der Disziplinar- und Performancegesellschaft mit Blick auf bestimmte gesellschaftliche Bereich zu relativieren, beziehungsweise zu differenzieren sind. 3.3.3 Die Forderung nach ‚Ganzheit‘ in der inhaltlichen Konzeptionierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ Im Zuge der Fachetablierung und der institutionellen Verankerung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ ab 1900 werden inhaltliche Forderungen und Konzeptionen aufgestellt, die zur Profilierung des Faches beitragen. Die Sprecherziehung grenzt sich damit inhaltlich von bislang bestehenden Übungsansätzen und Konzeptionen im Bereich der Sprechstimmbildung ab, sie versucht darüber aber auch ganz konkret ihren Einfluss auf Stellenbesetzungen im Bereich der Lektorate zu

ZI für diejenigen, die sich die Reisekosten nicht mehr leisten können, zugänglich machen soll: Lebde, Hans (Hrsg.): Sprecherziehung, Rede, Vortragskunst. Berlin 1930. 409 Das deutsche Schulwesen. Jahrbuch 1929/30. S. 196.

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sichern, betreibt also eine Art Berufsstandsabgrenzung von den freiberuflich arbeitenden Sprechstimmbildnern. Diese inhaltlichen Konzeptionierungen kann man unter dem Aspekt einer ‚ganzheitlichen‘ Ausrichtung des Faches zusammenfassen, wobei damit unterschiedliche Facetten angesprochen sind: Zum einen stellen die Sprecherzieher die Forderung nach einer wissenschaftlichen Fundierung ihres Faches auf, wodurch sie dessen Verankerung an der Universität untermauern wollen und sich zugleich von nicht wissenschaftlich gebildeten Sprechstimmbildnern abgrenzen. Diese Abgrenzung bezieht sich nicht selten auf Schauspieler, die auch als Sprechstimmbildner arbeiten, woran noch einmal deutlich wird, dass im Bereich der Sprechstimmbildung neben Austauschprozessen mit dem Bereich des Theaters auch Abgrenzungstendenzen bestehen, die in diesem Fall mit den Institutionalisierungsbemühungen der Fachvertreter zusammenhängen. Damit verbunden, bezieht sich die Forderung nach der „unteilbaren Ganzheit des Faches“410 auf die bereits angeführten drei Teilbereiche des Faches, Sprechstimmbildung, künstlerischer Vortrag und Rhetorik. Auch hieraus schöpft sich wieder ein Abgrenzungskriterium: nur wer in allen drei Bereichen ausgebildet ist, darf sich Sprecherzieher im eigentlichen Sinne nennen. Damit grenzt man sich unter anderem auch von den Vertretern des Engel-Vereins ab, die sich als reine Sprechstimmbildner verstanden. Schließlich ist die Entwicklung des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ eingebunden in zeitgenössische kulturkritische Strömungen, in denen die Ausrichtung auf ‚Ganzheitlichkeit‘ einen zentralen verbindenden Aspekt darstellt, mit dem jedoch auch in unterschiedliche Stoßrichtungen argumentiert wird. Dazu gehören eine Abgrenzung von den materialistischen und rationalistischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den unterschiedlichen Ausformungen der Lebensphilosophie oder des Neoidealismus, ebenso wie gesellschaftliche und insbesondere pädagogische Reformbewegungen, wie etwa die Lebensreformbewegungen oder die reformpädagogischen Strömungen. In der Sprechkunde und Sprecherziehung finden sich Bezugnahmen und Anknüpfungen an diese Strömungen, die dazu beitragen, dass sich die Fachvertreter der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ von zuvor entwickelten Ansätzen der Sprechstimmbildung abgrenzen und eine neue inhaltliche Konzeption und methodische Ausrichtung der Sprechstimmbildung im Rahmen der Sprecherziehung fordern. In den folgenden Ausführungen werden die wichtigsten Tendenzen dieser Neukonzeptionierung von Sprechstimmbildung innerhalb von Sprecherziehung skizziert. 410 So formuliert es Erich Drach in seinem 1931 erschienen Aufsatz „Was ist Sprecherziehung?“ (vgl. ders.: Was ist Sprecherziehung? In: Allgemeine bayerische Lehrerzeitung 65 (1931). Heft 21/22. S. 302-303. Hier S. 302).

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Wissenschaftliche Fundierung In der frühen Phase der Fachetablierung konzipieren die Fachvertreter ihr Fach zunächst als ‚Kunde‘ und siedeln es damit zwischen ‚reiner‘ Wissenschaft und Praxis an. Im Begriff der ‚Kunde‘ sollen die Verbindung von Theorie und Praxis und damit der Anwendungsbezug zum Ausdruck kommen. So führt Martin Seydel411 in seinen 1909 veröffentlichten „Grundfragen der Stimmkunde“ 412 aus: „Über die ersten Prinzipien dieser stimmlichen Kulturarbeit, sei sie nun pädagogischer oder praktisch-künstlerischer Natur, sollen die folgenden Zeilen handeln, wobei wir uns gegenwärtig halten müssen, daß es nicht Aufgabe der Wissenschaft ist, direkt die Praxis zu beeinflussen oder ihr zu dienen. Diese Pflicht fällt vielmehr einer anderen Art von Theorie zu, die wir Kunde nennen [Hervorhebung D. P.]; die Kunst muß sich die Resultate der wissenschaftlichen Forschung zu Nutze machen, hat aber selbst viel weniger die Aufgabe zu forschen und zu beweisen, als vielmehr aus der Erfahrung heraus Regeln zu geben, die sich bewährt haben, und diese mit der Vernunft und den wissenschaftlichen Erkenntnissen nach Möglichkeit in Einklang zu bringen. Beleuchten und deuten soll die Kunde und so sollen auch die Kunst- und Lebensregeln der Stimmkunde, die wir hier geben wollen, der stimmlichen Praxis die Wege weisen, nicht aber der wissenschaftlichen Forschung ins Handwerk pfuschen, von der sie nur die feststehenden Resultate zu übernehmen haben. Eine wahre Kunsttheorie oder die richtige praktische Kunde hat ihre Aufgabe dann erfüllt, wenn eine gute Praxis durch sie zustande kommt, die sich zum bewußten Können ausreift; dann hat sie sich selbst zum Schweigen zu bringen, und der Praxis allein gehört das Feld.“413

Die Kunde erhält also als „andere[…] Art von Theorie“ eine Sortierungs- und Anwendungsfunktion und dient weniger der wissenschaftlichen Forschung. In Hinblick auf die Praxis macht sie sich überflüssig, sobald sie in dieser gewissermaßen aufgegangen ist. Indem die Kunde Regeln vorgibt, ist sie normativ und darum – laut Seydel – wiederum der Wissenschaft vorzuziehen, wenn es um die Suche nach klaren Handlungsvorgaben geht. Den Stellenwert der eigenen wissenschaftlichen Forschung hält Seydel in der Arbeit der Lektoren für eher ge-

411 Martin Seydel übernimmt 1900 das Lektorat von Horst Buchmann in Leipzig und hat dieses bis zu seinem Tod 1934 inne. 412 Seydel verwendet in den Anfangsjahren den Begriff ‚Stimmkunde‘, da der Begriff ‚Sprechkunde‘ noch nicht existierte, wie auch Hellmut Geißner vermerkt (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 51). 413 Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 10 f.

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ring414 und betont vielmehr, wie bereits unter 3.3.1 angesprochen, die Chance auf eine große Breitenwirkung, wenn sich die Sprecherziehung als fachübergreifende Dienstleistung versteht.415 Ewald Geißler416, ein Schüler Seydels, folgt in seiner 1910 veröffentlichten „Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens“417 weitgehend der von Seydel vorgenommenen Abgrenzung von „Wissenschaft“ und „Kunde“.418 In diesem Buch behandelt Geißler die Vortragskunst, worunter er allgemeine Aspekte des Sprechens sowie den künstlerischen Vortrag im Besonderen versteht. In einem zweiten Band „Rhetorik. Anweisungen zur Kunst der Rede“419 von 1914 geht er dann auf die Redekunst im engeren Sinne ein: hier vertritt er nun zumindest für diesen Teilbereich den Anspruch auf den Status als Wissenschaft und auf eigene Forschung: „Und doch ist die Rhetorik eigentlich eine Wissenschaft. […] So liegt auch der Rhetorik nichts ferner, als Beredsamkeit erzeugen zu wollen: sie setzt sie vielmehr voraus, als den Gegenstand ihres Forschens. Diesen Gegenstand zu erklären und zu bewerten – das ist ihre Aufgabe.“420 Im Laufe der Zeit erwähnen die Vertreter der Sprechkunde 414 Eine ähnliche Position vertritt Seydel auch noch 1929 in seinem Aufsatz „Sprechkunde an den Universitäten“, also nach der mit den anderen Lektoren gemeinsam veröffentlichten Gründungsanzeige (vgl. Seydel: Sprechkunde an den Universitäten. S. 183). 415 Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 9. 416 Ewald Geißler hat von 1906-1918 das Lektorat für deutsche Sprachkunst an der Universität Halle inne; anschließend wechselt er an die Universität Erlangen, wo er sich 1925 habilitiert und ab 1932 a.o. Professor für Deutsche Sprachkunst wird. 417 Der Titel Rhetorik ist missverständlich, da Geißler hier nicht das Teilgebiet Rhetorik im Sinne von Redekunst meint. Da die Bezeichnung Sprechkunde noch nicht existierte, meint ‚Rhetorik‘ hier also als Überbegriff das Gesamtfach. Geißner sieht in Geißlers Buch „die erste Gesamtdarstellung des sich entwickelnden Faches“ (Geißner: Wege und Irrwege. S. 51). 418 „Man kann sie [die Rhetorik; hier im Sinne eines Überbegriffs; Anm. D. P.], um sie von der Wissenschaft zu unterscheiden, andererseits aber doch ihr theoretisches Gepräge zu betonen, als ‚Kunde‘ bezeichnen. Die Rhetorik ist also eine Kunde, d.h. etwas, was nicht den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein, dafür aber auch von ihr weder verneint noch bekämpft werden kann. Worin liegt dann aber ihr Rechtsgrund? Er liegt im Praktischen. Und zwar in doppelter Weise: in Vernunft und Erfahrung.“ (Geißler, Ewald: Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens. Leipzig 1910. Hier S. 29-30). 419 Geißler, Ewald: Rhetorik. Anweisungen zur Kunst der Rede. Leipzig 1914. In der zweiten Auflage von 1918 heißt der Untertitel „Deutsche Redekunst“. 420 Geißler, Ewald: Rhetorik. Deutsche Redekunst. 2. Aufl. Leipzig 1918. Hier S. 5.

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dann zunehmend auch eigene Forschung und ziehen die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunde weniger streng. So fordert Albert Fischer 421 1915: „Der Lektor muss selbstverständlich die entsprechenden Forschungsresultate [der sog. Hilfswissenschaften der Stimmbildung und Redekunst; Anm. D. P.] zu würdigen und zu nutzen verstehen; seiner eigenen Forschungsarbeit ist natürlich keine Schranke zu setzen.“422 Auch Erich Drach423 sieht von Anfang an keinen Differenzierungsbedarf von Wissenschaft und Kunde. In seiner 1920 im Anschluss an die Gründungsanzeige der Lektorengemeinschaft veröffentlichten Fachskizze „Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität“ führt er an, dass das Fach „zu gleichen Teilen der reinen Wissenschaft, dem Erkennen, und dem Können, der sprecherischen Praxis an[gehöre] und […] berufen [ist], die regste Wechselwirkung beider anzuregen“424. 1931 geht Fritz Gerathewohl425 in seinem Aufsatz 421 Albert Fischer wird 1905 außerplanmäßiger Lektor für Stimmbildung und Redekunst an der Universität Bonn. Fischer ist außerdem auch Schauspieler und Intendant in Barmen und Bonn. 1922 wird er planmäßiger Lektor, 1932 verbeamtet und 1935 zum Honorarprofessor ernannt. 422 Fischer, Albert: Über die Grundlagen und Ziele der Technik des Sprechens, der Vortrags- und Redekunst (der mimisch-lautlichen Ausdruckskunst). Eine Programm- und Werbeschrift. Bonn 1915. Hier S. 4. Fischer beschreibt seinen eigenen Werdegang als „Entwicklungsweg […], welcher aus der reinen Praxis der schauspielerischen Betätigung in die Wissenschaft führte“ (ebd.) und die Einleitung zu seiner „Programm- und Werbeschrift“ liest sich wie eine Beweisführung, dass er als Praktiker den Weg in die Wissenschaft gefunden hat. Auch das lässt darauf schließen, dass sich hier bereits der Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung an die Tätigkeit der Lektoren durchgesetzt hat. 423 Erich Drach wird 1918 Lektor für Vortragskunst an der Universität Berlin. Er hat nach einem Germanistikstudium mit Promotion und einer Schauspielerausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Berlin als Schauspieler und während des Krieges kurzzeitig als Lehrer gearbeitet. Er gilt als treibende Kraft bei den Bemühungen um eine Konstituierung und Institutionalisierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘. 424 Drach: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 236. Geißner sieht in der inhaltlichen Ausrichtung von Drachs Arbeit dann aber eher einen anwendungsbezogenen und pädagogischen Ansatz, der dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und eigene Forschung nicht genügt (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 167). Zu differenzieren ist hier wohl zwischen Drachs Bemühungen um Etablierung des Faches in fach- und verbandspolitischer Hinsicht einerseits – für das er nach wie vor als einer der wichtigsten, wenn auch zugleich als nicht unproblematischer Begründer des Faches ‚Sprechwissenschaft/Sprecherziehung‘ gelten kann – und seinem inhaltlichen Beitrag zur Ausdifferenzierung des Faches andererseits, der von heutigen Sprech-

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„Idealistische Sprecherziehung und Hemmungsabbau“ auf unterschiedliche Forschungs- und Lehrweisen der Sprechkunde ein. Dem Anspruch nach hat sich die Sprechkunde bis dahin zu einem wissenschaftlichen Fach mit eigener Forschungsarbeit entwickelt.426 Abgesehen vom anfangs unterschiedlich gewerteten Stellenwert der eigenen Forschungsaufgabe und den unterschiedlichen Differenzierungsgraden zwischen Kunde und Wissenschaft sind sich die Fachvertreter von Anfang an in dem Anspruch einig, dass Sprechkunde und Sprecherziehung wissenschaftlich fundiert sein müssen.427 In ihren Publikationen verweisen die Sprechkundler auf verschiedene Wissenschaften, die als „Grundlage“428, „Hilfswissenschaften“429 oder „Werksteine des Gebäudes“430 der Sprecherziehung berücksichtigt werden müssen. Dazu gehört nach einhelliger Meinung neben der Phonetik und Physiologie wissenschaftlern – wie bereits erwähnt – sehr unterschiedlich beurteilt wird (vgl. dazu die Position Geißners in „Wege und Irrwege“, S. 126-167, sowie die Einschätzung Drachs durch Pabst-Weinschenk in „Konstitution der Sprechkunde und Sprecherziehung durch Erich Drach“). 425 Fritz Gerathewohl wird 1924 außerplanmäßiger, von 1929 bis 1945 dann planmäßiger Lektor für Vortragskunst an der Universität München. 426 In der praktischen Arbeit der Lektoren scheint allerdings eher Seydels Modell eines ‚Dienstleistungsfaches‘ Realität gewesen zu sein. Vgl. dazu die Äußerung Richard Wittsacks von 1948: „Man begegnet aber auch in Universitätskreisen noch der Vorstellung, es handle sich bei der angewandten Normwissenschaft Sprechkunde allein um eine Techne und nicht zugleich auch um eine Episteme, als wären die Dozenten dieses Faches so etwas wie Lautfriseure oder Flickschuster für lädierte Stimmen, weil sich bei der unzureichenden Sprecherziehung auf den Schulen der Universitätsvertreter leider manchmal auch mit Aufgaben beschäftigen muß, die auf der Schule hätten erledigt werden müssen.“ (Zitiert nach Geißner: Wege und Irrwege. S. 197). 427 Auch Franke, ein Mitglied des Engel-Vereins, beschreibt den wissenschaftlichen Anspruch der Sprecherziehung: „Die Erkenntnisse, auf deren Grundlage sie aufbaut, verdankt die Sprecherziehung verschiedenen Zweigen der Wissenschaft, der Sprachpsychologie, der Sprachphysiologie, der Phonetik und ganz besonders auch der Pädagogik. Ihre Bildungsziele und -wege müssen mit den Erkenntnissen dieser Wissenschaften im Einklang stehen.“ (Franke, Gotthold: Stimmbildung im Rahmen der Sprecherziehung. In: Sprechen und Singen: Monatsschrift für Sprecherziehung und Stimmbildung. 18 (1930). Heft 6. S. 81-88. Hier S. 84). 428 Vgl. Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 8. 429 Geißler: Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens. S. 29. 430 Drach: Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule. 1922. S. 3.

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auch die Psychologie, gelegentlich konkretisiert als „Sprachpsychologie“ 431 oder „Völkerpsychologie“432. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, kommt es dabei zu einer Schwerpunktverlagerung insbesondere hinsichtlich der methodischen Ausrichtung der Sprechstimmbildung, die die Forderung beinhaltet, beim Üben nicht nur körperlich-mechanische Abläufe zu üben, sondern das geistig-seelische Moment des Sprechens sowie die Ganzheitlichkeit des Sprechvorgangs im Blick zu behalten. Die Forderung nach wissenschaftlicher Fundierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ beinhaltet also bereits eine ganzheitlichere Ausrichtung der Sprechstimmbildung. Mit dieser Forderung verbinden sich aber auch Konsequenzen für die zu besetzenden Stellen und damit auch institutionelle Abgrenzungslogiken. So betonen die Lektoren in der Gründungsanzeige der Lektorengemeinschaft von 1920, dass sie die „wissenschaftlich gebildeten Fachvertreter“433 sind und dass Sprechkunde ein „akademisches“434 Fach ist, das – wie Drach es in „Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität“ ausführt – „ausschließlich mit einem Akademiker besetzt werden [muß]“435. Auch in der, bereits angesprochenen, elitären Konzeption des DAfSuS wird der Anspruch auf eine wissenschaftliche Bildung der Fachvertreter deutlich: „Auch wenn sich der DAfSuS nach dem Vorbild anderer Berufsverbände richtet – wie Ahmels berichtet –, so stellt doch Gerathewohl in seinem Brief an Kolb vom 14.12.33 heraus, daß der DAfSuS kein Berufsverband sei, sondern eine ‚ideelle Gemeinschaft der führenden Schicht des Faches‘. [...] Winkler bestätigt die Exklusivität des DAfSuS und begründet dies mit der Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber nicht wissenschaftlich ausgebildeten ‚Auchsprecherziehern‘: ‚Noch zu meiner Vorsitz-Zeit waren wir ziemlich exklusiv (Mitglied wurde man allenfalls durch Empfehlung zweier anerkannter Mitglieder), um die Auchsprecherzieher abzuwehren.“436

431 Vgl. ebd. 432 Vgl. Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 8. 433 Buch; Drach; Fischer et al.: Arbeitsgemeinschaft von Lektoren der Vortragskunst. S. 235. 434 Ebd. 435 Drach, Erich: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 241. Drach fordert auch, dass es im Bereich des künstlerischen Vortrags „Aufgabe des Vertreters der Vortragskunst an der Universität [sei], wie eine wissenschaftlich neubegründete Rhetorik, eine ebensolche Vortragslehre denen zu bieten, die danach suchen“ (ebd. S. 239 f.). 436 Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 321.

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Wird der Status als eigene forschende Wissenschaft erst mit der Zeit in der Fachkonzeption verankert, so ist doch der Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung von Anfang an ein Merkmal der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, mit dem auch Forderungen nach einer ganzheitlichen Ausrichtung einhergehen. Diese gewinnen mit der Zeit Einfluss auf den gesamten Bereich der Sprechstimmbildung: Wie zum Beispiel in der Entwicklung des Engel-Vereins deutlich wird, übernimmt dieser den Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung und ganzheitliche Ausrichtung der eigenen Arbeit und erkennt die Bemühungen der universitären Sprecherzieher als Leitbewegung im Bereich der Sprechstimmbildung, der es sich anzuschließen gilt, an. So schreibt Oskar Barsch in seinem Überblick über die 25-jährige Geschichte des Engel-Vereins, dass aufgrund von Angriffen gegen den Engel-Verein, die unter anderem von den universitären Fachvertretern kamen, „der Vorstand des Vereins […] die Notwendigkeit erkannt [hatte], bei aller Würdigung der Gefühle der alten Mitglieder auf dem Wege wissenschaftlicher Weiterarbeit energischer fortschreiten zu müssen“ 437. Der Verein berief einen wissenschaftlichen Ausschuss ein, der die Aufgabe hatte, „die Lehrweise Engels, soweit möglich, wissenschaftlich zu begründen und sie in das umfassendere Gebiet der Sprechkunde und Sprecherziehung einzugliedern“438. „Unteilbare Ganzheit des Faches“ 439 Neben einer wissenschaftlichen Fundierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ bezieht sich die Forderung nach Ganzheit auf die Arbeitsgebiete der Sprechkunde und Sprecherziehung. In der Gründungsanzeige benennen die Lektoren drei Teilbereiche ihres Faches als Aufgabengebiete: „Stimmkunde, Vortragslehre und Sprachkunst“440. Diese Teilbereiche bilden in den ersten Jahrzehnten der Fach437 Barsch: 25 Jahre. S. 86. 438 Ebd. S. 40 und S. 86. 439 Drach: Was ist Sprecherziehung? S. 302. 440 Daran wird deutlich, dass die Bezeichnung „Lektor der Vortragskunst“ nur einen Teilbereich erfasst. Als Ziel ihrer Arbeit führen die Lektoren an, „auf der Grundlage der Wissenschaft, der Einsicht in den physiologischen und psychologischen Vorgang des Sprechens, in die künstlerische und praktische Ausgestaltung des Vortrags und der Redeformen, sowie in das Wesen der deutschen Sprache überhaupt, die deutsche Sprache als lebendes, gesprochenes Wort im Hochschulunterricht und damit zugunsten aller von diesem beeinflußten Lebenskreise bewußt und geordnet zu pflegen“ (Buch; Drach; Fischer et al.: Arbeitsgemeinschaft. S. 235). Die Aufgabe ihres Faches sei es, „zu einem gesunden Stimmgebrauch und zu wirkungsvollem Beherrschen des gesprochenen Wortes bis zur persönlichen Höchstleistung anzuleiten

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geschichte das Arbeitsgebiet der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘, wobei die Bezeichnungen für die Bereiche variieren und teilweise auch missverständlich sein können.441 Geißler, der in seinem ersten Buch „Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens“ bereits alle drei Bereiche erwähnt442, versteht beispielsweise unter Sprechkunst „die Verlautbarung alles Sprachlichen, also auch der sprachlichen Kunstwerke“443. Sprechkunst oder Vortragskunst ist für ihn somit mehr als nur der Vortrag sprachlicher Kunstwerke. Den „im eigentlichen Sinne künstlerischen Teil“ behandelt er in seinem Buch nicht, obwohl er seiner Ansicht nach „die Feuerprobe der Sprechkunst“ ist.444 Rhetorik im Sinne von Redekunst ist dann der Gegenstand seines zweiten Buches, wobei er die in der Folgezeit für die Sprechkunde sehr einflussreiche Umkehrung der antiken Rhetorik vornimmt und die ‚actio‘ an den Anfang der von einem Redner zu beachtenden Arbeitsschritte stellt. Erich Drach geht in seinem Aufsatz „Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität“ ebenfalls auf die drei Bereiche „Stimmbildung“, „Die Rede als Träger des Gedankens“ und das „gesprochene Wort als künstlerischer Ausdruck“ ein.445 Und in der Prüfungsordnung des DAfSuS werden neben dem „Allgemeinen Teil: Sprechkunde“, „Sprechgesundheitslehre“446, „Sprechkunst“ und „freie Rede“ als Schwerpunktsetzungen angeboten, wobei der gesundheitliche Aspekt hier stärker betont wird, der ansonsten meist unter die Stimmkunde

und die künstlerische Wiedergabe deutscher Dichtung, besonders auch zum Heile des deutschen Unterrichts, immer mehr zu fördern und zu verbreiten, die deutsche Beredsamkeit zu Redekunst zu vertiefen und weiter zu entwickeln“ (ebd. S. 235). Gesundheitliche Aspekte des Sprechens werden also meist unter den Bereich der Stimmkunde oder Sprechtechnik gefasst. 441 Darauf hatte ich bei Seydels Verwendung des Begriffs ‚Stimmkunde‘ und Geißlers Buchtitel „Rhetorik“ bereits verwiesen (s.o.). Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der Fachbereiche vgl. auch Klaus Roß: Reden für alle. Redelehre und Sprecherziehung. In: Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Hitler der Redner. München 2003. S. 7593. Hier S. 84. 442 Wie bereits erwähnt, ist der Titel „Rhetorik“ hier ebenfalls missverständlich, da er eben nicht die Redekunst meint. 443 Geißler: Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens. S. 20. 444 Vgl. ebd. 445 Vgl. Drach: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 236-243. 446 Damit ist nicht die Sprechheilkunde, also die Logopädie gemeint, sondern Sprechstimmbildung im Sinne einer Anleitung zu gesundem Sprechen.

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oder Sprechtechnik fällt.447 Drach betont, dass es sich bei diesen drei Fachbereichen um eine „unteilbare Ganzheit“ des Faches handelt, das Fach also nicht mit einem seiner Teilgebiete – „entweder mit Anleitung zum gesunden lautreinen Sprechen, oder mit Übung im künstlerischen Vortrag von Dichtungen“ – gleichzusetzen sei.448 Sowohl mit Blick auf die wissenschaftliche Fundierung als auch in dem Anspruch, alle Teilgebiete des Faches zu berücksichtigen, grenzen sich die Lektoren von Sprechstimmbildnern ab, die aus ihrer Sicht einseitig oder ohne die notwendigen theoretischen Grundlagen arbeiten. Diese Kritik trifft auch den Engel-Verein, da die Engel-Methode zunächst nur auf Sprechstimmbildung ausgerichtet war449, wobei Vertreter der Methode betonen, dass „sprecherzieherische Momente von Anfang an vorhanden waren“450. Besonders harsch formuliert Drach diese Abgrenzung gegenüber einem Berufstand, dem er selbst einmal angehörte, den Schauspielern: Während es für die Anfänge des Faches noch hinreichen mochte, dass „in früheren Jahren irgendein Schauspieler zugelassen wurde, den Studenten ‚Deklamationsstunden‘ zu geben“451, so würde dies dem Fach nun nicht mehr gerecht und er rät, dass bei der Besetzung der Lektorate „Missgriffe, wie die Besetzung mit einem Schauspieler, der sich zufälligerweise bewirbt, […] grundsätzlich zu vermeiden [sind].“452 Er unterstellt den Schauspielern Mangel an umfassender theoretischer Ausbildung453, deren Erwerb er ihnen 1919 durch eine Weiterbildung am ZI nahegelegt hatte.454 Die ablehnende Haltung Drachs gegenüber den Schauspielern ist in diesem Fall also nicht mit einer ethischen oder anthropologischen Problematik verknüpft, wie sie sich in den Natürlichkeitsdiskursen des 18. Jahrhunderts an den Schauspieler knüpft, da dieser als Sinnbild für Verstellung fungiert und damit eine Bedrohung einer auf 447 Vgl. ‚Deutscher Ausschuß für Sprechkunde und Sprecherziehung. Ordnung für die Prüfung freiberuflicher Sprechlehrer‘ (vollständiger Abdruck in Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 312-317). 448 Drach: Was ist Sprecherziehung? S. 302. 449 Vgl. Barsch: 25 Jahre. S. 88. 450 Ebd. 451 Drach: Stimmkunde und Sprachkunst an der Universität. S. 236. 452 Ebd. S. 242. 453 Im Gegensatz zu diesen Abgrenzungen in Bezug auf die Besetzung von Stellen würdigt er in der Einleitung zu seinem Buch „Sprecherziehung“ – neben den Wissenschaften, die die Grundlage der Sprecherziehung bilden – „die alte Handwerksüberlieferung der Sprechkunst der Bühne und ihre bewährte Lehrübung“ als „eine Quelle reicher Anregung“ (Drach: Sprecherziehung. S. 5). 454 Vgl. Drach: Der Sprechlehrer. S. 411 f.

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Ehrlichkeit und Natürlichkeit ausgerichteten bürgerlichen Ethik darstellt.455 Vielmehr geht es hier um ganz konkrete institutionelle Absicherung, die zum einen die Zahl der Bewerber für die wenigen vorhandenen Stellen eingrenzt, zum anderen die inhaltliche Ausrichtung des Faches sichern soll. In seinem sehr erfolgreichen Buch „Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule“ (1922) äußert er sich kritisch gegenüber den von einzelnen Personen entwickelten Methoden, wobei der Vorwurf in ihrer Einseitigkeit liegt: „Wer sich mit irgendeiner ‚Methode‘, einem ‚Prinzip‘, einer ‚Spezialität‘ anpreist, ist auf dem Gebiet der gesamten Sprechkunde als Charlatan, wenn auch oft als gutgläubiger, zu bewerten.“456 Der Hinweis auf das „Gebiet der gesamten Sprechkunde“ zeigt, dass es sich hier um Kritik handelt, die auf der Einbeziehung aller drei Teilgebiete des Faches insistiert und in diesem Sinne „Ganzheit“ einfordert.457 Darüber hinaus gibt es – wie wir im folgenden Abschnitt sehen – Forderungen, die sich auf eine ganzheitliche Ausrichtung speziell der Sprechstimmbildung in konzeptioneller und methodischer Hinsicht beziehen. Ganzheitliche Ausrichtung der Sprechstimmbildung In der Forderung, alle drei Teilbereiche des Faches zu berücksichtigen, wird bereits deutlich, dass Sprechstimmbildung innerhalb der Sprecherziehung nicht für sich allein betrieben werden soll, sondern nur in der Ausrichtung auf den künstlerischen Vortrag und die freie Rede. Doch auch die Sprechstimmbildung selbst erfährt in konzeptioneller und methodischer Hinsicht eine neue Ausrichtung im Kontext der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ und steht damit in Bezug zu zeitgenössischen Strömungen, die sich von Entwicklungen des 19. Jahrhunderts abgrenzen. Wie in den vorangegangen Kapiteln gezeigt, gehen sowohl die Bemühungen um eine Normierung der Aussprache als auch die neu entstehenden Übungsbücher Ende des 19. Jahrhunderts mit einer starken Fokussierung der einzelnen Sprachlaute einher. Diese basiert auf der physiologischen Erforschung 455 Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung. S. 8. 456 Drach: Sprecherziehung. 1922. S. 6. Wenngleich die Einschränkung „auf dem Gebiet der gesamten Sprechkunde“ darauf hinweist, dass die Methode in Einzelbereichen nicht wirkungslos sein muss. 457 Auch Seydel kritisiert bestimmte sprechstimmbildnerische Ansätze unter diesen Aspekten: „Einseitigkeiten während der Entwicklung, Überschätzung des Selbstgefundenen und unwissenschaftliche Maßnahmen in Verbreitung und erstrebter Monopolisierung ihrer Lehren hängt diesen frei entstandenen Methoden vielfach an.“ (Seydel: Sprechkunde an den Universitäten. S. 186) Wobei er einräumt, dass „vom Standpunkt der praktischen Erfahrung aus oft sogar die absonderlichsten Lehren der Praktiker ein Körnchen Wahrheit enthalten“ (ebd.).

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der Stimme und geht einher mit einer physiologisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Phonetik und Sprachwissenschaft. Auch wenn die ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ auch auf diesen Wissenschaften aufbauen möchte, wendet sie sich gleichzeitig gegen als einseitig empfundene Ausprägungen dieser Entwicklungen. Sie knüpft damit an Positionen philosophischer, psychologischer und sprachwissenschaftlicher Strömungen der Zeit an und steht im Kontext kulturkritischer Reformbewegungen der Zeit. Einen gemeinsamen Zug finden diese Strömungen darin, dass sie sich gegen den Rationalismus und Materialismus des 19. Jahrhunderts wenden, dessen als Partikularismus empfundenen Ausprägungen sie ein Streben nach dem ‚Ganzen‘ oder ‚Ganzheitlichkeit‘ entgegenstellen. Zum Ausdruck kommt dies in der Hochkonjunktur, den der Begriff ‚Leben‘ erfährt458, und zwar sowohl in den – trotz aller Unterschiedlichkeit – unter dem Begriff der Lebensphilosophie zusammengefassten philosophischen Strömungen der Zeit als auch in den gesellschaftlichen Reformbewegungen, so beispielsweise in der Ausrichtung reformpädagogischer Lernkonzeptionen auf das Leben.459 Auf diese Entwicklungen kann hier nicht ausführlich eingegangen werden, es geht vielmehr darum, auf die Ansatzpunkte zu verweisen, die für die inhaltliche Konzeptionierung der Sprechstimmbildung innerhalb der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ eine Rolle spielen. So wenden sich die Fachvertreter der Sprechkunde gegen eine einseitige physiologische Ausrichtung der Sprechstimmbildung und fordern den Prozess des Sprechens in seinem psycho-physischen Zusammenhang zu sehen. Dies beginnt bei Martin Seydel, der die Werke des Psychologen Wilhelm Wundt460 rezipiert, und darüber „die Brücke von dem Physisch-Technischen zum Psychischen [schlägt]“461. Seydel bezeichnet die Stimmtechnik als „psychologisches Turnen“462 (ohne diesen Begriff allerdings zu konkretisieren) und meint „praktische Psychologie ist jede Übung stimmlicher Fertigkeiten, die sich nicht mit krasser Unnatur absichtlich an der Oberfläche hält“463. Mit Wilhelm Wundt 458 Vgl. Philipp Lersch: Lebensphilosophie der Gegenwart. Berlin 1932. Sowie Winfried Böhm: Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. München 2012. Hier S. 79-81. 459 Vgl. Böhm: Die Reformpädagogik. S. 79 f. 460 Wilhelm Wundt hat 1874 das Buch „Grundzüge der physiologischen Psychologie“ veröffentlicht. 461 Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 8. Seydel beruft sich zudem auf idealistische Ansätze und wendet sich gegen „die furchtbare Periode des Materialismus und Pessimismus“ (ebd. S. 7). 462 Seydel: Grundfragen der Stimmkunde. S. 29. 463 Ebd.

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bezieht Seydel sich auf Positionen, die in der Sprachwissenschaft als „Überwindung der Junggrammatiker“464 gelten: „Da die gesamte innere Seite der Sprache, die Inhalte und Bedeutungen, dem junggrammatischen Denken fremd geblieben waren, trat die Psychologie in diesen leeren Raum und nahm sich der bisher vernachlässigten inneren Seite der Sprache an.“465 Auch wenn aus sprachwissenschaftlicher Sicht in Wundts Ansätzen die Sprache sich im „Außersprachlichen“ aufzulösen droht, rückt über die Rezeption Wundts für die Sprechkundler – auch Drach bezieht sich auf ihn – neben der „lautlich-formalen“ Seite wieder die „inhaltlich-bedeutungsmäßige[…] Seite“ der Sprache, und damit auch des Sprechens, in den Fokus.466 Mit dieser grundsätzlichen Ausweitung des Fokus vom rein Physiologischen auf psycho-physische Zusammenhänge der Sprache und des Sprechens gehen methodische Überlegungen einher, die die grundsätzliche Ausrichtung des Übens, beziehungsweise die Haltung beim Üben, aber auch die Konzeption des konkreten Übungsmaterials betreffen. In seiner „Vortragskunst“ trennt Ewald Geißler zwar zunächst noch den körperlichen Übungsprozess für die „leiblichsinnlichen“ Seiten des Sprechens von der des ‚inhaltlich-beseelten‘ Sprechens: „Die Vorgänge der Sprechtätigkeit sind erkannt, die Ideale aufgestellt, die Grundsätze entworfen. Nunmehr kann die Ausübung beginnen. Diese gliedert sich in Technik und Vortragskunst. Zuerst wird das Körperliche als Körperliches betrachtet und geübt: die leiblich-sinnlichen Seiten des Sprechens, die Bewegung und der Klang sollen zur Vollendung gelangen. Und dann ist zu zeigen, wie das Körperliche zum Sinnbild des Seelischen wird.“467

In seinen weiteren Ausführungen unterstreicht er dann aber die Wechselwirkung von körperlichen, seelischen und geistigen Vorgängen und betont: „Schon die Technik wollte nicht papageimäßig, sondern beseelt sein, und auch der innerlichste Ausdruck ist ohne die Technik unmöglich.“ 468 Mit der Ablehnung des „papageimäßig[en]“ Übens ruft Geißler eine auch von anderen Sprecherziehern vertretene Haltung auf, die sich gegen das „mechanische“ Üben und damit auch gegen die von Julius Hey in seinem Lehrbuch beschriebene Übungsmethodik wendet. So schreibt Hans Lebede 1930:

464 Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. S. 20. 465 Ebd. S. 21. 466 Ebd. S. 22. 467 Geißler: Rhetorik. Richtlinien für die Kunst des Sprechens. S. 35. 468 Ebd. S. 106.

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„Und nicht in mechanischen Uebungen nach Art älterer Deklamier- oder SchauspielSchulen läßt sich diese technische Schulung gewinnen, sondern nur aus einer Erfassung des Sprechausdrucks in seiner psycho-physiologischen Gesamtheit, als sogenannte ‚Akteinheit‘, die Ausdruck und Sinn, Form und Inhalt untrennbar miteinander verbindet und nicht leere Wörter, sondern bedeutsame Worte und Sätze als Uebungsstoff braucht.“469

Damit geraten insbesondere die von Hey entworfenen Übungsverse in die Kritik der Sprecherzieher. Erich Drach verweist auf sie in einer Fußnote seines Buches „Sprecherziehung“, ohne allerdings Hey namentlich zu nennen: „Grundsätzlich methodisch unbrauchbar sind darum auch alle die tiefsinnigen Verslein, die ‚gedichtet‘ wurden, einen bestimmten Laut zu üben: Klöster krönen öde Höhen, Mönche könnt ihr hören trösten, Göttlich schön erlöst Versöhnen, Böse mögen’s schnöd verhöhnen.“470 Dass es keiner Namensnennung bedarf, mag als Hinweis auf die Bekanntheit der Verse gelten, etwas weniger zurückhaltend ist Fritz Gerathewohl, der die Kritik an Hey in zahlreichen Aufsätzen besonders vehement vertreten hat und Hey dabei auch namentlich erwähnt.471 Allerdings wird nicht nur Heys Übungsansatz dieser Kritik unterworfen. Auch andere Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Übungsbücher sowie die Übungsansätze des EngelVereins werden mit mechanischem und inhaltsleeren Üben verbunden, wobei vor allem seitenlange Laut- und Silbenübungen in die Kritik geraten. Mit der Kritik am Mechanischen stehen die Sprecherzieher im Übrigen nicht allein; auch in den lebensphilosophischen Strömungen gibt es Richtungen, die sich mit Blick auf die „Lebensvorgänge […] um eine ‚Philosophie des Organischen‘ in Kontrastierung zur Wissenschaft des Mechanischen zentrieren.“ 472 Damit gemeint sind vitalistische, oder neovitalistische Ansätze, die sich gegen eine materialistische Konzeption von Lebensvorgängen wenden und damit auch gegen Körperbilder, die die Maschine als Modell für Körperfunktionen heranziehen. 473 Dass dieses maschinenorientierte Denken auch in die Ansätze der Sprechstimmbildung eingeflossen ist, zeigt ja bereits der Begriff ‚Sprechtechnik‘, der neben ‚Stimmbildung‘ das Teilgebiet der Sprechstimmbildung innerhalb der Fachkonzeption bezeichnet. Gerade um die Abmilderung des technischen Charakters 469 Lebede, Hans: Sprecherziehung ist not! In: ders. (Hrsg.): Sprecherziehung, Rede, Vortragskunst. Berlin 1930. S. 9-23. Hier S. 15 f. 470 Drach: Sprecherziehung. 1922. S. 35. Die zweite Zeile zitiert Drach übrigens falsch; vielleicht ein Hinweis darauf, dass er die Verse selbst auch ‚weitergedichtet‘ hat. 471 Vgl. Gerathewohl: Idealistische Sprecherziehung und Hemmungsabbau. S. 303. 472 Lersch: Lebensphilosophie der Gegenwart. S. 3. 473 Vgl. z.B. Richard Müller-Freienfels: Grundzüge einer Lebenspsychologie. Zwei Bände. Band 1: Das Gefühls- und Willensleben. Leipzig 1924. Hier S. VI.

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kreisen die um Ganzheitlichkeit bemühten methodischen Debatten der Sprecherzieher seit den 1910er Jahren.474 Um diesem zu entgehen stellen sie dem Üben monotoner Laut- und Silbenübungen das Üben ganzer Sätze oder zumindest ‚sinnvoller‘ Worte entgegen. So fordert Drach: „der Satz ist ein untrennbares Ganzes und als solches zu üben“475 und Gerathewohl betont, dass man „den Schüler auch bei der einfachsten Lautbildung stets unter bestimmten Vorstellungen sprechen lassen soll[,] […] weil wir keine Automaten, sondern lebendige, echt und wahr sprechende Menschen erziehen wollen“476. Dabei bezieht sich Gerathewohl auch auf den Romanisten und Sprachwissenschaftler Karl Voßler, dessen neoidealistischer Ansatz ebenfalls als Abgrenzung zu den Junggrammatikern zu sehen ist und der den „Geist als Ursache aller sprachlicher Erscheinungen ansieht“477. Entsprechend fordert Gerathewohl die Entwicklung einer „idealistischen Sprecherziehung“478. Obwohl sich die Sprecherzieher in ihrer Kritik an Heys Übungsansatz und dem Mechanischen weitgehend einig sind und eine auf die psycho-physische Ganzheit des Sprechvorgangs ausgerichtete Sprechstimmbildung fordern, muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass dies nicht in einer konsistenten und einheitlichen Methodik der Sprecherziehung zum Ausdruck kommt. So schlägt beispielsweise Erich Drach in seinem Buch „Sprecherziehung“ ein Übungsprogramm vor, das als „geschlossener Stufenaufbau“479 vom körperliche Üben zum 474 So stellt Barsch die Bemühungen der Sprecherziehung im Vergleich zur Arbeit des Engel-Vereins folgendermaßen dar: „Die sprecherzieherische Anschauung [...] will, daß der Unterricht sich von aller Mechanisierung der Uebung entferne – eine Forderung, die dem Lehren des pädagogisch ernst arbeitenden Stimmbildners ohnehin richtunggebend ist. Während aber dieser die technische Schulung erreichen will durch Konzentration auf die Stimmfunktion, will der Sprecherzieher die Uebung aus der Gesamtbewußtseinslage des Schülers heraus gestalten. Ausgangspunkt ist somit dort der Klang als Produkt mechanischen Zusammenwirkens der Teile des Stimmapparats, hier der Sprechakt als organische Funktionsarbeit. Ist dort das Ziel die Erziehung zu zweckvollem, hygienisch und ästhetisch richtigem Sprechverlauf, so ist es hier die seelische Durchdringung des Schülers mit dem Bildungsgute der Sprache, und die Stimmbildung ist nur Teilabsicht. Die Elementarübung soll deshalb aus der Sprechsituation herauswachsen. Sie wird bereichert um melodische, rhythmische und dynamische Studien.“ (Barsch: 25 Jahre. S. 89). 475 Drach: Sprechererziehung. S 35. 476 Gerathewohl: Idealistische Sprecherziehung. S. 303. 477 Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. S. 23. 478 Vgl. Gerathewohls gleichnamigen Aufsatz „Idealistische Sprecherziehung“. 479 Drach: Sprecherziehung. 1922. S. 4.

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inhaltlichen Üben führt: „Hygienische Sprechtechnik heißt die unterste Stufe, sinnvolles Wortgestalten die nächste, freie Rede und freier Vortrag die höchste, deren jede auf der vorausliegenden sich aufbaut.“480 In diesem Aufbau zeigt sich eine dem Übungsprogramm Heys ähnliche Struktur, die sich ja auch in Geißlers Trennung von technisch-körperlichen und inhaltlich-seelischen Übungen findet. Der Begriff ‚Sprechtechnik‘ bleibt erhalten und die aufs Körperliche bezogenen Übungen gibt es nach wie vor, sie werden aber gewissermaßen um das Bewusstsein der ganzheitlichen, psycho-physischen Ausrichtung des Sprechens bereichert. Diese Ausrichtung dient der Profilierung der Sprechstimmbildung, wie sie innerhalb der Sprecherziehung betrieben werden soll, und damit auch einer Profilierung des Faches ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ in seinen Bemühungen um Institutionalisierung. Darüber hinaus werden von den Sprecherziehern, aber auch von Sprechstimmbildnern, die nicht zur universitären Sprecherziehung gehören, Positionen vertreten, die diese in Bezug zu den reformpädagogischen Bestrebungen der Zeit setzen.481 Die von den Sprechstimmbildnern hierbei vorgebrachten Argumente scheinen auf den ersten Blick in Widerspruch zur Kritik an einer rein physiologischen Sprechstimmbildung zu stehen. Wurde dort eine einseitige Konzentration auf die körperlichen Aspekte des Sprechens kritisiert, so wenden sich die Sprecherzieher an anderer Stelle gegen eine einseitige Bevorzugung des Intellekts im Kontext des Rationalismus.482 Diese Kritik wird auch innerhalb der reformpädagogischen Bestrebungen, die in Deutschland – aber auch in anderen Ländern – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstehen, vorgebracht. Sie richtet sich insbesondere gegen die Ausgestaltung der Schullehrpläne und der Pädagogik im ausgehenden 19. Jahrhundert, denen eine Überfrachtung mit Wissensinhalten und eine zu starke Theoretisierung vorgeworfen wird, eben eine einseitige „Bildung des Intellekts“ 483. Deren Ansatz, dass das Schulsystem die natürlichen Anlagen des Kindes eher verschüttet als fördert, findet sich auch bei 480 Ebd. 481 Zu Drachs Beziehung zur Reformpädagogik vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 81-105. 482 Vgl. Fritz Gerathewohl: Deutsche Sprechkultur. In: Sprechen und Singen: Monatsschrift für Sprecherziehung und Stimmbildung (1928). S. 5-12. Hier S. 6 f. Ähnliche Positionen vertreten in ihren philosophischen Schriften Theodor Lessing und Ludwig Klages, die von einem Antagonismus von Geist und Seele ausgehen, mit dem insbesondere Klages „eine leidenschaftliche[…] Kulturkritik, […] eine[...] Anklage gegen die Intellektualisierung und Technifizierung des Menschen und der Welt“ verbindet (vgl. Lersch: Lebensphilosophie der Gegenwart. S. 74). 483 Gerathewohl: Deutsche Sprechkultur. S. 6.

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Erich Drach, hier in einer Wendung gegen die „Überschätzung des Schriftwortes“484: „Unsere Schüler können nicht sprechen. Sprechlustig und plauderfroh kommt der Sechsjährige zu uns; unaufhörlich geht das Mäulchen, wenn es von den Erlebnissen seines kleinen Weltkreises berichtet. Von Jahr zu Jahr fließt der Quell dann dünner. […] Redeungewandt, verstummt verläßt der Schüler die Schule.“485

Auch die Stimmlehrerinnen Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen, die eine auf die Atmung fokussierte Stimmschulung entwickelt haben486 und nicht zum Kreis der universitären Sprecherzieher gehören, kritisieren 1926, dass „die Erziehung bei uns sich niemals um die körperlichen und seelischen Kräfte gekümmert hat, sondern nur auf Schulung des Geistes bedacht war“487. Schlaffhorst und Andersen sehen in der Förderung von „Wandern, Spiel, Sport, Gymnastik und Tanz“488 bereits einen Fortschritt, der „versucht, wenigstens dem Körper gerecht zu werden und ihn, als den Nährboden des Geistes, in seinen Entwicklungsansprüchen zu befriedigen“489. Allerdings fehlt „die Einsicht, daß die Atmung dabei das Wichtigste sein sollte“490 und mit Blick auf die Jugend- und Naturbewegungen der Zeit resümieren sie: 484 Drach: Sprecherziehung. 1922. S. 1. 485 Ebd. S. 1 f. 486 Ihre Methode wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Schülern weiterentwickelt und wird heute vom ‚Deutsche Bundesverband der Atem-, Sprech- und Stimmlehrer/innen – Lehrervereinigung Schlaffhorst-Andersen e.V.‘ betrieben (vgl. www.dba-ev.de/ vom 08.08.2016). Da es sich also auch hier um einen Ansatz der Stimmarbeit handelt, der bis heute angewandt wird, soll er hier zumindest kurz Erwähnung finden. 487 Schlaffhorst, Clara; Andersen, Hedwig: Entwicklung der gestaltenden Kräfte aus dem Rhythmus der Atmung (1926). In: dies.: Atmung und Stimme. Neu herausgegeben von Wilhelm Menzel. Wolfenbüttel 1928. S. 57-71. Hier S. 57. Der Herausgeber nennt beide Frauen als Autorinnen des Aufsatzes; im Text selbst wird allerdings an einer Stelle die ‚Ich‘-Form verwendet. Der Herausgeber weist zudem darauf hin, dass die beiden „die Arbeit am lebendigen Menschen der schriftlichen Abfassung ihrer Erkenntnisse vorgezogen“ haben und somit „diese Aufsätze fast das einzige [sind], was bisher über das Werk von Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen gedruckt vorliegt“ (dies.: Atmung und Stimme. S. 7). 488 Schlaffhorst, Andersen: Entwicklung der gestaltenden Kräfte. S. 59. 489 Ebd. 490 Ebd.

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„Wohin wir blicken, ob wir Wandervögel, schwer bepackt, in unser Städtchen einziehen sehen, ob wir die Scharen junger Sportbeflissener sonntags zum Sportfest an unserem Hause vorbeistürzen sehen, ob wir Vorführungen weitverbreiteter Gymnastiksysteme sehen – überall schlechte Atmung, schlechte Haltung, schlechter Gang.“491

Zwar richtet sich ihre Kritik auch gegen einseitig trainierte Körper 492, aber die Hauptstoßrichtung der Kritik bleibt doch die einseitige Erziehung auf geistige Tätigkeit hin und eine Schule, in der „[d]er Wissensstoff […] sich mehr und mehr zum Selbstzweck ausgewachsen hat“493. Ihre Gesamtforderung besteht letztendlich darin, durch die „Übereinstimmung von Körper und Geist und Seele eine harmonisch abgestimmte Persönlichkeit“494 zu bilden, und ist somit auch auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet. Diente die Abgrenzung von als mechanisch und auf die Lautartikulation fokussiert beschriebenen Übungsmethoden der Profilierung der innerhalb der Sprecherziehung betriebenen Sprechstimmbildung, so findet sich die mit einer Rationalismuskritik verbundene Forderung nach Ganzheit auch bei nichtuniversitären Vertretern der Sprechstimmbildung sowie in reformpädagogischen Diskursen der Zeit. Darüber hinaus wurde die Kritik an einer einseitigen Ausrichtung der Schule auf Wissensvermittlung auch von führenden Bildungspolitikern geäußert, wie ein Zitat Gerathewohls zeigt, der 1928 eine „allmähliche[…]“ Durchsetzung des „neuen Bildungsideals“495 gegeben sieht: „Bildungsarbeit, so gehen die Forderungen heutiger Pädagogen, wie sie Becker [der preußische Kultusminister bei einem Vortrag in Berlin; Anm. D. P.] […] umriß, darf sich nicht mehr auf bloße Wissensvermittlung beschränken […]. Nicht der Verstand allein ist zu fördern, sondern neben ihm in gleichem Ausmaß Seele und Körper, und damit ist eine durchaus nichtintellektualistische Gesamtbildung zu erstreben. ‚Unsere irrationalen Bedürfnisse‘, so sprach der Minister […] vielen aus der Seele, ‚bäumen sich auf gegen das alte rationale, immer noch der Aufklärung entstammende Bildungsideal.“ 496

491 Ebd. 492 Ebd. S. 60. 493 Ebd. S. 62. 494 Ebd. S. 60. 495 , Fritz: Deutsche Sprechkultur. In: Sprechen und Singen. Monatsschrift für Sprecherziehung und Stimmbildung (1928). S. 5-12. Hier S. 7. 496 Ebd.

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Doch auch Adolf Hitler hat in seinem 1926 erschienenen zweiten Band von „Mein Kampf“ mit Blick auf die „Erziehungsarbeit“ des „völkischen Staates“ gegen „das Einpumpen bloßen Wissens“ polemisiert und dabei der körperlichen Erziehung, die er vor allem als Abhärtung versteht, einen deutlichen Vorrang vor der geistigen Bildung eingeräumt.497 Die in den 1910er und 1920er Jahren weit verbreitete Kritik an einer einseitigen Ausrichtung der Schule auf Wissensvermittlung mündet in der nationalsozialistischen Bildungspolitik in eine an Hitlers Ausführungen orientierte Umgestaltung der Schule. Die Frage, welchen Stellenwert die Sprechstimmbildung in den unter nationalsozialistischer Herrschaft erlassenen Lehrplanrichtlinien einnimmt, sowie die ideologische Positionierung der Sprecherziehung in dieser Zeit, ist Thema des folgenden Kapitels.

3.4 SPRECHSTIMMBILDUNG IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS In den vorherigen Kapiteln wurde gezeigt, wie die Sprechstimmbildung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt und die Stimme und das Sprechen teilweise von disziplinierenden Mechanismen erfasst werden. Die Aussprache wird im Dienste von nationaler Vereinheitlichung einer normierenden Festschreibung unterworfen, in Übungsbüchern werden Übungsprogramme für die Ausbildung von Stimme und Sprechweisen entworfen und im Rahmen der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ wird versucht, Sprechstimmbildung in die Ausbildungsinstitutionen Schule und Universität und deren disziplinierende Strukturen einzuschreiben, ohne dabei jedoch den Stellenwert zu erhalten, der den Fachvertretern vorschwebt. Mit der ‚Machtübernahme‘ der Nationalsozialisten 1933 erhoffen sich viele der Fachvertreter eine verstärkte Unterstützung für ihr Fach. So schreibt beispielsweise Herbert Ahmels 1934: „Der nationalsozialistische Führerstaat […] wird auch der deutschen Sprachpflege und Sprecherziehung die rechte Wirkungsform verleihen.“498 Finden sich in den Publikationen von Sprecherziehern bereits vor 1933 in unterschiedlichem Ausmaße Haltungen,

497 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Hrsg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger et al. Band II: Die nationalsozialistische Bewegung. München, Berlin 2016. Hier S. 1043. 498 Ahmels, Herbert: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 10 (1934). Heft 4. S. 188-197. Hier S. 197.

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die auf „ideologische Gemeinsamkeiten“499 mit Positionen des Nationalsozialismus verweisen und stellte auch die Positionierung der Sprecherziehung im Umfeld der Deutschkunde bereits eine Nähe zur nationalsozialistischen ‚Erziehungspolitik‘ her500, so bemühen sich die Fachvertreter ab 1933 verstärkt, die Sprecherziehung ideologisch im Nationalsozialismus zu verorten. In der Tat gewinnt das Fach in dieser Zeit auch an Bedeutung und erhält verstärkt Unterstützung501, allerdings muss hier nach den verschiedenen Einflussbereichen differenziert werden. Während, wie Klaus Roß ausführt, „die Sprecherziehung im Deutschunterricht nach 1933 einen wichtigen politischen Stellenwert“502 erhält, konstatiert Othmar Plöckinger für den Bereich der politischen Rednerschulung ein „Spannungsverhältnis zwischen den nationalsozialistischen Ansätzen und der Rednerschulung im Sinne der Sprecherziehung“ 503. Der Einfluss der Sprecherziehung im Bereich der Schule ist also von dem in der Rednerschulung der NSDAP zu unterscheiden. In einem ersten Unterkapitel soll es darum gehen, wie Sprecherzieher ihr Fach in der Zeit des Nationalsozialismus ideologisch zu positionieren versuchen. Dieser Frage soll auch dahingehend nachgegangen werden, inwiefern die zuvor virulenten Thematiken der Aussprachenormierung und Ganzheitlichkeit dabei zur Sprache kommen. In der Forschung ist mit Blick auf die ideologischen Posi499 Roß: Sprecherziehung statt Rhetorik. S. 18. Auf die Positionen der einzelnen Fachvertreter kann hier nicht genauer eingegangen werden. Geißner hat in seinem Buch „Wege und Irrwege der Sprecherziehung“ einen ersten Überblick über die Schriften der einzelnen Sprecherzieher gegeben, wobei er jedoch keine umfassende Analyse zu den Bezugnahmen auf nationalsozialistische Positionen vornimmt. Eine solche Untersuchung steht also noch aus. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann nur auf einige zentrale Positionen Bezug genommen werden. Auf die Kontinuität problematischer Positionen in der Rhetorik von der Zeit vor 1933 über das ‚Dritte Reich‘ bis in die 1980er Jahre hat zuerst Raimund Hethey in seinem Aufsatz „Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit?“ hingewiesen. Klaus Roß nimmt in seiner Untersuchung „Sprecherziehung und Rhetorik“ die Schriften Erich Drachs und Ewald Geißlers in den Blick. 500 Hier sei noch einmal darauf verwiesen, dass die Deutschkunde nicht eins zu eins in der nationalsozialistischen Erziehungspolitik aufging (vgl. Kapitel 3.3 sowie Hopster; Nassen: Literatur und Erziehung. S. 22). 501 Vgl. Othmar Plöckinger: Reden um die Macht? Wirkung und Strategie der Reden Adolf Hitlers im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 6. November 1932. Wien 1999. Hier S. 18. Sowie Roß: Sprecherziehung statt Rhetorik. S. 18. 502 Roß: Reden für alle. S. 75. 503 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 176.

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tionen des Nationalsozialismus504 vielfach darauf hingewiesen worden, „daß es eine in sich geschlossene Ideologie des Nationalsozialismus nicht gab, sondern es sich um ein Konglomerat verschiedenster Ideen, Ideologeme und Antihaltungen handelte“505. Insbesondere bei Fragen der Erziehungspolitik wurden dabei die Ausführungen Adolf Hitlers in „Mein Kampf“ maßgeblich, die für die „strukturelle und inhaltliche Umgestaltung der Schule erhebliche Bedeutung [erlangten]“506. Und so beziehen sich, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, auch die Fachvertreter der Sprecherziehung immer wieder auf Hitlers „Mein Kampf“, um die Sprecherziehung nationalsozialistisch zu verorten. Neben der Frage nach der inhaltlichen Positionierung der Sprecherziehung geht es in einem zweiten Unterkapitel um die verstärkte institutionelle Einbin504 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Wippermann in der „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“, der den wissenschaftlichen Diskurs nach 1945 zwischen „Intentionalisten“ und „Strukturalisten“ kurz umreißt und die zentrale Rolle Hitlers für das ideologische Programm der Nationalsozialisten betont (vgl. ders.: Ideologie. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 1997. S. 11-21. Hier S. 18 f.). 505 Fricke-Finkelnburg, Renate (Hrsg.): Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-1945. Opladen 1989. Hier S. 12. Hans-Joachim Lieber betont aus philosophischer Perspektive den uneinheitlichen Charakter nationalsozialistischer Ideologie und deren machtfunktionalen Charakter (vgl. ders.: Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende. Darmstadt 1974. Hier S. 106). Auch Karl Christoph Lingelbach hebt den machtfunktionalen Charakter nationalsozialistischer Ideologie hervor und unterstreicht mit Blick auf die Erziehungspolitik der Nationalsozialisten, dass es eine in sich konsistente faschistische Pädagogik nicht gab (vgl. ders.: Gibt es eine ‚faschistische Pädagogik‘? In: Demokratische Erziehung 5 (1979). S. 36-43). 506 Nationalsozialismus und Schule. S. 12. Kurt-Ingo Flessau beschreibt, dass Hitlers Ausführungen zur Erziehung „weniger auf die fachwissenschaftlich-theoretische Pädagogik des Dritten Reiches“ wirkten, „als vielmehr auf Lehrpläne, Richtlinien und Schulbücher“; er weist darauf hin, dass für „die pädagogische Diskussion“ um 1933 auch viele andere Vertreter der Pädagogik wichtig waren, etwa der „lange Zeit führende Pädagoge des Nationalsozialismus, Ernst Krieck“ sowie u.a. Philipp Hördt, Alfred Baeumler und Hans Schemm (Flessau, Kurt-Ingo: Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. München 1979. Hier S. 43). Da die Fachvertreter der Sprecherziehung sich in ihrer ideologischen Positionierung hauptsächlich auf Hitler beziehen, stehen diese Bezugnahmen hier im Vordergrund. Eine umfassende Einordnung der Sprecherziehung in die bildungstheoretischen Diskussionen des Nationalsozialismus würde eine eigenständige Untersuchung erfordern.

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dung der Sprecherziehung (und damit auch der Sprechstimmbildung) insbesondere im Bereich der Schule. Hier werde ich die neuen Richtlinien für die Lehrpläne, die zwischen 1937 und 1940 erlassen wurden, in den Blick nehmen. Diese fallen nach Renate Fricke-Finkelnburgs dreistufiger Einteilung in die zweite Phase nationalsozialistischer Schulpolitik.507 Wurde die Schule bis 1937 „durch punktuelle Anweisungen mit dem Ziel der ideologischen Ausrichtung partiell umgestaltet“, so findet zwischen 1937 und 1942 „die planmäßige innere und äußere Umgestaltung“508 statt. Der Krieg macht dann ab 1942 „die weitere Umgestaltung nahezu unmöglich“509. In Hinblick auf diese Entwicklung ist die Wirkung, die die Verankerung der Sprecherziehung in den Schullehrplänen entfalten konnte, von vornherein wieder zu relativieren, da die Richtlinien nur in einem sehr kurzen Zeitraum überhaupt Geltung hatten. In einem dritten Abschnitt geht es um die Stimme innerhalb der nationalsozialistischen Rhetorik sowie um die Frage, welche Bedeutung der Sprechstimmbildung in der Rednerschulung der Nationalsozialisten beigemessen wurde.

507 Vgl. Nationalsozialismus und Schule. S. 13. Eine ähnliche Zeiteinteilung findet sich bei Rolf Schörken (vgl. ders.: Jugend. In: Benz; Graml; Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. S. 203-219). Schörken betont allerdings, dass „die erste Phase der nationalsozialistischen Schulpolitik […] durch vergleichsweise mäßige Dynamik bei der weltanschaulichen Umgestaltung gekennzeichnet“ sei (ebd. S. 205) und v.a. dazu diente, politische Gegner und jüdische Lehrer aus dem Schulbetrieb auszuschließen (vgl. ebd. S. 205). In der zweiten Phase hätten die „Bildungsinhalte […] einen charakteristischen Drall“ (ebd. S. 206) erhalten, wobei es „Nischen“ gegeben habe, in die Lehrer ausweichen konnten, wenn sie keine Indoktrination betreiben wollten (ebd. S. 207). In der dritten Phase, in der „die höhere Schulbildung nicht mehr über Mittelstufenniveau hinaus[kam]“ (ebd. S. 209), ist nach Schörkens Einschätzung „Wirklichkeit geworden, was schon immer in den Erziehungsvorstellungen Hitlers, Baldur von Schirachs und anderer führender Nationalsozialisten ausgesprochen war: Verkürzung und Entwertung des auf Wissensvermittlung abgestellten Schulunterrichts, Erziehung durch Tat und Bewährung, die sich nun freilich als Aufopferung der Jugendlichen in einem hoffnungslosen Krieg erwies“ (ebd. S. 209). 508 Nationalsozialismus und Schule. S. 13. 509 Ebd.

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3.4.1 Die ideologische Positionierung der Sprecherziehung im Nationalsozialismus In seinem 1935 erschienenen Buch „Gesprochene Muttersprache“ behauptet Maximilian Weller eine „selbstverständliche Beziehung zwischen Nationalsozialismus und Sprecherziehung“510, so dass es die Sprecherziehung nicht wie manch andere Fächer nötig habe, eine „krampfhafte Beziehung zu Sinn und Wollen der deutschen Freiheitsbewegung“511 zu suchen. Mit dieser Sicht steht Weller nicht allein; auch viele andere Sprecherzieher betonen ab 1933 die Verbindung der Sprecherziehung zu ideologischen Positionen des Nationalsozialismus, wobei Hitlers Ausführungen in „Mein Kampf“ als maßgebliche Bezugspunkte fungieren. Dabei werden zugleich Argumentationslinien aus den Jahrzehnten zuvor fortgesetzt, was teilweise ‚reibungslos‘ verläuft, da diese zu Strömungen gehören, auf die auch der Nationalsozialismus zurückgreift. 512 Bisweilen werden aber auch Widersprüche erzeugt, die jedoch in der Regel nicht aufgelöst werden. Bedeutung des ‚gesprochenen Wortes‘ und ‚völkische‘ Sprachkonzeption Im ersten Band von „Mein Kampf“ beschwört Hitler die „Zauberkraft des gesprochenen Wortes“513, dessen „Macht […] [seit urewig] die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen“514 gebracht habe. Nach Othmar Plöckinger wurde dieses „Axiom“ von der „Überlegenheit des gesprochenen Wortes über das geschriebene […] zu den wichtigsten Konstanten in der natio-

510 Weller, Maximilian: Gesprochene Muttersprache. Studien zur nationalpolitischen Grundlegung der Sprecherziehung. Köln 1935. Hier S. 66. 511 Ebd. S. 65. Mit ‚Freiheitsbewegung‘ meint er den Nationalsozialismus. 512 Hopster und Nassen weisen mit Blick auf den Deutschunterricht darauf hin, dass es problematisch ist, „von der Kontinuität zwischen präfaschistischem und faschistischem Deutschunterricht“ auszugehen, da diese These „exakt jenen Mythos von ‚Nachfolge‘ und ‚Erbe‘ reproduziert, den die nationalsozialistischen ‚Theoretiker‘ unablässig zum Zwecke der Verschleierung der von ihnen vorgenommenen tatsächlichen Veränderungen und Traditionszerstörungen kreierten“ (dies.: Literatur und Erziehung. S. 9). 513 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Hrsg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger et al. Band I: Eine Abrechnung. München, Berlin 2016. Hier S. 327. 514 Ebd.

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nalsozialistischen Welt der Propaganda“515. Die Sprecherzieher greifen diesen Anknüpfungspunkt bereitwillig auf, passt er doch zu ihrem eigenen Bemühen, die gesprochene Sprache im Gegensatz zum Schriftlichen stärken zu wollen. 516 So schreibt Fritz Gerathewohl517 1934 in seinem Aufsatz „Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan“: „Erst die nationalsozialistische Bewegung konnte die Bedeutung der deutschen Sprechkunde und Beredsamkeit wieder ins rechte Licht stellen. […] Der Sieg des Nationalsozialismus ist nicht zuletzt der Sieg der lebendigen Rede über den toten Buchstaben.“518 Und Herbert Ahmels519 führt in seinem Aufsatz „Sprecherziehung und nationale Sprachbildung“ (1934) aus: „Der Zeitenwandel, den wir erleben, hat auch eine völlige Gewichtsverschiebung gebracht vom geschriebenen und gedruckten Wort zum gesprochenen. Die Zeit des Büchermenschen ist abgelaufen, und der neue tätige Mensch ist Sprecher und Redner. Rundfunk und politische Führerrede bestimmen das Antlitz unserer Zeit.“520

Beide verweisen auf Hitlers Ausführungen in „Mein Kampf“. 521 Mit der Abwertung von „Büchermenschen“ und „toten Buchstaben“ rufen Gerathewohl und

515 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 18. 516 Vgl. dazu bspw. die Ausführungen Drachs in seinem Buch „Sprecherziehung“ (ders.: Sprecherziehung. 1922. S. 2 f.; vgl. dazu auch Plöckinger: Reden um die Macht? S. 18). 517 Fritz Gerathewohl war seit 1936 Reichssachbearbeiter für Sprecherziehung im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Sprecherziehung (vgl. Geißner: Wege und Irrwege. S. 365). Nach Klaus Roß war „Gerathewohl maßgeblich für die Geschicke der Sprecherziehung ab 1933“ (Roß: Reden für alle. S. 83). 518 Gerathewohl, Fritz: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. In: Reichszeitung der deutschen Erzieher. Nationalsozialistische Lehrerzeitung (1934). Heft 5. S. 5-7. Hier S. 5. 519 Herbert Ahmels war Mitglied des Engel-Vereins und im DAfSuS. 520 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 191. 521 Ahmels führt Hitlers Satz, dass „[a]lle gewaltigen, weltumwälzenden Ereignisse […] nicht durch Geschriebenes, sondern durch das gesprochene Wort herbeigeführt worden“ seien, ohne Quellenverweis an (vgl. ders.: Sprecherziehung als nationalpolitische Aufgabe. In: Sprechen und Singen: Monatsschrift für Sprecherziehung und Stimmbildung (1934). S. 1-9. Hier S. 2). Die Textstelle findet sich im ersten Band von „Mein Kampf“ (Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I. S. 327).

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Ahmels die antiintellektualistische Haltung auf, die bereits Teil der Strömungen vor 1933 war und die auch Hitler in seinen Erziehungsgrundsätzen – hier allerdings in verschärfter Ausrichtung – vertritt.522 In Fortsetzung von Positionen der Deutschkunde wird die Sprecherziehung zunehmend mit einer ‚völkischen‘ Sprachkonzeption verknüpft, in der die „Muttersprache“523 zugleich Ausdruck des „deutschen Wesens“ als auch „volksbildende Kraft“ sein soll.524 Dabei wird sie als „deutsche“ Sprecherziehung bezeichnet, ein Attribut, das ihr zuvor noch nicht in diesem Maße zugewiesen worden war.525 Sprache beschreibt Ahmels als Ausdruck für „eine gleichartige Auffassung, eine gleichartige Denkweise, eine besondere Art des Fühlens, Wertens und Wollens innerhalb der Sprachgemeinschaft. Sie ist eine formende, gestaltende, alle Seelenvermögen entscheidend bestimmende Kraft.“526 Er weist der Sprache in dieser Wesensbestimmung eine zentrale Funktion für das „Volk“ und die „nationale Einheit“ zu, die er mit biologistischen und rassistischen Konzepten verbindet: so helfe die Sprache, „die auf Blut und Rasse beruhende Wesensgemeinschaft des Volkes zur Willensgemeinschaft der Nation zu formen“.527 Entsprechend deklarieren Ahmels und andere Fachvertreter „Sprachbildung“ zu einer „nationalpolitische[n] Aufgabe“528. Und im Anschluss an die Priorisierung des gesprochenen Wortes folgern die Sprecherzieher, dass „Sprachbildung […] somit heute zuallererst: Sprecherziehung“529 sei. Mit dieser Positionierung verorten sich die Sprecherzieher als wichtige Dienstleister für die Umsetzung des ideologischen Programms der neuen Machtinhaber. Hitler verweist darauf auch im zweiten Band von „Mein Kampf“ (vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. S. 1191). 522 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. S. 1041-1077. 523 Wellers Buch trägt den Titel „Gesprochene Muttersprache“. 524 Ahmels, Herbert: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 190. 525 Vgl. etwa den Aufsatz von Fritz Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. In: Nationalsozialistisches Bildungswesen 1 (1937). S. 230-240. 526 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 190. 527 Ebd. Weller stellt über die Wendung ins Biologische wiederum den Bezug zur gesprochenen Sprache her: „Volk ist Rassevolk und Sprachvolk. Wie der neue Staat nun den neuen Gedanken der Rassenpflege seiner Führung zugrunde legt, wie er im Staat vor allem das zusammengefaßte und gegliederte Volkstum, d.h. das Blutvolle und Lebendige sieht, so mag er auch in der Muttersprache sonderlich das Blutvolle und Lebendige lieben, das aus der atmenden Menschenbrust klingende, lebende Wort.“ (Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 7). 528 Vgl. Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 190. 529 Ebd. S. 191.

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Hochsprache, Dialekte und Theaterpolemik Wird die Engführung von Sprache und nationaler Einheit, wie sie bereits in der Ausspracheregelung am Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, in der Zeit des Nationalsozialismus fortgeführt und durch die Verbindung mit völkischen und rassistischen Argumenten verschärft, so knüpfen die Sprecherzieher daran an, indem sie der Hochsprache weiterhin eine wichtige Funktion zuschreiben. Dabei grenzt man sich nun aber nicht mehr abwertend von den Dialekten ab, sondern von Formen des ‚Sprachverfalls‘ und verbindet damit auch eine gegen das Theater der Weimarer Republik gerichtete Polemik.530 Hier findet sich also noch eine weitere Ausprägung theaterfeindlicher Haltungen in den Diskursen der Sprechstimmbildung. Um das Verhältnis von Hochsprache und Dialekt zu beschreiben, verwendet Weller das Bild, dass sich die deutsche Hochsprache wie „eine Kuppel über den einzelnen Mundarten wölb[t]“531. Dialekte sollen zwar gepflegt werden, „wie alle Dinge[…], die aus dem Volkstum und der Bodenständigkeit kommen“532. Eine „nationalpolitisch gesonnene Sprecherziehung […] glaubt aber, man könne das eine tun und brauche das andere nicht zu lassen; die Hochsprache sei, gemessen an ihrer nationalpolitischen Wichtigkeit, noch längst nicht in den Rang gehoben, der ihr füglich zukomme“533. Das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache sieht Weller als „Doppelheit von Stammestum und Reichsgewalt“534. Die Hochsprache steht also für die nationalpolitische Einheit, entsprechend geht es Weller um die „Herstellung der hochsprachlichen Reichseinheit“535. Auch hier zeigt sich die Kontinuität zu den Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, über die Regelung einer einheitlichen Aussprache auch eine nationalpolitische Einheit zu erzeugen. Bei der Abgrenzung zu den Dialekten wird nun jedoch eine neue Differenz aufgemacht zwischen „[d]en echten, im Heimatboden verwurzelten Mundarten [, denen] Achtung und Pflege [gebührt]“536, und den „lässigen Umgangssprachen der Großstädte“ 537, gegen die 530 Theaterpolemik findet sich auch bei Hitler, der dem Theater eine „Vergiftung der Seelen“ unterstellt, sich damit aber v.a. auf die ‚sexuelle Verführung‘ von Theater, Kino und Varieté bezieht (Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I. S. 667). 531 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 23. Ähnlich drückt sich auch Gerathewohl aus (vgl. ders.: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 236). 532 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 112. 533 Ebd. 534 Ebd. 535 Ebd. S. 115. 536 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 192. 537 Ebd.

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man vorgehen möchte. Ähnlich grenzt Weller die Mundart von „minderwertige[m] Sprachgut […], wie verwaschene[r] Großstadtmundart, ‚Jargon‘ und ‚Slang‘“538 ab. Auch politische Vertreter wettern „gegen die lässige Umgangssprache und gegen die verlotterte Gassensprache“539 und verteidigen die Dialekte, so etwa Martin Mutschmann, Gauleiter und Reichstatthalter in Sachsen, der bei einer Kundgebung erklärt, „daß es bei der Sprecherziehung in Sachsen nicht darum geht, die echten Mundarten des Vogtlandes, des Erzgebirges und der Lausitz zu beseitigen“540. Die Debatte um Dialekt und Hochsprache verschiebt sich also in Richtung einer ideologischen Aufwertung von ländlichem Raum, der mit Ursprünglichkeit und Heimatverbundenheit verknüpft wird, und mit einer Abwertung der Großstadt und von Entwicklungen der Moderne, die jeweils mit bestimmten Sprechstilen und Sprachformen in Verbindung gebracht werden. Theodor Siebsʼ grundsätzliche Leistung für die Normierung der Aussprache wird von den Sprecherziehern nicht in Frage gestellt. Gerathewohl etwa hebt die ungebrochene Geltung des ‚Siebs‘ hervor, wenn er 1934 schreibt: „Wo nur immer in der Welt heute deutscher Sprachunterricht erteilt wird, hat die Siebs’sche Regelung der Aussprache Beachtung zu finden. […] Ein Meisterwerk, um das uns jede andere Kulturnation beneidet. Seine Hauptregeln müssen jedem Deutschen in der Schule des Dritten Reiches, d.h. des ersten Reiches deutscher Einheit, vertraut gemacht werden, damit er neben dem Ausdruck seines Stammes die Sprache Gesamtdeutschlands kennen und gebrauchen lernt.“541

Allerdings gibt es auch Bestrebungen für eine Neubearbeitung der Ausspracheregelung. Diese wird von Weller in unproblematische Kontinuität zur Siebs’schen Regelung gesetzt542, während Geißler, der an der Neuregelung beteiligt war, stärker Kritik übt – dabei gleichzeitig aber auch seine Achtung vor der Leistung Siebs’ betont sowie auf den Einfluss der Siebs’schen Regelung auf die „lebende Aussprache“543 hinweist. Hintergrund für die 1937 begonnene Neure538 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 113. 539 So Hans Stricker, Leiter der Hauptstelle Erziehung und Unterricht im Hauptamt für Erzieher, in seinem ‚Geleit‘ für die erste Ausgabe der ab 1938 erschienenen Zeitschrift für Sprechkunde und Sprecherziehung „Das gesprochene Wort“ (ders.: Zum Geleit. In: Das gesprochene Wort (1938). S. 1). 540 Die Sachsen voran! In: Das gesprochene Wort (1938). S. 27-28. Hier S. 27. 541 Gerathewohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 6. 542 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 52 f. 543 Ewald Geißler: Was wir gegen die „Deutsche Bühnenaussprache-Hochsprache“ auf dem Herzen haben. S. 321.

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gelung sind Forderungen des Rundfunks, der die Siebs’sche Regelung in vielen Fällen als nicht hilfreich empfand544, entsprechend wendet man sich gegen eine Neuregelung aufgrund der Bühnensprache.545 Daran werden teilweise auch Polemiken gegen das Theater der Weimarer Republik und bestimmte Schauspieler geknüpft. So fordert Weller – zunächst durchaus dem Siebs’schen Anliegen folgend, dass die Ausspracheregelung nicht nur für die Bühne gelten solle – den Titel „Bühnenaussprache“ wegzulassen, „da er immer wieder dem Irrtum Vorschub leistet, als handele es sich lediglich um eine Sprachart der Schauspieler. Hochsprache ist aber nicht Bühnensprache, sondern die mundartfreie Rechtlautung des deutschen Volkes.“546 Dann folgt die Theaterpolemik: Theater könne auch deshalb nicht mehr als Vorbild für die Hochsprache gelten, da „[g]utes Sprechen […] bei manchen Bühnenleitern und Regisseuren in Verruf“ stehe und „viele Schauspieler in ein ungepflegtes und schlampiges Sprechen“ verfielen. 547 Grund dafür seien die „Verfallserscheinungen der Zeit des Weimarer Zwischengebildes“548, mit denen es „zusammen[hing], daß Darsteller mit fremdartiger, jedenfalls irgendwie verkehrter und undeutlicher Aussprache besonders beliebt waren. (Moissi, Bergner, Durieux, Ebinger, Werberzirk, Pallenberg usw.)“ 549. In den Attributen „fremdartig“ und „irgendwie verkehrt“ klingt die diffamierende Bezeichnung ‚entarteter Kunst‘ der Nationalsozialisten an, die von Weller hier mit einer undeutlichen Aussprache verknüpft wird. Bei Weller zeigt sich also eine theaterfeindliche Haltung, die sich ideologisch gegen das Theater der Weimarer Republik und bestimmte Schauspieler richtet, die aufgrund ihrer Sprechweise als ‚nicht deutsch‘ charakterisiert werden. Nicht immer mit direktem Bezug zur Siebs’schen Regelung, aber wohl durchaus in Beziehung dazu zu verstehen sind Abwehrhaltungen der Sprecher544 Vgl. Krech: Probleme der deutschen Ausspracheregelung. S. 21. 545 Vgl. Geißler: Was wir gegen die „Deutsche Bühnenaussprache-Hochsprache“ auf dem Herzen haben. 546 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 53. 547 Ebd. S. 26. Dem folgt der Hinweis, dass „Mimen mit Sprachfehlern und seltsamen, manchmal gar nicht gewachsenen, sondern künstlich angequälten Dialektgewohnheiten von Bühnenleitern verpflichtet wurden, weil sie ‚natürlich‘ sprächen und eine ‚persönliche Note‘ hätten“ (ebd. S. 27). Der Hinweis ist – abgesehen von seiner diffamierenden Absicht – insofern interessant, als er auf eine Suche nach ‚authentischen‘ Stimmen bereits in den 1920er Jahren verweist. Auf deren Einsatz in Produktionen des postdramatischen Gegenwartstheaters verweist Jenny Schrödl (vgl. dies.: Vokale Intensitäten. S. 71-74). 548 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 26f. 549 S. 27.

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zieher, die in ihren Texten wiederholt betonen, dass sie nicht dazu erziehen wollen „nach Art von Schauspielern einer vergangenen Stilepoche ‚schön‘“550 zu sprechen.551 Auch der bereits zitierte Gauleiter Mutschmann hebt hervor, dass es nicht darum gehe „ein gekünsteltes und gedrechseltes SchauspielerHochdeutsch“ zu lernen.552 Der Vorbehalt der ‚Geziertheit‘, gegen den schon Siebs sich verwehrte, ist den Sprecherziehern also offensichtlich weiterhin begegnet. Diesen Vorwurf abwehrend betont auch Gerathewohl, dass „die wissenschaftlich begründete Sprechkunde, wie sie sich in den Nachkriegsjahren [des ersten Weltkrieges; Anm. D. P.] entwickelte, […] die Wege auf[zeigt], die vor der Gefahr einer unechten, gekünstelten oder auch hygienisch bedenklichen Stimmführung und Aussprache behüten“553. Auch hier werden also Forderungen nach einer authentischen und ungekünstelten Sprechweise laut, die das Authentische freilich nicht weiter definieren. Wie auch schon bei Siebs und in den 1920er Jahren ist die Stoßrichtung hier vor allem gegen eine künstliche Wirkung gerichtet und dreht sich weniger um die Fragen von Natürlichkeit und Verstellung; sie hat auch eine andere Stoßrichtung als die von Weller vorgenommene, nationalistische Abgrenzung von ‚fremdartig – deutsch‘. An dieser Darstellung wird zudem noch einmal deutlich, dass die Sprecherzieher kein Problem darin sahen, die Kontinuität ihrer Fachentwicklung hervorzuheben, was auf die Anschlussfähigkeit von Positionen der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ an nationalsozialistische Ideologeme verweist. Primat des Körperlichen, Charakterschulung und das Ganzheitlichkeitspostulat Hitler äußert sich insbesondere im zweiten Band von „Mein Kampf“ auch zu seinen Vorstellungen von den Erziehungsaufgaben des Staates. Er weist dabei der körperlichen Erziehung einen eindeutigen Vorrang vor der geistigen Erziehung zu, wobei er allein aus einer rassistischen und biologistischen Perspektive der ‚Arterhaltung‘ argumentiert:

550 Gerathewohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 6. 551 Mit Blick auf die Vortragskunst betont Ahmels, dass die Sprecherziehung auch „virtuoses Vortragen und Deklamieren“ verwirft (Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 195). Auch hier zeigt sich der Vorbehalt gegen den Übertrag von Sprechweisen von Schauspielern auf das Alltagssprechen. 552 Auch der Gauleiter Mutschmann betont, dass es nicht darum gehe „ein gekünsteltes und gedrechseltes Schauspieler-Hochdeutsch“ zu lernen (Die Sachsen voran! S. 27). 553 Gerathwohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 6.

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„Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als Letztes die wissenschaftliche Schulung.“554

Mehrfach warnt Hitler davor, die Schüler – er spricht meist von den „jungen Gehirnen“555 – mit Wissensstoff zu überfordern: „Ballast […], den sie erfahrungsgemäß nur zu einem Bruchteil behalten“556. Er betont, dass dem Turnunterricht in der Schule zu wenig Platz zukomme, wobei er dabei wohl eher den Schulunterricht seiner eigenen Jugend vor Augen hat, als die „Realität des Weimarer Turnunterrichts und seinen gesellschaftlichen Stellenwert“557. Seine Kritik an einem Übermaß an Wissensvermittlung in der Schule zielt damit in eine ähnliche Richtung, wie sie auch in den bildungskritischen Positionen der 1920er Jahre zu finden ist, und scheint der Kritik zu gleichen, die auch von den Sprechstimmbildnerinnen Schlaffhorst und Andersen sowie von einigen Vertretern der Sprecherziehung vorgebracht wurde. Während diese jedoch die Einseitigkeit der Wissensvermittlung kritisieren und dem ein Ideal ganzheitlicher Bildung und Ausbildung entgegenstellen, erhält bei Hitler die körperliche Ausbildung den Vorrang. Dies zeigt sich auch in der Umsetzung von Hitlers Forderungen in den Schulerlassen. So wird in einem Erlass des Reichserziehungsministers zur „Schülerauslese“ an höheren Schulen vom 27. März 1935 ausgeführt, dass es „[d]ie Aufgabe der höheren Schule ist […], den körperlich, charakterlich und geistig besonders gut veranlagten Teil der deutschen Jugend so zu erziehen, daß er fähig wird, später in gehobenen oder führenden Stellen unser politisches, kulturliches und wirtschaftliches Volksleben maßgebend mitzugestalten“558. Dem wird dann hinzugefügt, dass „[b]ei allen aussondernden Maßnahmen auf Grund mangelhafter geistiger Leistungen […] die körperlichen und charakterlichen Fähigkeiten voll mitzuwerten [sind]. Wenn der Schüler hervorragende Führereigenschaften besitzt und getätigt hat, ist besonders wohl-

554 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. S. 1043. 555 Ebd. S. 1045. 556 Ebd. 557 Ebd. S. 1044. 558 Nationalsozialismus und Schule. S. 93. Der komplette Erlass umfasst S. 93 bis 96.

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wollend zu verfahren. Gute rein verstandesmäßige Leistungen können jedoch nicht als Ausgleich charakterlicher Mängel angesehen werden.“559

Eine mangelnde geistige Anlage kann also durch körperliche und charakterliche Leistungen wettgemacht werden und stellt keinen Hinderungsgrund für eine Karriere im nationalsozialistischen Staat dar. Hitler sieht die Erziehungsleistung der Staates, die sich seines Erachtens nicht auf die Schulzeit beschränken soll, insbesondere als „Vorbildung für den späteren Heeresdienst“560. Auch die Erziehung der Mädchen, der Hitler nur wenige Zeilen widmet, folgt dem Primat der körperlichen Ausbildung, entsprechend der Zielsetzung, dass das „Ziel der weiblichen Erziehung […] unverrückbar die kommende Mutter zu sein“ 561 hat. Während sich in den Texten der Sprecherzieher, wie auch schon vor 1933, immer wieder Kritik an der „maßlose[n] Überschätzung alles Verstandesstoffes“562 im 19. Jahrhundert findet, wird auf Hitlers Bevorzugung der körperlichen Erziehung nur recht spärlich Bezug genommen. Allein Weller stellt den körperlichen Charakter der Sprecherziehung heraus: „Die Sprechtechnik ist zu einem erheblichen Grade ein körperlich-technisches Fach, künstlerischer Vortrag und Rede sind auch dem Körperlichen verhaftet. […] [S]precherisches Ausdruckskönnen verlangt einen gesunden und gebildeten Körper und hilft mit, ihn so zu gestalten.“563 Dieser Setzung widerspricht jedoch das Bemühen der Sprecherziehung vor 1933, konzeptionell und methodisch hervorzuheben, dass Sprechstimmbildung eben nicht als rein körperlicher Vorgang zu verstehen und zu üben ist, sondern auf leib-seelische Ganzheit ausgerichtet ist. Und auch die Kritik an der Überbetonung der Wissensvermittlung hatte eine ganzheitliche Ausbildung und keine Umkehrung ins Körperliche im Blick. Diesen Aspekt von Hitlers ‚Erziehungsentwurf‘ lassen die Sprecherzieher entsprechend lieber ‚unter den Tisch fallen‘. Stattdessen suchen sie den Anschluss an den von Hitler an zweiter Stelle genannten Erziehungsaspekt der Charakterschulung, den sie mit ihrem ganzheitlichen Ansatz verknüpfen.564 So führt Herbert Ahmels aus: „Auch die Stimmbildung ist keine bloß körperliche Angelegenheit, ist nicht nur Gymnastik der 559 Ebd. 560 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. S. 1055. 561 Ebd. S. 1057. 562 Gerathewohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 5. 563 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 72. 564 Auch Weller betont durchaus den ganzheitlichen Charakter der Sprecherziehung und bietet, nachdem er auf die körperlichen Aspekte der Sprecherziehung eingegangen ist, die „Dienste“ der Sprecherziehung auch für „die Entwicklung des Charakters und der Willenskraft“ an (vgl. Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 72).

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Sprachorgane, sondern geistige und seelische Bildung und vor allem Charakterschulung.“565 Ebenso ist die „[d]eutsche Rede […] keine formale Fertigkeit, sondern Ausdruck hochgespannter Innerlichkeit. Redeschulung ist also auch immer Charakterbildung.“566 Und insgesamt folgert er: „Spracherziehung wendet sich an den ganzen Menschen, erfaßt Geist, Leib und Seele zugleich; sie ist Willens- und Charakterschulung.“567 Betont wird von Ahmels auch der Einfluss der „Erziehungsgemeinschaft“ – etwa einer Schulklasse – auf den Sprechstil und, dass die „Sprechweise den Charakter formt“. 568 Neu ist der Begriff der ‚Sprechzucht‘, der wohl von einer Äußerung des nationalsozialistischen Pädagogen Krieck abgeleitet ist569 und nun oft als Synonym für den Bereich der Sprechstimmbildung oder Sprechtechnik verwendet wird. 570 Klingt hier das Hitler’sche Diktum vom „Heranzüchten kerngesunder Körper“ an, so ist Ahmels auch hier bemüht, zu betonen, dass dies keineswegs als „Dressur“ zu verstehen ist, und führt damit die methodischen Vorbehalte der Sprecherzieher gegen Drill fort. 571 Dass insbesondere die nationalsozialistischen Organisationen wie die Hitlerjugend vielfach genau auf Drill und Abrichtung ausgerichtet waren, ignoriert er dabei. Neben der Verknüpfung der Forderung nach Charakterschulung mit dem in der Sprecherziehung vertretenen ganzheitlichen Ansatz findet sich in einigen sprecherzieherischen Texten auch der Schulterschluss mit dem von nationalsozialistischen Bildungstheoretikern vertretenen Ganzheitsbegriff – ungeachtet allerdings der jeweiligen Ausprägungen, die der Begriff dort erfährt. 572 So führt Fritz

565 Ahmels: Sprecherziehung als nationalpolitische Aufgabe. S. 3. 566 Ebd. S. 3. 567 Ebd. S. 5 f. Ahmels spricht hier von Spracherziehung, weil er auch den schriftlichen Ausdruck einbezieht; wie oben bereits erläutert, wird der Schwerpunkt der Sprachbildung jedoch auf das gesprochene Wort gelegt. 568 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 192. 569 Diesen zitiert Ahmels mit den Worten: „Eine dringliche Aufgabe der deutschen Schule ist die Zucht zur deutschen Sprache und die Zucht durch die Sprache.“ (Ahmels: Sprecherziehung als nationalpolitische Aufgabe. S. 2). 570 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 192. 571 Vgl. Ahmels: Sprecherziehung als nationalpolitische Aufgabe. S. 3. 572 So geht es bspw. Alfred Baeumler eher um eine Anthropologie des handelnden Menschen, mit dem für Baeumler der Begriff der Ganzheit verknüpft ist (vgl. KarlHeinz Dickopp: Systemanalyse nationalsozialistischer Erziehung. Kontinuität oder Abschied. Ratingen, Wuppertal, Kastellaun 1971. Hier S. 43-47). Ein umfassende Analyse der Bezugnahmen der Sprecherzieher auf die Schriften der nationalsozialis-

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Gerathewohl in seinem Aufsatz „Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan“ aus: „Als wichtigste Voraussetzung eines Erfolges ist zu beachten, daß sich die Sprecherziehung jeweils auf die Gesamtpersönlichkeit des Schülers zu erstrecken hat. Ihre von germanistisch wie psychologisch gleicherweise geschulten Fachvertretern aufgestellte Methode hat den von der nationalsozialistischen Weltanschauung wieder als selbstverständlich erkannten Ganzheitsbegriff zur Voraussetzung. Wie die Sprache ein Gesamtbild des völkischen Wesens darstellt, in dem Denken, Fühlen und Wollen gleicherweise zur Erscheinung kommt, ist das Sprechen des Einzelnen ein Akt, der sein gesamtes geistiges, seelisches und körperliches Dasein bedingt.“573

Bereits in einem anderen Aufsatz hatte er die „leib-seelische Ganzheit“574 des Menschen mit der Zugehörigkeit zu „den größeren Gegebenheiten Volkstum und Rasse“575 verknüpft. Und schließlich gelingt es ihm sogar, die Hitler’sche Bevorzugung körperlicher Ausbildung so zu wenden, dass sie mit den Forderungen der Sprecherzieher nach Ganzheitlichkeit kongruent erscheint: „So wenig die Leibeserziehung heute […] als bloße ‚Körperpflege‘ angesehen werden kann, sondern sich ebenso auf die Schulung des Leibes wie des Charakters erstreckt, kann die Sprecherziehung, die auf dem Ganzheitsgrundsatz aufbaut, etwa mit bloßer Stimmbildung gleichgestellt werden oder in irgendwelcher anderen Hinsicht Teilzielen zustreben, die abseits des vom Führer festgelegten nationalsozialistischen Hauptzieles deutscher Erziehung lägen.“576

Dass die von Hitler formulierten Erziehungsgrundsätze sich keineswegs mit der Kritik der Sprecherzieher an „mechanistischem Drill“577 und „Abrichten“578 decken, ignorieren die Sprecherzieher ebenso wie sie überlesen, dass Hitler bei der Charakterschulung an erster Stelle fordert, „den Einzelnen zur Verschwie-

tischen Bildungstheoretiker würde, wie bereits erwähnt, eine eigene Untersuchung erfordern und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. 573 Gerathewohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 6. 574 Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 232. 575 Ebd. 576 Ebd. S. 235. 577 Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 235. 578 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 192.

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genheit“579 zu bilden. An den Bezugnahmen der Sprecherzieher auf nationalsozialistische Ideologeme – insbesondere auf von Hitler vertretene Positionen – wird deutlich, dass sich der Sprecherziehung in der Tat Anknüpfungspunkte boten, ihr Fach innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie zu positionieren und dabei frühere Ansätze – wie bei der Haltung gegenüber Dialekten zum Teil mit leichter Modifikation – fortzusetzen. Allerdings gibt es durchaus auch Widersprüche zu den vor 1933 vertretenen Ansätzen, die jedoch überschrieben oder mit den Positionen der neuen Machthaber amalgamiert werden. Dass sich die ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ insgesamt gut in die Ideologie der Nationalsozialisten fügte, zeigt die Unterstützung, die sie im Bereich der Schule erfuhr und die im folgenden Abschnitt behandelt wird. 3.4.2 Die verstärkte institutionelle Verankerung der Sprecherziehung Die Hervorhebung der Gemeinsamkeiten zwischen ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ und nationalsozialistischen Positionen von Seiten der Sprecherzieher ist auch als Bestreben zu sehen, institutionelle Unterstützung für ihr Fach zu bekommen und die bis in die 1930er Jahre noch nicht vollständig gesicherte institutionelle Verankerung voranzubringen. Nach wie vor ist Sprecherziehung keineswegs allen bekannt, beziehungsweise es gibt auch Vorbehalte gegenüber dem Fach.580 So schreibt der Sprecherzieher Fritz Gerathewohl noch 1937: „Die Sprecherziehung hat nicht nur, wie die anderen Fächer, ihren Standort im Bereiche nationalsozialistischer Gesamterziehung zu suchen und zu festigen, sondern sie hat auch auf weitem Felde noch um ihre Anerkennung schlechthin zu kämpfen oder zumindest um ein Verständnis für ihr eigentliches Wesen und ihre Zielsetzung zu werben.“581

579 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. S. 1057. Diesen Aspekt betont auch Roß mit Verweis auf Hans Joachim Frank: „Frank hat mit Blick auf den Deutschunterricht zu Recht darauf hingewiesen, dass im Nationalsozialismus gar nicht die Absicht bestanden habe, ein Volk von Redner heranzubilden (Geschichte des Deutschunterrichts 1973. S. 828 f.).“ (Roß: Reden für alle. S. 88). 580 Auch Weller führt in seinem Buch „Gesprochene Muttersprache“ einige Vorbehalte gegen die Sprecherziehung an (vgl. ders.: Gesprochene Muttersprache. S. 9-10) und erklärt, es sei schwierig „die Geschichte der gesamten Sprecherziehung vorzulegen, eines Faches, das viele gar nicht kennen, manche mißachten und das sich somit nicht einmal zu seiner ihm gebührenden Geltung durchgerungen hat“ (ebd. S. 26). 581 Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 230.

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Auch wenn bereits „Aufklärungsarbeit“582 geleistet worden sei, „um allmählich jedem deutschen Erzieher wie auch den behördlichen Stellen klarzumachen, worum es der Sprecherziehung geht“583, gelte es „noch manche Mißverständnisse zu beseitigen“584. Und mit Hinblick auf die Anpassungsbereitschaft der Sprecherziehung fordert er, die Sprecherziehung müsse „falsche Begründungen und Zielsetzungen auf[…]geben, wenn der Sprecherziehung die Auswirkung verschafft werden soll, die ihr im Rahmen der großen nationalsozialistischen Bildungsaufgabe zukommt“585. Trotz der bestehenden Vorbehalte erfährt die Sprecherziehung ab 1933 verstärkte institutionelle Unterstützung, was aber zunächst damit einhergeht, dass ihr zentrales Organisationsorgan der DAfSuS (Deutscher Ausschuss für Sprechkunde und Sprecherziehung) am 25. April 1936 ‚gleichgeschaltet‘ wird – seit 1934 war dieser bereits mit der Lektorengemeinschaft zusammengefasst. 586 Seit 1936 ist die Sprecherziehung als Reichssachgebiet mit angeschlossener Arbeitsgemeinschaft Teil des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), Fritz Gerathwohl ist als Reichssachbearbeiter ihr Leiter. 587 Er weist in seinem Aufsatz „Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung“ auf die Unterstützung durch den Reichswalter des NSLB, Fritz Wächtler, sowie die Unterstützung „vieler Gauwaltungen“ hin.588 1938 erhält das Reichssachgebiet Sprecherziehung eine eigene Zeitschrift „Das gesprochene Wort“, die zugleich als offizielles Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft dient.589 In der ersten Ausgabe (1938) wird bekannt gegeben, dass die „Arbeitsgemeinschaft für Sprecherziehung im 582 Ebd. S. 239. 583 Ebd. 584 Ebd. S. 231. 585 Ebd. 586 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 299 und S. 306. Der Engel-Verein wird zur Auflösung gedrängt; die Zeitschrift „Sprechen und Singen“, die ursprünglich vom Engel-Verein herausgegeben wurde, nach der Annäherung an die Sprecherzieher aber auch von Sprecherziehern als Publikationsorgan genutzt wurde, wird 1937 eingestellt, damit die Zeitschrift „Das gesprochene Wort“ erscheinen kann (vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 299-302). 587 „Die führenden VertreterInnen des DAfSuS und indirekt auch die des Engel-Vereins werden dabei funktional in die neue AG f. S[prech]E[rziehung] im NSLB eingegliedert, und zwar als Gau- bzw. Kreissachbearbeiter für S[prech]E[rziehung].“ (Ebd. S. 299). 588 Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 230 f. 589 Gerathewohl bezeichnet sie als „amtliches Organ für Sprechkunde und Sprecherziehung“ (ebd. S. 240).

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NSLB […] die einzige Organisation [ist], die die deutschen Sprecherzieher umfaßt“590. Es wird auf die Prüfung für die Lehrberechtigung zur Sprecherziehung verwiesen, die „[f]ür den Nachwuchs der deutschen Sprecherzieher […] verpflichtend“591 ist. Zugleich wird der Alleinvertretungsanspruch der Arbeitsgemeinschaft gegenüber Behörden und Gremien betont, wobei auch die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft nur mit „Einverständnis der Reichwaltung und des Reichssachbearbeiters […] berechtigt [sind], in Sachen der Sprecherziehung mit irgendwelchen Stellen der Partei und des Staates […] in Verbindung zu treten“592. Der Alleinvertretungsanspruch der Sprecherziehung im Bereich der Sprechstimmbildung wird damit also verstärkt, allerdings wird die Prüfung für Sprecherzieher auch in der Zeit des Nationalsozialismus keine staatliche Prüfung.593 An den Universitäten werden zwischen 1933 und 1945 die bestehenden Lektorate fortgeführt und ein paar neue eingerichtet; zudem werden verschiedene Lektoren zu Honorarprofessoren – einige wenige auch zu ordentlichen Professoren – im Bereich der Sprechkunde ernannt.594 Das Hauptaugenmerk der Sprechkundler und Sprecherzieher richtet sich jedoch auf die institutionelle Verankerung der Sprecherziehung in der Schule, in der die Sprecherziehung auch tatsächlich eine größere Bedeutung erhält. Wie in der Einleitung dieses Kapitels bereits geschildert, erfolgt die Etablierung in der zweiten Phase nationalsozialistischer Schulpolitik, als zwischen 1937 und 1940 neue Richtlinien für die Schulen erlassen werden. Im Folgenden werden die Richtlinien der verschiedenen Schularten in den Blick genommen, wobei es in erster Linie um den Stellenwert geht, den die Sprechstimmbildung – auch in Vergleich zu den Richtlinien der 1920er Jahre – erhält.

590 Das gesprochene Wort. S. 23. 591 Ebd. 592 Ebd. 593 Vgl. Pabst-Weinschenk: Konstitution der Sprechkunde. S. 326. Hier waren die politischen Entwicklungen der Förderung der Sprecherziehung eher hinderlich. Drach hatte sich bereits vor 1933 um eine staatliche Anerkennung der DAfSuS bemüht, diese Bemühungen kamen jedoch zum Erliegen, da seine Ansprechpartner und Förderer seines Anliegens im Ministerium zwischen 1933 und 1934 ausschieden und das Ministerium nach 1933 mit anderen Aufgaben ausgelastet war (vgl. ebd.). 594 Vgl. Pabst-Weinschenk: Anfänge der Sprecherziehung. S. 84-94.

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Die Richtlinien für die höheren Schulen 1938 erscheinen die Richtlinien für die höheren Schulen. In ihnen wird – neben der nationalsozialistischen Ausrichtung des gesamten Unterrichts 595 – bei den Grundlagen gefordert, dass „[i]m gesamten Unterricht […] klares Deutsch in Wort und Schrift ständig gepflegt werden [muss]“596. Ihren besonderen Platz erhält die Sprecherziehung dann im Fach Deutsch als Teil der Spracherziehung. Von der Spracherziehung heißt es, dass sie „in der neuen deutschen Schule zwar keinen breiteren Raum einnehmen, wohl aber ein wesentlich schwereres Gewicht erhalten [wird] als bisher“597. Die „Erziehung zum Sprechen“ wird unterteilt in „Sprech- und Gehörübungen“, „nachgestaltendes Sprechen“ (das wiederum in Lesen und Vortragen unterteilt ist) und „selbstgestaltendes Sprechen“ (unterteilt in mündliche Ausdrucksübungen und freie Redeübungen). 598 In den Grundzügen sind also die Teilgebiete der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ abgedeckt. Bevor für jeden Jahrgang aufgeschlüsselt wird, was in den Teilgebieten jeweils zu behandeln ist, werden einige grundlegende Anmerkungen gemacht. Dabei wird besonders auf die „gerade und entschiedene Haltung des Schülers“, die „auch in seiner Sprache zum Ausdruck kommen“ soll, verwiesen. 599 Dann gehen die allgemeinen Ausführungen besonders auf die Frage der Hochsprache ein: die „reine Hochsprache“ soll für das „gehobene Sprechen […] Vorbild“ sein; dieses wird jedoch – mit den bereits bekannten Vorbehalten gegen die Bühnensprache als Kunstsprache – auch wieder relativiert: „Weil jedoch die Sprache, die an der Schule gelehrt wird, nicht eine literarische Kunstsprache und auch nicht die Bühnensprache sein kann, sondern wirklich gesprochene, lebendige Sprache sein muß, so gilt als verbindliches Ziel die landschaftlich und volkstümlich gebundene Hochsprache.“600 Auch hier erscheint die Hochsprache also eher als ein oberes Richtmaß, von dem aus Abstufungen vorgenommen werden sollen; welche Regeln für diese Abstufungen gelten, beziehungsweise was man sich unter der „volkstümlich gebundenen Hochsprache“ vorzustellten hat, wird nicht gesagt. Die Toleranz gegenüber Dialekten ist größer, gewarnt wird – wie

595 Vgl. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule. Amtliche Ausgabe des Reichs- und preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Berlin 1938: „nationalsozialistische Weltanschauung ist […]Fundament“ des Unterrichts (ebd. S. 19). 596 Ebd. S. 22. 597 Ebd. S. 37. 598 Vgl. ebd. S. 38-40. 599 Ebd. S. 38. 600 Ebd.

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auch in den oben zitierten Ausführungen von Sprecherziehern und Politikern – vor „zersetzte[r] Hochsprache“: „Die Strenge, mit der die Gesetze dieser Schulsprache überwacht werden, ist landschaftlich verschieden zu handhaben: Freiheiten, die an Orten mit lebendiger und bodenständiger Mundart eingeräumt werden können, sind in sprachgefährdeten Bezirken (z.B. in Großstädten, Industriegebieten, Grenzgebieten) unbedingt einzuschränken. In ihnen ist scharf zu unterscheiden zwischen ursprünglicher Mundart und einer schon wieder zersetzten Hochsprache.“601

‚Verfallserscheinungen‘ der Sprache werden auch hier also mit antiurbanen und arbeiterfeindlichen Vorbehalten sowie mit der Angst vor dem Einfluss anderer Sprachen in Verbindung gebracht, dem eine Idealisierung des BäuerlichLändlichen gegenüber gestellt wird. Gefordert wird zudem die „sprechtechnische und sprecherzieherische Schulung der Deutschlehrer selbst“602. Im Hinblick auf die methodische Ausrichtung der Sprecherziehung ist interessant, dass auch beim „nachgestaltenden Sprechen“, nämlich beim Gedichtvortrag darauf verwiesen wird, das „[m]it dem Auswendiglernen […] auf jeden Fall ein sinnvoller Zweck verbunden sein [muss]; rein mechanische Gedächtnisleistungen sind deshalb abzulehnen“ 603. Hier klingt mit einem anderen Fokus die von den Sprecherziehern formulierte Ablehnung „inhaltsloser“ Übung an. Bei den „Freie[n] Redeübungen“ wird darauf hingewiesen, dass „[d]iese Redeübungen […] ebensowenig zu planmäßiger Redekunst wie zur Schulung der leeren Geläufigkeit werden [dürfen]“604. Auf die Relativierung der Redeschulung in der Schule gehe ich unter 3.4.3 noch ein. In der Aufschlüsselung des Unterrichtsstoffes nach Jahrgängen wird immer wieder auf das verwiesen, was in der Klassenstufe zuvor Stoff war: auch hier findet sich also ein strukturiertes und aufeinander aufbauendes Disziplinierungsprogramm, wie Foucault es beschrieben hat. Die Anweisungen sind zwar knapp formuliert, umfassen aber alle Bereiche der Sprechstimmbildung. In Klasse eins (also entsprechend der fünften Klasse des heutigen Gymnasiums) geht es zunächst darum „Unarten und Mängel[…], wie Undeutlichkeit, Unsauberkeit in der Aussprache der Einzellaute, besonders der Mittellaute, Silbenverschleifung und

601 Ebd. 602 Ebd. 603 Ebd. S. 39. 604 Ebd. S. 40.

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-verschluckung“ 605 zu beseitigen. Interessanterweise werden auch Sprechfehler, die in den Bereich der Logopädie fallen, wie Lispeln und Pressen, erwähnt. Geschwindigkeitsübungen und sinnvolle Atemeinteilung sollen ebenfalls geübt werden. In der zweiten Klasse werden die Übungen der ersten wiederholt, ergänzt um Atemübungen (die jedoch nicht genauer angeführt sind) und der Forderung Zeitmaß und sinnvolle Gliederung zu üben.606 In der dritten Klasse soll „zum Muskelgefühl beim Sprechen in Zusammenhang mit Atmung, Lautbildung an den richtigen Ansatzstellen und Vermeidung des stimmschädigenden ‚harten Einsatzes‘ (Glottisschlages)“607 erzogen werden. Für das Sprechen vor der Klasse gilt die „[s]trenge Forderung der Hochsprache“608. Die Forderungen für die folgenden Jahre werden knapper: in der vierten Klassen „[w]ie in Klasse 3. Forderung des gesundheitlich richtigen Sprechens (‚vorn‘!). Vermeidung von Überanstrengung; Umfang der Sprechstimme (Indifferenzlage)“609. In der fünften Klasse wieder Verweis auf Klasse vier sowie die Forderung nach „[f]este[r] Gewöhnung an den Gebrauch der Hochsprache. Vermittlung der Einsicht die Grundlagen der Sprechvorgänge“610. In der sechsten Klasse soll die „Bedeutung der Resonanzräume für die Klangwirkung“ 611 vermittelt werden und die siebte und achte Klasse begnügt sich mit Verweisen auf die vorherigen Jahre.612 Stimmerziehung soll entsprechend den Richtlinien nicht nur im Deutschunterricht stattfinden, sondern auch im Musikunterricht, hier als „Sprecherziehung und Stimmbildung in Verbindung mit dem Liede“613. Hierbei wird dann besonderes Augenmerk auf „Stimmbildungsübungen zur Entwicklung des Umfangs, der Sicherheit und Geläufigkeit“614 sowie auf gesundheitliche Aspekte gelegt. Es werden also recht umfassend die Funktionsbereiche der Sprechstimmbildung behandelt, wobei jedoch keine konkreten methodischen Hinweise gegeben werden und auch kein Übungsmaterial vorgegeben wird. Im Vergleich zu den Richtlinien von 1925 stellen die Ausführungen von 1938 jedoch eine wesentlich detailliertere Berücksichtigung der Sprechstimmbildung dar.

605 Ebd. S. 53. 606 Ebd. S. 55. 607 Ebd. S. 57. 608 Ebd. 609 Ebd. S. 59. 610 Ebd. S. 61. 611 Ebd. S. 63. 612 Ebd. S. 65-68. 613 Ebd. S. 136. 614 Ebd.

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Die Richtlinien für die Volks- und Mittelschule Am 10. April 1937 wurden die „Richtlinien für den Unterricht in den vier unteren Jahrgängen der Volksschulen“ erlassen. In diesen wird unter Punkt „III. Die deutsche Sprache“ ausgeführt, dass „[s]chon die Kinder der ersten vier Jahrgänge der Volksschule […] die Muttersprache und die muttersprachliche Dichtung als lebendigen Ausdruck ihres völkischen Lebens erleben“615 sollen. Zur Sprecherziehung wird allerdings noch wenig Konkretes gesagt, der Begriff selbst fällt nicht: Es soll „eine sorgfältige und planmäßige Spracherziehung […] mit dem Ziele eines lautrichtigen, natürlichen, frischen und sinnvollen Sprechens und Lesens“616 betrieben werden. „Ein planmäßiger Sprachlehrunterricht ist notwendig. Er ist vor allem auch in den Dienst des richtigen Sprechens und Schreibens zu stellen.“617 Beim Musikunterricht ist nur von der „Pflege der stimmlichen Anlagen und des Gehörs“618 die Rede, spezielle Stimmbildung wird nicht erwähnt. In diesen zunächst erlassenen Richtlinien kommt Sprechen und Sprecherziehung also noch nicht die prominente Stellung zu, die sie in den Ausführungen zur höheren Schule erhalten. In den neuen Richtlinien für „Erziehung und Unterricht in der Volksschule“, die 1940 erscheinen und die die vorherigen Erlasse zu den unteren Jahrgängen der Volksschule aufheben, erhält die Sprecherziehung dann etwas mehr Raum, bleibt aber hinter dem Ausmaß und der Detailgenauigkeit der Ausführungen zu den höheren Schulen zurück. Sie sind mit 23 Seiten im Vergleich zu den 265 Seiten umfassenden Richtlinien für die höhere Schule insgesamt sehr viel kürzer. Nach der „Leibeserziehung“ beginnen die Ausführungen zum Fach „Deutsch“ mit dem Hinweis, dass „[d]ie Verpflichtung zum Dienst an unserer Muttersprache, zur Pflege ihrer Reinheit, ihres Wohlklangs, ihres Ausdrucksreichtums […]für den gesamten Unterricht [besteht]“619. Die besondere Aufgabe des Deutschunterrichts ist es, „zum selbständigen Gebrauch [der] Muttersprache in Wort und Schrift anzuleiten. Der Unterricht in der deutschen Sprache führt daher in das dem Verständnis der Kinder zugängliche volkstümliche Schrifttum ein, übt planmäßig den mündlichen und schriftlichen Ausdruck und gibt Einblick in das Werden und den Bau der Sprache.“620

615 Richtlinien für den Unterricht in den vier unteren Jahrgängen der Volksschulen (1937). In: Nationalsozialismus und Schule. S. 26-30. Hier S. 28. 616 Ebd. 617 Ebd. 618 Ebd. S. 29. 619 Erziehung und Unterricht in der Volksschule. Berlin 1940. Hier S. 13. 620 Ebd.

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Auf die Ausführungen zum „Schrifttum“ folgen die Hinweise zu „[m]ündliche[n] und schriftliche[n] Übungen“621: „Das Hauptgewicht ist auf die gesprochene und gehörte Sprache zu legen. Der Erziehung zum aufmerksamen Hören und lautrichtigen, deutlichen und ausdrucksvollen Sprechen dienen sprechtechnische Übungen, straffe Sprachzucht im gesamten Unterricht, ausdrucksvolles Lesen und Vortragen und die Anleitung zum freien Sprechen. Sprachtechnische Übungen erstreben gesundes und lautrichtiges Sprechen. Sie schließen sich in erster Linie an den Unterricht im Lesen, Rechtschreiben und Singen an und sind vor allem da zu betreiben, wo der Einfluß der Mundart sie erforderlich macht.“622

Interessanterweise wird hier die Erziehung zum Hören besonders betont. Es sollen „sprechtechnische Übungen“ durchgeführt werden, vor allem auch zum lautrichtigen Sprechen. Der Begriff Hochsprache jedoch fällt nicht; In den Ausführungen zu „Sprachlehre und Sprachkunde“ heißt es, dass „die beständige Bezugnahme auf die heimische Mundart, die auch sonst im Sprachunterricht ausgiebig zu berücksichtigen ist, förderlich sein [wird]“.623 Die Volksschüler sollen also zwar die hochsprachliche Lautung kennen lernen, aber ihren Dialekt nicht verlernen. Im Gegensatz zur höheren Schule wird nicht nach verschiedenen Sprachstufen differenziert. Trotz des Primats der gesprochenen Sprache sind die Ausführungen zu den schriftlichen Übungen länger. Etwas weiter führende sprechbildnerische Anweisungen finden sich im Musikunterricht. Hier sind „[b]ewußte Atemführung, hauchfreie Laute, richtig gebildete Mitlaute und weicher Stimmeinsatz sowie Anschwellen und Abklingen des Tones und der Tonreihen […] zu üben“624. Hier entsteht bereits der Eindruck, dass trotz des Beschwörens der Volkseinheit in der nationalsozialistischen Ideologie Sprecherziehung und hochsprachliche Bildung eine bildungsschichtspezifische Auffächerung erfährt. Dabei steht die Mittelschule dann zwischen dem Standard der Volksschule und der höheren Schule. Auch für die Mittelschule wird gefordert, dass „[d]er gesamte Unterricht […] im Dienste der Sprecherziehung [steht] und […] Sprachgefühl und Sprachbewußtsein zu entwickeln [hat].“625 Er soll „den richtigen Gebrauch der Sprache […] gewährleisten und schließlich zu klarer, ausdrucksvoller und fließender 621 Ebd. S. 14. 622 Ebd. 623 Ebd. S. 16. 624 Ebd. S. 24. 625 Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule. Berlin 1939. S. 15.

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mündlicher Wiedergabe von Gedankengängen durch lautreines und natürliches Sprechen und Lesen und zu einer angemessenen schriftlichen Darstellung in sauberer und schöner Schrift […] führen“626. Das lautreine und natürliche Sprechen wird also besonders betont, Mündlichkeit sowie Schriftlichkeit gleichermaßen berücksichtigt. Für die Mittelschule wird ein „vorbildliches, volkstümliches Hochdeutsch“ gefordert, „das die Brücke schlägt zwischen Mundart und Hochsprache“.627 Die „reine Hochsprache“, die in der höheren Schule als oberster Richtwert galt, wird also nicht erwähnt; auch hier gibt es keine genaueren Angaben, wie das „volkstümliche Hochdeutsch“ geregelt ist. Die Ausführungen zu ‚Stoffgestaltung und Arbeitsweise‘ beginnen dann zunächst mit dem ‚Schrifttum‘, es folgt als zweiter Punkt die ‚Erziehung zum Sprechen und Schreiben und als dritter Punkt die ‚Sprachlehre‘. Unter dem zweiten Punkt wird noch einmal die „schlichte[…] und volkstümliche[…] Hochsprache“ 628 eingefordert – hier scheint besonders das Verdikt gegenüber der Bühnenaussprache, die künstlich und geziert sei, als Negativfolie zu dienen. Der Schüler soll zu „ungezwungenem Sprechen“629 angehalten werden, wobei zugleich „straffe Sprachzucht geübt“630 werden soll. Gegen „Schlag-, Mode- und Fremdwort, gegen gedankenlose Redensarten und Sprachverunstaltungen“631 soll angegangen werden. Auf Sprechstimmbildung im Sinne von Sprechtechnik wird – unter einer ungewöhnlichen Einbeziehung der Dialekte – in einem kurzen Absatz hingewiesen: „Der Erziehung zu lautrichtigem und deutlichen Sprechen dienen meist durch Eigenheiten der Mundart bestimmte sprechtechnische Übungen, Gehör- und Atemübungen und Belehrungen über die Forderungen eines gesundheitlich richtigen Sprechens.“632 Hier wird besonders deutlich, dass man sich – zumindest in der Mittelschule – nicht auf eine rein hochsprachliche Lautschulung beruft. Es wird darauf hingewiesen, dass sich Deutsch- und Musiklehrer auf eine „planmäßige Stimm- und Sprachbildung“ zu verständigen haben. 633 In der Aufteilung des Stoffes über die einzelnen Klassenstufen werden bis auf die „Überwindung mundartlicher Schwierigkeiten“634 in der ersten Klasse keinerlei sprechstimm-

626 Ebd. 627 Ebd. 628 Ebd. S. 18. 629 Ebd. 630 Ebd. S. 19. 631 Ebd. 632 Ebd. 633 Vgl. ebd. 634 Ebd. S. 22.

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bildnerische Ausführungen gemacht. Es geht allein um das Üben im freien Sprechen.635 An den Richtlinien wird deutlich, dass die Förderung sprecherischer Fähigkeiten, insbesondere mit Blick auf die Hochsprache, eine nach Schulform gestaffelte Relevanz erhält, in der sich – entgegen der Rede von einer in der Sprache gespiegelten Volkseinheit – der elitäre Charakter der nationalsozialistischen Bildungseinrichtungen zeigt; eine Ausrichtung, die sich, wie wir noch sehen werden, vor allem auch in der Schulung der Redekompetenz zeigt. Wie auch Norbert Hopster und Ulrich Nassen hervorheben, ging es bei der institutionellen Verankerung der Sprecherziehung im nationalsozialistischen Schulsystem also keineswegs um eine bildungsschichtunabhängige Förderung.636 Auch wird wieder deutlich, dass mit dem Sprechen soziale Differenzierungs- sowie Machtinteressen verbunden sind, die einem vereinheitlichenden und umfassenden Sprechstimmbildungsansatz entgegenstehen. Dass bei aller Betonung der Sprechfähigkeit in den Richtlinien gerade in der Volksschule die Schulung des Gehörs besonders gefordert wird, mag darüber hinaus sinnbildlich für ein Machtsystem stehen, in dem freie Meinungsäußerung unmöglich war. 3.4.3 Die Stimme in der nationalsozialistischen Rhetorik und der Stellenwert der Sprechstimmbildung in der Rednerschulung Wie bereits in Abschnitt 3.4.1 erwähnt, festigt sich ab 1933 das „Axiom“ 637 von der „Überlegenheit des gesprochenen Wortes über das geschriebene“ 638, das Hitler in „Mein Kampf“ – ironischerweise – zu Papier brachte.639 Die nationalsozialistische Propaganda ist darum bemüht, den Erfolg der Nationalsozialisten als Effekt der Reden insbesondere Hitlers aber auch anderer Redner aus der sogenannten ‚Kampfzeit‘ darzustellen.640 Wurde diese Sichtweise der Nationalsozialisten auf die Bedeutung der Rede häufig auch in der wissenschaftlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegriffen641, so stellt sich Klaus Roß

635 Vgl. ebd. S. 22-25. 636 Vgl. Hopster; Nassen: Literatur und Erziehung. S. 27. 637 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 19. 638 Ebd. S. 18. 639 Vgl. ebd. S. 19. 640 Vgl. ebd. S. 18 f. Sowie Roß: Reden für alle. S. 79. 641 Vgl. Randall L. Bytwerk: Fritz Reinhardt and the Rednerschule der NSDAP. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981. Sowie Claudia Schmölders: Stimmen von Führern. Audi-

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die Frage, „[o]b wirklich der Redner und seine Rede oder die Inszenierung der nationalsozialistischen Versammlung mehr Einfluss hatte“ 642. Cornelia EppingJäger hat in ihren Untersuchungen die Bedeutung der Lautsprechertechnik in den Versammlungen und bei Kundgebungen der Nationalsozialisten zwischen 1932 und 1936 herausgearbeitet643 und auch Plöckinger verweist für den Wahlkampf von 1932 auf „die Betonung modernster Technik, die eine Atmosphäre von kaum zu widerstehender Dynamik verbreiten sollte“644. Dem Eindruck der Rede wurde zudem mit der Demonstration von Gewaltbereitschaft und dem Einsatz von Gewalt Nachdruck verliehen. So weist Weller darauf hin, dass „bei jeder nationalsozialistischen Versammlung unmittelbar hinter der Rede auch der Wille zur Saalschlacht stand“645. Nach 1933 wird die Gewaltdemonstration, beispielsweise bei der Kundgebung am 1. Mai 1933, massiver: „Von der einen Seite des Auditoriums dröhnte die ‚Führerstimme‘, auf der gegenüberliegenden Seite haben SA, SS und Wehrmacht Aufstellung bezogen .“646 Mit Aufnahmen aus dem Flugzeug wird zudem kontrolliert, welche Betriebsstandorte nicht in ausreichender Zahl angetreten sind und „im Anschluß an die Maifeier [werden] Erklärungen verlangt“647. Die Wirkung der Stimme des Redners und seines Auftritts wird also von der Gesamtinszenierung, die neben dem Einsatz von Technik auch „Fahnen, Standarten und Musik“ 648 umfasste, und den beschriebenen Kontrollmechanismen aus zeitgleicher oder nachträglicher Gewaltdemonstration zumindest unterstützt. Plöckinger kommt darüber hinaus in seiner Untersuchung zu Hitlers Wahlkampf vor den Reichstagswahlen 1932 zu dem Ergebnis, dass keine „signifikanten Hinweise auf eine entscheidende Rolle der Reden Hitlers bei den

torische Szenen 1900-1945. In: Kittler; Macho; Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. S. 175-195. Hier S. 175 f. 642 Roß: Reden für alle. S. 77. 643 Während bspw. SPD und KPD in der Weimarer Republik stärker auf Megaphone zurückgriffen (vgl. Cornelia Epping-Jäger: Eine einzige jubelnde Stimme. Zur Etablierung des Dispositivs Laut/Sprecher in der politischen Kommunikation des Nationalsozialismus. In: dies., Erika Linz (Hrsg.): Medien/Stimmen. S. 100-123. Hier S. 102). 644 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 52. Auf die Bedeutung der Technik wird durchaus auch in den 1930er Jahren schon hingewiesen (vgl. bspw. Emil Dovifat: Rede und Redner. Ihr Wesen und ihre politische Macht. Leipzig 1937. Hier S. 15). 645 Weller: Gesprochene Muttersprache. S. 81. 646 Epping-Jäger: Eine einzige jubelnde Stimme. S. 113 f. 647 Ebd. S. 108. 648 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 51.

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Wahlentscheidungen der Wähler/innen nachgewiesen werden“649 konnten und dass „zum einen der Redner Hitler keineswegs jene unmittelbare Wirkung entfaltete, die ihm lange Zeit zugeschrieben wurde und noch immer wird, und daß zum anderen das Problem der rhetorischen „Wirkung“ nicht über die Auseinandersetzung mit der konkreten Rede und den persönlichen „Erlebnissen“ einzelner Zuhörer/innen alleine zu lösen ist“650.

Signifikant ist für ihn zudem, dass sich in den Rhetorikbüchern vor 1933 keine Hinweise auf Hitler als herausragenden Redner finden.651 Plöckinger folgert, dass Hitler „nicht als der unwiderstehliche Rhetor, dessen Sprachgewalt kaum zu entrinnen war, [erscheint]. […] Die Ergebnisse lassen vermuten, daß der Mythos des ‚unwiderstehlichen Redners‘ Hitler ein Konstrukt nationalsozialistischer Propaganda war: die Propaganda über die Propaganda war wirksamer als die ursprüngliche Propaganda selbst.“652

An diese Apostrophierung Hitlers als herausragenden Redner schließen sich die Fachvertreter der Sprecherziehung sowie die Autoren von Rhetorikbüchern, die nicht im engeren Sinne zu den Sprecherziehern gehören, nach 1933 jedoch an und fügen in ihre Rhetorikratgeber, die teilweise Überarbeitungen früher erschienener Bücher sind653, Hinweise auf Hitlers rednerisches Können ein. Sie beschwören darüber hinaus die Wirkungsmacht der Rede und die „Blüte der Redekunst“654, die Deutschland nach 1933 erlebe. Zwischen den Rhetorikratgebern, die von Sprecherziehern verfasst werden, und denen von Autoren, die nicht in engerem Kontakt zur Sprecherziehung stehen, gibt es dabei tendenziell einen 649 Ebd. S. 177. 650 Ebd. 651 Ebd. S. 169. 652 Ebd. S. 177 f. 653 Bspw. Uve Jens Kruse, Broder Christiansen: Die Redeschule. Buchenbach-Baden 1920. Das Buch wird 1939 von Kruse überarbeitet herausgegeben. Auch Drachs „Redner und Rede“ (1932) erscheint 1934 unter dem Titel „Redner-Schulung“ in überarbeiteter und an nationalsozialistische Auffassungen angepasster Form. PabstWeinschenk weist darauf hin, dass nicht zu klären sei, ob Drach die Überarbeitung selbst vorgenommen hat (vgl. Pabst-Weinschenk: Die Konstitution der Sprechkunde. S. 394). 654 Kruse, Uve Jens: Die Redeschule. Leipzig 1939. Hier S. 3. Vgl. auch Roß: Reden für alle. S. 82.

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Unterschied. Während die Sprecherzieher die Bedeutung der Sprechstimmbildung auch für die Rednerschulung betonen655, stellen andere Autoren deren Relevanz eher in Frage. So führt Emil Dovifat zur Stimme des Redners aus: „Nicht die ‚Schönheit‘ der Stimme, sondern ihre Überzeugungskraft macht den Redner.“656 Und zur Rednerschulung der NSDAP führt er aus: „Die Redeschulung der NSDAP in den Kampfjahren hat, nach einem Bericht ihres langjährigen Leiters, weniger in formalrednerischer Mahnung als in entschiedener Erziehung zur nationalsozialistischen Überzeugung bestanden. So sind der Partei die besten Redner erwachsen.“657 Entsprechend sei „[j]ede wirksame Rednerschule […] eine Glaubensschule“658. Uwe Jens Kruse führt in seiner „Redeschule“ zwar Stimm- und Atemübungen an659, bei den „Übungen, die Sprachwerkzeuge zu schulen“ hebt er aber an den Leser gerichtet besonders hervor, dass „wir Ihre Sprache nicht über den Kamm einer allgemeine Korrektheit scheren; auch hierin sollen Sie eigen und natürlich bleiben“.660 Mit dieser Haltung entsprechen die Autoren eher der von Parteiseite betriebenen Rednerschulung, der es in erster Linie darum ging, dass die Redner ideologisch geschult und ‚auf Linie gebracht‘ waren. Bis 1933 prägt die Rednerschulung von Fritz Reinhardt die Rednerausbildung in der NSDAP: „Reinhardts Kurs führt vor allem intensiv in die nationalsozialistische Ideologie ein und enthält keine eigenständige rednerische Ausbildung, lediglich die wiederholte Ermahnung, langsam, laut und deutlich zu sprechen. Ausdrücklich wird auf Stimmbildung und das Einüben von Gestik verzichtet, da keine Schauspieler ausgebildet werden sollen, sondern nationalsozialistische Redner.“661

Noch einmal begegnen hier die Vorbehalte gegenüber der Sprecherziehung, die sich zugleich des Schauspielers als Negativfigur bedienen. Stärker jedoch als in den anderen Belegen geht es hier nicht nur um die authentische Wirkung der Redner, sondern auch um dessen authentische – und selbstverständlich als parteikonform vorausgesetzte – Haltung. Entsprechend wird auch nach 1933 der Sprechstimmbildung „in der nationalsozialistischen Redeschulung in der Regel

655 Vgl. Roß: Reden für alle. S. 84. Sowie Plöckinger: Reden um die Macht? S. 176. 656 Dovifat: Rede und Redner. S. 64. 657 Ebd. S. 71. 658 Ebd. S. 70. 659 Kruse: Die Redeschule. 1939. S. 34-37. 660 Ebd. S. 11. 661 Roß: Reden für alle. S. 77.

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kein Platz eingeräumt“662. Das ‚Fortbildungsangebot‘ der ‚Reichs-Rednerschule‘ soll vielmehr „bei politischen Rednern und Fachrednern die nationalsozialistische Weltanschauung […] festigen und […] fördern“663. Entsprechend war das sprecherzieherische Knowhow in der Rednerschulung der Partei weniger gefragt. Vielleicht um dem entgegenzuwirken betont Gerathewohl 1937 die „‚handwerkliche‘ Seite“664 der sprecherzieherischen Tätigkeit, womit er die Sprechstimmbildung meint, wieder etwas mehr, die ihn zuvor im Zuge seiner Propagierung einer idealistischen Sprecherziehung wenig interessiert hatte. Plöckinger sieht das eingangs erwähnte „Spannungsverhältnis zwischen den nationalsozialistischen Ansätzen und der Rednerschulung im Sinne der Sprecherziehung“ 665 vor allem in dem Aspekt der Erlernbarkeit von ‚Redefähigkeit‘, der in Spannung zur Konzeption Hitlers als eines „rhetorische[n] Genie[s], das keine Ausbildung nötig gehabt hätte“666 gestanden hätte. Auch wenn die geschilderte Fokussierung der ideologischen Schulung ebenso maßgeblich, wenn nicht sogar ausschlaggebend gewesen sein dürfte, so verweist Plöckingers Hinweis jedoch auf ein anderes grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen nationalsozialistischer Rednerschulung und dem Anliegen rhetorischer Schulung, wie es in den Rhetorikratgebern der Sprecherzieher zum Ausdruck kommt. Legten die Nationalsozialisten zwar viel Wert auf die Organisation und Kontrolle ihres Rednerwesens 667, so war ihnen jedoch nicht daran gelegen, „ein Volk von Rednern heranzubilden“ 668. Dies gilt insbesondere für die Schule, für die auch die Sprecherzieher die Bedeutung der Redeschulung etwas relativieren: So warnt Ahmels in der Schule vor „einer systematischen Rhetorik und einer formalen Schulung zu Geläufigkeit“ 669 und Gerathewohl betont: „Gewiß soll die Schule keine ‚Redner‘ erziehen, aber sie hat die Aufgabe, die Grundlagen zur rednerischen Persönlichkeit zu fördern.“670 Auch mit Blick auf die bereits geschilderte bildungsschichtspezifische Differenzierung der sprecherzieherischen Lerninhalte in der Schule darf zu Recht in Frage gestellt werden, ob eine allgemeine Schulung der rednerischen Fähigkeiten im Fokus nationalsozialistischer Erziehung gelegen hat. Mit Verweis auf 662 Ebd. S. 81. 663 Ebd. S. 80. 664 Gerathewohl: Grundlagen und Ziele der deutschen Sprecherziehung. S. 236. 665 Plöckinger: Reden um die Macht? S. 176. 666 Ebd. 667 Vgl. Roß: Reden für alle. S. 78. 668 Ebd. S. 88. 669 Ahmels: Sprecherziehung und nationale Sprachbildung. S. 194. 670 Gerathewohl: Sprecherziehung im nationalsozialistischen Bildungsplan. S. 7.

Disziplinierung der Stimme und des Sprechens | 215

Hans Joachim Franks „Geschichte des Deutschunterrichts“671 führt Roß aus: „Stets habe einem Redner eine Gruppe von Zuhörern gegenübergestanden und Hauptziel sei es gewesen, das Schema der Ansprache früh einzuprägen. Wichtig war es, die Volksgenossen zum zuchtvollen Sprechen zu erziehen, und nur die Führungskräfte wurden rednerisch geschult.“672

671 Frank, Hans Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973. 672 Roß: Reden für alle. S. 88.

4

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft Untersuchung der Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum von 1990 bis in die Gegenwart

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Beobachtung, dass es gegenwärtig eine Vielzahl von Angeboten zur Sprechstimmbildung für die Allgemeinheit gibt, die nun meist unter der Bezeichnung ‚Stimmtraining‘ als Übungsbücher oder in Form von Gruppenseminaren und Einzelunterricht angeboten werden. Beginnend in den 1990er und insbesondere seit den 2000er Jahren lässt sich eine Zunahme dieser Angebote im deutschsprachigen Raum beobachten. Stellt der Zeitraum zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg eine erste ‚Hochphase‘ der Sprechstimmbildung dar, in der die Arbeit an der Sprechstimme in vielerlei Hinsicht unter den Vorzeichen disziplinargesellschaftlicher Mechanismen stand, so fällt die zweite, gegenwärtige ‚Hochphase‘ in einen Zeitraum, in dem sich McKenzie zufolge die Dynamiken der Performancegesellschaft bereits deutlich bemerkbar machen. Wie McKenzie betont, verschwinden die Strukturen und Mechanismen der Disziplinargesellschaft zwar nicht einfach1, sondern bestehen in vielfältiger Form weiter, unterliegen dabei durch die neuen Dynamiken der Performancegesellschaft aber auch Verschiebungen und Transformationen. Wie anhand des Untersuchungsmaterials zur Sprechstimmbildung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich geworden ist, umfassen die disziplinierenden Strukturen jedoch nicht alle Formen von Sprechstimmbildung, auch wenn in starkem Maße versucht wurde, diese in die Disziplinarinstitutionen einzugliedern. Vielmehr weisen die Angebote auch Merkmale auf, wie sie uns in den Dynamiken der Performancegesellschaft in verstärktem Maße wiederbegegnen, etwa die Freiwilligkeit der Kursan1

McKenzie: Perform or else. S. 13. Vgl. auch Kapitel zwei.

218 | Stimme und Sprechen am Theater formen

gebote, die zudem nicht von staatlichen Prüfungen abgeschlossen werden. Auch wenn daran deutlich wird, dass durch eine strikte Abgrenzung der beiden Gesellschaftsformationen nicht alle Prozesse im Bereich der Sprechstimmbildung beschrieben werden können, so beschreibt McKenzie mit der Performancegesellschaft doch Entwicklungstendenzen, die in der Gegenwart in verstärktem Maße auftreten und die auch die Sprechstimmbildung erfassen.2 So wie die Sprechstimmbildung in ihrer ersten Hochphase zwischen ausgehendem 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund disziplinierender Strukturen hinsichtlich ihrer normativen Ausrichtung, ihrer institutionellen Einbettung und ihrer Übungsansätze und Körperpraktiken untersucht wurde, soll sie nun für die Gegenwart mit Blick auf die Dynamiken der Performancegesellschaft untersucht werden. In den folgenden Kapiteln wird es zunächst darum gehen, wie sich die institutionelle Verankerung der Sprechstimmbildung in der Gegenwart gestaltet und inwiefern hier die ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft Einfluss nehmen. Dabei gilt es zum einen den Entwicklungsgang von Sprechstimmbildung innerhalb der Sprechwissenschaft – so der neue Fachname, der Sprechkunde ersetzt, – und Sprecherziehung zu skizzieren, zum anderen zu fragen, inwiefern es auch Formen der Sprechstimmbildung jenseits des Fachkontextes gib. Bei den ökonomischen Bedingungen, die die Sprechstimmbildung beeinflussen, gilt es neben den strukturellen Aspekten auch die Anforderungen an die Wirkung der Stimme in der sozialen Interaktion zu betrachten, die insbesondere auf den Websites von Stimmtrainern greifbar werden. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich die Ausspracheregelungen des Deutschen bis in die Gegenwart weiterentwickelt haben. Ließ sich an Theodor Siebs’ „Deutsche[r] Bühnenaussprache“ die für disziplinierende Normierungsprozesse charakteristische Dynamik aus Uniformität und Differenzierung aufzeigen, so stellt sich für den Zeitrahmen der Performancegesellschaft die Frage, ob es hier zu einer Relativierung, gar zu einem Verschwinden normativer Festschreibungen im Bereich der Aussprache kommt. Die Existenz neuer Aussprachekodizes, die die Siebs’sche Regelung weitgehend verdrängt haben – allein in der Schauspielerausbildung wird noch auf sie zurückgegriffen –, weist bereits darauf hin, dass Aussprachenormen in der Gegenwart nicht obsolet geworden sind. Welchen Geltungsanspruch sie vertreten und wie sie sich von der Siebs’schen Regelung unterscheiden, wird im Folgenden ebenso Thema sein wie die Frage, ob die von

2

Mit anderen Schwerpunktsetzungen wurden diese auch in anderen Untersuchungen beschrieben. Bspw. Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Verwoert (Hrsg.): Die Ich-Ressource.

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 219

McKenzie beschriebene Unabwägbarkeit als normatives Prinzip der Performancegesellschaft im Bereich der Aussprachenormierung zu beobachten ist. Die gegenwärtigen Übungsbücher zur Sprechstimmbildung werden daraufhin befragt werden, welche Gemeinsamkeiten sie mit den frühen Übungsbüchern der 1880er Jahre aufweisen und ob sich in ihnen die disziplinierenden Übungsansätze der frühen Jahrzehnte fortsetzen oder ob beispielweise die methodische Kritik der Sprecherziehung Auswirkungen auf die Gestaltung gegenwärtiger Übungsprogramme hat. Wie bereits geschildert, wird das Übungsbuch Julius Heys in überarbeiteter Form nach wie vor verlegt und findet Anwendung sowohl in der Schauspiel- und Gesangsausbildung als auch im allgemeinen Sprechstimmbildungsbereich. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Ratgeber und Übungsbücher, teils in einer standardisierten Form, teils mit speziellen methodischen Ansätzen. Diese unterschiedlichen Konzeptionen werden ebenso in den Blick genommen, wie die den Büchern teilweise beigelegten elektronischen Medien. Damit verbindet sich auch die Frage, welches Übungssetting die modernen Übungsbücher entwerfen und wie die elektronischen Medien dieses verändern. Des Weiteren wird es um die Frage gehen, auf welche Formen von Subjektivität die gegenwärtigen Übungsbücher der Sprechstimmbildung ausgerichtet sind. Hier wird auch die Frage gestellt, welche Spannungen entstehen, wenn eine für Schauspieler entwickelte Übungspraxis auf den Bereich alltäglicher Interaktion übertragen wird. Neben der Untersuchung der Übungsbücher war es in der Gegenwart möglich, die Übungspraxis der Sprechstimmbildung durch die Teilnahme an einigen Seminaren zur Sprechstimmbildung zu untersuchen. Hier stellt sich die Frage, welchem Aufbau und welchen Übungsansätzen diese Seminare folgen und welches Übungssetting hier – im Gegensatz zu den Büchern nicht nur als theoretisches Konzept – zu beobachten ist. Insbesondere wird uns hier noch einmal die Frage nach Uniformierung oder Diversifizierung beschäftigen und damit nochmals danach zu fragen sein, wie Sprechstimmbildung als Praxis zwischen Mechanismen der Disziplinierung und Dynamiken des Performanceprinzips beschreibbar wird.

220 | Stimme und Sprechen am Theater formen

4.1 DIE INSTITUTIONELLE VERANKERUNG UND ÖKONOMISCHEN DYNAMIKEN DER GEGENWÄRTIGEN SPRECHSTIMMBILDUNG Mit Blick auf die Institutionen der Disziplinargesellschaft beschreibt McKenzie, dass diese in der Performancegesellschaft nicht einfach verschwinden, aber in andere Dynamiken eingebunden werden und damit auch ökonomische Prinzipien anders greifen. Lassen sich, wie die Untersuchung der Sprechstimmbildung gezeigt hat, Teilaspekte des Performanceprinzips insbesondere hinsichtlich der institutionellen Verankerung von Sprechstimmbildung zwar auch schon im Zeitraum der Disziplinargesellschaft beobachten, so kommt es doch in der Gegenwart zu einer zunehmenden Veränderung der Dynamiken auch im institutionellen Bereich. Dazu gehört, laut McKenzie, die Entgrenzung von institutionellen Zuständigkeiten, die insbesondere im Hinblick auf die Ausbildungsprozesse dazu führt, dass die Einteilung der Lebensphasen nicht mehr nach klar strukturierten Mustern abläuft. Lernen wird zum lebenslangen Prozess 3, neben der Schule boomt ein Weiterbildungsmarkt, der mit seinen Angeboten auf die Anforderungen der ständigen Weiterqualifizierung reagiert.4 Dabei gehört es zu den Dynamiken der Performancegesellschaft, dass unklar bleibt, ob es sich um uneingeschränkt geltende Anforderungen handelt oder um solche, die nur gegebenenfalls auftreten könnten. Insofern können die Angebote des stark gewachsenen Weiterbildungsmarktes auch als Reaktionen auf ein Bedürfnis nach Weiterqualifikation verstanden werden, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Bei den Weiterbildungsangeboten zur Sprechstimmbildung handelt es sich um Ratgeberliteratur, Gruppenseminare oder Einzelcoachings. Dabei spielen ökonomische Faktoren in verschiedenster Hinsicht eine Rolle, die auch mit der institutionellen Verortung zusammenhängen: Die Weiterbildungsangebote selbst sind gewissermaßen eine Ware, da sie oft nicht in institutionelle Strukturen eingebunden sind, die man ‚automatisch‘ durchläuft, sondern für die eine gewisse Wahlfreiheit besteht.5 Die Zahlungskraft der Kunden entscheidet dann auch

3

Ebd. S. 185.

4

Zur entsprechenden Entwicklung in der Bundesrepublik vgl. Ludwig A. Pongratz: Erwachsenenbildung zwischen Aufklärung und Instrumentalisierung. In: ders.: Zeitgeistsurfer. S. 9-24.

5

Dabei gibt es natürlich auch Institutionen der Weiterbildung, wie bspw. die Volkshochschulen. Auch hier gilt aber das Prinzip der Wahlfreiheit.

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 221

darüber, wer welches Angebot in Anspruch nehmen kann.6 Die Anbieter wiederum müssen für ihre Angebote werben und skizzieren dabei zugleich die Wirkungsanforderungen, die sich mit den Angeboten zur Sprechstimmbildung gegenwärtig verbinden. Das Internet bietet dafür eine Plattform, die es ermöglicht, mit relativ wenig Kosten Sichtbarkeit zu erzeugen, wodurch sich noch einmal zeigt, dass die Dynamiken der Performancegesellschaft auch von technologischen Entwicklungen getragen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie sich die institutionelle Verankerung der Sprechstimmbildung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat und in welche institutionellen und ökonomischen Dynamiken sie gegenwärtig eingebunden ist. Wie in Kapitel drei beschrieben, setzten mit der Jahrhundertwende um 1900 starke Bemühungen ein, Sprechstimmbildung zu institutionalisieren. Dies geschah im Zuge der Fachetablierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ an der Universität und beinhaltete auch den Versuch, Sprecherziehung in den Schullehrplänen und der Lehrerausbildung zu verankern sowie den ‚freien Bereich‘ der Weiterbildungsangebote und Privatlehrer über eine Prüfung für Sprecherzieher zu regulieren. In diesen Ansätzen zeigt sich das Anliegen, Sprechstimmbildung in Institutionen der Disziplinargesellschaft zu verankern und somit das Sprechen und die Stimme in umfassendem Maße disziplinierenden Mechanismen zu unterwerfen. Wie gezeigt, kam es bei der tatsächlich erfolgten Umsetzung zwar zu einer gewissen Institutionalisierung der Sprechstimmbildung, der jedoch die vollständige Einbindung in die disziplinierenden Strukturen mit ihrer Zwangslogik und Durchsetzungskraft fehlte. Daneben gab es auch bereits in dieser Zeit schon Weiterbildungsangebote, die dem ‚freien Bereich‘ zuzuordnen sind und heutigen Angeboten gleichen, auch wenn, wie am Beispiel des Engel-Vereins demonstriert, auch hier eine Ausrichtung auf disziplinierende Strukturen bestand. In der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ positionierte sich die Sprecherziehung ideologisch dann so, dass ihre Belange mehr Berücksichtigung fanden – eine Entwicklung, die durch den Zweiten Weltkrieg wiederum gestoppt wurde. Es soll im Folgenden darum gehen, die Entwicklung, die das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ seit Mitte des 20. Jahrhunderts genommen hat, kurz zu umreißen7 und zu fragen, in welchen institutionellen Kon6

Wie wir an den Angeboten zur Sprechstimmbildung sehen werden, gibt es dabei keine

7

Es soll hier nicht darum gehen, die Fachgeschichte der Sprechkunde, bzw. Sprechwis-

allgemein gültige Relation zwischen bestimmten Angebotsformen und den Kosten. senschaft und Sprecherziehung seit dem Zweiten Weltkrieg detailliert nachzuzeichnen, sondern nur deren Stellenwert für die gegenwärtige institutionelle Verankerung der Sprechstimmbildung zu verdeutlichen. Zur fachgeschichtlichen Entwicklung vgl. Hellmut Geißner: Sprechwissenschaft. Theorie der mündlichen Kommunikation. S. 8

222 | Stimme und Sprechen am Theater formen

texten sich gegenwärtig Angebote zur Sprechstimmbildung finden. Anschließend werden die ökonomischen Dynamiken, denen Sprechstimmbildung gegenwärtig unterworfen ist, noch einmal gesondert herausgearbeitet, wobei auch die Websites von Stimmtrainern daraufhin untersucht werden sollen, inwiefern sich hier Dynamiken der Performancegesellschaft zeigen. 4.1.1 Sprechstimmbildung als Angebot im ‚freien Bereich‘ Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten Sprechkundler, die sich zunehmend als Sprechwissenschaftler bezeichneten, und Sprecherzieher ihre Arbeit fort und waren um Kontinuität bemüht, wobei die Positionierung des Faches innerhalb des Nationalsozialismus zunächst verharmlost, beschönigt oder verschwiegen wurde.8 Das Fach nahm in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Entwicklungswege, von denen zunächst die westdeutschen nachgezeichnet werden. Die Gremienarbeit des Deutschen Ausschusses für Sprechkunde und Sprecherziehung (DAfSuS) wurde 1948 wieder aufgenommen. 1964 wird der Ausschuss auf f. und ders.: Sprechwissenschaft. In: ders. (Hrsg.): Sprechen und Sprache. Wuppertal 1969 (= Sprache und Sprechen 2). S. 29-40. 8

Vgl. Hethey: Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit? S. 134. Geißner: Wege und Irrwege. S. 8. Roß: Reden für alle. S. 89. Ein Beispiel für eine derartige beschönigende Darstellung findet sich bei Christian Winkler, der 1969 über den DAfSuS schreibt, dass dieser „von F. Gerathewohl im Rahmen des Lehrerbundes ohne wesentliche Infektion [!] durch die Jahre 1933-1945 hindurchgeleitet und 1948 von M-H. Kaulhausen wiederbegründet wurde“ (Winkler, Christian: Deutsche Sprechkunde und Sprecherziehung. 2. Aufl. Düsseldorf 1969. Hier S. 25). Kontinuität wird auch heute betont: im Jahr 2015 feierte die Deutsche Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung (DGSS e.V.) ihr 85-jähriges Jubiläum und verweist damit auf die Gründung des DAfSuS 1930. Im von Marita Pabst-Weinschenk verfassten Infoflyer zum Jubiläum werden die Grundlagen des Faches aus der „vornationalsozialistischen Zeit“ betont (Pabst-Weinschenk, Marita: 85 Jahre Deutsche Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. (DGSS) e.V. Daten & Fakten. 2015. S. 3. Die Broschüre ist abrufbar unter ‚www.dgss.de/nachrichten/nachrichten/show/article/212/‘. Zwar wird auf Untersuchungen zur Fachgeschichte verwiesen, u.a. auf Geißners Publikation „Wege und Irrwege“, im Flyertext selbst wird die Zeit im ‚Dritten Reich‘ jedoch nur mit einem sehr kurzen, nur die Gleichschaltung des DAfSuS beschreibenden Absatz bedacht (vgl. ebd. S. 4). Dass inhaltliche Positionen von Sprechkundlern und Sprecherziehern auch aus der Zeit vor 1933 der kritischen Begutachtung bedürfen, wird nicht erwähnt (vgl. dazu Hethey: Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit? S. 136. Roß: Sprecherziehung statt Rhetorik. S. 18).

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Betreiben von Hellmut Geißner in ‚Deutsche Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung e.V.‘ (DGSS) umbenannt und entwickelt sich damit von einer eher elitären Fachvertretung zu einem breit aufgestellten Berufsverband.9 1988 weist Raimund Hethey in seinem Aufsatz „Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit?“ erstmals differenzierter auf die Nähe sprecherzieherischer Grundsätze zu ideologischen Positionen des Nationalsozialismus hin und löst damit kontroverse Debatten im Fach und eine zunehmende Aufarbeitung der Fachgeschichte aus.10 Die Fachvertreter bemühen sich zwar auch nach 1945 weiter um Anerkennung als wissenschaftliches Fach. In Westdeutschland wird ihnen diese jedoch weitgehend versagt. Elmar Bartsch weist darauf hin, dass das Fach nach der Zeit des Nationalsozialismus in eine „hochschulpolitische Unterprivilegierung“11 fiel. Walter Dieckmann betont 1976, dass „die Sprechwissenschaft […] [in der] Lehrerbildung […] bisher noch keine große Rolle gespielt hat und viele Studenten nicht einmal wissen, was Sprechwissenschaft denn eigentlich ist, und das ‚e‘ nur für einen Druckfehler halten“12. Und noch 1994 konstatiert Klaus Roß, dass „Sprecherziehung weitgehend unbekannt ist“ und Sprecherzieher „[w]eitgehend unbemerkt von der akademischen Öffentlichkeit versuchen […], […] das (Miteinander)Sprechen der Menschen zu verbessern“13. Legten die Sprecherzieher bereits vor 1945 Wert darauf, mehr zu sein als ‚nur‘ Sprechstimmbildner – was in Drachs Formulierung von der „unteilbaren Ganzheit des Faches“ zum Ausdruck kommt –, so kommt es in der westdeut9

1978 erfolgt die Umbenennung in ‚Deutsche Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung e.V.‘ (vgl. Pabst-Weinschenk: 85 Jahre. S. 7).

10 Vgl. Hethey: Von der Mündlichkeit in die Unmündigkeit? Geißner: Wege und Irrwege der Sprecherziehung. S. 8. Roß: Reden für alle. S. 89 f. Roß weist jedoch auch darauf hin, dass es nach wie vor Widerstände gegen eine vollständige Aufarbeitung der Fachgeschichte gibt (vgl. Roß: Reden für alle. S. 90 f.). Weitere Publikationen zur Fachgeschichte bis 1945 sind Klaus Roß „Sprecherziehung statt Rhetorik“ sowie Marita Pabst-Weinschenk „Die Konstitution der Sprechkunde und Sprecherziehung durch Erich Drach“. 11 Bartsch, Elmar: Die Funktion der Sprechkunde in der Ausbildung des Deutschlehrers. Düsseldorf 1974 (= Pädagogisches Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf 20). Hier S. 12. 12 Dieckmann, Walter: Bedarf an Rhetorik? Zu einer neuen Welle auf dem Buchmarkt. In: Das Argument 95 (1976). S. 24-43. 13 Roß: Sprecherziehung statt Rhetorik. S. 18-20. Die „gemäßigte Kleinschreibung“ der Roß’schen Publikation wurde der besseren Lesbarkeit halber der üblichen Groß- und Kleinschreibung angepasst.

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schen Sprechwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Distanzierung vom Teilbereich der Sprechstimmbildung. Besonders vehement wird diese von Hellmut Geißner, einem der führenden Theoretiker der Sprechwissenschaft zwischen den 1960er und 2000er Jahren, vertreten. In seiner grundlegenden Darstellung „Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation“14 behandelt Geißner die mündliche Kommunikation und geht auf die Teilgebiete der „rhetorischen Kommunikation“ 15 und der „ästhetischen Kommunikation“16 gesondert ein. Die Sprechstimmbildung taucht nur noch im Anhang zur „Sprecherziehung“ unter der Bezeichnung „Elementarprozesse des Sprechens“17 auf, da diese, wie er in einer späteren Publikation erläutert, „nicht länger als Grundlagen der Sprecherziehung dienen können“18. Gegenstand der Sprecherziehung sei vielmehr die Gesprächsfähigkeit 19 und damit der dialogische Charakter von Sprechen und Hören. Entsprechend ist in der BRD bis in die 1990er Jahre eine deutliche Schwerpunktverlagerung in den Interessensgebieten der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung in den Bereich der rhetorischen Kommunikation zu beobachten, zu dem Gesprächsführung und freie Rede gehören.20 In der DDR fand keine so dezidierte Abwendung von der Sprechstimmbildung statt, vielmehr fand diese in der Lehramtsausbildung eine feste Verankerung.21 Dennoch wollten sich auch die ostdeutschen Sprechwissen-

14 Geißner: Sprecherziehung. 1982. Ein Jahr zuvor erschien als Grundlage der theoretische Fachverständnisses Geißners „Sprechwissenschaft. Theorie der mündlichen Kommunikation“. 15 Geißner: Sprecherziehung. S. 98-160. 16 Ebd. S. 161-198. 17 Ebd. S. 199-215. 18 Geißner: Wege und Irrwege. S. 8. 19 Geißner: Sprecherziehung. S. 199. 20 Vgl. Roß: „Rhetorische Kommunikation ist zum zentralen Thema für die Sprecherziehung geworden.“ (Roß: Sprecherziehung. S. 31) Vgl. dazu auch Elmar Bartsch: Sprecherziehung. In: Dozenten des Seminars für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der PH Rheinland, Abt. Neuss: Diskussion der neuen Richtlinien für das Fach Deutsch an Grund- und Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1974 (= Pädagogisches Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf 13). S. 45-60. Hier S. 46. 21 Vgl. Eva-Maria Krech: Sprechwissenschaft in Halle – Zum Werden einer universitären, wissenschaftlichen Disziplin. In: Bose (Hrsg.): Sprechwissenschaft. 100 Jahre Fachgeschichte an der Universität Halle. S. 31-46. Vgl. außerdem Hannelore Krafts und Baldur Neubers Aufsatz „Zur Entwicklung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung am Beispiel Sachsens“, in dem sie, wie bereits erwähnt, für die DDR eine

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 225

schaftler und Sprecherzieher nicht nur als Sprechstimmbildner verstanden wissen, sondern entwickelten insbesondere in Halle eine stark auf Phonetik, auf Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen sowie auf die Sprechwirkung ausgerichtete Forschungs- und Lehrtätigkeit, die erstmals auch Promotionen und Habilitationen im Fach Sprechwissenschaft ermöglichte.22 Damit integrierten sie Fragestellungen in ihren Bereich, die in Westdeutschland im Kontext anderer Fachdisziplinen verhandelt wurden. Obwohl der Halle’schen Sprechwissenschaft nach der Wiedervereinigung eine Rückstutzung auf „reine Dienstleistungsfunktionen“23 drohte, konnte sie ihren wissenschaftlichen Stellenwert behaupten und ist gegenwärtig der forschungsstärkste sprechwissenschaftliche Standort in Deutschland und zudem die einzige Universität, an der man Sprechwissenschaft und Sprecherziehung als eigenständiges Fach studieren kann. Doch auch die Halle’sche Sprechwissenschaft befindet sich in einer prekären Situation24 und so bleibt die Sprechwissenschaft bis in die Gegenwart ein ‚Orchideenfach‘. An fünf deutschen Universitäten und Hochschulen kann man gegenwärtig einen Abschluss in Sprecherziehung erwerben, daneben gibt es sogenannte ‚Prüfstellen‘ der DGSS, die an Universitäten und Hochschulen angesiedelt sind und die Verbandsprüfung abnehmen.25 Dabei handelt es sich – wie auch schon bei der Prüfung des DAfSuS – nicht um eine staatliche Prüfung. Entgegen den Bemühungen um wissenschaftliche Eigenständigkeit fungieren Angebote aus dem Bereich der Sprecherziehung an vielen Universitäten als Ergänzung zu anderen Studiengängen oder sind Teil des fächerübergreifenden Angebots, zum Beispiel im Bereich der sogenannten Schlüsselqualifikationen.26 Anders als die Interessenssystematischere sprechstimmbildnerische Ausbildung der Lehrer beschreiben, als dies seit den 1990er Jahren im wiedervereinten Deutschland der Fall war. 22 Vgl. Krech: Sprechwissenschaft in Halle. S. 39. 23 Ebd. 24 Anders; Bose; Hirschfeld et al. (Hrsg.): Nach 100 Jahren. 25 Einen universitären Abschluss erhält man an den Universitäten in Halle-Wittenberg, Marburg, Regensburg, Jena und der staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Dabei handelt es sich teilweise um zahlungspflichtige „Weiterbildungsmaster“ (Regensburg) oder Studiengänge, die Sprecherziehung als Nebenfach anbieten (Jena). Prüfstellen gibt es in Aachen, Düsseldorf, Göttingen, Münster und Regensburg. Dort erhält man den Abschluss Sprecherzieher/-in (DGSS). Vgl. DGSSInfoflyer. Die DGSS stellt sich vor. Abrufbar auf der Website der Gesellschaft unter www.dgss.de/nachrichten/nachrichten/show/article/209/ vom 03.11.2016. An der Universität des Saarlands wird zudem ein Masterstudium angeboten. 26 An manchen Universitäten gibt es dabei einen eigenen Fachbereich ‚Sprechwissenschaft / Sprecherziehung‘, wie bspw. an der Universität Leipzig, der hier zum Institut

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verlagerung der Sprechwissenschaft in Richtung rhetorischer Kommunikation es nahe legt, nimmt die Sprechstimmbildung in diesen Angeboten im Vergleich zu den anderen sprecherzieherischen Teilgebieten recht viel Platz ein. 27 Von einer umfassenden Verankerung sprecherzieherischer Ansätze in der Schule kann nach wie vor nicht die Rede sein. Sprechen wird in den Lehrplänen aller Schularten, meist im Rahmen des Deutschunterrichts, durchaus an prominenter Stelle behandelt.28 Dabei geht es in erster Linie um die Gesprächsfähigkeit und Vortragskompetenz der Schüler, ebenso wie um das Vorlesen. 29 Aspekte der Sprech-

für Germanistik gehört und Seminare für unterschiedliche Studiengänge anbietet (vgl. www.sprech.philol.uni-leipzig.de/studium.html vom 03.11.2016). An der Universität Heidelberg hingegen ist die Sprecherziehung am Sprachlabor angesiedelt (vgl. www.uni-heidelberg.de/zsl/sprechen/index.html vom 03.11.2016). An der Universität Erlangen-Nürnberg gibt es einzelne Veranstaltungen im Bereich der Schlüsselqualifikationen, die unter dem Titel Sprecherziehung angeboten werden. 27 An der Universität Heidelberg etwa gab es im Wintersemester 2016/2017 acht Veranstaltungen zur ‚Sprech- und Stimmbildung‘ und nur jeweils zwei im Bereich ‚Rhetorische Kommunikation‘ und ‚Sprechkünstlerische Kommunikation‘ (vgl. www.lsf.uniheidelberg.de/qisserver/rds?state=wtree&search=1&trex=total&root120162=81187|82 541|79712|79136&P.vx=mittel vom 03.11.2016). An der Universität ErlangenNürnberg gab es im Wintersemester 2016/17 dreimal einen Grundlagenkurs ‚Sprechen und Auftreten‘ mit dem Titel ‚Überzeugend sprechen und sicher auftreten‘, zwei Aufbaukurse und einen Intensivierungskurs ‚Sprechen und Auftreten‘ sowie einen explizit als Rhetorikkurs beschriebenen Kurs. In den Grundkursen spielt Sprechstimmbildung eine zentrale Rolle, in den Aufbaukursen geht es stärker um Aspekte der Rhetorik, die empfohlene Literatur umfasst aber auch Übungsbücher zur Sprechstimmbildung (vgl. www.univis.fau.de/form?__s=2&dsc=anew/tlecture&tdir=schlss/prsent&anonymous= 1&ref=tlecture&sem=2016w&__e=141 vom 03.11.2016). Im Sommersemester 2016 gab es darüber hinaus noch einen Kurs ‚Stimme – Sprechen – öffentliches Wirken‘ und fünf Kurse zu ‚Stimmbildung und Sprecherziehung‘ (vgl. ebd.). 28 Vgl. Pabst-Weinschenk: Die Sprechwerkstatt. S. 4. Roland Wagner moniert allerdings mit Blick auf die Lehrpläne in Baden-Württemberg, „dass den Arbeitsbereichen der schriftlichen Kommunikation […] i.d.R. weit ausführlichere und konkretere Erläuterungen zugestanden wurden“ (Wagner, Roland W.: Zur Sprecherziehung im Deutschunterricht Baden-Württembergs. In: Pabst-Weinschenk; Wagner; Naumann (Hrsg.): Sprecherziehung im Unterricht. S. 103-114. Hier S. 111). 29 Exemplarisch überprüft wurden die aktuell gültigen Lehrpläne für Grundschule und Gymnasium in Bayern, Berlin-Brandenburg, Hessen, Baden-Württemberg und NRW.

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stimmbildung werden nur sehr kurz angerissen. 30 Die geforderten Kompetenzen entsprechen damit der Schwerpunktverlagerung in Richtung Gesprächsfähigkeit und Redegestaltung, in die sich die Sprechwissenschaft zunehmend entwickelt hat. Dabei muss aber auch betont werden, dass der Fachbegriff ‚Sprecherziehung‘ in den Lehrplänen keine Erwähnung findet.31 Der Sprechstimmbildung als sprecherzieherischem Teilbereich kommt in der Schule ein marginaler Stellenwert zu. Von einer umfassenden Verankerung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung kann ebenfalls nicht die Rede sein. Zwar gibt es Universitäten, an denen Kurse aus dem Bereich der Sprecherziehung für Lehramtsstudenten obligatorisch sind32, insgesamt beklagen Fachvertreter jedoch die unsystematische Ausbildung von Lehrern in diesem Bereich33. Während sich die Sprechstimmbildung also nach wie vor weder an der Schule noch in der Lehrerausbildung etabliert hat, ist sie an Universitäten durchaus präsent; hier allerdings nicht als eigenständiges akademisches Fach, sondern als ein Zusatzangebot, dessen Inanspruchnahme häufig freiwillig ist. Der Einflussbereich des Faches hat sich also nicht gefestigt oder vergrößert und es wird sogar Kritik aus den eigenen Reihen an der Gesamtkonzeption des Faches laut. In seinem im Jahr 2000 erschienen Buch „Kommunikationspädago-

30 Auch die entsprechende Literatur zur Unterrichtsgestaltung setzt „die grundlegende Sprech- und Stimmbildung oft stillschweigend voraus[…]“ (Pabst-Weinschenk: Die Sprechwerkstatt. S. 4). 31 Wagner weist zudem darauf hin, dass es angesichts der Fülle der Stoffinhalte für den Lehrer schwierig sein dürfte, die sprecherzieherischen Aspekte im Unterricht auch tatsächlich zu berücksichtigen (vgl. Wagner: Zur Sprecherziehung. S. 112 f.). 32 An der Uni Leipzig sind die Kurse für Lehramtsstudenten obligatorisch (vgl. www.sprech.philol.uni-leipzig.de/lehramt-staatsexamen.html; www.sprech.philol.unileipzig.de/lehramtsanwaerter.html). 33 Vgl. dazu Antje Völker: Stimm- und Sprechbildung für Lehramtsstudenten. In: Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft. Sprechpädagogik, Sprechtherapie, Sprechkunst 14 (1996/I). S. 8-21. Sowie Cornelia Ertmer: Sprechwissenschaft und Sprecherziehung in der Schule. In: Pabst-Weinschenk (Hrsg.): Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. S. 317-318. Ertmer weist zudem darauf hin, dass Fortbildungen für Lehrer zunehmend in deren Freizeit stattfinden (vgl. ebd. S. 318); ein Beispiel für die von McKenzie beschriebene Verwischung der Grenzen in diesem Bereich. Vgl. außerdem Kraft; Neuber: Zur Entwicklung der Sprecherziehung in der Lehrerausbildung am Beispiel Sachsens. In: Pabst-Weinschenk; Wagner; Naumann (Hrsg.): Sprecherziehung im Unterricht. S. 115-122.

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gik“34 stellt Hellmut Geißner das Fach in seiner bisherigen Ausrichtung grundlegend in Frage. Seine Kritik richtet sich dabei in erster Linie auf das Kompositum ‚Sprechen‘ in der Fachbezeichnung.35 Er sieht darin eine grundsätzliche Fehlausrichtung des Faches, die seit den Anfängen des Faches gegeben ist und heute in eine Sackgasse führen würde.36 Die Anliegen der Sprecherziehung, wie sie von Drach und anderen Fachvertretern formuliert worden sind, seien in der heutigen Gesellschaft obsolet. Entsprechend hätten US-amerikanische Organisationen und Zeitschriften längst das Wort ‚speech‘ aus ihren Fachbezeichnungen gestrichen und führen stattdessen den Begriff ‚communication‘ im Titel.37 Deshalb sei nach Geißner „von der ‚Sache selbst‘, wie von der Möglichkeit internationaler Verbindungen her, ein Wandel nicht länger hinauszuschieben, der Wandel in Sache und Namen von ‚Sprecherziehung‘ zu ‚Kommunikationspädagogik‘“ 38. Dabei würde auch die Dichotomie von Schreiben und Sprechen, die zu einer der Grundausrichtungen des Faches gehöre, irrelevant.39 Mit der Kritik am Begriff des Sprechens zielt Geißner auf die Vorstellung, dass Sprechen isoliert betrachtet und bearbeitet werden könne.40 Als reduktionistische Ansätze bezeichnet er dabei Vorstellungen, die Sprechen als „individuelle Höchstleistung“ statt als soziale Interaktion verstehen, wobei es Geißner zufolge „kaum einen Unterschied [macht], ob sie vom Physiologischen ausgehen und zum Phonetischen fortschreiten oder das ‚Psychophysische‘ (im einzelnen Sprecher) in ihre Betrachtung einschließen“41. Sprechen könne man nicht als solches und nicht losgelöst von der kommunikativen Situation üben. Mit dieser Kritik geht Geißner also noch über die von den Sprecherziehern der 1920er und 1930er Jahre geäußerte methodische Kritik an rein physiologisch orientierten Übungsansätzen hinaus und sieht auch in den auf psycho-physische Ganzheitlichkeit ausgerichteten Ansätzen eine unzureichende Konzeption. Damit setzt Geißner die Argumentationslinie seiner früheren Publikationen fort, wendet sie jetzt aber in eine funda34 Geißner, Hellmut: Kommunikationspädagogik. Transformationen der ‚Sprech‘Erziehung. St. Ingbert 2000. 35 Geißner problematisiert auch den Begriff Erziehung im Fachnamen, verweist in diesem Zusammenhang aber darauf dass weder Sprechlehre noch Sprechpädagogik eine gute Alternative wären, ebenso wenig wie der Begriff ‚Training‘ (vgl. Geißner: Kommunikationspädagogik. S. 17-20). 36 Vgl. ebd. S. 30-38. 37 Vgl. ebd. S. 13. 38 Ebd. 39 Vgl. ebd. S. 46-57. 40 Vgl. ebd. S. 30. 41 Ebd.

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mentale Kritik an der Fachkonzeption und stellt den gesamten Bereich der Sprechstimmbildung in Frage.42 Eine Ausnahme sieht er bei der Ausbildung bestimmter Berufssprecher, „vor allem in künstlerischen Sprechberufen“, für die „teilweise andere Methoden [gelten]“ – er erwähnt hier auch den starken Einfluss, den „die Ausbildung für das ‚Sprechen auf der Bühne‘ [auf] die allgemeine Sprecherziehung“ hatte, „obwohl das ‚Sprechen im Unterricht‘ andere Fähigkeiten verlangt“43. Für den „Alltagsmensch[en]“44 hingegen sei es sinnlos, Stimme und Sprechweise nach bestimmten Normen zu formen und damit auch zu uniformieren, da diese für das „Alltagssprechen“ irrelevant seien: „Warum also sollen bezogen auf das ‚Alltagssprechen‘ sämtliche Kinder, Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, von berufstätigen Erwachsenen ganz und gar abgesehen, ihre Sprechweise ändern [Hervorhebung im Orig.]? Warum sollen sie ihre Mundartelemente aufgeben, wenn man mit stark mundartlicher Färbung hohe Staatsämter erringen kann: Adenauer, Brandt, Herzog […]. Warum sollen sie an ihrer Stimme arbeiten, wenn eine mehr oder minder ‚unschöne‘ oder heisere Stimme kein Hindernis ist, Außenminister zu werden (Fischer) oder Vizepräsidentin des Bundestags (Vollmer).“45

Entsprechend diesen Befunden fordert Geißner die Transformation der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung in eine Kommunikationspädagogik, die sich zudem der Fragmentierung der Gesellschaft bewusst ist und nach den jeweiligen Kommunikationszusammenhängen, in denen sie gefragt ist, differenziert.46 Geißners Diagnose zufolge wäre also gerade das, was im Bereich der Sprechstimmbildung angestrebt wird, gesellschaftlich irrelevant und obsolet. Diese These steht allerdings im Gegensatz zum gegenwärtigen Befund, dass Sprechstimmbildung – teilweise unter der Bezeichnung Stimmtraining, teilweise unter dem Fachnamen Sprecherziehung – in Erwachsenenbildungsinstitutionen und auf dem freien Weiterbildungsmarkt zahlreich angeboten wird und auf hohe Nachfrage stößt. Während Geißner in seinen Ausführungen zwar auf die Tätigkeit von Sprecherziehern als Rhetoriktrainer verweist, erwähnt er Stimmtraining nicht47; das mag auch daher rühren, dass es zwar in den 1990er Jahren bereits 42 Vgl. ebd. S. 44. 43 Ebd. S. 40. 44 Ebd.: „Der Alltagsmensch […] braucht keine Sprech-Erziehung, auf alle Fälle keine alten Stils. Er kann nämlich sprechen!“ 45 Ebd. S. 42. 46 Vgl. ebd. S. 222. Geißner betont hier auch, dass Kommunikationskompetenz nicht ohne Sachkompetenz funktioniere und entsprechend nicht universell sei. 47 Vgl. ebd. S. 18 f.

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Angebote in diesem Bereich gab, doch diese im Verlauf der 2000er Jahre, also nach dem Erscheinen von Geißners „Kommunikationspädagogik“, noch einmal zugenommen haben.48 Besonders die Zahl der freien Institute oder Einzelpersonen, die im Internet für ihre Angebote werben, ist auf eine unüberschaubare Zahl gestiegen. Nach wie vor gibt es Angebote für den Bereich der Rhetorik, doch scheint die Stimme verstärkt für Aufmerksamkeit auf dem Weiterbildungsmarkt zu sorgen: insbesondere bei Ratgebern und Übungsbüchern kann man beginnend in den 1990er und dann insbesondere seit den 2000er Jahren eine Zunahme an Büchern beobachten, die die Stimme im Titel führen.49 Diese Übungsbücher sind nicht, wie beispielsweise das Übungsbuch von Julius Hey, an eine Ausbildungsinstitution oder Seminarangebote gebunden, auch wenn sie teilweise die Weiterarbeit mit einem Sprechstimmlehrer empfehlen.50 Zunächst aber bieten sie sich in der Regel als Übungsprogramm für ein Selbststudium an, wodurch Sprechstimmbildung als Übungspraxis jenseits institutioneller Kontexte verortet ist und sich gewissermaßen ins Private verlagert. Daneben gehören in vielen Volkshochschulen und beruflichen Weiterbildungsangeboten Stimmtrainingskurse 48 An der Universität Erlangen-Nürnberg gab es beispielsweise vor dem Wintersemester 2007/2008 Stimmbildungskurse nur im Rahmen der Theologie und des Bereichs ‚Musizieren an der Universität‘: die Kurse richteten sich in erster Linie an Chormitglieder und Theologen und fokussierten die gesangliche Stimmbildung. Mit der Umsetzung der sog. ‚Bolognareform‘ wurde der Bereich der Schlüsselqualifikationen eingeführt und im Wintersemester 2007/2008 gab es erstmals zwei Veranstaltungen ‚Sprecherziehung und öffentliches Auftreten‘. Diese umfassten auch Sprechstimmbildung, waren also nicht mehr auf den Gesangsbereich bezogen. Im Sommersemester 2016 hat sich die Zahl der Kurse bei den Schlüsselqualifikationen auf sieben erhöht; die Kursangebote aus dem musikalischen Bereich werden nun unter dem Titel ‚Stimmbildung und Sprecherziehung‘ auch im Bereich der Schlüsselqualifikationen angeboten, haben also eine Verlagerung in Richtung Sprechstimmbildung sowie eine Ausweitung der

Zielgruppe

erfahren

(vgl.

www.univis.fau.de/form?__s=2&dsc=anew/t

lecture&tdir=schlss/prsent&anonymous=1&ref=tlecture&sem=2016s&__e=141 vom 03.11.2016). 49 Auf eine „Welle“ an Rhetorikratgebern verweist 1976 im Untertitel seines Aufsatzes Dieckmann: „Bedarf an Rhetorik? Zu einer neuen Welle auf dem Buchmarkt“. Für die Zeitspanne ab 2000 konnte ich 30 Titel recherchieren, die Stimmtraining oder Sprechstimmbildung mit dem Aspekt der Stimme bewerben und die teilweise in mehrfachen Neuauflagen erschienen sind. Von 1990 bis 1999 waren es nur fünf Titel. Vor 1990 hingegen nur eines. Bücher aus dem Bereich der Sprecherziehung, die sich mit Sprechtechnik befassen, gibt es in überschaubarer Zahl seit den 1950ern. 50 Vgl. dazu Abschnitt 4.3.2.

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zum festen Bestand.51 Dass die Angebote teilweise auch unter der Bezeichnung ‚Sprecherziehung‘ laufen, zeigt, dass die Sprecherziehung durchaus Einfluss auf den gegenwärtigen Bereich der Sprechstimmbildung ausübt. Dies geht jedoch nicht so weit, dass man von einer Regulierung des Bereichs sprechen könnte, denn dafür ist auch der Ausbildungshintergrund der Anbieter zu heterogen. 52 Sowohl bei diesen Seminarangeboten als auch bei denen freier Anbieter handelt es sich in der Regel um Kurse, die sich über ein oder zwei Tage oder mehrere Termine erstrecken: Betriebliche Weiterbildungsangebote gehen meist nur ein oder zwei Tage, an den Universitäten laufen die Angebote über die gesamte Vorlesungszeit, an den Volkshochschulen sind es maximal einige Wochen. In vielen Fällen handelt es sich also eher um punktuelle Maßnahmen und nicht um eine langfristige Arbeit an der Sprechstimme. Eine längerfristige Form der Sprechstimmbildungsarbeit kann ein Einzeltraining darstellen. Die Entscheidung, ob man an der eigenen Sprechstimme arbeiten möchte und in welcher Form man es tut, ist also stark individualisiert und nicht von institutionellen Strukturen vorbestimmt, die man automatisch durchläuft.53 Gerade die Vielzahl der Weiterbildungsangebote nicht nur zur Sprechstimmbildung verweist auf die gesellschaftlichen Dynamiken der Performancegesellschaft, die fordern, effizient, leistungsstark und wirkungsvoll zu handeln, und diese Maßnahmen als notwendig und sinnvoll erscheinen lassen. Der Einzelne durchläuft diese Programme also nicht nach der Zwangslogik disziplinierender Strukturen, sondern entscheidet sich selbst dafür, eines dieser Angebote in Anspruch zu nehmen. Dennoch ist diese Entscheidung durchaus von gesellschaftlichen Anforderungen und Dynamiken geprägt und ist somit keine rein individuelle. Die Angebote weisen dabei nicht die typische Strukturierung disziplinierender Ausbildungsin51 Vgl. z.B. das Angebot des Bildungszentrums Nürnberg, das im Wintersemester 2016/17 sieben Veranstaltungen im Bereich der Sprechstimmbildung angeboten hat (vgl. www.bz.nuernberg.de vom 03.11.2016). Der Fortbildungsverband für Hochschullehre der bayerischen Universitäten „profilehreplus“ bot im Wintersemester 2016/17 zehn Veranstaltungen in diesem Bereich an (vgl. www.profilehreplus.de/ vom 03.11.2016). 52 Wie bereits erwähnt finden sich hier ausgebildete Schauspieler, Sänger, Logopäden, Sprecherzieher und Radiomoderatoren. 53 Vgl. hierzu auch die, in der Einleitung bereits erwähnten soziologischen Diagnosen zu den Individualisierungstendenzen der Gegenwart. Exemplarisch seien hier noch einmal genannt: Thomas Alkemeyer „Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults“. Sowie die Beiträge in dem Sammelband „Soziologie des Körpers“, insbesondere die Einleitung von Markus Schroer und der Beitrag von Zygmunt Bauman.

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stitutionen auf, die ein differenziertes und nach Jahrgängen gestaffeltes Ausbildungsprogramm vorsehen.54 Entsprechend gibt es bei diesen Angeboten keine Prüfung, die das erreichte Ausbildungsniveau ermittelt. Vielmehr bescheinigt häufig ein Zertifikat die Teilnahme am Seminar und damit auch den entsprechenden Erwerb von neuen Fähigkeiten oder ‚Kompetenzen‘. Die Nachhaltigkeit des Lernerfolgs oder des Kompetenzerwerbs soll sich im späteren Alltag des Teilnehmers erweisen. Auch in der Gegenwart gewinnt die Sprechstimmbildung also nicht an struktureller Disziplinierungsmacht; vielmehr lassen die Bemühungen, sie in disziplinierende Strukturen einzufügen, deutlich nach und die strukturellen Dynamiken der Performancegesellschaft entfalten sich in ausgeprägtem Maße. Indem die Sprechstimmbildung in der Schule kaum Berücksichtigung findet, dafür aber umso mehr im Bereich der Erwachsenenbildung, fügt sie sich ein in die Dynamik des ‚lebenslangen Lernens‘, die McKenzie als so charakteristisch für die Performancegesellschaft beschrieben hat und in der die Schule nicht mehr als die zentrale Ausbildungsinstitution erscheint.55 Indem die Angebote zeitlich gesehen eher punktuell stattfinden und die Teilnehmer nicht durch Prüfungen „charakterisiert“ werden, fehlen den Angeboten jene Merkmale von „Stetigkeit“ und „Zwang“, die für die Durchsetzungskraft der Disziplinarmechanismen wichtig sind. Dies hat auch Auswirkungen auf die Übungspraxis, da die Übungen dadurch einen Teil ihrer disziplinierenden Funktion verlieren. Dafür symptomatisch ist die ‚Privatisierung‘ der Übungspraxis, wie sie mit den Übungsbüchern, die an keine institutionalisierte Ausbildung gekoppelt sind, einhergeht: es bleibt jedem selbst überlassen, wie häufig er damit übt. Auch die wachsende Zahl von Anbietern im ‚freien Bereich‘, die sich seit den 1990ern verstärkt neben den angestammten Ausbildungsinstitutionen etablieren, sind ein Merkmal der gegenwärtigen Performancegesellschaft. Kann man den Engel-Verein als einen Vorläufer der heute viel zahlreicheren Anbieter sehen, so zeigt sich hier ein charakteristischer Unterschied: während der Engel-Verein nach staatlichem Rückhalt56 strebte und bemüht war, die Lehrer, die an den Stimmbildungsseminaren des Vereins teilnahmen, mittels Ministerialanweisung zum Üben zu verpflichten, überlassen es heutige Anbieter dem Kunden selbst, inwiefern er das Angebot dazu nutzen will, weiter damit zu üben. Die Angebote zur Sprechstim54 Auch an den Universitäten sind die Angebote zur Sprechstimmbildung meist nicht an einen festen Studienabschnitt gekoppelt. 55 Vgl. McKenzie: Perform or else. S. 185. 56 Das tun heutige Berufsverbände, die häufig ebenfalls Vereinsform haben, teilweise auch noch, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie die Übenden zu mehr Disziplin ‚verdonnern‘ möchten.

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 233

mbildung, die sich an eine breite Zielgruppe richten, haben meist nur eine kurzoder mittelfristige Laufzeit, wodurch die Übungspraxis für die Teilnehmer entsprechend wenig Verstetigung erfährt. Demgegenüber haben die Personen, die als Lehrende auftreten, als Schauspieler, Sänger oder Logopäden in der Regel eine durchaus intensive und langfristige Ausbildung ihrer Stimme absolviert, ohne dass diese Ausbildung unbedingt auf didaktische Tätigkeiten vorbereitet haben muss. Eine geschulte Sprechstimme erscheint hier als Qualifikation auszureichen, anderen diese Kenntnisse weiterzuvermitteln. Während also die Sprechwissenschaft und Sprecherziehung zwischen Kontinuität und Auflösung schwankt und keine signifikante institutionelle Ausweitung erfahren hat57, findet sich Sprechstimmbildung gegenwärtig hauptsächlich in den freiwillig zu belegenden Angeboten an Institutionen der Erwachsenenbildung oder auf dem ‚freien‘ Markt der Weiterbildung und Selbstoptimierung. Hier ist sie durchaus gefragt, was auf die gesellschaftlichen Dynamiken verweist, für deren Anforderungen diese Maßnahmen Unterstützung und Vorbereitung in Aussicht stellen. Die damit einhergehenden institutionellen Rahmenbedingungen haben vor allem durch die zeitliche Strukturierung und den Charakter der Freiwilligkeit auch Auswirkungen auf die Übungspraxis, die damit weniger disziplinierend wirkt. Gleichzeitig ist in vielen Angeboten und Titeln der Ratgeberliteratur von Stimmtraining die Rede, was durchaus Assoziationen an eine disziplinierende Übungspraxis weckt. 58 Mit welchen Ansätzen und auf welche Weise gegenwärtig in der Sprechstimmbildung geübt wird, wird in Kapitel 4.3 und 4.4 anhand der Übungsbücher und Seminarangebote untersucht werden. Zunächst wird jedoch auf die ökonomischen Dynamiken eingegangen, in die die Sprechstimmbildung in der Gegenwart eingebunden ist, und im Anschluss daran der gegenwärtige Stellenwert der Aussprachenormierung in den Blick genommen.

57 Vgl. zur prekären Situation der Sprechwissenschaft die Publikation von Ines Bose „Sprechwissenschaft. 100 Jahre Fachgeschichte an der Universität Halle“. 58 Geißner weist mit Blick auf die Rhetoriktrainer unter den Sprecherziehern darauf hin, dass die aus dem Bereich des Sports stammenden „Arten von Training, von Drill und Dressur, im sozial verantwortlichen Lehren, z.B. in ‚lernenden Organisationen‘ fehl am Platze sind“ (Geißner: Kommunikationspädagogik. S. 19). Mehr dazu in Kapitel 4.3.

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4.1.2 Ökonomische Dynamiken und Wirkungskonzepte der gegenwärtigen Sprechstimmbildung Bei der Darstellung der institutionellen Verortung der Sprechstimmbildung wurden bereits einige ökonomische Aspekte angesprochen, da beides miteinander zusammenhängt. Wie gezeigt wurde, ist Sprechstimmbildung gegenwärtig kaum in die schulische Ausbildung integriert, vielmehr wird sie für Erwachsene angeboten, entweder als Bestandteil von Weiterbildungsprogrammen oder als Angebot auf dem ‚freien‘ Markt. Es sind keine Angebote, die man zwangsläufig durchläuft, sondern für die man sich bewusst entscheiden muss. Für diejenigen, die das Angebot in Anspruch nehmen, heißt das häufig, dass sie die Kosten dafür selbst tragen. Ausnahmen sind von Unternehmen gebuchte Weiterbildungen für ihre Mitarbeiter oder in der Regel die Angebote für Studierende an Universitäten. Die Angebote gibt es in recht unterschiedlichen Preiskategorien: bei Seminaren reicht das beispielsweise von 88,00 Euro für einen sechzehnstündigen VHS-Kurs59 bis zu 1500,00 Euro für ein ebenfalls sechzehnstündiges Wochenendseminar bei einem freien Trainer60. Stimmtrainingsratgeber gibt es ab 8,99 Euro auf dem Buchmarkt61, das Trainingsvideo eines Anbieters kann man für 500,00 Euro bei ihm bestellen62. Für ein fünfzigminütiges Einzeltraining beginnen die Kosten bei 50,00 Euro. Die Preise hängen nicht davon ab, ob es sich um ein Gruppenangebot oder ein Einzeltraining handelt, stehen also nicht in Relation zur Individualität des Angebots oder bestimmten Qualifikationen der Anbieter. Vielmehr scheinen sie von der Solvenz der Zielgruppe und dem Image, das der Trainer oder Lehrende von sich vermittelt, abzuhängen. Die Angebote an Volkshochschulen sollen für eine breite Zielgruppe erschwinglich sein, während die hochpreisigen Seminarangebote in der Regel von Firmen gebucht werden dürften, die ihren Mitarbeitern eine solche Weiterbildung anbieten möchten. Die Trainer oder Lehrenden, die Sprechstimmbildung unterrichten, sind in der Regel Selbständige, die für ihre Angebote auf dem ‚freien‘ Markt werben

59 Bspw. am Bildungszentrum (BZ) in Nürnberg im Wintersemester 2016/17 (vgl. www.bz.nuernberg.de/beruf-und-karriere/kurs/58210-5.html vom 03.11.2016). 60 Vgl. www.peter-engel.com/seminare.php vom 03.11.2016. Im Preis inbegriffen ist die Verpflegung. 61 Bspw. Eva Loschky: Stimmtraining. Gut klingen – gut ankommen mit der LoschkyMethode®. München 2016. 62 Vgl. www.peter-engel.com/seminare.php vom 03.11.2016.

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müssen.63 Wollen sie für ein Unternehmen oder eine Institution tätig werden, müssen in erster Linie die Entscheidungsträger in den entsprechenden Einrichtungen von der Notwendigkeit eines Seminars überzeugt werden. 64 Das heißt die Personen, die Sprechstimmbildung anbieten, sind selbst eingebunden in jene Dynamiken der Imagevermarktung, die für die Formen der kapitalistischen Wertschöpfung in der Performancegesellschaft charakteristisch sind. Sie müssen ihre Kunden davon überzeugen, dass es sich lohnt, die Sprechstimme zu schulen und dass sie jeweils der richtige Ansprechpartner dafür sind. Seit der Verbreitung des Internets bietet sich die relativ kostengünstige Möglichkeit, auf einer eigenen Website das eigene Angebot zu bewerben – entsprechend groß ist die Anzahl dieser Websites. Die Vielzahl der Anbieter rührt dabei auch von der Tatsache her, dass der Bereich der Sprechstimmbildung – entgegen den Bemühungen Drachs und anderer Sprecherzieher der 1920er und 30er Jahre – nach wie vor kein regulierter Bereich ist; das heißt ‚Stimmtrainer‘, ‚Stimmbildung‘, ‚Sprechbildung‘ und ‚Sprecherzieher‘ sind keine geschützten Begriffe oder Berufsbezeichnungen. Jeder, der das möchte, kann seine Dienste in diesem Bereich anbieten. Wie bereits erwähnt, finden sich unter den Anbietern im Bereich der Sprechstimmbildung viele Schauspieler und Opernsänger65, was zum einen damit zusammen hängt, dass sie in der Regel selbst eine intensive Stimmbildung erfahren haben, zum anderen aber auch auf die gegenwärtige wirtschaftliche Situation von Schauspielern und Sängern verweist. Wenn Engagements ausbleiben, besteht oft die Notwendigkeit eines zweiten wirtschaftlichen ‚Standbeins‘ oder eines veränderten Tätigkeitsbereichs.66 Die zuvor in Bezug auf die Stimme er63 Auch die Autoren der Übungsbücher und Ratgeber arbeiten in der Regel als selbständige Trainer im Bereich der Sprechstimmbildung. 64 Die Lehrenden an Volkshochschulen sind zudem abhängig von der Teilnehmerzahl ihrer Kurse, da sich ihre – an sich schon nicht sehr hohe – Bezahlung danach richtet. 65 Da diese Anbieter darauf Wert legen, dass sie als Opernsänger und nicht einfach ‚nur‘ als Sänger wahrgenommen werden, lässt sich auch hier auf einen gewissen Effekt für das eigene Image schließen: vielleicht wird damit einerseits die Assoziation einer besonders vielseitigen und anspruchsvollen Stimmleistung verknüpft, andererseits soll damit vielleicht das gesellschaftliche Prestige der Oper aufgerufen werden. 66 Zur Entwicklung und Situation der Arbeit an den deutschen Stadttheatern vgl. Rolf Bolwin: Einkommenssituation von Künstlern – der Blick aus der Spartenperspektive. Über das Arbeiten im Stadttheater. In: Albert Drews (Hrsg.): Kreatives Prekariat. Wie lebt es sich von und mit der Kunst? 59. Loccumer Kulturpolitisches Kolloquium. Rehburg-Loccum 2015 (= Reihe Loccumer Protokolle Band 08/14). S. 41-44. Vgl. auch Hans-Peter Kastenhuber: Haben oder nichts haben. In: Erlanger Nachrichten (24.

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worbene Qualifikation scheint dabei in vielen Fällen die Notwendigkeit einer didaktischen Ausbildung aufzuwiegen.67 Dabei gibt es Ähnlichkeiten zur Situation am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, als ebenfalls Schauspieler und Sänger sich als Sprechstimmlehrer betätigten. Symptomatisch für die Disziplinargesellschaft waren dabei die Bemühungen, diesen Bereich zu regulieren und Sprechstimmbildung zu institutionalisieren, wodurch Sprechstimmbildung Teil der allgemeinen Schulausbildung werden sollte. Gegenwärtig zeigt sich der Bereich der Sprechstimmbildung jedoch wieder als deregulierter Bereich – nun unter den Bedingungen des postfordistischen Wirtschaftssystems der Performancegesellschaft. Wie in Kapitel zwei ausgeführt wurde, verwischen unter den ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft die Grenzen zwischen Beruflichem und Privaten, Arbeitszeit und Freizeit, und das Soziale verschmilzt mit dem Ökonomischen. In den gegenwärtigen Angeboten zur Sprechstimmbildung wird das insofern greifbar, als diese in überwiegender Zahl im Bereich des Beruflichen verortet sind und damit persönliche Merkmale wie die Stimme und die Sprechweise für berufliche Zwecke vereinnahmen, wobei Aspekte wie Körper- und Selbsterfahrung in eins gesetzt werden mit Leistungs- und Erfolgssteigerung. So sind die Angebote an Universitäten und in betrieblichen Weiterbildungseinrichtungen dezidiert auf berufliche Belange ausgerichtet und an den Volkshochschulen werden die Kurse ebenfalls meistens in der Rubrik ‚Beruf und Karriere‘ verortet.68 Hier gibt es auch hin und wieder Seminare im Bereich ‚Gesundheit‘, die dann stärker auf den Erlebnis- und Selbsterfahrungscharakter der Stimmarbeit abzielen.69 Auch dieser Bereich erfährt durchaus gegenwärtig eine IndienstSeptember 2016). S. 3. In diesem Artikel erzählt ein Schauspieler, dass er sich seinen Lebensunterhalt in Zukunft als „Performance-Coach für Manager [verdienen]“ will. 67 Manche Anbieter im Internet betonen die didaktische Schulung ihrer Mitarbeiter, grenzen

sich

damit

also

wiederum

von

anderen

Anbietern

ab

(z.B.

www.stimmtraining-sprechtraining.de/ vom 03.11.2016). Auch die Lehrenden an vielen Volkshochschulen müssen selbst Fortbildungen absolviert haben, um dort tätig werden zu können. 68 Vgl.

www.bz.nuernberg.de/beruf-und-karriere/fachgruppe/trainings-fuer-beruf-und-

karriere.html vom 03.11.2016. 69 Vgl.

bspw.

die

Angebote

am

Bildungszentrum

Nürnberg

(www.bz.nuern

berg.de/gesundheit-und-umwelt/kurs/40286.html vom 03. 09. 2013). Genderspezifische Kurse, also v.a. Seminare für Frauen (für Männer gibt es in der Regel keine speziellen Angebote), gehen am Bildungszentrum Nürnberg (BZ) eher zurück. Ende der 1990er gab es am BZ noch zwei Stimmseminare, die sich speziell an Frauen richteten, wobei das eine mit dem Titel ‚Frauen erheben ihre Stimme‘ eher den beruflichen Leis-

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 237

nahme für ökonomische Zwecke, insofern Fitness und Attraktivität Teil der persönlichen Leistungserhaltung und -steigerung sind.70 Auf den Websites der Stimmtrainer stehen ebenfalls häufig berufliche Situationen im Vordergrund71, allerdings wird teilweise auch der private Bereich dezidiert angesprochen72. Stimme und Sprechen werden dabei sowohl durch die Verortung im Bereich beruflicher Anforderungen als auch explizit in den Beschreibungen als maßgeblich für den beruflichen Erfolg beschrieben: „Mit dem richtigen Ton zum Erfolg. […] Ihre Stimme und Ihr Sprechen tragen maßgeblich zu Ihrem Erfolg bei. Und dies gilt für jeden, der verbal kommuniziert!“73, „Mit Stimmschwung zum Aufschwung“74, „Eigenkapital Stimme und Sprache“75, „Voice sells – Die Macht der Stimme. […] Dieses Seminar ist optimal für Menschen, die ihren Erfolg durch einen bewussten Einsatz der Stimme steigern wollen.“76 Das teilweise etwas marktschreierisch formulierte Versprechen, dass die Stimme den beruflichen Erfolg beeinflusst, wird dabei nicht nur für Sprecherberufe in Aussicht gestellt.77 tungsaspekt betonte, das andere mit dem Titel ‚Frauen entdecken ihre Stimme‘ eher den Selbsterfahrungsaspekt (vgl. BZ-Programm WS 1999/2000. S. 162-163). Seminare zur gesanglichen Stimmbildung betonen in der Regel den Selbsterfahrungs- und Selbstverwirklichungsaspekt. 70 Vgl. Diederichsen: Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. 71 Bspw. auf den Seiten www.stimmtraining-sprechtraining.de/ vom 03.11.2016, www.voice-sells.de/ vom 03.11.2016 und www.pauljohannesbaumgartner.de/seminare/die-macht-der-stimme.html vom 03.11.2016. 72 Auf der Seite www.stimm-werkstatt.de/uebersicht.html vom 03.11.2016 wird bspw. Berufliches und Privates angesprochen: „Ihre Stimme ist so einmalig und unverwechselbar wie Sie selbst. Sie ist eins der wichtigsten Instrumente für Ihre Kommunikation mit der Umwelt. Nutzen Sie dieses wunderbare Werkzeug – persönlich wie beruflich, just for fun oder ganz gezielt.“ Allgemein „sprecherische Anforderungen“ thematisiert die Seite www.sprichtsichrum.de/content/sprechtraining/ vom 03.11.2016: „‚Man kann nicht nicht kommunizieren‘, hat Paul Watzlawick einmal gesagt. Und jede Kommunikationssituation stellt sprecherische Anforderungen an die Beteiligten. Sie auf diese speziellen sprecherischen Herausforderungen einzustellen und vorzubereiten ist Ziel meines Sprechtrainings.“ 73 www.stimmtraining-sprechtraining.de/live/Grundlagen-guter-Artikulation/stimmesprechen.aspx vom 03.11.2016. 74 www.voice-sells.de/DE/fachvortrag.php vom 03.11.2016. 75 www.peter-engel.com/seminare.php vom 03.11.2016. 76 www.pauljohannesbaumgartner.de/seminare/die-macht-der-stimme.html vom 03.11.2016. 77 Vgl. bspw. www.stimmcoaching-hagen.de/ vom 03.11.2016.

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Auch wenn die Formulierungen etwas zurückhaltender ausfallen 78, wird deutlich, dass persönliche Merkmale und berufliche Qualifikation in eins gesetzt werden und beides ökonomischen Zielen dienen soll. In den Seminarankündigungen und Beschreibungen der Websites wird zudem deutlich, wie unterschiedliche Erfahrungsbereiche hier zusammenfließen: Körperwahrnehmung und Leistungssteigerung, Selbsterfahrung und Selbstoptimierung gehen Hand in Hand. Oft wird generell einfach das Auftreten einer Person oder ihre Persönlichkeit, die über die Stimme zum Ausdruck komme, angesprochen.79 Insofern wird hier jenes Ineinanderfließen von sozialen und ökonomischen Bereichen greifbar, wie es vielfach für die gegenwärtigen Gesellschaftsdynamiken beschrieben wurde.80 Dabei werden, vor allem auf den Websites, Szenen der Interaktion sowie die Wirkung, die man mit der Stimme erzielen kann, thematisiert. Ganz allgemein ist hier davon die Rede, wie man auftritt oder „rüber kommt“ 81, daneben werden konkrete Situationen skizziert, in denen die Stimme und Sprechweise besonders von Relevanz ist.82 Dass gerade auf den Websites am ausführlichsten geschildert 78 Vgl. z.B. www.sabine-mariss.de/index.php/seminare/stimme/ vom 03.11.2016: „Eine angenehme Stimme ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, wenn es darum geht, Anklang bei Ihrem Gegenüber zu finden. Stimme und Sprechweise entscheiden über Sympathie und Aufmerksamkeit Ihrer ZuhörerInnen und somit nicht zuletzt darüber, ob Sie Ihr Ziel erreichen, sei es bei der Akquise, in einem wichtigen Gespräch oder beim Halten einer Rede.“ 79 So heißt es in einer Seminarankündigung zu einem VHS-Kurs beispielsweise: „Eine trainierte Stimme ist die beste Voraussetzung für Ihr überzeugendes Auftreten.“ (www.bz.nuernberg.de/beruf-und-karriere/kurs/58211-4.html vom 03.11.2016) Oder auf einer Website heißt es: „Unsere Stimme ist Ausdruck der Persönlichkeit und vermittelt dem Zuhörer ein Bild unserer inneren Verfassung. Sie wirkt besonders souverän, wenn sie kraftvoll, resonanzreich und authentisch klingt. […] Wenn Sie sich stimmliche Authentizität und Freiheit, Durchsetzungskraft und Resonanz, sowie Präsenz und Ausstrahlung wünschen, unterstütze ich Sie mit vielfältigen Übungen bei der Entfaltung Ihres Stimmpotenzials. […] Verbessern Sie durch die Entfaltung ihrer stimmlichen Möglichkeiten gezielt ihre Wirkung.“ (www.sprechstil-institut.de/portfo lio/stimmtraining/ vom 03.11.2016). 80 Vgl. Kapitel zwei. 81 Bspw. www.stimmcoaching-hagen.de/ vom 03.11.2016: „Lernen Sie auch Ihre Stimme und Ihr Auftreten gegenüber anderen mit einem professionellen Stimmcoaching zu verbessern und gewinnend aufzutreten.“ 82 Bspw. stichpunktartig auf der Seite www.pauljohannesbaumgartner.de/seminare/diemacht-der-stimme.htmln vom 03.11.2016: „In Präsentationen kompetent und überzeugend klingen; Im Verkaufsgespräch begeisternd klingen; Ruhige und klare Stimme

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wird, welchen Anforderungen man mit der Stimme und dem Sprechen begegnen muss und kann, ist auch unter marktökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten: Auch Sprechstimmbildner müssen für sich werben und tun dies insbesondere über ihre Websites. Sie entwerfen hier die Szenarien, für die ihre Angebote Unterstützung und Hilfe versprechen, und sie tun dies nach den Maßgaben der Werbung. Das heißt es geht auch darum Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den ‚Besucher‘ der Websites von der eigenen Kompetenz und der Relevanz des Angebots zu überzeugen. Auf vielen Websites wird die Bedeutung der Stimme und der Sprechweise für die zwischenmenschliche Kommunikation beschrieben und dabei werden sehr häufig Aspekte jener Virtuosität des Alltags entworfen, die in Kapitel zwei beschrieben worden sind – auch wenn meist nicht direkt von Virtuosität die Rede ist.83 So wird mit der Stimme und Sprechweise in vielen Fällen eine affizierende Wirkung angesprochen: diese besteht mindestens darin, „sympathisch“84 und „gewinnend“85 ‚rüberzukommen‘, darüber hinaus geht es darum, das Gegenüber „zu begeistern“86, mit der „Stimme zu verzaubern“87 und „charismatisch“88 zu wirken. ‚Souveränität‘ ist ein Schlüsselbegriff, der auf fast allen Websites Verwendung findet. Die Stimme soll dazu beitragen, souverän zu wirken, wobei sich dies auf den Gesamteindruck der handelnden Person bezieht, es also um eine Art Meisterschaft der Selbstdarstellung geht. 89 Diese Meisterin wichtigen Verhandlungen und kritischen Situationen; Mehr Aufmerksamkeit und Durchschlagskraft in Meetings.“ 83 Gelegentlich

ist

auch

das

der

Fall,

so

bspw.

auf

www.stimmtraining-

sprechtraining.de/Schulung-fuer-Mitarbeiter--Mit-trainierter-Stimme-selbstbewusstsprechen_967.aspx vom 03.11.2016: „Begreifen Sie Ihre Stimme als Instrument: Je besser Sie Ihre Stimme kennen, je mehr Sie den Umgang damit üben, desto selbstbewußter und souveräner agieren Sie, wenn Ihr Erfolg davon abhängt, wie eindrucksvoll und virtuos sie Ihre Stimme zur Geltung bringen können.“ 84 www.sabine-mariss.de/index.php/seminare/stimme/ vom 03.11.2016. 85 hwww.stimmcoaching-hagen.de/index.php vom 03.11.2016. 86 Vgl. www.stimmtraining-sprechtraining.de/Stimme-trainieren-im-Vortrag-begeistern_ 369.aspx vom 03.11.2016. 87 www.voicemotion.de/coaching/einzel-coaching/ vom 03.11.2016. 88 www.evaloschky.de/cms/trainerin/mit-der-stimme-zum-erfolg/ vom 03.11.2016. 89 Vgl. dazu die Beschreibungen und Seminartitel auf den Websites für Stimmtraining, bspw. „Souveränität, Kompetenz, Zuversicht – oft entscheidet in Präsentationen, Meetings und Verhandlungen der Stimmklang über die Wirkung Ihrer Botschaft“ (www.pauljohannesbaumgartner.de/seminare/die-macht-der-stimme.html vom 03.11.2016); „Stimmtraining – Souverän mit starker Stimme“ (www.frontline-

240 | Stimme und Sprechen am Theater formen

schaft und Virtuosität wird als erlernbar in Aussicht gestellt, wobei selten ein langwieriges Training notwendig erscheint, um die erwünschten Effekte zu erzielen. Welche Formen dieses Training annimmt und welche Übungen und Techniken zum Einsatz kommen, wird Gegenstand der Analysen in Kapitel 4.3 und 4.4 sein. Manche der Stimmtrainer inszenieren sich auf ihren Websites dabei selbst als virtuose Performer – auch hier beglaubigt die Wirkung der eigenen Person verbunden mit der eigenen Auftrittserfahrung, die Fähigkeit, dies auch anderen zu vermitteln.90 Den eigenen Erfolg steigern, indem man sein Gegenüber über die Stimme affizierend erreicht und souverän wirkt – diese Aspekte begegnen in den Beschreibungen vieler Websites zur Sprechstimmbildung. 91 Die Stimme und Sprechweise wird damit als wesentlicher Aspekt der Wirkung, die man auf ein Gegenüber

consulting.de/kommunikationstraining/stimmtraining.html vom 03.11.2016)); „Durch Stimme

und

Tonalität

souverän

in

der

Öffentlichkeit

überzeugen“

(www.stimmtraining-sprechtraining.de/Durch-Stimme-und-Tonalitaet-souveraen-inder-Oeffentlichkeit-ueberzeugen_846.aspx vom 03.11.2016); „In meinen Stimmtrainings

vermittle

ich

Ihnen,

wie

Sie

souverän

auftreten“

(www.starke-

stimme.de/stimmtraining/ vom 03.11.2016). 90 Besonders nachdrücklich tut dies ein Anbieter, der neben Seminaren auch Vorträge anbietet. Sein Alleinstellungsmerkmal dabei sei zu begeistern, die Referenzen seiner Kunden führt er unter der Überschrift „Theater gerockt, Geschichte geschrieben. Begeisterte Kunden“ an (vgl. www.pauljohannesbaumgartner.de/home.html vom 03.11.2016). Als „echten Bühnenprofi“, die „intensive Bühnenpräsenz mit enormer Auftrittsenergie“ vereint und „das Publikum [mitreißt]“, bezeichnet sich eine Anbieterin, die ebenfalls Seminare und Vorträge gibt (www.evaloschky.de/cms/rednerin/ vom 03.11.2016). 91 Vgl. etwa die Ankündigung für einen Stimmtrainingskurs auf der Seite der IHK Hamburg: „Es gibt Menschen, denen möchte man stundenlang zuhören. Gebannt hängt man an ihren Lippen und lauscht ihren Worten. Der Klang unserer Stimme, souveräne Wortwahl und Präsenz haben einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf einer Begegnung. Begeistern auch Sie Ihre Zuhörer oder Ihr Gegenüber durch verbale Fähigkeiten. Im non-verbalen Bereich sind Haltung, Bewegung, Körpersprache, Gestik und Mimik mitbestimmend. Ein Lächeln, das Erscheinungsbild, die innere Lebenseinstellung und der persönliche Selbstwert sagen oft mehr über uns und unser Gegenüber aus als

viele

Worte.

Alles

zusammen

lässt

uns

souverän

kommunizieren.“

(www.hkbis.de/kurs/stimmtraining-begeistern-sie-durch-stimme-und-sprache-2/ vom 03.11.2016).

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 241

ausübt, beschrieben.92 Dabei wird die Bedeutung der Stimme häufig mit der Angabe unterstrichen, dass 93 Prozent der Wirkung, die man auf andere ausübt, auf Körperausdruck und Stimmklang zurückzuführen seien (wobei der Körperausdruck 55 Prozent, die Stimme 38 Prozent ausmachen sollen), während nur sieben Prozent durch das, was man inhaltlich äußert, beeinflusst würden. Diese Zahlenangaben nehmen explizit oder implizit auf Studien des Psychologen Albert Mehrabian aus den 1970er Jahren Bezug, die damit allerdings falsch wiedergegeben werden.93 Mehrabian hatte in seinen Studien untersucht, ob ein Gegenüber stärker die verbalen oder nonverbalen Signale eines Sprechers berücksichtigt, wenn es bei Äußerungen, die eine persönliche Einstellung oder Präferenz betreffen, Diskrepanzen zwischen diesen Signalen gibt. Mehrabian weist auf seiner Homepage selbst auf das Missverständnis hin: „Please note that this and other equations regarding relative importance of verbal and nonverbal messages were derived from experiments dealing with communications of feelings and attitudes (i.e., like-dislike). Unless a communicator is talking about their feelings or attitudes, these equations are not applicable.“94

Seine Untersuchungen können also keineswegs für alle Kommunikationssituationen verallgemeinert werden; genau dies wird aber auf den Websites von Stimmtrainern und auch in einigen Ratgeberbüchern gemacht, bietet diese Relation doch ein gutes Argument für Sprechstimmbildung und lässt sich zudem anschaulich in einer Grafik darstellen95; zudem stellt der Verweis auf eine wissenschaftliche Studie auch ein Autoritätsargument dar. Greift hier zum einen die Werbedynamik, der Sprechstimmbildung als Angebot auf dem ‚freien‘ Markt unterliegt, ist es gleichzeitig interessant zu sehen, dass die Falschinterpretation der Mehrabian-Studien sich zu einem so nachhaltigen Mythos etablieren konnte. Was auf den Websites mit dem verallgemeinernden Rekurs auf die Forschungen Mehrabians, aber auch generell, vollkommen ausgeblendet wird, ist 92 „Bei jedem Kontakt entscheidet Ihre Stimme, wie Sie wirken.“ (www.stimmtrainingsprechtraining.de/ vom 03.11.2016). 93 Vgl. z.B. Albert Mehrabian: Silent Messages. Belmont 1971. Hier S. 40-56. 94 www.kaaj.com/psych/smorder.html vom 03.11.2016. 95 Vgl. z.B. ohne Verweis auf Mehrabian: www.stimmtraining-sprechtraining.de/MehrWirkung-im-Businessalltag-durch-die-gesunde-Stimme_2106.aspx vom 03.11.2016; oder www.stimmwelten.de/profil/philosophie/die-stimme/ vom 03.11.2016; sowie www.stimmstark-berliner.de/Seminar_Koerpersprache.htm vom 03.11.2016. Mit Verweis auf Mehrabians Studien, dennoch falsch interpretiert: www.charming voice.de/stimme-charisma/ vom 03.11.2016.

242 | Stimme und Sprechen am Theater formen

die Diversität der Zuhörer oder des Personenkreises, auf den man wirken möchte. Inwiefern die Wirkung, die man mittels der Stimme und Sprechweise auf ein Gegenüber ausübt, auch von dessen Wahrnehmungsgewohnheiten, kulturellen und individuellen Prägungen, sowie von situationsbedingten Faktoren abhängt, wird so gut wie nicht thematisiert. Damit wird der Handlungsmacht, die dem Sprecher jeweils zukommt, recht viel Gewicht eingeräumt. Auch das ist natürlich unter dem Aspekt der Werbelogik zu sehen, der die Websites unterliegen. Gleichzeitig ist diese Tendenz, die Diversität des Hörers auszublenden, charakteristisch für den nichtwissenschaftlichen Diskurs der Sprechstimmbildung und findet sich auch in den Übungsbüchern und Seminaren. Insofern ist hier eher eine Uniformität in der Konzeption des Hörers zu beobachten, die durchaus normative Auswirkungen entfaltet und somit nicht jene Dynamik von Diversifizierung aufweist, die McKenzie für die Performancegesellschaft beschreibt. Bei der Beschreibung der Wirkung, die mittels der Stimme und Sprechweise bei einem Gegenüber erzielt werden soll, fällt zudem auf, dass die Websites in überwiegender Zahl betonen, dass es darum geht, „authentisch“ oder „natürlich“ zu wirken.96 Nur wenige thematisieren explizit, dass Stimme und Sprechweise dabei einen instrumentellen Charakter bekommen.97 Obwohl die Angebote der Sprechstimmbildung in Aussicht stellen, dass man mittels der Stimme und Sprechweise Einfluss oder sogar Kontrolle über die eigene Wirkung auf andere erlangen könne, relativieren sie dieses Machtversprechen wieder, indem sie den Aspekt der Authentizität betonen oder beschreiben, wie sehr Stimme mit der eigenen Persönlichkeit verknüpft sei und diese zum Ausdruck bringe. Rekurriert wird hierbei also auf Vorstellungen von Subjektivität als etwas Wesenshaftem, das mittels der Stimme zum Ausdruck gebracht wird. Aufgerufen wird damit zudem der in der Aufklärung etablierte Diskurs um Natürlichkeit und Verstellung. Richteten sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorbehalte stärker gegen eine gekünstelte Wirkung, so steht nun tatsächlich der Aspekt von Verstellung oder in umgekehrter Perspektive authentischem Auftreten im Fokus. Zwar macht gerade die Tatsache, dass auf den Websites die Forderung nach Authentizität direkt neben den Wirkungsversprechen steht und Sprechstimmbildung zudem immer die Modifizierbarkeit von Stimme und Sprechweise als Voraussetzung hat, deutlich, dass auch Authentizität ein Darstellungseffekt ist98 – dieser Aspekt 96 Vgl. z.B. www.stimmcoaching-hagen.de/ vom 03.11.2016. 97 www.stimmtraining-sprechtraining.de/Die-eigene-Wirkung-auf-den-Kunden-mit-derStimme-gezielt-beeinflussen_2109.aspx vom 03.11.2016. 98 Vgl. Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. S. 23. Sowie Eleonore Kalisch: Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung. In: Fischer-Lichte; Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. S. 31-46.

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 243

wird aber nicht reflektiert. Vielmehr wird mit der Betonung von Authentizität Sprechstimmbildung gegen Vorbehalte verteidigt, dass man hier etwas lernt, was ‚nicht zu einem passt‘, aufgesetzt wirkt oder ‚Schauspielerei‘ ist. Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die besondere Sprechweise der Schauspieler in ihrer Künstlichkeit im Fokus der Ablehnung, so ist es hier – wie in den Natürlichkeitsdiskursen des 18. Jahrhunderts – der Schauspieler als Negativbeispiel für Verstellung. Diese Abwehr ist auch hinsichtlich der Tatsache interessant, dass es ja gerade auch Schauspieler sind, die als Lehrende in diesem Bereich arbeiten, und dass Übungsansätze aus dem Bereich der Schauspielerausbildung hier zum Einsatz kommen; der Transfer von Ausbildungstechniken – und ausbildenden Personen – aus dem Bereich der darstellenden Künste in einen allgemeinen Bereich sozialer Interaktion scheint also nicht unproblematisch zu verlaufen. Dieser Aspekt wird uns bei der Analyse der Übungsbücher noch einmal ausführlich beschäftigen.

4.2 ZWISCHEN UNIFORMITÄT UND DIVERSIFIZIERUNG: ZUM STELLENWERT VON AUSSPRACHENORMEN IN DER PERFOMANCEGESELLSCHAFT Mit der Entwicklung der Performancegesellschaft geht einher, dass sich hierarchische Strukturen ‚verflachen‘ und rigide Strukturierungsmuster aufzulösen beginnen; McKenzie zufolge zeigt sich statt der auf Uniformität ausgerichteten Normen der Disziplinargesellschaft beispielsweise an den Vertretern von Machtpositionen eine höheres Maß an Diversität99, wobei bereits deutlich wurde, dass in den Diskursen der Sprechstimmbildung gegenwärtig durchaus auch noch Uniformitätseffekte zu beobachten sind. Wie McKenzie betont, bedeuten die Tendenzen zur Diversifizierung auch nicht, dass in der Performancegesellschaft keine normativen Kräfte mehr am Wirken wären, im Gegenteil entfaltet das Prinzip Performance in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfacetten seine normative Kraft.100 Bestehen die Anforderungen der Performancegesellschaft darin, effizient, leistungsstark und wirkungsvoll zu agieren, so zeigt sich daran, dass es hier nicht mehr um absolute Bezugsgrößen geht, die gesetzt sind, sondern um relative Größen, deren Einhaltung von jeweils variierenden Parametern abhängig ist. Zudem können die Anforderungen ständig wechseln und gleichzeitig wird zur Maxime, sich neuen Herausforderungen zu stellen, also selbst nicht beim

99

Vgl. McKenzie: Perform or else. S. 181.

100 Vgl. ebd. S. 132.

244 | Stimme und Sprechen am Theater formen

Gewohnten zu bleiben. Damit verbindet sich dann, dass die Forderung nach Diversität nicht nur neue Möglichkeiten eröffnet, sondern selbst auch wieder zur Norm wird: sich zu unterscheiden, etwas anders machen, nicht dem Durchschnitt zu entsprechen ist McKenzie zufolge im Gegensatz zur auf Konformität und Anpassung ausgerichteten Disziplinargesellschaft ein Leitbild der Performancegesellschaft. Der Unterschied zwischen beiden Dynamiken besteht dabei darin, dass einmal eine Vielzahl an Möglichkeiten gleichermaßen Geltung beansprucht, während in der disziplinargesellschaftlichen Setzung von Normen ein Wert als Maßstab gilt, von dem dann Abstufungen als Abweichung beschrieben werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es um die Vereinheitlichung der Aussprache im Kontext der Performancegesellschaft steht. Welche Entwicklungen hat die Festschreibung von Aussprachenormen seit der Siebs’schen Kodifizierung genommen und welcher Stellenwert wird einer vereinheitlichten Aussprache gegenwärtig beigemessen? Lassen sich im Bereich der Aussprache jene Entwicklungen hin zu mehr Diversität beobachten oder ist hier noch eine disziplinargesellschaftliche Ausrichtung auf Uniformität zu beobachten, die sich zugleich – wie wir in Kapitel drei gesehen haben – als ambivalentes Verhältnis aus Uniformierung und differenzierender Charakterisierung darstellt? Um diesen Fragen nachzugehen, soll zunächst beschrieben werden, welche Entwicklung die Kodifizierung der deutschen Aussprache seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genommen hat, um anschließend zu beleuchten, mit welchen normativen Erwartungen die Aussprache des Deutschen gegenwärtig verknüpft ist. Die Weiterentwicklung des ‚Siebs‘ und die Entstehung neuer Aussprachekodifizierungen Wie in Kapitel drei ausgeführt, erlangte die maßgeblich von Theodor Siebs verantwortete „Deutsche Bühnenaussprache“ trotz vielseitiger Kritik weitreichende Geltung in ihrer Festschreibung einer Höchstnorm für die deutsche Aussprache auch über den Bereich der Bühnenaussprache hinaus. In den zahlreichen Auflagen, die zwischen 1898 und 1930 erschienen, bestand das Ziel darin eine variantenarme Höchstnorm für die deutsche Aussprache festzuschreiben, von der ausgehend dann Abstufungen für unterschiedliche Bereiche vorgenommen werden konnten, ohne dass man diese jedoch schriftlich fixierte. An den Inhalten der Regelung wurden in diesem Zeitraum nur wenige Änderungen vorgenommen, so dass die Regelung einen stark konservativen Charakter annahm. 1933 fand eine weitere Tagung des ‚Beratungsausschusses für die deutsche Hochsprache‘ statt, deren „Federführung […] auf Vorschlag von Th. Siebs der Deutsche Ausschuß für Sprechkunde und Sprecherziehung unter Leitung von Dr. Erich Drach“ über-

Stimme und Sprechen in den Dynamiken der Performancegesellschaft | 245

nahm101; hier kam es also zu einer personellen Engführung der Normierungsbestrebungen und der um Etablierung bemühten ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘. Bis auf zwei grundlegendere Änderungen102 blieb auch hier die Regelung die gleiche. Die Ergebnisse des Beratungsausschusses von 1933 wurden jedoch erst 1957 in einer Neuauflage gedruckt, die den bisherigen Untertitel „Deutsche Hochsprache“ zum Haupttitel machte und die „Bühnenaussprache“ nun im Untertitel führte.103 Auch diese Neuveröffentlichung folgt dem konservativen Charakter der vorangegangenen Auflagen. So schreiben die neuen Herausgeber: „Die Überprüfung der alten ‚Bühnenaussprache‘ zeigte, wie sorgfältig und wohlüberlegt das Werk gearbeitet war. Es konnte in allem Wesentlichen bestehen bleiben; Hauptgrundsatz der Neubearbeitung war, nur so viel zu ändern, als unbedingt notwendig erschien.“104 Wesentlichste Änderung war die Verwendung der internationalen Lautschrift (API-Transkription) statt der zuvor von Siebs verwendeten Lautschrift. Als Leitmedium der Aussprache wird nach wie vor die Bühne angesehen: „Bewußt und wohlüberlegt ist die Regelung der alten Bühnenaussprache im wesentlichen unverändert beibehalten worden, weil sie an jener Stelle gewonnen wurde, wo landschaftliche und individuelle Einschläge in der Aussprache am strengsten vermieden werden müssen und wo deutsche Sprache am reinsten gesprochen werden sollte: auf der Bühne mit ihrer sprachregelnden Wirkung.“105

Es wird nicht danach gefragt, ob sich am Theater die Aussprachegewohnheiten seit Ende des 19. Jahrhunderts geändert haben, und es wird keine Überprüfung der Regelung an den Aussprachegewohnheiten der Gegenwart vorgenommen, mit Ausnahme der Tolerierung des ‚Zäpfchen-R‘ und der veränderten Haltung zum ‚harten‘ Stimmeinsatz. Darüber hinaus stellen die Herausgeber noch einmal klar, dass die Siebs’sche Regelung als „ein Ideal, das als Ziel und Maßstab für

101 de Boor; Diels (Hrsg.): Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache. 16. völlig neubearb. Aufl. Berlin 1957. S. 21. Der Zusatz „völlig neubearbeitet“ ist in der Tat etwas irreführend, da die Neubearbeitung 24 Jahre zurückliegt und nicht sehr viel Neues enthält. 1959 erscheint die 17. und 1961 die 18. Auflage, die ebenfalls keine Neuerungen bringen. 102 Dabei handelt es sich um die Tolerierung des sogenannten Zäpfchen-R neben dem ‚gerollten‘ Zungen-R sowie die veränderte Haltung zum ‚harten‘ Stimmeinsatz. 103 de Boor; Diels: Deutsche Hochsprache. Bühnenaussprache. 104 Ebd. S. 24. 105 Ebd. S. 6.

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alles gebildete Sprechen aufgestellt ist“106, verstanden werden muss, und betonen dessen weitreichenden Geltungsanspruch: „Alles wirkliche, lebendige Sprechen wird sich in mannigfachen Abstufungen diesem Ideal annähern. Das Bewußtsein aber, daß es eine verbindliche Aussprache der hochdeutschen Gemeinsprache gibt, ist seit dem Entstehen dieses Werkes und gerade durch seinen Einfluß in weite Kreise getragen worden. Diese verlangen einen zuverlässigen Wegweiser für ihr Bemühen, die deutsche Sprache rein zu sprechen.“107

Die „bewußte Pflege der Muttersprache“ sei „eine Aufgabe, die jeden Einzelnen angeht“, besonders gelte dies aber für Bühne, Film, Schule und Rundfunk. 108 Die Formulierungen sind dabei teilweise die gleichen wie in den früheren Auflagen des ‚Siebs‘, etwa dass „[d]as Bemühen um eine gute deutsche Aussprache […] sich stets in der Richtung auf die Hochsprache hin bewegen“ 109 muss. Es finden sich jedoch auch Anklänge an Diskussionen um Mundart und Hochsprache, wie sie nach 1933 geführt wurden, etwa wenn mit Blick auf die Entwicklung der Sprache in den Großstädten von „Sprachverfall“ und „jene[r] kulturlose[n] Sprachform, die man als Jargon bezeichnet“ die Rede ist.110 Die Bühne wird weiterhin „als strengste Hüterin“111 der Aussprache gesehen und zum Gradmesser für Kultiviertheit: „Vorbildliche Sprache auf der Bühne wird immer ein Maßstab der sprachlichen Kultur eines Volkes sein.“112 Auch dem Rundfunk wird eine „sprachbildende Funktion“113 zugewiesen. Aufgrund der „Mannigfaltigkeit seiner Darbietungen und [der] Vielfalt seiner Sprecher“ wird ihm dabei aber „eine gewisse Freiheit in den Formstufen des Sprechens“ 114 zugestanden. Bestimmte Formate im Rundfunk – Kunstvortrag, belehrender Vortrag und Nachrichten – müssen jedoch auch hier hochsprachlich sein.115 Der 1957 veröffentlichte ‚Siebs‘ entspricht in seiner Ausrichtung auf ein eindeutiges Ideal und der Ausrichtung auf das Theater als Norminstanz also noch den Normierungsbestrebungen der ‚Siebs‘-Auflagen vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd. S. 8. 110 Ebd. S. 7. 111 Ebd. S. 10. 112 Ebd. S. 11. 113 Ebd. S. 13. 114 Ebd. S. 14. 115 Ebd. S. 14 f.

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diesen erhalten nun allerdings Varianten der Aussprachenorm erstmals eine gewisse Berücksichtigung: „Der ‚Siebs‘ soll weiter seine Aufgabe als normgebendes Werk erfüllen und daher seine Regelung möglichst eindeutig fassen. Dennoch ist in der Einleitung und im Text wie auch im Wörterverzeichnis den Schwankungen der gebildeten Aussprache, den landschaftlichen Eigenheiten und den verschiedenen Formstufen der Sprache mehr Beachtung geschenkt als bisher.“116

Entgegen dieser konservierenden Haltung der Herausgeber des ‚Siebs‘ begannen in der DDR in den 1950ern die Arbeiten an einer neuen Ausspracheregelung, die „den wirklichen Bedürfnissen“ entsprechen und „eine neue Methode der Bestandsaufnahme“ wählen sollte.117 Hatte bereits Siebs in den 1930er Jahren jede grundlegende Neubearbeitung seines Werkes abgelehnt118, so scheiterten auch 1953 Gespräche mit den neuen ‚Siebs‘-Herausgebern über eine gemeinsame Neubearbeitung der Ausspracheregelung. Daraufhin gründete sich 1959 die Redaktion des „Aussprachewörterbuchs der allgemeinen deutschen Hochlautung“ um Hans Krech in Halle. Die Arbeitsgruppe strebte eine Regelung an, die für das gesamte deutschsprachige Gebiet Geltung haben sollte, dies gelang jedoch aufgrund der politischen Teilung Deutschlands nicht. 119 1964 erschien das „Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (WDA) in erster Auflage. Wesentlicher Unterschied zur Siebs’schen Regelung war, dass man eine Normierung anstrebte, die sich an der Sprechrealität einer breit gefächerten Sprechergruppe orientierte und „allgemein realisierbar“120 sein sollte. Statt am Theater orientierte man sich an Rundfunk und Fernsehen sowohl als Grundlage der Regelung als auch als wichtigen Medien für die Verbreitung der Hochlautung121, da man sich so erhoffte zu einer realitätsnahen Ausspracheregelung zu gelangen 122. Anders als die bis 1957 veröffentlichten ‚Siebs‘-Auflagen berücksichtigt das WDA den Einfluss der Koartikulation auf die Bildung der Laute – also die Tatsache, dass die Laute innerhalb von Wortverbindungen anders klingen können als als Einzel116 Ebd. S. 25. 117 Krech: Probleme der deutschen Ausspracheregelung. S. 22. 118 Vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 72. 119 Vgl. ebd. S. 80. 120 Vgl. Krech; Kurka; Stelzig et al. (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Aussprache (WDA). S. 6. Sowie Hollmach: Untersuchungen. S. 79. 121 Im WDA wird der Begriff Standardaussprache, der heute gebräuchlich ist, bereits verwendet; allerdings neben dem der ‚Hochlautung‘. 122 Vgl. WDA. S. 11.

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laute.123 Zudem wird auch dem Einfluss der Sprechsituation auf die Lautbildung mehr Beachtung geschenkt.124 Die Regelung des WDA ist also etwas weniger rigide als der ‚Siebs‘ und ist insbesondere an der Realitätsnähe und Erreichbarkeit der Aussprachenorm orientiert. Vom WDA erschienen mehrere Neuauflagen, die zunehmend die Satzintonation berücksichtigten und schließlich in der Herausgabe des „Großen Wörterbuchs der deutschen Aussprache“ (GWDA) 1982 mündeten.125 Das GWDA verzichtet auf den Begriff „allgemeine deutsche Hochlautung“, der den Autoren zufolge missverständlich auf eine „elitäre Sprachverwendung“ verweisen und „sozial distanzierend“ wirken könnte, statt dessen etablieren sie den Begriff „Standardaussprache“. 126 WDA und GWDA wenden sich also vom Theater als Normierungsgrundlage und Verbreitungsmedium der Aussprachenorm ab und zielen in erster Linie auf eine realitätsnahe und erreichbare Aussprachekodifizierung, die zudem die situativen und koartikulativen Aspekte der Aussprache stärker berücksichtigt. Auch in der Bundesrepublik kam es zur Veröffentlichung eines weiteren Aussprachewörterbuchs, und zwar in der Dudenreihe: 1962, also zwei Jahre vor dem WDA, erschien die erste Auflage des Duden Aussprachewörterbuchs127, die im Wesentlichen der 16. Auflage des Siebs von 1957 folgt. So heißt es im Vorwort: „Über die Norm der Lautung, die für dieses Werk gelten soll, haben wir ernsthaft nachgedacht. Dabei stand von Anfang an fest, daß es sich in diesem Buch nur um Hochlautung handeln kann. Alles Mundartliche und Umgangssprachliche war damit ausgeschaltet. Schwerer war die Frage zu beantworten, ob es innerhalb der Hochlautung auf Grund der neuzeitlichen Entwicklung, die Radio, Film und Fernsehen heraufgeführt haben, notwendig sei, die von Theodor Siebs im Jahre 1898 mit Vertretern der Bühne und der Germanistik aufgestellte Hochnorm preiszugeben und an ihre Stelle eine gemäßigte hochsprachliche Norm oder gar eine hochsprachliche Durchschnittsnorm zu setzen. In der Fachwelt wird darüber zur Zeit lebhaft diskutiert. Wir haben uns entschlossen, zwar in der Einleitung zu diesem Werk neben der Bühnenhochlautung auch die wichtigsten Grundzüge einer gemä123 Vgl. ebd. S. 61-65. 124 Vgl. ebd. 62. 125 Krech; Kurka; Stelzig et al. (Hrsg.): Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (GWDA). Der Zusatz „Groß“ war eine Entscheidung des Verlags und nicht der Autoren (vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 81). 126 GWDA. S. 5. 127 Duden. Das Aussprachewörterbuch. Bearbeitet von Max Mangold und der Dudenredaktion unter Leitung von Paul Grebe. Mannheim 1962 (= Der große Duden Band 6).

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ßigten Hochlautung zu beschreiben, im Wörterverzeichnis aber an der Bühnenhochlautung als einziger Norm festzuhalten, weil es uns für ein Buch dieser Art nach wie vor besser erschien, von einer Hochnorm auszugehen als ein Mittelmaß zu verlangen, das sich ohnedies beim Sprechen allzu leicht von selbst einstellt.“128

Die ‚Bühnenhochlautung‘ behält also, wie beim ‚Siebs‘, ihren normativen Status, zudem wird auch hier das Ziel verfolgt, eine Höchstnorm aufzustellen, mit der Begründung, dass sich der Gebrauch von dieser von selbst absetze. Die Hochlautung stellt entsprechend weiterhin eine „ideale Norm“ dar, die „keinen Anspruch darauf [erhebt], die chaotische Vielfalt der wirklich gesprochenen Sprache widerzuspiegeln“129; sie soll überregional, einheitlich, schriftnah und deutlich sein.130 Das erste Duden Aussprachewörterbuch entspricht also ganz dem Siebs’schen Ansatz. Auf die erste Auflage des Duden Aussprachewörterbuchs 1962 und die erste Auflage des WDA 1964 folgt 1969 die 19. Auflage des Siebs.131 Darin kommt es zu einem – wie die Herausgeber schreiben – „Einschnitt in der Entwicklung des ‚Siebs‘“132. Zum einen wird der Titel in „Deutsche Aussprache“ geändert, der Zusatz „Bühnenaussprache“ entfällt, im Untertitel wird der Begriff ‚Hochlautung‘ statt ‚Hochsprache‘ verwendet.133 Inwiefern die Bühne noch als Normie-

128 Ebd. S. 5. 129 Ebd. S. 28. Interessanterweise wird nicht beschrieben, wann die Hochlautung zum Einsatz kommt, dafür aber, wann man sich der Umgangslautung bedienen kann: „Die Umgangslautung herrscht in der gewöhnlichen Unterhaltung zu Hause, auf der Straße und im Betrieb vor. Sie eignet sich für sprachlich und inhaltlich weniger anspruchsvolle Texte. Meist bedient man sich ihrer auch, wenn man sich an die breiten Schichten wendet, wie dies gelegentlich im Fernsehen, im Funk und im Rundfunk geschieht.“ (Ebd. S. 42). 130 Vgl. ebd. 131 de Boor, Helmut; Moser, Hugo; Winkler, Christian (Hrsg.): Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch. 19. umgearbeitete Aufl. Berlin 1969. 132 Ebd. S. V. 133 Dazu schreiben die Herausgeber: „Im Hinblick darauf, daß die Bezeichnung ‚Hochsprache‘ heute auf eine obere Sprachschicht und als Gegensatz zu Volks- und Umgangs- wie Alltagssprache gebraucht wird, sich außerdem also über die Lautung hinaus auch auf Satzbau und Wortschatz bezieht, wird in dieser Ausgabe der Ausdruck ‚Deutsche Hochlautung‘ benützt, da sich die Bildung ‚Hochaussprache‘ nicht verwenden läßt. Der Titel ist umfassender als der ursprüngliche ‚Deutsche Bühnen-

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rungsgrundlage dient, wird nicht mehr erwähnt. Es findet sich lediglich der Hinweis, dass die „Formstufe der reinen Hochlautung […] für die Bühnenaussprache im hohen Stil [gilt]“134. Zum anderen wird nun in eine „reine Hochlautung“ und „eine gemäßigte Hochlautung“ unterschieden135, die beide behandelt werden. Dabei nehmen die Herausgeber deutlich abgrenzenden Bezug auf das „Wörterbuch der deutschen Aussprache“, im Unterschied zu dem „die ideale Höchstnorm […] bewahrt wurde“136. Die „reine Hochlautung“ soll nach wie vor als ein „Ideal, das als Maßstab für alles gebildete Sprechen aufgestellt ist“137, erhalten werden. Vom Aussprache-Duden grenzen sich die Siebs-Herausgeber ab, da dieser zwar „Hinweise auf eine ‚Umgangslautung‘ enthält, sie aber im Wörterbuch nicht berücksichtigt“138. Der neue ‚Siebs‘ stellt also den Versuch dar, Normen für die Aussprache auf zwei Ebenen festzuschreiben. Mit der Zweiteilung wird versucht, zum einen den variantenarmen und „idealen“ Charakter der „reinen Hochlautung“ zu bewahren, zum anderen aber auch „Varianten und Zwischenformen“ der Aussprache Rechnung zu tragen und diese zu fixieren. 139 Allerdings soll die „reine Hochlautung“ die „wichtige pädagogische Aufgabe“ erfüllen, „daß die gemäßigte Hochlautung nicht weiter absinkt in Formen, die landschaftlichen oder alltagssprachlichen Charakter tragen, oder in solche bequemer Art, die der privaten Sphäre, dem Umkreis der Intimität angemessen sein können […], nicht aber der gepflegten Rede“.140 Deutlich erhalten bleibt also der sprachpflegerische und erzieherische Charakter des ‚Siebs‘, der auch in dieser Auflage an der Aufstellung einer Höchstnorm festhält und sich zu den vorherigen Auflagen vor allem darin unterscheidet, dass er nun ausführlicher, das heißt im Wörterverzeichnis, die Abstufungsformen behandelt.141

aussprache‘, aber genauer als der in der letzten Ausgabe gewählte ‚Deutsche Hochsprache‘.“ (Ebd. S. 3). 134 Ebd. S. 8. 135 Vgl. ebd. S. 1. 136 Ebd. S. V. 137 Ebd. S. 7. 138 Ebd. S. V. Der Tradition der vergangenen ‚Siebs‘-Ausgaben folgend sind wiederum Sprechwissenschaftler an der Bearbeitung beteiligt. 139 Ebd. S. 6. 140 Ebd. S. 7. 141 Die Autoren des WDA kritisierten an dieser ‚Siebs‘-Ausgabe, „dass sich die gemäßigte Hochlautung im Wesentlichen auf die empirischen Ergebnisse zur deutschen Standardaussprache beziehen lässt, also der kodifizierten Norm im WDA“ (Hollmach: Untersuchungen. S. 73).

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Dass dieser Ansatz als unbefriedigend empfunden wurde142, zeigt sich darin, dass die Neuauflage des Duden Aussprachewörterbuchs 1974 ebenfalls einen Einschnitt vornahm, allerdings in der Hinsicht, dass sie statt dem ‚Siebs‘ in vielen Regelungen dem WDA folgte und nun auch von der ‚Standardaussprache‘ spricht143: „Die Neuauflage des Duden-Aussprachewörterbuchs trägt der Entwicklung der Aussprache des Deutschen in neuster Zeit Rechnung. Die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Normen der Bühnenhochlautung sind aufgegeben worden. Die heute als übersteigert empfundene Bühnenaussprache ist durch eine allgemeine Gebrauchsnorm ersetzt worden, die wir hier Standardaussprache nennen.“144

Den bereits in der ersten Auflage genannten Kriterien wird nun in Nähe zum WDA hinzugefügt, dass es sich um „eine Gebrauchsnorm“ handelt, „die der Sprechwirklichkeit nahe kommt“145. Gleichzeitig wird die breite Zielgruppe dieses Aussprachewörterbuchs betont: „Mit der Standardaussprache will das Aussprachewörterbuch eine allgemein gültige Aussprache vermitteln. Es wendet sich nicht mehr an einen kleinen Kreis von Schauspielern, geschulten Sprechern und Rednern, sondern an alle, die sich um eine korrekte Aussprache der Hoch- und Standardsprache bemühen. Die Standardaussprache gilt für alle Sprechsituationen, in denen man sich nicht der Mundart oder der Umgangssprache bedient; sie gewährleistet eine einwandfreie Verständigung in allen Teilen des deutschen Sprachgebiets und mit Menschen aller Schichten und Berufe.“146

Neben der ‚Realitätsnähe‘ wird damit also der weite Geltungsanspruch der Ausspracheregelung bekräftigt. Im Hinblick auf die Variationsbreite der getroffenen Regelungen weist der Aussprache-Duden darauf hin, dass weiterhin „Varianten

142 Vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 74: Obwohl es Pläne zu einer grundlegenden Neubearbeitung des Siebs gab, wurde stattdessen im Jahr 2000 ein unkommentierter Nachdruck der Auflage von 1969 veröffentlicht, der die Fachwelt anscheinend etwas ratlos machte. 143 Vgl. ebd. S. 86 f. 144 Duden Aussprachewörterbuch. Wörterbuch der deutschen Standardaussprache. 2. völlig neu bearb. und erw. Aufl. Bearbeitet von Max Mangold in Zusammenarbeit mit der Dudenredaktion. Mannheim, Wien, Zürich 1974. Hier S. 5. 145 Ebd. 146 Ebd.

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auf ein Mindestmaß beschränkt“147 werden sollen, beschreibt allerdings die Bühnenaussprache als im Vergleich zur Standardaussprache durch noch „größere Einheitlichkeit“148 charakterisiert. Die folgenden Auflagen des Duden Aussprachewörterbuchs setzen die Tendenz in Richtung einer Gebrauchsnorm fort149, wobei in der vierten Auflage aus dem Jahr 2000 der Untertitel „Norm der deutschen Standardaussprache“ durch „Grundlagen der deutschen Standardaussprache“ ersetzt wird. Der universelle Anspruch der Ausspracheregelung wird allerdings etwas relativiert, beziehungsweise es wird konkretisiert, welchen Zwecken die Aussprachenormierung dienen kann. So wird genauer als in der zweiten Auflage ausgeführt, für welchen Bereich die Standardaussprache gilt – „de[n] Gebrauch mit öffentlichem Charakter“150; zudem wird darauf hingewiesen, dass die Standardaussprache „verhindert, dass eine mundartlich gefärbte oder umgangssprachliche Aussprache zum Nachteil des Sprechenden nicht richtig verstanden wird oder vom eigentlichen Inhalt des Gesagten ablenkt“151. Neu ist auch der Hinweis, dass die „Standardaussprache denjenigen, die sie beherrschen, bessere Berufsaussichten [eröffnet]“152. Damit wird erstmals in einem der Aussprachewörterbücher in so expliziter Weise hervorgehoben, dass die Beherrschung der Standardaussprache dem einzelnen einen beruflichen Vorteil bringt und gleichzeitig auf die negativen Folgen hingewiesen, die eine abweichende Aussprache mit sich bringen kann. Es geht damit nicht mehr so sehr um „die allgemeine Sprachpflege“, sondern den „Zusammenhang zur Wirkung einer Person“.153 Mit dem Hinweis auf die Berufsaussichten wird zudem ein ökonomisches Argument genannt, das jetzt aber vom einzelnen Sprecher ausgeht und nicht mehr, wie noch in der Erstauflage des ‚Siebs‘, vom allgemeinen wirtschaftlichen Nutzen einer Aussprachenormierung 147 Ebd. S. 30. 148 Ebd. S. 59. Diese Abgrenzung der Bühnenaussprache von der Standardaussprache kritisiert Hollmach: „Hiermit wird der Eindruck erweckt, dass die Bühnenaussprache, wenngleich in der letzten Auflage abgeschwächt, nicht der Standardaussprache zugehörig wäre; dieser Ansicht kann man […] nicht zustimmen.“ (Hollmach: Untersuchungen. S. 88 f.). 149 Vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 78: „In der 3. und 4. Auflage wendet sich Mangold zunehmen einer Gebrauchsnorm zu, er kodifiziert teilweise sprechwirklichkeitsnäher als das GWDA […], geht andererseits weniger auf koartikulatorische Phänomene ein.“ 150 Ebd. S. 89. 151 Duden. Das Aussprachewörterbuch. Mannheim 2000. S. 6. 152 Ebd. S. 6. 153 Hollmach: Untersuchungen. S. 89.

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für die Gesellschaft. Dies lässt sich als Hinweis auf eine Verschiebung der Funktion der Aussprachenormierung im Kontext der Performancegesellschaft verstehen, die nun stärker im Hinblick auf den Nutzen oder Schaden für den Einzelnen gesehen wird und weniger in einer allgemein gültigen Norm, auf die die Individuen auszurichten sind. Dazu passt auch, dass im Aussprache-Duden aus dem Jahr 2000 auf die Probleme einer Aussprachenormierung hingewiesen wird: „Wiederholt hat man versucht, die Aussprache zu normen, ähnlich wie man die Rechtschreibung genormt hat. Es zeigt sich jedoch, dass es leichter ist, eine bestimmte Schreibung festzulegen als eine bestimmte Aussprache. […] Während die Schreibnorm als amtliche Rechtschreibregelung durchgesetzt werden konnte, ist es bisher nicht gelungen, eine Aussprachenorm, eine verbindlich festgelegte Lautung mit demselben Erfolg durchzusetzen.“154

Der Regelung wird damit ein etwas vorläufigerer Charakter zugewiesen als dies im Duktus der Siebs’schen Aussprachenormierungen der Fall war. Im bislang jüngsten und letzten Aussprachewörterbuch für das Deutsche wird diese Tendenz, den universellen Anspruch der Aussprachenormen zu relativieren, fortgesetzt: nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 starteten Wissenschaftler an den Universitäten Halle und Köln ein Projekt zur Neukodifizierung der deutschen Standardaussprache, das 2009 zur Veröffentlichung des „Deutschen Aussprachewörterbuchs“ (DAWB) führt. Das DAWB setzt die vorangegangen Entwicklungstendenzen von GWDA und Duden Aussprachewörterbuch fort: Das Theater hat seine Funktion als Normierungsgrundlage für die Aussprachkodifizierungen verloren, an seine Stelle sind die „elektronischen Medien“155 getreten. Erstmals wurden für die Kodifizierung auch Hörererwartungen untersucht.156 Die Ausspracheregelung berücksichtigt in Fortführung und Ergänzung der vorherigen Kodizes Faktoren wie Situationsabhängigkeit, Koartikulation, stilistische Differenzierungen und Akzentstrukturen und legt erstmals eine eigenständige Regelung für Österreich und die Schweiz vor. In Hinblick auf die Nutzergruppe nimmt das DAWB eine genauer Differenzierung vor: so wird unterschieden in „Berufssprecher im engeren Sinn“, für die das Aussprachewörterbuch „in hohem Maße“ verbindlich sei157, und „Berufssprecher im weiteren 154 Duden. Das Aussprachewörterbuch. 2000. Hier S. 34. 155 DAWB. S. 6. 156 Ebd. S. 16. 157 Dazu gezählt werden „Sprecher in den elektronischen Medien in Sendungen mit überregionaler Orientierung, Sprecher (Schauspieler, Rezitatoren) solcher künstlerischer Texte, die eine hohe Artikulationspräzision erfordern, ebenso Lehrende im Be-

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Sinn“, für die es als „Empfehlung mit größerer Normtoleranz“ diene.158 Schließlich könne es als „Orientierung“ dienen, für alle „Nichtberufssprecher […], die sich aus unterschiedlichen Gründen für die Standardaussprache interessieren oder sie verwenden wollen“159. Hier wird also der Stellenwert, den die Regelung einnimmt, sehr genau nach Nutzergruppen differenziert. Zudem wird erstmals in einer Ausspracheregelung darauf hingewiesen, dass ihre Anwendung auch von der Entscheidung der Nutzer und von der Akzeptanz durch die Nutzer abhängt.160 Mit der Ausspracheregelung wird also kein allgemeingültiger Anspruch mehr verknüpft, sondern betont, dass „[n]egative Sanktionen bei Nichtbefolgung […] meist begrenzt [bleiben]. Im Gegensatz zu Regelungen für den Gebrauch der geschriebenen Sprache (vgl. Grammatik, Orthografie) stellt die Kodifikation der Standardaussprache keine strenge, in jedem Fall verpflichtende Vorschrift dar.“161 Anschließend an die Tendenz, die sich bereits im Aussprache-Duden aus dem Jahr 2000 abgezeichnet hat, kann man für die neueren Aussprachkodifizierungen also einen stärker individualisierenden Duktus feststellen, der den Nutzen und die Notwendigkeit der Standardaussprache für einzelne Sprecher, insbesondere in beruflichen Belangen, in den Vordergrund stellt. Diese Ausspracheregelungen erheben damit einen weniger umfassenden Geltungsanspruch als dies noch bis in die 1980er Jahre der Fall war. Zudem verliert das Theater, ausgehend von der Ausrichtung des WDA, zunehmend seinen Stellenwert sowohl als Grundlage für die Normierung als auch als Verbreitungsmedium einer standardisierten Aussprache. Obwohl die Kodizes nach wie vor eine vereinheitlichende Festlegung verfolgen – in diesem Sinne weiterhin normativ und präskriptiv sind und nicht einfach jegliche Form von Aussprachegebrauch beschreiben –, berücksichtigen sie im Vergleich zum ursprünglichen ‚Siebs‘ mehr Varianten sowie situative, koartikulative und andere Einflussfaktoren auf die Lautbildung. Mehr Variationsbreite in der Regelung und ein weniger umfassender Geltungsanspruch sind also die Merkmale der gegenwärtig aktuellsten Aussprachekodifizierungen. Gleichzeitig ist aber auch zu betonen, dass es nach wie vor diese Ausreich Deutsch als Fremdsprache, Sänger und Gesangspädagogen, sprachheiltherapeutisch und -pädagogisch Tätige sowie letztlich alle diejenigen, die diese Berufssprecher/-sänger auf phonetischem, rhetorischem und (sprech)künstlerischem Gebiet ausbilden“ (DAWB. S. 7). 158 Dazu gehören laut DAWB „Persönlichkeiten, die in Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik in der Öffentlichkeit wirken sowie Pädagogen aller Fachrichtungen und in allen Institutionen“ (ebd. S. 7). 159 Ebd. 160 Vgl. ebd. 161 Ebd.

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spracheregelungen gibt, die Vorstellung einer Festschreibung vereinheitlichter Aussprachenormen also auch im Kontext der Performancegesellschaft nicht einfach verschwindet.162 Zum gegenwärtigen Stellenwert einer vereinheitlichten Aussprache Orientierten sich die Aussprachekodizes ausgehend vom WDA zunehmend daran, eine gebrauchsnahe Aussprachenorm festzuschreiben, so ist umgekehrt seit 1945 eine zunehmende Angleichung der Aussprache bei deutschen Muttersprachlern und ein Rückgang der dialektalen Einflüsse zu beobachten. Dies lässt sich auf die erhöhte Mobilität, stärkere Bevölkerungsmischung und den Einfluss der Medien zurückführen.163 Einen Eindruck vom Stellenwert, den gegenwärtig die Standardaussprache in Deutschland einnimmt, bieten die „Untersuchungen zur Kodifizierung der Standardaussprache in Deutschland“ (2007) von Uwe Hollmach, der unter anderem unterschiedliche Tonbeispiele aus den Medien von deutschsprachigen ‚Akteuren‘ beurteilen ließ.164 Er hat dabei festgestellt, dass bei den meisten Sprechern eine „einheitlich vorhandene innere Vorstellung von einer als mustergültig akzeptierten Aussprache“165 existiert, die relativ stabil, das heißt unabhängig beispielsweise von regionaler Herkunft, ist. Gleichzeitig zeigten die Testpersonen aber auch große Sympathie für die regionalen Umgangssprachen, insbesondere für die der eigenen Herkunftsregion: „Aus den Ergebnissen geht hervor, dass sich die deutsche Bevölkerung im Allgemeinen zu den regionalen Umgangssprachen bekennt. Ein Akteur vermerkte dazu: ‚Der Gebrauch der Standardsprache klingt zwar intelligenter, aber der Dialekt ist sympathischer‘.“166 Zudem hängt die Erwartung, ob Standardaussprache zu gebrauchen ist, von der Sprechsituation ab: von Nachrichtensprechern etwa wird die Standardaussprache erwartet, dagegen sind

162 Zudem gab es im Jahr 2000 auch einen unveränderten Nachdruck der ‚Siebs‘Auflage von 1969. Auch diese Form der Aussprachekodifizierung hat also Bestand (vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 74). 163 Vgl. Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Drei Bände. Band 3: 19. und 20. Jahrhundert. Berlin, New York 1999. Hier S. 261. 164 Hollmachs Untersuchung stellte eine der Grundlagen dar, auf der das DAWB die Hörererwartung hinsichtlich der Standardaussprache beurteilte (vgl. DAWB. S. V). 165 Hollmach: Untersuchungen. S. 229. Vgl. auch S. 260. 166 Ebd. S. 223.

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„in Interviews mit Politikern und Wirtschaftsmanagern […] regionale Färbungen im Bereich des Substandards durchaus möglich. Zur Aussprache von Lehrern findet man in der deutschen Bevölkerung ein ambivalentes Verhältnis vor, das einerseits aus der nachgewiesenen Bindung vom standardsprachlichen Gebrauch an die Bildung herrührt […] und andererseits durch den Wunsch zahlreicher Akteure bestimmt ist, ‚heimatliche‘ kulturelle Werte in der Schule an die Kinder auch über die Aussprache zu vermitteln.“167

Wird die Verwendung der Standardaussprache also durchaus mit Bildung oder ‚Gebildetsein‘ verknüpft, so besteht jedoch keine Verbindung zur Bewertung der Fachkompetenz einer Person.168 Die Aussprache wird grundsätzlich mit der Wirksamkeit169 oder Wirkung einer Person in Verbindung gebracht – allerdings auch hier in Abhängigkeit von dem jeweils erwarteten Aussprachestandard. Die Untersuchungen zeigen, dass sich die Vorstellung einer standardisierten Aussprachenorm durchaus weitreichend etabliert hat, dass deren Verwendung jedoch situationsabhängig ist und die Bewertungen, die damit verknüpft werden, ebenfalls entsprechend variieren können. Zudem sagen die Untersuchungsergebnisse zwar etwas über die Beurteilung des Aussprachestandards von Seiten der Zuhörer aus, nicht aber über deren eigene Sprachverwendung und Sprechkompetenz hinsichtlich der Standardaussprache. Dass sich diese relativ einheitliche Vorstellung einer Standardaussprache entwickelt hat, wird – wie erwähnt – in erster Linie dem Einfluss der Medien, also Rundfunk, Fernsehen und Kino, zugeschrieben.170 Deren „normsetzende Wirkung“ ist Hollmach zufolge aber gegenwärtig insofern begrenzt, als „die Sprachbenutzung selbst in den Medien vage ist“. 171 Daraus folgert er, dass „die Mediensprecher vorhandene Kodifizierungen kaum als Regulative mit sprachpflegerischer Absicht wahr[nehmen], wenn sie ihnen überhaupt bekannt sind.“172 Eine alternative Erklärung sieht er darin, „dass ganz allgemein die Bestrebungen eines einheitlichen Aussprachegebrauchs derzeit weniger stark ausgeprägt sind“173. Hinzu kommt, dass regionale Ausspracheformen in den Medien teilwei167 Ebd. S. 260. 168 Vgl. ebd. 169 Vgl. ebd. S. 243-250. 170 Vgl. dazu auch ebd. S. 53. Keine Erwähnung findet bei Hollmach die Tatsache, dass sich durch das Internet die Möglichkeit ergeben hat, dass (fast) jeder zum Sender werden kann, womit noch einmal eine Multiplikation der Sprecher und Sprechsituationen einhergeht. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Ebd.

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se auch eine Aufwertung erfahren, so beispielsweise in Bayern. 174 Besonderes Augenmerk legt Hollmach auf Formen der Moderation als möglicher Grundlage einer Aussprachestandardisierung, weist auch hier jedoch darauf hin, dass zwar gerade überregionale Sender auf eine standardisierte Aussprache Wert legen, sich aber zum Beispiel die „schriftlichen Ratgeber für Moderationen kaum [zur Standardaussprache positionieren]“175. Wie wir in Abschnitt 4.3 sehen werden, ist auch bei den Ratgebern zur Sprechstimmbildung eine Schwerpunktverlagerung weg von Fragen der normgerechten Lautung hin zu anderen Aspekten zu beobachten. Auch mit Blick auf die Fachliteratur für Lehrer konstatiert Hollmach ein Desinteresse an Fragen der Standardaussprache176; das deckt sich mit der Beobachtung, dass in den aktuellen Lehrplänen Fragen der Aussprachnormierung relativ knapp erwähnt werden (wobei hier zum Teil noch der Begriff ‚Hochsprache‘ und nicht ‚Standardaussprache‘ verwendet wird). Alle diese Aspekte weisen darauf hin, dass die Standardaussprache in ihrem Geltungsanspruch gegenwärtig stark zu relativieren ist und zwar durchaus auch für die Medien. Im Theater und an Schauspielschulen hingegen hat die kodifizierte Aussprache „unbestrittene Gültigkeit“ 177, wobei man sich hier nach wie vor häufig am ‚Siebs‘ orientiert178 und das auch über die Grenzen Deutschlands hinweg in Österreich und in der Schweiz 179. Hollmach weist jedoch zu Recht darauf hin, dass auch für das Theater nicht von der Gültigkeit einer einzigen Ausspracheform auszugehen ist, sondern dass von Schauspielern die Beherrschung unterschiedlichster Sprechebenen, auch von Dialekten, erwartet wird. 180 Überblickt man diese Entwicklungen hinsichtlich der Frage, wie es gegenwärtig um die Normierung der Aussprache steht und ob in diesem Bereich die Dynamiken der Performancegesellschaft ihre Wirkung zeigen, so ergibt sich ein durchaus heterogener Eindruck: man kann festhalten, dass seit dem Beginn der Bemühungen um eine vereinheitlichte deutsche Aussprache Ende des 19. Jahrhunderts eine Angleichung der Aussprachegewohnheiten stattgefunden hat und sich eine relativ einheitliche Vorstellung davon etabliert hat, wie die Standardaussprache zu lauten hat. Diese Angleichung ist wohl weniger darauf zurückzuführen, dass die einzelnen Sprecher intensiv die existierenden Aussprachkodizes

174 Vgl. ebd. 175 Ebd. S. 133. 176 Vgl. ebd. S. 139. 177 Ebd. S. 48. 178 Vgl. ebd. S. 56. 179 Vgl. ebd. S. 48. 180 Vgl. ebd. S. 119-123.

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zur Rate gezogen haben181, sondern basiert vielmehr auf Faktoren wie gesellschaftlicher Mobilität und dem Einfluss von technischen Medien, die überregional einen großen Adressatenkreis erreichen. Dabei ist dann ein indirekter Einfluss der Kodizes durchaus anzunehmen, wenn Schauspieler und geschulte Sprecher in diesen Medien als Multiplikatoren wirken. Im Bereich der Aussprache lassen sich also durchaus Uniformierungseffekte beobachten. Zugleich ist festzustellen, dass die Erwartung daran, ob die Standardaussprache verwendet werden sollte, von der Sprechsituation abhängig gemacht wird, was zunehmend auch in den Aussprachekodizes berücksichtigt wurde. Gleichzeitig können auch regional gefärbte Sprechweisen positive Wirkungen erzielen. In der Bewertung der Wirkung einer Person spielt die Aussprache aber grundsätzlich eine Rolle. Es ist also nicht vollkommen beliebig, welche Ausspracheform die Sprecher wählen, aber die Frage, welche Bewertung man damit jeweils evoziert, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Mit Blick auf die Dynamiken der Performancegesellschaft lassen sich also die sich wandelnden Ansätze der Aussprachekodifizierung als Ausdruck eines sich wandelnden Normansatzes lesen: während mit der Siebs’schen Regelung versucht wurde, eine Höchstnorm zu etablieren, die eher ein Ideal darstellt, auf das hin alles Sprechen auszurichten ist, kommt es nach 1945, ausgehend von den Ansätzen der Arbeitsgruppe in der DDR, allmählich zu einer gewissen ‚Enthierarchisierung‘ der Aussprachenormen mit dem Bemühen eine möglichst realitätsnahe und erreichbare Aussprachenorm zu beschreiben. Statt eine Höchstnorm festzuschreiben, auf die alles Sprechen auszurichten ist, wird der Anwendungsbereich der Standardaussprache zunehmend spezifiziert und auf individuelles Anwendungsverhalten hin ausgerichtet. Der einzelne Sprecher rückt in den Blick, mit den Vor- und Nachteilen, die die Aussprachenorm für ihn bietet, ebenso wie mögliche Sanktionen, die jedoch stark relativiert werden. Das Theater verliert seinen Status als Ausgangspunkt der Normierung. Ein vereinheitlichender Effekt, den Normen Foucault zufolge in der Disziplinargesellschaft haben, lässt sich im Bereich der Aussprache in den letzten hundert Jahren tatsächlich beobachten, insofern sich die Aussprachegewohnheiten seit 1945 angeglichen haben und einheitliche Vorstellungen eines Aussprachestandards existieren; dies steht zwar nicht in einem unmittelbaren UrsacheWirkung-Verhältnis zu den verschriftlichten Kodifizierungen, ist von diesen aber durchaus beeinflusst. Auch für die Performancegesellschaft gilt also, dass es nach wie vor Aussprachekodifizierungen gibt, ebenso wie Vorstellungen von einer relativ einheitlichen Aussprachenorm und von Situationen, in denen deren Gebrauch erwartet wird. Gleichzeitig zeigt der Hinweis auf die „Sympathie“ für 181 Vgl. ebd. S. 112.

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regionale Einschläge die große Bandbreite möglicher Beurteilungen. Ein umfassender Geltungsanspruch der Aussprachenormen, beziehungsweise deren Stellenwert als Maßstab oder Höchstnorm wird in den Kodizes nicht mehr erhoben und spiegelt auch nicht die Erwartungshaltung der Sprecher und Hörer. Insofern kommt es im Bereich der Aussprachenormen auch zu einer gewissen Diversifizierung. Diese bedeutet aber nicht, dass es beliebig ist, welche Ausspracheform man verwendet.182 Vielmehr zeigt sich hier die normative Dynamik der Performancegesellschaft, in der zunehmend unklar wird, welche Anforderungen jeweils gelten, beziehungsweise welches Verhalten erfolgversprechend ist. Anstatt eines universell gesetzten Geltungsanspruchs der Aussprachenormierung verlagert sich der Fokus auf die jeweilige Situation, wodurch, wie in Kapitel zwei beschrieben, auch die jeweilige Szene der Interaktion an Bedeutung gewinnt. Ob der eigene regional gefärbte Ausspracheduktus beim Gegenüber Sympathien weckt oder auf Ablehnung stößt183, wird in der jeweiligen Situation entschieden, für die kein Aussprachekodex eine gültige Norm setzen kann.

4.3 ZWISCHEN STANDARDISIERUNG UND SPEZIALISIERUNG: DIE GEGENWÄRTIGEN ÜBUNGSBÜCHER FÜR DIE SPRECHSTIMME Ende des 19. Jahrhunderts entstanden erstmals Übungsbücher für die Sprechstimme, die in schriftlicher Form Übungsprogramme aufstellten, nach denen Stimme und Sprechen geschult und geformt werden sollen. Wie in Kapitel zwei bereits erwähnt, folgen die Bücher dem von Foucault für das „Handbuch“ beschriebenen „Prinzip des ‚Elementaren‘“184, insofern sie den Prozess des Sprechens und der Stimmerzeugung in Einzelabschnitte zerlegen und dafür jeweils Übungen entwerfen. Auch wenn diese Übungsbücher noch dahingehend variieren, dass sie den Funktionsbereichen der Stimmerzeugung und des Sprechens in unterschiedlichem Ausmaß Übungen widmen, so lässt sich jedoch insgesamt eine starke Ausrichtung an der physiologischen Forschung der Zeit und damit

182 Wobei sich dahinter auch die Anforderung verbirgt, über verschiedene Ausspracheweisen zu verfügen. Das macht bereits Geißners Forderung deutlich, der in seinem Buch „Sprecherziehung“ fordert, dass zur Gesprächsfähigkeit „nicht maximale ‚Richtigkeit‘, sondern optimale Variabilität“ gehört (Geißner: Sprecherziehung. S. 199). Eine Forderung, die es dem Sprecher nicht leichter macht. 183 Vgl. Hollmach: Untersuchungen. S. 228. 184 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 204.

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einhergehend ein großes Interesse für die Lautbildung und den Bereich der Artikulation feststellen, das sich mit dem zeitgleichen Interesse an einer Normierung und Vereinheitlichung der Aussprache deckt. In den 1920er und 1930er Jahren wurde von Seiten der universitären Sprecherzieher Kritik an diesen Übungsprogrammen, ihrer Methodik und ihren Übungsansätzen laut und eine ganzheitliche Sprechstimmbildung gefordert, die neben den körperlich-physiologischen Aspekten die seelischen und geistigen Aspekte des Sprechens mit berücksichtigen sollte. Wie gezeigt, wird diese Kritik von Hellmut Geißner noch dahingehend erweitert, dass Sprechen nicht als isolierter Vorgang geübt werden kann, sondern immer in seinem dialogischen und kommunikativen Charakter betrachtet werden muss. Trotz dieser Kritik wird beispielsweise der erste Teil des Übungsbuchs von Julius Hey in der überarbeiteten Fassung von Fritz Reusch weiter verlegt und erfreut sich insbesondere in der Ausbildung von Schauspielern und Sängern weiterhin großer Beliebtheit. Daneben erscheinen nach 1945 auch weiterhin andere Übungsbücher zum Bereich der ‚Sprechtechnik‘, deren Interesse in erster Linie der Artikulationsschulung gilt und die die Kritik der Sprecherzieher insofern aufgreifen, als sie versuchen mit ‚sinnvollem‘ Übungsmaterial zu arbeiten. Seit den 1990er und insbesondere seit den 2000er Jahren jedoch nimmt die Zahl der Bücher im Bereich der Sprechstimmbildung zu: statt ‚Sprechtechnik‘ oder Sprecherziehung tragen die Bücher nun verstärkt die ‚Stimme‘ im Titel oder verwenden den Begriff ‚Stimmtraining‘. Wie es scheint, hat sich zum einen das „Handbuch“ als typisches Medium der Disziplinargesellschaft im Kontext der Performancegesellschaft nicht überholt, auch wenn es gelegentlich durch elektronische Medienträger wie CDs und DVDs ergänzt wird. Zum anderen legen die Titel und Untertitel nahe, dass es hier zu einer Schwerpunktverlagerung gekommen ist und statt des Sprechens die Stimme für Aufmerksamkeit auf dem Buchmarkt sorgt. Den Großteil dieser Übungsbücher bildet dabei ein Typus, der im Folgenden als allgemeiner Ratgeber für die Sprechstimmbildung bezeichnet werden soll.185 Diese Bücher verbindet, dass ihre Autoren – häufig 185 Beispiele dafür sind: Gutzeit, Sabine: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. Das Stimm-Potenzial erfolgreich nutzen. 3. akt. Aufl. Weinheim, Basel, Berlin 2008. Das Buch wird mit über 10.000 verkauften Exemplaren beworben (vgl. www.sabinegutzeit.de/buecher-uebungsmaterial/die-stimme-wirkungsvoll-einsetzen/ vom 10.11. 2016). Von der Autorin gibt es zudem einen weiteren Ratgeber speziell für Lehrer und Trainer: dies.: Auf Ihre Stimme kommt es an. Das Praxisbuch für Lehrer und Trainer. Weinheim, Basel, Berlin 2010. Hammann, Claudia: Fitness für die Stimme. Körperhaltung, Atmung, Stimmkräftigung. 4. akt. Aufl. München, Basel 2011. Thömmes, Rebecca: So stimmt es mit der Stimme. Übungen zur Sprech- und Stimmbildung für Lehrer. Mühlheim an der Ruhr 2001. Knie, Frohmut: Wie bleibe

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sind es Autorinnen – keine eigene Methode oder eigens entwickelte Übungen vorstellen, sondern auf einen gewissen Kanon an Übungen und einen relativ einheitlichen Übungsansatz zurückgreifen und daraus ein Übungsprogramm zusammenstellen.186 Auch in ihrem Aufbau und in den inhaltlichen Aspekten gleichen sich diese Bücher stark; standardisiert ist zudem der Umfang von circa 100 Seiten und selbst das äußere Erscheinungsbild ist meist recht ähnlich. Die Zielgruppe, an die sich diese Bücher richten, ist in der Regel recht allgemein gefasst, gelegentlich sind sie an spezielle Berufe, zum Beispiel Lehrer, adressiert. Die von Fritz Reusch herausgegebene Fassung des „Kleinen Heys“187 reiht sich vom Umfang und Erscheinungsbild her in dieses Format von Sprechstimmbildungsratgebern ein. Inhaltlich unterscheidet sich der „Kleine Hey“ allerdings von den allgemeinen Ratgebern, da er die speziellen Übungen Julius Heys beinhaltet und viele für die Ratgeber typische Inhalte nicht behandelt. Daneben gibt es weitere Stimmübungsbücher, die entweder eine speziell entwickelte Übungsmethode vorstellen oder bestimmte Schwerpunktsetzungen verfolgen und dadurch meist umfangreicher sind als die standardisierten Ratgeber. 188 Trotz der

ich bei Stimme? Praktisches Stimmtraining für Lehrerinnen und Lehrer. Donauwörth 2008. Sportelli, Anja: Meine Stimme entdecken. Sprechtraining in Beruf und Alltag. München, Basel 2013. Lauten, Anno: 30 Minuten für eine wirkungsvolle Stimme. Offenbach 2008. Hein, Monika: Sprechen wie der Profi. Das interaktive Training für eine gewinnende Stimme. Frankfurt a.M. 2014. Amon, Ingrid: Die Macht der Stimme. Persönlichkeit durch Klang, Volumen und Dynamik. 5. akt. Aufl. München 2011. Brügge, Walburga; Mohs, Katharina: Verstimmt? Mit klangvoller Stimme gut ankommen. Mit Hörbeispielen auf Audio-CD. München 2011. 186 Knie weist darauf in ihrem Ratgeber explizit hin, andere Autoren hingegen thematisieren es nicht (vgl. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 6). 187 Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens. 1997. 188 Bspw. Alavi Kia, Romeo; Schulze-Schindler, Renate: Sonne, Mond und Stimme. Atemtypen in der Stimmentfaltung. 4. Aufl. Bielefeld 2002. Ehrlich, Karoline: Stimmbildung und Sprecherziehung. Ein Lehr- und Übungsbuch. Wien, Köln, Weimar 2011. Dyckhoff, Katja; Westerhausen, Thomas: Stimme: Das Geheimnis von Charisma. Ausdrucksstark und überzeugend sprechen. Neue Methoden und Übungen. Trainingsbuch mit Audio-CD. Regensburg 2010. Nollmeyer, Olaf: Die souveräne Stimme. Ganzheitliches Sprachtraining. Offenbach 2010. Linklater, Kristin: Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme. Aus dem Englischen von Thea M. Mertz. 4. Aufl. mit AudioCD. München, Basel 2012. Schürmann, Uwe: Mit Sprechen bewegen. Stimme und Ausstrahlung verbessern mit atemrhythmisch angepasster Phoniation. Mit DVD. 2.

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speziellen Herangehensweisen oder der ausführlicheren Behandlung bestimmter Thematiken gibt es jedoch auch hier Überschneidungen mit den allgemeinen Ratgebern. Das Hauptaugenmerk liegt im Folgenden zunächst auf den allgemeinen Ratgebern, an denen untersucht werden soll, wie die Übungsprogramme und Übungsansätze in den gegenwärtigen Übungsbüchern zur Sprechstimmbildung gestaltet sind. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Gemeinsamkeiten zu den frühen Übungsbüchern sie aufweisen und inwiefern sie sich von diesen unterscheiden. Zeigen sich hier noch Merkmale disziplinierender Übungsformen, wie beispielsweise der Entwurf eines strukturierten Programms aus aufeinander aufbauenden Einzelelementen? Oder verändern sich die Übungsbücher zur Sprechstimmbildung in den Dynamiken der Performancegesellschaft? Diese Frage gilt auch für den Entwurf von Übungsszenarien und -settings in den Büchern und hängt mit der institutionellen Verankerung der Sprechstimmbildung in der Gegenwart zusammen. Dabei geraten neben den Büchern auch die elektronischen Medien in den Blick, die den Büchern teilweise beigelegt sind und die auf ihre Funktion für das Üben an der Sprechstimme hin untersucht werden sollen. Und schließlich lassen sich die Bücher darauf hin befragen, auf welche Konzepte von Subjektivität Sprechstimmbildung hier ausgerichtet wird. Neben den allgemeinen Ratgebern soll diesen Fragen exemplarisch anhand zweier Bücher, die einen speziellen Ansatz verfolgen, nachgegangen werden. Dabei handelt es sich zum einen um Kristin Linklaters Buch „Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme“, das zwar bereits 1976 auf Englisch erschien, aber erst 1997 ins Deutsche übersetzt wurde. Zum anderen „Mit Sprechen bewegen. Stimme und Ausstrahlung verbessern mit atemrhythmisch angepasster Phonation“ von Uwe Schürmann, in dem der Autor die von Horst Coblenzer und Franz Muhar entwickelte Übungsmethode der ‚atemrhythmisch angepassten Phonation‘ (AAP) behandelt. Beide Bücher stellen ein Übungsprogramm vor, das sich auf jeweils charakteristische Weise von den allgemeinen Ratgebern unterscheidet, obgleich es auch inhaltliche Überschneidungen zu den Ratgebern gibt. Kristin Linklater hat ihren Ansatz für die Ausbildung von Schauspielern entwickelt und auch ihr Buch behandelt in erster Linie die sprecherischen Belange von Schauspielern. Dennoch wird die deutsche Ausgabe auf dem Umschlag als „Standardwerk für Sprecherzieher, Schauspieler, Therapeuten, Trainer und alle, die beruflich viel kommunizieren müssen“ bezeichnet. Wie wir in Kapitel 4.4 noch sehen werden,

akt. Aufl. München, Basel 2010. Auf die Bücher von Linklater und Schürmann gehe ich noch genauer ein.

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wird die Methode zudem in Volkshochschulkursen ebenfalls einer breiten Zielgruppe als Stimmbildungsmethode angeboten. An diesem Beispiel lässt sich somit der Frage nachgehen, welche Spannungen entstehen können, wenn eine ursprünglich für Schauspieler entwickelte Technik an eine breite Zielgruppe gerichtet wird, und es lassen sich wiederum Aspekte von Theaterfeindlichkeit aufzeigen, diesmal mit direkterem Bezug zu den Diskursen um Natürlichkeit und Verstellung des 18. Jahrhunderts. Diese Spannungen betreffen insbesondere auch den Aspekt der Subjektentwürfe, auf die Sprechstimmbildung als Übungspraxis ausgerichtet ist. Auch die atemrhythmisch angepasste Phonation wurde von Coblenzer und Muhar im Kontext der Schauspielerausbildung in den 1970ern entwickelt. Schürmanns Buch richtet sich jedoch dezidiert an eine breite Zielgruppe und stellt damit ebenfalls einen Transfer zwischen dem Bereich der Schauspielerausbildung und dem einer Sprechstimmbildung für eine breite Zielgruppe her. Schürmanns Buch weist zudem eine Struktur auf, die sich deutlich von der des Linklaterbuches, aber auch von der der allgemeinen Ratgeber unterscheidet und damit den Blick auf die Veränderungen lenkt, denen die Übungsprogramme zur Sprechstimmbildung unterliegen können. 4.3.1 Der Fokus auf dem Körper: Themen, Übungen und Übungsansätze der Übungsprogramme Ein großer Teil der gegenwärtigen Übungsbücher für die Sprechstimmbildung weist ein hohes Maß an Standardisierung auf. Diese Bücher bezeichne ich hier als allgemeine Ratgeber zur Sprechstimmbildung. Die Standardisierung betrifft dabei die behandelten Themenbereiche, die einzelnen Übungen, die vorgestellt werden, sowie den Übungsansatz, dem die Bücher folgen. So werden in allen Ratgebern die Themen ‚Entspannung und Lockerung der Gesamtkörpermuskulatur‘, ‚die Körperhaltung im Stehen und Sitzen‘, ‚Atmung‘, ‚Stimmgebung im Kehlkopf‘, ‚die Resonanzbereiche‘ und ‚die Artikulation‘ relativ gleichgewichtet berücksichtigt und sollen durch entsprechende Übungen beeinflusst und verändert werden. Die bereits von der Physiologie des 19. Jahrhunderts nahegelegte Dreiteilung von ‚Atmung – Stimmgebung – Artikulation‘ findet sich hier wieder. Im Gegensatz zu den Übungsbüchern Ende des 19. Jahrhunderts werden die Funktionsbereiche in den aktuellen Ratgebern alle gleichermaßen mit Übungen behandelt. Neu ist zudem die große Aufmerksamkeit, die der Aspekt der Kör-

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perhaltung und Körperentspannung erhält189, der in den Übungsbüchern der Jahrhundertwende um 1900 wesentlich weniger berücksichtigt wurde. Damit geht einher, dass es nicht nur Übungen gibt, die der Aneignung einer neuen Verhaltensweise, sondern auch solche, die der Körperwahrnehmung dienen. Allerdings sind diese in den Ratgebern in der Unterzahl. Die Behandlung des Sprechausdrucks sowie Fragen der Gestaltung beim Sprechen variieren in den aktuellen Ratgebern erheblich. Als eigenes Kapitel oder den jeweiligen Übungen beigefügt beinhalten die Ratgeber in der Regel eine Einführung in die physiologischen Vorgänge beim Sprechen, wobei sie auch hier in der Tradition ihrer frühen Vorläufer stehen. In den aktuellen Ratgebern gleichen sich die Ausführungen dazu meist recht stark; allerdings wird der Stellenwert dieses ‚Hintergrund-‘ oder ‚Basiswissens‘ im Verhältnis zu den Übungen von den Autoren unterschiedlich bewertet. Eine Autorin etwa betont die Anwendung der Übungen und stellt das Kapitel mit dem „Hintergrundwissen“ ans Ende ihrer Ausführungen. 190 Eine andere hingegen sieht das Wissen um die „physiologische[n] Zusammenhänge […] [als Basis für] die weiteren praktischen Stimmübungen“191. Eine dritte wiederum betont, dass „keine tieferen Erkenntnisse über komplizierte anatomische und physiologische Zusammenhänge“ notwendig seien, man aber „eine gewisse Vorstellung von den Vorgängen“ haben sollte.192 Des Weiteren gibt jeder Ratgeber stimmhygienische Hinweise, also Ratschläge, was man tun oder vermeiden soll, um die Stimme gesund zu erhalten, zu schonen oder wiederherzustellen, wenn sie angeschlagen ist.193 Diese reichen

189 So schreibt bspw. Thömmes „ein gelöster Körper ist Voraussetzung für eine gelöste Stimme, die voll und resonanzreich klingt“ (Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 10). 190 Vgl. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 4 und S. 8 f. 191 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 8. 192 Hammann: Fitness für die Stimme. S. 12. 193 Vgl. etwa Thömmes, die nach einer Stichpunktliste zur Stimmhygiene auch „Hausmittel gegen Heiserkeit“ beschreibt (Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 9598). Oder Knie: „Bei Stimmbeeinträchtigung schonen Sie Ihre Stimme und schweigen. Das ist schwierig, aber es ist das Einzige, was ihr in dieser Situation wirklich hilft [Hervorhebung im Orig.].“ (Knie: Wie bleibe ich bei Stimme. S. 10) Gutzeit gibt stimmhygienische Ratschläge (vgl. dies.: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 36-48) und weist darauf hin, dass „[b]ei korrekter Anwendung mit Hilfe der CD und unter Berücksichtigung der Grundlagen in diesem Buch […] die Übungen in der Regel nicht [schaden]“ (ebd. S. 59). Hier steht also im Raum, dass auch das Üben an

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von Ernährungsempfehlungen, über Verhaltenshinweise bei Heiserkeit und Erkältungen hin zu Ratschlägen für das Sprechverhalten (beispielsweise sich nicht zu räuspern) – Ratschläge, wie sie sich auch schon in antiken Texten zur Rhetorik finden.194 Gleichzeitig besteht darin allerdings ein auffälliger Unterschied zwischen den allgemeinen Rategebern und den Büchern Linklaters und Schürmanns: Während die allgemeinen Ratgeber stets in Richtung Stimmschonung tendieren und die Gefahren nicht auskurierter Erkrankungen und falschen Stimmgebrauchs betonen, konstatieren Linklater und Schürmann, dass die menschliche Stimme prinzipiell robust sei.195 Sie verzichten auf die entsprechenden stimmhygienischen Hinweise, beziehungsweise warnen sogar vor zu viel Schonung. So schreibt Linklater: „Die menschliche Stimme ist sehr widerstandsfähig. Wenn du sie vorsichtig behandelst, immer in Angst vor Anstrengung, wirst du sie niemals ausdehnen oder ihr unbekanntes Potential antippen, denn du wirst immer bei dem bleiben, das sicher und bekannt ist.“196 Hier zeigt sich eine Haltung, die auf die Erweiterung von Erfahrung ausgerichtet ist und die ein Merkmal des Linklater’schen und Schürmann’schen Ansatzes ist, zugleich aber auch ein Stück weit die Anforderungen der Performancegesellschaft spiegelt, Neues auszuprobieren und ‚schlummernde Potenziale‘ auszuschöpfen. Hinweise zum Sprechen am Telefon und Mikrofon oder zum Singen sowie Beschreibungen von komplexeren Erkrankungen der Stimme und von Sprechfehlern variieren von Ratgeber zu Ratgeber. Auch bei den einzelnen Übungen zeigt sich in den allgemeinen Ratgebern zur Sprechstimmbildung eine große Homogenität, fast möchte man sagen, dass sich eine Art Übungskanon herausgebildet hat, auf den die Übungsbücher in der Regel zurückgreifen: Auf dem Rücken liegen und auf ‚f‘ ausatmen um den Atemrhythmus wahrzunehmen; Progressive Muskelrelaxation als Übung zur Entspannung des Körpers; die ‚Kauübung‘197 um die Indifferenzlage der Stimme zu finden; gähnen um den Mundraum zu weiten und den Kehlkopf tiefer zu stellen; die sogenannte ‚Pleuelübung‘, bei der man die Zungenspitze hinter die untere Zahnreihe legt und dann den Zungenrücken so weit wie möglich herausder Stimme potenziell riskant sein kann. Bei „Missempfinden“ während des Übens soll man einen Fachmann aufsuchen (ebd. S. 59). 194 Wie in Kapitel drei ausgeführt, finden sich in den antiken Rhetoriken gleichzeitig nur sehr wenige konkrete Übungen für die Stimme. 195 Vgl. Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 93. 196 Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 154. 197 Bei dieser Übung kaut man tatsächlich Brot oder stellt es sich vor und gibt dann Laute des geschmacklichen Wohlempfindens, die dann etwa wie ‚Mmmmjammm‘ klingen, von sich.

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wölbt zur Dehnung und Lockerung der Zungenmuskulatur; mit den Lippen flattern um die Artikulation anzuregen; die ‚Sirenenübung‘198 um die Stimme in unterschiedliche Stimmlagen zu bringen – das sind nur einige der Übungen, die einem in den Ratgebern immer wieder begegnen. Auch die sogenannte ‚Korkenübung‘, die der Artikulationsschulung dient und bei der man sich einen Korken zwischen die Vorderzähne klemmt und dann einen Text liest, findet immer wieder Erwähnung und Anwendung, ist aber nicht unumstritten.199 Diese Standardisierung, die zu einem relativ homogenen Übungskorpus führt, lässt sich insbesondere auch im Bereich der Atemübungen beobachten und lässt dort zugleich auch Problematiken deutlich werden, die mit dieser standardisierten Darstellung einhergehen. Gab es Anfang des 20. Jahrhunderts sowohl Ansätze, die sich nur mit der Atmung befassten200, als auch Übungsbücher, die für den Bereich der Atmung keine eigenen Übungen anführten – wie beispielsweise der erste sprachliche Teil des Übungsbuchs von Julius Hey –, so weisen die gegenwärtigen Ratgeber eine recht einheitliche Behandlung dieses Themenbereichs auf: Immer wird auf die verschiedenen Formen der Atmung wie Hoch-, Bauch- und Flankenatmung eingegangen und der Atemrhythmus von Einatmung, Ausatmung, Pause erklärt. Recht einheitlich sind die Warnungen vor der Hochatmung, die Empfehlungen zur Atmung durch die Nase sowie Hinweise zur sogenannten ‚Atemstütze‘. Meist werden dann zunächst Übungen angeführt, um die Atmung wahrzunehmen. Ein Großteil der Übungsbücher schließt daran Übungen zur ‚atemrhythmisch angepassten Phonation‘ (AAP) und zum sogenannten ‚Abspannen‘ an. Dabei handelt es sich um einen von Horst Coblenzer und Franz Muhar entwickelten Ansatz, auf dem auch Schürmanns Ausführungen basieren und der für die Ausbildung von Schauspielern entwickelt wurde. Beim ‚Abspannen‘ soll die reflektorische Atemergänzung des Zwerchfells stimuliert werden, es geht also weniger darum, das Atmen zu ‚trainieren‘, als vielmehr einen unwillkürlichen Prozess anzuregen.201 In den Ratgebern gerät die Darstel198 Hierbei geht man mit der Stimme sirenenartig von einem tiefen zu einen hohen Ton und wieder zurück, wobei man bemüht sein sollte, alle Tonstufen auf dem Weg ‚mitzunehmen‘. 199 Die ‚Korkenübung‘ stellt eine Abwandlung einer aus der Antike überlieferten Übung mit Steinen im Mund dar. Während das Üben mit Steinen, bzw. Kugeln die Gefahr des Verschluckens birgt, treten beim Korken manchmal Kieferprobleme auf, weshalb diese Übung von manchen Sprechstimmbildnern abgelehnt wird. 200 Beispielsweise das von Schlaffhorst und Andersen aus dem Amerikanischen übersetzte Buch von Leo Kofler „Die Kunst des Atmens“. 201 Eine genauere Beschreibung des ‚Abspannens‘ gebe ich bei den Ausführungen zu Schürmanns Übungsbuch.

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lung dieses Ansatzes jedoch häufig in Widerspruch zu den vorangehenden Ausführungen zu den Atemformen und zum Atemrhythmus, bei denen eher der Eindruck entsteht, dass ‚richtige‘ Atmung geübt und bewusst über muskuläre Steuerung gelenkt werden muss.202 Auch wird in den Ratgebern bei den Atemübungen nicht auf die Verbindung mit einer Kommunikationsabsicht hingewiesen, die, wie auch Schürmann ausführt, für den Ansatz von Coblenzer und Muhar zentral ist.203 Die standardisierte Darstellung zum Thema Atmung kann in den Ratgebern also zu Verkürzung und Widersprüchlichkeit führen und verweist damit auf die Problematik, die entsteht, wenn ein Übungsansatz aus einem Ausbildungskontext wie der Schauspielerausbildung in die Form eines 100-seitigen Übungsbuches transferiert wird. Die gegenwärtigen Ratgeber zur Sprechstimmbildung weisen im Vergleich zu den frühen Übungsbüchern also eine stärkere Standardisierung auf, die als Fortsetzung und Zusammenführung der in den früheren Büchern bereits angelegten Ansätze gesehen werden kann. Sie unterscheiden sich jedoch in einem zentralen Aspekt von ihnen, und zwar in dem Stellenwert, der dem Bereich der Lautbildung zugewiesen wird. Zwar wird die Artikulation auch in den gegenwärtigen Ratgebern thematisiert und es werden auch Übungen für diesen Bereich angeführt, diese behandeln aber nicht mehr ausführlich jeden einzelnen Laut und seine physiologisch korrekte Bildung.204 Stattdessen werden überwiegend Lockerungs- und Entspannungsübungen für die Artikulationsorgane angeführt, etwa die beschriebenen Lockerungsübungen für Zunge, Kiefer und Lippen. 202 Vgl. bspw. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 24. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 57, S. 59 und S. 64. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 43. Auf die Gefahr von Missverständnissen bei der AAP, die diese mit muskulärer Steuerung verwechseln, weist Schürmann hin (vgl. Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 37). Einige Übungsbücher führen dagegen die Atemwurfübung von FernauHorn an, die von vornherein stärker mit einer muskulären Kontrolle der Bauchmuskulatur arbeitet und insofern nicht unproblematisch ist, als man sich hierbei ein bestimmtes Muster angewöhnt, das man sich später beim Sprechen wieder abgewöhnen soll (vgl. bspw. Hammann: Fitness für die Stimme. S. 30 f. und Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 61). 203 Vgl. Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 52. 204 So thematisiert Hammann, dass sie „nicht alle der deutschen Sprache zugehörigen Laute mit entsprechenden Artikulationsübungen vorstellen [möchte]“, sondern nur „allgemein einige Übungen erläuter[t], mit denen sich grundsätzlich die Artikulationsorgane trainieren lassen“ (Hammann: Fitness für die Stimme. S. 68). Das einzelne Üben der Laute ist also durchaus noch präsent, kommt aber in den allgemeinen Ratgebern nicht zum Tragen.

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Geläufigkeitsübungen, wie beispielsweise Zungenbrecher, gibt es durchaus auch noch, sie nehmen aber weniger Platz ein als in den frühen Übungsbüchern.205 Übungsverse wie die von Julius Hey finden sich in den allgemeinen Ratgebern nicht und Übungen mit einzelnen Vokalen und Konsonanten werden eher dazu verwendet, um die Resonanzräume zu erspüren oder die Stimme zu kräftigen, das heißt die Übungen arbeiten zwar mit ähnlichem ‚Material‘, folgen aber einer anderen Zielsetzung.206 Seitenlange Laut- und Wortexerzitien, wie sie bereits von den Sprecherziehern der 1920er und 1930er Jahre kritisiert wurden, gibt es ebenfalls nicht mehr. Wird die Hochsprache erwähnt – was durchaus nicht in allen Ratgebern der Fall ist – dann wird ihr Geltungsbereich meist eingeschränkt. Eine Autorin etwa führt aus, dass „die so genannte Standardaussprache“ nur für „bestimmte Berufsgruppen (z.B. Lehrer, Schauspieler, Nachrichtensprecher)“207 wichtig sei, wobei sie den Lehrern dann noch einmal versichert, dass dies „[f]ür den Schulalltag […] [nicht] bedeutet, dass Sie alle Wörter wie ein Bühnenschauspieler oder ein Nachrichtensprecher aussprechen müssen“208. Betont werden vor allem die Situationsangemessenheit und damit die Variabilität der Ausspracheebene.209 Dialekte werden eher selten thematisiert; so schreibt eine Autorin beispielsweise, dass Dialekte „[g]rundsätzlich nichts Negativeres als die Hochsprache“210 seien und dass letztendlich die Verständlichkeit das wichtigste Kriterium sei211. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Bücher Linklaters und Schürmanns.212 Allerdings sind nach wie vor auch spezialisierte Übungsbücher auf dem Markt, die sich ausgiebig mit der richtigen Lautbildung beschäftigen. „Der kleine Hey“ ist eines davon. Im Großen und Ganzen zeigen die Ratgeber also auch die Tendenz, die im Kapitel zum Stellenwert der Aussprachenormierung in der Gegenwart bereits dargestellt wurde: die Situationsabhängigkeit der Aussprachenorm und ein im Vergleich zum ausgehenden 19. und beginnenden 20. 205 Bspw. geht Knie nicht auf die Hochsprache ein, sondern spricht die Lautbildung nur dahingehend an, dass sie der Verständlichkeit und Tragfähigkeit des Sprechens und der Stimme diene (vgl. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme. S. 59-62). 206 Bspw. Hammann: Fitness für die Stimme. S. 52. 207 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 73. 208 Ebd. S. 82. 209 So bspw. Thömmes: „In anderen Berufen hängt es davon ab, wie sehr in der Öffentlichkeit und zu wem gesprochen wird. Die Aussprache sollte demnach der Situation, der Zuhörerschaft und dem Anlass angepasst werden.“ (Ebd. S. 73). 210 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 87. 211 Ebd. S. 87 f. 212 Vgl. Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 202 f. Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 122 f.

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Jahrhundert nachlassendes Interesse an der Frage einer vereinheitlichten Aussprache. Dies mag zum einen mit der bereits erreichten Vereinheitlichung der Aussprachegewohnheiten zusammenhängen, verweist zum anderen aber auch darauf, dass einer vereinheitlichten Norm in diesem Bereich ein weniger umfassender Geltungsanspruch eingeräumt wird. Wie jedoch die Standardisierung der Übungsbücher zeigt, heißt das nicht, dass mit diesen keine Uniformierungseffekte mehr einhergingen. Die Tatsache, dass ein relativ kleiner Übungskorpus in einer oft schematischen Reihenfolge für eine breite Zielgruppe, die weder in Hinblick auf die Sprechsituation noch auf die individuellen Belange der Übenden differenziert wird, angeboten wird, stellt auch eine Form der Homogenisierung und in diesem Sinne eine Auswirkung disziplinierender Mechanismen dar. Auch bei der Anleitung zu den Übungen wird in den überwiegenden Fällen eine einzige Art und Weise der Durchführung als die richtige beschrieben.213 Es handelt sich also um festgelegte Übungsabläufe, die der Aneignung einer bestimmten Verhaltensweise dienen. Auch bei Übungen, die auf Körperwahrnehmung zielen, wird meistens beschrieben, was man richtigerweise wahrnehmen sollte. Insofern legen die Übungen normativ eine Form der Ausübung als die richtige fest und haben somit auch einen disziplinierenden Charakter. Die allgemeinen Ratgeber für die Sprechstimmbildung stellen also nicht nur eine Tradierung disziplinierender Mechanismen dar, vielmehr erhalten sie erst in der Gegenwart ihre standardisierte Form, die einen stark uniformen und normativen Charakter hat. Dabei kann diese hochgradig vereinheitlichte Form aber insofern auch auf die Dynamiken der Performancegesellschaft bezogen werden, als sie eine Art Orientierung und Übersichtlichkeit angesichts ansonsten unabwägbarer Herausforderung verspricht. Der Übungsansatz, dem die allgemeinen Ratgeber gegenwärtig folgen, weist wiederum starke Ähnlichkeiten zu den frühen Übungsbüchern auf und auch hier zeigt sich die Homogenität der gegenwärtigen Ratgeber untereinander. So fokus213 Neben den Anleitungen zu den einzelnen Übungen werden auch grundsätzliche Hinweise zum Durchführen der Übungen oder zum Üben allgemein gegeben. So sind allen Ratgebern gemeinsam die Hinweise zum regelmäßigen Üben, die genauen Empfehlungen können dann aber wieder variieren. Knie schreibt „Tägliches Üben ist ideal, aber oft nicht realisierbar.“ (Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 68) Gutzeit hingegen empfiehlt: „Nehmen Sie sich am Anfang dafür ungefähr 15 Minuten täglich Zeit. Das lohnt sich.“ (Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 59) Hammann betont die Häufigkeit des Übens, warnt aber auch vor Überforderung: „Denken Sie beim Üben bitte an die notwendigen kleinen Schritte. Üben Sie mehrmals am Tag, aber nie für mehr als ein paar Minuten und steigern Sie Ihre Übungszeiten nur langsam.“ (Hammann: Fitness für die Stimme. S. 21).

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sieren sie die physiologischen Aspekte der Stimmgebung und schlagen zum Großteil körperbezogene Übungen vor. Die Übungen zur Sprechgestaltung oder zum Sprechausdruck werden ans Ende des Übungsprogramms gestellt und in der Regel sind die Ausführungen und Übungen zu Entspannungstechniken, zur Atmung, zur Stimmgebung und zur Artikulation ausführlicher als die zum Sprechausdruck. Damit verfolgen die Ratgeber einen Ansatz, der vom Körperlichen zum Inhaltlichen führt, und damit dem Stufenaufbau ähnelt, der sich in den frühen Übungsbüchern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, aber auch noch in sprecherzieherischen Publikationen der 1920er findet.214 Die zunehmende methodische Kritik der Sprecherzieher, die den Aspekt der inhaltlichen Vermittlung in den Fokus des Übungsprozesses stellen möchte und einzelne körperbezogene Übungen nur als Mittel zum Zweck sieht215, findet hingegen in den gegenwärtigen Ratgebern wenig bis keinen Niederschlag und wird in der Regel auch nicht thematisiert. Stattdessen hat sich das Primat der körperlichen Einübung etabliert und findet seinen Ausdruck in vielen Vergleichen zwischen sportlichem Training und Sprechstimmbildung216; entsprechend ist meist auch von Stimmtraining die Rede.217 Mit der Bezugnahme auf den Bereich des Sports wird zum einen die Notwendigkeit regelmäßigen Übens betont218 – also ein Hinweis zur Durchfüh214 Beispielsweise Erich Drachs „Sprecherziehung“ (1922). 215 Das betrifft in der Regel zum einen die Forderungen nach einer ganzheitlichen Ausrichtung der Sprechstimmbildung, die körperliche, inhaltliche und seelische Aspekte in den Übungen miteinander verbinden möchte und die von den Sprecherziehern seit den 1920er Jahren gegen eine einseitig physiologische Ausrichtung sprechstimmbildnerischer Übungen vorgebracht wurde. Zum anderen wird auch Geißners Kritik, dass sprechstimmbildnerische Maßnahmen nur sehr gezielt und vereinzelt notwendig sind und es vielmehr um die kommunikativen Aspekte des Gesprächs gehen sollte, kaum berücksichtigt (vgl. ders.: Sprecherziehung. S. 199). 216 So bspw. Hammann: „Fast könnte man die Arbeit an der Stimme mit einem ungeübten Sportler vergleichen, der für einen Marathon trainiert.“ (Hammann: Fitness für die Stimme. S. 11). 217 Auch Hellmut Geißner hat in seinem Buch „Kommunikationspädagogik“ mit Blick auf die als Rhetoriktrainer tätigen Sprecherzieher auf die Implikationen, die mit dem Begriff des Trainings einhergehen, verwiesen und betont, dass diese „Arten von Training, von Drill und Dressur, im sozial verantwortlichen Lehren, z.B. in ‚lernenden Organisationen‘ fehl am Platze sind“ (Geißner: Kommunikationspädagogik. S. 19). Auch diese Kritik findet keinen Nachhall in den gegenwärtigen Übungsansätzen zur Sprechstimmbildung. 218 „Die Stimme entsteht durch Muskelarbeit. Muskeln sind trainierbar und deshalb ist die Regelmäßigkeit der Übungen wichtig.“ (Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll ein-

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rung der Übungen gegeben –, zum anderen noch einmal die Strukturierung dieses Übungsansatzes deutlich. So schreibt eine Autorin: „Wie Sie sehen konnten, sind es Einzelbereiche, die eine Rolle spielen, und da kann jeder für sich gezielt trainiert werden. Das ist wie beim Fitnesstraining. Sie trainieren Kondition oder Aufbau bestimmter Muskeln. Vergleichbar ist das bei der Stimme.“ 219 Hier zeigt sich, dass mit der Vorstellung des Trainings ein Übungsansatz verfolgt wird, der den Prozess der Sprechstimmbildung in einzelne Elemente und Abschnitte zerlegt, die einzeln geübt werden, um am Ende wieder zu einem ‚Gesamtablauf‘ zusammengesetzt zu werden. Das entspricht der bereits beschriebenen Charakteristik disziplinierender Übungsmechanismen, die vom „Elementaren“ 220 ausgehen und Übungsprozesse als Reihungen aufeinander aufbauender Segmente gestalten. Dabei ist allerdings anzumerken, dass die gegenwärtigen Übungsbücher zwar einen additiven Übungsansatz verfolgen, die Reihenfolge der Übungen allerdings variieren kann und der Aufbau entsprechend nicht streng stringent ist.221 Gelegentlich wird zwar eine gewisse Einhaltung der Reihenfolge empfohlen, man kann aber an sich die einzelnen Übungen auch isoliert durchführen und benötigt die vorherigen Übungen nicht zwangsläufig als Voraussetzung. 222 Trotz dieser Lockerung des Ablaufs legen die Ratgeber durch ihren Aufbau ein ‚Durcharbeiten‘ der Übungsprogramme nahe. Zudem schlagen sie meist noch einen Übungsplan vor, der eine Kurzfassung des – eh schon kurzen – Übungsprogramms oder eine Art Warm-up-Programm zur Vorbereitung für konkrete Sprechanforderungen darstellt.223 setzen. S. 59) Vgl. z.B. auch Rebecca Thömmes: „Für die Arbeit an und mit der Stimme ist es wichtig, dass Sie die Übungen regelmäßig durchführen. Genauso wie ein Sportler trainiert, um in seiner Sportart gute Leistungen zu erzielen, erfordert die Stimmarbeit regelmäßiges Üben und vor allem Geduld.“ (Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 6). 219 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 31. 220 Foucault: Überwachen und Strafen. S. 204. 221 So gehen bspw. Walburga Brügge und Katharina Mohs nach Ausführungen zur ‚guten Haltung‘ und ‚ausgewogenen Körperspannung‘ zunächst auf die Artikulation und Betonung beim Sprechen ein, bevor sie Stimmgebung und Atmung behandeln (vgl. Brügge; Mohs: Verstimmt? Mit klangvoller Stimme gut ankommen). 222 So weist bspw. Knie darauf hin, dass man „[d]ie einzelnen Punkte […] auch beliebig miteinander kombinieren“ (Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 6) kann. Thömmes hingegen betont, dass die „Übungen […] teilweise aufeinander auf[bauen] und […] somit eine Übungsabfolge [bilden]“ (Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 6). 223 Bei Knie steht die Kurzfassung gleich am Anfang des Buches (vgl. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 8-9). Ansonsten wird der Übungsplan in der Regel am Ende des

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Mit der Fokussierung physiologischer Prozesse und dem Ansatz, die Sprechstimmbildung in einzelne Übungssegmente zu zerlegen, aus denen dann der gesamte Sprechvorgang aufgebaut werden soll, folgen die allgemeinen Ratgeber somit einem Ansatz, der hinter die von Sprecherziehern formulierte Kritik an dieser Form des Übens zurückfällt. Folgen die Übungsbücher in der Regel dem Prinzip, dass man sich vom Körperlich-Physiologischen zum Inhaltlichen ‚vorarbeitet‘224, so rückt der Aspekt des ‚Geistigen‘, wie ihn die Sprecherzieher der 1920er und 1930er thematisierten, wieder an den ‚Rand‘ sprechstimmbildnerischer Arbeit; insbesondere werden weder der Übungsansatz noch die Durchführung der Übungen unter das Primat mentaler Aspekte oder inhaltlicher Ausrichtung gestellt. Häufiger Erwähnung findet der Einfluss, den die ‚Seele‘ oder psychische Faktoren auf die Stimme haben; auch das wird jedoch nur auf der Beschreibungsebene thematisiert und hat in der Regel keine Auswirkungen auf die Übungen. Eine Autorin verwendet in Hinblick darauf auch den Begriff „ganzheitlich“: „Stimmbildung versteht sich als ganzheitliches System, in dem sowohl der Körper als auch die Seele eine Rolle spielen.“225 Bei einer anderen Autorin umfasst die Vorstellung des Ganzheitlichen hingegen die „Übereinstimmung von Inhalt, Sprache, Stimme und Körperbewegungen“226 und entspricht damit am stärksten den von den Sprecherziehern der 1920er Jahre formulierten Forderungen nach ‚Ganzheitlichkeit‘; das von ihr vorgestellte Übungsprogramm bleibt dann allerdings wieder hinter dieser Forderung zurück. Ebenso wenig findet die von Hellmut Geißner formulierte Kritik Berücksichtigung, dass der dialogische und kommunikative Charakter von Gesprächen im Vordergrund stehen müsse, und nicht ein als isoliert gedachter Sprechvorgang: In den Übungsprogrammen der Ratgeber steht der individuelle Sprecher und nicht die Kommunikationssituation im Vordergrund. Buches gegeben (vgl. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 100 f. Sowie Hammann: Fitness für die Stimme. S. 75). Bei Gutzeit sind es weniger Übungen als Tipps und eine Art ‚Checkliste‘, die man beachten soll (vgl. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 125). Das am Anfang dieser Arbeit in Szene fünf geschilderte Warm-up-Programm stellt so einen kurz gefassten Übungsplan dar und entstammt dem Buch von Hammann. 224 Das heißt nicht, dass die Inhalte oder Aussageabsichten des Gesprochenen gar nicht erwähnt werden. Sie stehen aber nicht im Fokus, bzw. werden eben erst am Ende des Übungsprogramms, wenn es z.B. um den Sprechausdruck geht, thematisiert. So steht bei Frohmut Knie die Frage „Was will ich sagen?“ ganz am Ende (Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 89-90). 225 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 10. 226 Hammann: Fitness für die Stimme. S. 68.

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Die Übungsbücher von Linklater und Schürmann Die Übungsbücher von Kristin Linklater und Uwe Schürmann basieren, wie eingangs bereits erwähnt, auf Ansätzen, die für die Ausbildung von Schauspielern entwickelt wurden, richten sich jedoch beide an eine breite Zielgruppe von Menschen, die an ihrer Sprechstimme arbeiten möchten. Im Unterschied zu den allgemeinen Ratgebern bildet bei beiden Büchern jeweils eine spezielle Methode den Kern. Es gibt jedoch auch Gemeinsamkeiten zu den allgemeinen Ratgebern. Und auch untereinander weisen die zwei Bücher Überschneidungen auf, sind in dem Übungsprogramm, das sie entwerfen, jedoch auch wieder sehr unterschiedlich. Der Ansatz Linklaters geht davon aus, dass die Stimme des Schauspielers von „Spannungen, Abwehr, Einschränkungen und negativen Reaktionen auf Umwelteinflüsse“227 „befreit“228 werden müsse, um für die unterschiedlichen Darstellungsaufgaben vorbereitet zu sein. Im Zentrum ihres Ansatzes steht im Unterschied zu den allgemeinen Ratgebern die Annahme, dass „Atem und Stimme […] immer mit Gedanken und Gefühlen verbunden sein“ 229 müssen. Für ihren Übungsansatz bedeutet das, dass jeder Sprechvorgang von einem „Bedürfnis zur Kommunikation“230 ausgeht, durch das sich erst ein „Impuls“231 bildet, der die physiologischen Prozesse der Atmung, Stimmgebung, Resonanz und Artikulation initiiert. Die physiologischen Abläufe behandelt sie wesentlich knapper, als die allgemeinen Ratgeber es tun. Wichtiger ist ihr vielmehr beim Üben einen Kommunikationsimpuls zu imitieren, indem die Atemübungen und alle daran anschließenden Übungen mit einem Gefühl der „Erleichterung“ verknüpft werden, das die Atmung initiieren soll: „Wenn du durch jeden Satz ‚mit Erleichterung seufzt‘, bringst du dich sowohl auf einer Gefühlsebene als auch auf einer mentalen und körperlichen Ebene ein. Ein Seufzer der Erleichterung ist ein sehr einfach zu veranlassendes Gefühl. Und wenn du dich diesem Gefühl als einem integralen Bestandteil dieser frühen Übungen überläßt, wirst du eine 227 Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 15. 228 Entsprechend ist der Titel auf Englisch „Freeing the natural voice“. Damit einher geht ein stark persönlichkeitsbezogener Ansatz: „Erinnere dich immer wieder daran, daß du nicht nur Stimmübungen machst; dein Ziel ist es, deine natürliche Stimme zu befreien. Darüber hinaus ist es das Ziel, dich selbst durch deine Stimme zu befreien.“ (Ebd. S. 75 f.). 229 Ebd. S. 15. Linklater grenzt dabei das Sprechen deutlich vom Singen ab. Für das Singen gelte eine andere Atemtechnik (vgl. ebd. S. 71). 230 Ebd. S. 15; S. 64. 231 Ebd. S. 70.

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Synthese von Gefühl, Gedanken, Körper und Stimme auf eine sehr einfach Weise üben.“232

Hierin zeigt sich also der signifikante Unterschied zu den Übungsprogrammen der allgemeinen Ratgeber und es wird deutlich, warum in der deutschen Übersetzung der Begriff ‚ganzheitlich‘ für den Untertitel gewählt wurde: der Übungsansatz Linklaters konzipiert die Übungen so, dass sie von Anfang an körperlichphysiologische mit mentalen Prozessen verknüpfen. Allerdings unterscheidet sich der Übungsansatz Linklaters auch von den methodischen Forderungen der Sprecherzieher der 1920er und 1930er Jahre nach ‚Ganzheitlichkeit‘ insofern, als es diesen tendenziell eher um die ‚Sinnhaftigkeit‘ des Übungsmaterials ging, woraus die Forderung resultierte ‚ganze‘ Sätze oder zumindest Worte zu üben. Der Linklater-Ansatz arbeitet hingegen zunächst mit sinnfreien Lauten 233 und verknüpft diese über eine emotionale Ebene mit einem Kommunikationsimpuls. Ausgangspunkt ist der in der Eingangsszene bereits beschriebene ‚hɐ‘-Laut, der im Laufe der Übungen beispielsweise zu einem ‚hɐ hɐmmmmmɐ‘ 234 erweitert wird. Einzelne Laute, die nicht unbedingt den Sprachlauten entsprechen müssen, dienen hier also als Übungsmaterial und es geht nicht, wie in den frühen Übungsbüchern, darum, die Einzellaute der Sprache in ihrer normgerechten Bildung zu üben. Den auf die Kommunikationssituation ausgerichteten Forderungen Geißners entspricht auch Linklater insofern, als auch sie betont, dass es „keinen Sinn [macht], ein Stimminstrument zu entwickeln, das pflichterfüllt seinen Dienst tut, aber nichts zu sagen hat“ 235. Entsprechend geht es bei der Durchführung der Übungen darum, sich selbst wahrzunehmen, also nicht einfach nur ein Übungsprogramm abzuspulen. Bestand Geißners Forderung, wie die Ausführungen in Kapitel 4.1 gezeigt haben, darin, solche Formen des Übens nur an sich in Ausbildung befindliche Schauspieler zu adressieren, so richtet sich das Buch Linklaters und richten sich Seminare, die mit der Linklater-Methode arbeiten, auch an eine breite Zielgruppe. Dass es bei diesem Übertrag zu Spannungen kommt, wird uns in Abschnitt 4.3.3 noch beschäftigen. Ist also der Übungsansatz und damit die grundsätzliche Konzeption der Übungen bei Linklater ein anderer als in den allgemeinen Ratgebern, so ähnelt der Aufbau des Übungsprogramms Linklaters diesen durchaus: auch Linklater beginnt mit Wahrnehmungsübungen zur Wirbelsäule und Körperentspannung, 232 Ebd. S. 71. 233 Dabei geht es aber nicht, wie bei Hey und anderen frühen Ansätzen, darum, die Einzellaute der Sprache in ihrer normgerechten Bildung zu üben. 234 Vgl. bspw. Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 67. 235 Ebd. S. 64.

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geht zur Atmung weiter, befasst sich dann mit der Bildung eines ‚befreiten Tons‘ und geht schließlich über zu den Resonanz- und Artikulationsbereichen. Auch einzelne Übungen gleichen den Übungen in den allgemeinen Ratgebern, etwa die zur Lockerung der Zunge und der Lippen. Stärker jedoch als die allgemeinen Ratgebern stellt das Übungsprogramm Linklaters einen geschlossenen Prozess dar, das heißt die Übungen bauen so aufeinander auf, dass die vorhergehende in der Regel die Voraussetzung für die folgende Übung bildet. Als sogenannte Zwischenschritte gibt es im Buch immer wieder Übungseinheiten, die einen Übungskomplex umfassen.236 Der Übungsansatz von Linklater erfordert ein konzentrierteres Arbeiten an der Sprechstimme, als die allgemeinen Ratgeber es tun, und entspricht in seinem Aufbau somit noch stärker der Charakteristik disziplinierender Übungsmechanismen. Dies zeigt sich auch daran, dass es für die Durcharbeitung dieses Programmes sehr viel mehr Zeit bedarf als bei den allgemeinen Ratgebern. Auch damit verweist das Buch stark auf seinen Entstehungskontext, den der Schauspielerausbildung, in der in der Regel mehr Zeit und Aufmerksamkeit für die Ausbildung der Sprechstimme vorgesehen ist, als dies bei einer allgemeinen Sprechstimmbildung der Fall ist. Beim Übungsbuch von Uwe Schürmann steht die ‚reflektorische Atemergänzung‘ oder ‚atemrhythmisch angepasste Phonation‘ (AAP) nach Coblenzer und Muhar im Zentrum und auch Schürmann betont, wie sehr der Sprechvorgang von einer Sprechintention ausgehen muss: „Die AAP gehört zu den wenigen etablierten Arbeitsansätzen im Bereich des Sprechens und Singens, die sich mit dem kommunikativen Nutzen der Übungen von Beginn an beschäftigen. […] Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass all Ihren Äußerungen irgendeine Absicht zugrunde liegt. Und da Ihr Sprechen und Singen mit dem Entstehen dieser Absicht überhaupt erst seinen Anfang nimmt, ist jeder Ausdruck Ihrer Körpersprache, Ihrer Stimme und Ihrer Artikulation auch in seiner Qualität abhängig von dieser ‚inneren Haltung‘.“237

Auch er bezeichnet diesen Ansatz als „ganzheitlich“ und fordert, dass dies auch das Üben prägen soll.238 Anders als bei Linklater ist jedoch die Technik des ‚Abspannens‘ nicht schon mit einer bestimmten Vorstellung, wie dem Linklater’schen ‚Seufzer der Erleichterung‘ verknüpft. Das ‚Abspannen‘ besteht zunächst darin, dass man die „Ventilspannung von Lippen, Zunge, Gaumensegel, Kiefer und Kehlkopf löst“; das passiert, wenn man am Ende eines Wortes, Satz236 Vgl. z.B. ebd. S. 80-87. 237 Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 16. 238 Ebd. S. 16.

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abschnittes oder Satzes die Lippen bewusst und plötzlich öffnet; besonders gut funktioniert das bei Plosiven wie ‚p‘, ‚b‘, oder ‚t‘. Durch das ‚Lösen‘ entsteht ein Unterdruck, der das „Zwerchfell nach oben (Ausatembewegung in Richtung der Atemruhelage) und [die] […] Rippen nach unten und innen saugt. Durch diese Sogwirkung dehn[t] […] [sich das] Zwerchfell und die übrige Einatemmuskulatur und lös[t] damit eine reflektorische Gegenbewegung aus.“239 Diesen Vorgang kann man körperlich stimulieren und üben, wobei Schürmann davor warnt, in ein „rein mechanisches Tun“ zu verfallen: „Nur wenn Sie jeden einzelnen Laut mit Überzeugung bilden und gezielt adressieren, entwickeln Sie die notwendige Körperspannung und Reaktionsbereitschaft.“240 Auch hier geht es beim Üben also schon um eine gewisse innere Haltung, zudem zeigt sich in Schürmanns Kritik am Mechanischen auch seine Ausbildung als Sprecherzieher. Darüber hinaus ist es nach Schürmann zentral241, sich über die Intention, die man beim Sprechen verfolgt, im Klaren zu sein, da diese gewissermaßen als „Ordner“242 für die physiologischen Abläufe fungiert. Bei den Übungsbeschreibungen weist Schürmann dann immer wieder darauf hin, wie die Intention, also zum Beispiel auch die Haltung, die man gegenüber der Übung einnimmt, Atmung und Stimmklang beeinflussen kann.243 Daraus gestaltet sich bei Schürmann ein Übungsbuch, das sich in seinem Aufbau und den Übungsanweisungen von dem Linklaters und von dem der Ratgeber unterscheidet. Zwar werden auch hier die Themengebiete Körperhaltung, Artikulation und Stimme angesprochen, die hier einmal nicht in der Reihenfolge der physiologischen Funktionsbereiche aufgeführt werden. Es wird jedoch kein stringentes Übungsprogramm entworfen, das es ‚durchzuarbeiten‘ gilt. Schürmann warnt davor, die Übungen „buchstabengetreu“ 244 auszuführen. Es geht, abgesehen von der Technik des ‚Abspannens‘, weniger um vorgegebene Übungsabläufe, die man einüben soll, als vielmehr um Selbstwahrnehmung und ums Ausprobieren. Die Übungen werden nicht als von einem Profi speziell konzipierte Maßnahmen dargestellt, sondern es wird ihr Bezug zu „alltäglichen Verhaltensweisen“ betont und die Möglichkeit dargestellt, in bestimmten Berei239 Ebd. S. 34. 240 Ebd. S. 48. Schürmann weist zudem darauf hin, dass es nicht darum gehe, bspw. die Bauchdecke aktiv einzuziehen, und verweist damit auf die manchmal missverständlichen Darstellungen in den Ratgebern (vgl. ebd. S. 37). 241 In seinem Buch folgt auf das Eingangskapitel zur Atmung ein eigenes Kapitel zur Intention (vgl. ebd. S. 52-93). 242 Ebd. S. 54. 243 Ebd. S. 46. 244 Ebd. S. 45.

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chen Übungen selbst zu „erfinden“.245 So stellen viele der Übungen eher Vorschläge dar: „Da Ihre Stimme wie ein feiner Seismograph Ihre Befindlichkeit in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht widerspiegelt, haben Sie genau genommen jederzeit eine Unmenge an Stimmübungen zur Verfügung. Sie brauchen nur jede Ihrer Aktivitäten (körperliche Bewegungen, seelische Regungen und geistige Beschäftigung) stimmlich zu kommentieren, dabei achtsam und intuitiv jedes Klangphänomen zu registrieren und sich so zu verhalten, dass Ihre Stimme Ihren Wünschen immer mehr entspricht. So können Sie in einer spielerischen Art und Weise neugierig und experimentierfreudig und ohne an bestimmten Mustern festzuhalten, Ihr Ausdrucksspektrum erkunden und erweitern. […] Nehmen Sie die folgenden Übungen lediglich als Vorschläge oder zur Orientierung und kreieren Sie Ihre eigenen Stimmübungen je nach Bedarf.“246

Zwar verfolgen die Übungen auch bestimmte Ziele, sind also nicht vollkommen beliebig, es geht aber oft vor allem um die Selbstwahrnehmung und nicht immer gibt es ein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Aus diesem Übungsansatz ergibt sich kein geschlossenes Übungsprogramm, das einem stringenten Aufbau folgt, wie es bei Linklater der Fall ist. Linklater und Schürmann verbindet allerdings die starke Betonung der Selbstwahrnehmung und der Kommunikationsabsicht. Auch entspricht Schürmanns Übungsbuch nicht dem standardisierten Aufbau und Übungskanon der Ratgeber, die zudem weniger auf Selbstwahrnehmung ausgerichtet sind und meist betonen, dass es nur eine richtige Durchführungsweise der Übungen gibt. Vielmehr stehen in Schürmanns Übungsbuch die Technik des ‚Abspannens‘ und die Betonung der inneren Haltung im Zentrum, von dem ausgehend sich dann weitere Übungen darum herum gruppieren. Diese sind tendenziell erweiterbar, stellen also keinen festgesteckten Kanon, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten des Ausprobierens dar. Anders als die Ratgeber – und dem Aufbau nach auch anders als der Linklateransatz – entspricht Schürmanns Buch also nicht der Form disziplinierender Übungsansätze und -programme. Es kann vielmehr als ein Beispiel dafür verstanden werden, welche Veränderungen das Üben in der Performancegesellschaft zunehmend durchlaufen könnte.

245 Ebd. S. 93. 246 Ebd.

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4.3.2 Das Üben mit Übungsbuch und elektronischen Medien Die allgemeinen Ratgeber zur Sprechstimmbildung, die gegenwärtig auf dem Buchmarkt angeboten werden, sind Übungsbücher, die Anleitung geben, wie man an seiner Stimme und seinem Sprechen arbeiten kann. Auch wenn sie daneben in der Regel auch noch Wissen über die Stimme und weitere Informationen und Tipps enthalten, haben sie in erster Linie den Charakter eines Arbeitsbuches, das zur Anwendung gedacht ist – unabhängig davon, wie die Leser das Buch tatsächlich nutzen. Die Bücher sind dabei nicht in einen institutionellen Rahmen eingebunden, das heißt sie dienen in der Regel nicht als Material in einem Seminar, sondern werden auf dem Buchmarkt als Bücher zum Selbststudium angeboten. Sie setzen damit also eine Tendenz fort, die sich schon bei der Bearbeitung des Übungsbuchs Heys durch Volbach gezeigt hat und die in der Überarbeitung durch Fritz Reusch noch stärker zu Tage tritt. Das Buch von Reusch hat seinen Weg jedoch gewissermaßen zurück in die institutionalisierte Schauspielerausbildung gefunden und findet dort nach wie vor Verwendung. Gleichzeitig wendet es sich jedoch auch an eine breite Zielgruppe. Die Ausrichtung auf das eigenständige Arbeiten mit dem Übungsbuch wird bei den allgemeinen Ratgebern in ihrem Aufbau und in ihren Übungsanleitungen deutlich. So richten sie sich direkt an den Leser als Übenden – als Schüler wird dieser in der Regel nicht bezeichnet – und sind in einem Anleitungsduktus geschrieben, geben also Anweisungen und Beschreibungen von dem, was der Übende zu tun hat. Damit entwerfen die Bücher ein Übungssetting, in dem der Übende für sich mit dem Buch arbeitet, was in Abschnitt 4.1 als ‚Privatisierung‘ des Übens bezeichnet wurde und woran deutlich wird, dass die institutionelle Einbindung auch Auswirkungen auf die Art des Übens hat. Daran schließen sich auch Fragen nach der disziplinierenden Wirkung dieses Übens an, auf die noch zurückzukommen sein wird. Das Buch übernimmt in seinem Anleitungscharakter bis zu einem gewissen Maß die Funktion des Lehrers, doch auch der Übende selbst muss in diesem Übungssetting bestimmte Funktionen der Anleitung und Kontrolle übernehmen. Ist der Stellenwert der Ratgeber als Anwendungsbücher zum Selbststudium in der Konzeption und Vermarktung der Bücher klar gegeben, wird er auffälligerweise von den Autoren der Bücher meist relativiert. So weist eine Autorin darauf hin, dass aufgrund der physiologischen Erklärungen – also des zunächst vermittelten Basiswissens – „die weiteren praktischen Stimmübungen verständlich und leicht durchführbar [sind]“247. Gleichzeitig betont sie aber, dass „ein noch so gutes Buch zum akustischen Ereignis Stimme das individuelle Stimmtraining mit einem Fachmann oder die Therapie erfahrungsgemäß 247 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 8.

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nicht ersetzen kann“248. Hier wird also auf das Phänomen Stimme selbst hingewiesen, das sich der Vermittlung mittels eines Übungsbuchs eigentlich widersetzt. In der Regel lösen die Autoren den Widerspruch, indem sie darauf hinweisen, dass man bei Schwierigkeiten oder „Missempfinden“249 einen Fachmann aufsuchen sollte. Die selbständige Arbeit mit dem Buch ist demnach also so lange möglich, solange keine Probleme auftreten. Eher selten ist hingegen die Empfehlung, von vornherein „gemeinsam mit einem Sprecherzieher oder Stimmbildner zu arbeiten und das Buch parallel dazu einzusetzen“ 250. Hier wird der Stellenwert des Buches als eigenständigem Arbeitsbuch stark relativiert und ähnlich wie bei Julius Hey in ein Übungssetting aus Lehrer, Schüler und Buch eingebunden. Dies entspricht jedoch nicht der generellen Ausrichtung der Ratgeber, die auf ein Selbststudium der Sprechstimmbildung ausgerichtet sind. Im Hinblick auf ihre Vermittlungsfunktion sind die Ratgeber aber dennoch ambivalent: versprechen sie als Übungsbücher einerseits eine eigenständige Arbeitsanleitung, so stoßen sie dabei auch immer wieder an die durch das Phänomen Stimme bedingten Grenzen dieser Vermittelbarkeit. Noch deutlicher verweist Kristin Linklater in ihrem Übungsbuch auf die Tatsache, dass sich diese Methode eigentlich besser mit einem Lehrer oder zumindest mit einer anderen Person erarbeiten lässt.251 Um die Grenzen der Vermittelbarkeit sprechstimmbildnerischen Übungswissens zu erweitern, wird den Büchern gelegentlich eine CD oder DVD beigelegt, es handelt sich dabei allerdings keineswegs um die Mehrzahl der allgemeinen Ratgeber. Das Buch von Linklater hat eine Audio-CD als Ergänzung252, Schür-

248 Ebd. 249 Ebd. S. 59. 250 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 5 f. Ebenfalls eher ungewöhnlich ist, dass in einem allgemeinen Ratgeber Sprechstimmlehrer adressiert werden mit Hinweisen, was ein gutes Stimmseminar ausmacht. Gutzeit tut das, greift hier also eine Adressierung auf, die auch Julius Hey beabsichtigte (vgl. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 119 f.). 251 Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 19: „Ich schlage vor, daß der ernsthafte Schüler, wann immer möglich, wenigstens mit einer Person arbeitet […]. Wer nur alleine arbeiten kann, muß seinen Wunsch nach Ergebnissen der Erfahrung von Ursachen opfern.“ 252 Linklater, Kristin: Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme. Gesprochen von Kristin Linklater und Thea M. Metz. Audio-CD. München 2012.

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manns Buch liegt eine DVD bei253 und auch die Neuausgabe des „Kleinen Heys“ von Reusch kann seit 2003 mit DVD254 erworben werden. Wurden schon in den 1930er Jahren Schallplatten als Übungsmaterial verkauft, zum Teil als Kompensation für die in der Wirtschaftsrezession zu teuren Seminarbesuche, so verbindet sich auch heute mit der elektronischen Erweiterung das Versprechen, selbständig und damit kostengünstiger an der eigenen Stimme und Sprechweise üben zu können ohne den Beschränkungen des rein schriftlichen Mediums Buch zu unterliegen. Dem auditiven oder audiovisuellen Material kommt teilweise die Vorbildfunktion des Lehrers zu. So spricht auf der CD zu einem der allgemeinen Ratgeber die Autorin des Buches die Übungen vor und lässt dann jeweils eine Pause, in der man die Übung nachmachen soll. 255 Im Buch weist sie den Leser darauf hin, dass „dadurch gewährleistet [wird], dass Sie die Übungen nach dem Lesen korrekt durchführen können und ein akustisches Vorbild haben“256. Auf der CD, die dem Buch von Kristin Linklater beiliegt, wird hingegen dezidiert davor gewarnt, die CD anzuhören, bevor man das Buch durchgearbeitet hat, da dann die Gefahr bestünde, den Ton zu imitieren. Die Aufmerksamkeit des Übenden solle sich aber nicht darauf richten, wie sich der Ton anhört, sondern wie er oder sie den Ton erfährt.257 Geht es darum, den Fokus während des Übens auf die Selbstwahrnehmung und -erfahrung auszurichten, verändert damit auch die auditive oder audiovisuelle Ergänzung zum Übungsprogramm ihre Funktion. Im Falle der Linklater-Methode hilft die CD aber auch dabei, überhaupt eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich die im Buch beschriebenen Laute anhören sollen, da dies ansonsten trotz verwendeter Lautschrift etwas unklar bleiben könnte. Entstammt der „Kleine Hey“ wie auch der Linklateransatz der Schauspielerausbildung und findet dort ebenso wie diese nach wie vor Verwendung, so könnte gleichzeitig der Duktus der dem „Kleinen Hey“ beigelegten DVD nicht unterschiedlicher sein als der der Linklater’schen CD. Die DVD zum „Kleinen Hey“ soll eine sehr klare Vorbildfunktion übernehmen, die durch die visuelle Ebene noch einmal einen besonderen Eindruck hinterlässt. Im Booklet der DVD wird 253 Schürmann, Uwe: Mit Sprechen bewegen. Stimme und Ausstrahlung verbessern mit atemrhythmisch angepasster Phoniation. 2. akt. Aufl. DVD. München, Basel 2010. 254 Der kleine Hey. Die Kunst des Sprechens. Das multimediale Trainingsprogramm. DVD. Schott Musik International 2003. 255 Gutzeit, Sabine F.: Fitness-Programm für Ihre Stimme. CD. Weinheim, Basel 2008. Die CD liegt dem Buch der Autorin „Die Stimme wirkungsvoll einsetzen“ (2008) bei. 256 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 51. 257 Vgl. Linklater Audio-CD.

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beschrieben, dass „Großaufnahmen von Schauspielschülern [nachhaltig] verdeutlichen, worauf es beim richtigen Sprechen ankommt“258. Die Schauspielschüler werden dabei angeleitet von einem Mann und einer Frau – man vermutet Schauspiellehrern. Sie geben jeweils in die Kamera blickend die Erklärungen dazu, wie man richtig atmet, die Konsonanten und Vokale korrekt bildet und Rhythmus und Dynamik beim Sprechen verändert. Vorgeführt werden die Übungen dann von den Schauspielschülern.259 Einer der Lehrer beschreibt also beispielsweise, wie die richtige Atmung funktioniert und der Schüler steht neben ihm und führt es vor. Oder man hört die Stimme einer der Lehrer aus dem Off und sieht dabei den Schüler die entsprechenden Bewegungen machen. Oder der Lehrer sagt an, dass nun gezeigt wird, wie man ein kurzes ‚a‘ bildet, und im Anschluss sieht und hört man einen Schauspielschüler in Großaufnahme mehrere Wörter mit kurzem ‚a‘ bilden. Die Ansagen der Lehrer richten sich direkt an den Zuschauer der DVD und haben einen starken Anweisungscharakter mit ‚richtigfalsch‘-Hinweisen, also etwa: „Machen Sie diese Übung auch mit den Reibelauten ‚s‘ ‚ß‘ und ‚sch‘“ – „Keinesfalls sollte der Impuls vom Hals aus gegeben werden.“ (Der Schüler macht es vor) – „Vermeiden Sie Schnappatmung“ (Der Schüler macht es vor). Befremdlich an diesen Darbietungen ist, dass keinerlei kommunikativer Austausch zwischen den Lehrern und Schülern stattfindet, so dass die Schauspielschüler wie Vorführobjekte wirken. An ihnen wird die korrekte Durchführung demonstriert, sie sprechen aber selbst keinen der erklärenden Texte. Man könnte fast sagen, sie geben zwar Laute von sich, aber sie sprechen nicht und wirken nicht wie handlungsfähige Subjekte. Insofern haben sich hier Aspekte der Übungskonstellation aus dem ursprünglichen Übungsbuch Julius Heys vom Ende des 19. Jahrhunderts in die audiovisuelle Vermittlung dieser Inhalte aus dem Jahr 2003 tradiert: innerhalb des Demonstrationssettings der DVD kommt dem Schauspielschüler die Rolle des unmündigen Objekts zu, an dem etwas gezeigt werden kann. In Fortsetzung dieser Lehrer-SchülerRelation soll dann auch der mit der DVD übende ‚Schüler‘, das, was er hier sieht und hört, möglichst getreu nachahmen und darüber zu einer korrekten Atmung und Lautbildung gelangen. Auch auf der DVD, die dem Buch Uwe Schürmanns beiliegt, kann man gewissermaßen einem Sprechstimmbildungslehrer mit seinen Schülern bei der Arbeit zusehen, allerdings stellt sich hier das Verhältnis ganz anders dar. Die DVD zeigt Ausschnitte aus einem Workshop, den Schürmann mit einer Gruppe von acht Personen durchgeführt hat. Die Ausschnitte sind zum einen nach The258 Vgl. Der kleine Hey. DVD. Booklet. 259 Dass es sich um Schauspielschüler handelt, wird im Booklet und auf der DVD-Hülle erwähnt, scheint also auch ein Kompetenzargument zu sein.

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mengebieten geordnet260, zum anderen werden spezielle Übungssituationen aus dem Workshop gezeigt. Im Unterschied zur Hey-DVD wirken die Teilnehmer jedoch nicht wie Versuchsobjekte, auch wenn sie anfangs anscheinend noch etwas befangen sind. Die Übungen werden teilweise von der ganzen Gruppe durchgeführt, woraufhin Schürmann jeweils nach den Eindrücken und Wahrnehmungen der Teilnehmer während der Übung fragt. Auch wenn er diese aufgreift, um daran bestimmte Aspekte, zum Beispiel des Atmungsablaufs, zu erklären oder sich freut, wenn eine Teilnehmerin ihm ein Stichwort liefert, auf das er selbst hinauswollte, scheint es weniger darum zu gehen, die korrekte Durchführungsweise einer Übung zu zeigen. Bei Übungen, die er mit einzelnen Teilnehmern macht, stehen ebenfalls die jeweiligen Belange des Übenden im Vordergrund und nicht ein uniformer Übungsablauf. Es wird zudem immer wieder deutlich, dass Schürmann die Ziele, die man mit den Übungen erreichen kann, in Relation setzt zu dem, was man selbst jeweils möchte; ein Aspekt, auf den er auch im Buch ausführlich eingeht. Die Übungsziele werden also weniger absolut und auch weniger universell gesetzt und stärker von den Belangen des Sprechers abhängig gemacht. Auch wenn Schürmann über mögliche Wirkungen und Eindrücke spricht, die man beim Gegenüber auslösen kann, betont er deren Unterschiedlichkeit, bringt hier also eine gewisse Differenzierung der Hörer ins Spiel, die, wie bereits erwähnt wurde, den Ratgebern weitgehend fehlt.261 Die Funktion dieser DVD liegt also weniger darin Vorbild sein zu wollen und zum getreuen Nachmachen der Übungen anzuleiten, sondern sie soll eher einen Eindruck von der Methode der AAP vermitteln.262 Ob die DVDs und CDs nun als Vorbild, mit dem Ziel, dass der Übende das Vorgemachte möglichst getreu und fehlerfrei nachvollziehen soll, dienen sollen oder eher der Veranschaulichung – die Funktion des Lehrers, den Übungserfolg zu kontrollieren oder Rückmeldung zu dem zu geben, was der Übende macht, können die CDs und DVDs nicht übernehmen. Es fehlt also eine interaktive Kommunikationssituation, wodurch sowohl die Adressierung durch den Sprecher als auch eine Rückmeldung durch den Hörer ausbleiben. Für die Übungsansätze von Linklater und Schürmann, die betonen, dass auch beim Üben ein Kommunikationsimpuls notwendig ist, bedeutet das, dass dieser immer der Imagination überlassen ist. So wird bei Linklater der Kommunikationsimpuls, 260 Dabei handelt es sich um die Kapitelabschnitte des Buches: Atmung, Intention, Körper, Artikulation, Stimme (vgl. Schürmann: Mit Sprechen bewegen). 261 Darauf komme ich im nächsten Unterkapitel noch einmal zu sprechen. 262 Sie soll sicher auch Werbezwecken dienen und Sympathie wecken, so dass der Zuschauer vielleicht dazu motiviert wird, ein Seminar bei dem Trainer zu besuchen (vgl. dazu auch von Mallinckrodt: Einführung. S. 10 f.).

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wie beschrieben, durch die Vorstellung eines erleichterten Seufzers ‚imitiert‘, aber auch sie weist auf die Beschränkung des Übens alleine hin. Darüber hinaus stellt, meiner eigenen Erfahrung zufolge, aber gar nicht so sehr die Notwendigkeit zur Imagination eine Herausforderung dar263, als vielmehr das tatsächliche Fehlen eines Gegenübers oder einer Gruppe. Ob dies nun mehr mit der fehlenden Adressierung und dem fehlenden Feedback zu tun hat, oder aber damit, dass man beim Üben in der Gruppe oder mit einem Lehrer eine festgelegte Übungszeit hat, lässt sich kaum entscheiden. Das vereinzelnde Übungssetting aus Buch und Übendem bedeutet auch, dass der Abgleich, ob die Ausführung einer Übung den Vorgaben entspricht, beziehungsweise die Reflexion über das, was man dabei wahrgenommen hat, vom Übenden selbst geleistet werden muss. Während Julius Hey noch das ‚geschulte Ohr‘ des Lehrers adressierte, ist es nun der ‚Schüler‘ selbst, der sein Gehör – oder, im Falle der eher auf Selbsterfahrung ausgerichteten Übungsansätze, allgemein seine Wahrnehmung – schulen muss. So wendet sich die Autorin eines der Ratgeber an die Leser ihres Buchs: „Das Gehör: Wichtigstes Element der Stimmkontrolle. […] Ihr Gehör [ist] das Organ schlechthin, um die Stimme zu analysieren, zu interpretieren und optimierend zu steuern [Hervorhebung im Orig.]!“264 Zur Selbstschulung des Gehörs wird dabei empfohlen, entweder sich selbst genau zuzuhören265 oder aber anderen genauer zuzuhören.266 Diese so trainierte Hörwahrnehmung wird dabei als Voraussetzung für den weiteren Lernerfolg beschrieben.267 Im Unterschied zum Lehrer-Schüler-Übungssetting, das beispielsweise Julius Hey beschreibt und in dem es auch schon darum ging, das Gehör des Schülers zu verfeinern, muss sich der Übende bei der Arbeit mit einem Übungsbuch diese Kompetenz nun eigenständig aneignen. Problematisch daran ist die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung beim Hören von Stimmen, auf die zwar gelegentlich hingewiesen wird 268, aus der jedoch keine weitergehenden Konsequenzen für das Übungsprogramm gezogen werden. 263 Viele Übungen zur Sprechstimmbildung sind mit veranschaulichenden Vorstellungen verknüpft, z.B. der Vorstellung mit einem Dartpfeil auf eine Zielscheibe am anderen Ende des Raumes zu werfen, unabhängig davon, ob man sie allein oder vor anderen macht. 264 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 34. 265 Vgl. z.B. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 7. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 34. 266 Vgl. z.B. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 64. 267 Vgl. ebd. S. 7: „Erst, wenn Sie Ihren Körper spüren, können Sie die Haltung ändern. Erst, wenn Sie Fehler beim Sprechen hören, können Sie diese beheben.“ 268 Vgl. z.B. ebd. S. 88. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 34 f.

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So setzt beispielsweise eine Ratgeberautorin den Höreindruck des Sprechers gleich mit dem der potenziellen Zuhörer, wenn sie eine Übung folgendermaßen anleitet: „Konzentrieren Sie sich auf ein Objekt außerhalb oder am Ende des Raumes und schicken Sie die Stimme dorthin. Sie hören, wie weit die Stimme trägt, und probieren das Gleiche mit einem Satz. So versteht man sie auch in der letzten Reihe, ohne dass Sie lauter werden müssen.“269 Meine Beobachtung der Selbsteinschätzung von Seminarteilnehmern zeigt, dass man bei solchen Übungen keineswegs unbedingt selbst hört, welchen Effekt man mit der eigenen Stimme erreicht, während die zuhörenden anderen Seminarteilnehmer die veränderte Wirkung durchaus bestätigen. Die Autorin weist bei der Beschreibung einer Entspannungsübung aus der ‚Alexandertechnik‘ zwar durchaus darauf hin, dass die Eigenwahrnehmung oft täuscht, doch auch das bleibt ohne Konsequenz für die Übungen und die Konzeption des Übungsbuches. Um den Einschränkungen der Eigenwahrnehmung beim Hören zu entgehen, empfehlen einige Übungsbücher, die Stimme technisch aufzuzeichnen, um sie sozusagen ‚von außen‘ zu hören.270 Allerdings wird auch hier nicht auf die Problematiken eingegangen, die sich dabei einstellen können, etwa wenn die Stimmqualität auch von der technischen Aufnahme- und Wiedergabeeinrichtung abhängig ist oder dass man, indem man in ein Mikrophon spricht, in der Regel keine auf Entfernung ausgerichtete Sprechweise übt. Während die Ratgeber bei den Abschnitten mit Hinweisen zum Sprechen am Telefon oder Mikrophon solche technischen Besonderheiten durchaus erwähnen, bleiben diese Überlegungen jedoch wiederum für die Anleitungen der Übungen ohne Konsequenzen. Die Bücher sind in ihrer grundlegenden Konzeption also als Anleitungen zum Selbststudium und zur übenden Anwendung gedacht und entwerfen dementsprechend ein Übungssetting zwischen Buch und Übendem. Gleichzeitig zeigen sie auch die Tendenz, die damit einhergehenden Begrenzungen zu erweitern, sei es durch CD und DVD oder durch die Erweiterung der Selbstwahrnehmung und -kontrolle durch technische Apparaturen.271 Sie verweisen damit auf das Dilemma, dass der Übende sein Üben selbst beobachten und kontrollieren muss, ohne dieses ganz auflösen zu können. Wenn darüber hinaus der Übende, wie in Heys Lehrbuch und auf der Hey-DVD eher als Objekt, das es zu formen gilt, denn als handlungsfähiges Subjekt dargestellt wird, gerät das Übungssetting des Selbststudiums zunehmend in eine Aporie. Die Vereinzelung des Übungsset269 Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 9. 270 Vgl. z.B. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 9. 271 In diese Richtung gehen auch Partnerübungen, die gelegentlich in den Büchern vorgeschlagen werden (bspw. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 19. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 16 f.).

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tings, die in einer fehlenden Kommunikationssituation und damit einhergehenden Motivationsproblemen resultiert, stellt zudem die disziplinierende Wirkung dieser Übungsbücher in Frage, bei denen die disziplinierenden Faktoren wie „Stetigkeit“ und „Zwang“ nun vollkommen dem Einzelnen und seiner Selbstdisziplin überantwortet werden. Auch hier kann man sich wiederum fragen, ob die starke Standardisierung der Ratgeber genau diesem Effekt durch ihre klare Strukturierung und einen normativen Anweisungsduktus entgegenzuwirken versucht. 4.3.3 Entwürfe von Subjektivität im Hinblick auf die Wirkung und Bewertung von Stimme und Sprechweisen Während in den Übungsbüchern zur Sprechstimmbildung Übungssettings konzipiert werden, die in vereinzeltem Üben mit dem Buch bestehen, werden zugleich in starkem Maße Momente der sozialen Interaktion thematisiert, bei denen es insbesondere darum geht, welche Wirkungen man mit der geschulten oder ungeschulten Stimme bei einem Gegenüber auslösen kann. Das ist ein Aspekt, der auch auf den Websites vieler Stimmtrainer stark thematisiert wird und der unter dem Blickwinkel der ökonomischen Dynamiken bereits angesprochen wurde. Dabei kommen bestimmte Vorstellungen von Subjektivität zum Ausdruck, zu denen die Stimme und Sprechweisen in ein spezifisches Verhältnis gesetzt werden. Diese bergen für die Funktionalisierung von Sprechstimmbildung jedoch auch Problematiken, insofern hier eine Identifizierung von Stimme mit Eigenschaften der ‚Person‘ oder ‚Persönlichkeit‘ des Sprechenden in Konflikt mit dem instrumentellen Charakter der Stimme gerät. Diese Problematiken betreffen auch den Transfer von Praktiken der Sprechstimmbildung aus dem Bereich der Schauspielerausbildung in einen an eine breite Zielgruppe gerichteten Bereich. Darüber hinaus stellt sich mit der Thematisierung der Wirkung der Stimme auch die Frage nach den Bewertungskriterien und Normen, an denen die Schulung der Sprechstimme ausgerichtet ist. Grundsätzlich muss Sprechstimmbildung von der Modifizierbarkeit der Stimme und der Sprechweisen ausgehen, da jeglicher Versuch, diese zu verändern ansonsten unsinnig und vergeblich wäre. 272 Mit der Thematisierung der möglichen Wirkungen, die man mit der Stimme erzielen kann, wird zudem auf ihren instrumentellen Charakter verwiesen: damit ist gemeint, dass Stimme und Sprechweisen als Mittel verstanden werden, um bei einem Gegenüber bestimmte

272 Vgl. Hartwig Eckert: Atmung und Stimme. In: Pabst-Weinschenk (Hrsg.): Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. S. 20-31. Hier S. 20.

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Reaktionen hervorzurufen und dass dies als ein zumindest partiell beeinflussbarer Vorgang gedacht wird. Impliziert ist das, wenn von der Wirkungsvielfalt der Stimme die Rede ist. In manchen Ratgebern wird dies auch explizit angesprochen, etwa wenn es darum gehen soll „ein Repertoire an Stimmausdrücken [zu] beherrschen und [die] […] Stimme gezielt ein[zu]setzen“273. Als mögliche Wirkungen, die man durch die Stimmarbeit erzielen soll, nennen die Ratgeber beispielsweise einen allgemeinen „positiven Eindruck“274, den man hinterlässt, weil man in der Lage ist, seine Stimme „in Gesprächssituationen vorteilhafter ein[zu]setzen“275 oder „sich offener und selbstsicherer [zu] präsentier[en]“276. Die positiven Effekte der Stimmarbeit werden von den Ratgebern also etwas weniger plakativ formuliert, als dies auf den Websites der Fall ist, die mit ihren Erfolgsversprechen auch die Wirkung umfassender skizzieren. Dennoch argumentieren die Ratgeber in die gleiche Richtung und verweisen teilweise auch auf die Studie von Mehrabian, die auch hier in der Regel falsch wiedergegeben wird.277 Die Missinterpretation der Studie passt insofern jedoch zur Ausrichtung der Ratgeber, als diese wenig Augenmerk auf die Frage legen, was man inhaltlich vermitteln möchte, und den Schwerpunkt stattdessen auf die rein physiologisch gedachten Aspekte der Stimmerzeugung legen. Dies lässt sich dann auch mit dem scheinbaren Befund der Studie, dass dem Inhalt des Gesagten nur sie273 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 85. Ähnlich auch Hammann: Fitness für die Stimme. S. 38. 274 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 13. 275 Ebd. S. 124. 276 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 28. 277 Vgl. dazu Kapitel 4.1.; Gutzeit etwa nennt Mehrabian namentlich und bezieht die Studie auf die „positive Wirkung einer Person“: „Zur positiven Wirkung einer Person tragen zum Beispiel laut einer Untersuchung des Sozialpsychologen Albert Mehrabian vor allem drei Komponenten bei: Der Sprachinhalt mit erstaunlich geringen sieben Prozent. Die Stimme mit einem vielleicht überraschend hohen Anteil von 38 Prozent. Und schließlich der durchaus wichtige Bereich der Körpersprache mit 55 Prozent.“ (Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 11) Dass Gutzeit die Studie zitiert ist etwas verwunderlich, da sie ansonsten durchaus ein differenzierteres Bild von Wirkung und Bewertung des Gesagten gibt, als dies in den meisten Ratgebern der Fall ist. Thömmes nennt keinen Namen und auch keine Zahlen, doch lässt sich auch hier der ‚Mehrabian-Mythos‘ vermuten: „Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Gesamtwirkung einer Person zu wesentlichen Teilen durch die Stimme und das Auftreten bestimmt werden. Dem tatsächlich Gesagten, dem Inhalt, wird oftmals nur ein kleiner Teil beigemessen.“ (Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 23).

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ben Prozent an der Wirkung zukämen, legitimieren und den Fokus auf Stimmklang, Modulation und ähnliche Aspekte lenken.278 Gehen die Ratgeber also zum einen von der Modifizierbarkeit und vom instrumentellen Charakter der Stimme aus, durch den die Wirkung, die man in Kommunikationssituationen auf andere hat, verbessert werden soll, so betonen sie zum anderen jedoch auch stets den engen Zusammenhang von Stimme und Person. Teilweise weisen sie darauf hin, dass der Optimierung der Stimme auch persönliche Grenzen gesetzt sind und man sich beispielsweise nicht einfach den Stimmklang seines Filmidols antrainieren könne – hier wird der Aspekt der Modifizierbarkeit also eingeschränkt.279 Daneben wird aber auch davon abgeraten, die Stimme zu verstellen.280 Damit verbunden wird die Forderung, dass die Stimme zur Person passen, beziehungsweise die Persönlichkeit des Sprechers zum Ausdruck bringen soll.281 Hier wird deutlich das Fortwirken jener Angst vor Verstellung in der Kommunikation aus den Diskursen des 18. Jahrhunderts und die Forderung eines natürlichen Ausdrucks, der zugleich die Lesbarkeit der gezeigten Gefühle ermöglicht, greifbar. An welchen Kriterien diese Übereinstimmung gemessen werden kann oder soll, wird in der Regel nicht ausgeführt. ‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ werden dabei zudem als in sich geschlossen und stabil konzipiert, sie entsprechen also jener Vorstellung von Subjektivität, wie sie nach McKenzie in den Kontexten der Disziplinargesellschaft entstanden ist und die Judith Butler in ihren Untersuchungen zur Geschlechteridentität hinterfragt hat. In den Diskursen der Sprechstimmbildung ist von den fragmentierten und multiplen Subjektentwürfen der Performancegesellschaft wenig zu finden. Der Stimme wird in Bezug auf das als kohärent gedachte Subjekt eine Ausdrucksfunktion zugewiesen: in ihr komme die Individualität eines Menschen zum Ausdruck, die Stimme wird als ‚Spiegel der Seele‘ apostrophiert.282 Dabei wird von der Stimme als einer Einheit gesprochen, wodurch auch hier die Aspekte von Konstanz und Kohärenz herausgestellt 278 Hierzu sei allerdings angemerkt, dass auch Schürmann die Mehrabian-Studie falsch zitiert. 279 Bspw. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 96. 280 „Lernen Sie Ihre individuellen Möglichkeiten kennen, schöpfen Sie diese optimal und bleiben Sie bei Ihrer Stimme.“ (Ebd. S. 99). 281 Vgl. z.B. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 96 f. Hammann: Fitness für die Stimme. S. 10. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 6. 282 So schreibt bspw. eine Autorin: „In der Stimme spiegeln sich Körper und Seele.“ (Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 38. Vgl. auch Hammann: Fitness für die Stimme. S. 7). Woher diese etwas schiefe Metaphorik, die auditive und visuelle Sinneseindrücke miteinander vermischt, stammt, konnte ich nicht herausfinden.

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werden, anstatt die von Variabilität und Inkongruenz, die sich an Stimmen ja auch beobachten lassen könnten, aber selbst – oder gerade – im Diskurs der Sprechstimmbildung in der Regel eher verdeckt werden. Damit einher geht auch die starke Betonung des Physiologischen, die die kulturell und individuellbiographisch bedingte Formung der Stimme und Sprechweise und damit ihre gesellschaftliche Normierung nur am Rande thematisiert. Zwar wird gelegentlich darauf verwiesen, dass Stimmideale auch von kulturellen Normen abhängen – etwa die Tonhöhe beim Sprechen, die zudem stark mit Genderaspekten verknüpft wird283 – oder dass bei der Bewertung von Stimmen unsere „Erwartungshaltung […] auf früheren Erfahrungen beruht“284. Jedoch bleiben diese Anmerkungen in der Regel folgenlos für die Konzeptionen der sprechenden Subjekte und der Prozesse von Subjektivation durch die Stimme und das Sprechen. Ausgegangen wird in der Regel von einem kohärenten und stabilen Subjekt, das sich durch seine Stimme in seiner Individualität zum Ausdruck bringt. 285 Vor dem Hintergrund dieser Konzeptionen muss die Funktion der Sprechstimmbildung problematisch erscheinen, wird durch sie doch der instrumentelle Charakter der Stimme betont und das Augenmerk auf die Modifizierbarkeit von Stimme und Sprechweisen gelenkt. Die Ratgeber zur Sprechstimmbildung – ebenso wie viele der Websites von Stimmtrainern – sind entsprechend bemüht, die Funktion der Sprechstimmbildung ins ‚rechte Licht‘ zu rücken. So wird die Verknüpfung von Stimme und Persönlichkeit zum Teil eher als Forderung formuliert: die Stimme soll „zu einem wirklichen und ehrlichen Transportmittel für unsere innere Befindlichkeit und unsere Persönlichkeit werden“286. Es soll in der Sprechstimmbildung darum gehen „natürlich“287 zu sprechen, man soll sich mit der Stimme nicht verstellen, sondern das „Sprechen […] in ganzkörperlicher Ehrlichkeit“ 288 vollziehen, die Stimme soll nicht missbraucht werden, um andere zu manipulieren. Auch wenn in den Ratgebern seltener als auf den Websites der Begriff ‚Authentizität‘ verwendet wird289, erscheint sie jedoch als Forderung, die hinter diesen Beschreibungen steht. Dass auch Authentizität ein Darstellungseffekt ist, bleibt dabei unreflektiert, obwohl dies gerade durch den Fokus auf die Möglich283 Vgl. bspw. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 80. 284 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 98. 285 Vgl. bspw. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 13. 286 Hammann: Fitness für die Stimme. S. 10. 287 Vgl. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 70. 288 Vgl. ebd. S. 100. Gutzeit spricht jedoch auch an, dass es dabei auch auf den Hörer ankommt. 289 Der Begriff findet allerdings bei Schürmann Verwendung (vgl. Schürmann: Mit Sprechen bewegen. S. 21-23).

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keiten, Stimme und Sprechweise zu modifizieren und variieren, im Bereich der Sprechstimmbildung greifbar werden könnte. Vielmehr wird gerade in diesem Punkt der Transfer einer Ausbildungstechnik für Schauspieler in den Bereich allgemeiner sozialer Interaktion problematisch: so warnen manche Ratgeber davor, dass man nicht zum Schauspieler werden soll.290 Insbesondere aber betont Kristin Linklater in ihrem Buch die Problematik dieses Transfers: soll ihre Methode der Sprechstimmbildung dazu dienen, dass Schauspieler in die Lage versetzt werden, mittels ihrer Stimme jeden erdenklichen Affekt zum Ausdruck zu bringen – die Stimme also als ein variables und vielseitiges Instrument fungieren –, so äußert Linklater gleichzeitig ihr Misstrauen, das sie allzu geschulten Stimmen im Alltag entgegenbringt: „Selbst wenn sich der Ton sehr angenehm anhört, weil er ‚gut sitzt‘ oder ‚gut moduliert‘ ist, drückt er nicht mehr aus als eben dies: eine gut trainierte Stimme. Es fällt mir schwer, einer gut trainierten Stimme zu vertrauen, weil sie eine gut trainierte Person andeutet, die weiß, wie sie oder er wahrgenommen werden will, und das erreichen kann, was erwünscht ist. Eine Person, die genug Kontrolle hat, ständig eine ‚angenehme‘ Stimme zu präsentieren, versteckt viele Dinge.“291

Soll der Schauspieler seine Stimme als vielseitiges Instrument verwenden, so wird gleichzeitig mit dem Einsatz der Stimme und des Sprechens in sozialen Interaktionen des Alltags ein ethischer Anspruch verknüpft, der auf Ehrlichkeit zielt. Beide aber schulen ihre Stimme und ihr Sprechen mit den gleichen Techniken. In den sozialen Interaktionen des Alltags jedoch stellt die Stimme, indem sie sich als geschult zu erkennen gibt, ihre Vermittlungsfunktion in Bezug auf Persönlichkeit und Stimmungen der sprechenden Person selbst infrage und droht damit zu einem unzuverlässigen Bestandteil menschlicher Kommunikation zu werden. Es ist frappierend, wie stark Ängste und Forderungen aus den rhetorikkritischen und theaterfeindlichen Diskursen der Aufklärung in den gegenwärtigen Diskursen der Sprechstimmbildung wiederzufinden sind, während sich die Vorbehalte gegenüber der Sprechstimmbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur auf einen gekünstelten und damit in seiner Wirkung nicht angemessenen Sprechstil richteten. Mit der Forderung, authentisch und „natürlich“292 zu wirken und sich nicht zu verstellen, rückt ein weiterer Aspekt in den Blick, der jedoch in den meisten Ratgebern der Sprechstimmbildung wiederum nur implizit oder nur am Rande 290 Vgl. bspw. Hammann: Fitness für die Stimme. S. 47. 291 Linklater: Die persönliche Stimme entwickeln. S. 142. 292 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 99.

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explizit thematisiert wird: die Frage, wie Stimme und Sprechweisen überhaupt von einem Gegenüber wahrgenommen und entsprechend bewertet werden. Zwar wird mit der Beschreibung bestimmter Wirkungsversprechen und Wirkungsforderungen die Bewertung des Gegenübers schon impliziert, damit aber auch nur selten problematisiert oder differenziert. Im Umkehrschluss zu der Ausdrucksfunktion, die der Stimme zugewiesen wird, wird die Möglichkeit beschrieben, von der Stimme auf das ‚Innere‘ einer Person zu schließen. So stellt eine Autorin dem Leser durch die Schulung seines Gehörs auch eine erhöhte Kompetenz in der Beurteilung des Gesprächspartners in Aussicht: „Vielleicht werden Sie sogar solch ein geschultes Ohr entwickeln, mit dem Sie feststellen können, dass der Chef nur so selbstsicher tut und in Wirklichkeit ein rechter Angsthase ist. Sie werden lernen, Ihre Mitmenschen mit anderen Augen zu betrachten – oder besser – mit anderen Ohren zu hören.“293

Hier wird als ein ermächtigender Aspekt von Sprechstimmbildung also besonders die Ausbildung von Bewertungskompetenzen im Hören – und weniger in der Zunahme eigener sprecherischer Fähigkeiten – dargestellt. Auch hier besteht eine Verbindung zu den Diskursen des 18. Jahrhunderts, reihen sich Sprechstimmbildner mit entsprechenden Aussagen ein in eine lange Tradition physiognomischer Auslegungen, die sich auch auf Stimmmerkmale bezogen.294 Allerdings wird von Seiten der Sprechstimmbildner teilweise auch vor Pauschalurteilen gewarnt: „Zusammenhänge von Stimme und Persönlichkeit sind vorhanden, doch bevor Sie über den Charakter eines anderen auf Grund seiner Stimme urteilen, empfiehlt es sich, die Rahmenbedingungen der Situation, die Worte und das gesamte Erscheinungsbild der Person zu prüfen.“295 Neben diesen, durchaus unterschiedlich bewerteten Möglichkeiten, von der Stimme auf Charakter oder Befindlichkeiten eines Sprechers zu schließen, werden zum anderen die möglichen Wirkungen der Stimme in der Regel recht universell dargestellt, das heißt sie werden nicht in Abhängigkeit von kulturellen Normen, situationsbedingten Erwartungen oder individuellen Prägungen der Zuhörer gesehen.296 Wie bei der Beschreibung der Übungsansätze der Ratgeber bereits erwähnt, erscheinen auch die Zuhörer stets als homogene Gruppe oder Einzelsubjekte, die mit uniformen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern ausgestattet sind. 293 Hammann: Fitness für die Stimme. S. 83. 294 Vgl. dazu Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. S. 1-72. 295 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 99. 296 Es gibt, wie bereits erwähnt, gelegentliche Ausnahmen, die jedoch auch keine Konsequenz für die Übungsansätze haben.

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In Bezug auf die Kriterien, an denen sich eine gute oder schlechte Stimme und Sprechweise messen lassen können, bleiben die Übungen zur Sprechstimmbildung dann allerdings meist recht vage, beziehungsweise wiederholen normative Vorgaben, die sich ähnlich auch schon in antiken Rhetoriken finden: die Stimme soll „klangvoll“297, „kräftig“298, „klar“299 und „raumgreifend“300 klingen, „locker“301, „resonanzreich“302 und „tragfähig“303 sein. Häufig wird ein genderbezogener Aspekt genannt: Frauen sollen nicht zu hoch, Männer nicht zu laut sprechen.304 Allerdings bleibt auch diese normative Vorgabe vage, insofern „zu hoch“ oder „zu laut“ relative Angaben sind. Insgesamt finden sich weniger substantielle Angaben zur Stimme und Sprechweise selbst, als vor allem auf die Wirkung bezogene Aspekte: man soll mit der Stimme „souverän“ 305 und „selbstsicher“306 wirken und einen „positiven Eindruck“307 hinterlassen. Das stellt aber kein objektivierbares oder messbares Kriterium dar, für das man einen absoluten normativen Maßstab setzen könnte, wie es beispielsweise die Beschreibung der korrekten, hochsprachlichen Lautbildung darstellt. Ein normativer Anspruch wird erhoben, aber dieser hängt von der Wirkung und damit auch von der Bewertung ab. Hier zeigen sich Tendenzen, die sich auch in den normativen Dynamiken, die für die Performancegesellschaft als charakteristisch beschrieben wurden, finden. Statt absolut gesetzter Normwerte geht es um normative Erwartungen, die sich jedoch erst im jeweiligen Moment der sozialen Interaktion konkretisieren und insofern auch einen performativen Charakter haben. Die Stimme und Sprechweise scheinen sich dabei besonders einer normativen Festschreibung zu entziehen, offenbaren dabei also auch ihren performativen Charakter. Andere Bereiche, wie beispielsweise die Körperhaltung oder die Beschreibung verschiedener Atembereiche, lassen sich hingegen konkreter anhand eines ‚richtigfalsch‘-Schemas beschreiben und werden entsprechend in den Übungsbüchern auch so beschrieben. Eine normative Wirkung der Übungsbücher, insbesondere 297 Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 77. 298 Ebd. 299 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 31. 300 Ebd. S. 7. 301 Ebd. S. 59. 302 Ebd. 303 Ebd. 304 Vgl. Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 36; 52 f. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 86 f. Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 51. 305 Knie: Wie bleibe ich bei Stimme? S. 45. 306 Thömmes: So stimmt es mit der Stimme. S. 28. 307 Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. S. 13.

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der Ratgeber, liegt also vor allem darin, vereinheitlichte und festgelegte Übungsabläufe zu beschreiben sowie die Wirkungskriterien und Bewertungsprozesse als uniform zu konzeptionieren. Wie die Stimme konkret klingen muss und wie man sprechen muss, um die gesetzten Wirkungen zu erreichen, entzieht sich hingegen tendenziell einer festlegenden Beschreibung. Ganz im Gegensatz zur Betonung von der Individualität der Person und ihrer Stimme, unterliegen die in den Übungsbüchern zur Sprechstimmbildung entworfenen Momente der sozialen Interaktion, in denen man mit der Stimme Wirkungen bei einem Gegenüber erzielen möchte, einer überzeitlichen und universellen Wahrnehmungs- und Bewertungsmatrix. Diese wird jedoch nicht an inhaltlichen normativen Setzungen ausgerichtet, sondern in weiten Teilen in relationalen, also vom jeweiligen Hörer abhängenden, Größen beschrieben. So pauschalisiert der Hörer erscheint, so mächtig ist er doch in seiner Funktion, die Darbietung des Sprechers hinsichtlich ihrer Souveränität und anderer Qualitäten zu beurteilen. Auch wenn in den Übungsbüchern weniger deutlich als auf den Websites die affizierende Wirkung virtuoser Selbstdarstellung beschrieben wird, so klingt in den skizzierten Wirkungs- und Bewertungsdynamiken doch jener Anforderungshorizont an, den van Eikels im Anschluss an Virno und McKenzie als Charakteristikum der Performancegesellschaft beschrieben hat.308

4.4 ‚VORFÜHREN‘ UND ‚MITMACHEN‘: DIE PRAKTIKEN DES ÜBENS IN DEN SEMINAREN ZUR SPRECHSTIMMBILDUNG Das gegenwärtige Angebot zur Sprechstimmbildung besteht, wie beschrieben, neben den Übungsbüchern aus Angeboten zu Gruppenseminaren und Einzelunterricht, die man innerhalb von Weiterbildungseinrichtungen oder direkt bei Sprechstimmbildungstrainern buchen kann. Der Besuch ist in der Regel freiwillig und für die Kosten kommt häufig der einzelne Teilnehmer selbst oder, in Fällen betrieblicher Weiterbildung, gegebenenfalls der Arbeitgeber auf. Bei diesen Angeboten bietet sich die Möglichkeit, sie durch Teilnahme und direkte Beobachtung zu untersuchen und sich der gegenwärtigen Praxis der Sprechstimmbildung damit noch einmal in einer anderen Herangehensweise, als dies beim Blick auf die historischen Formen der Sprechstimmbildung möglich war, zu nähern. Für die vorliegende Untersuchung konnte dies jedoch nur stichpro-

308 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.2.

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benartig erfolgen; es wurden einige Kurse309 sowie fünf Sitzungen Einzeltraining310 besucht. Entsprechend kann die hier vorliegende Untersuchung auch nur punktuelle Einblicke bieten, an denen exemplarisch einige Tendenzen sprechstimmbildnerischer Praxis aufgezeigt sowie Bezüge zu den Beobachtungen der bisherigen Untersuchungen hergestellt werden sollen. Dabei soll es, in Analogie zur Analyse der Sprechstimmbildungsbücher, zunächst um den Aufbau der Seminare, die behandelten Themengebiete, die Arbeitsweise und das Übungsmaterial gehen. Ein zweiter Abschnitt behandelt die Frage, in welchen Settings in den Seminaren gearbeitet wird, insbesondere wie dort geübt wird. In einem dritten Abschnitt geht es darum, wie in den Kursen die Wirkung von Stimme und Sprechen in Szene gesetzt wird und wie sich damit auch eine Demonstration der Wirksamkeit der Übungen selbst verbindet. Zudem wird nach den normativen Prozessen gefragt, die in den Seminaren zum Tragen kommen. Die Kurse wurden von mir als Teilnehmerin besucht, das heißt ich habe mein Forschungsinteresse nicht zu erkennen gegeben, da dies meines Erachtens für Irritationen gesorgt und einen unbefangenen Ablauf gestört hätte.311 Die Beschreibungen sind entsprechend anonymisiert und ich verzichte – bis auf die am Anfang dieser Untersuchung geschilderten Szenen – auf längere Darstellungen konkreter Abläufe in den Kursen, da es mir darum geht, die genannten Thematiken herauszuarbeiten, nicht aber ein einzelnes Seminar zu beschreiben. Dies soll auch dem Schutz der Anonymität der Kursleiter und -teilnehmer dienen. Auch geht es mir nicht darum individuelles Verhalten zu untersuchen, sondern generelle Tendenzen der gegenwärtigen Übungspraxis der Sprechstimmbildung zu erfassen und Bezüge zu den anderen Ebenen der Untersuchung herzustellen. Dass dabei teilweise auch die beobachtbaren Reaktionen anderer Kursteilnehmer sowie Hinweise auf die Art und Weise, wie die Kurse angeleitet wurden, zu Sprache kommen, ließ sich wiederum nicht vermeiden. Hierzu möchte ich anmerken, dass zum einen die geschilderten Reaktionen nicht als generelles Urteil darüber misszuverstehen sind, ob die einzelnen Teilnehmer die Kurse positiv

309 Die Seminare dauerten teilweise einen Tag, teilweise liefen sie über mehrere Wochen. Es konnten nur kostengünstige Seminare besucht werden. 310 Das von mir absolvierte Einzeltraining wird am Rande Erwähnung finden, ergab aber für die von mir verfolgten Fragestellungen keine entscheidenden ergänzenden Beobachtungen. 311 Zur Problematik von „Nähe und Distanz“ bei der teilnehmenden Beobachtung vgl. Brigitta Hauser-Schäublin: Teilnehmende Beobachtung. In: Bettina Beer (Hrsg.): Methoden ethnologischer Feldforschung. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 2008. S. 37-58.

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oder negativ bewertet haben; zum anderen verbindet sich mit meinen Untersuchungen keine Kritik oder Empfehlung hinsichtlich der Angebote. Aufbau, Inhalt und Übungsansätze der Sprechstimmbildungskurse Ähnlich wie bei den Übungsbüchern gibt es auch bei den Seminarangeboten Kurse, die mit einer speziellen Methode arbeiten, und solche, die eher einen Methodenmix verwenden, beziehungsweise auf bestimmte standardisierte Elemente zurückgreifen. Bei den Seminaren lässt sich jedoch eine etwas geringere Standardisierung als bei den Ratgebern beobachten, was auch mit der unterschiedlichen Dauer und Frequenz der Seminare sowie unterschiedlichen Zielgruppen zusammenhängt. Grundsätzlich aber gibt es viele Überschneidungen zwischen den Übungsbüchern und den Seminaren hinsichtlich der Themenbereiche, Übungen und Übungsansätze. So folgen auch die Seminare in ihrem Aufbau meist den physiologischen Funktionsbereichen, die mit der Stimmgebung verbunden sind; sie gehen also von der Körperspannung und -haltung über zur Atmung, dann zur Stimmgebung und schließlich zu Resonanz und Artikulation. Sprechgestaltung und die Frage, welche Inhalte man wie vermitteln möchte, stehen auch in den Seminaren meist am Ende – sofern sie überhaupt thematisiert werden. In einem Seminar wurde ausschließlich mit der Linklater-Methode gearbeitet und – wie auch im Buch von Linklater – betont, dass Atmung und Stimme von einem Sprechimpuls motiviert sein sollen, der beim Üben durch die Vorstellung eines Seufzers der Erleichterung imitiert wird. Fragen der Sprechgestaltung wurden jedoch auch in diesem Seminar erst am Ende behandelt. Insofern folgten alle von mir besuchten Seminare der bereits beschriebenen additiven Struktur, in der aus den Einzelfacetten der Stimmgebung und des Sprechens der Gesamtprozess zusammengesetzt wird. Zudem wiesen alle (mit Ausnahme des Übungsansatzes Linklaters) die auch schon in den Ratgebern beobachtete Reihenfolge von zunächst rein körperlichen Übungen hin zu Aspekten des Sprechausdrucks auf. Bei den Seminaren, die sich über mehrere Wochen erstreckten, wurde den Teilnehmern meist empfohlen, das im Kurs Erprobte auch zu Hause nachzuvollziehen und zu üben. Daneben erhielten in allen Kursen die Teilnehmer Empfehlungen von den Kursleitern, welche Übungen für sie speziell geeignet seien. Auch wenn also in den Kursstunden alle Teilnehmer ein gemeinsames und standardisiertes Programm durchlaufen, so bieten die Kurse den Teilnehmern über die Empfehlungen der Kursleiter auch die Möglichkeit, gezielter an bestimmten Aspekten zu arbeiten. Sie lösen damit ein Stück weit die von den Sprecherziehern formulierte Forderung ein, dass die einzelnen Funktionsbereiche des Sprechens nicht voneinander abhängen und es ausreicht, wenn jeweils

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gezielt der Bereich geübt wird, der einem Probleme bereitet. 312 Bis auf das Seminar, das auf der Linklater-Methode basierte, arbeiteten die anderen von mir besuchten Seminare mit einem Methodenmix, beziehungsweise Übungen aus dem standardisierten Repertoire, das auch die Ratgeber bereithalten. So wurde mit der Entspannungstechnik der progressiven Muskelrelaxation gearbeitet, es gab Übungen zur Körperaufrichtung und Körperhaltung und zum physiologisch richtigen Sitzen. Die ‚Kauübung‘ zur Suche der eigenen Sprechstimmlage kam zum Einsatz – allerdings ohne dass man dabei tatsächlich Brot gekaut hätte. 313 Es gab Übungen zur Lockerung der Lippen und des Kiefers, die ‚Sirenenübung‘ fand Anwendung, ebenso wie die ‚Korkenübung‘. Teilweise wurden auch einzelne Übungssequenzen aus der Linklater-Methode eingebaut sowie bei der Atmung mit der Technik des ‚Abspannens‘ gearbeitet. Daneben gab es aber auch Kurse, die eher die muskuläre Steuerung der Atmung trainierten. Die Übungsverse von Julius Hey kamen teilweise zum Einsatz. Trotz der Ähnlichkeit der Elemente unterschieden sich die Seminare jedoch stark in deren Gewichtung und der Durchführungsweise, was auch die Intensität, mit der die Übungen durchgeführt wurden, betraf. Dies hing dabei nicht unbedingt von der Kurslaufzeit ab. So gab es Eintagesseminare, in denen einzelne Übungen sehr viel Zeit in Anspruch nahmen, während auch in mehrwöchigen Kursen manche Übungen eher ‚angetippt‘ wurden. Beispielsweise nahmen in manchen Seminaren die Übungen zur Körperaufrichtung nur sehr wenig Zeit in Anspruch: Sie bestanden dann beispielsweise darin, dass alle Kursteilnehmer einmal von ihren Stühlen aufstanden, die Arme nach oben reckten und sich streckten und einmal die Wirbelsäule aus der Beugung in die Gerade aufrichteten, was insgesamt ungefähr fünf Minuten in Anspruch nahm. In anderen Seminaren hingegen wurden dafür lange Übungseinheiten verwendet von ungefähr 15 bis 20 Minuten; entsprechend verlangten diese dann auch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Auch wenn Sprechstimmbildungsseminare grundsätzlich immer auch Körpererfahrungselemente enthalten, insofern es um die Stimmen und Sprechweisen der Teilnehmer geht, so forderten die Seminare die Körpererfahrungen doch auf unterschiedliche Weise heraus. Die Abstufung lässt sich dabei auch an dem Ausmaß festmachen, wie ausführlich Übungen mit dem ganzen Körper gemacht wurden. So gibt es Seminare, in denen die Teilnehmer die meiste Zeit auf ihren Stühlen sitzen und allenfalls ab und zu aufstehen. In anderen Seminaren hingegen werden auch Übungen auf dem Boden liegend gemacht. Gerade Übungen mit starkem Körpereinsatz lösten, insbesondere wenn sich mit ihnen das Produzieren ungewohnter Klänge ver312 Vgl. bspw. Geißner: Sprecherziehung. S. 199. 313 Vgl. die Beschreibung der Übung in Abschnitt 4.3.1.

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band, nicht selten Unbehagen bei einigen Kursteilnehmern aus, was sich in nervösem Lachen und entsprechenden Kommentaren äußerte. In Seminaren, die sehr stark auf Körpererfahrung ausgerichtet waren, zerfloss bisweilen die Grenze zwischen dezidierter Stimm- und Sprecharbeit und anderen allgemeineren Entspannungs- und Körpererfahrungstechniken wie Yoga oder der Feldenkraismethode. Das zeigte sich teilweise auch in den Seminargesprächen, die sich dann um die Erfahrungen der Seminarteilnehmer mit den entsprechenden Techniken drehten. Die Seminare arbeiteten in der Regel nicht mit einem Übungsbuch, vielmehr gab es oft ein Skript, das zwischen zwei und 15 Seiten lang war und Übungsmaterial sowie gelegentlich auch weitergehende Informationen enthielt. In einem Seminar waren das in erster Linie die Übungsverse von Julius Hey sowie weitere Wort- und Satzbeispiele zu den einzelnen Sprachlauten. In anderen Skripten finden sich zusätzlich stimmhygienische Hinweise. In dem Linklater-Seminar verzichtete die Leiterin auf jegliches Skript mit dem Hinweis, dass es sich um eine Technik handelt, die auf mündlicher Vermittlung basiert. Sie verwies jedoch auf das Übungsbuch, falls man einige der Übungen zu Hause nachvollziehen wolle. In diesem wie in einem weiteren Seminar, das nur mit einem sehr kurzen Skript arbeitete, sorgte das Fehlen einer schriftlichen Grundlage für Irritation und Unsicherheit bei einigen Teilnehmern. Sie äußerten die Sorge, dass sie die Übungen, die im Seminar gemacht wurden, vergessen würden und so nachträglich nicht mehr nachvollziehen könnten. Dies zeigt zum einen das Bedürfnis der schriftlichen Fixierung von Übungsabläufen, die der performativen Flüchtigkeit der Durchführung entgegen wirken, und verweist zudem auf den insgesamt sehr performativen Charakter der Sprechstimmbildungsseminare, der noch zur Sprache kommen wird. Eines der Seminare basierte in großen Abschnitten auf der Arbeit mit den Übungsversen von Julius Hey, verwendete hierbei jedoch auch nicht das von Reusch herausgegebene Übungsbuch, sondern griff nur auf die Übungsverse selbst zurück. Im Seminar wurden die einzelnen Laute der deutschen Sprache mit Hilfe der Übungsverse Heys behandelt. Der entsprechende Übungsabschnitt verlief so, dass nach Erläuterungen der Kursleiterin zu den Lauten jeder Kursteilnehmer reihum ein bis zwei Verse laut vorlas und bei Bedarf von der Kursleiterin Hinweise bekam, was er oder sie anders machen könne. Dabei ging es neben der Lautbildung auch um andere Aspekte wie Stimmklang oder Tragfähigkeit der Stimme, die durch bestimmte Laute besonders unterstützt werden, also um Aspekte, die auch Julius Hey im zweiten Abschnitt seines Übungsbuches behandelt. Obwohl das Übungsmaterial von Hey hier intensiv zum Üben herangezogen wurde, hat sich der Schwerpunkt seiner Verwendung also etwas

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von den Fragen der korrekten Aussprache hin zu den Aspekten der Stimmqualität verschoben. Dennoch blieb der normative Charakter der Lautbildung erhalten, es ging also nach wie vor um die ‚korrekte‘ Bildung der Laute, wobei auch Fragen zu Dialekt und Hochsprache thematisiert wurden. Auch in zwei weiteren Seminaren wurde mit den Übungsversen von Hey gearbeitet, allerdings in wesentlich geringerem Umfang. Hier standen dann deutlich Aspekte wie Resonanz, Tragfähigkeit und Sprechtempo im Vordergrund, die mit einzelnen Lauten bearbeitet werden können. Die Laute dienten hier ausschließlich als Material, um an anderen Faktoren der Stimme und des Sprechens zu arbeiten, und es ging nicht um die an einer Aussprachenorm ausgerichtete ‚korrekte‘ Bildung. 314 Wird das Übungsbuch von Julius Hey außerhalb von Kontexten der Gesangs- und Schauspielerausbildung verwendet, kann man also eine tendenzielle Schwerpunktverlagerung beobachten, die auch dem Stellenwert, den die Hochsprache gegenwärtig in den allgemeinen Ratgebern einnimmt, entspricht; statt um korrekte Lautbildung geht es zu einem größeren Teil um Fragen der Stimmqualität und der Gestaltung der Sprechweise. Dennoch sind Fragen der Standardaussprache nicht vollkommen obsolet und es gibt beispielsweise auch Seminarangebote, die sich ausschließlich mit Fragen von Dialekt und Hochsprache befassen. Zu den Übungsversen von Julius Hey ist zudem anzumerken, dass sie in der Gegenwart nicht mehr dem Ziel Heys entsprechen, die Wahrnehmung des Übenden vom Inhalt auf die zu übenden Laute zu lenken. In den Seminaren, in denen die Verse zum Einsatz kamen, lösten sie durchaus Irritationen aus und sorgten für Gesprächsstoff. Einige der Teilnehmer mussten beim Sprechen der Verse unwillkürlich lachen, runzelten die Stirn oder verfielen in einen ironischen Sprechduktus. Eine Frau, die keine deutsche Muttersprachlerin war, fragte mehrmals nach, was die Verse zu bedeuten hätten. Ich selbst musste beim LautLesen lachen, obwohl ich die Verse und ihren Hintergrund kannte. Die Leiterin des Kurses betonte mehrmals, dass es nicht um den Inhalt gehe, der jedoch offensichtlich die Übenden als erstes beschäftigte. Auch wenn, oder gerade weil, die Verse keinen zusammenhängenden Sinn ergeben, aber durch Wortwahl und Thematiken Assoziationen auslösen, die dem heutigen Sprachgebrauch eher fremd sind, stellen sie also keineswegs ein ‚neutrales‘ Übungsmaterial dar. Die Übungssettings der Kurse An den Sprechstimmbildungsseminaren lassen sich einige grundlegende Settings beschreiben, mit denen in den Kursen in unterschiedlicher Zusammenstellung gearbeitet wird: so gibt es Sequenzen, in denen der Kursleiter Inhalte referiert, also beispielsweise Informationen zu den physiologischen Abläufen der Stimm314 Aus diesem Zusammenhang stammt auch die eingangs geschilderte erste Szene.

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gebung gibt, ähnlich den entsprechenden Abschnitten in den Ratgebern. In manchen Kursen wird dies eher ‚en bloc‘ vermittelt, in anderen ‚peu-à-peu‘ in den Seminarablauf eingestreut. Das Wissen zur Sprechstimmbildung, das dabei vermittelt wird, erscheint keineswegs immer einheitlich, so wurde die Frage, ob es besser ist durch die Nase oder durch den Mund zu atmen, in einem Kurs heftig diskutiert. Daneben gibt es Sequenzen, in denen der Leiter etwas demonstriert, also zum Beispiel eine bestimmte Sprechweise vormacht oder einen Übungsablauf vorführt. In jedem Kurs werden zudem Übungen von den Teilnehmern durchgeführt.315 Generell gibt es Übungen, die die ganze Gruppe gleichzeitig durchführt, wobei dies Übungen sein können, die jeder einzeln für sich macht, oder aber Partnerübungen. Darüber hinaus gibt es Einheiten im Kurs, in denen ein einzelner Kursteilnehmer etwas vor der restlichen Gruppe vormacht oder vorspricht. Die Gruppe und der Kursleiter fungieren dann gewissermaßen als Publikum und Feedbackgeber. In der Regel folgen diese Übungen einer ‚vorher-nachher‘-Struktur, das heißt nach dem ersten Versuch erhält der ‚Proband‘ Hinweise vom Leiter, was er anders machen soll, und wiederholt die Darbietung, woraufhin wieder Feedback eingeholt wird. Diese Übungen haben ebenso wie die ‚Demonstrationen‘ der Kursleiter einen stark theatralen Charakter, folgen also einer Art Aufführungssetting aus Darsteller und Zuschauer. Wie bei den Übungsbüchern auch geht es also in den Sprechstimmbildungsseminaren stark ums Anwenden und Ausprobieren; es sind von der Konzeption her in der Regel recht interaktiv angelegte Seminare, wobei die Bereitschaft der Teilnehmer sich aktiv zu beteiligen durchaus variieren kann. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Übungen dabei durchaus in der Intensität der Durchführungsweise. Für das Seminar, das mit der Linklater-Methode arbeitete, bestand der Großteil der Seminararbeit darin, dass die ganze Gruppe gleichzeitig Übungen durchführte. Bei den Übungen handelte es sich meist um längere Übungssequenzen, die eine starke Konzentration auf die eigene Körperlichkeit erfordern. Während der Übungen sagte die Kursleiterin an, was man jeweils tun solle. Auch darin zeigt sich die Nähe zu anderen Körpererfahrungsmethoden wie Yoga oder Feldenkrais, die als Gruppenarbeit meist nach einem ähnlichen Muster ablaufen. Im Unterschied zu diesen gibt es bei den Übungssequenzen der LinklaterMethode eine Struktur, die einer Art Wechselgesang zwischen Kursleiter und Teilnehmern gleicht: so gab die Kursleiterin einen Ton auf einer bestimmten Tonhöhe vor, worauf die Gruppe in der gleichen Tonlage ‚antwortete‘. Das 315 Das unterscheidet diese Seminare von Vorträgen zur Stimme, die von Sprechstimmbildnern teilweise auch angeboten werden, wie die Websites von einigen Stimmtrainern zeigen (vgl. bspw. die Websites www.pauljohnnesbaumgartner.de oder www.loschky.de).

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heißt, man hörte die eigene Stimme meist zusammen mit den Stimmen der anderen Teilnehmer und war in einen gemeinsamen Rhythmus eingebunden. Dieser gemeinsame Rhythmus löste manchmal auch Konfusion aus: einige Teilnehmer, mich eingeschlossen, äußerten ihre Verwirrung, wann sie ‚rechtzeitig‘ einatmen sollten, um dann gemeinsam mit der Gruppe den gefragten Ton zu produzieren. Immer wieder erinnerte die Leiterin zudem daran, dass das Einatmen mit einem Gefühl der Erleichterung verbunden werden sollte, um die richtige Klangqualität zu erreichen. Im Anschluss an die Übungssequenzen fragte die Leiterin die Teilnehmer jeweils, was sie wahrgenommen hätten und wie es ihnen damit gegangen sei. Dabei ging es ihr in erster Linie um die individuelle Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung der Teilnehmer und die Antworten wurden nicht in generalisierte ‚Ergebnisse‘ überführt. In anderen Seminaren stand hingegen das Übungssetting stärker im Vordergrund, bei dem die Übungseinheiten von den Teilnehmern einzeln durch- und vorgeführt wurden, während der Rest der Gruppe und der Kursleiter dies beobachteten. Zwar wurde auch hier im Anschluss an die ‚Darbietung‘ zunächst die Selbstwahrnehmung des vorführenden Teilnehmers erfragt, jedoch ging es vor allem auch um die Wirkung und den Eindruck, den das Vorgeführte auf die anderen Teilnehmer und den Kursleiter gemacht hatte. Nach diesem Meinungsbild erhielt der vorführende Teilnehmer dann eine Anweisung vom Kursleiter, was er oder sie anders machen solle: das konnte die Veränderung der Körperhaltung betreffen, ein Hilfsmittel wie ein Gymnastikband einschließen oder eine imaginative Vorstellung sein, zum Beispiel die Vorstellung einen Dartpfeil ans andere Ende des Raums zu werfen, während man spricht. Nachdem der Teilnehmer unter Berücksichtigung dieser Anweisungen die Übungssequenz noch einmal vorgemacht hatte, wurden erneut sein eigener Eindruck sowie das Feedback aus der Gruppe eingeholt. Dieses Übungssetting basiert also stärker auf der Demonstration und dem Vorführen sowie dem Einholen von Fremdeinschätzungen; es hat eher den Charakter einer Aufführungssituation mit Darsteller und Publikum, kann in diesem Sinne also als theatral bezeichnet werden. Gleichzeitig setzt dieses Übungssetting gewissermaßen die Wirksamkeit der Übung selbst in Szene, indem es durch die ‚vorher-nachher‘-Struktur, den Effekt, der sich durch die Übungsanweisung ergibt, vor Augen – und Ohren – führt. Zudem ließ sich bei diesem Übungssetting stärker die Tendenz von Seiten der Kursleiter beobachten, den Wirkungseindruck auf ‚einen Nenner‘ zu bringen und auch divergierende Eindrücke zu vereinheitlichen – ein bisschen so, als ob zu disparate Eindrücke den Beweis der Wirksamkeit der Übung gefährden könnten. Bei den Übungen in der Gruppe, die auf Selbstwahrnehmung ausgerichtet sind, wurden hingegen disparate Eindrücke eher nebeneinander stehen gelassen. Al-

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lerdings variierte die Tendenz zur Vereinheitlichung von Wirkungseindrücken nicht nur mit der Übungsform, sondern auch mit den Kursleitern. Die verschiedenen Übungssettings kommen also in den Kursen in unterschiedlicher Zusammenstellung und Ausprägung vor und hängen auch mit der Wahl des Übungsmaterials und den methodischen Grundlagen zusammen; von der Dauer der Kurse hingegen war nicht abhängig, welche Übungssettings bevorzugt gewählt wurden. Das Verhältnis zwischen Kursleitern und Teilnehmern gestaltet sich in den Seminare in der Regel eher flach hierarchisch; es entspricht dem von Dienstleister und (zahlendem) Kunden, wobei der Kursleiter den Vorsprung der fachlichen Kompetenz hat. Entsprechend der geringen strukturellen Disziplinierungsmacht der Seminare gibt der Kursleiter den Teilnehmern eher Empfehlungen und Ratschläge für die langfristige Anwendung der Übungen an Stelle von Anweisungen; er nimmt keine Prüfung ab, erfüllt im Seminarverlauf selbst aber die Rolle eines kontrollierenden und korrigierend eingreifenden Lehrers. Seine Kompetenz umfasst im Falle der Sprechstimmbildung auch die eigenen stimmlichen und sprecherischen Fähigkeiten. In den Fällen, in denen die Kurse von Sängern und Schauspielern gehalten wurden, wurden deren berufliche Tätigkeiten in diesem Bereich auch immer erwähnt, um diese Kompetenz zu untermauern. An eine Logopädin wurde die Frage gerichtet, ob sich durch ihre Arbeit auch ihre eigene Stimme und Sprechweise verändert habe. Die Stimme und Sprechweise der Kursleiter beglaubigt also gewissermaßen die Möglichkeiten der Sprechstimmbildung und deren Sinnhaftigkeit. Damit stellt die Tätigkeit der Sprechstimmbildner zum einen selbst eines jener Arbeitsgebiete dar, in denen körper- und personenbezogene Merkmale Teil der ökonomischen Wertschöpfung sind, zwischen einem ‚persönlichen‘ und einem ‚beruflichen‘ Bereich also nur schwer zu unterscheiden ist. Zum anderen müssen Sprechstimmbildner jedoch auch unter Beweis stellen, dass diese Merkmale variabel und modifizierbar sind, also nicht einfach Teil einer natürlichen Begabung. Die Seminare zur Sprechstimmbildung stellen die Kursleiter also auch insofern vor eine Herausforderung, als sie im Seminar sprechend ihre eigene Kompetenz unter Beweis stellen müssen; insofern sie konkrete normative Kriterien 316 nennen – wie in den Übungsbüchern bleiben diese vor allem in Bezug auf die Stimme auch in den Seminaren eher vage – sollten sie diese auch erfüllen oder zumindest nicht allzu oft davon abweichen. Sie erfüllen damit die Vorbildfunktion, die auch Julius Hey bereits vom Sprechstimmlehrer einforderte. Gelegentlich demonstrierten die Kursleiter auch, wie man Stimme und Sprechweisen nicht verwenden sollte. Dabei arbeiteten sie meist mit starker Übertreibung und die Demonstrationen hatten einen stark parodierenden Charakter. Entsprechend sorgten sie bei den Teilnehmern in der Regel 316 Vgl. dazu den nächsten Abschnitt.

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für Gelächter. Neben der Rolle des kontrollierend und korrigierend eingreifenden Lehrers kommt den Kursleitern also auch eine gewisse Unterhalterrolle zu. Und auch in diesen Situationen zeigte sich der theatrale Charakter. Durch diese ‚Vorführungen‘ der Leiter, aber insbesondere durch die vielen Übungen und das Einholen von Eindrücken und Feedback liegt der Schwerpunkt der Seminare zur Sprechstimmbildung weniger auf der Fixierung von Wissen, als vielmehr im Vollziehen von Handlungen; sie haben in der Regel also einen stark performativen Charakter. Auch wenn die Kursleiter etwas erklären, schreiben die Teilnehmer nur in seltenen Fällen mit. Viel Zeit wird zudem auf das Durchführen der Übungen sowie die unterschiedlichen Formen des Zusammentragens von Eindrücken und Feedback verwendet. Mit den Skripten wird in den Seminaren häufig gar nicht viel gearbeitet; Ausnahme sind die schriftlichen Verse von Hey. Daneben gibt es gelegentlich einzelne schriftliche Übungsblätter und -materialien. Dadurch entsteht schnell der Eindruck des Flüchtigen; gerade bei Seminaren, die über ein oder zwei Tage gingen, äußerten Teilnehmer oft das Gefühl, durch die Menge an Erfahrungen und Eindrücken den Überblick zu verlieren und alles wieder zu vergessen, was an Übungen gemacht wurde. In Seminaren mit keinem oder kurzen Skript wurde das Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung laut. Allerdings zeigten die Nachfragen der Leiter bei mehrwöchigen Seminaren auch, dass der Großteil der Teilnehmer die Übungen zu Hause nicht noch einmal gemacht hatte, selbst wenn die Übungen im Skript festgehalten waren. Hier zeigte sich wieder das Moment der offensichtlich wenig vorhandenen Motivation, alleine zu Hause zu üben, auf das auch schon bei den Übungsbüchern verwiesen wurde. Die Frage, wie stark die Übungen schriftlich fixiert sind, spielt dabei weniger eine Rolle als vielmehr die strukturelle Setzung eines Übungszeitraums sowie die interaktive Situation. Dies zeigte sich auch beim Einzeltraining mit einer Sprechstimmbildnerin.317 Während die Übungsstunden mit der Lehrerin Spaß machten und innerhalb von einer Stunde bereits spannende Veränderungen mit sich brachten, konnte ich diese Erfahrungen aus den Übungsstunden nicht beim Üben zu Hause reproduzieren oder reaktivieren. Meist schon nach kurzer Zeit verspürte ich wenig Lust mit den Übungen fortzufahren. Und selbst wenn ich ‚dranblieb‘, stellten sich die Erfahrungen aus der Übungsstunde nur selten ein. Anhand dieser Beobachtungen bestätigt sich der Eindruck, dass die institutionelle Einbindung, und damit Fragen von Regelmäßigkeit und Verpflichtung, Einfluss auf die Art des Übens nimmt. Im nächsten Abschnitt wird zudem gezeigt werden, inwiefern das interaktive Setting auch mit affektiven Wirkungen verbunden ist. 317 Dabei handelt es sich um die eingangs in Szene zwei beschriebene Übung mit den Stöcken.

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Die uniformierende Konzeption von Wirkungs- und Bewertungsprozessen in den Seminaren Wie die Beschreibung der in den Sprechstimmbildungsseminaren verwendeten Settings gezeigt hat, unterscheiden sich diese auch darin, wie hier die Wirkung von Stimme und Sprechweise auf ein Gegenüber und damit gleichzeitig auch die Wirksamkeit der Übung selbst in Szene gesetzt wird. Damit einher gehen auch normative Prozesse, die jedoch weniger in der Festlegung absoluter Maßstäbe für die Beurteilung von Stimmen und Sprechweisen bestehen, als in relationalen, auf die Wirkung ausgerichteten Setzungen. Wie bei den unterschiedlichen Settings der Sprechstimmbildungsseminare bereits erwähnt, gab es in den Seminaren immer wieder Momente, in denen die Kursleiter mit der eigenen Stimme ‚ex negativo‘ demonstrierten, wie man sie nicht verwenden, beziehungsweise wie man nicht sprechen soll. Indem die Kursleiter dabei meist stark mit Übertreibung arbeiteten, also beispielsweise extrem nasal sprachen oder ihrer Stimme einen Mickey-Mouse-artigen Klang gaben, war die Abweichung von dem vorherigen ‚normalen‘ Klang oder der ‚normalen‘ Sprechweise des Kursleiters unüberhörbar. Die Differenz zum Bekannten markierte also die ‚Abweichung‘ und etablierte die vorherige Sprechweise gewissermaßen als Norm. Zudem wurde durch das Setting die Aufmerksamkeit auf den jeweilig überzeichneten stimmlichen Aspekt gelenkt. Die – in diesem Falle befremdliche oder belustigende – Wirkung der Stimme und der Sprechweise wird also durch das Setting demonstriert, lässt jedoch durch die Übertreibung und Fokussierung auch keinen einfachen Transfer auf Situationen im Alltag zu. Besonders ausgeprägt wird die Wirkung von Stimme und Sprechweisen, und damit verbunden die Wirksamkeit der Übung, in den Übungseinheiten in Szene gesetzt, in denen Kursteilnehmer einzeln eine Übung vor der Gruppe durchführen und daraufhin der Wirkungseindruck auf die Gruppe abgefragt wird. Durch die ‚vorher-nachher‘-Struktur wird dem ausprobierenden ‚Darsteller‘ sowie der Gruppe der Zuschauer vor Augen und Ohren geführt, wie Maßnahmen der Sprechstimmbildung Stimme und Sprechen beeinflussen können. Dabei können diese Übungen oder Darbietungen eine höchst affizierende Wirkung entfalten: an mir selbst und an den Reaktionen anderer Teilnehmer konnte ich beobachten, dass der Eindruck, der durch einen im Vergleich zum ersten ‚Versuch‘ veränderten Stimmklang oder eine andere Sprechweise erzeugt wird, eine geradezu euphorisierende Wirkung haben konnte. Diese Beschreibung mag überzogen klingen und ich war selbst überrascht, wie stark emotional mich die veränderte Wirkung in manchen Fällen ansprach; dennoch erscheint keine andere Beschreibung passend für diese Erfahrung. Ein starkes emotionales ‚Angesprochensein‘ ließ sich auch bei anderen Teilnehmern beobachten, woraus sich schließen lässt, dass

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diesem Übungssetting eine affizierende Dynamik zu Grunde liegt. Damit setzt es ein Stück weit in Szene, was in den Versprechungen vieler Websites und mancher Übungsbücher anklingt, die dem potenziellen Kunden in Aussicht stellen, dass er in die Lage versetzt wird, mit der Stimme sein Gegenüber zu begeistern. In diesen Momenten schien es tatsächlich möglich zu sein, durch das Üben an der Stimme jener virtuosen Darstellungskompetenz näher zu kommen, die für die Selbstdarstellung in der Performancegesellschaft so wichtig erscheint. Indem das Übungssetting die Wirksamkeit sprechstimmbildnerischer Maßnahmen emotional erfahrbar macht, beglaubigt es sie zugleich und legitimiert sich selbst. Allerdings wiesen die Kursleiter auch darauf hin, dass, um diesen Effekt zu verstetigen, ausdauerndes Üben erforderlich sei. So stark also der Wirkungseindruck ist, der hier hervorgebracht wird, so flüchtig ist er auch. Zudem stellte sich dieser Effekt bei mir keineswegs immer ein und die Reaktionen der anderen Teilnehmer waren ebenfalls keineswegs immer gleich stark ausgeprägt. Am Feedback, das die Teilnehmer gaben, wurde zudem deutlich, dass die Wahrnehmungen und Beurteilungen des Wahrgenommenen durchaus divergieren konnten, man also eigentlich nicht von einer universellen Wirkungsweise der Stimme oder bestimmter Sprechweisen ausgehen kann. Dennoch gab es insbesondere in den Seminaren, in denen ausgiebig mit dem Übungssetting des ‚Vorführens‘ gearbeitet wurde, eine starke Tendenz von Seiten der Kursleiter die Wirkung und Wahrnehmung von Stimme und Sprechweisen als sehr homogen darzustellen.318 Dies begann bereits mit der Art und Weise, mit der die Kursleiter die Wirkungsweisen von Stimme und Sprechweisen beschrieben, ob diese also als eher einheitlich beschrieben wurden oder ob deren Variabilität thematisiert wurde. Zwar wurden in vielen Kursen kulturelle Prägungen erwähnt, abgesehen davon aber in der Regel sehr vereinheitlichte Wahrnehmungsweisen vorausgesetzt. Beim Erfragen von Wirkungseindrücken der Kursteilnehmer, beispielsweise wenn der Kursleiter eine Sprechweise demonstriert oder verschiedene Stimmen und Sprechweisen von einer CD vorgespielt hatte, wurden teilweise die Fragen so gestellt, dass sie bereits bestätigende Antworten nahelegten und man, um einen divergierenden Eindruck zu schildern, dem Kursleiter hätte widerspre318 Daneben gibt es aber auch Seminare, in denen die Disparatheit der Wahrnehmung und Erfahrungen betont wurde und Fragen von Seiten der Kursleitung ergebnisoffen gestellt wurden. Diese Seminare arbeiteten dann in der Regel auch weniger mit dem Übungssetting aus ‚vormachen – beurteilen‘, sondern eher mit Übungen, die von allen Teilnehmern gleichzeitig durchgeführt wurden und in denen es entsprechend stärker auch um die Selbstwahrnehmung ging. Auch bei Äußerungen zu Fremdwahrnehmungen wurde hier stärker hervorgehoben, dass es sich um einen individuellen Eindruck handelt.

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chen müssen. Das kam gelegentlich auch vor, meist blieb die verallgemeinernde Äußerung aber unwidersprochen stehen, ließ sich nur aus den Blicken und kurzen Kommentaren der Teilnehmer eine gewisse Skepsis ablesen. Auch bei den Darbietungen einzelner Kursteilnehmer gab es durchaus divergierendes Feedback, das Anlass hätte geben können, die Einheitlichkeit von Wirkungseindrücken und Bewertungsnormen zu relativieren, ohne dass dies aber von den Kursleitern aufgegriffen worden wäre. Hingegen wurden Divergenzen zwischen der Eigenwahrnehmung der Teilnehmer, die Übungen vortrugen, und der Fremdwahrnehmung durch die anderen Teilnehmer stets akzeptiert. Sie fungieren gewissermaßen auch als Bestätigung für das Übungssetting, da sich an ihnen zeigen lässt, dass die Eigenwahrnehmung von derjenigen eines Gegenübers abweichen kann, man also auch eine Außensicht benötigt, um die eigene Wirkung einzuschätzen. Hier entfalten die Seminare also eine normative Wirkung, die der vereinheitlichenden Tendenz disziplinierender Normen entspricht; dabei zeigt sich jedoch zugleich eine Aporie der auf die Wirkung ausgerichteten Übungssettings, aber auch der normativen Beschreibung von Stimme und Sprechweisen. Auch wenn in den Seminaren Kriterien thematisiert wurden, nach denen man eine Stimme beurteilen kann – meist kamen diese im Feedback der Teilnehmer und der Kursleiter zu Sprache – so handelte es sich dabei immer um Kriterien, die stark von der Wahrnehmung und Beurteilung durch den Zuhörer abhängen, und nicht an absolut gesetzten Normen ausgerichtet werden können.319 Ob eine Stimme als zu hoch oder zu tief empfunden wurde, das Sprechtempo zu schnell oder zu langsam, ein Stimmklang angenehm oder nicht, konnte durchaus divergieren. Häufig schienen die Teilnehmer der Kurse zunächst auch gar kein Vokabular und keinen Maßstab zu haben, um die Darbietungen der anderen Teilnehmer beschreiben zu können. Die Kommentare blieben oft vage und erst durch das ‚vorher-nachher‘-Setting war durch die Differenz eine Beschreibung möglich. Insofern stellen die Sprechstimmbildungsseminare nicht nur eine Schulung der Stimme und des Sprechens dar, sondern auch eine Schulung

319 Im Gegensatz zu den Beschreibungen von Stimme und Sprechweisen, die immer relational blieben, waren die normativen Vorgaben zu Körperhaltung und Atmung wesentlich konkreter. Es wurde also beispielsweise empfohlen, beim Sprechen beide Füße auf den Boden zu stellen und bei der Atmung die Hochatmung zu vermeiden. Sehr häufig wurde daneben das Adjektiv ‚souverän‘ verwendet, um die Wirkung, die man mit der Stimme erzielen möchte oder die ein Teilnehmer erzielt hatte, zu beschreiben. Ein Wirkungsversprechen und gleichzeitig auch eine relationale Wirkungsnorm, die einem auch auf den Websites und in den Übungsbüchern begegnet und zu den zentralen Anforderungen an die Selbstdarstellung im Alltag gehört.

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hinsichtlich von Wahrnehmung und Bewertung320, beziehungsweise fordern die Teilnehmer dazu auf, ihre Höreindrücke zu beschreiben. Folgen die Seminare dabei der Tendenz, die Wirkungseindrücke als homogen darzustellen, tragen sie allerdings weniger zu einer Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung bei als vielmehr zu einer Standardisierung. Aus den Seminare blieb somit der Eindruck, dass die eigene Stimme für die Wirkung, die man auf andere ausübt, wichtig ist, wobei die Normen, an denen man sich orientieren soll eher vage bleiben: es kommt ‚irgendwie‘ darauf an, dass Frauen eher tief und Männer nicht zu hoch sprechen sollen, dass schnell sprechen schlecht und angemessen laut zu sprechen gut ist. Dass die Bewertung darüber von den Wahrnehmungsweisen des Gegenübers abhängt, bleibt unberücksichtigt. Insofern ist in den Übungsseminaren zur Sprechstimmbildung jene Dynamik von nichtobjektivierbaren Evaluierungsprozessen am Wirken, die van Eikels als charakteristisch für die Performancegesellschaft beschrieben hat.321 An den Sprechstimmbildungsseminaren wird dabei deutlich, dass in dieser Dynamik der relationale Charakter normativer Setzungen jedoch nicht thematisiert wird und vielmehr der Eindruck absoluter normativer Maßstäbe bestehen bleibt.

320 Dies zeigte sich auch am Kommentar einer Seminarteilnehmerin, die auf die Frage der Leiterin, ob wir in der Zwischenzeit geübt hätten, antwortete, dass sie zwar nicht an ihrer Stimme geübt habe, aber jetzt immer darauf achte, ob ihre Kollegen beim Sprechen die Füße auf den Boden stellten. Daran zeigt sich zum einen, dass das Seminar hier eher die Beobachtung anderer förderte. Zum anderen ist es bezeichnend, dass sich die Teilnehmerin an eine konkrete normative Vorgabe in Bezug auf die Körperhaltung hielt und nicht auf die weniger klar fassbare Beurteilung von Stimmen und Sprechweisen einließ. 321 Vgl. van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. S. 42.

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Fazit

In der vorliegenden Untersuchung wurden die Diskurse und insbesondere die Übungspraktiken von Sprechstimmbildung im deutschsprachigen Raum in den Blick genommen. Ausgangspunkt war dabei die Beobachtung, dass es gegenwärtig zahlreiche Angebote zur Sprechstimmbildung gibt, die sich an eine breit gefächerte Zielgruppe richten – sei es in der Form von Übungsbüchern, als Gruppenseminare oder Einzeltrainings. Mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigte sich zudem, dass die Sprechstimme und ihre Formung bereits seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts verstärkte Aufmerksamkeit erhielt – eine Entwicklung, die mit dem Zweiten Weltkrieg zunächst endete. Für beide Phasen ließen sich intensive Wechselbeziehungen und Bezüge zwischen dem Bereich des Theaters und der Sprechstimmbildung ‚für alle‘ herausarbeiten, die jedoch nicht nur in Austauschprozessen, sondern auch in Abgrenzungsbewegungen bestehen. Indem diese beiden ‚Hochphasen‘ der Sprechstimmbildung in ihren Übungspraktiken und deren institutioneller Verankerung sowie in Hinblick auf die sie bestimmenden normativen Mechanismen und Dynamiken untersucht wurden, wurde deutlich, dass die gegenwärtige Sprechstimmbildung von den historischen Ausprägungen der Sprechstimmbildung nach wie vor beeinflusst ist. Dies zeigt sich in der Fortsetzung der Bemühungen um eine Aussprachekodifizierung des Deutschen sowie der körperlich-physiologischen Ausrichtung und Strukturierung der Übungsprogramme in den gegenwärtigen Ratgebern. Auch die Neuauflagen des „Kleinen Heys“ sowie die Verwendung der Hey’schen Übungsverse in Seminaren zur Sprechstimmbildung verweisen auf die Traditionslinien, die in diesem Bereich bestehen. Es wurde gezeigt, dass normative Mechanismen der Disziplinierung auch heute noch wirksam sind, etwa in der starken Standardisierung der Ratgeber sowie deren stark vereinheitlichender Konzeptionierung von Wirkungs- und Bewertungsprozessen zwischen Sprechern und ihren Zuhörern. Hier ließen sich die von McKenzie beschriebenen Diversifizierungsdynamiken

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der Performancegesellschaft ebenso wenig beobachten wie in den Konzeptionen von Subjektivität, die die gegenwärtigen praxisorientierten Diskurse der Sprechstimmbildung entwerfen: die Stimme wird meist als Ausdruck einer ‚Person‘ oder von ‚Persönlichkeit‘ gesehen und mit Erwartungen an deren ‚Authentizität‘ und ‚Natürlichkeit‘ verknüpft. Der Ausgangspunkt der Sprechstimmbildung, Stimme und Sprechweisen als modifizierbar zu verstehen und nicht als determinierte Einheit, wird in diesen Subjektivitätsentwürfen nicht berücksichtigt. Zudem scheint der instrumentelle Charakter der Stimme, der durchaus thematisiert wird, in seinem Potential entkräftet oder eingeschränkt werden zu müssen. Darin wird auch deutlich, dass der Transfer einer Ausbildungstechnik für Schauspieler in den allgemeinen Bereich sozialer Interaktion in Hinblick auf Fragen der Subjektbildung zu Spannungen führt, die mit der Forderung nach Ehrlichkeit und der Warnung vor Verstellung einhergehen. Mit diesen Vorstellungen verweist der Diskurs der gegenwärtigen Sprechstimmbildung zudem auf die rhetorikkritischen und theaterfeindlichen Diskurse des 18. Jahrhunderts um Natürlichkeit und Verstellung. In beiden fungiert der Schauspieler mit Blick auf die Alltagskommunikation als negativer Bezugspunkt. Auch in der ersten Hochphase der Sprechstimmbildung lassen sich Abgrenzungen vom Bereich des Theaters beobachten. Die Forderung nach einem natürlichen Sprechstil bezieht sich hier jedoch stärker auf die Ablehnung einer gekünstelten Wirkung, weniger auf die Frage nach Verstellung oder Ehrlichkeit der Person. Zudem kommt es zu Abgrenzungsbewegungen im institutionellen Bereich, die das Fach ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ inhaltlich positionieren sollen und zudem der Sorge um zu wenig Stellen geschuldet sind. Zugleich sind jedoch in beiden Phasen die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen dem Theater und der Sprechstimmbildung für eine breite Zielgruppe signifikant und die beschriebenen Vorbehalte verhindern weder einen Transfer der Übungsmethodiken noch die Arbeit von Schauspielern und Sängern als Sprechstimmbildungslehrer. Neben der Kontinuität bestimmter Aspekte von Sprechstimmbildung zwischen der ersten und zweiten Phase, in der disziplinierende Mechanismen fortbestehen, ließ sich umgekehrt auch beobachten, dass Sprechstimmbildung in ihrer institutionell-strukturellen Verortung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits Merkmale aufweist, wie sie für die gegenwärtigen Dynamiken der Performancegesellschaft charakteristisch sind. Im Gegensatz zu diesen gab es allerdings stark ausgeprägte Bemühungen, Stimme und Sprechen in disziplinierende Strukturen einzugliedern. Sprechstimmbildung erlangte über die Fachetablierung der ‚Sprechkunde/Sprecherziehung‘ eine gewisse Institutionalisierung und es gab intensive Bemühungen Sprechstimmbildung in die Strukturen der Disziplinarinstitutionen einzuschreiben und nach disziplinierenden Maßstäben zu orga-

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nisieren: so wurde Sprecherziehung in den Richtlinien für die Lehrpläne verankert und sie sollte in die Ausbildung der Lehrer integriert werden – ein Anliegen, das neben der universitären Sprechkunde auch der Engel-Verein vertrat. Der Bereich der frei arbeitenden Sprechstimmbildner sollte durch die Gründung des ‚Deutschen Ausschusses für Sprechkunde und Sprecherziehung‘ (DAfSuS) und eine Prüfung für Sprecherzieher standardisiert und reguliert werden. Diesen Bemühungen war jedoch kein umfassender Erfolg beschieden, so dass die Angebote meist auf freiwilliger Basis blieben und ihnen die von Foucault beschriebenen Merkmale von „Zwang“ und „Stetigkeit“ fehlten. Die in den 1920er Jahren in der Schule angestrebte Umsetzung der Richtlinien für die Lehrpläne blieb aus und die in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgte verstärkte Einschreibung in die Schullehrpläne wurde schließlich vom Krieg unterbrochen. Die von Thomas Alkemeyer beschriebene Organisation von Körperpraktiken durch den Staat1 lässt sich für die Sprechstimmbildung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts somit nur als Zielsetzung und Ausrichtung beschreiben; in ihrer tatsächlich erfolgten institutionellen Verankerung verweist die Sprechstimmbildung dieser Zeit bereits auf die gegenwärtige Situation voraus, in der sich diese Ausprägungen jedoch noch einmal verstärken: Sprechstimmbildung ist vorwiegend im Bereich der Weiterbildung und Selbstoptimierungsmaßnahmen angesiedelt und ist damit Teil eines lebenslangen Lernprozesses, der nicht an klar abgegrenzte Ausbildungsphasen gebunden ist. Dies entspricht den Dynamiken der Performancegesellschaft, in der sich institutionelle Grenzen und die klare Abgrenzung von Lebensphasen zunehmend auflösen. Darüber hinaus wurde gezeigt, wie die gegenwärtigen Angebote der Sprechstimmbildung insbesondere auch von den ökonomischen Dynamiken der Performancegesellschaft geprägt sind. Dies zeigte sich sowohl in ihrer strukturellen Ausrichtung, als auch in ihren inhaltlichen Konzeptionen: So soll Sprechstimmbildung den beruflichen Erfolg unterstützen und erfasst zugleich die ganze Person. Körperwahrnehmung und Leistungssteigerung, Selbsterfahrung und Selbstoptimierung sind nicht mehr voneinander zu trennen; der Bereich des Sozialen verschmilzt mit dem des Ökonomischen. Als Charakteristikum der Performancegesellschaft können zudem die, insbesondere auf den Websites von Stimmtrainern entworfenen Szenarien alltäglicher Virtuosität verstanden werden, in denen die Wirkungsmacht der Stimme als affizierend und der Sprecher als souverän beschrieben werden. Es lassen sich im Bereich der Sprechstimmbildung in der ersten Hochphase vom ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aber auch Wirkungsweisen disziplinierender Mechanismen beobachten, die sich weniger ambivalent darstellen als im Bereich der institutionellen Umsetzung. So wurde an der Aus1

Vgl. Kapitel eins sowie Alkemeyer: Aufrecht und biegsam. S. 16.

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sprachekodifizierung durch Theodor Siebs herausgearbeitet, wie sich hier die Wirkungsweise disziplinierender Normen entfaltete, indem eine strikte, variantenarme Höchstnorm für die Aussprache festgeschrieben wurde, auf die einerseits alles Sprechen auszurichten ist, von der ausgehend andererseits aber auch Abweichungen und Abstufungen beschrieben werden können. Das Normierungsinteresse richtet sich auf die einzelnen Sprachlaute, wie auch die frühen Übungsansätze einen synthetischen Übungsansatz verfolgen, der das Sprechen aus den einzelnen Lauten zusammensetzt. In den Aussprachekodifizierungen der Gegenwart zeigt sich hingegen ein veränderter Normierungsansatz, der von einer variantenreicheren und gebrauchsnäheren Norm ausgeht. Die Bühnenaussprache verliert ihren Stellenwert als Normierungsgrundlage und Höchstnorm, der ihr im ‚Siebs‘ zukam. Zudem wird der umfassende Geltungsanspruch der Aussprachenorm relativiert und stärker von den Belangen des jeweiligen Sprechers abhängig gemacht. In der Gegenwart zeigt sich hinsichtlich des Geltungsanspruchs von Aussprachenormen also ein heterogenes Bild: einerseits erscheinen diese Normen nicht als obsolet, andererseits lässt sich kein situationsunabhängiger Geltungsanspruch mehr behaupten. Hier greifen die Dynamiken der Performancegesellschaft, in denen zunehmend unklar wird, welche normativen Erwartungen jeweils gelten. Entsprechend erhält auch die Frage der Lautungsnorm in den Übungsbüchern und Seminaren sehr unterschiedliches Gewicht. Im Hinblick auf die Übungspraktiken wurde gezeigt, dass viele der gegenwärtigen Übungsbücher in ihrer methodischen Ausrichtung und der Strukturierung ihres Übungsprogrammes starke Gemeinsamkeiten mit den frühen Übungsbüchern aufweisen und dabei eine Standardisierungstendenz zeigen, die noch einmal als Zuspitzung der disziplinierenden Ansätze der frühen Bücher gelten kann. Neben diesen standardisierten Ratgebern zeigte sich am Beispiel des Schürmann’schen Übungsbuchs eine Tendenz zur Auflösung eines stringenten Übungsprogrammes. Indem es den experimentellen und variablen Charakter der Übungen betont, kann es als ein Hinweis darauf gesehen werden, wie sich die disziplinierende Form der Übung in den Dynamiken der Performancegesellschaft verändern könnte. In der Ausrichtung auf ein eigenständiges Arbeiten mit dem Buch, das durch elektronische Medien gegebenenfalls ergänzt wird, sind die Übungsbücher Teil einer ‚privatisierten‘ Übungspraxis: wie beschrieben wurde, zeichnet sich diese dadurch aus, dass auch die institutionell verankerten Angebote, etwa die Seminare an Volkshochschulen, eine recht kurze Dauer haben und damit eher punktuell sind. Die Verantwortung für ein kontinuierliches Üben wird damit dem Einzelnen überlassen und nicht institutionell-strukturell unterstützt, so dass die hohe Standardisierung und der normative Charakter vieler Übungsbücher auch als ‚Reaktion‘ auf diese Tendenz verstanden werden können, indem

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dem weitgehend auf sich gestellten Übenden eine möglichst klare und eindeutige Struktur an die Hand gegeben wird. Für die Übungspraxis in den Seminarangeboten bedeutet das, dass es weniger um die Verstetigung von Übungserfolgen geht; vielmehr weisen die Übungssettings teilweise einen stark theatralen Charakter auf. Statt um Nachhaltigkeit geht es hier vielmehr darum, die Wirkung von Stimme und Sprechweisen vor Augen und Ohren zu führen und damit zugleich die Wirksamkeit der sprechstimmbildnerischen Übung selbst in Szene zu setzen und so auch zu legitimieren. In der Selbsterprobung der unterschiedlichen Übungspraktiken der Sprechstimmbildung, die in den Szenen am Anfang der Arbeit geschildert wurden, wurde zudem deutlich, wie stark der kommunikative Aspekt des Übungssettings Einfluss auf die Motivation des Übenden nehmen kann. Wie an dieser Untersuchung deutlich wurde, stellt die Arbeit an der Stimme und dem Sprechen nicht einfach nur eine Praxis dar, mit der man – je nach Ansatz – Einfluss auf körperliche oder körperlich-mentale Prozesse nimmt. Sie ist eingebunden in die normativen Dynamiken der jeweiligen Gesellschaftsformation, wobei auch deutlich wurde, dass deren Wirkprinzipien teilweise nicht so strikt voneinander zu trennen sind, wie es die Analysen Foucaults und McKenzies nahelegen. Es gibt Phänomene und Entwicklungen, die nicht vollständig in den Beschreibungen dieser Gesellschaftsmatrices aufgehen, sondern an denen sich vielmehr Überlagerungen und Kontinuitäten aufzeigen lassen. Dieser Befund kann Anregung dafür sein, die Beziehungen und Entwicklungen zwischen disziplinierenden Mechanismen und dem Performanceprinzip differenzierter zu untersuchen. Dennoch ließen sich ausgehend von den beiden Gesellschaftsanalysen unterschiedliche Zuschreibungen und Erwartungen herausarbeiten, die sich mit der Formung der Stimme und des Sprechens verbinden. Tendenziell gab es in der ersten ‚Hochphase‘ der Sprechstimmbildung ein starkes Interesse, das Sprechen an einheitlichen Normen auszurichten und über eine breit ausgerichtete strukturelle Verankerung möglichst viele Individuen mit diesen Uniformierungstendenzen zu erfassen – auch wenn eine umfassende Umsetzung nicht erfolgte. In der Gegenwart verbindet sich mit Praktiken der Sprechstimmbildung das Versprechen für den Einzelnen, den Anforderungen an soziale Interaktion genügen zu können, die sich in der Performancegesellschaft oft genug als schwer vorhersehbar gestalten. Um in diesen Dynamiken zu bestehen, erscheinen die Stimme und das Sprechen als wichtige Faktoren alltäglicher Selbstdarstellung. Die Sprechstimmbildung erscheint dabei als eine vielschichtige Praxis, die für die handelnden Subjekte einerseits mehr Handlungsmacht verspricht, zugleich jedoch auch selbst normative Wirkung entfaltet.

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Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Andreas Englhart

Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3

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Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

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