Gutes Leben auf dem Land?: Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 9783839454251

In Zeiten einer global fortschreitenden Urbanisierung der Lebenswelten gewinnen Imaginationen und Projektionen eines gut

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German Pages 632 Year 2020

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Inhalt
Der Topos vom guten Leben auf dem Land
Konzeptionen
Gut abhängen oder längst abgehängt?
Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land
Gutes Leben in der Uckermark – intermedial
Sehnsuchtsort Natur
Rural Criticism
Provinz, Dorf, Heimat oder Warum ich neuerdings so oft eingeladen werde
Imaginationen I
Freiheit als Kern der Idylle
Das gelobte Land
Von der lieben Heimat plaudern
Zwischen Postkarten-Idyll und Kriegsschauplatz
Das gute Leben kommt noch
Dorf/Stadt erzählen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Im Dorf
Imaginationen II
Dorfgeschichten, Globalisierung und gutesLeben auf dem Land
Die Figur des Landarztes im Medienvergleich
»Bestimmungsoffenheit«
Es heimatet sehr
There is no Love in the Heart of the City
Wie ich zur Expertin fürs Landleben wurde
Projektionen
Konkurrierende Ländlichkeiten
»Ich glaube, wir müßten anders leben.Ganz anders.«
Júzcar
Der Bauernhof als Idyll
Anreiz und Anspruch
Das gute Leben auf dem Land – oder in der Stadt?
Stadt, Land, Landschaft
Autorinnen und Autoren
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Gutes Leben auf dem Land?: Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
 9783839454251

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Werner Nell, Marc Weiland (Hg.) Gutes Leben auf dem Land?

Rurale Topografien  | Band 12

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Kerstin Gothe (Karlsruhe), Ulf Hahne (Kassel), Dietlind Hüchtker (Wien), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg) und Marcus Twellmann (Konstanz) Werner Nell (Prof. Dr.) ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Kanada). Marc Weiland (Dr. phil.) ist Koordinator des Forschungsprojekts »Experimentierfeld Dorf« und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar.

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Anke Tornow Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5425-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5425-1 https://doi.org/10.14361/9783839454251 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Der Topos vom guten Leben auf dem Land. Geschichte und Gegenwart

Werner Nell, Marc Weiland | 9 ⁎⁎⁎

KONZEPTIONEN Gut abhängen oder längst abgehängt? Perspektiven ländlicher Räume in der globalen Transformation

Ulf Hahne | 77 Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter der Bevölkerung ländlicher Räume

Joachim Kreis | 105 Gutes Leben in der Uckermark – intermedial. Gegenwärtige Narrative des Provinzerzählens und ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion

Christian Hißnauer, Claudia Stockinger | 141 Sehnsuchtsort Natur. Von Ralph Waldo Emerson bis Peter Wohlleben: Schreiben über Natur in den USA und in Deutschland

Peter Braun, Caroline Rosenthal | 167 Rural Criticism. Oder: welche Erzählungen über das Drama des ländlichen Raums brauchen wir dringend? Ein Plädoyer

Barbara Piatti, Thomas Streifeneder | 199 ⁎⁎⁎ Provinz, Dorf, Heimat oder Warum ich neuerdings so oft eingeladen werde. Kleine Diskursgeschichte aus dem Kulturbetrieb

Andreas Maier | 239 ⁎⁎⁎

I MAGINATIONEN I Freiheit als Kern der Idylle. Daseinszustände im Vergleich in Johann Heinrich Voß’ Die Leibeigenschaft

Felix Knode | 255 Das gelobte Land. Ökonomie und Ruralität in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre

Marcel Krings | 271 Von der lieben Heimat plaudern. Karl Mays Volkserziehung zwischen Erzgebirge und Wildem Westen

Thorsten Carstensen | 285 Zwischen Postkarten-Idyll und Kriegsschauplatz. Fontanes deutsch-amerikanisches Dorf-Panorama Quitt im Kontext seiner Zeit

Klara Schubenz | 309 Das gute Leben kommt noch. Dorfgeschichte und Geschichtsdiskurs in der Literatur der frühen DDR: politisch-poetische Allianzen bei Jurij Brězan

Norman Kasper | 323 Dorf/Stadt erzählen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Am Beispiel von Jan Brandts Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt (2019) und Matthias Nawrats Der traurige Gast (2019)

Natalie Moser, Ulrike Schneider | 341 ⁎⁎⁎ Im Dorf

Katharina Hacker | 367 ⁎⁎⁎

I MAGINATIONEN II Dorfgeschichten, Globalisierung und gutes Leben auf dem Land. Dorf und Welt in der deutschsprachigen Landlebenliteratur von Berthold Auerbach zu Juli Zeh

Hendrik Nolde | 377 Die Figur des Landarztes im Medienvergleich. Von der Novelle bis zum Groschenroman

Jonas Nesselhauf | 393 »Bestimmungsoffenheit«. Franz Michael Felder und seine Leser (von Hildebrand über Rosegger bis Handke)

Jürgen Thaler | 411 Es heimatet sehr. 125 Jahre Heimatfilm

Alexandra Ludewig | 427 There is no Love in the Heart of the City. Stadtflucht als Paradigma des kontemporären Zombie -Narrativs

Janwillem Dubil | 445 ⁎⁎⁎ Wie ich zur Expertin fürs Landleben wurde – und was ich dabei lernte

Alina Herbing | 463 ⁎⁎⁎

P ROJEKTIONEN Konkurrierende Ländlichkeiten. Idealisierende und problematisierende Ländlichkeitskonstruktionen zwischen diskursiver Stabilisierung und Dynamisierung

Marcus Heinz, Jens Reda | 475

»Ich glaube, wir müßten anders leben. Ganz anders.« (Literarische) Imaginationen eines ›anderen‹ Lebens auf dem Land in der Künstlerkolonie Drispeth (DDR)

Johanna Steiner | 507 Júzcar. Auswirkung medialer Impulse auf ein Dorf und seine Entwicklung

Gregor Arnold, Julia van Lessen | 519 Der Bauernhof als Idyll. Imaginationen und Realitäten im Kontext von sozialen Angeboten für alte Menschen auf landwirtschaftlichen Betrieben

Claudia Busch, Antje Römhild | 537 Anreiz und Anspruch. Ländliches in der Lebensmittelbranche – ein Streifzug durch die Praxis regionaler Vermarktung

Heike Zeller | 553 Das gute Leben auf dem Land – oder in der Stadt? Raumsemantiken im Kontext von Urbanität, Ruralität und Rurbanität

Marc Redepenning | 575 ⁎⁎⁎ Stadt, Land, Landschaft. Ein Essay über Gegenwart und Zukunft ländlicher Räume

Marta Doehler-Behzadi | 593 ⁎⁎⁎ Autorinnen und Autoren | 621

Der Topos vom guten Leben auf dem Land Geschichte und Gegenwart W ERNER N ELL , M ARC W EILAND

»K OMM ! INS O FFENE , F REUND !« Wer sich auf die Suche nach dem guten Leben macht, der findet es in der europäischen Geistes-, Kultur- und Literaturgeschichte immer wieder – d.h.: durch die Jahrhunderte und gar Jahrtausende hindurch – auf dem Land. Hier (bzw.: dort) wurden und werden, je nach historischem Kontext, zentrale zeitgenössische Versprechen von Glück und Gelingen räumlich vorgestellt und mitunter auch in Raum überführt. Der Gang – oder wahlweise auch: die Fahrt – aufs Land markiert dabei zumindest zweierlei. Zum einen: die Abhebung und Differenzsetzung zur jeweils eigenen räumlichen (historischen und sozialen) Position derjenigen, die diesen (imaginären und/oder realen) Ausflug unternehmen; sei er nun zu Fuß, mit der Kutsche, dem Automobil oder auf den Wegen der Vorstellungskraft. Zum anderen: die mit diesem imaginären und/oder realen Ausflug verbundene Aufforderung, die Formen und Praktiken des eigenen Lebens (zumindest zeitweise) zu ändern und in eine alternative Praxis, eine andere Lebensform zu überführen. Die Imaginationen eines guten Lebens auf dem Land streben immer wieder nach ihrer konkreten Realisierung, der sie als Vorbild und Muster dienen (wollen). Als ein besonders schillerndes und wiederholt herangezogenes Beispiel kann Friedrich Hölderlins wohl unvollendet gebliebene elegische Dichtung DER GANG AUFS LAND (Hölderlin 1969: 109f.), entstanden im Jahr 1801 und unterschrieben mit »An Landauer«, gesehen werden. Bereits in deren ersten Worten, der berühmten Aufforderung »Komm! ins Offene, Freund!«, zeigt sich ein doppelter Fokus – gerichtet zum einen in die offene Weite des Landes (sowie, damit korrespondierend, des Geistes) und zum anderen auf die freundschaftliche Verbundenheit mit einem Gegenüber (sowie, daraus hervorgehend, der Menschen untereinander). In Hölderlins pathetisch und idealistisch überhöhtem Republikanismus bilden Natur

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und Gemeinschaft, Sinnlichkeit und Verstand, Himmel und Erde, Physisches und Metaphysisches, Konkretheit und Abstraktion die miteinander verbundenen Pole der hier dichterisch imaginierten Landpartie, die den Menschen als Teil all dessen setzt und in die Offenheit – des Landes wie des Selbst – weist. Der Text nimmt im weiteren Verlauf seine Leserschaft, die sich ebenfalls direkt angesprochen fühlen darf, mit auf diesen gleichermaßen das Physische und Metaphysische vermessenden Gang ins Offene, der zunächst einmal hinausführt aus einer doppelten Beengung: der trüben Atmosphäre (»eng schließet der Himmel uns ein«) einerseits und der Verlassenheit der Stadt (»es schlummern die Gäng und Gassen«) andererseits – beiderseits Sinnbild einer auch in den historischen und politischen Umständen erfahrenen »bleiernen Zeit«, in die sich das lyrische Ich versetzt fühlt und der es zu entkommen gilt. Dies ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Sowohl das abstrahierende Imaginieren als auch das konkretisierende Aufsuchen – »solcher Reden« und ebenso auch solcher »Schritt’« – ist mit einer gewissen »Mühe« des Aufstiegs, denn es geht vom Tal in die Höhe, verbunden; und doch wird sie belohnt, dessen ist sich der verkündende Sprecher nicht zuletzt in seinem Glauben an ein metaphysisches Obdach, vielleicht auch ein historisches Telos, gewiss. Dort »droben« über dem Tale findet sich, so seine Vorstellung und Hoffnung, ein Natur und Kultur verbindendes Idealbild, ein Platz »[w]o den Gästen das Haus baut der verständige Wirt« – und zwar mit bestimmtem Ziel, auf das das Wollen der im Reden und Gehen Voranschreitenden gerichtet ist; ein Ziel, »wie das Herz es wünscht« und wie es zugleich »dem Geiste gemäß« ist. Und das gilt für alle Menschen, die sich auf den Weg dorthin machen: »Dass sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes«. Hölderlins Dichtung – gleichermaßen romantisch-idealistische Überhöhung der Natur und poetische Reaktion auf die sich, zumal durch die Französische Revolution, abzeichnende Moderne (vgl. dazu Vietta/Kemper 1998) – steht weder am Beginn noch am Ende der Geschichte eines literarisch und lebensweltlich immer wieder genutzten und fortgeschriebenen Topos. Sie nimmt Motive und Elemente auf, die das Bild vom guten Leben auf dem Land bis dato geprägt haben und auch weiter prägen sollten. Aber sie blendet zugleich auch andere aus; in seiner physisch-metaphysischen Ausrichtung auf »des Himmels Blüte« entgehen »dem offenen Blick«, der sich auf die Natur als Landschaft richtet, etwa Fragen nach Besitz und Bearbeitung des Landes ebenso wie Bedrohungen durch unwirtliche oder gefährliche Umstände, seien dies nun Unwetter und Naturkatastrophen, von Menschen zerstörte Landschaften oder damit verbundene Gewalterfahrungen. Dieses Wechselspiel aus Einblendung und Ausblendung realitätsbezogener Elemente und Befunde kann als konstitutiv für die Bilder und Narrative eines guten Lebens auf dem Land angesehen werden. Sie lassen sich durch die Zeiten und Räume hindurch in den unterschiedlichsten medialen Gattungen und Genres verfolgen und wiederfinden.

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Die Imaginationen des guten Lebens auf dem Land mitsamt ihren unterschiedlichen Realisierungsversuchen haben eine ebenso lange und ambivalente Geschichte wie die auf beides, Imagination und Realisation des Landlebens, bezogene Kritik. In unterschiedlichen historischen Phasen und soziokulturellen Kontexten finden sich in diesen Bildern und Narrativen immer auch spezifische Wahrnehmungsweisen und (Wert-)Vorstellungen, die als Ausdruck kultureller, sozialer und individueller Selbstverständnisse und Erfahrungen zu verstehen sind und die zugleich das Leben in den jeweiligen gesellschaftlichen Räumen nicht nur abbilden, sondern auch konstituieren und ordnen, erhalten oder aber verändern sollen – und dadurch dann mitunter auch die ganze Gesellschaft. Gerade in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit ist medienübergreifend und gesamtgesellschaftlich erneut ein gesteigertes Interesse am Land- und Dorfleben festzustellen.1 Bilder und Narrative eines guten wie auch schlechten Lebens auf dem Land haben aktuell wieder Konjunktur und werden in hohen Auflagen und mit großen Reichweiten produziert und rezipiert. Literaturen und Filme, Fernsehsendungen und Features, Zeitungen und Magazine, Blogs und Bilder, Computerspiele und Kunstwerke, politische Diskussionen und wissenschaftliche Studien, architektonische Entwürfe und siedlungsstrukturelle Planungen verhandeln gegenwärtig mit je unterschiedlichen Mitteln über den aktuellen Status und die zukünftigen Entwicklungen ländlicher Räume und entwerfen ein neues – das heißt gegebenenfalls auch: alternatives, nachhaltiges und/oder ›glückliches‹ (oder aber: dessen Gegenteil) – Leben auf und mit dem Land. Nicht zuletzt in diesen Zusammenhängen werden Topoi des Ländlichen aufgenommen und angeeignet, die sich auch aus verschiedenen geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen ergeben und jeweils spezifisch gegenwartsorientierte Funktionen übernehmen. Von den diversen Spielarten ländlicher Idyllik und ›Gebrauchsliteratur‹, die beiderseits bis in die antiken Formen der Bukolik und Georgik zurückreichen und dann unter anderem in frühneuzeitlichen Schäferromanen, Hirtendichtungen und Pastoralen weiter fortgeschrieben und zusammengeführt werden, auch in der im 17. Jahrhundert neu einsetzenden ›realistischen‹ Landschaftsmalerei der Niederländischen Schule ihren Ausdruck finden, über die im 19. Jahrhundert neu entstehenden medialen Formen der Genremalerei, Dorfgeschichte und Ansichtskarte bis hin zum Heimatfilm, Landlust-Magazin und Erlebnisdorf unserer Tage: Die Themen, Stoffe und Motive ebenso wie die spezifischen Formen des Erzählens vom guten Leben

1

Das zeigt sich nicht zuletzt auf dem Literaturmarkt und im Kulturbetrieb. Siehe dazu im vorliegenden Band die Essays von Andreas Maier, Katharina Hacker und Alina Herbing, die aus ihrer jeweiligen Perspektive unterschiedliche Dimensionen der gegenwärtig wahrnehmbaren sozialen und kulturellen Lust am Landleben ergründen und ins Verhältnis zu ihrem eigenen Schreiben und Leben setzen.

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auf dem Land werden gleichermaßen in Auseinandersetzung mit der überlieferten Tradition fortgeführt und doch auch an die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen zeitgenössischen Kontexts angepasst. Schaut man auf die jüngere Vergangenheit und Gegenwart, so ist die Aktualität dieser Bilder und Narrative des Ländlichen einerseits im Zusammenhang längerfristiger Transformationen menschlicher Lebenswelten,2 bspw. im Zuge voranschreitender Modernisierungsprozesse sowie den damit verbundenen Anforderungen und Überforderungen, zu sehen und zu verstehen; und doch erlangen sie andererseits insbesondere auch angesichts plötzlich auftretender sozialer Erschütterungen durch Krisen (man denke jüngst nur an die medialen Schlagwörter der sog. ›Finanzmarktkrise‹, ›Flüchtlingskrise‹, ›Klimakrise‹ oder ›Coronakrise‹) jeweils neue Aufmerksamkeit und Attraktivität. Dies gilt nicht nur für künstlerische Produktionen3 und alltagsweltliche Diskussionen, sondern auch für die akademischen Diskurse unterschiedlicher raum-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen. So verortet etwa Claudia Stockinger in der Einleitung zu einem Themenheft der ZEITSCHRIFT FÜR GERMANISTIK mit dem Titel PROVINZ ERZÄHLEN das neu entstandene literaturwissenschaftliche Interesse4 vor vier Hintergründen (vgl. Stockinger 2020: 296ff.).

2

Für die ökonomische und soziale Seite dieser Umwälzung vgl. noch immer Karl Polanyis 1944 erschienene THE GREAT TRANSFORMATION (Polanyi 1978).

3

Für aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen siehe etwa den Ausstellungskatalog ÜBER LEBEN AM LAND aus dem Jahr 2019 sowie die Analysen und Überblicke in Polzer (2013), Kersten (2018) und Ruby (2019).

4

Dieses zeigt sich in der Vielzahl an neueren Buchpublikationen zu spezifischen Erzählformen des Ländlichen, so z.B. zur Dorfgeschichte (Twellmann 2019a, Nell/Weiland 2014), zur Idylle (Jablonski 2019, Gerstner/Riedel 2018, Ananka/Marszałek 2018) und zur Kleinstadtliteratur (Nell/Weiland 2020). Ein ebensolches gesteigertes Interesse kann man mittlerweile auch in der soziologischen Thematisierung des Dorfes beobachten; und zwar nur einige Jahre nachdem die Agrarsoziologie bereits mehr oder minder an ihr Ende gelangt war, da ihr im Zuge umfassender Urbanisierungsprozesse ihre primären Gegenstandsbereiche und Konzepte verloren gegangen waren (vgl. Barlösius 1995). So beschäftigt sich etwa ein neuerer Band (Steinführer et al. 2019) mit dem Dorf; wobei insbesondere die Einleitung einen breiten Überblick über Geschichte, Begriffe und Methoden sozialwissenschaftlicher Dorfforschung vermittelt (Laschewski et al. 2019). Sie konstatiert schließlich, dass sich das Dorf »in eine lange Ideengeschichte politischen Veränderungswillens und alternativer Projekte der Raumaneignung einordnen lässt.« (Ebd.: 38) Diese Ideengeschichte zeigt auch, dass das Dorf immer wieder als »Ort des Sich-Ausprobierens und besonderer experimenteller Freiräume« (Ebd.: 36) verstanden wurde (siehe dazu für das 20. Jahrhundert z.B. Paulus 2018). Solche Vorstellungen stehen und standen nicht zuletzt in Verbindung zu Imaginationen eines guten Lebens, die im überschaubaren Sozial-

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Demzufolge reagiere die literaturwissenschaftliche Forschung, zum Ersten, auf »Effekte fundamentaler ökonomischer Veränderungen« (ebd.: 296), wozu etwa Migrationsbewegungen und ökologischer Wandel gehörten. Zum Zweiten vollziehe sie immer wieder Auseinandersetzungen mit und Neujustierungen von traditionellen Dichotomien wie z.B. derjenigen von Stadt und Land, die einerseits durch Hybridbegriffe wie etwa ›Glokalisierung‹, ›Rurbanisierung‹, ›Zwischenstadt‹ und ›Stadtland‹,5 die allesamt auf die Verbindungen und Verschränkungen von Stadt und Land abzielen, ersetzt werden, andererseits aber doch auch immer wieder, bspw. in politischen Diskursen, als Dichotomien neu aufleben (ebd.: 296f.).6 Zum Dritten beobachte die Forschung in aktuellen Diskursen und Praktiken eine Wiederaufnahme von Elementen der bis in die Antike zurückreichenden Landlebenliteratur bzw. idyllischer Topoi (ebd.: 297). Zum Vierten schließlich verfolge sie die regelmäßigen Konjunkturen der Dorf-Erzählungen sowie die diskursiven Auseinandersetzungen (bspw. durch die Literaturkritik) mit ihnen (ebd.: 298).7

raum realisierbar erscheinen. Daneben finden sich weitere neuere Arbeiten zum Ländlichen u.a. aus den Perspektiven der Geographie (Bätzing 2020; Mießner/Naumann 2019; Baumann 2018), Geschichte (Troßbach/Zimmermann 2006), Volkskunde (Trummer/ Decker 2020), Landschaftsarchitektur und -planung (Carlow 2016) sowie schließlich auch mehrere interdisziplinär angelegte Bände (Nell/Weiland 2019; Langner/FrölichKulik 2018; Marszałek/Nell/Weiland 2018a). 5

Vgl. in dieser begrifflichen Reihe die Ansätze von Robertson (1998), Langner/Frölich-

6

Vgl. dazu etwa die Wiederkehr der Stadt-Land-Differenz als Erklärungsmuster für die

Kulik (2018), Sieverts (2013) sowie der Internationalen Bauausstellung Thüringen. Entstehung gesellschaftlicher Polarisierung, wie sie sich bei Goodhart (2017) in der Unterscheidung zweier neuer sozialer Klassen und Lebensformen wiederfindet: derjenigen der (nicht nur urbanen) ›Anywheres‹, die relativ ortsungebunden und kosmopolitisch ausgerichtet beständig mobil sind und nahezu überall ihr Leben führen, einerseits und derjenigen der (nicht nur ruralen) ›Somewheres‹, die ortsgebunden an einer mehr oder minder homogenen und konstanten personalen wie kollektiven Identität hängen und Veränderungen als Gefahren sehen, andererseits. Dass Stadt-Land-Divergenzen aufs Neue in Politik und politischer Wissenschaft eine Rolle spielen, lässt sich nicht nur an aktuellen Studien und Zeitschriften ablesen, siehe etwa APU Z 37 (2006) und APUZ 46/47 (2016), sondern auch an der breiten Resonanz, die diesbezüglich aktuelle Sachbücher finden, siehe etwa Manow (2018) und Rodden (2019). 7

Lediglich ein aktuelles Beispiel, das für viele weitere steht und den Erfolg von Imaginationen des Ländlichen bei der Literaturkritik vor Augen führt: Auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 finden sich mit DIE INFANTIN TRÄGT DEN SCHEITEL LINKS von Helena Adler, SERPENTINEN von Bov Bjerg, GOLDENE JAHRE von Arno Camenisch, DER HALBBART von Charles Lewinsky, DIE UNSCHÄRFE DER WELT von Iris Wolff und

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Dieses neue und breitere Interesse über die Disziplinen und Medien hinweg korrespondiert mit aktuellen Deutungen (spät)moderner Gesellschaften, wie sie jüngst etwa von Hartmut Rosa im Jahr 2016 mit RESONANZ (vgl. Rosa 2020) und von Andreas Reckwitz im Jahr 2017 mit DIE GESELLSCHAFT DER SINGULARITÄTEN (vgl. Reckwitz 2020) vorgelegt wurden. Bilden bei Rosa die Fragen nach dem guten Leben und individuellen Glücksempfinden in der Moderne angesichts ihrer generellen Unverbindlichkeit ganz explizit (vgl. Rosa 2020: 37ff.) den Einsatzpunkt der Entwicklung einer »Soziologie der Weltbeziehung«, die die Art und Weise des subjektiven Verhältnisses zu Menschen, Dingen und Transzendenzen in den Blick nimmt und den dabei gemachten bzw. möglichen Resonanzerfahrungen nachgeht (vgl. ebd.: 331), so ist es bei Reckwitz das Streben des modernen Subjekts nach einer Singularisierung und Valorisierung der eigenen alltäglichen Lebensform und Weltbeziehung, das im Rahmen des individuellen und kulturellen Projekts einer Authentifizierung von Objekten, Orten, Ereignissen, Kollektiven oder anderen Subjekten verfolgt wird (vgl. Reckwitz 2020: 293ff.). Auch die heterogenen Bilder und Narrative des Dörflichen und Ländlichen können in diesen Horizonten gedeutet werden und zugleich Aufschluss über die Befindlichkeiten (spät)moderner Gesellschaften geben. Dies trifft sowohl für die realistischen als auch für die idealisierten, die utopischen und dystopischen Formen des Erzählens vom Land zu. Ist doch, zum einen, mit der literarischen Ergründung wie auch wissenschaftlichen Untersuchung von Dorf und Landleben (in ihren realistischen Varianten) immer wieder die Vorstellung verbunden, im Rahmen überschaubarer Handlungs- und Geschehenszusammenhänge ein verstehbares Bild komplexer gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Bewegungen zu erzeugen. Und scheinen doch, zum anderen, die idealisierten Dorfbilder eine Gegenwelt zur urbanen Moderne zu bieten, die entweder (in ihrer romantisierten Variante) durch die Erzeugung eines Flucht- und Kompensationsraums auf jeweils aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse und Wünsche verweist (und somit ex negativo ein Unbehagen an der Moderne ausstellt) oder aber (in ihrer dystopischen Variante) durch die Zuspitzung und Hochrechnung aktueller Fehlentwicklungen gesellschaftliche Missstände auch in ihren Auswirkungen auf ländliche Lebenswelten aufzeigt (und somit eine direkte Kritik der Moderne vornimmt). Bilder und Narrative des (vermeintlich)

MISSION PFLAUMENBAUM von Jens Wonneberger gleich sechs Werke, die im Dorf spielen bzw. über Land führen. Dabei zeigt sich in der Gegenwartsliteratur mitunter auch eine Tendenz zur expliziten und selbstreflexiven Bezugnahme auf kulturell vorhandene Imaginationen des Dörflichen und des Ländlichen, sei es mit Blick auf generelle Typisierungen (siehe z.B. DAS DORF von Katrin Seddig, 2017; VOM LAND von Dominik Barta, 2020) oder aber mit Blick auf spezifische Genrebezeichnungen (siehe z.B. EINE DORFGESCHICHTE

von Katharina Hacker, 2011; DORFROMAN von Christoph Peters, 2020).

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›guten‹ Ländlichen entwerfen und zeigen spezifische Formen subjektiver Weltbeziehung und individueller Lebensführung – und machen selbst zugleich, in ihrer lebensweltlichen Aneignung durch Rezipientinnen und Rezipienten, konkrete ›Resonanzvorschläge‹ und ›Authentifizierungsangebote‹. Dabei kann gerade die Künstlichkeit dieser Bilder und Narrative mitsamt ihren verschiedenen ideologischen Besetzungen einen Einblick in die unterschiedlichen Funktionalisierungen – von der handlungsentlastenden Kompensation und dem Rückzug ins Private bis zum handlungsorientierten Entwurf und der Gestaltung des Sozialen – bieten. So oder so: In und mit ihnen werden zentrale begriffliche Koordinaten im Selbstverständnis moderner Gesellschaften – etwa: Natur und Kultur, Landschaftsgestaltung und Landschaftsverbrauch, Gemeinschaftsorientierung und Gesellschaftlichkeit, Tradition und Transformation, Einfachheit und Komplexität sowie Herkunft und Heimat, Erinnerung und Aktualität, Authentizität und Künstlichkeit – sowohl kritisiert und tradiert als auch jeweils neu angeeignet, bearbeitet und fortgeschrieben.8

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Die Verortung des guten Lebens auf dem Land hat ihre Wurzeln sowohl im Imaginären als auch in der Realität. Mitunter suchen die Menschen – häufig: die eher privilegierteren Schichten – dort wirklich ein ›besseres‹ Leben, wie es sich bspw. am Auszug der römischen Eliten aus den Städten aufs Land in der späten Kaiserzeit beobachten lässt (vgl. Raith 1982) oder wie es die antike Landbau- und Landlebenliteratur,9 in der, so etwa bei Cicero, cultura agri und cultura animi einander korrespondieren (vgl. Böhme 1996: 51-54), belegt. Es geht dabei um ein Leben, das sich von denjenigen Erfahrungen und Vorstellungen abhebt, die mit den vertrauten und mitunter belastenden Umständen der eigenen Existenz verbunden sind und die dann dementsprechend dort überwunden werden sollen.10 Allerdings werden auf das Ländliche, auch das zeigt sich im Laufe seiner Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte, eben nicht nur Glückversprechen projiziert, sondern auch Befürchtungen und Ängste; nicht zuletzt werden hier auch Erfahrungen von Missständen gemacht und wiedergegeben (vgl. Fumagalli 1987: 13-24). Die medialen Erscheinungen des Landes sind wesentlich ambivalent; und zwar sowohl in ihren expliziten Schilderungen wie auch in ihren impliziten Strukturen.

8

Das heißt auch, dass sie mitunter erneut ideologisch aufgeladen und funktionalisiert werden.

9

Siehe etwa DE AGRI CULTURA (ca. 150 v. Chr.) von Marcus Porcius Cato dem Älteren wie auch die Werke von Plinius und Vergil (vgl. Gothein [1926] 2008: Bd. 1, 87-95).

10 Für deren Aufladungen und Zuspitzungen, auch Überforderungen vgl. Diamond (1976).

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Arbeit und Muße, Ordnung und Freiheit, Individualität und Sozialität Es ist Jean-Jacques Rousseau, der vielfach als der Denker des Ländlichen angesehen wird und dessen Werke aus der Mitte des 18. Jahrhunderts im Laufe der verschiedenen Prozesse der Modernisierung immer wieder als Muster der Bezugnahmen herangezogen wurden und die sozialen Vorstellungen vom Landleben prägen sollten. Sie konstituieren sich in scharfen räumlichen, sozialen und moralischen Differenzsetzungen zum Städtischen. Ist es im sog. ZWEITEN DISKURS, der 1755 erschienenen ABHANDLUNG ÜBER DEN URSPRUNG UND DIE GRUNDLAGEN DER UNGLEICHHEIT UNTER DEN MENSCHEN, die hypothetische Konstruktion eines vor jeglicher (bürgerlicher) Gesellschaft zu verortenden Naturzustands, die Idealbilder der Einfachheit, Unabhängigkeit und Natürlichkeit erzeugt und Szenerien imaginiert, in denen »der wilde Mensch« (Rousseau 2001: 161) frei »in den Wäldern umherschweifend« (ebd.) »nur seine wahren Bedürfnisse fühlte« (ebd.), 11 so erzählt der 1761 erschienene Briefroman JULIE ODER DIE NEUE HELOISE von Idealbildern einer durch und durch bearbeiteten und nach guten Grundsätzen eingerichteten Ländlichkeit. In dieser Geschichte einer unglücklichen Liebe zwischen dem bürgerlichen St. Preux und der adeligen Julie, deren Heirat aufgrund von Standesschranken verhindert wird, verbindet Rousseau die Schilderung menschlicher Empfindsamkeiten und sozialer wie räumlicher Konstellationen mit philosophischen Reflexionen und moralischen Belehrungen. Auch hier ist es zunächst einmal eine Abgrenzungsbewegung, die der Autor mitsamt seinem Protagonisten vollzieht. So formuliert Rousseau in seiner zweiten Vorrede ganz explizit: »Je weiter man sich von Geschäften, von großen Städten, den zahlreichen Gesellschaften entfernt, desto mehr nehmen die Hindernisse ab.« (Rousseau 1988: 16) Dabei bietet die Topologie des Landguts, auf das St. Preux nach Jahren des Herumirrens nun von Julie und ihrem standesgemäßen Ehemann eingeladen wird und das er in einer Reihe von Briefen in umfassender Weise schildert, ein gleich zweifaches Ideal des Ländlichen, das als Ausdruck eines tätigen und tugendhaften Lebens in Eintracht mit sich selbst und den Mitmenschen erscheint.

11 Womit zugleich auch ein Grundmuster für die historisch folgende Entfremdungskritik markiert ist (vgl. Jaeggi 2009: 316), die zu Beginn des zweiten Teils in einem berühmt gewordenen Satz an die Entstehung von Eigentum – visualisiert durch die Einzäunung eines Stücks Land – gebunden wird (vgl. Rousseau 2001: 173). Diese Kritik basiert auf der auch anthropologisch grundierten Vorstellung, »daß die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind und daß wir sie beinahe alle vermieden hätten, wenn wir die einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise beibehalten hätten, die uns von der Natur vorgeschrieben wurde.« (Ebd.: 89)

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Zum einen finden sich hier Bilder großer Ländereien, die nach guten Grundsätzen eingerichtet sind und in rationaler wie auch effizienter Weise genutzt werden (vgl. u.a. ebd.: 463). Sie stehen in direkter Verbindung mit der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer ebenso wohlgeordneten Hauswirtschaft 12 und gehen mit einem anthropologischen Zugang zum Landleben einher: »Die natürliche Bestimmung des Menschen ist, daß er das Land bebaut und von dessen Früchten lebt. Der friedliche Landmann braucht nur sein Glück zu erkennen, um es zu empfinden. Alle wahren Freuden des Menschen sind ihm zugänglich; er hat nur die Leiden zu ertragen, die vom Dasein der Menschheit nicht zu trennen sind, Leiden, welche derjenige, der sich davon zu befreien glaubt, gegen andere, viel grausamere eintauscht. Dieser Stand ist der einzige notwendige und nützlichste.« (Ebd.: 561)

Die in Haus und Ländereien erzeugte Ordnung – »bei der alles seinen wirklichen Nutzen hat« und die sich »auf die wahren Bedürfnisse der Natur beschränkt« (ebd.: 574) – bietet dem Betrachter einen Anblick, der nicht nur die Vernunft, sondern auch Augen und Herz erfreut (ebd.). Wert und Schönheit dieser Ordnung ergibt sich für Rousseau nicht aus den Dingen selbst, sondern aus ihrem geplanten und letztlich gelingenden Zusammenspiel. Die einzelnen Teile dieser »schönen Ordnung des Ganzen« (ebd.: 573) stimmen gleichermaßen mit den anderen Teilen wie auch der »Absicht des Anordners« (ebd.) überein. Es sind Bilder ganzheitlicher, d.h. auch: in sich abgeschlossener, Wertschöpfungsketten, die auf regionale Produkte und einheimische Arbeiter setzen und Vorstellungen eines autarken und auf Selbstversorgung fußenden ländlichen Lebens vermitteln. »Bloß die Lebensmittel, die bei uns wachsen und erzeugt werden, kommen auf unsern Tisch; aus einheimischen Erzeugnissen nur besteht fast unser gesamter Hausrat und unsre Kleidung; nichts wird verachtet, weil es gewöhnlich ist; nichts wird hochgeschätzt, weil es selten ist.« (Ebd.: 577)13

12 Es handelt sich hierbei, so St. Preux, um »die Beschreibung eines Hauswesens, das seiner Herrschaften Glückseligkeit verkündet und zugleich alle, die es bewohnen, daran teilhaben läßt« (ebd.: 461). Zu literarischen wie sozialwissenschaftlichen Imaginationen eines (idealisierten) ›ganzen Hauses‹ siehe Brunner (1956) sowie die Beiträge der DEUTSCHEN VIERTELJAHRSSCHRIFT FÜR LITERATURWISSENSCHAFT UND GEISTESGESCHICHTE 85 (2011). 13 Dabei werden die ländlichen Erzeugnisse in bunten Farben geschildert: »Vortreffliche einheimische Gemüse, schmackhafte Kräuter, die in unseren Gärten wachsen, bestimmte Seefische, die auf eine besondere Art zubereitet werden, bestimmte Milchspeisen von

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Ihre Grundierung erhält diese immer auch an die Leserschaft gerichtete Aufwertung des Lokalen in der Vorstellung einer natürlichen Geborgenheit: »Die Natur hat alles aufs beste eingerichtet« (ebd.: 640). Zum anderen finden sich im Roman aber auch Bilder einer (vermeintlich) wilden Natur. St. Preux wird hier in das sog. »Elysium« (ebd.: 491) geführt, einen lieblichen Ort, der gänzlich abgesondert und abgeschottet von den übrigen wohleingerichteten häuslichen und landwirtschaftlichen Räumen ist und der ihm zunächst als unberührte Natur erscheint; ist in ihm, dem »wildesten, einsamsten Ort der Natur« (ebd.: 492), doch »keine Spur menschlicher Arbeit« (ebd.: 492f.) zu entdecken. Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch, wie St. Preux nach einiger Diskussion einsehen muss, um die Form einer »künstlichen Wildnis« (ebd.: 494), die sich aus einer menschlichen »Anleitung« (ebd.: 493) der Natur ergibt und als eine Art symbiotisches Wechselspiel aus einer gemäßigten kultürlichen Regelung14 und einer sich mehr oder minder frei entfaltenden natürlichen Entwicklung zu Tage tritt. Es gibt, so ließe sich wohl sagen, kein Zurück aus der Kulturlandschaft und – trotz kurzzeitiger Auszeit15 – auch kein Zurück in einen vermeintlich naiven Zustand menschlicher Unschuld und Harmonie. In dieser Doppelung – ›wohlgeordnet‹ einerseits, ›wild‹ andererseits – bildet das Land gleichermaßen Setting und Sinnbild für allerlei Ratschläge und Reflexionen zur Kindererziehung und Haushaltsführung, zum Landbau und zum Umgang mit Untergebenen, dem anderen Geschlecht und anderen Ständen etc. – sprich: konkrete Anleitungen zum guten Leben. Der Reiz, der seitdem von den Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land insbesondere vor dem Hintergrund moderner Lebenswelten ausgeht und deren Attraktivität der vielfältige Gebrauch ebenso wie die immer wieder auftretenden Konjunkturen dieses Topos belegen, liegt zunächst wohl in der Einfachheit und breiten Zugänglichkeit eines solchen Versprechens. Die bei Rousseau wie auch seinen Vorgängern und Nachfolgern zutage tretenden Vorstellungen von Autarkie und Selbstversorgung strahlen insbesondere in modernen Lebenswelten immer wieder aufs Neue eine gewisse Attraktivität aus. Das zeigt sich u.a. in den Neuauflagen von John Seymours 1976 erstmals veröffentlichten COMPLETE BOOK OF SELFSUFFICIENCY, das in deutscher Übersetzung u.a. unter dem Titel DAS NEUE BUCH VOM LEBEN AUF DEM LANDE. EIN PRAKTISCHES HANDBUCH FÜR REALISTEN UND

unseren Bergen, Backwerk nach deutscher Art, und dazu noch ein Stück Wild, das die eigenen Leute erlegt haben.« (Ebd.: 570) 14 Rhetorisch gefragt: »Braucht die Natur ohne Unterlaß Winkelmaß und Richtschnur?« (Ebd.: 503) 15 So berichtet St. Preux von diesem Ort, »wo der süße Anblick der reinen Natur alle jenen künstlichen gesellschaftlichen Ordnungen, die mich so unglücklich gemacht haben, aus meinem Gedächtnisse vertreiben mußte!« (Ebd.: 507)

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TRÄUMER erschienen ist und damit zugleich auch seine praktische Stoßrichtung (wie auch sein Verkaufsargument) anzeigt. Sind die Ausführungen in Rousseaus JULIE noch auf den »wohlhabende[n] Landmann« (Rousseau 1988: 559) gemünzt, so erscheinen die Idealbilder bei Seymour jedermann zugänglich.16 Abb. 1: Eine reich gedeckte Tafel, die derjenigen Julies auf dem adeligen Landgut in nichts nachsteht: Cover der englischen Originalausgabe aus dem Jahr 1976 sowie (modernisierte) Abbildung eines Musterguts aus einer deutschen Neuauflage aus dem Jahr 2003.

Seymour (1976), Seymour (2003: 32/33)

Nicht nur hier verbinden sich Vorstellungen idyllischer, ›schöner‹ Natur mit Bildern, Erwartungen und Hoffnungen auf ein Leben ohne Sorgen, auf Dauer gestellt und an den Jahreszeiten ausgerichtet, in frei gewählter Selbstbestimmung und gemeinschaftlicher Verbindung mit anderen (ggf. aber auch, ein Traum individualistischer Aussteiger, ohne sie). Sie bilden einen zentralen Bezugspunkt einer sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft (Tenbruck 1986), deren kulturelle Vorstellungen und Orientierungen nicht zuletzt auf dem Buchmarkt auf produzierender wie auch rezipierender Seite an Macht gewinnen – sprich: in der Erzeugung und Vermittlung sowie Modellierung und Aktualisierung der medial geteilten Bilder und Narrative zunehmend sichtbar und bedeutsam werden. Das zeigt sich stellvertretend und neben einer Vielzahl an weiteren Werken von der Aufklärung über die Romantik bis zum Realismus und zur Moderne – wie sie u.a. aus den Federn Salomon Gessners und Johann Heinrich Voß’, Joseph von Eichendorffs und Ludwig Tiecks, Berthold Auerbachs und Adalbert Stifters, Peter Roseggers und Hermann Hesses entstammen – auch bei Jean Paul, dessen Texte

16 Dass Rousseaus Text auch in unmittelbarer Folge seiner sehr umfassenden Rezeption als Vorbild für die Anlage und Einrichtung von Landgütern fungierte, zeigt Twellmann (2019: 52ff.).

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zwischen aufklärerischer und romantischer Weltwahrnehmung stehen und vermitteln. Als Baustein einer bürgerlichen und gleichsam ›natürlich‹ gegebenen Sozialordnung beschreibt dieser in den ländlichen Schlussszenen seines 1793 erschienenen ersten Romans DIE UNSICHTBARE LOGE die utopische Dimension seines Geselligkeitsentwurfs. Er führt dazu kosmische Weite und nachbarschaftliche Nähe in ›schöner‹ und ›natürlicher‹ Umgebung zusammen: »Wir wandelten dann unter dem kühlen rauschenden Baum des Himmels, dessen Blüten Sonnen und dessen Früchte Welten sind, hin und her. Das Vergnügen führte uns bald auseinander, bald zueinander, und jeder war gleich sehr fähig, ohne und durch Gesellschaft zu genießen.« (Jean Paul 1985a: 408)

Dabei zeigt sich in den Imaginationen einer freien und gleichsam ›natürlichen‹ Sozialität, in deren Rahmung sich Individualität ebenso entwickeln wie bewahren lässt, eine Kopplung der Vorstellungen eines ›guten‹ – d.h.: sowohl versorgten wie sorglosen – Lebens mit Bildern ländlich-idyllischer Szenen, die von einer ebenso ›guten‹ – d.h.: natürlich gegebenen wie auch gesellschaftlich gestalteten – Ordnung (in) der Natur berichten. Sie gehört seit der Antike zu den Grundbeständen der literarischen und sozialen Imagination (vgl. Curtius 1948: 191-209). Bleiben Beobachtung und Normsetzungen in Bezug auf ländliche Arbeitsformen ebenso wie auch deren literarische Umsetzung in der Literatur der Antike allerdings auf eine ökonomisch und bildungsmäßig bestimmte Oberschicht beschränkt – mit Ausnahme einiger, auch satirisch gerahmter Schilderungen etwa in Apuleius’ METAMORPHOSEN (DER GOLDENE ESEL) aus dem zweiten Jh. n. Chr. –, so treten mit Beginn der Neuzeit kritisch-realistische Schilderungen ländlicher Lebensund Arbeitsverhältnisse schon in den Beschwerden der rebellierenden Bauern sukzessive in Erscheinung. Dem gegenüber entsteht dann im 17. Jahrhundert auch, bspw. mit dem Schäferroman der »höfischen Romantik« (Elias 1969: 320-393), eine neue Diskursarena, in der sich Ansprüche persönlicher, vor allem auch sinnlicher Emanzipation mit Projektionen gesellschaftlicher und kultureller Wünsche und ästhetischem Vergnügen mischen. Zwischen den in dieser Weise noch ständisch beschränkten Schäferromanen und den sowohl wirklichkeitsbezogenen als auch ideologisch orientierten Schilderungen des Landlebens im Roman des Realismus und der später einsetzenden sozialkritischen Landliteratur stellen die aufklärerisch und zugleich empfindsam angelegten Idyllen des späten 18. Jahrhunderts (Schneider 1978) so etwas wie eine Brücke – gewissermaßen auch: eine Umbesetzungsstelle – dar (vgl. Nell 2021). Bringt das ›gute Leben auf dem Land‹ von dieser Seite aus zunächst die subjektive wie auch soziale Sinnhaftigkeit einer solchen bildhaft gefassten, und in der älteren Literatur auch durchaus rhetorisch gemeinten (vgl. Curtius 1948: 200f.), Lebensvorstellung in den Blick, so begleiten die Ausgestaltung und Aufwertung räumlicher Umgebungen, zumal auch solcher mit agrarwirt-

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schaftlichem Nutzen,17 zu »Ideallandschaften« (vgl. ebd.: 191) zugleich die europäischen sowie dann auch überseeischen Gesellschaften auf dem Weg zur Moderne.18 Dabei geraten in den ästhetisierenden Bildern und Narrativen des Landlebens nicht zuletzt Arbeit und Muße, Ordnung und Freiheit, Individualität und Sozialität in ein komplexes Spannungsverhältnis. Land und Idylle unter den Bedingungen der Arbeitsgesellschaft Nun ist das Land aber keineswegs nur – und erst recht nicht vor allem – der Schauplatz ›erhebender‹ bzw. metaphysischer Erfahrungen, als der es in bürgerlicher und auch künstlerisch überformter Perspektive seit dem 18. Jahrhundert dargestellt wird. Vielmehr ist es zunächst einmal Schauplatz agrarischer Produktion und entsprechend bäuerlicher (harter) Arbeit, die vielfach unter den Bedingungen fremder Herrschaft durchgeführt wird und mit Ausbeutungs- und Entfremdungserfahrungen verbunden ist.19 Stellen dabei Auseinandersetzungen, Kämpfe und Rebellionen seit dem Spätmittelalter eine durchgängig die Lebensverhältnisse der Landbevölkerung begleitende Erfahrung dar (Blickle 1980), so sind es dann seit dem 18. Jahrhundert die Entwicklungen zur modernen Arbeitsgesellschaft (vgl. Komlosy 2014: 136154),20 die nicht nur die ländlichen Arbeitsverhältnisse selbst betreffen (vgl. Bausinger 1978: 7-15; Caspard 1979),21 sondern ebenso die Begrifflichkeiten zur Erfassung und Kritik der Missverhältnisse auf dem Land ausbilden – und damit zugleich die Bilder des Ländlichen auch als Projektionsflächen und Aushandlungsorte gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen verfügbar machen.

17 Für die Integration und Umwandlung historisch realistischer Bezüge z.B. auf die Arbeitswelt ländlicher Gesellschaften in ästhetische Zeichen und deren Folgen für eine Anpassung der Kunstform der Idylle an die Ambivalenzen der Moderne zwischen Realismus, Kitsch und Ideologie vgl. Schneider (1978). 18 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Modernisierung, das im komparatistischen Kontext nicht ohne Weiteres auf die Gegenstandbereiche der ›Weltliteratur‹ zu übertragen ist, siehe Twellmann (2019b: 262-264). 19 Siehe dazu den Beitrag von Felix Knode, der am Beispiel von Johann Heinrich Voß’ Idyllensammlung DIE LEIBEIGENSCHAFT (1775), die von Erfahrungen der Unfreiheit berichtet, das sozialkritische Potenzial der literarischen Idylle erörtert. 20 Siehe dazu den Beitrag von Marcel Krings, der der literarischen Imagination eines umfassenden Modernisierungsprojekts des Ländlichen, in dem neue Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialformen implementiert werden, in Goethes WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE (1795/96) nachgeht und dabei zugleich die Fragwürdigkeit der gängigen Auslegung des Textes als eines Bildungsromans herausstellt. 21 Zum Erscheinungsbild und zur Geschichte dörflicher Arbeitsformen vgl. Beetz (2019).

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Dabei gehen die in diesem Rahmen auf- und angebotenen Gegen-Bilder einer noch unentfremdeten Arbeit, wie sie sich etwa in einer Vielzahl von Idyllen finden, bis in die Antike zurück. Ihre Vorbilder finden sie im Werk des griechischen Dichters Vergil, der mit seinen BUKOLIKA und GEORGICA die beiden »Mustertexte« (Twellmann 2019a: 88) für eine ganze Reihe von »Vergil-Imitatoren« (ebd.: 98) bereitstellt. Während die BUKOLIKA in zehn Eklogen vor auch zeitgeschichtlichem Hintergrund von singenden Hirten in idyllisch-ländlicher Szenerie berichten und in der berühmten vierten Ekloge auch von einem kommenden Goldenen Zeitalter künden, schildern die GEORGICA in Form eines in vier Bücher gegliederten Lehrgedichts das mühevolle Leben der Bauern bei der Bestellung des Landes, beim Anbau von Obst und Wein, bei der Viehzucht sowie schließlich bei der Imkerei und verbinden diesen Praxisbezug mit philosophischen und mythologischen Reflexionen. Land und Landwirtschaft werden bei und mit Vergil zu Orten der »Sinngebung« (Frühsorge 1993: 13). Hierbei stellt »das Moment der Landarbeit«, so der Literaturtheoretiker Michail Bachtin, zugleich »eine reale Verbindung und Gemeinschaft zwischen den Naturerscheinungen und den Ereignissen des menschlichen Lebens her« (Bachtin 2008: 162), ja mehr noch: »Die Arbeit an der Erde ist nach Vergil zugleich eine Arbeit am Menschen; durch sie bringt er seine Tugenden zur Entfaltung.« (Twellmann 2019: 89) So auch in Rousseaus Mustertext JULIE. Das nach guten Grundsätzen eingerichtete Ländliche erzeugt hier ausdrücklich ein »Bild der Tugend« (Rousseau 1988: 507), das sich aus der Tätigkeit des Menschen ergibt und zugleich wieder auf diesen zurückwirkt.22 Dabei ist in diesem auch das Goldene Zeitalter noch gegenwärtig; wenngleich es hier weniger als zu erreichendes zukünftiges Versprechen gilt und vielmehr angesichts der Tätigkeit der Landbestellung im Herzen des (involvierten) Beobachters wachgerufen wird. So schreibt St. Preux, der seinen Bericht über die

22 Dabei zeichnen sich die Landbewohner laut St. Preux durch »tausenderlei Tugenden« (Rousseau 1988: 581) aus. Es handelt sich durchweg um »[f]riedliche Landleute ohne feine Lebensart, die jedoch gut, einfach, ehrlich und mit ihrem Schicksal zufrieden sind« (ebd.). Auch daraus ergibt sich eine explizite (Stadt-)Gesellschaftskritik. Denn selbst in der »Einfalt der Dorfbewohner« (ebd.) fänden sich »mehr selbständig denkende Menschen als unter der gleichförmigen Maske der Bewohner der Städte« (ebd.). Sie sind von einer nahezu natürlichen Lebensauffassung geleitet: »Weder ihr Herz noch ihr Verstand sind künstlich geformt.« (Ebd.) Daher ergeben sich selbst aus »den umständlichen Reden« (ebd.: 582) älterer Bauern doch auch »vortreffliche moralische Regeln oder Lehren für den Ackerbau« (ebd.). Wobei sich im Text allerdings auch eine Bauern-Kritik wiederfindet (vgl. ebd.: 576). Für einen historischen Überblick zu medial vermittelten Selbst- und Fremdbildern des Bauernstandes zwischen Idealisierung und Abwertung siehe Münkel/Uekötter (2012).

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Weinernte mit weiteren philosophischen Betrachtungen über die menschliche Natur und den Nutzen der Landarbeit für Individuum und Gesellschaft anreichert (und schließlich auch mit weiteren moralischen Differenzsetzungen zum Städtischen verbindet), im siebten Brief des fünften Teils: »Die Arbeit auf dem Lande ist angenehm zu betrachten und hat nichts so Beschwerliches an sich, was Mitleid hervorrufen könnte. Die Aufgabe, öffentlichen und privaten Nutzen zu bringen, macht sie interessant; ferner ist sie der ursprüngliche Beruf des Menschen; sie ruft im Geist angenehme Vorstellungen wach und im Herzen alle Reize des goldenen Zeitalters. Die Einbildungskraft bleibt beim Anblick des Pflückens und Erntens nicht kalt. Die Einfachheit des Hirten- und Landlebens hat stets etwas Rührendes. Sieht man die Wiesen, voll von Leuten, welche unter Gesang das Heu wenden, sieht man in der Ferne verstreute Herden, so fühlt man sich unvermerkt gerührt, ohne zu wissen warum.« (Rousseau 1988: 632)

Es zeigt sich hier, dass die Wahrnehmung des Landes und seiner Bearbeitung nahezu untrennbar mit den kulturellen Bildern, wie sie aus der antiken Literatur des Landlebens überliefert werden, verschmolzen sind. Zugleich wird dabei die Mühsal ausgeblendet bzw. umgedeutet; was nicht zuletzt auch im Kontext der praktischen Absicht des Werks zu verstehen sein dürfte. Zielt es doch, so Rousseau unter anderem in seinen Vorreden, darauf ab, das im kulturellen Diskurs weitestgehend missachtete und abgewertete Landleben den potentiellen – alten wie neuen – Landbewohnern schmackhaft zu machen. Abb. 2: Bilder vom Hirtenleben und von Landwirtschaft: Illustrationen zu einer Vergil-Ausgabe aus dem Jahr 1502 von Sebastian Brant.

Sebastian Brant: Publii Virgilii Maronis Opera, Straßburg

Dabei nimmt St. Preux allerdings auch, man könnte sagen: selten genug, »das Elend, welches sich in gewissen Ländern auf dem Land vorfindet« (ebd.) mit in den Blick. Er berichtet von Missständen, die gleichermaßen Menschen, Tiere und Gesellschaften betreffen:

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»Abgemagerte Pferde, welche unter den Schlägen fast erliegen, von Hunger entkräftete, von Mühsal erschöpfte und mit Lumpen bedeckte unglückliche Bauern, Dörfer, die aus elenden Hütten bestehen, bieten dem Auge einen traurigen Anblick dar; man bedauert es fast, ein Mensch zu sein, wenn man an die Unglücklichen denkt, von deren Blut man sich nähren muß.« (Ebd.: 633)

Dem Idealbild wird so ein Schreckensbild gegenübergestellt, das einerseits die irrationale Ausbeutung von Mensch und Natur sowie andererseits die Tugendlosigkeit der Verantwortlichen anprangert – denen gegenüber der »gute und verständige Verwalter« (ebd.), der aus der Bewirtschaftung seiner Ländereien sowohl für sich selbst als auch für seine nähere Umgebung Nutzen zieht, umso höher gestellt und umso wichtiger erscheint; und zwar als ein Bewahrer und Förderer der natürlichen wie auch sozialen Ordnung. Denn im wohlgeordneten Ländlichen verbinden sich, darauf weist Rousseau wiederholt hin (vgl. u.a. ebd.: 491, 634), das Angenehme und das Nützliche ebenso wie Arbeit und Ästhetik. Dabei zeigt sich: Im Fort- und Nachleben der Idylle vermischen sich – letztlich: bis in die Gegenwart hinein – die hierbei literarisch angesprochenen und zum Ausdruck gebrachten beiden Formen der Bukolik und Georgik (vgl. Twellmann 2019a: 88),23 die beiderseits in hochartifizieller Weise einen Diskurs über Fiktiona-

23 Versteht man unter der Idylle etwa mit Ecker (1998: 183) »eine Veranschaulichung der Idee des guten Lebens und der heilen Welt im begrenzten Ausschnitt kleiner, friedlicher und harmonischer Szenen«, dann kann dies ebenso auch für die Varianten der Bukolik, der Georgik und des Pastorals gelten. Und auch in diesen findet sich »der vertraute Umgang einfacher, genügsamer und unschuldiger Menschen sowohl untereinander als auch mit einer freundlichen, Geborgenheit und Nahrung spendenden Natur, eine (im Unterschied zur Utopie) nur wenig ausdifferenzierte Sozialstruktur sowie die Dominanz der räumlichen Dimension bei statischer oder zyklischer Gestaltung der Zeitabläufe und relativer Handlungsarmut« (ebd.: 183) gestaltet. Allerdings: Während die Bukolik ihren Fokus vor allem auf die Geselligkeit der Figuren richtet, so berichten Georgik und Pastorale von der Bearbeitung des Landes durch Individuen, die in moralisch idealisierten Familienstrukturen sowie konkreteren räumlichen Kontexten verortet sind: »anstelle müßiger, liebender und kunstbeflissener Hirten läßt dieses Genre arbeitende Landwirte auftreten« (ebd.: 184). Dort, wo die bukolische Traditionslinie von Muße und Vergnügen der Hirten berichtet, berichtet die georgische Traditionslinie von der Bestellung des Ackers durch den Landmann. Die auch ökonomische Thematisierung ländlicher Räume verliert dann in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung; und zwar zugunsten der Betrachtung des Landlebens als Sinnbild tugendhafter und glückseliger Lebensführung, die zumeist im Privaten stattfindet (vgl. Gerstner 2019).

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lität führen24 und doch zugleich auch mit einem gewissen Realitätsbezug (vgl. Böschenstein-Schäfer 1977) – bspw. auch hinsichtlich der Entstehung großer Besitztümer und der damit verbundenen Verdrängung von Hirten und Bauern vom Land (vgl. Twellmann 2019a: 89ff.) – ausgestattet sind.25 In der deutschsprachigen Literatur sind es unter anderem die Idyllen von Johann Heinrich Voß (LUISE, 1795), die sich den ländlichen Realitäten gegenüber öffnen und diese an ein größeres Publikum vermitteln. Sie, wie auch weitere literarische Texte (z.B. Albrecht von Hallers DIE ALPEN, 1729; Salomon Gessners IDYLLEN, 1756) oder gartentheoretische Schriften (z.B. Christian Hirschfelds DAS LANDLEBEN, 1767, THEORIE DER GARTENKUNST, 5 Bde., 1779-1785), zeigen gleichermaßen Bilder idealisierter Natur und landwirtschaftlicher Tätigkeit und verbinden somit Schönheit mit Nützlichkeit, beobachten diese jedoch auch aus einer gewissen distanzierten Position der Betrachtung, von der aus die Bilder des Landes und der Landarbeit als »ethische Ordnungsmuster« (Gerstner 2019: 57) funktionalisiert werden. Sie sind zugleich Ausdruck eines neuen und wesentlich ambivalenten Naturverständnisses und -verhältnisses, das sich angesichts einer heraufziehenden Industrialisierung herausbildet.26 Einerseits erscheint Natur als Material, das vom Menschen in rationaler und instrumenteller Weise be- und vernutzt wird (vgl. Bätzing 2020: 114). Andererseits entwickelt sich gerade im Bürgertum eine Gegen-

24 So führt etwa Wolfgang Iser in seiner literaturhistorisch wie auch literaturtheoretisch wichtigen Studie DAS FIKTIVE UND DAS IMAGINÄRE (1991) aus, dass die Jahrtausende umspannenden Traditionslinien der Bukolik deswegen in solch einer umfangreichen und erfolgreichen Weise immer wieder aufs Neue rezipiert und produziert wurden, weil sie elementaren Bedürfnissen entsprachen (vgl. Iser 1991: 61). Ihm zufolge kann sie vielleicht deshalb als »ein von der Geschichte privilegierter Diskurs« (ebd.: 60) angesehen werden, weil sie in reflexiver Weise den anthropologischen Akt des Fingierens thematisiert und damit Bilder desjenigen erzeugt, was Fiktionalität sei (ebd.). In dem historischen Moment, wo diese Funktion von theoretisch-philosophischen Diskursen eingeholt wird, wirkt auch das Genre der Idylle im engeren Sinne als zunehmend überholt (vgl. ebd.) – wenngleich das Idyllische im weiteren Sinne, d.h. als Komplex aus spezifischen Motiven und Strukturen, bis in die jüngste Gegenwart hinein fortlebt (siehe Gerstner/Riedel 2018). 25 So verweist Twellmann (2019a: 89ff.) auf die zeitgeschichtlichen Hintergründe, in denen das Land einerseits unter der Herrschaft von Großgrundbesitzern stand, die es von Sklaven bewirtschaften ließen, und andererseits zum Projektionsraum wurde, in dem wohlhabende Stadtbewohner ihre Idealvorstellungen gestalteten. Das unabhängige Bauerntum war dementsprechend im Verschwinden begriffen. 26 Für eine vergleichende Perspektive auf die nordamerikanische und deutschsprachige Literatur von den Anfängen des Nature Writing bis zur aktuellen Konjunktur der Naturkunden siehe den Beitrag von Peter Braun und Caroline Rosenthal.

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bewegung, die vermittels der literarischen und bildenden Künste an der Ästhetisierung des Landes arbeitet und dabei im Blick von außen mit der Neuperspektivierung und -erfindung ›schöner‹ Landschaft zugleich auch neue Praktiken der Erkundung ländlicher Räume (etwa in Form des Spaziergangs) vorschlägt,27 die letztlich eine Trennung und Gegenüberstellung von Stadt und Land nicht nur verstärken, sondern im kulturell Imaginären auch verfestigen.28 Das Land als ästhetische Erscheinung und Erfahrung Joachim Ritter hat in diesem Zusammenhang auf die mit dem Aufkommen der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft verbundene, auf deren Rationalisierungsverfahren und Entfremdungserfahrungen29 gleichermaßen reagierende Ersatzund Kompensationsfunktion einer solchen Ästhetisierung des ländlichen Raumes hingewiesen: »Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Philosophie gewußt und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst, sie ästhetisch als

27 Demgegenüber hebt Bätzing (2020: 115, Anm. 25) hervor, dass aus Perspektive der Bauern als ›schön‹ jene Stellen wahrgenommen wurden, die besonders ertragreich waren; was sich auch an überlieferten Bezeichnungen für Orts- und Flurnamen zeige. 28 Für ein prägnantes popkulturelles Beispiel der Wiederaufnahme der Topoi vom ›Schreckbild Stadt‹ und ›Wunschbild Land‹ (Sengle 1963) im Rahmen des gegenwärtigen Zombie-Narrativs siehe den Beitrag von Janwillem Dubil, der sich unter anderem mit der sehr erfolgreichen Serie THE WALKING DEAD beschäftigt. Für eine Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Opposition Stadt/Land in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur siehe den Beitrag von Natalie Moser und Ulrike Schneider, die strukturellen Ähnlichkeiten wie auch Verschränkungen beider Orte im Erzählen nachgehen. 29 Zur kultur- und begriffsgeschichtlichen Herleitung des Entfremdungsbegriffs vgl. die Beiträge von Barth, Gehlen, Cornu und Fromm in Schrey (1975). Es fehlt hier der Platz, um die vier Dimensionen des modernen Entfremdungsbegriffs: Entfremdung gegenüber der Natur, von den Dingen, von den Menschen sowie von sich selbst im Blick auf ihre Rolle für die Konstitution eines emphatischen Landleben-Begriffs zu modellieren; auf der Erfahrungsebene lässt sich an Hartmut Rosas Bestimmung anknüpfen: »Entfremdung im Sinne stummer, kalter, starrer oder scheiternder Weltbeziehungen ist […] das Ergebnis beschädigter Subjektivität, resonanzfeindlicher Sozial- und Objektkonfigurationen oder aber eines Missverhältnisses beziehungsweise eines fehlenden Passungsverhältnisses zwischen Subjekt und Weltausschnitt.« (Rosa 2020: 35f.) Neben subjekttheoretischen vermag dieser Zugang zugleich ästhetische Erfahrungen und Gehalte anzusprechen und kann so auch für die Funktionsbestimmung einer entsprechenden Landleben-Literatur nützlich sein. Für eine neuere soziologische Operationalisierung vgl. Jaeggi (2016).

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Landschaft zu vermitteln.« (Ritter 1963: 157f.) Zumal in der rhetorischen und zugleich historisierenden Aufwertung von Land zu Landschaft werden das Land und die auf ihm angesiedelten Erscheinungen eines ›guten Lebens‹ zu Bezugspunkten und Bildgehalten einer gegen die Moderne gerichteten Kulturkritik.30 Ebenso werden die Bilder und Bezüge auf das Ländliche damit aber auch zu einem Reflexionsraum, in dem sich unter den Bedingungen der Moderne Subjektivität im Sinne Ritters als ebenso singuläre wie prekäre Erscheinung, also auch als eine durchaus ambivalente Setzung und Gestaltung spiegeln, beobachten und erfahren kann: »Landschaft ist Natur, die im Anblick eines fühlenden und empfindenden Betrachters ästhetisch gegenwärtig ist: Nicht die Felder vor der Stadt, der Strom als ›Grenze‹, ›Handelsweg‹ und ›Problem für Brückenbauer‹, nicht die Gebirge und die Steppen […] sind als solche schon ›Landschaft‹. […] Was sonst das Genutzte oder als Ödland das Nutzlose ist und was über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhetisch zur Landschaft.« (Ritter 1963: 150f.)

Als bildhaft vorgestellte und gesehene Ganzheit ist die schöne Landschaft als ein Produkt des menschlichen Geistes zu verstehen (vgl. auch Simmel [1913] 2001), das schließlich ganz konkrete Auswirkungen auf den Umgang mit den konkreten Räumen hat. So bildet sie gleichermaßen die Grundlage für Heimatschutz und Tourismus (Bätzing 2020: 116). Im ästhetisierenden Blick, den die Spaziergänger und Touristen – geleitet bspw. von den medialen Bildern des Ländlichen in Landschaftsmalereien, Ansichtskarten oder Werbung31 – während ihrer Landpartien auf

30 So z.B. in Tönnies’ Entwurf »natürlicher Einheiten« (Tönnies 1979: 18-21). Dabei ist im Ausgang von Tönnies’ folgenschwerer Konzeption der Gemeinschaft darauf hinzuweisen, dass nicht zuletzt auch die soziologische Forschung – insofern »sie selbst Realitätsauffassungen und Narrative produziert« (Jetzkowitz 2019: 44) – an der Ideengeschichte des guten Lebens auf dem Land mitschreibt. Siehe dazu auch Langthaler (2014), der aus den Perspektiven »akademischer Interpretationsgemeinschaften« (ebd.: 58) vier ›große Erzählungen‹ über ländliche Räume unterscheidet. 31 Entsprechend verweist der Planer und ›Spaziergangswissenschaftler‹ Lucius Burckhardt in einer ganzen Reihe von Texten immer wieder auf die kulturellen Entwicklungen in Dichtung, Malerei und Gärtnerei, die den Menschen allererst befähigen, Landschaft zu sehen und zu verstehen. Die damit verbundene Konstruktionsleistung, die insbesondere für eine Gesellschaft gelte, »die nicht mehr direkt vom Boden lebt« (Burckhardt 2008: 19), speist sich allerdings nicht nur aus vermeintlicher ›Hochkultur‹: »Dieses Kulturgut besteht zweifellos aus den kulturellen Leistungen der Dichtung und der Malerei, zum überwältigenden Maße aber reicht es in die abgesunkenen Bereiche hinein, welche den

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den ländlichen Raum richten und mit dem sie diesen imaginär überformen und sich lebensweltlich anzueignen suchen, transformieren sie zugleich auch, wenngleich nur zeitweise, ihre eigenen Lebensformen, indem sie, ebenfalls medial vermittelt, ihre Sehgewohnheiten wie auch ihre Vorstellungen eines guten Lebens auf und in das Ländliche projizieren.32 Abb. 3: Dass literarische Beschreibungen von Landschaften häufig auch mit zeichnerischen und malerischen Annäherungen einhergehen und dabei Ähnlichkeiten erkennen lassen, zeigt sich durch die Literatur- und Kulturgeschichte hindurch: Gessner: ARKADISCHE LANDSCHAFT, 1785 (o.l.), Goethe: AUS DER VILLA BORGHESE BEI ROM, 1787 (o.r.), Stifter: IM GOSAUTAL, 1834 (u.l.), Hesse: ANSICHT VON TESSIN, 1919 (u.r.).

Massen der Menschen zugänglich sind: in die Urlaubsprospekte, in die naiven oder sentimentalen Lesebuchtexte, in die Landschaftsschilderungen des Trivialromans oder in die billigen Öldrucke, wie sie in Hotelzimmern zu sehen sind.« (Ebd.: 21) 32 Dem entspricht, dass bspw. im Englischen »landscape«, so im entsprechenden Eintrag der COMPACT EDITION OF THE OXFORD DICTIONARY (1971) auf Seite 1566 zu lesen, zunächst ein Kunstbild bezeichnet, das dann erst nach 1800 zur Bezeichnung einer entsprechenden Naturformation bzw. ihrer Anschauung wird: »A picture representing natural inland scenery as distinguished from a sea picture.« Selbst dort, wo die historische bzw. soziale Dimension angesprochen ist, wird die perspektivische Ausrichtung der bereits sozial besetzten Raumerfahrung betont: »A view or prospect of natural inland scenery, such as can be taken in at a glance from one point of view.« (Ebd.)

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Das Ländliche wird dadurch, zumal in den Romantiken seit 1800, zu einem immer wieder bevorzugten Resonanzraum moderner Subjektivität.33 Diese literarischen Bilder und Narrative ländlicher Räume beziehen sich allerdings weniger auf die konkrete Praxis der Landarbeit. Das Landleben erscheint nunmehr als ein »Reflexionsbegriff« (Frühsorge 1993: 29), der »Zustande des Geistes und der Seele zum Ausdruck bringt« (ebd.). Wobei es in diesem Kontext freilich nicht nur um das Erlebnis einer vermeintlich ›realen‹ Natur geht, sondern auch ihrer ›imaginären‹ Abbilder – um die Wahrnehmung und Erzeugung von Artefakten und Inszenierungen, die darauf zielen, eine mitunter selbst bereits historisch, kulturell oder sozial zustande gekommene Vorstellung ›vom Land‹ auf die jeweils eigene Situation in ihrer jeweiligen Rahmung sowie auf die hierbei in Erscheinung tretenden subjektiven Ansprüche und Erlebnisweisen zu beziehen. »Selbst dort, wo die Natur nur als Sehnsuchtsraum und gar nicht als Handlungssphäre in Erscheinung tritt (etwa in den Wandkalendern, die Aufnahmen von Bergen und Meeren, Wäldern und Blumen, Wiesen und Tieren zeigen, im Landlust-Magazin oder im Museum), wirkt sie sich als potentiell erschließbare Resonanzquelle noch auf die Weltbeziehung des modernen Menschen aus.« (Rosa 2020: 459, Hervorh. im Original)

Dabei lässt sich in diesen ästhetisierenden Bildern und Narrativen des ›guten‹ Ländlichen eine Zusammenführung und Verbindung personaler und sozialer, ökologischer und ökonomischer Erwartungen und Gestaltungsmöglichkeiten verfolgen, die offensichtlich auch die Zivilisationsgeschichte der Menschheit durchzieht und über Zeiten und Räume hinweg die Alltagserfahrungen und Wünsche von Individuen und Gruppen in ihren jeweils historisch und kulturgeschichtlich spezifischen Umständen aufnimmt. Sie finden sich auf den Feldern der Politik34 ebenso wie bspw. in der Tourismus-Werbung und Lebensmittelbranche.35 Produkte und Dienstleistungen versprechen ihren Beitrag zu den – je nach Lebensstilen und -entwürfen sowie Familien- und Karriereplanungen etc. – individuell und kollektiv verfolgten Imperativen eines guten Lebens zu leisten bzw. dieses überhaupt erst zu ermögli-

33 So schreibt Rosa (2020: 457, Hervorh. im Original): »In ihr begegnen die Subjekte einer Entität, welche die für Resonanz konstitutive Bedingung des tendenziell Unverfügbaren, Eigensinnigen, aber eben auch des Antwortenden erfüllt.« 34 Vgl. dazu etwa den 2016 auf der Grundlage von Bürgerdialogen zusammengestellten Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland mit dem Titel GUT LEBEN IN DEUTSCHLAND:

https://www.gut-leben-in-deutschland.de/index.html (17.07.2020).

35 Siehe dazu auch den Beitrag von Heike Zeller, die Bilder des Ländlichen als Werbemittel und Verkaufsargumente in den Blick nimmt und dafür u.a. eine Runde durch die aktuelle Supermarktlandschaft dreht.

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chen. Wie sehr sich Alltagsorientierungen und Lebensstile an Vorstellungen eines offensichtlich vielen attraktiv erscheinenden ›guten Lebens‹ orientieren, mögen nicht zuletzt Anzahl und Auflagenhöhen von Glücks- und Lebensratgebern belegen, die ebenso wie die vielen anderen Beilagen und Rubriken der in den letzten beiden Jahrzehnten außerordentlich erfolgreichen Landzeitschriften nicht nur bei der Herstellung eines Vogelhäuschens oder beim Einkochen von Marmelade helfen wollen, sondern mit Wohlgeschmack und Gesundheit verbunden zugleich auch unentfremdetes Tun, Handlungsautonomie und Autarkie bebildern sowie die je eigene Individualität in den Vordergrund stellen, so sie nicht gar für politisch und ökologisch mustergültiges Verhalten einstehen.

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Die Bilder und Narrative eines vermeintlich guten Lebens auf dem Land und/oder im Dorf erweisen sich im kulturell Imaginären wie auch in öffentlichen Debatten und privaten Vorstellungen als erstaunlich konstant und flexibel zugleich. In ihren verschiedenen Formen und Kontexten reflektieren und beeinflussen sie in konjunkturellen Schüben individuelle und gesellschaftliche Orientierungsmuster und Handlungsweisen. Darüber hinaus verweist die hier erkennbare Bilderkonstanz zum einen auf die für die Zivilisationsgeschichte maßgebliche Differenzierung der Lebens- und Wirtschaftsformen von Stadt und Land (Sennett 1995; Braudel 2001: 40-63) sowie zum anderen auf die mit diesen komplementären Mustern verbundenen Grenzerfahrungen, Überschreitungs- und Projektionsmöglichkeiten bzw. -bedürfnisse in ihren jeweils konkreten Umständen. Nicht zuletzt laden diese Bilder und Narrative aufgrund ihrer immer wieder auftretenden Komplementarität und gleichzeitigen Konstanz ebenso zur Inventarisierung ein wie sie ein Repertoire für weitere Aushandlungsprozesse und Thematisierungsvorhaben bieten. Das Dorf als Ort des guten Lebens Der Geograph Werner Bätzing fasst das Dorf als Ort des guten Lebens anhand von vier spezifischen Charakteristika. Im Zeitalter der Industriellen Revolution bilde es quasi die »Rückseite des Fortschrittsbildes« (Bätzing 2007: 104) – und vermittle damit einen Bildkomplex, der zunächst nur von einer kleinen Oberschicht geteilt worden sei und schließlich im weiteren Verlauf der Transformationsprozesse »die gesamte Gesellschaft« (ebd., Hervorh. im Original) erfasst habe. Bätzing zufolge sind diese vier zentralen Elemente die folgenden:

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»a) Das dörfliche Leben ist in die Natur eingebettet, der Natur untergeordnet, so dass eine Harmonie von Mensch und Natur wahrgenommen wird, die sich in der Landschaft, in Ortsbildern, in den Bauernhäusern, in den Baumaterialien ausdrückt. b) Das dörfliche Leben ist geprägt durch freie Menschen, die gleichberechtig in Gemeinschaft zusammen leben und sich wechselseitig Beistand leisten. c) Das dörfliche Leben ist durch ein geringes Maß von Arbeits- und Funktionsteilung und Spezialisierungen im Bereich von Wirtschaft, Sozialstruktur und Kultur geprägt. d) Das dörfliche Leben strahlt Ruhe und Beharrung aus und entzieht sich den geschichtlichen Veränderungen durch Natur- und Traditionsgebundenheit.« (Ebd.: 104f.)

Allerdings sind diese Charakteristika, das stellt Bätzing gleich im Folgenden fest, allesamt irreführend, ja »falsch« (ebd.: 105) – und zwar in doppelter Weise. Zum einen erhalten die einzelnen Elemente wie auch ihr komplexes Zusammenspiel ihren Sinn lediglich als Antithese zum Bild der heraufziehenden Industriestadt und Moderne (ebd.).36 Zum anderen gehen aber auch die idealisierten Dorfbilder selbst an den historischen und sozialen Realitäten vormoderner Bauerngesellschaften vorbei (vgl. ebd.: 105f.).37 Dennoch bilden diese Bilder und Narrative, so ließe sich wohl sagen, Merkmalsbündel, die trotz ihrer offensichtlichen Künstlichkeit, Fragwürdigkeit und Ambivalenz sowohl Angebote für die konkrete Lebensgestaltung in der Moderne als auch, davon keineswegs abgetrennt, für konkrete künstlerische wie kulturelle Erzähl- und Diskursanlässe bereitstellen. Chronotopoi des Ländlichen Die in diesen Bildern und Narrativen in Erscheinung tretenden und wiederholt genutzten Raum-Zeit-Verbindungen können mit Bachtin (2008) als Chronotopoi verstanden werden. Dabei lassen sich insbesondere zwei (miteinander verbundene) Typen von Chronotopoi unterscheiden, die starke Bezüge zu den auch heute noch aktuellen bzw. wahrnehmbaren Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land aufweisen: ein folkloristischer und ein idyllischer Chronotopos. Sie wurden und werden immer wieder zur diskursiven philosophischen Erörterung wie auch zur

36 Kurz: als Gegenbild zur a) Vernutzung und Zerstörung von Natur im Produktionsprozess, b) anonymen Massengesellschaft, c) Arbeits- und Funktionsteilung, d) Dynamik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen (vgl. Bätzing 2007: 105). 37 Die doch auch: a) Natur in umfassender Weise bearbeiten und verändern, b) von einer hohen sozialen Kontrolle geprägt sind, c) in sich eine hohe Funktionsteilung und Spezialisierung ausbilden, d) im Laufe der Geschichte tief greifende Transformationen erlebt haben (vgl. ebd: 105f.).

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alltagsweltlichen Erkundung und imaginativen Besetzung von Räumen genutzt. Dazu ist zunächst einmal festzuhalten, dass der Chronotopos – in dem »räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen« (ebd.: 7) miteinander verschmelzen – den »Angelpunkt für die Entfaltung der ›Szenen‹ im Roman bildet« (ebd.: 188). Das heißt: Er steht im »Zentrum der gestalterischen Konkretisierung« (ebd.) des Texts. »Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig.« (Ebd.)

So auch die Chronotopoi des Ländlichen: Sie bieten mit ihrem Arsenal an spezifischen Themen (Natur, Dorf, Heimat, Gemeinschaft in Moderne, Vormoderne, Postmoderne etc.), Stoffen (Mythen, Märchen, Sagen, Legenden etc.), Motiven (Gärten, Häuser, Wälder, Feste, Arbeit etc.) und Figuren (Hirten, Bauern, Tiere, Einheimische, Fremde etc.) ein Archiv an potenziellen Sinnbildern und Denkfiguren, die sowohl in erzählerischen als auch diskursiven Zusammenhängen aufgenommen werden können und in unterschiedlicher Weise miteinander kombinierbar und aktualisierbar erscheinen. Folkloristische Chronotopoi Im folkloristischen Chronotopos, der Idealbilder einer Landwirtschaft betreibenden Gesellschaft vor aller Ausdifferenzierung in unterschiedliche Klassen und Machtverhältnisse vermittelt, sind »das Leben der Natur und das menschliche Leben miteinander verschmolzen« (ebd.: 144). Dabei ist insbesondere die narrative Gestaltung der Erfahrung von Zeit von Bedeutung. Oder mit anderen Worten: das spezifische Zeitmodell, das im Ländlichen in Szene gesetzt wird. Es handelt sich hierbei um eine Zeit, die aus unterschiedlichen und doch gleichberechtigt nebeneinander stehenden Komponenten besteht, die allesamt dem modernen Modell eines linear aufsteigenden und nahezu unendlich nach vorn gerichteten (Fortschritts-)Narrativs entgegenstehen. Hier hingegen ist die Zeit kollektiv und einheitlich, räumlich und konkret, von Arbeit geprägt und auf zukünftiges produktives (immer auch wiederkehrendes) Wachstum gerichtet sowie schließlich von zyklischem Charakter (vgl. ebd.: 140-143). Dieses Zeitmodell findet sich, wenngleich auch hier schon unter mitunter prekären Bedingungen, im antiken Lob des Landlebens (laus ruris) ebenso wie in den frühneuzeitlichen Utopien bspw. eines Thomas Morus oder in den Auswege versprechenden modernen Landutopien eines William Morris (NEWS FROM NOWHERE,

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1890)38 und Ernest Callenbach (ECOTOPIA, 1975).39 Es ist das unter den Bedingungen der modernen Industrie- und Beschleunigungsgesellschaft auch politisch konnotierte Bild einer weitestgehend autarken und klassenlosen (kommunistischen) Sozialform, die das Produkt ihrer Arbeit selbst gebraucht und verzehrt, ohne damit zugleich die eigenen Reproduktionsgrundlagen zu verbrauchen oder zu zerstören.40 Selbst in Rousseaus Briefroman, dessen Bild des Landlebens doch eher auf eine Aufrechterhaltung der Klassenunterschiede abzielt und insbesondere die Situation der Bauern soweit verbessern will, dass sie ihren Stand nicht verlassen, 41 finden sich immer wieder Szenen einer zumindest zeitweisen Aufhebung der Klassen- und Standesunterschiede, die als Realisierung der zentralen Konzepte der Einfachheit und Gleichheit gezeigt werden (vgl. Rousseau 1988: 553, 639). So etwa bei der ganz und gar fröhlichen Landarbeit: »Man singt, man lacht den ganzen Tag, und die Arbeit geht dadurch nur desto besser voran. Alles lebt in der größten Vertraulichkeit, alle sind einander gleich« (ebd.: 636). Rückgebunden ist dies an Vorstellungen einer natürlichen Gleichheit: »die wohltuende Gleichheit aber, welche hier herrscht, stellt die Ordnung der Natur wieder her« (ebd.: 637). Immer wieder wird hier auch der Wunsch zum Ausdruck gebracht, in zyklischen Zeitstrukturen zu leben und den jeweiligen Tagesablauf beständig zu wiederholen (vgl. ebd.: 640, 681).

38 Dessen Utopie einer regierungs-, herrschafts- und klassenlosen Gesellschaft, in der jeder die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden (kunst-)handwerklichen Arbeiten ausführt, u.a. auf der Abschaffung von Privateigentum beruht und ihr Idealbild in einem imaginierten und mit den Hinterlassenschaften der beginnenden Moderne verschmolzenen 14. Jahrhundert findet, das bereits seit gut 150 Jahren auf Dauer gestellt ist. 39 In dessen Zentrum u.a. das Konzept des sog. »stabilen Gleichgewichts« steht, das Bilder eines in Kreisläufen organisierten nachhaltigen Wirtschaftens vermittelt und dessen Menschenbild ebenfalls an einem angenommenen Naturzustand ausgerichtet ist, der auf die Aufhebung der Differenzen von Arbeit und Freizeit sowie Privatheit und Öffentlichkeit abzielt. 40 Siehe dazu den Beitrag von Norman Kasper, der sozialistischen Imaginationen eines guten Lebens auf dem Land am Beispiel von Jurij Brězans Roman MANNESJAHRE (1964) thematisiert und dabei deren Einbindung in einen gesellschaftspolitischen Geschichtsdiskurs erörtert. 41 So schreibt St. Preux etwa im zweiten Brief des fünften Teils, dass es darum gehe, »den Bauern ihre Lage angenehm zu machen, ohne daß man ihnen jemals hilft, ihren Stand aufzugeben.« (Rousseau 1988: 561). Auch der herzliche Empfang älterer Bauern im Haus der Herrschaft erweist sich in diesem Kontext als wohlkalkulierte Aktion mit dem ebenso wohlabgewogenen Ziele, diesen wie auch seine Verwandtschaft und seinen ganzen Stand zufrieden zu stellen (d.h. auch: nicht aufmüpfig werden zu lassen) (vgl. ebd.: 582f.).

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Dabei treten diese Entwürfe einer gleichermaßen in der Vergangenheit verorteten wie in die Zukunft projizierten – also gewissermaßen auf Zeitlosigkeit hin ausgerichteten – utopischen Sozialordnung des Ländlichen (wie sie u.a. bei Morris und Callenbach zu finden ist) gerade, aber nicht nur, in der Moderne als wesentlich zwiespältige Formen in Erscheinung und werden als solche auch weitestgehend wahrgenommen. Das zeigt unter anderem – neben vielen weiteren Beispielen – George Orwells satirische Fabel ANIMAL FARM (1945). In dieser ist es eine Gemeinschaft von Farmtieren, die angesichts der Erfahrung einer mangelhaften, durch kapitalistische Ausbeutung geprägten Gegenwart 42 – quasi: in der abgeschlossenen Versuchsanordnung des ländlichen Hofs – eine neue und alternative Lebensform (»vollkommende Eintracht, vollkommene Kameradschaft«; Orwell 1974: 12) entwirft, welche letztlich als Wiederherstellung einer vermeintlichen »Ordnung der Natur« (ebd.: 9) ausgegeben wird und schließlich nach der revolutionären Übernahme der Farm auch vorläufig implementiert werden kann. Die Tiere folgen dabei zunächst gleichermaßen dem platonischen Ideal der Gerechtigkeit, d.h. der Durchführung einer den jeweiligen Neigungen und Fähigkeiten angemessenen Tätigkeit,43 wie auch dem marxistischen Ideal einer unentfremdeten Arbeit, die die Produzenten nicht vom Produkt ihrer Arbeit trennt. 44 Man könnte sagen: Es handelt sich zumindest zeitweise um die Konkretisierung einer Utopie im Schutzraum des Ländlichen. Allerdings ist diese sowohl stetigen Angriffen von außen ausgesetzt als auch einer – noch schwerwiegenderen – zunehmenden Auflösung der Gemeinschaft von Gleichen zugunsten einer Machthierarchie, die in Terror übergeht und die sich von innen her vollzieht. Denn in dem Moment, in dem es zur sozialen Differenzierung (die wortführenden Schweine nehmen Schritt für Schritt den vormaligen Platz der Menschen ein) kommt, stürzt auch das einstige Ideal in sich zusammen und wandelt sich zur totalitären Gewaltherrschaft. In einer gewissen – zugegeben: sehr zugespitzten Weise – erzählt Orwell dabei auch vom (notwendigen) Ende der Vorstellungen einer homogenen und klassenlosen, selbstproduzierenden und autarken, kollektivistischen und natürlichen (Land-)Gemeinschaft; oder besser gesagt: von der Unmöglichkeit, in diese – in welcher Form auch immer – ›zurückzukehren‹.45

42 So heißt es im Roman aus Perspektive der Tiere: »fast das gesamte Produkt unserer Arbeit [wird] von den Menschen gestohlen« (Orwell 1974: 9). 43 »Doch jeder arbeitete nach seinen Fähigkeiten.« (Ebd.: 31) 44 »Die Tiere waren so glücklich, wie sie das niemals für möglich gehalten hätten. Jedes bißchen Futter war eine wahre Lust, denn nun war es wirklich ihr eigenes Futter, von ihnen selbst und für sie selbst produziert« (Ebd.: 30) 45 So schreibt auch Bachtin (2008: 145): »In dem Maße, wie das gesellschaftliche Ganze einer sozialen Differenzierung, einer Aufspaltung in Klassen unterliegt, erfährt der Kom-

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Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise auch das Ende der sich aus diesem folkloristischen Chronotopos herausbildenden Denk-, Wahrnehmungs- und Gestaltungsmuster, und zwar weder im Blick auf die Attraktivität solcher Bilder noch hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit für aktuelle Diskurse und Bedürfnisse. Idyllische Chronotopoi Im idyllischen Chronotopos, der an den folkloristischen anschließt und diesen unter neuen historischen Vorzeichen wiederherstellt (Bachtin 2008: 160), wird ebenfalls ein besonderes Verhältnis zum umgebenden (lokalen) Raum hergestellt, der als Ausdruck von Beständigkeit dient und das Verständnis des Landlebens über eine lange Zeit hinweg prägte und mitunter auch nach wie vor noch prägt: »Das Leben und seine Ereignisse sind organisch an einen Ort – das Heimatland mit all seinen Fleckchen und Winkeln, die vertrauten Berge, Täler und Felder, Flüsse und Wälder, das Vaterhaus – gebunden, mit ihm verwachsen. Das idyllische Leben mit seinen Ereignissen ist nicht zu trennen von diesem konkreten räumlichen Fleckchen, wo die Väter und Vorväter lebten, wo die Kinder und Enkel leben werden.« (Ebd.)

Dieser Raum bildet einen abgeschlossenen und in sich ruhenden Mikrokosmos, der einem »zyklischen Zeitrhythmus« (ebd.: 161) folgt und die Einheit von Mensch und Natur bewahrt. Dabei fokussiert er gewissermaßen die Essenzen des menschlichen Lebens, die in den wesentlichen Geschehnissen und Ereignissen zu Tage treten: Liebe, Tod, Arbeit, Essen, Trinken etc. (vgl. ebd.); geschichtliche Bewegungen und Veränderungen bleiben mitunter, ein Grundmuster bspw. auch des klassischen Heimatromans und Heimatfilms,46 außen vor: das Leben »verharrt an ein und demselben geschichtlichen Punkt, auf ein und derselben Stufe der historischen Entwicklung« (ebd.: 165). Bachtin verortet diesen Chronotopos wesentlich in den Literaturen des 18. und 19. Jahrhunderts und unterscheidet dabei drei Varianten (vgl. ebd.: 169-172), die angesichts des anstehenden Zusammenbruchs der Idylle jeweils unterschiedliche

plex [des folkloristischen Chronotopos] wesentliche Veränderungen, und die entsprechenden Motive und Sujets erhalten einen neuen Sinn.« 46 Siehe dazu den Beitrag von Alexandra Ludewig, die einen Überblick über die Geschichte des Heimatfilms bis in die jüngste Gegenwart gibt und inhaltliche wie auch formale Kontinuitäten und Brüche des Genres in ihren jeweiligen historischen und medialen Kontexten verortet. Siehe ebenso den Beitrag von Jürgen Thaler, der der literarischen Rezeptionsgeschichte des frühen Heimatautors und Sozialreformers Franz Michael Felder (18391869), der gemeinhin als der erste schriftstellernde Bauer angesehen wird, nachgeht.

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Funktionalisierungen verfolgen: eine erste Traditionslinie (u.a. Goethe, Goldsmith, Jean Paul), die die Idylle philosophisch sublimiert, indem sie sie mit Ganzheitsvorstellungen verbindet und ihr die neue abstrakte Welt gegenüberstellt; eine zweite Linie (u.a. Stendhal, Balzac, Flaubert), die den naiven idyllischen Menschen zum unnützen und somit auch lächerlichen und beklagenswerten Helden werden lässt; sowie eine dritte Linie (u.a. Scott, Puschkin, Dickens, Maupassant), die lediglich einzelne idyllische Elemente aufführt und als Mittel der literarischen Darstellung nutzt. Theodor Fontanes WANDERUNGEN DURCH DIE MARK BRANDENBURG, entstanden zwischen 1859 und 1881, beeinflussen auch heute noch zu einem gewiss nicht nur marginalen Grad die konkreten Raumproduktionen in der Region; bilden sie doch unter anderem zentrale Referenz- und Orientierungspunkte sowohl für kollektive Selbstbilder vor Ort als auch für zeitgenössische Wanderer ›auf den Spuren Fontanes‹.47 Der Text hat dabei einen doppelten Anteil an der Produktion und Fortschreibung von Raumbildern; und zwar indem er einerseits von spezifischen Topografien einer konkreten Landschaft erzählt (die im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte immer wieder neu angeeignet und weitererzählt wird)48 sowie andererseits allgemeine (Chrono-)Topoi verwendet und vermittelt (die wiederum in ihrer Essenz auch übertragbar sind auf andere Landschaften). In Form von äußerst detaillierten Beschreibungen und Reflexionen berichten die WANDERUNGEN von jeweils lokalspezifisch gekennzeichneten Menschen und Kulturlandschaften. Um ein Beispiel herauszugreifen: Am zweiten Reisetag des vierten Bandes (der Wanderung von Dolgenbrod bis Teupitz) schildert Fontane die Situation in und um Dolgenbrod an jenem »erquickliche[n] Morgen« (Fontane 2018: 80): die Gewässer, die Angler, die Häuser, die Einsamkeit. Die Situation erscheint ihm »wie ein Idyll aus alten Zeiten« (ebd.: 81), das »dem Herzen ein süßes Glück« (ebd.) erschafft. Es steigert sich zusehends und zieht den Betrachter in sich hinein:

47 Diese Referenzpunkte werden sowohl in den Orten als auch in Broschüren und Reiseführern immer wieder hervorgehoben bzw. neu konstruiert. Siehe als eines unter vielen Beispielen etwa Georg Jungs AUF DEN SPUREN VON THEODOR FONTANE DURCH DIE MARK BRANDENBURG. MIT ALLEN WICHTIGEN FONTANE-ORTEN VON A BIS Z (2018). 48 Siehe im Literarischen auch die Reisebeschreibungen von Günter de Bruyn (ABSEITS, 2005; MEIN BRANDENBURG, 1993 sowie neu aufgelegt im Jahr 2020), die Fontane als Gewährsmann nutzen; sowie nicht zuletzt auch Fontanes EFFI BRIEST (1895) und DER STECHLIN (1899). Siehe z.B. auch die fünfteilige TV-Produktion DIE ENTDECKUNG DER HEIMAT – FONTANES WANDERUNGEN DURCH DIE MARK BRANDENBURG, die im Dezember 2019 im RBB gesendet wurde. Oder die Anthologie WANDERN UND PLAUDERN MIT HEUTE

FONTANE. LITERARISCHE BEGEGNUNGEN MIT DER MARK BRANDENBURG

(2019) mit Texten u.a. von Kerstin Hensel, Ursula Krechel und Saša Stanišić.

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»In Front jenes Hauses stand ein uralter Birnbaum, in der einen Hälfte abgestorben, aber in der andern noch frisch und mit Früchten bedeckt. In dem hohlen Hauptast bauten die Bienen, an dem Stamm lehnte die Sense, zwischen den Zweigen hing das Netz; und in dieser Dreiheit lag ersichtlich das Dasein dieser einfachen Menschen beschlossen. Das Sammeln des Honigs, das Mähen der Wiese, das Fischen im Fluß, in so engem Kreislauf vollendete sich tagtäglich ihre Welt. Und so war es immer an dieser Stelle. […] Und in diesem Berührtwerden von etwas Unwandelbarem, in der Wahrnehmung von dem ewigen Eingereihtsein des Menschen in den Haushalt der Natur, liegt der Zauber dieser Einsamkeitsdörfer.« (Ebd.)

Das Zitat berichtet nicht nur von einer nach wie vor noch vorhandenen »Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur« (Bachtin 2008: 161). Es zeigt auch: der idyllische Chronotopos hat sich hier zum Wahrnehmungsmodus entwickelt. Er prägt die Aufnahme und Deutung der – nun nicht mehr unmittelbaren, sondern vermittelten – Umgebung, die ihre Prägnanz vor ihrem spezifischen Zeithorizont erhält. Damit erzeugt er zugleich auch eine Lesbarkeit der sich eröffnenden Welt; macht er doch das »Dasein dieser einfachen Menschen«, das nicht zuletzt von einer zyklisch sich vollziehenden und wiederholenden Eingegliedertheit des Menschen in Natur, Raum und Zeit zeugt, allererst »ersichtlich«. Eine Eingegliedertheit, die allerdings ebenso die Möglichkeit individueller Freiheit, wie sie etwa auch im potenziellen Ausbruch aus dieser Welt besteht, verwehrt; liegt doch das hier fokussierte und erkannte Dasein in eben jener geschilderten Konstellation »beschlossen«. Eine solche Verquickung und Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung – man könnte auch sagen: ein solches Bild ländlicher Heimat49 – kann das neuere zeitgenössische Erzählen vom Land nicht mehr wahrnehmen (vgl. Weiland 2018a). Darauf verweist unter vielen anderen Texten auch Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016). Der Roman, ebenfalls im ländlichen Brandenburg situiert, erzählt in multiperspektivischer Weise von den jeweils unterschiedlichen Bildentwürfen, die Individuen – je nach sozialer Lage und ökonomischem Einkommen, Beruf und Bildung, Alter und Geschlecht, Erfahrungen und Zielen usw. – auf den

49 Laut Bätzing erscheint der ländliche Raum auch deshalb immer wieder als (Bild der) Heimat für Menschen, »weil sie in der spezifischen Gestaltung der Landschaft die Arbeit der früheren Generationen und ihre eigene Arbeit wiedererkennen und weil Haus-, Dorf-, Flur- und Landschaftsformen der äußere Ausdruck der lokalen und regionalen Identitäten sind.« (Bätzing 2020: 198f.) Demgegenüber sehen (spät)moderne Heimatkonzeptionen häufig von einer spezifischen Ortsfixierung und -gebundenheit ab und heben v.a. die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten des Heimatlichen, nicht zuletzt in seiner Konstruiertheit, hervor (vgl. Nell 2018). Zur literarischen Auseinandersetzung mit Provinz und Heimat im 20. Jahrhundert siehe nach wie vor Mecklenburg (1982 u. 1987).

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ländlichen Raum projizieren und die ihr jeweiliges Handeln anleiten. Entsprechend erscheinen Dorf und Land immer wieder anders: als Hort der Bewahrung und/oder Gegenbild zum urbanen Kapitalismus, als Ergebnis historischer Ereignisse und/oder neoliberaler Ideologie, als Ort der Auflösung von Tradition und/oder Residuum männlicher Dominanz, als überlebte Form vormoderner Tauschgesellschaft und/ oder überschaubare Gesellschaft im Kleinen, als Ort der Energiewende und/oder Bodenspekulation, als ausgestorbene Landschaft und/oder idyllischer Naturraum. Im Mikrokosmos des Dorfes spiegelt sich der Makrokosmos der globalen Gesellschaft oder trifft, wie es auch in Zehs Roman geschieht, dort mitsamt seinen jeweils unterschiedlichen Vorstellungen und Ansprüchen konfliktreich aufeinander. 50 Nicht zuletzt dadurch erscheint das Dorf als ein paradigmatischer Ort der Glokalität. 51 Ein Ort, der sich einem grundlegenden Verständnis und einer definitiven Feststellung letztlich, so konstatiert es das abschließende und die Erzählsituation wie auch den Erzählanlass auflösende Kapitel (vgl. Zeh 2016: 628f.), entzieht. Vielmehr wird das Dorf hier – ein realistischer Vergleich – wie durch ein »Kaleidoskop« (ebd.: 629) gesehen: »Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus.« (Ebd.)52 Die Projektionen eines guten Lebens auf dem Land werden damit als Projektionen sichtbar, die die Ausdifferenzierung der Akteure und Praktiken in den Wahrnehmungen und Umgangsweisen mit dem Land vor Augen führen.

50 Gerade neuere Dorfgeschichten, aber nicht nur diese, zielen vermehrt auf eine Darstellung gesamtgesellschaftlicher Bewegungen und nutzen dabei weiterführende narrative Formen und Mittel u.a. des Gesellschaftsromans, Detektivromans, Anti-Heimatromans und Stadtromans. Wobei allerdings bereits die älteren Dorfgeschichten eines Berthold Auerbach gleichermaßen Stadt-Land-Verhältnisse thematisieren und in ihrer Fokussierung auf globale Entwicklungen auch von Auswanderungsbewegungen erzählen. Siehe dazu den Beitrag von Hendrik Nolde, der das dynamische Verhältnis von Dorf und Welt in den Blick nimmt und dabei eine Kontinuitätslinie von Auerbach bis Zeh nachzeichnet. 51 Vgl. den Beitrag von Thorsten Carstensen, der am Beispiel von Karl Mays überaus populären Abenteuerromanen sowie weniger beachteten Dorfgeschichten die Projektionen und das Verhältnis von Heimat und Fremde, die im Zuge transatlantischer Migrationsbewegungen auch kulturell virulent werden, im Ländlichen erörtert. 52 Siehe dazu den Beitrag von Klara Schubenz, die am Beispiel von Theodor Fontanes Auswandererroman QUITT (1890) die literarische Gestaltung des konfliktträchtigen Umgangs mit dem Wald im Kontext voranschreitender Industrialisierung thematisiert und dabei mit Blick auf die Polyperspektivität des Texts insbesondere die Heterogenität der auftretenden literarischen Figuren mitsamt ihrer unterschiedlichen (medial vermittelten) Land-Imaginationen herausstellt.

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G UTES L EBEN AUF DEM L AND : V ORSTELLUNGEN UND P RAKTIKEN Vor diesem Hintergrund – einerseits der Konstanz, andererseits der Ambivalenz der ländlichen Chronotopoi sowie schließlich der Ausdifferenzierung in heterogene Ländlichkeiten – erscheint es aus analytischer Perspektive sinnvoll, danach zu fragen, welche Rolle die Bilder und Narrative des guten Lebens auf dem Land bzw. im Dorf in den jeweils historisch und kulturell zu verortenden Diskursen einnehmen und in welcher Weise sie jeweils Handlung initiieren oder hemmen. Die Vorstellungen einer ländlichen Idylle bilden nicht nur einen zentralen Topos der imaginären Geographie westlicher Gesellschaften (Dünckmann 2019: 28), sondern sind auch in einer ganzen Reihe von Alltagspraktiken und Diskursen gegenwärtig. 53 Die Idylle ist, so Dünckmann, »ein wichtiges Element in der Art und Weise […], wie moderne Individuen ihre Beziehung zur Welt wahrnehmen und erleben« (ebd.: 39).54 Ihr Reiz und ihre Attraktivität ist im Rahmen der medialen ›Großnarrative‹ einer allumfassenden und weiter zunehmenden Urbanisierung der Lebenswelten einerseits und einer immer noch durchgängig linear gedachten Vorstellung von ›Fortschritt‹ andererseits zu verstehen.55 Ganz besonders wirkmächtig und mit

53 Dass sie dabei auch spezifische politische Implikationen (etwa hinsichtlich der Konzeption von Authentizität, Stabilität, Harmonie) und Programme (die die politischen Spektren von der völkischen Siedlergruppe bis zur Fridays-for-Future-Bewegung abdecken) beinhalten und vermitteln, zeigt Florian Dünckmann an den beiden Beispielen der persönlichen imaginären Geographie einer Vertriebenen sowie der rhetorischen Figuren des Bauernverbands gegen vermeintliche ›Bullerbü-Idyllen‹ der Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und des Tierwohls (vgl. ebd.: 36ff.). Ja, es lässt sich gar feststellen, dass eine ›Politik der Idylle‹ die Debatten um ländliche Räume – etwa: erneuerbare Energien, Umgang mit Fremden, Rolle der Landwirtschaft – durchzieht (vgl. ebd.: 39). 54 Siehe dazu auch den Beitrag von Johanna Steiner, die am Beispiel des von einer Vielzahl von Autorinnen und Künstlern der DDR bewohnten bzw. besuchten Dorfs Drispeth die ›Übersetzung‹ idyllischer Topoi in die konkrete Lebenswelt vor auch kulturpolitischem Hintergrund thematisiert. 55 Diese Narrative stehen in Verbindung mit zwei populären und beständig reproduzierten Bildentwürfen, die beiderseits das Verschwinden oder Verschwundensein ländlicher Räume und Lebensformen vor Augen führen: zum einen durch Imaginationen der Leere und Entleerung des Ruralen und zum anderen durch Imaginationen einer zunehmenden Überformung des Ruralen durch das Urbane (vgl. dazu für Literatur, Film, Fotografie und Medien: Ehrler/Weiland 2018); für das »Fortschrittparadigma« und seine Grenzen vgl. Alexander (2013).

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hoher medialer Aufmerksamkeit versehen sind hier etwa die regelmäßig erscheinenden WORLD URBANIZATION PROSPECTS der Vereinten Nationen. Sie vermitteln den ohnehin schon bekannten und vielzitierten Trend einer weiterhin zunehmenden – d.h. genau genommen: antizipierten – globalen Urbanisierung. Die Anziehungskraft und die Ausbreitung der Metropolen und Ballungsräume schreite demzufolge, so der vielfach auch kritisch betrachtete Bericht, 56 mehr oder minder ungebremst voran. Leben aktuell laut Vereinten Nationen ca. 55 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, so werden es im Jahr 2050 voraussichtlich ca. 68 Prozent – etwas mehr als zwei Drittel – sein (UN 2018).57 Innerhalb von 100 Jahren hätte sich damit das Verhältnis umgekehrt; lebten doch nach dem gleichen Berechnungsschlüssel im Jahr 1950 gerade einmal ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen (ebd.). Diesem Trend stehen quasi diametral Aussagen und Beobachtungen zu individuellen Wohnpräferenzen gegenüber. Je nach Forschungsinstitut – sei es Emnid, Forsa oder das Bundesamt für Raumordnung und Bauwesen – unterscheiden sich die Zahlen zwar leicht (siehe zur Übersicht: Baumann 2018: 16), doch das Ergebnis ist immer wieder eindeutig: Der weitaus größte Teil der Befragten bevorzugt ein ländlich geprägtes Leben im Dorf, in einer Klein- oder Mittelstadt (oder zumindest am Rande der Großstadt). Die Großstadt selbst kommt dabei in aktuellen Untersuchungen und zugehörigen Diskursen fast durchweg auf eher schlechtere Werte. Es scheint also, dass das Land umso attraktiver wird, je weniger Leute dort wohnen (oder auch nur wissen, wie es dort aussieht).58 Das zeigt etwa auch die Grafik der

56 So verfolgt etwa das Thünen-Institut einen alternativen Ansatz zur Erhebung dessen, was unter ländlichen Räumen zu verstehen ist. Er besteht zum einen aus Indikatoren, die die Ländlichkeit des jeweiligen Raums angeben (z.B.: geringe Siedlungsdichte, geringe Einwohnerzahl, lockere Wohnbebauung, Ausmaße land- und forstwirtschaftlicher Flächen, periphere Lage), und zum anderen aus Daten zu dessen sozioökonomischer Lage (z.B.: Arbeitslosigkeit, Lohnhöhe, Einkommen, kommunale Steuerkraft, Wanderungssaldo der 18- bis 29-Jährigen, Wohnungsleerstand, Lebenserwartung sowie Schulabbrecherquote) (vgl. Küpper 2016). 57 Siehe die aktuellen WORLD POPULATION PROSPECTS: https://population.un.org/wpp/ (03.08.2020). Ihnen zufolge leben im Jahr 2018 in Deutschland 77,3 Prozent (63,6 Mio.) der Menschen in urbanen und dementsprechend 16,3 Prozent in ruralen Räumen. Demgegenüber kommt das Thünen-Institut zu eklatant anderen Ergebnissen. Ihm zufolge leben 57,2 Prozent der Menschen in Deutschland in ländlichen Räumen (die wiederum 91,3 Prozent der Gesamtfläche ausmachen) (siehe Küpper 2016: 27). 58 Claudia Neu (2016: 6) verweist hier auf empirische Untersuchungen: »1956 antworteten auf die Frage ›Wo haben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz allgemein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?‹ 54 Prozent der Befragten, dies sei in der Stadt

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2014 erschienen SPARDA-STUDIE, deren generelle Tendenz von einer weiteren Erhebung des Allensbach-Instituts, die u.a. auch durch einen Beitrag in der FAZ größere Aufmerksamkeit erlangte (Petersen 2014a, vgl. auch Petersen 2014b), bestätigt wird.59 Ihr zufolge glaubt ein Großteil der Bewohner/innen von Stadt und Land, wenn auch in verschiedenen Abstufungen, dass das Leben auf dem Land insgesamt ein glücklicheres sei.60 Abb. 4: Grafiken, die auf Basis von Umfragen von einer ungebrochenen Vorstellung eines guten Lebens auf dem Land berichten.

Links oben: Verband der Sparda-Banken (2014: 11); links unten und rechts: Petersen (2014b)

der Fall, wohingegen lediglich 19 Prozent dem Land eine höhere Attraktivität bescheinigten. Bereits 1977 hatte sich die Einschätzung zugunsten des Landes geändert: 43 Prozent entschieden sich für das Landleben, nur noch 39 Prozent für die Stadt. Heute erscheint das Stadtleben den Befragten nur noch halb so attraktiv wie das Landleben: 2014 stimmten 41 Prozent für das Land, 21 Prozent für die Stadt.« 59 Das zeigen auch nochmal jüngste Erhebungen im Kontext der Corona-Pandemie (vgl. Erhardt 2020). Demzufolge seien im Mai 2020 die Internet-Suchanfragen nach Immobilien auf dem Land »sprunghaft angestiegen« (ebd.). 60 Für eine aktuelle empirische Untersuchung siehe den Beitrag von Joachim Kreis, der ausgehend vom sog. Capability Approach die subjektiven Ansichten von Landbewohner/ innen über die Lebensqualität in ländlichen Räumen in den Blick nimmt.

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Es ist offensichtlich, dass diese Wünsche und Vorstellungen zwar nicht mit der tatsächlichen Wohnsituation korrespondieren und auch den aktuellen Arbeits-, Freizeit-, Kommunikations- und Mobilitätsbedürfnissen weitestgehend zuwider laufen,61 dafür jedoch in erstaunlicher – und sicherlich nicht überraschender – Weise mit einem gesteigerten Interesse an medialen Bildern und Narrativen des Dorf- und Landlebens zusammenfallen. Diese können auch als Ausdruck einer, wie es bei Reckwitz heißt, »Revalorisierung kleiner Orte und des Ländlichen« (Reckwitz 2020: 392) gesehen werden. Zwei neuere kulturgeographische Untersuchungen geben dazu Aufschluss über den Zusammenhang zwischen den kulturellen Imaginationen des Ländlichen und dem praktischen Handeln der Einzelnen. In einer Studie aus dem Jahr 2014 zur Raumproduktion durch Zugezogene in der Uckermark zeigt Julia Rössel, dass die Imaginationen des Ländlichen – die auch verstanden werden können als spezifische mentale Raummodelle – die individuelle Lebensführung beeinflussen und schließlich auch ganz materielle Auswirkungen haben. Rössel untersuchte anhand qualitativer Interviews die jeweiligen Motivationen derjenigen Leute, die sich bewusst dafür entschieden, in einen der am dünnsten besiedelten Landkreise Deutschlands zu ziehen – und das waren explizit Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land.62 Diese konstituierten sich aus sechs nahezu klassischen Charakteristiken, die das hier gesuchte »gute Leben« aus der Sicht der neuen Landbewohner ausmachen und die damit eine gewisse historische Beständigkeit der Zuschreibungen – Einfachheit, Freiheit, Gemeinschaft, Naturnähe, Zeit und Ruhe, Gesellschaftskritik (vgl. Rössel 2014: 222-227) – vor Augen führen. Dabei verweist die Untersuchung im Anschluss an das Raumkonzept Henri Lefebvres (vgl. dazu Schmid 2010) vor allem auch auf eine empirisch nachvollziehbare Verbindung der Wissensproduktion (den Repräsentationen von Räumen), der Bedeutungsproduktion (Wünsche, Ideale) und schließlich der materiellen Produktion (Objekte, Strukturen, Gebäude).63

61 Ulf Hahne (2014: 161) schlussfolgert auch angesichts der Erhebung: »Die psychologische Distanz zwischen Stadt und Land nimmt zu. Die Zuschreibungen von Attributen zum Landleben bleiben dabei erstaunlich konstant (gute Luft, Ruhe, Nachbarschaftshilfe) und entsprechen in vielem eher Tourismusprospekten und Kinderbuchvorstellungen vom ländlichen Leben als der Realität. Aktuelle Wertkonflikte im Umgang mit Landschaften, ländlichem Erbe und ländlicher Kultur spielten dagegen in der Umfrage keine Rolle.« 62 Dass diese auch bei der Wahl des Alterswohnsitzes eine Rolle spielen können, zeigt sich im Beitrag von Claudia Busch und Antje Römhild, die zugleich über Chancen und Probleme von sozialen Angeboten auf landwirtschaftlichen Betrieben berichten. 63 Siehe dazu den weiter ausdifferenzierenden und vertiefenden Beitrag von Christian Hißnauer und Claudia Stockinger, die ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion entwickeln und gegenwärtige Narrative des (guten) Lebens auf dem Land am Beispiel

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Symbolische und praktische Raumaneignungen stehen demzufolge im Wechselverhältnis zueinander.64 Dies lässt sich auch in den konkreten Idyllisierungsweisen der Landlust-Magazine wiederfinden, wie Christoph Baumann in einer Studie aus dem Jahr 2018 sowohl anhand von qualitativen Interviews als auch anhand von Text- und Bildanalysen ausführt. Ihm zufolge erzeugen die Magazine auf formaler, inhaltlicher und rezeptiver Ebene ganz spezifische Handlungsanweisungen für ein idyllisches Leben. Diese zeichnen sich durch sieben charakteristische Imperative aus, die eine Lebensgestaltung entwerfen, die zyklisch und geschichtsbewusst, ästhetisierend und aktiv mit den eignen Händen gestaltend, regional bzw. heimatlich und privat sowie grundsätzlich ländlich (sei es nun in der Stadt oder auf dem Land) ausgerichtet ist (vgl. Baumann 2018: 170-203). Das zeigt sich etwa in der Themenwahl und -ausrichtung, in den Fotografien und schließlich auch in den Rezeptionsprozessen sowie den daran anschließenden praktischen Tätigkeiten der Leserschaft. Die Magazine repräsentieren idyllische Praktiken und leiten diese zugleich auch perfomativ an. Sie nehmen dabei den zyklischen Chronotopos des Ländlichen auf, der gerade angesichts der Zeit- und Raumenthobenheit moderner digitaler Lebens- und Arbeitsverhältnisse Bilder und Narrative einer dem entgegengesetzten Lebensweise vermittelt, die durch (hier nunmehr: leichtere) körperliche Tätigkeit wieder in einen Einklang mit Raum (Ver- und Bearbeitung der direkten Umgebung) und Zeit (Ausrichtung am Ablauf der Jahreszeiten) weist und daher spezifische Resonanzangebote macht.65

unterschiedlicher medialer Bezugnahmen auf die Uckermark – einem ›Hotspot‹ des aktuellen Provinzerzählens – u.a. in Literatur, Film, Fernsehen und Regionalmarketing analysieren. 64 Siehe dazu den Beitrag von Gregor Arnold und Julia van Lessen, die am Beispiel des spanischen Dorfes Júzcar die Aneignung medial vermittelter Bilder, die nicht zuletzt mit Blick auf eine touristische Vermarktbarkeit vollzogen wird, sowie die damit verbundene Transformation von Fremdzuschreibungen in Selbstbilder, die sich auch im materiellen Erscheinungsbild des Dorfes niederschlägt, untersuchen. 65 Bachtin (2008: 139f.) schreibt: »Nur auf der Basis der kollektiven Landarbeit war es möglich, daß erstmals ein starkes und differenziertes Gefühl für die Zeit entstehen konnte. Hier bildete sich das Zeitempfinden heraus, das die Grundlage für die Gliederung und Gestaltung der Zeit des sozialen Alltags, der Feste und der Riten bildete, die mit dem Zyklus der Landbearbeitung, mit den Jahreszeiten und den Perioden des Tages, mit den Wachstumsstadien der Pflanzen und des Viehs zusammenhängen.«

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Abb. 5: Wie die bereits im frühen Mittelalter erscheinenden und dann zunehmend populär werdenden Monats- und Jahresbilder – hier aus dem BREVIARIUM GRIMANI (ca. 1510-1520), das nach dem Vorbild des berühmteren Stundenbuchs des Herzogs von Berry LES TRÈS RICHES HEURES aus dem frühen 15. Jh. gestaltet ist – thematisieren auch die modernen Landlust-Magazine saisonal typische Tätigkeiten; und versehen sie auf ihren Covern mit einer dazu passenden Ästhetik des Kleinen, die sich ebenfalls an natürlichen und zyklischen Zeitläufen orientieren.

Auf der linken Seite von links oben nach rechts unten: die Monate Februar, März, Juni, September, Oktober und Dezember aus dem BREVIARIUM GRIMANI; auf der rechten Seite von links oben nach rechts unten: Ausgaben 1 bis 6 der LANDLUST auf dem Jahr 2018.

Dabei zielen die idyllisierenden Imperative der LANDLUST – man könnte sagen: vermeintlich paradoxerweise – auch darauf ab, das Idyllische aus konkreten Raumund Ortsbezügen zu lösen und einen ›guten‹ ländlichen Lebensstil herzustellen, der prinzipiell nahezu überall realisierbar ist.66 Damit erhalten die mit dem Ländlichen 66 Siehe dazu auch den Beitrag von Marc Redepenning, der die Übertragbarkeit spezifischer Elemente und Praktiken des ›guten Lebens auf dem Land‹ in ihren imaginären wie auch

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verbundenen Projektionen eines guten Lebens eine neue und recht hohe Flexibilität, wie sie zu den Unruhe- und Mobilitätserfahrungen der Moderne durchaus passen (vgl. Rosa 2005; Wagner 1995). Sie sind in Imaginationen zu finden, die auf ganz Unterschiedliches verweisen: auf den eigenen kleinbegärtnerten Balkon, den Schrebergarten in der Stadt, das Ferienhaus im Grünen, den radikalen Ausstieg als Raumpionier oder aber die kurze Auszeit beim Durchblättern eines Magazins in der eigenen Badewanne. Das ›gute‹ Dörfliche und Ländliche wird dadurch zugleich von Dorf und Land entkoppelt; es ist sowohl in der Stadt als auch auf dem Land zu finden und, insofern es individuell produzierbar ist, auch (relativ niederschwellig) zu realisieren – was nicht zuletzt einer der Gründe für den immensen Erfolg der Magazine sein dürfte.67 Die Magazine sind dabei im Kontext des keineswegs konfliktlosen Übergangs von einer produktivistischen (landwirtschaftlichen) zu einer postproduktivistischen (dienstleistungsorientierten) Nutzung des Landes zu verstehen (vgl. Baumann 2018: 205). Das wird auch in einem derjenigen Bereiche, die die Wirkung der ästhetischen Bilder des Ländlichen wohl am direktesten vor Augen führen, deutlich: im Tourismus. Sind touristisch attraktiv erscheinende ländliche Regionen von diesem doch auch hinsichtlich ihrer Siedlungsformen, Erwerbsstrukturen und Lebenswelten geprägt (Vonderach 2019: 26). Davon erzählt Robert Seethalers Bestsellerroman EIN GANZES LEBEN (2014) am Beispiel der Transformationen, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts im alpinen Raum ereignen. Aus der Perspektive des Protagonisten Andreas Egger, einer Außenseiterfigur, die gleichermaßen die Verwerfungen (nicht nur) vormoderner Gesellschaften veranschaulicht wie auch die zunehmende Beschleunigung der Zeitläufte kontrastiert, berichtet der Text vom Einbruch der Moderne, die anlässlich des Baus einer Seilbahn als gewaltiges Projekt aus Menschen und Maschinen über den Ort hereinbricht.68 Es erscheint gleichermaßen erhaben wie auch schmerzbringend.

realen Gestalten auf die Stadt sowie die damit verbundene Ausbildung rurbaner Strukturen diskutiert und dabei das komplexe Verhältnis latenter und manifester Geographien von Stadt und Land vor Augen führt. 67 Der zugleich auch neue Akteure der Gestaltung des Ländlichen mit sich bringt; siehe dazu Neu (2016 u. 2018), die anhand qualitativer Inhaltsanalysen von Ratgebern und Erfahrungsberichten eine Typologie – von den ›Landlustigen‹ über die ›Money-Poor-TimeRich-Typen‹ bis hin zu den ›Aktivisten‹ – hinsichtlich Motivlage und Praktiken erstellt. 68 So etwa zu Beginn, wo Egger von einer Erhöhung aus »beobachtete, wie eine gelbliche Staubwolke den Taleingang verdunkelte, aus der sich gleich darauf der aus zweihundertsechzig Arbeitern, zwölf Maschinisten, vier Ingenieuren, sieben italienischen Köchinnen sowie einer kleineren Anzahl nicht näher zu benennender Hilfskräfte bestehende Bautrupp der Firma Bittermann & Söhne löste und sich dem Dorf näherte. […] Der Trupp

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Mit diesem Einbruch der Moderne ändern sich – im Roman Seethalers wie auch in der Realität – Leben und Umgebung grundsätzlich. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Sie lässt Berge erzittern und Religiosität verstummen, fordert Opfer von Menschen und Natur, und verspricht nicht zuletzt gutes Leben. Im Zuge dessen erzeugt die Modernisierung des Ländlichen eine neue Wahrnehmung der Landschaft; und zwar aus den Perspektiven der Bewohner einerseits wie auch der Besucher andererseits. Abb. 6: In seiner Serie HINTER DEN BERGEN stellt Lois Hechenblaikner historischen Aufnahmen aus einem Nachlass aktuelle eigene Bilder gegenüber und weist gerade durch die strukturellen wie inhaltlichen Ähnlichkeiten auf die radikalen Veränderungen hin.

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Mit den räumlichen Veränderungen – aus Wäldern werden Pisten, aus Weiden Parkplätze – geht die Ausbildung neuer Lebensverhältnisse einher: die agrarische Subsistenzwirtschaft wandelt sich zur touristischen Dienstleistungsgesellschaft, aus Bauern werden Unternehmer oder Angestellte.

bildete nur die Vorhut einer Kolonne von schweren, mit Maschinen, Werkzeugen, Stahlträgern, Zement und anderen Baumaterialien beladenen Pferdefuhrwerken und Lastwagen, die sich im Schritttempo über die unbefestigte Straße bewegte. Es war das erste Mal, dass im Tal das dumpfe Knattern von Dieselmotoren widerhallte.« (Seethaler 2014: 16)

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»In allen Farben glänzende Automobile kamen durch den Taleingang herangesaust und spuckten auf dem Dorfplatz Ausflügler, Wanderer und Skifahrer aus. Viele der Bauern vermieteten Fremdenzimmer und aus den meisten Ställen waren die Hühner und Schweine verschwunden. Stattdessen standen jetzt Skier und Stöcke in den Koben und es roch nach Wachs statt nach Hühnerkacke und Schweinemist.« (Seethaler 2014: 97)

Aus der Innenperspektive berichtet der Roman von der Entstehung und Etablierung einer Geräuschlandschaft, in der nunmehr neue Töne – »sirrende Kabel« (ebd.: 16), »das gedämpfte Surren der Motoren« (ebd.: 130), »das metallische Klacken der Skibindungen und das Knarren der Skischuhe« (ebd.: 133), »das Geschwätz der Touristen« (ebd.: 138), »das dumpfe Brummen der Pistenraupen« (ebd.: 139) – beständig anwesend sind. Der Raum ist nun anders ›gestimmt‹. Aus der Außenperspektive bietet der Roman eine Kurzfassung der Kompensationstheorie: »Offenbar suchten die Menschen in den Bergen etwas, von dem sie glaubten, es irgendwann vor langer Zeit verloren zu haben.« (Ebd.: 118) Der moderne Tourismus wird hier zur einer, wie es in Valentin Groebners RETROLAND heißt, »Zeitwiederbeschaffungsmaschine« (Groebner 2018: 16). Er macht sich, gerade weil er auf Modernisierung und Beschleunigung basiert,69 auf die Suche nach dem verloren geglaubten Echten, Wirklichen und Authentischen, das in die Vergangenheit weist (vgl. ebd.: 29) – und eben im Ländlichen zu finden sei. Gerade auch die Vorstellung der Bedrohung und des Verschwindens dieses vermeintlich Authentischen, das etwa in den ländlichen Traditionen zu finden sei, führt zu einer gesteigerten »Intensität des Erlebens« (ebd.: 79). Dass Vorstellungen des Authentischen zur Herstellung und Beglaubigung von Singularitäten genutzt werden, zeigt sich im Konzept von Reckwitz;70 dass sie im Laufe der Moderne die ethischen Leitbilder der Autonomie

69 Die Entstehung des (Massen-)Tourismus – als einem »gewichtige[n] Phänomen der Moderne« (Groebner 2018: 15) – ist dabei nicht nur mit Entwicklung, Ausbreitung und Verbilligung von Personentransport und Infrastruktur verbunden, sondern ebenso an Medieninnovationen – »neue Vervielfältigungskanäle wie illustrierte Reiseführer, Werbeplakate und Ansichtskarten« (ebd.) – geknüpft. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts handelt es sich auch in den ländlichen Räumen um eine gewaltig expandierende Dienstleistung, die mit zunehmender Überformung des Landes verstärkt auf mediale Mittel zurückgreift, um idealisierte Vorstellungen anzusprechen und Authentisches neu zu konstruieren (vgl. Rein/Zeppenfeld 2019). 70 Bereits auf der ersten Seite seines Buches verweist er am stellvertretend stehenden Beispiel des Tourismus auf die damit verbundenen spätmodernen Anforderungen: »Reiseziele beispielsweise können sich nicht länger damit begnügen, einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit des Ortes, die besondere Stadt mit authentischer Atmosphäre, die exzeptionelle Landschaft, die

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ablösen und ersetzen, zeigt sich im Konzept von Rosa.71 Dabei ist Authentizität als mediale Kategorie zu verstehen, die auf spezifischen Inszenierungen beruht, die die Reproduzierbarkeit des jeweils ›Authentischen‹ gewährleisten sollen. »Das Authentische ist deswegen authentisch, weil es im Namen von Unmittelbarkeit und Intensität wiederholt werden kann. Das Wort sagt nichts über einen Gegenstand aus, sondern über den Prozess, der ihn erneut zur Verfügung stellt, durch technische (oder juristische) Verfahren zu seiner Vervielfältigung, die erst multiples Erscheinen ermöglichen.« (Ebd.: 181)

Allerdings basiert die gesteigerte Intensität des Erlebens des Ländlichen nicht nur auf einer imaginären Wiederentdeckung eines ›guten‹ Authentischen, sondern gerade in spätmodernen Erlebnisgesellschaften72 auch auf einer ›Eventisierung‹ des Raums. Erzählt Seethalers Roman vom historischen Beginn und weiteren Verlauf dieser Entwicklung, so dokumentieren Lois Hechenblaikners Fotografien deren (vorläufigen) End- und Höhepunkt. Die romantischen und romantisierenden Vorstellungen vom guten Leben auf dem Land in Übereinstimmung des eigenen Selbst mit der Natur und den Mitmenschen – ja, selbst die lediglich kurzzeitige Illusion der Wiederherstellung einer solchen Verquickung – haben sich hier in ihr Gegenteil verkehrt. Das wird bei Hechenblaikner in mehreren Werkserien und Fotobänden vornehmlich am Beispiel Tirols erkennbar. Sie bieten anhand eines Rückgriffs auf verschiedene fotografische Genres – u.a.: Portraits von Personen und Gruppen, Bilder von Dingen und Szenen, Architektur- und Landschaftsfotografie – eine systematisch angelegte und umfassende Bestandsaufnahme, die gleichermaßen die Voraussetzungen und Hinterlassenschaften von Individuen und Massen im Ländlichen fokussiert. Diese Bestandsaufnahme zoomt zugleich heran und heraus. In Nahaufnahmen fokussiert sie kleinste Details (etwa Schriftzüge, Mobiliare, Rechnungen, Equipments), die als charakteristisch für die touristischen Bereitstellungen und Nutzungen gelten können; in Panoramaaufnahmen überblickt sie das Verhältnis

besondere lokale Alltagskultur, denen nun das Interesse des touristischen Blicks gilt.« (Reckwitz 2020: 7) Vgl. dazu im Kontext von Stadtbildern auch Löw (2018: 166-181). 71 »Verlangt Autonomie, dass wir uns selbst bestimmen, so soll der Maßstab der Authentizität gewährleisten, dass wir uns ›richtig‹ zu bestimmen vermögen, nämlich so, dass wir uns selbst verwirklichen können.« (Rosa 2020: 42, Hervorh. im Original) 72 Unter den Perspektiven, wie sie Gerhard Schulze (1992) in seinem auch empirisch fundierten Aufriss moderner Gesellschaften als »Erlebnisgesellschaften« vorgestellt hat, werden sowohl die subjektiven als auch die sozial geschaffenen oder zu gestaltenden Anteile an den Möglichkeiten, das Land und damit verbundene Landschaften zu erleben, hinsichtlich ihrer Bedeutung für aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge erkennbar.

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von Mensch und Landschaft, das von einer einseitigen Einwirkung kündet. Dabei hält der Fotograf diejenigen Orte und Situationen fest, die für den modernen Tourismus ganz und gar prägend sind, in den romantischen Bildern jedoch keineswegs vorkommen: die durchfurchten Pisten im Sommer, die verborgenen Logistiken der Gastronomien mit ihren computergesteuerten Messsystemen, die anonymen Massenevents alpiner Freizeit- und Kulturindustrie sowie die dafür bereitgestellten standardisierten räumlichen Arrangements u.a. in den Hotels und Aprés-Ski-Hütten. Sie erzeugen, insbesondere auch im temporär ungenutzten Zustand, befremdliche Bilder der sozialen Formationen und topografischen Transformationen. So dokumentiert z.B. die Serie BERGWERK die massiven maschinellen Bearbeitungen und Umformungen der Landschaft, ohne die der moderne Massentourismus im Alpinen unmöglich wäre und die doch üblicherweise ungesehen bleiben. Abb. 7: Das Land als Ort der Arbeit: BERGWERK zeigt die alpine Landschaft als ein von Maschinen dominiertes Industriegebiet und betoniertes Brachland, das weitestgehend menschenlos und menschenabweisend erscheint.

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Die Serie GAUDI ZONE nimmt demgegenüber die Endverbraucher in den Blick. Ist mit der sozialwissenschaftlichen Erforschung des ländlichen Tourismus spätestens seit den 1970er Jahren häufig eine kritische Perspektivierung und abwägende Einordnung der Entwicklungen verbunden, die einerseits als mitunter neue Chancen der Werterzeugung, Weiterentwicklung und letztlich auch des ›Überlebens‹ gerade strukturschwacher Regionen gewertet sowie andererseits als offensichtliche Formen der Umweltzerstörung und des ›Konsums‹ von Landschaft gesehen werden,73 so

73 Eine jüngste Aktualisierung dieser Konsumkritik findet sich ebenfalls bei Rosa, der darauf verweist, dass es sich sowohl in der naturästhetisch-rezeptiven als auch in der romantisch-kontemplativen Natur- bzw. Landschaftswahrnehmung lediglich um ein ›halbiertes‹ Resonanzverhältnis handle, da Natur hierbei »nicht tätig anverwandelt« (Rosa 2020: 468) werde. Er spricht in diesem Kontext auch von der »Verbannung der

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führen die Aufnahmen hier eine enthemmte Eventkultur vor, die vielfach als Ausdruck der Zersetzungstendenzen spätmoderner Gesellschaften gedeutet wird. 74 Abb. 8: Das Land als Ort des Ausbruchs: GAUDI ZONE widmet sich dem massenhaft kultivierten und beständig wiederholten Exzess.

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Diese Eventkultur baut nicht zuletzt auf einer sozial wirkmächtigen intermedialen Bildkonzeption auf, die das Ländliche als Leerstelle vorstellt (Weiland 2018b). Sie bildet die Voraussetzung dafür, die sozialen (Erlebnis-)Ansprüche in und auf es zu projizieren und schließlich auch das Land neu einzurichten; ja: zu ›kolonialisieren‹. Abb. 9: Das Land als Abenteuerspielplatz: Wie in einem Wimmelbild tummeln sich hier die Angebote und Erlebnisse.

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Naturbegegnung in zeitlich und räumlich standardisierte und kommodifizierte Resonanzoasen« (ebd.: 469). 74 Das belegt insbesondere die breite mediale Aufmerksamkeit für Hechenblaikners Band ISCHGL (2020), der sich mit eben jenem Ort befasst, der – als einer der zentralen ›Hotspots‹ – kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie zum Schlagwort und Synonym spätmoderner Verwerfungen und Abgründe werden sollte: »Hemmungslosigkeit, Maßlosigkeit, Besinnungslosigkeit, Geschmacklosigkeit« (Strobel y Serra 2020).

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Auf imaginäre Leere folgt reale Fülle. Die Bilder und Narrative des Ländlichen sowie die mit ihnen verbundenen Ideen führen dadurch zu einer Überformung der konkreten topografischen Gegebenheiten. Aus einer Projektionsfläche wird, im Guten wie im Schlechten, ein Gestaltungsraum. Zieht in Seethalers Roman der Protagonist Egger durch die bergigen Regionen, »um im Namen des Fortschritts die Wälder zu roden und Eisengerüste oder Betonpfeiler in den Boden zu pflanzen« (Seethaler 2014: 43), so führen Hechenblaikners namenlose maschinelle und menschliche Protagonisten diesen ›Auftrag‹, der im Grunde schon längst an sein Ende gelangt ist, in praktisch automatisierter Weise weiter fort und arbeiten in ihrer jeweils eigenen Art an einer vollständigen Vernutzung der einstmals als ›schön‹ gerahmten und konstruierten Landschaft. Diese kehrt allerdings in anderer Gestalt wieder: als kitschiges Dekor. Die Serie ALPINE WELLNESS führt am Beispiel der Inneneinrichtung von Wellnessanlagen die vom realen Raum nahezu komplett losgelöste mediale Inszenierung alpiner Idyllen vor Augen. Abb. 10: Das Land als Ort der Erholung: ALPINE WELLNESS dokumentiert die Reproduktion und Verlagerung alpiner Landschaften in den Innenraum der Hotels.

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Damit stehen Hechenblaikners fotografische Langzeitdokumentationen den Vorstellungen, dass ein gutes Leben abseits moderner Metropolen im vermeintlich naturnahen und traditionsorientieren Ländlichen zu finden sei, diametral entgegen.75 Dies ergibt sich auch aus den Transformationen, die zentrale Bestandteile der Topoi des ›guten‹ Ländlichen vollzogen haben. Gerade hier zeigen sich die Schattenseiten moderner Funktionalisierungen des Landlebens, die nicht zuletzt aus diesem selbst heraus entspringen.

75 Wodurch sich nicht nur die gegenwärtigen Imaginationen des Ländlichen auch gegenüber einer allzu wohlfeilen Kulturkritik der Moderne (Bollenbeck 2007), die das Ländliche als idealisiertes Gegenbild zu allerhand Verwerfungen nutzt, absetzen lassen.

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Mit den jeweils unterschiedlichen Nutzungsweisen des Landes wie auch mit den Bildentwürfen des Ländlichen sind jeweils unterschiedliche individuelle und kollektive Ansprüche und Erfahrungen verbunden.76 In den ästhetischen Gestalten des Landes finden sich historische und soziale Erfahrungen und Wahrnehmungen gesammelt und bearbeitet, die mittlerweile auch weitestgehend losgelöst von dem Ort ihrer ›Herkunft‹ ›weiterleben‹ und auf die jeweils aktuellen Lebenswelten zurückwirken. Die Persistenz und Wiederbelebung der klassischen Bilder und Narrative des Ländlichen sind dabei sowohl Ausdruck als auch Wirkung unterschiedlicher Vorstellungen und Denkfiguren des guten Lebens (bzw.: dessen Gegenteil);77 sie beeinflussen damit auch gegenwärtig wieder die individuelle und kollektive Positionierung und Orientierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen.78 Unter den Bedingungen fortgeschritten moderner Gesellschaften, also stark durch mediale Wissensformen und Unterhaltungsformate geprägter, verbreiteter und gestiegener Ansprüche auf individuelle und damit ausdifferenzierte Selbstverwirklichung sowie erweiterter ökonomischer wie auch zeitlicher Möglichkeiten sozialen Miteinanders und individueller Selbstverortung, bilden die Vorstellungen vom Land ebenso wie die darauf bezogenen Erfahrungen einen eigenen Vorrat an Themen, Bildern und Gefühlslagen aus, der sich im Sinne Rosas zur Konstitution von Resonanzerwartungen und Resonanzerfahrungen nutzen lässt. Auch dieser ist

76 Für eine aktuelle Evaluation der diversen Situationen und Perspektiven ländlicher Räume siehe den Beitrag von Ulf Hahne, der diese im Kontext globaler Transformationsprozesse wie auch gesellschaftlicher Diskurse um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und das gute Leben in der Spätmoderne verortet. 77 Das gilt auch für ideologisch überhöhte Ländlichkeiten (Bauerkämper 2019), die gegenwärtig das politische und kulturkritische Feld in seiner ganzen Bandbreite ausmessen und erneut Konfliktfelder und Prozesse sozialer Schließungen formieren: Das vermeintlich ›naturnahe‹ Leben kann einer ›linken‹ Entfremdungs- und Kapitalismus-Kritik ebenso zur Folie dienen wie einer ›reaktionären‹ Besinnung auf die Grundlagen eines imaginierten ›einfachen‹ Lebens unter kulturalistisch Seinesgleichen. Individuelles Wohlergehen in schöner Natur steht dabei neben kommunaler Landbearbeitung sowie anarchistischen oder auch völkischen Siedlungsprojekten. 78 Siehe dazu den Beitrag von Marcus Heinz und Jens Reda, die anhand empirischer Fallstudien die miteinander konfligierenden Konstruktionen des Ländlichen insbesondere mit Blick auf das konkrete Handeln von Akteuren in ländlichen Räumen untersuchen und dabei die Relevanz gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibungen – zwischen Idealisierung und Problematisierung des Ländlichen – herausstellen.

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wieder in historische Entwicklungen eingebettet und als Aushandlungsort sozialer, kultureller, politischer und ökonomischer Interessen und Strategien zu bestimmen. Waren Ritters Überlegungen in den 1960er Jahren bereits im Schatten eines mit den Weiterentwicklungen der modernen Industrie- und Wissensgesellschaften verbundenen zunehmenden Verbrauchs an Natur und Landschaft formuliert, mit deren Verlust dann auch eine zunehmende Entwertung des Menschlichen sowie eine wachsende Selbstentfremdung der Menschen in der Moderne (vgl. Ritter 1963: 163) angesprochen, wenn nicht gar diagnostiziert werden sollte, so lassen sich nach der Jahrtausendwende aufs Neue nicht nur Bestrebungen erkennen, die ebenso auf eine Wiedereinsetzung des Subjekts – sein »Empowerment« (vgl. Bröckling 2004 u. 2007) – zielen wie sie zugleich auch – bereits in den 1970er Jahren beginnend (vgl. Lipp 1986) – eine Art der Restrukturierung ›des Landes‹, vielfach als ›Wiederbelebung‹ bzw. Entwicklung lebenswerter ländlicher Räume verstanden, auf die Tagesordnung setzen. In dieser Zwischenlage zwischen kulturellen Diskursen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ansatzpunkten und Entwicklungsprogrammen stellen die Bilder und Narrative eines ›guten Lebens auf dem Land‹ eine eigenständige Verhandlungssphäre bzw. »Diskursarena« (Schiffauer 1997: 169) dar. Literarische, filmische und künstlerische Interventionen können dabei ebenso wie bspw. entsprechende Beiträge der Agrarsoziologie und Kritischen Geographie, der Landschaftsplanung und der kommunalen bzw. regionalen Selbstbeschreibung ländlicher Räume (vgl. dazu das Konzept der Landschaftskommunikation; Anders/ Fischer 2012 u. 2019) als Medien und Instrumente gesehen werden, mit denen das kollektive Selbstverständnis im Umgang mit Subjektivität und Lebens(um)welt unter den Bedingungen fortgeschrittener gesellschaftlicher Entwicklungen diskutiert und reflektiert wird.79 Während die ›klassischen‹ Moderne-Theorien entweder eher von einer Angleichung der Lebensverhältnisse im weiteren Fortgang gesellschaftlicher Entwicklungen oder von einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Muster und Möglichkeiten der Lebensführung ausgingen (vgl. dazu Wagner 1995: Kap. 1 u. 2), scheinen zeitgenössische Beschreibungen stärker von Mischungsverhältnissen zwischen Entwicklungen der Angleichung und solchen der Diversifizierung zu berichten (vgl. Schwinn 2006; Reckwitz 2020). Vor diesem Hintergrund gewinnen dann sowohl Konzeptionen eines ›guten Lebens‹ (vgl. Rosa 2012 u. 2020) als auch Impulse zu einer innovativen Gestaltung ländlicher Räume erneut eine hohe Aufmerksamkeit u.a. in künstlerischen, medialen, politischen und alltäg-

79 Dass der zeitgenössischen Literatur des Landlebens nicht zuletzt angesichts aktueller Krisen und potenzieller Katastrophen, die im Zeitalter von Anthropozän und Klimawandel längst absehbar geworden sind, eine soziale Bedeutung zukommt, zeigen Barbara Piatti und Thomas Streifeneder, die in und mit ihrem Beitrag das Projekt eines engagierten Rural Criticism verfolgen und ein neues Erzählen von ländlichen Räumen fordern.

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lichen Diskursen, Praktiken und Planungsprozessen.80 Drei Aspekte und Entwicklungslinien sind dabei zu berücksichtigen. Zum Ersten: Die Vorstellung eines im Leben zu erkundenden und dann auch (sozial) zu gestaltenden Guten81 in einer personalen Perspektive stellt historisch ein Produkt der europäischen Neuzeit dar. 82 Ihre Bedeutung erhält sie vor dem Hintergrund der Auflösung eines allgemeinverbindlichen telos und einer damit einhergehenden Pluralisierung und Individualisierung – und schließlich auch: Privatisierung – des Guten (Rosa 2020: 38).83 Als vormodern können diejenigen Konzeptionen eines guten Lebens verstanden werden, die, sei es in substantieller oder traditionaler Weise, dem Einzelnen wie auch der Allgemeinheit vorgegeben sind und deren Leben allgemeinverbindlich zu regeln und anzuleiten suchen (vgl. Lohmann 2007: 41). Es handelt sich dabei um Bestimmungen, die ihre Verbindlichkeit bspw. aus einer festen anthropologischen oder religiösen Vorbestimmung des Menschen gewinnen oder auf ein unabhängig vom menschlichen Wollen existierendes oberstes Gut verweisen (vgl. ebd.: 41f.). Wird jedoch einerseits der Mensch, wie in modernen Anthropologien üblich, als offene (mitunter auch: unbestimmbare) Form, als ausgestattet mit verschiedenen Potenzialen und Bedürfnissen, gedacht und/oder andererseits die Erkennbarkeit und Wissbarkeit eines obersten Guts, wie in modernen Epistemologien üblich, fraglich und problematisch, stellt sich nicht nur mit Rosa (2020: 42) erneut die Frage: Nach welchen Kriterien soll bzw. kann sich ein Individuum vor dem Hintergrund der Privatisierung des Guten ein Bild und einen

80 Vgl. den Beitrag von Marta Doehler-Behzadi, die in ihrem Essay am Beispiel des ländlich geprägten Thüringens sowie mit Blick auf Projekte der IBA STADTLAND gegenwärtige Anforderungen und Chancen ›rurbaner‹ Räume im Kontext umfassender Urbanisierungsschübe und globaler Problemlagen aus planerischer Perspektive erörtert. 81 Für begriffsgeschichtliche Bezüge vgl. Bartuschat (1974) und Regenbogen (2010). 82 Sie lässt sich entlang einer Linie sozialer Emanzipation und individueller Selbstbestimmung verfolgen, die sich mit der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaft und den damit verbundenen rechtlichen und politischen Autonomie-Vorstellungen des Individuums sowie den entsprechenden Partizipationsvorstellungen der es umgebenden sozialen Gruppen ausbildet (vgl. Tenbruck 1986). Nicht zuletzt hat dieses Narrativ einer persönlich zu gestaltenden und zu verantwortenden Lebensführung – als Leitvorstellung bereits im Adelsideal des 17. und 18. Jahrhunderts vorformuliert (vgl. Brunner 1949) – im Bildungs- und Entwicklungsroman seit dem 18. Jahrhundert, von TOM JONES (1749) bis zu DAS GLASPERLENSPIEL (1943) und darüber hinaus, ein Rollenmodell gefunden, das im Zuge einer Ausweitung von Bildungsvorstellungen auch als Orientierungsgröße für Leser/innen und weitergehende Bildungsprozesse genutzt wurde. 83 Dass sich diese Tendenz zur Privatisierung auch in den neueren Vorstellungen und Praktiken des Ländlichen findet, zeigen u.a. Rössel (2014) und Baumann (2018).

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Entwurf vom guten Leben machen? Sie ist auch in Beziehung zu setzen zu einer, so Lohmann, noch weitgehend vernachlässigten Frage – nämlich: »Welche Rolle spielen Orte oder vielleicht allgemeiner der Raum in Konzeptionen eines guten Lebens?« (Lohmann 2007: 45) Geht die Frage nach dem guten Leben doch immer auch von einer bestimmten Position des Individuums – als eines leiblichen Wesens – im Raum aus und ist auf eine ebensolche (andere) Position gerichtet (vgl. ebd.). Dabei lassen sich verschiedene Wechselwirkungen zwischen Ort und Individuum denken. Zum einen tritt der Mensch mit bestimmten Vorstellungen und Anforderungen an einen Ort heran, die seinen eigenen Lebensvorstellungen entsprechen und eben dort entweder angemessen entfaltbar sind oder aber zu einer Umgestaltung des Orts führen. Hierfür lässt sich mit Blick auf ländliche Räume u.a. auf die Beispiele der Raumpioniere, Künstlerkolonien oder Lebensreformbewegungen verweisen.84 Auch die Tradition der Bildungs- und Entwicklungsromane mitsamt ihren Reisen über Land und ihrem Ankommen in ländlichen Räumen, die mitunter zur Ausbildung bisher noch ungeahnter individueller Potenziale führen, prägt die Vorstellung eines guten und zu entdeckenden Ländlichen.85 Zum anderen wirkt sich aber auch der Ort mitsamt seiner spezifischen Geschichte und Gestalt auf das Individuum aus und gibt diesem bestimmte Sozialformen und Lebensweisen vor. Hierfür lässt sich u.a. auf die immer wieder hervorgehobenen Funktionen lokaler Vergemeinschaftung verweisen, die dem Einzelnen, sei er nun in sie hineingeboren oder hineinge-

84 Ob freilich, in welchem Maße und für wen sich die Vorstellung eines guten Lebens unter den Bedingungen der Vormoderne, erst recht im Blick auf illiterale Bevölkerungsgruppen (vgl. Federici 42014; Laslett 1986; Kaschuba 1990) und deren schriftlich eben nicht dokumentierten Wünsche und Erfahrungen, überhaupt bestimmen lassen, muss dagegen offen bleiben und kann nur in Einzelfällen diskutiert werden. Siehe dazu Carlo Ginzburgs DER KÄSE UND DIE WÜRMER (1979); vgl. dazu auch die im späten 18. Jahrhundert einsetzende autobiographische Literatur von Angehörigen ländlicher und städtischer Unterschichten, die wie Karl Philipp Moritz oder »Der arme Mann von Toggenburg« Zugang zur Schriftlichkeit fanden und gesellschaftlich aufsteigen konnten. Festzuhalten ist, dass sich mit der Wende zur bürgerlichen Gesellschaft – auch im Schatten der Französischen Revolution von 1789 – die Leitvorstellungen von Freiheit und Gleichheit ausbreiteten und eine sukzessive Ausweitung bürgerlicher Normen und Befähigungen auf darunter liegende Bevölkerungsschichten, zumal auf Landbewohner (Nell 2019) und weitere randständige Gruppen, stattfand. Dadurch konnten sich auch der Anspruch auf und die Orientierung an Erwartungen eines guten Lebens verbreiten und verfestigen – und so zu einer Leitvorstellung ›für alle‹ werden. 85 Wobei diese literarische Vorstellung neben den Erfahrungen des Reisens auch Fragen ländlicher Lebensführung und Raumgestaltung zur Diskussion stellt. Siehe dazu etwa Rousseaus ÉMILE (1762) und Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN (1808).

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zogen, im Rahmen der Nachbarschaft Verbundenheit und Identität ebenso vermitteln (können) wie sie gegenseitige Hilfeleistungen und gemeinsame Aktivitäten sowie soziale Beobachtung und Kontrolle erzeugen (vgl. Laschewski et al. 2019: 7). Davon berichten in vielfacher Weise die Traditionslinien der literarischen Dorfgeschichte86 wie auch der Kleinstadtliteratur.87 Zum Zweiten: Ausrichtung und Ausgestaltung des ›guten Lebens‹ nehmen im Zuge der mit der europäischen Neuzeit verbundenen Verlagerung der Selbstverortung der Menschen in die Immanenz (Blumenberg 1969) ebenfalls innerweltliche Dimensionen an. Dadurch lässt sich die bei Aristoteles schon angelegte Rahmung und Verortung des guten Lebens im Nahbereich der Familie, der Hausgemeinde und der Polis (Aristoteles 1967 I, 3) nicht nur in konkreten Beobachtungen und Maßgaben hinsichtlich des Umgangs mit materiellen Gütern, im sozialen Leben und mit sich selbst wiederfinden, sie bieten auch einen Ausgangspunkt für jene politischen und sozialen Ansprüche und Leistungen, mit denen bspw. Martha Nussbaum (1999) Parameter benennt, die im Sinne einer ›Minimaldefinition‹ die Grundlagen für die Erfahrung und Stabilisierung eines ›guten Lebens‹ in den Rahmensetzungen gegenwärtiger Gesellschaften darstellen sollen. Zielen diese und andere aktuelle Vorschläge zur Gestaltung eines ›guten Lebens‹, und zwar auch unter Berücksichtigung der Diversifizierungen und ›feinen Unterschiede‹ (Pierre Bourdieu) in den Geschmacksrichtungen, Erlebnisansprüchen (Gerhard Schulze) und materiellen Bedarfen, auf eine soziale, politische und auch ökonomische Grundversorgung ab – also bspw. auf Lebensmittel, medizinische Versorgung und Gesundheit, Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen, Auskommen, Bildungschancen, Wohnsituationen, Sicherheit sowie nicht zuletzt auch soziale, kulturelle und politische Teilhabe –, so stellen die damit verbundenen Parameter in Bezug auf ländliche Lebens- und Erfahrungswelten mitunter auch spezifische Nachholbedarfe, Mängel oder Unterversorgungen heraus,88 während im Gegenzug die zugleich

86 Siehe dafür z.B. Berthold Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN (ab 1843), in und mit denen der Autor auch ein Programm kultureller Integration verfolgt (vgl. Twellmann 2014). 87 Siehe dafür z.B. Wilhelm Raabes Roman DIE AKTEN DES VOGELSANGS (1896), der im Kontext voranschreitender Transformations- und Suburbanisierungsprozesse das Konzept nachbarschaftlicher Bindungen ins Zentrum rückt (vgl. Mohnkern 2017). 88 So mitunter schon in der Literatur des bürgerlichen Zeitalters. Auch hier ist es Jean Paul, der in poetisch vielfach gerahmter Weise – teils kritisch, teils humoristisch überformt – unter anderem Armutsverhältnisse auf dem Land fokussiert und dabei vernachlässigte soziale Figuren in den Blick rückt. So z.B. in der Beschreibung der Existenzbedingungen eines Landschullehrers im Porträt seines Großvaters aus der SELBERLEBENSBESCHREIBUNG

(1818/1819): »Sein Schulhaus war ein Gefängnis, zwar nicht bei Wasser und Brot,

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vorhandenen Bilder und Narrative des Ländlichen häufig immaterielle Werte, Leistungen und Orientierungen hervorheben. Auch wenn diese gerade im Blick auf die realen Defizite leicht als Wunschräume, ideologische Besetzungen, Kitsch oder Werbemittel erkennbar sind, werden doch gerade in der weiten Verbreitung dieser imaginären Bezugnahmen auch wieder Ansprüche und Bedarfe erkennbar, die über die gewünschte Zufriedenstellung materieller Bedürfnisse hinausgehen. Vor diesem Hintergrund hat zuletzt Hartmut Rosa den Versuch unternommen, eine Vorstellung guten Lebens zu entwickeln, die in der Herstellung und Gestaltung von Resonanzerfahrungen nicht nur einen Gegenentwurf zur »eigendynamische[n], selbstzweckhafte[n] Steigerungslogik der Moderne« (Rosa 2020: 53)89 darstellt, sondern damit gleichsam auch materielle und spirituelle, individuelle und soziale Dimensionen anspricht:

aber doch bei Bier und Brot; denn viel mehr als beide – und etwa frömmste Zufriedenheit dazu – warf ein Rektorat nicht ab […]. Und an dieser gewöhnlichen […] Hungerquelle für Schulleute stand der Mann 35 Jahre und schöpfte.« (Jean Paul 1985c: 1041) Oder in der Leichenrede auf eine Dienstmagd, deren armselige Existenz er im Anhang seines letzten Romans DER KOMET ODER NIKOLAUS MARGGRAF (1820/1822) in einer Mischung aus bitterer Satire und anteilnehmender Rührung schildert: »Immer wechselten Freud’ und Leid wunderlich bei ihr. Ein neuer Besen war ihr ein Palmzweig […] – umgekehrter Christbaum und Maienbaum. […] Reiner blieb ihr Genuß eines ganz neuen Tragkorbs, zumal wenn er und also sie recht viel tragen konnte.« (Jean Paul 1985b: 1029f.) Treten hier Arbeitslast und Armut ebenso wie Abhängigkeit und blockierte Lebenschancen als Merkmale eines Lebens auf dem Land in den Vordergrund, so tragen diese Beobachtungen doch dazu bei, die Anerkennung der Landbevölkerung, zumal auch der ländlichen Unterschichten, im Sinne einer »verhältnismäßigen Aufklärung« (vgl. Sauder 1974) einzufordern. Aspekte eines ›guten Lebens auf dem Land‹, insbesondere dort, wo sie von ihrer Mangel-Seite her geschildert werden, erscheinen damit als Bezugspunkte einer auch aktuell noch immer zu führenden Debatte um die Möglichkeiten gesellschaftlicher Wohlfahrt und die Bedeutung individueller Sinnbedarfe und Sinnsetzungen. 89 Dabei identifiziert Rosa (2020: 44) vier Strukturmomente der Moderne, die den Hintergrund für das zu entwickelnde Konzept eines guten Lebens bilden: einen offenen ethischen Horizont, eine Privatisierung des Ethischen, eine dynamische Stabilisierung und eine grundsätzliche Konkurrenz der Individuen und Kollektive untereinander. Entsprechend sei es in den davon geprägten Gesellschaften für Menschen ratsam, »die je eigenen Möglichkeitshorizonte und Reichweiten auszudehnen« (ebd.: 45).

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»Resonanz soll mithin also den Maßstab für ein gelingendes Leben liefern, einen Maßstab, der es erlaubt, Lebensqualität nicht mehr nur indirekt an der Steigerung von materiellem Wohlstand, Optionen und Ressourcen, sondern direkt an der Qualität der Weltbeziehung zu messen. Ein gutes Leben ist dann eines, das reich an Resonanzerfahrungen ist und über stabile Resonanzachsen verfügt.« (Ebd.: 749)

Gerade indem Rosa in den drei von ihm aufgestellten Resonanzachsen die menschlichen Weltverhältnisse auf horizontaler Ebene zu den Anderen (bspw. in Form von Gemeinschaftsbildung), auf diagonaler Ebene zu den Dingen (bspw. vermittels Arbeit) und auf vertikaler Ebene zu den Transzendenzen (bspw. Beziehungen zur Natur) (vgl. ebd.: 331-340) als Dimensionen des Erlebens und Handelns unter den Bedingungen gegenwärtiger Moderne thematisiert, trägt er sowohl den unterschiedlichen Orientierungen als auch den damit verbundenen heterogenen sozialen Lagerungen, etwa zwischen Bedürfnissen nach materieller Versorgung, sozialer Anerkennung, kultureller Ansprache und Unterhaltung, individueller Sinnorientierung und spiritueller Erbauung, Rechnung. Dies nimmt die unterschiedlichen Bedarfe auf, berücksichtigt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung ebenso wie die zunehmende Individualisierung von Vorstellungen eines ›guten‹ und/oder ›gelingenden‹ Lebens. Zugleich bietet die von Rosa nicht weiter ausgeführte Unterscheidung von ›gelingendem‹ und ›gutem‹ Leben für die hier vorzustellenden Entwürfe eines ›guten Lebens auf dem Land‹ doch auch einen Ansatz, der sich dafür nutzen lässt, neben der Unterhaltsamkeit der Bilder vom ›guten Leben‹ auf dem ›Land‹ ebenso deren materielle bzw. historisch-soziale Signifikanz sowie die damit verbundenen Ansprüche und Vorstellungen – mitunter in ihren individuellen Dringlichkeiten – zu belegen. So lassen sich die in den aktuellen Bildern des Ländlichen feststellbaren bzw. dort verhandelten Erwartungen und Erfahrungen, bspw. hinsichtlich einer baulichen und siedlungsbezogenen Übersichtlichkeit, einer nachbarschaftlichen Anerkennung und Unterstützung, einer hauswirtschaftlichen Handwerklichkeit und (Teil-)Autonomie und/oder einer gewünschten Naturnähe, nicht nur entlang der drei Resonanzachsen jeweils einer sozialen, dinglich-materiellen und das jeweilige Selbst transzendierenden Dimension zuordnen. Vielmehr bietet hierbei die Unterscheidung von »gelingendem« und »gutem« Leben noch einmal die Möglichkeit, die in den Bildern, Vorstellungen, Texten und sonstigen Artefakten von einem guten Leben auf dem Land jeweils nach subjektiven Sinnsetzungen bzw. Erfahrungen (»gelingend«) und objektiven Gegebenheiten und Nutzungsmöglichkeiten (»gut« im Anschluss an Nussbaum) zu unterscheiden. In entsprechender Weise ließe sich dies im Blick auf die realen Verhältnisse auf dem Land und die damit verbundenen Bilder und Entwürfe des Ländlichen übertragen, in denen bspw. immer wieder Vorstellungen und Ansprüche bezüglich der Kohärenz des eigenen Lebens in seinen räumlichen und zeitlichen sowie sozialen und biografischen Dimensionen artikuliert werden. Auch hier wären also jeweils subjektive Sinn-

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setzungen und objektive Gegebenheiten ebenso operativ zu unterscheiden wie sie in den jeweiligen Erfahrungen und Artefakten bzw. Ereignissen und Situationen als ineinander verwickelt erscheinen und entsprechend gesehen werden müssen. Damit erscheint schließlich, zum Dritten, die Vorstellung eines ›guten Lebens auf dem Land‹, zumal in ihren aktuellen Konjunkturen, als Verhandlungs- und Spielraum für gesellschaftliche Diskurse, in denen die Fragen individueller Orientierung und sozialer Entwicklung im Rahmen pluralistisch ausdifferenzierter, zugleich egalitärer und partizipatorischer Gesellschaften in Erscheinung treten und ebenso konsens- wie dissensfähig ausgehandelt werden (vgl. Nell/Weiland 2018; Marszałek/Nell/Weiland 2018b). Sowohl aus individueller als auch aus gesellschaftlicher Perspektive werden mit der Formel eines ›guten Lebens auf dem Land‹ Erwartungen und Ansprüche gegenwärtiger Gesellschaften angesprochen, die sowohl von Leistungen als auch von Überforderungen zeugen. Dem entspricht zum einen die Divergenz aktueller ländlicher Räume, die ebenso zwischen Boom und Abgehängtsein oszillieren, wie sie historisch, sozial und auch politisch auf unterschiedliche Pfadabhängigkeiten verweisen und damit zum anderen für unterschiedliche Ansprüche auch unterschiedliche Erfahrungen und Bilder, Herausforderungen und Chancen bieten.

I M S CHATTEN DER S TÄDTE ? Bereits Rousseau spricht es Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner zweiten Vorrede zu JULIE an und setzt es zugleich als Rahmung des gesamten Textes ein: Die kulturellen, sozialen und politischen Diskurse, die nicht zuletzt auch über den Zustand des Ländlichen entscheiden, werden aus den Perspektiven des Urbanen geführt und finden in den Städten statt: »Die Erzählungen, die Romane, die Schauspiele, alles zieht über die Provinzbewohner her; alles macht die Einfachheit der ländlichen Sitten zum Gespött; alles predigt die Manieren und Vergnügungen der großen Welt.« (Rousseau 1988: 17) In drastischen Worten berichtet er von einer Verachtung des Landes und einem »Ekel vor dem Dorfe« (ebd.). Dies hat in seinen Augen ganz konkrete Auswirkungen: eine umfassende Landflucht, 90 die schließlich zu entvölkerten Gebieten und damit auch zum Niedergang der ländlichen Räume – und mit ihnen: nicht nur der gesamten Nation, sondern gleich ganz Europas – führe. In einer scharfen und scharfzüngigen Analyse der auch imaginären Erzeugung und Verstärkung von Ballungsräumen schreibt er:

90 »Die Begütertsten und die Ärmsten haben gleichermaßen den Drang, ihre Kinder in die Städte zu schicken« (ebd.: 561).

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»Die Schriftsteller, die Literaten, die Philosophen hören nicht auf zu schreien, man müsse, um seine Bürgerpflichten zu erfüllen und um seinesgleichen zu dienen, in den großen Städten wohnen. […] Wer weiß, mit wie vielen Spitzbuben und öffentlichen Mädchen die Anlockungen dieser eingebildeten Vergnügungen Paris Tag für Tag bevölkert? Also verstärken die Vorurteile und die öffentliche Meinung die schlechte Wirkung der politischen Systeme und häufen und türmen die Einwohner eines jeden Landes auf einige Punkte des Landes zusammen und lassen alles andere unbebaut und verlassen: Also werden die Nationen entvölkert, um den Hauptstädten Glanz zu verleihen; und dieser eitle Glanz, welcher die Augen der Toren blendet, läßt Europa mit großen Schritten seinem Untergang entgegeneilen.« (Ebd.)

Entsprechend wendet sich Rousseau mit seiner zugespitzten Kritik den zeitgenössischen Romanen zu, die den Landbewohnern nicht anbieten, »was ihrer Lage gemäß wäre« (ebd.: 20). An diesem Missstand setzt er mit seinem eigenen Text, der sich primär an eben jene Landleute richtet, an und imaginiert in der Vorrede die aus seiner Sicht erwünschte Wirkung der Rezeption von JULIE: »Wenn sie ihre Lektüre beendet haben, so werden sie über ihre Verhältnisse nicht traurig, noch durch ihre Sorgen entmutigt sein. Hingegen wird alles um sie her ein freudigeres Aussehen anzunehmen scheinen; ihre Pflichten werden sich in ihren Augen veredeln; sie werden an den Freuden der Natur wieder Geschmack finden; ihre wahren Empfindungen werden in ihren Herzen wieder erwachen; und indem sie sehen, daß ihr Glück zum Greifen nahe liegt, so werden sie es schätzen lernen. Sie werden die gleichen Tätigkeiten verrichten; sie werden sie aber mit einer andern Seele ausüben« (ebd.).

Der Text zielt auf eine Änderung der Wahrnehmung des eigenen umgebenden (ländlichen) Raumes ab.91 Bestenfalls, so Rousseau, finden die Landbewohner in ihm auch noch einige »neue Ideen« (ebd.) mittels derer sie ihre eigene Umgebung umgestalten können. Hierbei zeigt sich ein Muster, das das Erzählen vom Ländlichen sowohl in den literarischen als auch sozialen Diskursen prägt. Es besteht, insbesondere im Kontext voranschreitender Transformationen, im Wechselverhältnis aus Marginalität und Fürsprache (vgl. Neumann/Twellmann 2014).92 Erscheint das Verhältnis von Stadt

91 Dies umfasst in den Ausführungen auch rationale Abwägungen, warum ein Leben auf dem Land nicht nur angenehmer und nützlicher, sondern auch kostengünstiger als in der Stadt sei (vgl. ebd.: 576f.); und warnende Beispiele derjenigen Landleute, die den tugendlosen Lastern erlägen und in den Städten »zugrunde gingen« (ebd.: 563). 92 Diese beiden Begriffe beschreiben, so Neumann/Twellmann (2014: 483), »die Position des Erzählers im Verhältnis zu unterschiedlichen Kulturen, zwischen denen er vermittelt, und […] die Funktion des Erzählens in einem bestimmten institutionellen Arrangement.«

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und Land als ein »asymmetrische[s] Gefälle« (ebd.: 484), dann kommt es auf Figuren der Vermittlung an,93 die zwischen den Ansprüchen dieser beiden ›Kulturen‹, ›Traditionen‹ und/oder ›Lebensweisen‹ übersetzen und »als Fürsprecher des Dorfes und seiner Bewohner« (ebd.: 480) auftreten – und zwar gleichermaßen in den Texten wie mit den Texten, auf den Ebenen der Darstellungen und der Performanzen. Nun hat sich mittlerweile die Situation sowohl geändert als auch nicht geändert. Auf der einen Seite kann wohl nach wie vor noch ein Prozess der Marginalisierung und ein Zustand der Marginalität des Ländlichen konstatiert werden; was sich angesichts der umfangreichen Debatten um sog. strukturschwache ländliche Regionen nicht zuletzt auch im Ringen um die Durchsetzung und Aufrechterhaltung der in Art. 72 Abs. 2 GG angesprochenen »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« zeigt.94 Auf der anderen Seite sind die kulturellen Diskurse über und ›mit‹ ländlichen Räumen, wie sie etwa in Literaturen, Filmen, Serien und Künsten geführt werden, deutlich ausdifferenzierter und vielgestaltiger als vielfach angenommen; 95

93 Siehe dazu den Beitrag von Jonas Nesselhauf, der am Beispiel des Landarztes eine solche Figur der Vermittlung zwischen (ruraler) Tradition und (urbaner) Moderne in den Blick nimmt und dabei medien- und genreübergreifend deren Entwicklung von der Literatur des 19. Jahrhunderts bis zur Fernsehserie des frühen 21. Jahrhunderts nachzeichnet. 94 Vgl. etwa jüngst die Beiträge im Themenheft GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE in APUZ 49 (2019). 95 Dabei zeigt sich nicht nur in der jüngeren Literatur eine gewisse Breite der Formen und Inhalte, die jedoch, auch das ist zu konstatieren, im ersten Blick durch die wirkmächtigen Topoi, die kultur- und ideengeschichtlich mit dem Ländlichen verbunden sind – sprich: die Begriffe der Idylle und Anti-Idylle, die Bilder der Romantik und des Verfalls etc. –, allzu häufig verdeckt werden. So behauptet z.B. der oben bereits erwähnte soziologische Überblicksbeitrag u.a. mit Blick auf die neueren literarischen Landgeschichten: »Die hier gewählten Darstellungen vom Leben auf dem Land folgen oftmals tradierten Bildern, was insbesondere mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse deutlich wird.« (Laschewski et al. 2019: 14) Dies trifft jedoch weder für die Aneignung von tradierten Bildern des Ländlichen noch für die Auseinandersetzung mit traditionellen Geschlechterverhältnissen zu. Erzählen doch die neueren Dorfgeschichten in v.a. selbstreflexiver Weise von umfassenden Modernisierungsprozessen und unterwandern dabei einerseits, u.a. durch Hervorhebung von Vielstimmigkeit sowie die Ausstellung der perspektivischen Gebundenheit der jeweiligen Bildentwürfe und ihr konfliktreiches Aufeinandertreffen, die gängigen Dualismen von Stadt und Land (siehe z.B. Böttcher 2019; Moser 2018) sowie andererseits, vermutlich auch Folge eines zunehmenden Auftretens von Protagonistinnen in den ebenfalls zunehmenden Texten von Autorinnen, die gängigen Rollenklischees (siehe z.B. Weiland 2020). Die dichotomische Gegenüberstellung einer ausdifferenzierenden sozial-

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und dass sie auf ein breites Interesse stoßen, zeigen nicht zuletzt die Konjunkturen des medialen Erzählens vom Landleben, die gleichermaßen auf produktiver wie auch rezeptiver Seite zu verorten sind. Dies führt aktuell auch zur bereits angesprochenen »Revalorisierung kleiner Orte und des Ländlichen« (Reckwitz 2020: 392). Richtet sich das spätmoderne Projekt der Singularisierung des eigenen Lebens vermittels der Aneignung von Kulturelementen (vgl. ebd.: 302) üblicherweise eher »gegen das abgewertete Provinzielle« (ebd., Hervorh. im Original) – und findet es üblicherweise eher in den Großstädten und Metropolen statt96 –, so ist diese gegenläufige Bewegung, von Reckwitz nur am Rande erwähnt, nicht nur vergleichsweise umfassend, sondern auch eng mit einer teilweise neuen, teilweise auch wiederkehrenden Ästhetisierung des Ländlichen verbunden. Auf der einen Seite finden sich Idyllisierung und Romantisierung, bspw. durch Bezugnahmen auf und Konstruktionen von Tradition und Naturschönheit; auf der anderen Seite finden sich aber auch konstitutive Verschränkungen mit dem Urbanen, bspw. durch Projektion und/oder Integration dörflich-ländlicher Elemente und Strukturen in die Stadt – und auch umgekehrt. Sicherlich sind es eher die Städte, die für das Bild und die Zukunft der Moderne zunächst einmal die Brenn- und Fluchtpunkte darstellen und in denen sich die Entwicklung und die Erfahrungen des Weges zu industrie- und dann dienstleistungsgesellschaftlich geprägten Verhältnissen nicht nur spiegeln, sondern auch konturieren lassen. Die Verwebung von Urbanität und Moderne zeigt sich dabei in zumindest fünf Bezugsebenen: Politisch bilden die Städte die Grundform der Republik (Sennett 1995). Gesellschaftlich erscheinen sie als Interaktionsrahmen, auf dem sich zunächst Gruppenverhältnisse austarieren müssen; was später dann – nach 1789 für alle, vorher schon ständeintern – mehr und mehr auf der Basis von Gleichheit, Vielfalt und Zufall geschieht (vgl. Frühsorge/Klueting/Kopitzsch 1993). Ökonomisch sind sie Produktions- und Steuerungszentren, wobei die Transformationen zu spät- und postindustriellen Gesellschaften sich ebenfalls am Struktur- und Funktionswandel der Stadt festmachen lassen (Braudel 2001): vom Markt über die Fabrik zum Dienstleistungszentrum. Historisch lassen sie sich als ›Maschinenraum‹ und Attraktion der Modernisierung bestimmen (vgl. Müller 1988; Scherpe 2002).

wissenschaftlichen Forschung, die »die überkommene Gleichsetzung von Gemeinschaft/ traditionell versus Gesellschaft/modern zu überwinden« (Laschewski et al. 2019: 15) gesucht habe, auf der einen Seite vs. einseitige populäre und mediale Darstellungen, die lediglich »den Schwund dörflicher Gemeinschaft diagnostizieren« (ebd.), auf der anderen Seite wäre daher ebenfalls zu hinterfragen. 96 Die selbst wiederum den Prozessen der Singularisierung und Kulturalisierung unterliegen und sich untereinander zumeist näher stehen als den umliegenden ländlichen Räumen (vgl. Reckwitz 2020: 383ff.).

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Kulturell schließlich erscheinen sie neben den Höfen97 als »Prägestock« (Elias 1969) und Erfahrungsraum kultureller Moderne und moderner Alltagserfahrung; 98 und nicht zuletzt in den Modernediskursen dann auch als kulturkritisches Gegenbild (sei es z.B. als »Moloch« oder als »Babylon Berlin«). Im Gegensatz dazu tritt das Land vielfach als Feld der Defizienz in Erscheinung. Politisch bietet es statt Republik Grundherrschaft (zwischen Leibeigenschaft und Landflucht) oder zeigt sich auch noch in aktuellen Beiträgen als Hort der Reaktion (Rodden 2019). Gesellschaftlich: Asozialität gibt sich hier mitunter als Tradition aus (Vance 2016); bestenfalls lassen sich Arbeits- und Sozialbeziehungen unter den Vorstellungen einer ›kreatürlichen‹ bzw. ›natürlichen‹ Solidarität verstehen, auch wenn Ferdinand Tönnies unter idealtypischem Anspruch ein gegenteiliges Bild zeichnet. Ökonomisch stellt es zwar ein Versorgungsreservoir dar, seit dem 19. Jahrhundert allerdings mit ständig steigendem Ertrag und doch mit zugleich ständig fallendem sozialen (und auch ökonomischen) Gewicht. 99 Historisch wird es nicht nur daher vielfach als Ort des Stillstands oder der Zurückgebliebenheit betrachtet und als Residualraum verstanden. Kulturell schließlich erscheint es als Sphäre für Hinterwäldlertum, als »Hillbilly Country« und Ort der Verlassenheit oder aber als Raum medial inszenierter Künstlichkeit zwischen Nostalgie, Ideologie und Kulturkritik. Gerade unter den aktuellen Vorgaben einer die Welt im Ganzen und in Gleichzeitigkeit betreffenden Katastrophe, in der sich die Folgen einer Pandemie schon deshalb vor allem in den Städten am stärksten zeigen, weil dort die meisten Menschen in hoher Konzentration wohnen, lassen sich diese Relationen noch einmal in umgekehrter Blickrichtung sehen, bieten ländliche Räume doch auch in den genannten fünf Dimensionen jeweils eine gegenläufige Sichtweise an. Abstand, nachbarschaftliche Hilfe, ökonomische Teilselbstständigkeit, Naturnähe und eine Vielfalt an Möglichkeiten kultureller Selbsttätigkeit, nicht zuletzt kommunale Verantwortlichkeit mögen hier die Stichwörter lauten, die diese andere Seite des Ländlichen unter den Zumutungen einer global vernetzten und damit auch entsprechend dicht verletzlichen Welt charakterisieren. In diesem Kontext lassen sich im Anschluss an Cornelius Castoriadis’ Entwurf eines sozialen Imaginären

97 Siehe dazu Erich Auerbachs Ausführungen zu »la cour et la ville« (vgl. Auerbach 1951). 98 Zu denken ist hier an Georg Simmels berühmten Vortrag DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN aus dem Jahr 1903 (Simmel 1995) oder an Walter Benjamins Ausführungen im PASSAGEN-WERK von 1940 (Benjamin 1991). 99 Versorgte etwa ein Landwirt im Jahr 1900 noch insgesamt 4 Personen mit Nahrung, so sind es im Jahr 2004 bereits 127 gewesen (Plieninger/Bens/Hüttl 2006: 24). Dabei verringerte sich im gleichen Zeitraum der Anteil des Agrarsektors an den Erwerbstätigen in Deutschland von 38,2 % auf 2,3 % (ebd.).

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auch die Bilder und Narrative vom Land als eines Ortes, an dem gutes Leben vorzustellen ist, als ein Aushandlungsort bestimmen, an dem Faktoren sichtbar, reflektierbar und gestaltbar werden, die den imaginären Zusammenhang eines jeweils aktuellen gesellschaftlichen Ganzen, ebenso in seinen historischen Bezugslinien und Verwerfungen, ausmachen (vgl. Castoriadis 1984: 559-610). Hinzu kommen weitergehende historische und soziale Aspekte, die für die Konjunktur und Attraktivität des Ländlichen als Bildbereich, Handlungs- und Erfahrungsreservoir eine Rolle spielen können. Tatsächlich lebt nach wie vor knapp die Hälfte der Weltbevölkerung in ländlichen Räumen. Werden die Erfahrungen ländlicher Lebensverhältnisse über drei Generationen zurück verfolgt – insoweit sie also auch noch im kommunikativen Gedächtnis nicht nur präsent sind, sondern für dessen Anschlussfähigkeit an das kulturelle Gedächtnis in den Gesellschaften fortgeschrittener Moderne sowohl Stoff als auch Brücke bilden –, so stellen Erfahrungen und Orientierung aus ländlichen Räumen noch immer für mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung eine Bezugsgröße dar: sei es als Erfahrungsschatz, Fluchtpunkt und Spielmaterial bzw. als Imaginations- und Reflexionsraum für die Bebilderung und vielleicht auch Bewältigung aktueller Herausforderungen, Belastungen und Ansprüche. Im Blick auf eine Frage- bzw. Aufgabenstellung des guten Lebens bieten die Imaginationen des Ländlichen Verhandlungsorte für die Herausforderungen, Problemlagen und Zumutungen fortgeschritten moderner Gesellschaften, zu denen nicht zuletzt die Gefährdung und Selbstgefährdung weiter voranschreitender Modernisierung in ihren globalen Auswirkungen selbst gehört. Das also sind dann die Themen und die Horizonte dieses Buches: Ob und in welchen Dimensionen – sozial, ökonomisch, ökologisch, politisch, imaginativ etc. – sich mit den kulturell erzeugten Bildern und Narrativen des Ländlichen sowie ihren alltagsweltlichen Umsetzungen und historischen Hintergründen diese Probleme und Fragestellungen auf einer gesellschaftlichen und individuellen Ebene diskutieren und reflektieren lassen.

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Konzeptionen

Gut abhängen oder längst abgehängt? Perspektiven ländlicher Räume in der globalen Transformation U LF H AHNE

E INLEITUNG Gut abhängen oder längst abgehängt? Der Blick auf die Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen in Deutschland kann derzeit zu sehr unterschiedlichen Bewertungen führen. Während Landlust-Magazine und Tourismusmarketing die schönen Seiten des Landlebens betonen, erscheinen immer mehr ländliche Regionen vom Wohlstandsniveau der städtischen Regionen abgehängt, gleich ob es um den Abbau von Bahnstrecken, die Schließung von Schulen oder den Ausbau des Breitbandnetzes geht. Zudem warnen immer mehr Beobachter vor dem Gefühl des Abgehängtseins (vgl. Neu 2006), dessen Abwendungspotential zur Destabilisierung der Demokratie beitragen kann. So beklagte Bundespräsident Steinmeier unter dem Eindruck der Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 die »Mauern zwischen unseren Lebenswelten: zwischen Stadt und Land, online und offline, Arm und Reich« (Steinmeier 2017: 3). Die Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland und die Rolle ländlicher Räume für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt hat seither wieder Fahrt aufgenommen. Die im Titel gewählte Dichotomie ist der Ausgangspunkt für die Fragen, welche in diesem Beitrag aus sozialwissenschaftlicher Sicht behandelt werden. Der Titel deutet sehr unterschiedliche Auffassung zum aktuellen Entwicklungspfad ländlicher Regionen in Deutschland an. Offenbar gibt es sehr unterschiedliche Verständnisse dessen, was als ländliche Räume bezeichnet wird. Darauf geht der erste Abschnitt ein und benennt für unterschiedliche Raumabgrenzungen einige sozioökonomische und ökologische Indikatoren zu Diversität und Wandel ländlicher Räume. Im zweiten Abschnitt wird auf den Bewertungsschlüssel eingegangen, der diesem Band – und der ihn vorbereitenden Tagung – zugrunde liegt: dem »guten Leben«. Die Bestimmung von Aspekten eines guten Lebens in ländlichen Räumen wirft Fragen

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des sachlichen Merkmals, des räumlichen Maßstabs und der zugrundeliegenden Gerechtigkeitsnorm auf. Der dritte Abschnitt widmet sich der Praxis von Veränderungen in ländlichen Räumen, die auf ein gutes Leben zielen. Dabei geht es um Strukturen und Praktiken, welche sich zugleich den globalen Anforderungen von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Biodiversitätsverlusten stellen müssen, mithin einen Beitrag zur »großen Transformation« leisten müssen.

W ANDEL

LÄNDLICHER

L EBENSVERHÄLTNISSE

Bereits die Abgrenzung ländlicher und städtischer Räume ist kein simples Unterfangen, haben sich doch die Übergangszonen zwischen »städtisch« und »ländlich« durch die Verstädterung in den vergangenen Jahrzehnten weit ausgedehnt und die Lebensweisen stark angeglichen (vgl. die Langzeitstudie des Thünen-Instituts 2015). Zudem beruht auch die ökonomische Basis ländlicher Räume in fast allen Regionen Deutschlands nur noch wenig auf dem einst als Definitionsmerkmal geltenden Primärsektor. Diese Befunde haben in den vergangenen Jahren zu verschiedenartigen Ansätzen der Neuabgrenzung ländlicher Räume geführt, die von einfachen Strukturmerkmalen wie der Einwohnerdichte oder dem Anteil der Landwirtschaftsfläche abzugehen versuchen und auch relationale Maße – wie die Erreichbarkeit großer Zentren – in die Betrachtung einbeziehen. Als Konsequenz spricht die Raumforschung seit langem nicht mehr von dem ländlichen Raum, sondern konnotiert ländliche Räume stets im Plural (vgl. ARL 1993, Franzen et al. 2008). Die Politik ist dem noch nicht vollständig gefolgt, erkennt aber die Diversität ländlicher Regionen an, wie auch städtische Regionen erhebliche Unterschiede in den sozioökonomischen, ökologischen und politischen Bedingungen aufweisen (vgl. z.B. BMEL 2016). Zur Abgrenzung ländlicher Räume Das Johann Heinrich von Thünen-Institut für Ländliche Räume hat sich in den vergangenen Jahren besonders um eine Neuabgrenzung ländlicher Räume auf Basis bundesdeutscher Landkreise bemüht. Dazu hat das Institut zwei Gruppen von Indikatoren unterschieden: zum einen Indikatoren für eine Typologie der »Ländlichkeit«1, zum anderen Daten zur sozioökonomischen Lage der Regionen 2. Aus dem

1

Ländlichkeit wird dabei gebildet als Kombination räumlicher Merkmale in Bezug auf geringe Siedlungsdichte, lockere Wohnbebauung und eine Prägung der Landschaft durch land- und forstwirtschaftliche Flächen sowie eine geringe Einwohnerzahl im Einzugsbereich und periphere Lage zu großen Zentren (Küpper 2016: 4).

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Index der Ländlichkeit wurde die Abgrenzung zwischen sehr ländlichen, weniger ländlichen und nicht-ländlichen Regionen abgeleitet, die sozioökonomische Lage differenziert diese Regionstypen auf einer zweiten Achse. So ergibt sich – hinsichtlich der ländlichen Regionen – eine Vier-Felder-Matrix mit sehr ländlichen und weniger ländlichen Regionen sowie Regionen mit guter und weniger guter sozioökonomischer Lage (siehe Abbildung 1).

Sozioökonomische Lage

Abbildung 1: Diversität ländlicher Räume des Thünen-Instituts

Ländlichkeit Küpper (2016: 40)

2

Der verwendete Index der sozioökonomischen Lage setzt sich aus den Komponenten Arbeitslosigkeit, Lohnhöhe, Einkommen, kommunale Steuerkraft, Wanderungssaldo der 18bis 29-Jährigen, Wohnungsleerstand, Lebenserwartung sowie der Schulabbrecherquote zusammen (Küpper 2016: 14).

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Insgesamt leben nach dieser Abgrenzung in den ländlichen Regionen in Deutschland 57 % der Einwohner auf 91 % der Fläche (eine im Vergleich zu anderen Abgrenzungen3 sehr weite Auffassung ländlicher Räume). Die kreisscharfe Abgrenzung führt dazu, dass auch typische Umlandkreise innerhalb der Verdichtungsräume der Bundesrepublik zu den ländlichen Regionen gezählt werden. Damit wird die Dimension der prosperierenden suburbanen Regionen ausgeblendet. Aber folgen wir zunächst den Ergebnissen der Thünen-Abgrenzung. Die Diversität ländlicher Räume Auf Basis der Thünen-Raumtypisierung können Einzelindikatoren regionaler Disparitäten zwischen urbanen, ländlichen und sehr ländlichen Regionen diskutiert werden. Die nachfolgende, ebenfalls vom Thünen-Institut erarbeitete Tabelle zeigt zunächst die Bevölkerungs- und Flächenanteile der unterschiedlichen Raumkategorien auf (siehe Tabelle 1). Die Bevölkerungsentwicklung zwischen 2011 und 2015 belegt, dass urbane Räume und ländliche Regionen mit guter sozioökonomischer Lage von der Bevölkerungsentwicklung profitiert haben, während die ländlichen Regionen mit weniger guter sozioökonomischer Lage zurückgefallen sind. Damit setzt sich die Entleerungstendenz peripherer und strukturschwacher ländlicher Regionen weiter fort. Dieses führt unter anderem dazu, dass die Arbeitslosenquote wegen ihres Bezugs auf die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und niedriger ausfällt als in vielen städtischen Regionen. Weiter abgehängt werden ländliche Regionen mit schlechter sozioökonomischer Lage auch hinsichtlich der Zukunftsperspektiven in einer wissensbasierten Ökonomie. So verfügen periphere ländliche Regionen kaum über Hochschulen als wissensvermittelnder Basis und über Unternehmen des als zukunftsträchtig geltenden Wirtschaftszweiges der wissensintensiven Industrien (siehe Tabelle 1).

3

Vgl. z.B. die Abgrenzungen der Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD 2011) oder im Raumordnungsbericht 2011 der Bundesregierung (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2012).

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Tabelle 1: Ausgewählte Kennzahlen zu ländlichen und urbanen Räumen Ländlichkeit Sozioökonomische Lage

sehr ländlich gut

weniger gut

Bevölkerungsanteil (2015; in vH) 10,9 16,4 Bevölkerungsentwicklung (2011-15; in vH) 2,3 0,0 Flächenanteil (2013; in vH) 16,8 38,3 Erwerbstätigenanteile in: Sekundärsektor (in vH) 35,2 28,3 wissensintensive Industrien4 (in vH) 15,4 7,6 Arbeitslosenquote (2015) 3,5 6,3 Sachverständigenrat Ländliche Entwicklung (2017: 3)

weniger

länd-

urban

ländlich weniger gut gut

lich

15,5

14,8

57,5

42,5

3,0 15,0

0,1 21,2

1,3 91,3

3,7 8,7

30,5

28,0

30,3

18,6

14,5 3,9

8,3 7,5

11,3 5,4

9,3 7,8

Innerhalb der großen Raumkategorien schälen sich immer mehr Gewinner und Verlierer des Wandels heraus – in ländlichen Regionen, wie Tabelle 1 zeigt, aber auch in Stadtregionen, wo deutlich zwischen prosperierenden »Schwarmstädten« und Verliererstädten unterschieden werden kann (vgl. Tabelle 1 zu den ländlichen Regionen sowie Simons (2015) zu den städtischen Regionen). Die Vergangenheitsentwicklung zeigt dabei keine große Annäherung – und dies trotz derzeit sehr gut laufender Konjunktur. Die Unterschiede sind nach wie vor groß und vergrößern sich sogar jüngst wieder: Die Wirtschaftskraftunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland (ohne Berlin) betragen 32 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es einen deutlich höheren Anteil dauerhafter Hartz-IV-Bezieher. Die Unterschiede zwischen den peripheren ländlichen Regionen und den prosperierenden Städten sind noch weitaus größer: Betrug der Abstand zwischen dem reichsten Stadtkreis und dem ärmsten Landkreis beim BIP je Einwohner im Jahr 2000 das 6,7-fache (zwischen Wolfsburg und dem Altenburger Land), so stieg diese Relation bis zum Jahr 2014 auf das 9,1fache an (zwischen Wolfsburg und dem Landkreis Südwestpfalz, Rheinland-Pfalz).5 4

Gemäß Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ) zählen zu den wissensintensiven Industrien die Herstellung von chemischen Erzeugnissen (WZ 20), die Herstellung von pharmazeutischen Erzeugnissen (WZ 21), die Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen (WZ 26), die Herstellung von elektrischen Ausrüstungen (WZ 27), der Maschinenbau (WZ 28), die Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen (WZ 29) sowie der sonstige Fahrzeugbau (WZ 30).

5

Eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Vgl. auch den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit (BMWI 2018).

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Inzwischen gehört Deutschland zu den Staaten mit den größten regionalen Disparitäten innerhalb der OECD (OECD 2018). Im Detail ließen sich weitere Indikatoren hinzufügen, die unterschiedliche Bereiche der Lebensbedingungen abdecken: Schulische und gesundheitliche Versorgung, Verkehrsanbindung etc., um nur einige Kernindikatoren aus dem Bereich der sozioökonomischen Bedingungen zu nennen. Hinsichtlich der Veränderung der ökologischen Basis der Lebensbedingungen kann auf den fortgesetzten Kulturlandschaftswandel, Biodiversitätsverluste und ökologische Kosten zur Kompensation der Verkehrsferne, welche den Klimawandeleffekt verstärken, verwiesen werden. Zur landschaftlichen Transformation beigetragen hat in den vergangenen Jahren auch die Energiewende mit ihren neuen, das Landschaftsbild und die Landnutzung verändernden Elementen, den Windkraft-, Photovoltaik- und Biogasanlagen (vgl. z.B. Schmidt 2015). Und schließlich haben abgelegene ländliche Regionen mit geringer Einwohnerdichte auch bestimmte Lasten der Gesellschaft zu übernehmen, da gern großflächige und eventuell auch gefährdende Infrastrukturen in diese Regionen verlagert werden (wie zum Beispiel große Mülldeponien, Atomzwischen- und -endlager, Flugplätze, militärische Anlagen etc.). Eine Typologie ländlicher Räume Ländliche Regionen in Deutschland, so wurde gezeigt, sind eingebunden in die sozioökonomischen Ist-Transformationen der globalen Ökonomie, einfache Unterscheidungen werden ihrer Vielfalt nicht gerecht. Die nachfolgende Typologie (siehe Kasten) versucht, diese Bandbreite aufzunehmen. Sie lehnt sich an bekanntere Ansätze der Typologisierung ländlicher Räume an (ARL 1993, Mose 2005, Henkel et al. 2012) und ergänzt diese um die Kategorien der Logistikräume und die ländlichen Räume als Arbeits-, Residenz- und Lebensräume in Alternative zur Stadt.

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Ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationsräumen, die aufgrund der Nähe und guten Verkehrsanbindung zu den Zentren eine hohe Bedeutung als Wohn- und als Wirtschaftsstandort besitzen und von den bodenpreisgetriebenen Suburbanisierungstendenzen der Zentren profitieren. Ländliche Räume mit günstigen Produktionsbedingungen für Landwirtschaft und Ernährungsgewerbe, die zunehmend unter Druck durch Weltmarktkonkurrenz und klimawandelbedingte Ertragsrisiken stehen, aber durch Spezialisierung und qualitative Aufwertung von Herkunftsprodukten Alleinstellungsvorteile erzielen können. Ländliche Räume abseits der Verdichtungsräume mit einer auf besonderer industriell-gewerblicher Basis beruhenden wirtschaftlichen Entwicklungsdynamik, die von versteckten Weltmarktunternehmen (»hidden champions«) oder hochspezialisierten High-Tech-Unternehmen (z.B. Spezialmaschinenbau, Werkzeugherstellung, Medizintechnik oder Spezialschiffbau) getragen wird. Ländliche Räume in guter Verkehrslage und mit hoher Flächenverfügbarkeit, welche bei weiter zunehmendem Zwischenhandel als Standorte für Logistik ökonomische Bedeutung erfahren. Residentiell und touristisch attraktive ländliche Räume, die Vorteile aus der Entwicklung zur Freizeitgesellschaft und dem Zuzug von Altersruhesitzwanderern ziehen, die teils aber auch bereits die negativen Folgen ihrer Attraktivität in Form saisonal schwankender Erwerbsmöglichkeiten und der Verdrängungsproblematik Einheimischer aufgrund der Bodenpreisproblematik spüren. Ländliche Räume abseits der Metropolkerne, die aufgrund landschaftlicher Attraktivität und guter Kommunikationsinfrastruktur als alternative Arbeitsund Lebensräume von Kreativen, nicht-stadtgebundenen Akteuren der Wissensgesellschaft, Raumpionieren, Gruppen spezifischer Lebens- und Produktionsgemeinschaften sowie anderen sich von der Stadt Abwendenden gewählt werden und eine lokale und regionale Aufwertung nach sich ziehen. Strukturschwache periphere ländliche Räume, welche nur unzureichend an Zentren angebunden sind sowie mit Defiziten in Infrastrukturausstattung und Wirtschaftsstruktur einer Abwärtsspirale durch fortschreitendem Einwohnerrückgang und -fortzug unterliegen.

Die Typologie zeigt, dass ländliche Regionen nicht nur Substitutionsfunktionen für die verdichteten Räume der urbanen Gesellschaft erfüllen, sondern auch eigenständige Entfaltungsmöglichkeiten für ein gutes und nicht-urbanes Leben bieten. Die gewählte Typologie führt zu dem Schluss, dass es offenbar gut gelingt, innerhalb der stärkeren ländlichen Räume unterschiedliche Typen zu differenzieren, während die Kategorie der ökonomisch zurückhängenden, abwanderungsgeprägten und infrastrukturell ausgezehrten Regionen als breites Sammelbecken erscheint.

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In diesen strukturschwachen ländlichen Räumen häufen sich die Schwächen: zunehmende De-Industrialisierung, geringe Erwerbsmöglichkeiten, kaum Anschlussmöglichkeiten an die Wissensgesellschaft, höhere Arbeitslosigkeit, höhere Schulabbrecherquoten, erhöhte Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eingeschränkte bis schwindende Angebote der Daseinsvorsorge kumulieren sich zu schlechter Zukunftsperspektive und hoher Unzufriedenheit.6 Jede Abwanderung aber führt dazu, dass sich die Indikatorwerte wieder verbessern, weil das schlechte Angebot auf eine geringere Zahl von Nachfragern trifft. Hier gilt das böse Wort der passiven Sanierung. Abgehängte Regionen Und so bleibt als ein einfacher, aber aussagekräftiger Zeiger für die Bewertung der Lebensbedingungen durch die Menschen ihre Entscheidung über den Wohnstandort und Lebensmittelpunkt, darstellbar durch die Bevölkerungsentwicklung und die sich in ihr ausdrückenden Wanderungsbewegungen. Geht man nun aber von der oben genutzten grobmaschigen Einteilung nach Landkreisen ab und verwendet kleinräumigere Daten der Bevölkerungsentwicklung auf Ebene von Gemeinden, lassen sich Gunst- und Abwanderungsräume in Deutschland deutlich erkennen, die nicht nur, aber auch ländliche Räume umfassen (siehe Abbildung 2). Weite Teile des Ostens und der Mitte Deutschlands zeigen sich so als »Verliererregionen« des sozioökonomischen Strukturwandels. Die oben genannte Abgrenzung des Thünen-Instituts verdeckt, wie leicht ersichtlich, die StadtUmland-Problematik im Bereich der großen und mittelgroßen Städte: Denn in gemeindescharfer Abgrenzung wird sichtbar, dass viele Stadt-Umland-Kreise prosperierende, zentrumsnahe Gemeinden aufweisen, welche von den Überschwappeffekten der Großstädte profitieren und zunehmend eigene Dynamik entfalten, während sich weiter entfernt gelegene Gemeinden in demselben Kreis schon in der Abwärtsspirale befinden. Die Durchschnittsbildung auf der Ebene der Landkreise verdeckt diese Differenzen, wobei die Kreisgebietsreformen der vergangenen Jahrzehnte den statistischen Nivellierungseffekt noch verstärkt haben.

6

Vgl. die räumlich differenzierten Indikatorausprägungen anhand der Raumbeobachtung des BBSR, online auf www.inkar.de.

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Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung in den Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland 2011-2014

https://www.landatlas.de/bevstruktur/beventwicklung.html (30.08.2018)

Die Lebensbedingungen in vielen ländlichen Regionen haben sich damit verschlechtert. Die These des Abgehängtseins in strukturschwachen, meist peripher gelegenen ländlichen Regionen erlangt erhebliche empirische Evidenz. Zugleich folgen die Imaginationen ländlicher Regionen nicht dieser Realität, sondern bilden Sehnsuchtsorte ab. Die Zunahme und das Auflagenwachstum von LandlebenZeitschriften, die Häufigkeit der Verwendung von ländlichen Motiven in Literatur, Medien und Werbung belegen die wachsende Sehnsucht nach Bildern des guten Lebens auf dem Land (vgl. Baumann 2018). Eine Auswertung der Werbung im politischen Wochenmagazin DER SPIEGEL seit dem Jahr 1945 zeigt, dass sich die Anzahl der Werbeanzeigen mit dem Motiv »unberührte Natur« in den vergangenen gut 60 Jahren verdoppelt hat (vgl. Schmidt 2018: 11). Was bleibt den peripheren, dünn besiedelten ländlichen Räumen, deren reale Lebensverhältnisse diesen Zerrbildern so diametral entgegenstehen und sich weiter verschlechtern? Sollte man diese Regionen gänzlich absiedeln, um die Kosten der dispersen Siedlungsstruktur zu reduzieren (vgl. Kuhn/Klingholz 2013, ARL 2016)?

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Solche Vorschläge werfen verschiedene ethische und rechtliche Fragen auf. Wie zum Beispiel: wem in welchen Regionen Bedingungen für ein gutes Leben zustehen oder wo derartige Ansprüche nicht geltend gemacht werden sollten. Sie fragen grundlegend nach den Bedingungen des politischen Zusammenhalts eines Staates. Die mögliche Reaktion der strukturschwachen Ränder eines Staates auf Benachteiligungen beinhaltet für die Politik das weitreichende Problem, dass der räumliche Zusammenhalt des Staates (oder der von Staatenverbünden) aufbrechen kann. Staaten definieren sich (unter anderem) über ihr Staatsgebiet. Die Drohung »abtrünniger« Regionen gefährdet damit das Gesamtkonstrukt eines Staates oder eines Staatenbundes. Um ein Beispiel zu nennen: auch in der Europäischen Union taucht diese Gefahr immer wieder auf – vom (erfolgreich ausgetretenen) Grönland7 bis zum jüngeren Konfliktherd Katalonien. Normativ strebt die Europäische Union nach wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Kohäsion (Art. 3 EU-Vertrag), wobei die territoriale Komponente erstmals in den Vertrag von Lissabon (2009) aufgenommen wurde. Regionen, in denen der Staat nicht mehr aktiv sichtbar ist, in denen offen gegen den Staat opponiert wird oder in welchen der Staat seine Kontrolle verloren hat, bergen die Gefahr, dass dieser Staat auseinanderbricht. Der Zusammenhalt ist daher ein wichtiger Grund von Staaten und Staatenverbünden, politische Maßnahmen zur Befriedung ihrer unruhigen Regionen8 zu ergreifen. Die nationale Regionalpolitik in Deutschland, startend als Förderung des »Zonenrandgebiets«, ebenso wie die regionale Wirtschaftspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben hier ihre Wurzeln.9 Gleichwohl greift die Frage nach dem »guten Leben« weiter: Denn es geht nicht allein um die Verbesserung von regionaler Wirtschaftsstruktur und ökonomischen Investitionsmöglichkeiten zum Abbau regionaler Rückständigkeit, sondern um die räumliche Komponente sozialer Gerechtigkeit.

7

Grönland ist trotz eines weitgehenden Autonomiestatus noch immer Teil Dänemarks.

8

Die Regionalismusdebatte wurde vor allem in den 1980er Jahren geführt, vgl. u.a. Blaschke (1980), Gerdes (1980), Elkar (1981).

9

Zur Geschichte der bundesdeutschen Regionalförderung vgl. z.B. Fürst et al. (1976), zur Geschichte der europäischen Regionalförderung vgl. z.B. Hahne/Stielike (2013).

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G UTES L EBEN UND B EDINGUNGEN

DER

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G LEICHWERTIGKEIT

Das »gute Leben« in ländlichen Regionen kreist um die praktische Frage, welche Grundbedingungen Menschen benötigen, um ihre jeweiligen Fähigkeiten entfalten zu können. Einer interventionistischen Wissenschaft – wie den Planungs- und Transformationswissenschaften – reicht es daher nicht aus, die regionalen Disparitäten zu benennen, sondern sie möchte auf Basis erkannter Ungerechtigkeiten Handlungsempfehlungen aussprechen. Dazu bedarf es einer Diskussion normativer Maßstäbe der Gerechtigkeit. Was gehört zu den Basisgütern, welche ein angemessenes Niveau des guten Lebens für alle Bewohner in ländlichen Räumen ermöglichen? Die verschiedenen philosophischen Ansätze bieten unterschiedliche Ansatzpunkte: Werte wie Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten, Gerechtigkeit und Teilhabe zählen zu den universalen Menschenrechten, die sich mit der Menschenwürde und der Autonomie der Person begründen lassen. Sie sind unabhängig vom Lebensort allen Bürgern als autonomen Personen zuzusichern und beinhalten auch die Verantwortung für die Mitwelt.10 Drei Begründungsstränge lassen sich zur Bestimmung dieser Basisgüter heranziehen: der Ansatz der Verfahrensgerechtigkeit von John Rawls, der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen sowie der bedürfnispsychologische Ansatz von Abraham Maslow. Begründungsstränge der Norm raumbezogener Gerechtigkeit Als zentrale Grundprinzipien freiheitlicher Gesellschaften können mit Rawls (1971) die Prinzipien der Freiheit und der Fairness angeführt werden. Rawls entwickelte dazu zwei Gerechtigkeitsgrundsätze: Der erste Grundsatz verlangt eine gleiche Verteilung wesentlicher Freiheitsrechte an alle Individuen einer Gesellschaft. Der zweite Grundsatz fordert faire Chancengleichheit für alle, insoweit es den Zugang zu öffentlichen Gütern und Positionen betrifft. Und in Erweiterung der ParetoGerechtigkeit fordert Rawls: Die Verteilung der relevanten Primärgüter solle so erfolgen, dass diejenige Verteilung vorzuziehen ist, in der die am schlechtesten gestellte Gruppe besser dasteht. Dies ist als Differenzprinzip bekannt (vgl. NidaRümelin 2009: 326). Gerechtigkeit in einer räumlich differenzierten Gesellschaft würde dann bedeuten, dass alle Individuen unabhängig von ihrem Wohnort ihre Freiheitsrechte ausüben können, sich nach ihren Möglichkeiten entfalten können, ihnen keine Nachteile durch ihren Standort entstehen und sie Chancengleichheit im Zugang zu

10 Die Diskussion um die interspeziesistische Gerechtigkeit beinhaltet in ländlichen Räumen die Fragen von Biodiversitätsschutz und Tierwohl (vgl. Nussbaum 2014).

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öffentlichen Gütern erhalten. Entsprechend ist zu definieren, zu welchen öffentlichen Gütern der Zugang ermöglicht werden soll und welche Raumdistanzen zum Zugang für die Individuen als tolerabel zu gelten haben. Der auf aristotelischer Tradition beruhende, von Nussbaum (1999) und Sen (2010) entwickelte Fähigkeitenansatz basiert auf der über Rawls hinausgehenden Überlegung, dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten zur Verfügung stehen, um Basisgüter zu nutzen. Von diesen konstitutiven Bedingungen des guten Lebens dürfe kein Mensch ausgeschlossen werden, was bedeutet, dass die Gesellschaft bei stärker vulnerablen Personen mehr Ressourceneinsatz aufwenden muss als bei weniger vulnerablen Personen. Während der Vertragsansatz von Rawls auf eine »schwache« kleine Liste von Primärgütern verweist, setzt der Fähigkeitenansatz auf eine etwas umfangreichere, aber dennoch bewusst »vage« (weil gesellschaftsbezogene und damit vorläufige) Liste von Basisgütern. Im neoaristotelischen Ansatz von Nussbaum und Sen werden diese Grundfähigkeiten als offener Katalog verstanden und umfassen zentrale menschliche Fähigkeiten: Leben, körperliche Gesundheit, Sinne, Gefühle, praktische Vernunft, Zugehörigkeit, Anteilnahme für andere Spezies, Humor und Spiel, Kontrolle über die eigene Umwelt. Ein dritter Begründungsstrang geht nicht von einer philosophischen, sondern von einer bedürfnispsychologischen Basis aus und argumentiert auf Basis der Maslowschen Grundbedürfnishierarchie (Maslow 1962). Maslow unterscheidet fünf Kategorien: physiologische Grundbedürfnisse (wie Essen, Trinken, Schlafen, Wohnen), Sicherheitsbedürfnisse (Ordnung, Sicherheit, Gesundheit, Brand- und Katastrophenschutz), Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen (Bildung, Zusammenhalt, Erreichbarkeit), Anerkennung und Selbstachtung (Erfolg, Wertschätzung, Macht) sowie die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung (Kunst, Kultur, Ästhetik, Selbstzufriedenheit). Die ersten drei Kategorien sah Maslow selbst als Defizitbedürfnisse, die anderen als Wachstumsbedürfnisse. Auf die Defizitbedürfnisse stellt nun auch die Akademie für Raumforschung und Landesplanung im Papier einer Arbeitsgruppe (ARL 2016: 3) ab, um hieraus die infrastrukturellen Rahmenbedingungen abzuleiten, welche aus Gründen raumbezogener Gerechtigkeit in der Fläche oder in angemessener Erreichbarkeit angeboten werden sollten. Warum die Arbeitsgruppe der ARL die Debatte von Teilhabe und Integration als Kernpunkte der gesellschaftlichen Gerechtigkeit auf diese Defizitbedürfnisse beschränken möchte, wird dort jedoch nicht erläutert. Gerade vor dem Hintergrund der Debatte um das Abgehängtsein ist die Frage des Zugangs zu Anerkennung und Selbstverwirklichung bedeutsam. Der Debattenbeitrag der ARL greift an dieser Stelle zu kurz (so auch: Koppers et al. 2018: 19).

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Basisgüter für das gute Leben Um »gut abzuhängen«, bedarf es bestimmter Basisleistungen, welche als Grundbedingungen raumbezogene Gerechtigkeit ermöglichen. Darüber herrscht allgemeine Einigkeit, wie es die eingangs genannten philosophischen Ansätze empfehlen. Doch welche Güter sind in welcher Qualität bereitzustellen? Gegen eine umfassende gesetzliche Normierung spricht auch der Wandel von Bedürfnissen in fortgeschrittenen Gesellschaften, ganz wie es die philosophischen Begründungen mit ihren vorsichtigen »schwachen« (Rawls) oder »vagen starken« Basisgütern (Nussbaum) nahelegen. Denn angesichts der Dynamiken von Wirtschaft und Gesellschaft ist zu berücksichtigen, dass die Erfordernisse zur Entfaltung der individuellen Freiheitsrechte sich mit dem Wandel der Gesellschaft selbst verändern. Ein einfaches Beispiel macht dies deutlich: Gehörte zur Kommunikationsausstattung eines Haushalts vor Jahrzehnten ein telefonischer Festnetzanschluss, so reicht dies heute bei weitem nicht mehr aus (beziehungsweise ist dieser auch gar nicht mehr notwendig), um sich im digitalen Zeitalter in Informations- und Kommunikationsnetzen mit angemessener Geschwindigkeit zu bewegen. Stattdessen sind flächendeckende Mobilfunknetze und gut ausgebaute digitale Netze ein wesentliches Erfordernis, um in der Informationsgesellschaft eine angemessene Teilhabe genießen und aktiv seine Fähigkeiten einbringen zu können. Über das Maß der Bereitstellung von Grundleistungen der Gesellschaft wird folglich immer wieder neu zu befinden sein. Hier kann es in dynamischen Gesellschaften keine dauerhaften Festsetzungen geben, sondern es können nur Grundsätze der Bereitstellung und jeweilige Grenzen diskutiert werden. Und diese hängen sehr stark von den sozialen und kulturellen Lebensvorstellungen einer Gesellschaft ab. Allgemeine Grundsätze zur Entfaltung der individuellen Freiheitsrechte finden sich in den Fundamentalnormen des Grundgesetzes: die Menschenwürde nach Art. 1 (1) GG, die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), das Gleichheitsprinzip nach Art. 3 GG und das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 (1) und 28 (1) GG. Aus diesen Grundnormen lässt sich die Verpflichtung der öffentlichen Hand ableiten, allen im Staatsgebiet lebenden Menschen jene Grundlagen zu gewährleisten, die eine menschenwürdige Existenz überhaupt erst ermöglichen. Schon in den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende staatliche Verpflichtung zur »Herstellung erträglicher Lebensverhältnisse für alle« befürwortet, zugleich aber eine sehr restriktive Interpretation dieser Verpflichtung angemahnt (BVerfG 1951: 105). Eine ganze Reihe von Instrumenten dient explizit oder implizit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Eine wesentliche Bedeutung haben Länderfinanzausgleich und kommunaler Finanzausgleich, die als »Fundamentalinstrument zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse« (Eltges 2006: 364) bezeichnet

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werden können, weil sie die fiskalische Grundlage zu Aufgabenerfüllung vor Ort schaffen. Ferner dienen auch die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG unmittelbar der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Auf nationaler Ebene gibt es nur wenige grundlegende gesetzliche Festlegungen zu flächendeckenden Basisdienstleistungen: •



Post- und Telekommunikationsdienste: Nach Art. 87f (1) GG gewährleistet der Bund flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen auf dem Gebiet der Post und der Telekommunikation. Die räumliche Ebene bei Postdiensten ist in der Post-Universaldienstleistungsverordnung geregelt und bezieht sich einerseits auf die Verfügbarkeit von stationären Einrichtungen ab Gemeinden einer Größenklasse von 2.000 Einwohnern, in Landkreisen muss mindestens je Fläche von 80 Quadratkilometern eine stationäre Einrichtung vorhanden sein (§ 2 PUDLV). Verkehrsbedürfnisse: Nach Art. 87e (4) GG gewährleistet der Bund, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird; Art. 106a GG garantiert die Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs durch die sogenannten Regionalisierungsmittel.

In verschiedenen Dokumenten hat auch die EU einzelne Universaldienstleistungen, die flächendeckend auch in abgelegenen Gebieten zur Verfügung stehen sollen, benannt und teils in Richtlinien konkretisiert (z.B. im Postwesen). Themen sind dabei technische Infrastrukturen wie Telekommunikation, Post, Verkehr sowie Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung und soziale Infrastrukturen wie Bildung, Betreuungs- und Gesundheitsdienste bis hin zum sozialen Wohnungsbau. Aus Reihen der Wissenschaft werden verschiedene Kataloge von Grundleistungen vorgeschlagen. Folgt man dem Basisgüteransatz von Nussbaum, so sind Leben und physische Gesundheit Basisbedingungen für ein gutes Leben. Gerechtigkeit erfordert es, diese Bedingungen allen Mitgliedern der Gesellschaft zukommen zu lassen. Zu physischer Sicherheit sind insbesondere Polizei und Brandschutz zu rechnen. Kernangebote im Gesundheitswesen dienen nicht nur der Grundversorgung, sondern sind in einer alternden Gesellschaft gerade auch in peripheren Regionen für die verbleibende Bevölkerung wichtige Angebote. Kernangebote im Bereich von Bildung sollte es geben, um Kindern und Jugendlichen in peripheren Regionen Chancengleichheit im Bildungswesen zu bieten, Einstieg in soziale Mobilität zu ermöglichen und der Gesellschaft insgesamt die möglichen kreativen Potentiale und Talente zu erschließen.

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Abschließend sei noch einmal auf die Anpassung von Normen an den technisch-wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Wandel erinnert: Technischer und wissenschaftlicher Fortschritt führen zu veränderten Einzugsbereichen etwa im Gesundheitswesen, wachsende gesellschaftliche Ansprüche an die Qualität von Bildungsleistungen haben zur Konzentration von Schulen und zur Vergrößerung der Schuleinzugsgebiete geführt. Der ökologische Wandel schließlich beeinflusst die Entfaltungsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen für ein gelingendes gutes Leben. Zur Ausgestaltung raumbezogener Gerechtigkeit in Deutschland Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit enthalten stets auch eine räumliche Komponente: Wenn Gerechtigkeit allen Bürgern eines Staates zugutekommen soll, dann gilt es, diesen Gleichheitsgrundsatz auch dort zur Anwendung zu bringen, wo nur wenige Bürger wohnen und daher der Aufwand zur Leistungserbringung höher ausfällt. Gleich ob nun private Unternehmen oder die öffentliche Hand die Leistung erbringen, werden Umfang, Qualität und Erreichbarkeit zu Diskussionen führen. Neben den Ableitungen aus dem Grundgesetz kann das Raumordnungsgesetz des Bundes (ROG) als wichtigste Normierung raumbezogener Gerechtigkeit in Deutschland herangezogen werden. Dort wird die Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung formuliert, welche »die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt« (§ 1 Abs. 2 ROG). Spezifisch führt das Raumordnungsgesetz aus, die Entwicklungsvoraussetzungen für strukturschwache Räume zu verbessern, »insbesondere in Räumen, in denen die Lebensverhältnisse in ihrer Gesamtheit im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt wesentlich zurückgeblieben sind oder ein solches Zurückbleiben zu befürchten ist« (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 ROG). In der Praxis fällt die Aufgabenerfüllung im Bereich der Daseinsvorsorge in den im Raumordnungsgesetz genannten »zurückgebliebenen« Regionen immer schwerer. Der demographische Wandel und die Abwanderung vermindern die Nutzerzahlen, was die Auslastung z.B. bei Linieninfrastrukturen wie Verkehr, Wasser und Abwasser vermindert und die Fixkosten je Nutzer erhöht. Zudem vergrößern sich durch Alterung und Schrumpfung die Bedarfe im Bereich punktbezogener Leistungen wie z.B. Bildung und Gesundheit. Bei diesen entsteht das Dilemma, zwischen Leistungsqualität und Leistungsdichte in der Fläche entscheiden zu müssen: Hohe Qualitätsstandards erfordern größere Einzugsgebiete. Inwieweit Verbesserungen der Erreichbarkeit konzentrierte Angebote ermöglichen und dezentrale Lösungen durch neue flexible Angebotsformen (Gemeindeschwester mit Hausbesuchen vor Ort, Einsatz von Fachlehrern an mehreren Schulen etc.) helfen, die zunehmende

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Polarisierung in der raumbezogenen Gerechtigkeit zu verringern, wird derzeit in verschiedensten Praxisversuchen erprobt (vgl. z.B. Kaether/Dehne/Neubauer 2016). Die Forschung arbeitet zudem daran, die Gleichwertigkeitsformel und ihr Teilhabeversprechen unter den Bedingungen des demographischen Wandels, der zunehmenden Entleerung peripherer Regionen und der – auch der kommunalen Finanzsituation geschuldeten – Ausdünnung von Angeboten der Daseinsvorsorge weiterzuentwickeln (vgl. als jüngere Arbeiten: ARL 2016, Koppers et al. 2018, Stielike 2018). Dabei geht es vor allem um die Frage der Erbringungsformen der jeweiligen Leistungen. Vorgeschlagen wird eine stärkere Orientierung an der Wirkung, die erzielt werden soll. Folglich sei es in vielen Bereichen sinnvoller, Standards der Mindestversorgung am Outcome und nicht am Input zu bemessen, um damit verschiedene, auch innovative Wege der Aufgabenerfüllung zu ermöglichen. Als Konsequenz daraus ergibt sich der stärkere Bezug auf die Subjektförderung mit spezifischem Blick auf besonders vulnerable Gruppen anstelle einer reinen Objektförderung. Die räumliche Verteilung der Angebote der Daseinsvorsorge wird über Prinzipien der Raumplanung gesteuert. Dabei macht es Sinn, die punktförmigen Angebote der Daseinsvorsorge gemäß dem Prinzip der dezentralen Konzentration anzubieten: In zentralen Orten lässt sich die öffentliche Infrastruktur an leistungsfähigen und planerisch sinnvollen Standorten bündeln, bieten sich dem öffentlichen Nahverkehr Fixpunkte, können Versorgungseinrichtungen öffentlicher und privater Güter und Dienste konzentriert angeboten werden. Ferner können durch die dezentrale Konzentration Siedlungsstruktur und Verkehrsnetz im Sinne ökologischer (sparsamer Ressourcenverbrauch) und sozialer (Mindesterreichbarkeit) Anforderungen optimiert werden. Dabei müssen »zentrale Orte« aber nicht unbedingt solche sein, welche normativ in der Regionalplanung festgelegt wurden. In der Realität verschieben sich Angebotsbedingungen auf kleinräumiger Ebene häufiger – bedingt durch wegfallende oder neu eröffnende Angebote oder kreative Kompensation, etwa durch bürgerschaftliches Engagement. Daher ist gerade bei den sogenannten Klein- oder Grundzentren mehr Flexibilität erforderlich. Eine grundlegende Benachteiligung dünn besiedelter, peripherer Regionen besteht im Verkehrs- und Kommunikationsbereich. Hier sind die Systeme vor allem in den Verdichtungsräumen rasch ausgebaut worden und werden auf neuestem Stand gehalten, während die ländlichen Regionen – und in ihnen wiederum die peripheren Gebiete – deutlich hinterherhinken. Die Quantitäten wie die Qualitäten sind sowohl bei den öffentlichen Verkehrssystemen als auch den Breitband- und Hochfrequenzkommunikationsnetzen in diesen Regionen ein wesentlicher Grund, warum das grundsätzlich vorhandene Dezentralisierungspotential der Digitalisierung nicht wirksam wird. Im öffentlichen Verkehr sind Frequenzen und Darbringungsformen inakzeptabel. Der Verlust der individuellen Mobilität führt dann häufig zu einem Zwangsumzug.

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Insgesamt leistet die räumliche und sachliche Steuerung der Daseinsvorsorge zwar einen wichtigen Beitrag zur raumbezogenen Gerechtigkeit und versucht sich daran, die Basis des guten Lebens auch in peripheren Regionen auf einem Mindestniveau zu halten. Dies gelingt aber nicht überall in ausreichendem Maße und in ausreichender Qualität und betrifft nur einen Teil der Basisgüter. Denn zum guten Leben gehört nicht nur die Schaffung einiger basaler Primärgüter, sondern auch die Teilhabe an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des gesamten Gemeinwesens. Abgehängte Regionen benötigen daher nicht nur Grundinfrastrukturen, sondern auch Entwicklungsperspektiven. Aspekte dazu entfaltet der nächste Abschnitt.

P ERSPEKTIVEN FÜR ABGEHÄNGTE

LÄNDLICHE

R ÄUME

Soziale, ökonomische wie ökologische Systeme sind nicht statisch und dauerhaft stabil, sondern wandeln sich ständig (vgl. Holling 2004). Dabei müssen sie mit Störungen ihrer Systemarrangements, seien sie von außen herangetragen, seien sie endogener Ursache, zurechtkommen, um nicht unterzugehen. In welcher Phase ihrer Krise befinden sich periphere ländliche Regionen in Deutschland derzeit? Ist die Lage ausweglos oder können sie eine Pfadänderung erreichen und aus der Abwärtsspirale ausbrechen? Das Selbstbild des Abgehängtseins leugnet eine derartige Aussicht grundlegend und beruft sich auf die Evidenz langanhaltender Abwanderung und des Ausbleibens von Neuinvestitionen. In historischer Betrachtung lässt sich darauf verweisen, dass es verarmten ländlichen Regionen gelingen kann, aus dramatischen Krisen heraus und wieder zu neuem Wohlstand zu kommen. So war für viele ländliche Regionen in Deutschland das 19. Jahrhundert eine Krisenzeit: Bevölkerungswachstum, Missernten, steigende Lebensmittelpreise, beschränkte Berufszugänge, Erbfolgeregelungen bei Haus und Hof und vieles mehr führten zu einer starken Auswanderungswelle (vgl. Brunner 2009, Henkel 2004). Heute gehören viele der einstmals ärmsten Regionen Deutschlands – wie z.B. weite Teile Baden-Württembergs oder Küstenregionen und Inseln – zu den prosperierenden ländlichen Regionen, beruhe dies auf industriellgewerblicher Innovationskraft oder auf residentieller und touristischer Anziehungskraft. Das 21. Jahrhundert wird wegen der Überschreitung der ökologischen Planken des Planeten bei gleichzeitig wachsender Weltbevölkerung wiederum ein Jahrhundert des massiven Umbruchs werden. Das Stichwort der »großen Transformation« umreißt diese Veränderung und fordert zu Handlungsschritten auf allen Maßstabsebenen auf. Im hiesigen Kontext lässt sich fragen: Kann es den heutigen peripheren Regionen nicht auch gelingen, sich neue Perspektiven zu erschließen und einen

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grundlegenden Wandel einzuleiten? Und kann dieser Wandel zugleich die große Herausforderung erfüllen, Lösungen zu erarbeiten, welche sowohl den lokalen Bedürfnissen vor Ort als auch der Verantwortung dem Planeten sowie seinen heutigen und künftigen Bewohnern gegenüber gerecht werden? Transformationspfade Große Transformationen werden durch grundlegende Veränderungen der politischen, technischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder ökologischen Rahmenbedingungen verursacht. Der Wandel von der Feudal- zu kapitalistischen Marktgesellschaften mit ihren tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Umstrukturierungen wurde von Karl Polanyi (1944) als eine solche »große Transformation« bezeichnet. Viele osteuropäische Staaten haben nach 1990 den politischen Wandel von staatssozialistischen Systemen zu demokratischen Wettbewerbswirtschaften mit Privateigentum vollzogen (Segert 2013) – mit allen Friktionen und regionalen Verwerfungen, die teils bis heute andauern. Wie viele Begriffe in den politikorientierten Wissenschaften wird der Begriff der Transformation nicht bloß analytisch eingesetzt, sondern auch normativ verwendet. So fordert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltfragen die »große Transformation« als Veränderung zugunsten klimaverträglicher Wirtschafts- und Lebensweisen auf globaler Ebene und schlägt für die Dekarbonisierung einen neuen Gesellschaftsvertrag vor (WBGU 2011). Das Konzept stellt auf eine weltweite Einigung bei Transformationszielen und -pfaden ab – ein »bisher unerreichtes Niveau an weltweiter Kooperation« (ebd.: 87), wie der WBGU selbst einräumt. Da der Weg zu einem Weltgesellschaftsvertrag weit, langwierig und voller Schwierigkeiten ist, kommt es auch auf die Handlungsansätze in den Arenen mittleren und kleinräumigen Maßstabs an (Hahne 2014). Dies räumt der WBGU ein und setzt in seinem jüngeren Gutachten auf die »transformative Kraft der Städte« (WBGU 2016). Städte allein werden aber weder die Klima- noch die Ressourcenfrage für eine wachsende Weltbevölkerung bewältigen können. Sie benötigen ebenso die Innovations- und Wandlungskraft ländlicher Regionen, die ihrerseits eigenständige Entwicklungspfade für die Perspektiven eines guten Lebens auf dem Land schaffen und andererseits zur Entlastung urbaner Räume und Reduktion ihrer Ballungskosten beitragen können. Nun ist die Innovationskraft von Orten und Regionen nichts Neues, ging doch auch der Schub der Industrialisierung von einer eher ländlichen mittelenglischen Region aus und verbreitete sich dann als mondiale Produktionsweise. Heute drängt sich die Frage auf, ob nicht auch ländliche Regionen für postfossile Transformationsschritte gute Voraussetzungen bieten. Allerdings gibt es – gerade auch in den abgehängten – Regionen erhebliche Beharrungskräfte.

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Strategien des Beharrens Transformationsschritte für den selbstgesteuerten regionalen Wandel fallen nicht vom Himmel und erscheinen leider nicht zum jeweils erwünschten Zeitpunkt. So wird auch der Wandel wie beispielsweise der Braunkohlereviere in Deutschland beschäftigungspolitisch immer weiter hinausgezögert, weil eine schnelle Änderung der regionalen Wirtschaftsstruktur mit erfolgreichen Alternativpfaden nicht realistisch ist. Es gibt also durchaus Gründe für das Beharren auf dem Status Quo und dem Versuch der Fortsetzung des vertrauten Pfades – in der Hoffnung, dass andere die Last des Umsteuerns tragen und man selbst die Früchte des alten Pfades deutlich länger ernten kann. Beharren ist auch die Formel der Bürgermeister, die in den schrumpfenden Regionen darauf setzen, mit finanziellen Anreizen die wenigen mobilen und investitionsbereiten Akteure an sich zu binden. Sie werden versuchen, die Mittel dafür von übergeordneten Ebenen einzuwerben – mit allen Argumenten für die Förderung benachteiligter Regionen oder die Schaffung eines »Revierbonus« in Bezug auf das Beispiel der Braunkohlentagebaugebiete (»Vorfahrt für strukturschwache Regionen«). Gelingt dies nicht, so kommen lokale Förderinstrumente zum Einsatz: Es werden weiter neue Baugebiete ausgewiesen, vergünstigt Grundstücke abgegeben und weitere subjekt- oder familienbezogene Lockmittel eingesetzt. Im Wettlauf mit anderen Kommunen in einem schrumpfenden Umfeld führt diese Beggar-MyNeighbour-Variante zu hohen Kosten und Ineffizienz. Als isolationistische Strategie wird sie allen Ansätzen regional kooperativen Handelns entgegenwirken, um als einziger Profiteur des Werbens um Investoren Erfolg zu haben. Strategien der Veränderung Das Negativbild des Abgehängtseins zu durchbrechen, erfordert starke und sichtbare Veränderungen. Ein möglicher Weg dorthin ist es, auf den langsamen Umbruch durch die Entwicklung in Nischen zu setzen. Erfolgreiche Experimente in Nischen gelten in neueren soziologischen Transformationstheorien als wichtige Innovationskräfte (vgl. Schot/Geels 2008, Geels 2011), welche bis zur Veränderung der institutionellen Landschaft führen können. Innovative Suchverfahren entstehen häufig in »geschützten Räumen«, in Nischenmärkten oder durch kleine Demonstrationsvorhaben (auch in Schulen). Entscheidend ist die Rahmung durch ein Umfeld, das zu Experimenten, Kreativität und neuen Diensten oder Produkten ermutigt. Ländliche Regionen bieten hier Vorteile des Vertrauens, der Nähe und der Erprobungsmöglichkeiten. Hier sind die Wege kurz, die Menschen kennen sich, neue

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Akteure, Testpersonen oder Zulieferer lassen sich leicht finden und die Praxis ist schnell erprobt. Tatsächlich entstehen auf kleinräumiger Ebene immer wieder neue pragmatische, kleinskalige Transformationsansätze, welche die schon heute bestehenden Spielräume zur Gestaltung einer postfossilen Gesellschaft nutzen und auf die Vielfalt lokaler und regionaler Initiativen setzen. Die Ansätze reichen von innovativen Energiegenossenschaften über neue Stoffstrom- und Wertschöpfungsverflechtungen bis hin zu Elementen einer Gemeinwohlökonomie, wie sie etwa in Tauschringen, Repair-Cafés, Sozialen Kaufhäusern, Leihsystemen, Gemeinschaftsgärten etc. zu finden sind. Diese Ansätze beinhalten kollektive Formen der Produktions- und Leistungserstellung, Sharing Economy, Formen gegenseitiger Hilfe und Kooperation sowie alternative Arten der Leistungsverrechnung, neue Formen des Wohnens und der Kapitalgenerierung bis hin zu Unternehmensgründungen mit sozialen und nachhaltigen Zielsetzungen (vgl. die Beispielsammlungen von Douthwaite/ Diefenbacher 1998 oder BLG 2017). Kluge Regionen werden sich dabei nicht auf das spontane Entstehen solcher Nischenakteure verlassen, sondern selbst eine aktive Strategie zur Unterstützung derartiger Ansätze formulieren. Dabei lassen sich zwei Ansätze unterscheiden: • •

Der Singularitätsansatz: Herausheben der lokalen und regionalen Besonderheiten als Entwicklungschance. Der Ansatz der eigenständigen Regionalentwicklung: Stärkung und Nutzung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und der endogenen Entwicklungspotentiale.

Singularität – das Besondere herausstellen In einer global vernetzten Informationsgesellschaft gewinnt nicht das Allgemeine das Interesse, sondern das Besondere, nicht das Standardisierte, sondern das Individuelle, Einzigartige, Spezielle. Im Wettbewerb der Regionen spielt die lokale Besonderheit eine immer wichtigere Rolle, um sich von anderen abzusetzen und Kapital, Besucher, Investoren, neue Bewohner zu attrahieren. Die aktuelle These der Singularitäten als Merkmal der Spätmoderne (singuläre Orte erscheinen »wertvoll und affektiv anziehend«) wird von Andreas Reckwitz (2017) mit vielen Beispielen aus der Stadt- und Regionalentwicklung untermauert. Dies reicht von einzigartigen Städten, ihren Kulturbauten, der »authentischen« Atmosphäre11 über herausragende Landschaften bis hin zu besonderen Orten der Kreativbranche und

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Zum Begriff »Atmosphäre« vgl. Böhme (1995), im Kontext des gebauten Raums auch: Böhme (2006).

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Räumen der Identifikation. Nirgends genügt das Normale und Gewöhnliche, erst das Außergewöhnliche dient der Distinktion. Singularität kann sich auf die landschaftlichen, ästhetischen, baulichen, kulturellen und atmosphärischen Besonderheiten beziehen, die vor allem als touristische und residentielle Qualitäten geschätzt werden. Singularität kann zudem eine raumspezifische Eigenheit bedeuten, die als »Charakter«, »Eigenart« (WBGU 2016) oder »Eigenlogik« eines Ortes oder einer Region verstanden wird – spezifische Eigenschaften, die sich ausdrücken in Selbstverständnis, Lebensstilen, sozialer Praxis und Dialekt sowie Kommunikation und schließlich auch politischer Entscheidungsfindung. Singularität richtet sich damit in der erstgenannten Variante nach außen und sucht sich mittels der Marktsegmentierung durch ein besonderes Außenbild von standardisierten Massenmärkten abzusetzen. Das kann touristische Angebote, aber auch regional spezifische Produkte (»aus der Region – für die Region«) oder Dienstleistungen (regionale Küche) umfassen. In der zweiten Variante geht es um die Eigenlogik als eingeübte soziale Praxis, die sich Externen nicht auf den ersten Blick erschließt und die damit eine kaum imitierbare raumbezogene Wirklichkeit darzustellen scheint. Diese Praxis kann als Katalysator der Veränderung wirken: sie kann den Prozess beschleunigen, aber auch verlangsamen. Zu Letzterem kann das Gefühl des Abgehängtseins stark beitragen. Umso wichtiger erscheint es aus strategischer Sicht, sich genauer um die besonderen Attrahierungsfaktoren der Region und deren Singularitätskapital zu kümmern. Ein Weg, die Eigenarten einer Region gezielt voranzutreiben, wird im Ansatz der eigenständigen Regionalentwicklung formuliert. Eigenständige Regionalentwicklung – eigene Gestaltungsmöglichkeiten nutzen Die eigenständige Regionalentwicklung stellt kein neues Paradigma dar, sondern ist seit Ende der 1970er Jahre der strategische Gegenpol zu einer exportbasisorientierten Regionalentwicklung (vgl. Hahne 2013). Statt zu schauen, welche Güter und Leistungen in überregionale Wertschöpfungskreisläufe eingespielt werden können und sich darauf zu spezialisieren, richtet die eigenständige Regionalentwicklung den Blick auf die in der Region vorhandenen Kapazitäten, um hieran anknüpfend eine Diversifizierung und Vertiefung der Wertschöpfung vor Ort zu erreichen. Charakteristisch für strukturschwache Regionen ist der Abfluss von Kapital und Kaufkraft, weil die regionalen Angebote nicht ausreichen, die örtliche Nachfrage zu befriedigen. Vieles wird daher importiert. Eigenständige Regionalentwicklung zielt auf eine Veränderung dieses Verhältnisses zwischen Fremd- und Eigenversorgung. Ein gutes Beispiel ist die Energieversorgung, welche die Basis jeglicher wirtschaft-

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licher Entwicklung liefert. Durch die Dezentralisierung der Energieerzeugung und den Umstieg auf erneuerbare Energieträger wie Wind und Sonne konnte hier der Kapitalstrom umgedreht werden: Statt Kapital zu exportieren, um Energielieferungen zu empfangen, werden ländliche Regionen nun selbst zu Energieerzeugern. Die Gründung zahlreicher Bürgerenergiegenossenschaften zeigt die Bereitschaft der regionalen Bevölkerung, sich bei der regionalen Versorgung nicht nur mit der eigenen Kaufkraft, sondern auch mit Kapital zu beteiligen. Der Energiesektor steht nicht allein für eine derartige Regionalisierungswende. Auch im Bereich der Lebensmittelversorgung und -weiterverarbeitung samt der Gastronomie findet sich der Trend zu regionalen Produkten und Spezialisierungen. Allgemeiner lässt sich von Aktivierung kleinräumigerer Wirtschaftskreisläufe sprechen. Dies muss nicht auf die Ebene der Kooperation zwischen Produzenten und Konsumenten auf den Feldern des Endverbrauchs begrenzt bleiben, sondern kann auch die verstärkte Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette oder die Erschließung von Skaleneffekten durch Kooperation von Unternehmen auf derselben Wertschöpfungsstufe beinhalten. Nicht nur in den Bereichen von Ernährung und Energie können Erzeuger und Verbraucher stärker Eigenleistungen beziehen und zu »Prosumenten« werden. Der Fremdbezug lässt sich auch vermindern durch den Trend zu Reparatur und Eigenherstellung. Dies trifft auf handwerkliche und technische Bereiche sowie auf Haushalts- und persönliche Dienstleistungen zu, in denen trotz fortschreitender Professionalisierung eine hohe Bereitschaft besteht, Dinge selbst herzustellen, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen und eine Selbstwirksamkeit zu erfahren. Häufig wird dies auch gemeinschaftlich erledigt, so dass Fertigkeiten und Arbeit geteilt oder getauscht werden können. Subsistenzarbeit ist ein wesentlicher Teil der Ökonomie z.B. in der Haushaltstätigkeit. Selbstsorge und Selbstwirksamkeit (vgl. Hahne 2016: 70ff.) sind Motivatoren für Eigentätigkeit, können zugleich auch Quelle von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Innovation werden, indem sie konsum- und materialreduzierend wirken und neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln. Mit diesen Veränderungen der Wirtschaftsbeziehungen führt die Regionalentwicklung auch dazu, resilienter gegenüber Krisen der globalen Weltwirtschaft zu werden. Zudem gelingt durch die stärkere Eigenversorgung die Reduktion von ökonomisch bedingten Verkehren und damit die Dekarbornisierung. Damit trägt eine eigenständige Regionalentwicklung zur geforderten großen Transformation bei. Impulse für die Veränderung der regionalen Ökonomie in peripheren Regionen erfolgen nicht nur aus Veränderungszwang und Leidensdruck heraus (vielfach als Motiv für Veränderungen benannt, vgl. z.B. Brendle 1999 oder Lindloff/Schneider

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2001), sondern häufig als Veränderungswunsch12 und aus Eigeninitiative. Auch »abgehängte« Regionen könnten unter dem Aspekt des Veränderungsdrangs Akteure ermutigen und Initiativen befördern, um so neue Wege zur lokalen und regionalen Entwicklung zu beschreiten. Ebenso tragen Zuzügler und Rückkehrer als Impulsgeber und »Raumpioniere« (vgl. Faber/Oswalt 2013, Kühnel 2014) dazu bei, Regionen neue Ideen zu bringen. Allerdings darf nicht außer Acht geraten, dass im Zuge des Strukturwandels der vergangenen drei Jahrzehnte in vielen der abgehängten ländlichen Regionen wichtige Voraussetzungen für die bessere Nutzung der regionalen Ressourcen und die Reaktivierung kleinräumiger Wirtschaftskreisläufe verschwunden sind: Vor allem die räumliche Konzentration der Lebensmittelverarbeitung mit Großverarbeitern außerhalb der betrachteten Regionen hat zu einer Verarmung der Wirtschaftsstruktur geführt. Für die Weiterverarbeitung von Lebensmitteln, den Aufbau regionaler Produzenten-Konsumenten-Beziehungen und die Schaffung regionaler Produkte und Leistungen fehlen schlicht die nötigen Verarbeitungsstrukturen. Die Schaffung kleiner, auch mobiler Lebensmittelverarbeiter könnte ein erster Schritt zur Rückgewinnung der Produktions- und Verarbeitungsvielfalt ländlicher Räume sein. Neue Impulse gehen zudem von den Veränderungen der Arbeitswelt durch Dezentralisierung und kollaboratives Arbeiten aus. Der »Raumwohlstand« ländlicher Regionen dient als Anreiz, mit deutlich geringeren Kosten als im urbanen Raum kreatives Arbeiten zu realisieren. Neue Coworking-Angebote, Maker-Spaces und FabLabs bieten auch in ländlichen Regionen Raum für die Entfaltung von Talenten in Gemeinschaftsatmosphäre.

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Das »gute Leben auf dem Lande« stellt sich somit zum einen als Zerrbild der Realitäten ländlicher Regionen in Deutschland dar, zum anderen bleiben erhebliche Wünsche und Anforderungen der Bewohner vieler ländlicher Räumen offen, in denen die ökonomischen, sozialen, ökologischen sowie infrastrukturellen Bedingungen weit hinter dem bundesweiten Niveau herhinken. Und doch wünscht sich eine Mehrheit der Deutschen auf dem Lande zu leben: Immer wieder belegen Umfragen zu Wohnwünschen und Lebenszufriedenheit in Deutschland dieses Wunschbild. Das Allensbach-Institut fragt seit Jahrzehnten

12 In Anlehnung an die feinsinnige Unterscheidung zwischen »Wachstumszwang« und »Wachstumsdrang« von Binswanger (2013) könnte hier von »Veränderungszwang« und »Veränderungsdrang« gesprochen werden.

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danach, wo die Menschen mehr vom Leben haben (Petersen 2014): Während 1956 noch 54 % der Deutschen meinten, dass man in der Stadt mehr vom Leben habe, war die Meinung 1977 nahezu ausgeglichen (39 % Stadt, 43 % Land) – und 2014 ergab sich ein klares Übergewicht, dass die Menschen mehr vom Leben auf dem Lande haben, während sich nur noch jeder fünfte hierbei für die Stadt entscheidet (40 % Land, 21 % Stadt). Das glückliche Leben vermuten selbst die Großstadtbewohner eher auf dem Lande als in der Stadt: 23 % der befragten Großstädter glauben, dass die Menschen auf dem Lande glücklicher sind, nur 13 % dieser Gruppe sehen die Vorteile des Stadtlebens als überlegen an. Bei Mittel- und Kleinstadtbewohnern entschieden sich 38 % für das Land, 6 % für die Stadt, bei den Landbewohnern selbst waren 54 % vom Glück auf dem Lande gegenüber 3 % für die Stadt überzeugt. Die Unzufriedenheit mit der Stadt ist groß, im Jahrhundert der Städte scheint sie derzeit noch zuzunehmen, das Landleben dagegen gilt als wünschenswert. Die Zuschreibungen von positiven Attributen zum Landleben bleiben dabei erstaunlich konstant (gute Luft, Ruhe, Nachbarschaftshilfe) und entsprechen in vielem zwar eher dem guten Bild vom ländlichen Leben, das in Tourismusprospekten und Kinderbüchern oder in Reportagen über das Leben privilegierter Landbewohner verbreitet wird, als der vielfältig komplexeren Realität. Die Umfragen zeigen aber auch die hohe Wertschätzung, die ländlichen Räumen als Lebensräumen entgegengebracht wird. Insofern stimmt bei vielen Befragten das Bild des »guten Abhängens«. Könnte die positive Imagination der ländlichen Räume nun dazu beitragen, den Fokus der großen Transformation auch auf die katalytische Bedeutung ländlicher Räume zu lenken? Lösungen für die multiplen Herausforderungen der Spätmoderne werden nicht allein von Städten ausgehen können, sondern werden auch die Beiträge ländlicher Regionen einfordern. Ländliche Regionen müssen mit der in ihnen praktizierten Landbewirtschaftung heute und künftig erheblich zur Dekarbonisierung, Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, des Wasserdargebots und zum Erhalt der Biodiversität beitragen, um nur einige der ökologischen Grundfragen anzusprechen. Weitere Verluste der ökologischen, sozialen und ökonomischen Vielfalt ländlicher Räume führen dagegen zu zusätzlichen Belastungen auch der urbanen Regionen, wenn die Landflucht weiter anhält. Auch daher sind ländliche Regionen als sozioökonomisch vielfältige Lebensräume zu stärken, um mit ihrem Eigenwert wie in ihrer Funktion als Entlastungsräume der Ballungsgebiete attraktive Alternativen zur expansiven Moderne zu bieten. Wenn es gelingt, die kulturellen Eigenheiten – Landschaft, Bauten, Siedlungstypen, Kulturlandschaftselemente, Produkte, Küche, Sprache usw. – zu erhalten und als Bereicherung des Resilienz- und Lösungskapitals für die Zukunftsentwicklung zu verstehen, dann steigt auch die Bedeutung ländlicher Räume in gesamtgesellschaftlichen Bewertungen. Offensichtlich ist, dass viele ländliche Regionen mit

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ihrem »Raumwohlstand« schon jetzt hohen Anziehungswert haben und für Raumsucher wie Raumpioniere, Tüftler und Lebenskünstler, Gründer und Sozialunternehmer geeignete Standorte sein können. Dazu müssen allerdings auch die infrastrukturellen Basisleistungen bis in die abgelegenen, peripheren Teilregionen hinein geschaffen werden, um die Potentiale dieser Regionen tatsächlich heben zu können und sie aus dem Abgehängtsein herauszuführen.

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Vorstellungen eines guten Lebens auf dem Land Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter der Bevölkerung ländlicher Räume J OACHIM K REIS

Die Frage nach dem »guten Leben auf dem Land« lässt sich aus den Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ebenso diskutieren wie aus den Perspektiven der Kunst, Literatur und des Films sowie schließlich auch der praktischen Alltagserfahrungen. Sie ist weniger als eine eindeutige Frage zu verstehen, denn als Thema. Aus der Vielfalt möglicher Herangehensweisen1 werde ich im Folgenden das Thema unter der Frage behandeln: Welche Vorstellungen haben Menschen auf dem Land von einem guten Leben? Um sich den Antworten auf empirische Weise nähern zu können, braucht es ein eigenes Verständnis vom »guten Leben« und davon, wer überhaupt auf dem Land lebt bzw. wo sich ländliche Gebiete erstrecken. Ich gehe in meinem Beitrag zum einen vom »Capability Approach«, dem Ansatz

1

Mögliche Fragen wären zum Beispiel: Gibt es Unterschiede zwischen Menschen auf dem Land und in der Stadt in ihren Vorstellungen von einem guten Leben? Sind im Vergleich in der Stadt bessere Voraussetzungen für ein gutes Leben gegeben als auf dem Land? Geht die Präferenz für ein Leben auf dem Land einher mit eher konservativen Wertvorstellungen? Welche Bilder vom (guten) Leben auf dem Land werden in Literatur, (bewegten) Bildern, alltäglichen Nachrichten entworfen? Gibt es eine symbolische Gemeinschaft all derer, zu deren Vorstellungen guten Lebens gehört, auf dem Land zu leben, oder gibt es sie vielmehr nicht, und stattdessen verschiedene symbolische Gemeinschaften mit jeweils spezifischen Vorstellungen zum guten Leben auf dem Land, wie z.B. in der Ökodorf-Bewegung oder in den frühen Landkommunen?

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der Verwirklichungschancen für ein gutes Leben,2 und zum anderen von einem Verständnis von »Land« als ländliche Räume aus. Der Beitrag folgt den Ansätzen des Thünen-Instituts für Ländliche Räume. Dort werden diese Räume unter Gesichtspunkten untersucht wie Lebensverhältnisse, Wirtschaft und Arbeit, Ressourcennutzung, Umwelt und Naturschutz, Politik für ländliche Räume. Innerhalb des Projektes MONITORING LÄNDLICHER RÄUME3 haben wir Ende 2016 eine repräsentative Befragung der Bevölkerung in ländlichen Räumen durchgeführt, mit insgesamt 1.717 Befragten. Das allgemein übergreifende Thema war »Lebensqualität«. Ziel war, subjektive Sichtweisen zur Lebensqualität mit Bezug auf objektive Gegebenheiten in ländlichen Räumen zu erheben. Die methodischen Ansätze und ausgewählte Ergebnisse sind Thema der folgenden Ausführungen.

W OHNEN M ENSCHEN AUF DEM L AND ?

IN LÄNDLICHEN

R ÄUMEN

Häufig werden mit »Land« Orte wie ein Dorf oder entlegene Gegenden assoziiert und in den Blick genommen – und zwar ganz im Gegensatz zu eher größeren Ortschaften. Im Thünen-Institut haben wir entsprechend unserer Typologie ländlicher Räume ein anderes Verständnis (vgl. dazu Küpper 2016). Aus unserer Perspektive gibt es nicht »den ländlichen Raum«, sondern eine Vielzahl recht unterschiedlicher ländlicher Räume. Nicht dazu gehören z.B. Dörfer, wenn sie in der Nähe von Großstädten liegen. Zu ländlichen Räumen gehören können Kleinstädte 4 und Mittelstädte

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Einen Überblick zu diesem Ansatz, auf den ich im Folgenden nochmals verweisen werde, gibt ein Sammelband des Fortschrittforums unter dem Titel WAS MACHT EIN GUTES LEBEN AUS? DER CAPABILITY APPROACH IM FORTSCHRITTSFORUM. Das Forum ist ein im Jahr 2011 von der Friedrich-Ebert-, Otto Brenner- und Hans-Böckler-Stiftung sowie dem Progressiven Zentrum ins Leben gerufener Zusammenschluss. Der Sammelband wurde von der Friedrich-Ebert Stiftung herausgegeben.

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Es wurde von 2015 bis 2018 vorwiegend durch das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) finanziert.

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»Die Kleinstadt als Siedlungstyp ›zwischen‹ Dorf (›Land‹) und Großstadt (›Stadt‹) ist als Topos in der Forschungsliteratur gut etabliert. Die ihr eigene Urbanität ist konzeptionell und teils auch empirisch gut aufgearbeitet. Dabei lassen der fast ausschließliche Fokus der (deutschen) Stadtforschung, insbesondere der Stadtsoziologie, auf die Großstadt und ihr normatives Urbanitätsverständnis die Kleinstadt per se als defizitär, wahlweise ländlich, erscheinen. Weniger eindeutig ist die Forschung zur Ruralität kleiner Städte. Hier reicht das Verständnis von einer Konzeptualisierung als ›bessere‹ Stadt bis hin zu Ten-

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und definitionsgemäß sogar vier sogenannte Großstädte mit im Durchschnitt 119.000 Einwohnern. Unsere Befragung führten wir entsprechend der ThünenTypologie in ländlichen Räumen durch, und dort beschränkt auf die Bevölkerung von Gemeinden bis unter 50.000 Einwohnern, vom kleinen Dorf bis zur kleineren Mittelstadt. Dort lebt ca. die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands. Wenn die größeren Mittelstädte und die vier Großstädte in ländlichen Räumen dazugezählt werden, dann lebt ca. 57 Prozent der deutschen Bevölkerung in ländlichen Räumen (Küpper 2016: 27). Auch wenn unsere Befragten nicht die Gesamtheit dieser Bevölkerung ab 18 Jahren repräsentieren, spreche ich der Einfachheit halber im Folgenden von ihnen als Bevölkerung in ländlichen Räumen. Wohnen sie auf dem Land? Wir haben danach gefragt, wie sie ihre Gegend im Umkreis von fünf Kilometern einschätzen. Ihre Antwort konnte »ländlich« sein, »städtisch« oder auf einer Skala von eins bis sieben dazwischen liegen.5 Die relative Mehrheit von 43 Prozent der Befragten sieht sich in einer ländlichen Gegend, drei Prozent leben nach ihrem Verständnis in einer städtischen Gegend. Wie sich die Antworten im Einzelnen auf die sieben Skalenpunkte verteilen, zeigt Abbildung 1.6 Die subjektive Einordnung, auf die ich im Folgenden als »subjektive Ländlichkeit« Bezug nehme, hat nur bedingt etwas mit objektiven Gegebenheiten zu tun, die ich im Folgenden als »objektive Ländlichkeit« benenne. Als gutes Maß für sie hat sich in unserer Befragung die Bevölkerungsdichte im Umkreis von zwei Kilometern erwiesen.7 Zwar schätzen die

denzen der Verländlichung kleiner Städte. Wie es sich empirisch-lebensweltlich – jenseits siedlungsstruktureller und baulicher Charakteristika – mit kleinstädtischer Urbanität und Ruralität sowie ihrem Verhältnis zueinander verhält, ist ein wesentliches Forschungsdesiderat.« (Steinführer 2019: 19) 5

Die subjektive Einordnung der Umgebung nach Größe und Lage des Wohnortes ist in Umfragen nichts Ungewöhnliches. Neu ist in unserer Befragung das Messinstrument, das den Befragten eine vergleichsweise größere Differenzierung ihrer Beschreibung in sieben Skalenpunkten erlaubt. In der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage (ALLBUS) von 2016 werden z.B. nur fünf Antwortmöglichkeiten für die Selbstbeschreibung des Wohnorts angeboten (vgl. GESIS 2017). In einer von mir in den ALLBUS-Daten dem Thünen-Typus »ländliche Räume« angenäherten Konstruktion ländlicher Räume zeigt sich, dass unter den ALLBUS-Befragten in Gemeinden unter 50.000 Einwohnern in ländlichen Räumen 62 Prozent angeben, in einem ländlichen Dorf zu wohnen.

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Die berichteten und alle folgenden Werte beruhen auf dem mit dem Personengewicht gewichteten Datensatz. Eventuelle Abweichungen davon werden kenntlich gemacht.

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Grundlage der Berechnung der Bevölkerungsanzahl im Umkreis ist der Wohnort der Befragten. So gut wie alle Befragten haben der Erfassung ihres Wohnortes zugestimmt, unter der Zusicherung der Einhaltung entsprechender datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Gut 90 Prozent haben zudem einer noch genaueren Erfassung der Lage ihrer Woh-

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Befragten ihre Gegend mit abnehmender Bevölkerungsdichte eher als »ländlich« ein, aber von dieser Tendenz gibt es auch viele Abweichungen. Es gibt Befragte, die in kleineren Orten wohnen und ihre Gegend nicht als »ländlich« einstufen, wie es auch umgekehrt Befragte in größeren Orten gibt, die ihre Gegend als »ländlich« empfinden. Wir haben in unserer Befragung nicht direkt erhoben, ob Befragte, die ihre Gegend als »ländlich« einstufen, nach eigenem Verständnis »auf dem Land« leben. Ein grober Orientierungsmaßstab für »auf dem Land leben« bietet m.E. die subjektive Ländlichkeit mit ihrer siebenstufigen Antwortskala. Ihr Mittelpunkt ist der Wert 4 und die Werte von 1 bis Wert 3 können als »ländlich« bis »eher ländlich« interpretiert werden. Unter den Befragten ordnen 72 Prozent ihre Gegend den Werten eins bis drei zu (vgl. Abbildung 1).

nung zugestimmt. Der Bevölkerungszahl liegen die Angaben des Zensus 2011 zugrunde. Wir haben die Bevölkerungsanzahl auch für die Umkreise von fünf und zehn Kilometern um den Wohnort von Befragten berechnet. Die Berechnungen hat im Thünen-Institut für Ländliche Räume Stefan Neumeier vorgenommen. Die Ergebnisse wurden dem Befragungsdatensatz zugespielt. Der relativ größte statistische Zusammenhang zwischen »objektiver« und »subjektiver« Ländlichkeit zeigt sich bei der Bevölkerungsanzahl im Umkreis von zwei Kilometern, was 12,57 Quadratkilometern im Umkreis entspricht. Die Korrelationsstärke nach Pearsons r beträgt 0,446. In der Tendenz gilt: Mit steigender Bevölkerungsanzahl, d.h. Bevölkerungsdichte, erfolgt die Beschreibung in Richtung »städtisch«. Sie ist statistisch nur von mittlerer Stärke: Die Varianz der subjektiven Ländlichkeit wird in dieser noch einfachen Zusammenhangsanalyse zu ca. 20 Prozent durch die Bevölkerungszahl erklärt. Unter Einschluss weiterer wesentlicher Einflussfaktoren, die zum gegenwärtigen Analysestand noch nicht bekannt sind, kann sich die Erklärungskraft der Bevölkerungsanzahl noch verringern. Des Weiteren habe ich auch den statistischen Zusammenhang zwischen »subjektiver Ländlichkeit« und dem Wert für den Faktor »Ländlichkeit« des Wohnortes von Befragten untersucht. Der Faktor wurde am ThünenInstitut für Ländliche Räume entwickelt und basiert auf den Merkmalen Nähe zu größeren Städten, land- und forstwirtschaftliche Flächennutzung, Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern im Wohnungsbestand, Bevölkerungspotenzial in einem größeren Umkreis und auch Bevölkerungsdichte (vgl. Küpper 2016). Im Ergebnis ist der statistische Zusammenhang mit der »subjektiven Ländlichkeit« nicht so hoch, wie der Zusammenhang zwischen ihr und der Bevölkerungszahl im Umkreis von zwei Kilometern.

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Abbildung 1: Subjektive Einschätzung der Befragten zur Ländlichkeit ihrer Gegend im Umkreis von 5 Kilometern um die Wohnung (Angaben in gerundeten Prozent der Befragten).

Thünen-Befragung 2016 (n=1.717); eigene Darstellung

Eine weitere Orientierung bieten die Antworten auf die Fragen nach den guten und weniger guten Seiten einer Gegend im Umkreis von zehn Kilometern. 8 Wir erheben damit die Einstellung von Befragten zu ihrer Gegend.9 Unter den Befragten haben

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Die erste Frage lautete: »Denken Sie jetzt bitte an Ihre Gegend in einem Umkreis von diesmal zehn Kilometern. Was sind für Sie die guten Seiten der Gegend, etwa im Umkreis von zehn Kilometern? Denken Sie auch an Ihren privaten Alltag und, falls erwerbstätig, an Ihre Arbeit.« Die zweite: »Was sind für Sie die weniger guten Seiten Ihrer Gegend, etwa im Umkreis von zehn Kilometern? Denken Sie auch hier an Ihren privaten Alltag und, falls erwerbstätig, an Ihre Arbeit.« Offene Fragen zur Lebensqualität am Wohnort oder in bestimmten Gebieten sind in Bevölkerungsumfragen nichts Neues. Neu ist in unserer Frageformulierung der explizite Bezug auf einen Umkreis von zehn Kilometern. In einem kognitiven Pretest erwies sich dieser Umkreis als am besten geeignet für die Bewertung der Gegend um den Wohnort (LINK 2015). Die meisten Befragten gaben ihr Einverständnis zu einer Tonaufnahme ihrer Antworten auf die beiden Fragen. Die Interviewer/innen notierten zusätzlich die Antworten in Stichworten oder verkürzten Sätzen. Die Inhaltsanalyse der Antworten bezieht sich auf die schriftlichen Notizen der Interviewer/innen. Eine Transkription der Tonaufnahmen und eine darauf aufsetzende Inhaltsanalyse wären wünschenswert. Bei der Entwicklung des Kategorienschemas für die Inhaltsanalyse wurden auch Tonaufnahmen mit berücksichtigt: zum einen bei Zweifelsfällen über das mit einer Interviewnotiz Gemeinte, zum anderen zur Überprüfung der für die Inhaltsanalyse konstruierten Kategorien.

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Zumeist werden Einstellungen mit geschlossenen Fragen gemessen, offene Fragen eignen sich dafür auch. Für semantisch differenzierte Einstellungsstrukturen, wie wir sie für

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67 Prozent ein- oder mehrmals positive Bewertungen vorgenommen 10, die ich thematisch der Analysekategorie11 »Landschaft, Natur, Ländlichkeit« zugeordnet habe. Zu dieser Kategorie gehören positive Bewertungen wie z.B. »wunderbare Landschaft«, »die ganze Gegend ist gut«, »die Natur ist idyllisch«, »man kann Natur erleben«, »sind im Grünen und sind gleich draußen«, »die Bewaldung«, »hoher Erholungswert«, »saubere Luft«, »dass es ländlich ist«, »die ländliche Ruhe«, »gemütliches schönes Landleben«. Beispiele der negativen Bewertungen von vier Prozent der Befragten sind »die Zerstörung der ländlichen Natur«, »keine geographischen Attraktionen«, »Luftverpestung von den Bauern«, »es ist zu ländlich«, »Ort ist zu ruhig«, »es ist gar nichts mehr los«, »Abgeschiedenheit«. Die Bewertungen passen zu dem, was landläufig mit »Ländlichkeit« oder »ländlichem Leben« assoziiert wird. Ich nehme an, dass der Umfang solcher Bewertungen unter den Befragten eine grobe Orientierung für »auf dem Land leben« bietet. Es lässt sich schlussfolgern: Grob geschätzt wohnen in ländlichen Räumen ungefähr Zweidrittel bis Dreiviertel der Bevölkerung ihrem Empfinden nach auf dem Land. Ich spreche im Folgenden von Analyse- und Kodierkategorien: Die Äußerungen der Befragten wurden anhand eines Kategorien- bzw. Kodierschemas bestimmten Themen zugeordnet, d.h. inhaltsanalytisch erschlossen. Die entsprechenden Kategorien bezeichne ich als Kodierkategorien.12 Unter analytischen Gesichtspunkten fasse ich die Kodierkategorien zu Analysekategorien zusammen.

»Gegend« erwarten, ist die offene Frage methodisch besser geeignet, aber forschungsökonomisch aufwendig; vgl. dazu allgemein Krosnick et al. (2005). 10 Von den 1.717 Befragten haben 1.711 auswertbare Antworten auf die Frage nach den Seiten einer Gegend gegeben. Jede/r Befragte/r hat mindestens zwei Bewertungen vorgenommen. Insgesamt sind es 8.086 Bewertungen, davon 5.902 positive und 2.184 negative. Im Durchschnitt geben die Befragten – nach ungewichteten Daten – 3,45 positive und 1,23 negative Bewertungen. Die Antworten der Befragten entsprechen auswertungstechnisch Mehrfachantworten. Ihre Analyse kann nach Prozent aller Bewertungen vorgenommen werden (aufzählender Methode) und nach Prozent der Befragten (dichotomisierter Methode). 11 Die Antworten sind anhand eines themenorientierten Kategorienschemas kodiert worden. Dabei kamen 128 Kategorien zur Anwendung (Kodierkategorien). Zur Vereinfachung der Analyse und Ergebnisdarstellung habe ich die 128 Kodierkategorien in analytische Kategorien zusammengefasst (Analysekategorien): zuerst auf einer, wie ich sie nenne, 2. Ebene mit 39 Kategorien und danach auf einer, wie ich sie nenne, 1. Ebene mit 16 Kategorien. 12 Das Kategorienschema wurde von Joachim Kreis und Annett Steinführer unter Mithilfe von Marlena Wolff entwickelt. Die Kodierung erfolgte mit dem Programm MAXQDA

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W AS

FÄLLT DEN B EFRAGTEN LÄNDLICHER R ÄUME ZU DEN GUTEN UND WENIGER GUTEN S EITEN IHRER G EGEND EIN ? Von den Antworten erwarteten wir Hinweise, welche Bereiche von Daseinsvorsorge und Lebensqualität im Hinblick auf konkrete Politiken näher untersucht werden sollten. Für diesen Zweck schien uns eine themenorientierte Inhaltsanalyse der Antworten geeignet zu sein, da sie sich bzw. die Mehrzahl der Äußerungen zu bekannten Politikfeldern verdichten lassen sollten, wie z.B. Bildung, Gesundheit, Arbeit, Wirtschaft. Für die Lebensqualität hat die »… wohnort-übergreifende Sozialraumorientierung …«, die Einbettung in einen »… extensivierten Lebensraum …«, eine größere Bedeutung als die Wohngemeinde (Vogelsang et al. 2016: 38). Den Sozialraum, den wir für die Daseinsvorsorge und den Alltag von Befragten für wichtig erachteten, haben wir in der Frageformulierung mit »Gegend im Umkreis von zehn Kilometern« bestimmt. Gegend ist ein mental repräsentiertes Konstrukt, das im Sprachgebrauch, symbolisch und in materiellen Objekten existiert. Sie ist Gegenstand von Alltagserfahrung und konstituiert sich aus einem praktischen Bewusstsein heraus, aus gewohnheitsbedingten alltäglichen Handlungen, wie dies bei der Konstitution von Raum i.d.R. vonstattengeht. Aus dieser Syntheseleistung entsteht ein Ensemble sozialer Güter und Menschen, das wie ein Element wahrgenommen, erinnert und abstrahiert werden kann. Das praktische Bewusstsein versuchen wir in der Befragung, in Anlehnung an Martina Löw (2017: 162)13, in ein diskursives Bewusstsein zu überführen. Ich nehme an, dass »Gegend«, so wie sie durch unsere Frageformulierungen spezifiziert wird, für die Befragten ein nicht unbekanntes, aber doch neues Einstellungsobjekt ist. Es ist weniger ein »isoliertes« Objekt, sondern ein Netzwerk von Assoziationen. Die Befragten können m.E. relativ einfach in der Befragungssituati-

durch Marlena Wolff. Zufällig ausgewählte Kodierungen wurden von Joachim Kreis überprüft und in einigen Fällen verändert. Aufgrund forschungsökonomischer Beschränkung konnte die Kodier-Reliabilität nicht anhand einer Stichprobe systematisch überprüft werden. 13 Löw versteht ihren Raumbegriff als relational und unterscheidet zwei raumkonstituierende Prozesse: Einerseits »das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen« (Löw 2017: 158). Diesen Prozess bezeichnet sie als Spacing. Andererseits bedarf es bei der Konstitution von Raum einer Syntheseleistung: Menschen und Güter werden zu Räumen über Prozesse der Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung zusammengefasst. Beides erfolgt jedoch keineswegs beliebig, sondern unter vorstrukturierten Bedingungen. »Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten« (Löw 2017: 224).

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on eine Einstellung zu der durch die Frage spezifizierten Gegend bilden. Sie haben schon im Gedächtnis eine kristallisierte, zusammenfassende Einstellung zu einem wie auch immer individuell konstruierten Objekt »meine Gegend« oder, falls nicht, die mit ihrer Gegend verbundenen wertenden Assoziationen, aus denen sich eine zusammenfassende Bewertung bilden könnte. Diese Einstellung bzw. Assoziationen benutzen sie als Ausgangspunkt für die Bewertung der in der Befragung spezifizierten Gegend. Befragungssituation, Präferenzen, Vergleiche Was und wieviel Befragte zu ihrer Gegend äußern, hängt u.a. von der Befragungssituation ab. Sie beeinflusst, was als angemessene Antwort empfunden wird. Aufgrund der beschränkten Zeit mussten die Befragten aus dem Bedeutungsumfang von »Gegend« eine Auswahl treffen. Wie der Auswahlprozess ablief, wissen wir nicht genau.14 Es lassen sich aber Faktoren aus der Einstellungsforschung benennen, die diesen Prozess bestimmen. Dazu gehört, wie häufig Befragte ihre Überzeugungen oder Handlungen auf das Einstellungsobjekt beziehen. 15 Auch Bewertungskriterien für »gut« und »weniger gut« einer Gegend, die Präferenzen und Werte von Befragten, spielen im Auswahlprozess eine Rolle. Dazu kommen Vergleiche, die sie anstellen. Verglichen wird die eigene Gegend mit dem negativen und/oder positiven Stereotyp einer Stadt,16 was auch im Gebrauch von Worten wie »Groß-

14 Um hier Genaueres zu erfahren, wäre ein ausführlicher kognitiver Pretest zu den beiden offenen Fragen erforderlich. In unserem kognitiven Pretest zur Befragung waren die beiden offenen Fragen Teil, aber nicht Schwerpunkt des Pretests. 15 Nach Krosnick et al. (2005) wird eine in Zusammenhang mit dem Einstellungsobjekt stehende häufig gebrauchte Überzeugung oder Handlung eher genannt als selten gebrauchte bzw. ausgeübte. Eine Überzeugung oder Handlung, die in einem starken Zusammenhang mit einer schon genannten Überzeugung oder Handlung steht, wird eher genannt als eine Überzeugung, die kaum oder keinen Zusammenhang mit ihnen aufweist. Das Neueste, das an Wissen erworben oder an Erfahrung mit dem Objekt gemacht wird, wird eher genannt als länger zurückliegendes. Wenn Wissen oder Erfahrungen zum Einstellungsobjekt in Form eines allgemeineren Schemas geistig verarbeitet werden, dann werden aus diesem Schema situationsspezifisch, d.h. entsprechend der Befragungssituation, Elemente genannt. 16 Im Pretestbericht zu unserer Befragung wird eine Versuchsperson bei den Fragen nach den guten und weniger guten Seiten der Gegend folgendermaßen zitiert: »… musste ich erst mal nachdenken. Weil man halt auf dem Land aufgewachsen ist und man ist das so gewohnt. Dann muss man sich erstmal ein paar Sachen da rauspicken, was im Stadtleben nicht so zutrifft, aber wo wir unsere Vorteile haben und wo wir auch unsere Nachteile

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stadt« oder »städtisch« explizit und nachvollziehbar wird. Ein weiterer, aber anders gelagerter Bezug auf die (Groß-)Stadt ist für die Befragten die »Stadtnähe«. Durch die Grenzziehung von zehn Kilometern werden zwei Räume konstituiert: Die Gegend im Umkreis als Innenraum und ein diffuses Außen. Die Grenze setzt die beiden Räume zueinander in Beziehung.17 Die Beziehung(en) des Innenraums zum Außenraum, für die Befragten vor allem in Form der »Lage«, werden somit ebenfalls zum Gegenstand der Einstellung. Der Vergleich der »Ausstattung« einer Gegend mit einer »deutschen Durchschnittsausstattung« erschließt sich nur indirekt. Er zeigt sich für mich vor allem in Dingen, die Befragte nicht oder nur wenig erwähnen. Sie gehören zum Alltag und sind so »normal« i.S.v. nichts Besonderes, dass ihr Dasein kein Thema ist, solange ein für selbstverständlich gehaltenes Durchschnittsniveau nicht mehr oder weniger unterschritten wird. Dazu gehören beispielsweise eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung.18 Ob Befragte die Bewertung ihrer Gegend auch im Vergleich zu anderen Gegenden vornahmen, lässt sich anhand ihrer Antworten nur schwer bestimmen. Ein expliziter Vergleich mit anderen Gegenden kommt kaum vor. Eines der wenigen Beispiele eines Vergleiches ist »Leute in der Gemeinde sind hilfsbereit, anders als in Hessen«. Befragte, die nach eigenem Verständnis auf dem Land wohnen bzw. in einer ländlichen Gegend, nehmen in ihren Antworten vielleicht implizit Bezug auf die Stereotypen der abgelegenen, strukturschwachen und/oder idyllischen ländlichen Gegend. Ein Hinweis darauf ist, dass sie mit diesen Stereotypen verbundene Worte mit Konnotationen zum Idyllischen oder Abgelegenen in ihren Antworten benutzen. Ich nehme an, dass hier ein Faktor zum Tragen kommt, der in der Einstellungsforschung als »Schema« bezeichnet wird: Wissen zum Einstellungsobjekt, das in Form eines allgemeineren Schemas geistig verarbeitet wird. Befragte wissen um die Stereotypen über Gegenden auf dem Land und die mit ihnen assoziierten Eigenschaften. Worte zur Bewertung ihrer Gegend entlehnen sie aus der Menge dieser Eigenschaften. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Im Durchschnitt haben Befragte in ihren Antworten 3,4 positive Bewertungen zu ihrer Gegend gegeben und 1,3 negative.

haben, wo das Stadtleben Vorteile hat. Zum Beispiel, wenn man bei uns kein Auto hat.« (LINK 2015). 17 Beziehungen zwischen zwei Räumen werden durch Grenzziehung erst hergestellt (vgl. Weidenhaus 2015: 46ff.). 18 Andere »Selbstverständlichkeiten« sind Bank oder Geldautomat, Post, öffentliche Verwaltung und zumindest das Telefonfestnetz. Polizei und Rettungsdienste gehören auch dazu, geraten aber wegen ihrer Nichtalltäglichkeit in der Befragungssituation noch weniger in den Blick.

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Bedeutungsumfang Im DUDEN wird unter dem Stichwort »Gegend« aufgeführt: »1. Gesamtheit dessen, was jemanden, etwas umgibt, besonders Landschaft, Bauwerke, Straßen usw. im Umkreis um einen Ort, ein Haus o. Ä. 2. Kreis von Menschen, Bereich, Milieu, in dem jemand lebt.« Der Bedeutungsumfang wird in unserer Frageformulierung noch dadurch erhöht, dass die Befragten aufgefordert werden, bei den guten und weniger guten Seiten ihrer Gegend auch an ihren privaten Alltag und gegebenenfalls an ihre Erwerbsarbeit zu denken. Hinzu kommt mit der Bewertung der Gegend ein anders gelagerter Bedeutungsaspekt, ihre Bewertung als »Gesamtheit« und als Raum, in dem Anforderungen der Befragten eher gut oder weniger gut erfüllt werden. Diese Anforderungen kommen zustande, so die Annahme, auch aufgrund von Vorstellungen der Befragten zu gutem Leben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht, und hier orientiere ich mich im Folgenden am Ansatz von Bernhard Peters (1993),19 beziehen sich die Äußerungen der Befragten auf materielle Objekte, soziale Einheiten und Klassifizierungen der sozialen Welt. Zu den materiellen Objekten können Peters zufolge auch technologische Systeme und durch menschliches Handeln hervorgerufene Veränderungen in Atmosphäre und Gewässern gerechnet werden (vgl. ebd.: 249). Zu sozialen Einheiten gehören beispielsweise ein Kollektiv, wozu auch eine konkrete Familie zählt, oder Handlungsfelder spezifischer Aktivitäten und Lebensbereiche (soziale Sphären), die sich beispielsweise auf den Typ Familie beziehen. Des Weiteren enthalten die Äußerungen der Befragten beschreibende Unterscheidungen der sozialen Welt, wie z.B. die Klassifizierung von Menschen in »Alte« und »Jugendliche«.20 Die Fragevorgabe »zehn Kilometer im Umkreis« orientiert die Befragten auf einen Raum verdichteter sozialer Beziehungen. Er ist für mich aber nicht als soziale Einheit in Form eines sozialen Netzwerkes oder einer symbolischen Gemeinschaft zu verstehen, da er nicht sinnhaft, nicht selbstidentifizierend konstituiert, sondern durch die Frageformulierung spezifiziert vorgegeben ist. Man könnte im Anschluss an Überlegungen zu »Region«, als einer symbolischen Gemeinschaft in Form »regionaler Identität«, vermuten, dass es auch Gegenden als symbolische Gemeinschaft, d.h. als soziale Einheit geben könnte. In den Äußerungen der allermeisten Befragten sehe ich jedoch keinen Hinweis dafür, dass die durch die Frageformulierung vorgegebene Gegend analytisch als soziale Einheit zu begreifen wäre. Nur eineinhalb Prozent beziehen sich auf sie in Zusammenhang mit Formulierungen wie

19 Seinen Ansatz zur Analyse moderner Gesellschaften bezeichnet er als »Rekonstruktiven Funktionalismus«; vgl. dazu Peters (1993: 196ff.). 20 Seine Strukturierung sozialer Einheiten führt Peters (1993) in Kapitel 4.2 ab Seite 158 aus. Klassifikatorische Differenzierungen behandelt er u.a. auf Seite 61f.

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»Heimat« oder »Zuhause«. Die Befragten nehmen Bezug auf eine durch die Frageformulierung vorgegebene klassifikatorisch unterschiedene Einheit. Inhaltsanalytische Zusammenfassung der Äußerungen Die Äußerungen der Befragten zu spezifischen Aspekten ihrer Gegend habe ich unter Themengesichtspunkten zusammengefasst. In ihnen sind Handlungsfelder wie »Arbeit, Wirtschaft« oder »Freizeit, Kultur« erkennbar. Der in Abbildung 2 berichtete Anteil Befragter, die die Gesamtheit der Gegend bewertet haben – »affektive Bewertungen« –, betrifft keine themenorientierte Zusammenfassung. Es sind Äußerungen von 34 Prozent der Befragten, mit der sie sehr allgemein eine allgemeine (Un-)Zufriedenheit mit der Gegend ausdrücken. Abbildung 2: Summe der Anteile von Befragten mit positiven und/oder negativen Bewertungen zu ihrer Gegend im Umkreis von 10 km nach zusammengefassten Analysekategorien (Angaben in gerundeten Prozent der Befragten).

Thünen-Befragung 2016 (n=1.717); eigene Darstellung

Manche Äußerungen sind nicht einem Bereich zuordenbar. Mit »Heimat«, »Zuhause« kommen sowohl eine emotionale, zusammenfassende Bewertung zum Ausdruck wie auch die Zugehörigkeit zu einem persönlichen und sozialen Zusammenhang. Eineinhalb (gerundet zwei) Prozent der Befragten äußern sich in diesem Sinne. Die mit Interviewnotizen wie »Kombination aus Ländlichem und Städtischem« festgehaltene Äußerungen von einem Prozent der Befragten können i.S. der Lage und dem Charakter einer Gegend interpretiert werden und/oder einer Lebensweise, die weder als »Ländlichkeit« noch als »Urbanität« zu beschreiben ist. Der Bereich »Wege-Verbindungen u/o Störungen durch Wegezustand« – Straßen, Rad- und

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Fußwege werden von vier Prozent der Befragten als in gutem oder schlechtem Zustand beschrieben –, erfasst Aspekte der Verkehrsinfrastruktur und Mobilität.21 Die Bewertung von Verkehr erfolgt in einer mit der Bewertung technischer Anlagen zusammengefassten Analysekategorie. Ich habe sie vor allem unter dem Gesichtspunkt gebildet, wie sie sich – zumeist negativ bewertet – auf die Wahrnehmung der Umwelt auswirken: beispielsweise als Verkehrslärm, als (zu) hohes Verkehrsaufkommen oder als Windkrafträder und Stromleitungen. Die anderen Analysekategorien in Abbildung 2 stelle ich hier nicht näher vor. Die wichtigsten werden weiter unten behandelt, wo ich ihre Einordnung im Zusammenhang mit gutem Leben auf dem Land diskutiere. Um in den Äußerungen Hinweise auf Vorstellungen guten Lebens mit Bezug zu ihrer Gegend herausarbeiten zu können, kläre ich zunächst, was hier unter »gutem Leben« verstanden werden soll.

W AS

MACHT EIN GUTES

L EBEN

AUS ?

Auf diese Frage gibt es nicht die Antwort. Was der einen schon zu viel an »Abgeschiedenheit«, ist dem anderen »die ländliche Ruhe«. Von wissenschaftlicher Seite gibt es kein einheitliches Konzept des »guten Lebens« und wie gemessen werden sollte, in welchem Maß jemand ein gutes Leben hat. Ich werde mich im Folgenden am Konzept des »Capability Approach« (CA) orientieren, der auch als »Ansatz der Verwirklichungschancen« bezeichnet werden kann.22 Er trägt zum einen zu einer begrifflichen Präzisierung bei, die sich vor allem in der Unterscheidung von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit niederschlägt. Zum anderen hilft die Strukturierung des CA zu »gutem Leben« bei der Strukturierung von Antworten auf die Frage, in welchem Ausmaß in ländlichen Räumen Voraussetzungen für Lebensqualität gegeben sind.23 Im CA wird »Lebensqualität« auf Ebene eines Individuums

21 Mit »Mobilität« sind »die individuell jeweils subjektiv in Frage kommenden raumbezogenen Handlungsmöglichkeiten (›Möglichkeitsräume‹)« gemeint (Herget 2013: 21). Unter Verkehr fallen die »tatsächlichen physischen Bewegungen von Menschen im Raum« (ebd.; Hervorhebungen im Original). 22 Im Deutschen gibt es keine einheitliche Bezeichnung des Ansatzes. Nach Volkert (2014: 9) habe sich gegenüber der anfänglichen Bezeichnung »Befähigungsansatz« der Begriff der Verwirklichungschancen etabliert, da er das Menschenbild des CA deutlicher zum Ausdruck bringe. 23 Dieses »Ausmaß an Lebensqualität« orientiert sich nicht an einer Liste von persönlichen Ressourcen und persönlichen, gesellschaftlichen oder natürlichen Umwandlungsfaktoren, die mindestens gegeben sein sollten, um ein ethisch gefordertes und begründetes Min-

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gemessen und nicht für mehrere Personen gemeinsam bestimmt, wie z.B. für eine Familie. Vorstellungen eines guten Lebens werden in Abbildung 3 vorausgesetzt.24 Die darin enthaltenen Pfeile zeigen Einflussbeziehungen.25

destmaß an Lebensqualität haben zu können. Die zwei großen Richtungen im CA lassen sich danach unterscheiden, ob es einer solchen »Mindest-« bzw. universalistischen Liste bedarf – sie wird repräsentiert von Martha Nussbaum –, oder ob eher anwendungsspezifische Listen sinnvoll sein könnten, die aus einem länder- oder regionalspezifischen demokratischen öffentlichen Meinungsbildungsprozess heraus zu entwickeln sind – sie wird repräsentiert von Amartya Sen (vgl. dazu Robeyns 2005: 103ff.). Im Zusammenhang mit den Problemlösungen zur Integration menschlicher Gemeinschaften plädiert auch Peters (1993: 400) dafür, keinen Satz von »grundlegenden ›funktionalen Imperativen‹« aufzustellen. »Welche spezifischen Anforderungen jeweils erfüllt werden müssen, um soziale Integration zu realisieren, und welche funktionalen Äquivalente dazu in der jeweiligen sozialen Formation zur Verfügung stehen, hängt ab von der historisch-konkreten Ausformung zivilisatorischer Standards, aber auch von den gegebenen institutionellen Grundstrukturen.« 24 Wie sie entstehen, wie bewusst, unbewusst oder widersprüchlich sie sind, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. Ebenso wenig wird die Fähigkeit diskutiert, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, und wie die Auswahl aus diesen Möglichkeiten erfolgt. Die Fähigkeit, eigenständig zu handeln, wozu z.B. auch die Überzeugung gehört, eigenständig handlungsfähig zu sein, oder die Fähigkeit, situationsgemäß eine den eigenen Vorstellungen entsprechende Auswahl aus Handlungsmöglichkeiten zu treffen, wird in Zusammenhang mit dem CA unter dem Begriff »agency« behandelt. Auch die Lebenslaufperspektive einer Person wird in Abbildung 3 nicht berücksichtigt, es wird von einer erwachsenen Person ausgegangen. Von einer Lebenslaufperspektive her gesehen müsste beispielsweise ein Pfeil in der Abbildung von den gesellschaftlichen zu den persönlichen Umwandlungsfaktoren zeigen, da Institutionen Strukturbedingungen des Aufwachsens sind. Um die Abbildung verständlich und lesbar zu halten, habe ich darauf verzichtet. Die Einbeziehung einer Lebenslaufperspektive in die Abbildung wäre mir auch schwer gefallen, da es bisher für den Prozess der Befähigung in der Biografie eines Menschen noch kein durchgearbeitetes Konzept seitens der Vertreter/innen des CA gibt (vgl. dazu Höfer u.a. 2017: 20f.). 25 Beispielsweise führen die Art einer (Aus-)Bildung und des ökonomischen Systems zu bestimmten Möglichkeiten der Berufswahl. Die Ausübung des gewählten Berufs führt zu Einkommen und je nach Höhe des Einkommens können sich unterschiedliche Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung ergeben. Die Auswahl einer dieser Möglichkeiten und die erfolgte Weiterbildung verändern wiederum Handlungsmöglichkeiten im Beruf.

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Dem Ansatz des CA folgend gilt: Wenn eine Person nach eigener Einschätzung über genügend Möglichkeiten verfügt, ihre begründeten Vorstellungen eines guten Lebens zu verwirklichen, dann hat sie eine gute Lebensqualität. Abbildung 3: Lebensqualität in einer schematischen Struktur des »Ansatzes der Verwirklichungschancen«. Umwandlungsfaktoren persönliche

Alter Geschlecht Ethnie (Aus-)Bildung Fertigkeiten Gesundheit ……

gesellschaftliche ökonomische soziale kulturelle politische familiäre Werte, Normen, Konventionen Freiheiten von … Freiheiten zu …. …….

Lebensqualität bewerten von führen zu

Verwirklichungschancen

Auswahl

Lebenssituation

natürliche Umwelt Raum …..

persönliche Ressourcen

Tun Sein

Lebenszufriedenheit bewirken Glück

verwirklichen über Auswahl aus Vorstellungen guten Lebens persönliche Werte, Präferenzen

Einkommen, Vermögen, Güter

Eigene Darstellung, basierend auf Darstellungen des Capability Approachs von Volkert (2014) und Leßmann (2014).

Allerdings gilt auch: Lebensqualität ist nicht gleichbedeutend mit Lebenszufriedenheit oder Glück. Im CA sind sie Folge von Lebensqualität. In den Antworten zu den Seiten einer Gegend passen Inhalte, die ich unter der Kategorie »affektive Bewertungen« zusammengefasst habe, recht gut zu dem, was mit Lebenszufriedenheit gemeint sein könnte. Unter den Befragten äußern sich 34 Prozent entsprechend, davon nur ein Prozent in negativer Weise. Beispiele sind »alles harmonisch«, »allgemein zufrieden«, »der Friede«, »einfach schön hier zu leben«, »alles wunderbar«, und auf die Frage nach den weniger guten Seiten »eigentlich finde ich nichts an der Gegend gut«. Die meisten positiven affektiven Bewertungen haben die Befragten in dissoziativer Weise ausgedrückt. Damit ist gemeint, dass sie auf die Frage nach den weniger guten Seiten eine positive Bewertung ihrer Gegend vorgenommen haben. Beispiele dafür sind »nichts [Negatives; J.K.] … sehr zufrieden«, »da kann ich gar nichts [Negatives; J.K.] sagen, ich bin sehr zufrieden«. Einige Befragte mit affektiven Bewertungen lassen mit ihren Antworten erkennen, was für sie zu einem guten Leben dazugehört: dass es z.B. in ihrem Umfeld »harmonisch« oder »friedlich«

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zugeht. Ihre Vorstellung eines guten Lebens können sie, zumindest zum Teil, umsetzen, ihre Lebenszufriedenheit ist hoch. In unserer Befragung haben wir auch direkt nach Lebenszufriedenheit gefragt: »Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?«26 Im Ergebnis sind die Befragten in ländlichen Räumen im Durchschnitt genauso zufrieden wie der Durchschnitt der Bevölkerung insgesamt. Der Wert für die Bevölkerung insgesamt ist dabei einer anderen Befragung, dem »ALLBUS« von 2016 entnommen.27 Resultat: In ländlichen Räumen ist die Lebenszufriedenheit im Durchschnitt genauso groß wie in nicht-ländlichen Räumen. Befragte, die ihrer Lebenszufriedenheit in Form einer positiven emotionalen Bewertung der Gesamtheit ihrer Gegend Ausdruck geben, weisen im Durchschnitt eine höhere Lebenszufriedenheit auf als Befragte, die dies nicht tun.28 Demzufolge kann gesagt werden: Ein Drittel der Befragten haben eine allgemeine positive affektiv/emotionale Einstellung zu ihrer Gegend. Sie weisen im Durchschnitt eine relativ hohe Lebenszufriedenheit auf.

W IE ZUR

KÖNNEN V ORSTELLUNGEN GUTEN L EBENS G EGEND HERAUSGEARBEITET WERDEN ?

MIT

B EZUG

Wie bei der themenorientierten Zusammenfassung der Äußerungen ist es die Inhaltsanalyse, die hier zur Anwendung kommt. Wichtig ist dabei die Bestimmung der Gesichtspunkte, unter denen der Inhalt analysiert wird. Sie gewinne ich zum einen aus Untersuchungen zu ländlichen Räumen bzw. zum Leben auf dem Land, im Dorf, oder welche Titel sie sonst noch haben mögen, und was sie an bekannten charakteristischen Bezügen zum Landleben aufweisen. Zum anderen analysiere ich die Äußerungen auf Bezüge hin zu drei grundlegenden Aufgaben sozialer Integration, die sich in drei Dimensionen – einer funktionalen, einer expressiv-evaluativen und einer moralischen – zeigen.

26 Die Antwortmöglichkeiten reichen von »ganz und gar unzufrieden« (Wert 0) bis zu »ganz und gar zufrieden« (Wert 10). Diese Form der Abfrage ist in der empirischen Sozialforschung ein etabliertes Instrument. 27 Der Wert für die Lebenszufriedenheit beträgt im Durchschnitt der Befragten 7,8. Im ALLBUS 2016 beträgt der Durchschnitt für die deutsche Bevölkerung im Alter ab 18 Jahren ebenfalls 7,8. 28 Im Durchschnitt weisen Befragte mit positiv affektiver Bewertung ihrer Gegend für ihre Lebenszufriedenheit den Wert 8,2 auf.

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Bekannte Bezüge zum Leben auf dem Land Vorstellungen guten Lebens, die spezifisch sind für die Verwirklichung guten Lebens in ländlichen Räumen, können sich in Äußerungen zeigen, die sich direkt oder indirekt auf die Stadt beziehen. An erster Stelle finden sie sich in Äußerungen, zu dem, was es in der Stadt (eigentlich) nicht gibt: »Landschaft, Natur, Ländlichkeit«. Die Worte »ländlich« oder »Ländlichkeit« scheinen alle Vorstellungen »auf den Begriff« zu bringen, was das Leben auf dem Land zu einem guten Leben beitragen kann. Viele Befragte können ihre Verwirklichungschancen nutzen und »in der Ruhe ländlich leben«, eine »schöne Landschaft« oder »schöne ländliche Gegend« um sich haben und »im Grünen und gleich draußen sein« und intakte »Natur erleben«. Aber es gibt auch einige, deren Umwandlungsfaktoren »Landschaft, Natur, Ländlichkeit« diese Verwirklichungschancen einschränken, sei es, weil die »Gegend nicht sehr schön ist als Umgebung«, sie »sehr flach« ist, es »zu ländlich« ist oder die Natur – so wie in der Stadt schon geschehen - nicht mehr intakt und »Die Zerstörung der ländlichen Natur«, »Umweltzerstörung« oder »Umweltverschmutzung« zu beklagen sind. In negativen Bewertungen ihrer Gegend drücken Befragte auch Vorstellungen guten Lebens aus und ihre Erwartung, dass die entsprechenden Umwandlungsfaktoren wie »schöne Gegend« in ihrer Gegend vorhanden sein sollten, oder diese vielleicht gerne in einer Gegend wohnten, wo sie vorhanden wären. In zum Ausdruck gebrachten negativen Erfahrungen zeigen sich oft Erwartungen, die sonst eher intuitiv, implizit bleiben, so Peters (1993: 400). Insbesondere beim Thema der negativen »Umweltbewertung« beziehen sich die Befragten m.E. auch indirekt auf ihre Gegend als »Nicht-Stadt«, in der es z.B. »bisschen viel Autoverkehr« gibt. Im Beispiel zeigt sich zwar ein Bezug zur Vorstellung ländlicher Ruhe, die durch den Verkehr gestört wird, aber es geht hier m.E. weniger um den Ausdruck einer Vorstellung guten Lebens, sondern mehr um die Kritik an einer »Minderleistung« des Verkehrssystems. Die Grundlage, auf welcher ich in der Inhaltsanalyse entscheide, ob eine Äußerung eher Ausdruck einer Vorstellung guten Lebens ist oder eher nicht, sind Überlegungen von Peters (1993) zu drei grundlegenden Aufgaben sozialer Integration, auf deren Bedeutung für die hier vorzunehmende Inhaltsanalyse noch eingegangen wird. In den Äußerungen der Befragten zeigen sich noch weitere Bezüge zur Stadt, die hier nur kurz aufgelistet werden. Sie ergeben sich aus dem, was es in der Stadt mehr gibt als auf dem Land, wie z.B. – negativ bewertet – Kriminalität sowie – positiv bewertet – »Kultur« und »Flair«, die es in manchen Gegenden, so die Aussagen, nicht, zu wenig oder in der zu weit entfernten Stadt gibt. Weitere Bezüge sind die Lage der Gegend oder sogar eine Lebensweise, die von Befragten mit »weder ländlich noch städtisch« beschrieben wird, oder der Wohnort selbst, positiv

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charakterisiert mit »kleinstädtisch«. Die Erreichbarkeit der Stadt, oft als »Stadtnähe« beschrieben, ist ein weiterer, oft genannter Bezug. Spezifische Vorstellungen für die Verwirklichung guten Lebens in ländlichen Räumen sind auch in Äußerungen mit Bezug zu Stereotypen ländlicher Räume zu suchen wie »Abgeschiedenheit« im Sinne von »nichts los«, »zu ruhig«, »zu ländlich«. Sie geben Vorstellungen von Befragten Ausdruck, dass es zu einem guten Leben in ländlichen Räumen auch gehört, dass nicht »nichts los« ist. In deren Gegend fehlen dafür die einschlägigen Umwandlungsfaktoren aus dem Bereich von Kultur, Freizeit, Unterhaltung, oder sie sind nur rudimentär vorhanden bzw. außerhalb der Gegend nur schwer erreichbar. Die Auflistung von Bezügen in Äußerungen von Befragten, mit denen sich gute Chancen verbinden, in ihnen Vorstellungen guten Lebens in ländlichen Räumen zu finden, will ich hier erst einmal beenden und zur Inhaltsanalyse – unter Berücksichtigung von Peters Überlegungen – übergehen. Symbolische Bedeutungen von Objekten und Problemlösungen expressiv-evaluativer Integration Die Anknüpfung an Peters (1993) bietet sich unter zwei Gesichtspunkten an: zum einen durch sein Verständnis materieller Objekte, die nicht zu trennen seien von symbolischen Elementen. Sie »sind in vieler Weise selbst Träger symbolischer Bedeutungen: Alltägliche Gebrauchsgegenstände, Häuser, Städte, Kulturlandschaften spielen eine bedeutende Rolle für unser Weltverständnis und für die Bildung individueller und kollektiver Identitäten – nicht zuletzt als Medien der Symbolisierung lebensgeschichtlicher und historischer Kontinuitäten und Traditionen.« (Peters 1993: 250)

Gute Beispiele dafür sind m.E. »Landschaft« und »Natur«. Peters zählt zu den materiellen Objekten auch die großräumige Umgestaltung der Erdoberfläche (Kulturlandschaften). Zu den materiellen Objekten der Gegend gehören somit auch Kanäle, künstliche Seen (Bagger- oder Stauseen, geflutete Tagebaue), Forste, Parks bis hin zu kleineren von Menschen geschaffenen (Schutt-)Bergen, die das Relief der Erdoberfläche merklich verändern. Sie sind Träger symbolischer Bedeutung, insbesondere eben der für »Landschaft« und »Natur«. Beide sind nicht einfach nur als natürliche Umwelt gegeben, sondern werden auch gesellschaftlich/kulturell konstruiert und individuell ausgedeutet.29 Sie sind für Menschen in ländlichen Räumen auch Symbole für ein Leben auf dem Land. Die Menschen erwarten, dass ihnen »Landschaft« und »Natur« für ein gutes Leben auf dem Land die Bedürfnisse nach

29 Das Buch von Kühne (2018) zu Landschaft gibt dazu einen guten Überblick.

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Schönheit, Entspannung und Aktivität im Grünen erfüllen. In dieser Interpretation, und hier komme ich auf den zweiten Gesichtspunkt für die Anknüpfung an Peters, steht bei »Landschaft« und »Natur« die expressiv-evaluative Dimension sozialen Handelns im Vordergrund. Nach Peters (1993) stellen sich im Lebensprozess menschlicher Gemeinschaften drei grundlegende Aufgaben sozialer Integration: funktionale Koordination, expressiv-evaluative und moralische Integration.30 Vorstellungen guten Lebens sind Problemlösungen in der expressiv-evaluativen Dimension sozialen Handelns: Es werden expressive Wertmaßstäbe, Lebensziele und -pläne formuliert, individuelle und kollektive Identitäten gebildet, Bedürfnisse interpretiert, Werte und Bedürfnisse in expressiven und konsumatorischen Aktivitäten befriedigt, darunter genuin soziale Bedürfnisse nach affektiven Beziehungen, Anerkennung und Wertschätzung (ebd.: 93). Funktionale Koordination bezieht sich auf Aktivitäten, die nach Maßstäben von Zweckmäßigkeit, Effizienz, kognitiv-instrumenteller Rationalität bewertet werden. Es geht darum, positiv bewertete Ergebnisse zu ermöglichen. In Bezug auf Kollektive oder andere soziale Einheiten heißt dies, »die Aktivitäten dieser sozialen Einheiten oder die in ihnen ablaufenden Prozesse so zu regulieren, dass ihre unterschiedlichen Leistungen sich zu einem positiven Gesamtergebnis zusammenfügen.« (ebd.: 96f). Äußerungen Befragter wie z.B.: »dass in meinem Ort die Infrastruktur stimmt« oder der Verweis auf einen erwünschten »Autobahnanschluss« beziehen sich auf materielle Objekte in Form technologischer Systeme und eines Bauwerks. Bei ihrer positiven Bewertung steht m.E. bei den Befragten eher die Dimension instrumenteller Rationalität im Vordergrund und nicht die der expressiven Gemeinschaft. Das »eher« soll jedoch darauf hinweisen, dass in konkreten sozialen Lebensformen die drei Dimensionen immer miteinander verflochten sind. 31 Peters warnt davor, »Aktivitäten entweder als moralische oder als instrumentelle oder als expressive zu klassifizieren« (ebd.: 134), da sich alles Handeln direkt oder indirekt auf alle drei Problemdimensionen beziehe. Handlungen könnten natürlich stärker auf die eine oder andere Problemdimension gerichtet sein. Bewertungen anhand von Kriterien instrumenteller Rationalität, des Gelingens funktionaler Koordination nehmen Befragte m.E. vor allem in Bezug auf soziale Sphären vor. Die Unterscheidung von Handlungssphären geht nach Peters genauso vonstatten, wie die Unterscheidung aller sozialer Einheiten. Sie sind durch Sinngrenzen definiert – d.h.: »durch sozial geltende Definitionen der Zugehörigkeit von Aktivitäten, Kommuni-

30 Nach Peters (1993) steht die Reproduktion des sozialen Lebenszusammenhangs vor drei grundlegenden analytisch voneinander zu unterscheidenden Aufgaben, die er mit funktionaler Koordination, moralischer Integrität und expressiver Gemeinschaft bezeichnet (vgl. dazu seinen schematischen Überblick: ebd.: 105 und ausführlich ab S. 92ff.). 31 Zum Verhältnis der drei Integrationsdimensionen siehe Peters (1993: 112ff.).

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kationen, Personen, symbolischen Strukturen und Objektivationen« (ebd.: 172) – und umfassen eine Vielzahl sozialer Einheiten verschiedenen Typs (ebd.). Für die Inhaltsanalyse an Peters (1993) anzuknüpfen ist vorteilhaft, weil nicht von vornherein bestimmte Äußerungen so klassifiziert sind, als könnten sie gar keinen Bezug zu Vorstellungen guten Lebens aufweisen. Er äußert sich nicht dazu, wie empirisch zu bestimmen sei, ob der einen oder anderen Dimension in einem konkreten Fall ein größeres Gewicht zukommt.32 Die Bestimmung nehme ich inhaltsanalytisch auf Grundlage dessen vor, was gemeinhin als »Experteneinschätzung« bezeichnet wird: Einzuschätzen, welcher Dimension in Äußerungen ein größeres Gewicht zukommt, ist in manchen Fällen eher einfach, in anderen fällt es eher schwer, in weiteren Fällen muss die Zuordnung offen bleiben. Es geht mir aber in der Analyse eher um eine grobe Zuordnung als um eine präzise Differenzierung in jedem Einzelfall.33 Die dritte Dimension sozialer Integration, moralische Integrität, scheint in Antworten von Befragten auf, wo es um Probleme wie Vertrauen, Schutz der Person und Bewahrung vor körperlicher und symbolischer Verletzung und Bewertungsstandards wie Gerechtigkeit und moralische Anerkennung geht. Ein Beispiel dafür ist die Antwort »dass die Leute missgünstig und neidisch sind auf andere«. Die Analyseergebnisse zu den Antworten der Befragten auf die Frage nach den guten und weniger guten Seiten ihrer Gegend werden im Folgenden in StrukturElementen des in Abbildung 3 gezeigten CA-Ansatzes verortet. Die dort unter ge-

32 Mir sind keine Ausführungen dazu von ihm bekannt, was aber auch an meinem begrenzten Überblick liegen kann. 33 Am Beispiel »Autobahnanschluss« sei dies verdeutlicht. Inhaltsanalytisch stellt sich die Aufgabe einzuschätzen, ob die – in diesem Fall gute – Bewertung eher aufgrund von Maßstäben zustande gekommen ist, wie sie für das Gelingen funktionaler Koordination Geltung beanspruchen können, oder aufgrund von Maßstäben, die eher in einer der beiden anderen Problemdimensionen Bewertungsstandards sind. Beispielsweise könnte der vielleicht kurz vor der Befragung fertiggestellte »Autobahnanschluss« für Befragte ein Symbol für den Anschluss einer sonst eher abgelegenen Gegend an »die Welt« sein – größere Städte mit ihrem Einkaufs-, Kultur- und Freizeitangebot sind jetzt plötzlich in akzeptabler Zeit erreichbar. In der Bewertung des Objekts überwögen dann vielleicht Kriterien expressiver Integration, und mit der Äußerung wollen Befragte eigentlich ausdrücken, dass es zu ihrer Vorstellung guten Lebens auf dem Land gehört, eine schnelle Anbindung an die (groß-)städtische Welt zu haben. Der gesellschaftliche Umwandlungsfaktor dafür wäre im Beispiel die (Auto-)Mobilität. Ich nehme aber an, dass Befragte, für die der Gesichtspunkt der Anbindung an eine (Groß-)Stadt eine gute Seite ihrer Gegend ist, dies wie andere Befragte eher mit Äußerungen wie »gute Anbindung an eine Stadt«, »dauert nicht lange bis zur nächsten großen Stadt« zum Ausdruck brächten.

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sellschaftlichen und »natürlichen« Umwandlungsfaktoren gelisteten Begriffe stehen für Beispiele von Differenzierungsmöglichkeiten dieser Faktoren. Der CA-Ansatz macht aber hierzu keine Vorgaben.

P ERSÖNLICHE R ESSOURCEN UND PERSÖNLICHE U MWANDLUNGSFAKTOREN FÜR L EBENSQUALITÄT In Abbildung 3 steht das Element »Persönliche Ressourcen« für materielle Ressourcen. Dazu gehören vor allem persönliches Einkommen, Vermögen und die Güterausstattung. Mit ihnen ergeben sich Handlungsmöglichkeiten für die Umsetzung der Vorstellungen eines guten Lebens. Sie bedürfen zur Umsetzung aber Umwandlungsfaktoren, darunter auch persönliche wie z.B. Gesundheit, Bildung, Fertigkeiten. Beispielsweise mag jemand genug Geld für den Kauf eines Autos haben. Aber ohne die Fertigkeit, es zu fahren, sprich ohne Führerschein, hat diese Person nicht die Handlungsmöglichkeit, selbst Auto zu fahren. Die Ressourcen werden in den »Seiten einer Gegend« nur in wenigen Punkten34 angesprochen. Der wichtigste betrifft Antworten, die innerhalb der Analysekategorie »Mobilität« mit der Kodierkategorie »Angewiesensein auf Pkw« erfasst sind. Zumeist werden damit negative Bewertungen kodiert wie »dass man immer das Auto braucht, ohne Auto geht es nicht«, »man braucht eigentlich 2 Autos im Haushalt«, »man muss ein Auto haben, da ÖPNV nicht verbreitet ist oder zu teuer«. Beispiele für gute Bewertungen sind »brauche kein Auto zum Einkauf, ganz angenehm«, »kein Auto, kann alles mit dem Fahrrad, dem Bus und der Bahn erreichen«. Neun Prozent der Befragten beklagen, dass sie ein Auto besitzen müssen, um in ihrem Alltag zurecht zu kommen. Für sie erbringt die funktionale Koordination im Mobilitätssystem nicht das für sie gewünschte Ergebnis, Mobilität auch ohne Auto realisieren zu können. Oft geht damit die Kritik an einem unzureichenden öffentlichen Mobilitätsangebot einher. Daraus ergibt sich aber nicht sachlogisch, dass Mobilität in ländlichen Räumen ohne eigenes Auto funktional nur über öffentliche

34 Nennenswert sind »Mobilität« und »Preise«. In ihren Äußerungen zu Preisen sagen die Befragten indirekt etwas zu ihren persönlichen Ressourcen. Bei hohem Einkommen erscheinen Preise in einem anderen Licht als bei niedrigem. Die Miet- oder Kaufpreise von Wohnungen erscheinen erschwinglich oder sie werden als überteuert bezeichnet. In einer Gemeinde ist es sehr günstig zu wohnen und in einer anderen aufgrund der »Münchennähe« überteuert oder »die Busfahrt ist sehr teuer, 3.80 Euro in die Stadt – für 7 km«. Die Güterausstattung mit einer Immobilie muss nicht viel bedeuten, wenn für die Gegend »niedrige Werte der Immobilien« beklagt werden. Insgesamt äußern sich zwei Prozent der Befragten zu Preisen, davon gut ein Prozent negativ und ein knappes Prozent positiv.

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Mobilitätsangebote zu verwirklichen sei. Zum einen wird hier nach Maßstäben funktionaler Koordination bewertet, zum anderen ist auch die expressive Dimension angesprochen. Autos bzw. die Automobilität haben eine starke symbolische Bedeutung in der und für die deutsche Gesellschaft. Ihre Infragestellung oder zumindest die Reduzierung ihrer Bedeutung hat etwas mit Vorstellungen einer auch anders möglichen Lebensweise zu tun. In diesen Äußerungen kommt m.E. der expressiven Dimension ein größeres Gewicht zu. Ergebnis: Für neun Prozent der Befragten gehört es zu ihrer Vorstellung guten Lebens, auf den Privatbesitz eines PKWs verzichten zu können, ohne dass ihre alltägliche Lebensführung dadurch beeinträchtigt wird. Zu den persönlichen Umwandlungsfaktoren gehören neben den schon oben genannten Umwandlungsfaktoren auch Alter und Gesundheit: Ab dem Volljährigkeitsalter eröffnen sich weitere Handlungsmöglichkeiten, wie z.B. selbst ein Auto zu fahren. Handlungsmöglichkeiten können aber auch eingeschränkt sein, wie z.B. durch ein deutlich vermindertes Sehvermögen. Damit kann man schwerlich hinter dem Steuer sitzen. Persönliche Umwandlungsfaktoren spielen in den Antworten zu den Seiten einer Gegend indirekt eine Rolle.35

35 Die Befragten erwähnen hinsichtlich der Seiten ihrer Gegend nicht direkt ihr Alter, Geschlecht, ihren Gesundheitszustand oder andere persönliche Umwandlungsfaktoren. Sie kommen dort indirekt ins Spiel, wo Befragte sich z.B. mit Bezug auf das Alter äußern wie »die Altersmöglichkeiten sind nicht so schön«, »Dorffeste für Kinder«, »gute Kinderbetreuung« oder »keine weiterführenden Schulen«. Solche Äußerungen sind der Analysekategorie »Versorgung, Einrichtungen, Dienstleistungen konkret« zugeordnet (vgl. Abbildung 2) und werden im Folgenden unter den gesellschaftlichen Umwandlungsfaktoren behandelt. Die mit den Kategorien »Altenpflege« und »ältere Menschen« erfassten Inhalte werden von Personen geäußert, die zumeist 62 Jahre oder älter sind. Im Vergleich zu ihnen beträgt das Durchschnittsalter aller Befragten 54 Jahre. Relativ ältere Befragte äußern sich somit relativ häufiger zu Themen, die sie aufgrund ihres Alters mehr betreffen als relativ jüngere Befragte. Die persönliche Situation und der Alltag von Befragten spiegeln sich in den von ihnen benannten Inhalten zu den Seiten einer Gegend wider. Dies zeigt sich auch bei den Kategorien, mit denen Inhalte zu Bildungseinrichtungen, zu Kindern und Jugendlichen erfassten werden. Personen, die sie äußern, sind im Durchschnitt 46 Jahre alt, und 67 Prozent von ihnen haben (erwachsene) Kinder im Haushalt. Im Vergleich zu ihnen haben im Durchschnitt aller Befragten nur 35 Prozent Kinder, ggf. auch erwachsene Kinder, im Haushalt.

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G ESELLSCHAFTLICHE UND AUF DIE » NATÜRLICHE « U MWELT BEZOGENE U MWANDLUNGSFAKTOREN Ich behandle im Folgenden zuerst Äußerungen, in denen Probleme der moralischen und expressiven Integration miteinander verflochten sind, und an sie anschließend ähnliche Äußerungen, in denen der expressive Aspekt allein erkennbar im Vordergrund steht. Danach wird expressive Vergemeinschaftung zuerst in Bezug auf die zwei großen Umwandlungsfaktoren für Vorstellungen guten Lebens auf dem Land bzw. deren symbolischen Ausdruck - Natur/Landschaft und Ländlichkeit - diskutiert. Im Anschluss sind die verschiedensten Bezüge auf die Stadt bzw. das Städtische, die sich in auf sie bezogenen Vorstellungen guten Lebens niederschlagen, zu analysieren. Zum Abschluss werden die in Abbildung 2 gezeigten Analysethemen nach ihnen zugrundeliegenden positiven und negativen Bewertungen der Gegend differenziert und in einer auf die Dimensionen funktionale Koordination und expressive Integration bezogenen Unterscheidung angeordnet. Moralische Integrität und expressive Gemeinschaft Beide Integrationsdimensionen sind eng miteinander verflochten und in konkreten sozialen Lebensformen oft nur analytisch zu unterscheiden.36 Äußerungen Befragter mit Anklängen zu moralischer Integrität werden zumeist in den zur Analysekategorie »persönliches, soziales, gesellschaftliches Umfeld, Bevölkerung« gehörenden Äußerungen erfasst, hauptsächlich in den fünf Kodierkategorien »Charakterisierung der Menschen«, »Gemeinschaft, Zusammenhalt«, »Soziale Kontakte«, »Kriminalität, Sicherheitsempfinden«, »Ausländer, Asylsuchende, Flüchtlinge«. Moralische Fragen sind berührt, wenn Befragte über illegitime Aktivitäten sprechen, die in ihrer Gegend – kaum oder nicht – vorkommen. Äußerungen, die den Schutz der Person vor körperlicher Verletzung, Gewaltanwendung und Drohungen betreffen, sind beispielsweise »die größere Sicherheit als in den Städten«, »man fühlt sich relativ sicher«, »wenig Kriminalität«, »keine Kriminalität«. Negative Bewertungen dazu sind »abends noch gefährlicher geworden und man fühlt sich nicht mehr sicher wie früher«, »die Kriminalität und viele komische Leute eingezogen in der letzten Zeit, viel Halunken, hört man auch von Nachbarn, die Leute haben Angst« oder einfach nur »Kriminalität«. Ein unsicheres Umfeld mit Bezug auf Konventionen des Umgangs wird angesprochen mit z.B. »Prügeleien in der Öffentlichkeit«, »es gibt Menschen, die randalieren«, »die Halbstarken, die hier immer saufen« oder »es gibt viel Ärger«.

36 »Die Realisierung von Formen expressiver Gemeinschaft ist kaum denkbar ohne eine Form moralischer Integrität.« (Peters 1993: 113)

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Dabei kann festgehalten werden: Von den Befragten äußern sich knapp vier Prozent zu Gewaltbedrohungen: je nach (Nicht-)Vorhandensein knapp zwei Prozent negativ bzw. positiv. In einigen Äußerungen scheint die Erwartung auf, dass auf dem Land ein im Vergleich zur Stadt höheres Maß an »innerer Sicherheit« gegeben ist. Die relativ häufige Erwähnung der Sicherheit unter den fünf Kodierkategorien als Aspekt moralischer Integration der Gegend ist m.E. auch ein Ausdruck dafür, dass es zur Vorstellung eines guten Lebens auf dem Land gehört, wenig Angst vor Gewaltanwendung oder -androhungen haben zu müssen.37 In vereinzelten Äußerungen – gerundet null Prozent – zu Rechtsextremen und ausländischen, geflüchteten oder asylsuchenden Personen werden nochmals anders gelagerte Aspekte moralischer Integrität angesprochen. In weiteren Äußerungen zu Ausländern wird bei knapp zwei Prozent der Befragten nur die expressive Dimension berührt – die Bedrohung kollektiver Identität scheint dabei das Thema zu sein.38

37 Vgl. zur gesamten Thematik Oelkers (2016) 38 Die Bedrohung, die mit wenigen Äußerungen wie »zu viele Rechtsextreme«, »Neonazis« oder »Menschen [haben, J.K.] rassistische Einstellung«, »akzeptieren keine Fremden« zum Ausdruck kommt, ist anderer Art als die Bedrohung durch Kriminalität. Hier geht es um ein universalistisches Moralverständnis, das von Nazis bedroht ist. Solch ein Verständnis zeigt sich auch in der Äußerung »für Migranten und Asylanten wird nichts gemacht und die Kinder von den Flüchtlingen werden in der Schule nicht gut versorgt«. Die Umsetzung dieses Verständnisses erfolgt positiv mit »gute Eingliederung von Ausländern da hoher Ausländeranteil, alles in Harmonie, es gibt in dem Sinne keine Ausländerfeindlichkeit«. Hier sind auch Fremde, Ausländer, Migranten Mitglied einer moralischen Gemeinschaft. In deutlich mehr Äußerungen – knapp zwei Prozent der Befragten – sind sie jedoch unerwünschte Personen in der Gegend. Ein Befragter erfährt das selbst: »wird ein bisschen ausgegrenzt als Ausländer bei der Arbeit«. Negativ bewertet werden »Zuwanderung von Flüchtlingen«, »große Anzahl der Asylsuchenden«, »zu viele Ausländer« und positiv »noch nicht viele Asylanten«, »kein so großes Ausländerproblem«. Hier scheint die Vorstellung einer homogenen kollektiven Identität bedroht zu sein: »die Überfremdung und die Ausländer – passt mir nicht«, »Kopftuchträger«. Die Anwesenheit von ausländischen, geflüchteten oder asylsuchenden Personen in der Gegend ist bei ca. zwei Prozent der Befragten Anlass einer zumeist negativen Bewertung ihrer Gegend. Darüber hinaus werden Verletzungen moralischer Maßstäbe durch Ausländer – als Deviante – in negativen Bewertungen zur Gegend signalisiert: »Die Flüchtlinge, weil sie sich wie Schweine aufführen«, »die ganzen Ausländer, das ist katastrophal, die können sich Sachen erlauben«. Eine Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls kommt zum Ausdruck mit »politisch gesehen wird wenig für Deutsche gemacht, Deutschland wird ausverkauft«. Das Thema Flucht und Asyl bewegt Menschen in ländlichen und nicht-ländlichen

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Moralische Integrität umfasst u.a. eine durch Achtung, Respekt, Wahrung persönlicher Integrität Anderer geprägte Umgangsweise. Negativ bewertet sind Bloßstellung, Kränkung, Verleumdung oder Beleidigung (Peters 1993: 100f.). Dieser Aspekt zur Vorstellung guten Lebens ist jedoch nicht spezifisch für Vorstellungen guten Lebens auf dem Land. Eine Verletzung entsprechender Maßstäbe scheint in Äußerungen Befragter auf wie »Neid und Missgunst der Mitmenschen insbesondere auch im Geschäftsbereich«, »es gibt Menschen, die wenig Rücksicht nehmen auf andere Menschen. Harte Menschen«. Etwas weniger hart bewertet wird beispielsweise mit »die Bigotterie der Menschen«, »arrogante Leute«. Moralische Integration gelingt dort, wo Befragte positiv äußern »die Bevölkerung, der ehrliche Mensch, da zählt das Wort«, »vertrauenswürdige Umgebung«, »gute Menschen«. In derartigen Äußerungen berichten Befragte u.a. von ihren Erfahrungen aus Interaktionssystemen in ihrer Gegend.39 Es lässt sich festhalten: Zu moralischen Aspekten der Umgangsweise in direkten persönlichen Begegnungen äußern sich gut ein Prozent der Befragten positiv oder negativ zu ihrer Gegend. Nur wenige negative Bewertungen betreffen die soziale Kontrolle. Dies mag auch daran liegen, dass sie im sozialen Nahbereich ausgeübt wird, der bei der Frage nach der Gegend weniger im Fokus der Überlegungen steht. Sie kann einhergehen mit möglichen Kränkungen oder Verleumdung: »es ein Dorf ist, jeder weiß was los ist… jeder kriegt alles mit…«, »die Tratscherei, jeder glaubt das, was rumerzählt wird als selbst zu fragen«, »Entfaltung der Persönlichkeit ist eingeschränkt durch Gesellschaft und Kirche… zu sehr in Konventionen« oder negativ konnotiert »jeder kennt jeden«. Dabei zeigt sich: Die mit dem Leben auf dem Land oft stereotyp verbundene (zu) hohe soziale Kontrolle ist bei den Befragten so gut wie nicht Gegenstand der Bewertung ihrer Gegend.

Räumen in ähnlichem Ausmaß. Parteien, die von den damit verbundenen negativen Bewertungen profitieren und sie weiter befördern, wie die AfD, scheinen in ländlichen Räumen – bis auf Ausnahmen in Ostdeutschland – nicht mehr Zustimmung zu erfahren als in nicht-ländlichen Räumen. Darauf weist eine Analyse der AfD-Zweitstimmenergebnisse bei der Bundestagswahl 2017 hin. Sie zeigt, dass in Westdeutschland sehr ländliche Gemeinden ein niedrigeres oder relativ gleich hohes AfD-Wahlergebnis aufweisen wie die eher ländlichen und nicht-ländlichen Gemeinden. In Ostdeutschland weisen tendenziell eher ländliche Gemeinden ein deutlich höheres AfD-Wahlergebnis auf, aber nicht sehr ländliche und nicht-ländliche Gemeinden. Vgl. dazu Deppisch et al. (2019). 39 Interaktionssysteme sind »situationsgebundene Formen der Interaktion unter Anwesenden« (Peters 1993: 166).

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Eher wird von einigen Befragten beklagt, »dass die Menschen hier sehr viel verschlossen sind«, »schwierig Leute kennen zu lernen, Anschluss zu finden«, »Kontaktschwierigkeiten [mit, J.K.] der örtlichen Bevölkerung«. In diesen Äußerungen scheinen in einer schwer auseinanderzuhaltenden Mischung moralische Probleme auf wie soziale Isolierung und Nichtachtung und Verletzungen von erwarteten expressiven Gemeinschaftsbeziehungen. Der Verlust solcher Beziehungen wird von einigen negativ bewertet mit »der Zusammenhalt ist nicht mehr so wie früher«, »es gibt nicht mehr das Miteinander«, »kein Zusammenhalt«. Befragte, die ihre Gegend oder ihren Ort als lokale Gemeinschaft verstehen, empfinden deren Auflösungserscheinungen als Verlust moralischer Bindung und kollektiver Identität. Ein Prozent der Befragten äußert sich in diesem Sinne negativ über ihre Gegend. Dagegen bewerten fünf Prozent ihre Gegend positiv in Hinblick auf »Zusammenhalt«, »Gemeinschaft«, »soziale Kontakte«. »Die Zusammengehörigkeit der Dörfer ist wie früher vorhanden«, es gibt ein »intaktes Gemeindeleben« oder »Es ist eine Kleinstadt, wo sich viele Leute kennen und gemeinsam das Leben gestalten«. Am meisten wird herausgehoben, »Dass man nicht anonym lebt« – sprich: »man kennt sich untereinander«. Die Befragten beziehen sich hierbei auf unterschiedliche soziale Einheiten in der Gegend, die trotz ihrer vielfältigen Mischungen und Übergänge analytisch unterschieden werden können: als Kollektive wie z.B. Vereine, als soziale Netzwerke aus verketteten oder regulären Interaktionen, in denen sich das »Gemeindeleben« zeigt, als symbolische lokale Gemeinschaft, mit der die Vorstellung von menschlichem Miteinander, Zusammenhalt und gegenseitiger Hilfeleistung verbunden wird. Die Befragung zeigt: Ungefähr sechs Prozent der Befragten lassen erkennen, dass für sie ihr Wohnort oder ihre nähere Gegend ein Raum lokaler solidarischer Gemeinschaft ist bzw. sein sollte. In wenigen weiteren Äußerungen über Menschen in der Gegend könnte neben der expressiven noch die moralische Dimension mitgemeint sein: »gut situierte Menschen«, »Bevölkerung ist sozial tolerant« oder negativ bewertet »die Menschen sind nicht weltoffen«. Doch überwiegen in den weiteren Äußerungen evaluative, expressive Gesichtspunkte, die wenig mit moralischen Forderungen zu tun haben: »die Menschen sind liberal«, »sind viel gemütlicher als in der Stadt«, »sind nicht stur die Leute« oder andersherum »die sind anders, dickköpfig«, »etwas humorlos«, »Dorfcharakter der Menschen hier«. Es kann festgehalten werden: Von zehn Prozent der Befragten lassen sich Äußerungen zu ihrer Gegend Aspekten zuordnen, in denen Probleme der moralischen und expressiven Integration miteinander verflochten sind und Vorstellungen guten Lebens auf dem Land berühren.

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Ob in den Interviewnotizen diese Aspekte in ihrem vollen Umfang festgehalten sind, muss hier offen bleiben. Damit ist gemeint, dass eventuell mehr als zehn Prozent der Befragten solche Aspekte in ihren Bewertungen ansprechen.40 Erst Analysen der Antworten auf Grundlage ihrer Transkription und erneuten Inhaltsanalyse könnten hier besseren Aufschluss geben. Festhalten lässt sich aufgrund des bisherigen Ergebnisses, dass es in ländlichen Räumen Vorstellungen über ein gutes Leben auf dem Land gibt, die im Vergleich zu einem Leben in der Stadt mit besonderen Anforderungen an die moralische Integration einhergehen. Aus den Ergebnissen des Abschnitts lassen sich folgende Thesen formulieren: Zu Vorstellungen guten Lebens auf dem Land gehört für Menschen in ländlichen Räumen: • weniger Angst vor Gewaltanwendung oder Drohungen haben zu müssen als Menschen in der Stadt; • an ihrem Wohnort eine – in ihrem Umfang nicht näher bestimmte – lokale Gemeinschaft zu haben (auch wenn sie nicht Teil dieser Gemeinschaft sein müssen); • dass es keine (zu) enge soziale Kontrolle des Lebens am Wohnort gibt. Die weiteren, unter der Analysekategorie »persönliches, soziales, gesellschaftliches Umfeld, Bevölkerung« zusammengefassten Äußerungen betreffen mehr oder weniger alle die expressive Dimension. Sie werden im nächsten Abschnitt als erste behandelt. Expressive Integration – »persönliches, soziales, gesellschaftliches Umfeld, Bevölkerung« Bei den unter diese Analysekategorie fallenden Äußerungen, die oben nicht unter dem Aspekt moralisch-expressiver Integration behandelt wurden, steht die expressive Dimension sozialer Integration im Vordergrund. Aus den direkten persönlichen Begegnungen werden die Leute von drei Prozent der Befragten als »nett«, »freundlich«, »gemütlich« beschrieben oder als gute Seite der Gegend einfach »die Menschen«, »Leute« oder »der Typ Mensch« genannt. Nur von einem knappen Prozent werden sie als »unfreundlich«, »etwas humorlos« oder negativ konnotiert als »Dorfcharakter« oder »Bauern« bezeichnet. Auch dort, wo zwischenmenschliche Kontakte allgemein mit »persönliches Umfeld«, »soziales Umfeld« oder noch

40 Beispielsweise könnte in einer mit der Interviewnotiz »die Menschen« als gut bewertete Seite einer Gegend eine Äußerung zugrunde liegen, in der auch moralische Aspekte eine Rolle spielen. Da sie in der Interviewnotiz nicht erkennbar sind, wird diese Bewertung in der Analyse »nur« als Ausdruck expressiver Gemeinschaft gewertet.

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einfacher als »Umkreis« bezeichnet werden, werden sie von gut zwei Prozent der Befragten als positive Seite der Gegend genannt und nur von gerundet null Prozent als negative. Die relativ meisten Äußerungen zum »Zwischenmenschlichen« beziehen sich von sieben Prozent der Befragten auf Familie, Verwandte, Freunde, Bekannte und Nachbarn, die so gut wie alle als gute Seite der Gegend Erwähnung finden. Zusammenfassend: das familiäre und das weitere persönliche und soziale Umfeld werden von elf Prozent der Befragten positiv erwähnt und nur von einem Prozent negativ. Hier scheint die Realität dem Stereotyp ländlichen Raums nahe zu kommen, dass dort das »Zwischenmenschliche« noch wertgeschätzt wird. Es zeigt sich: Äußerungen von zwölf Prozent der Befragten lassen erkennen, dass zu ihrer Vorstellung guten Lebens gehört, ein familiäres und gutes soziales Umfeld in ihrer Gegend zu haben. Von den weiteren Äußerungen zu »persönliches, soziales, gesellschaftliches Umfeld, Bevölkerung« seien noch diejenigen mit Bezug auf die Bevölkerung, ihre Struktur und Veränderungsdynamik erwähnt. Dazu äußern sich eineinhalb Prozent der Befragten, davon die meisten mit negativer Bewertung zur Altersstruktur und dem Wanderungsgeschehen in ihrer Gegend. Das Wanderungsgeschehen erscheint kontrovers: einer beklagt »vieler Wegzug«, der andere »bekommen immer mehr Neubürger«. Bei den allermeisten Befragten finden sich aber keine Bezüge auf eine irgendwie geartete Wanderungsdynamik in ihrer Gegend, bis auf die weiter oben erwähnten knappen zwei Prozent Befragter mit Äußerungen zu Migranten und Flüchtlingen. Daher ist zu konstatieren: Die allermeisten Befragten bewerten ihre Gegend nicht als einen Raum, der sich »entleert«. Expressive Integration – »Landschaft, Natur, Ländlichkeit« Äußerungen der Befragten zu »Landschaft, Natur, Ländlichkeit« sind einschlägig für Vorstellungen zu einem guten Leben auf dem Land. Es sind darunter Inhalte zusammengefasst, die von Befragten oft zusammen angegeben werden. Gemeint ist, wenn Befragte beispielsweise »schöne Landschaft« als eine gute Seite ihrer Gegend benennen, es eher wahrscheinlich ist, dass sie auch »ländlich« sagen als »ein gutes Arbeitsplatzangebot«.41 Ländlichkeit als »die ruhige ländliche Lebensweise« wird

41 Analytisch unterscheide ich im Themenbereich auf einer weniger zusammenfassenden Ebene die Bereiche »die (schöne) Landschaft, Gegend«, »in der Natur/im Grünen«, »Wald, Wasser, Berge«, »Erholung, Umweltqualität«, die Kodierkategorie »Tiere« und »die ruhige ländliche Lebensweise«. Anhand der Kodierkategorie »Tiere« konnten nur wenige Äußerungen Befragter kodiert werden. Auch Worte wie »Feld«, »Äcker« oder »Wiese«, »Weide« werden in Zusammenhang mit Landschaft oder Natur nur selten von

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in den Antworten der Befragten eine Gegend beschrieben mit Äußerungen wie »ländlich«, »ruhig« oder »die ländliche Gemütlichkeit«.42 »Ländlich« wird insbesondere durch »ruhig« oder »die Ruhe« näher charakterisiert.43 Landschaft und/oder Natur erwähnen 46 Prozent der Befragten als gute Seite ihrer Gegend, Ländlichkeit 35 Prozent. Sowohl Landschaft/Natur wie auch eine ländliche Lebensweise werden nur von 14 Prozent zusammen genannt (kurz: LaNaLä). Diese Kombination ist eigentlich der Prototyp für die Vorstellung eines guten Lebens auf dem Land, und man sollte erwarten, dass er vor allem in sehr ländlichen Gegenden zu finden ist. Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass dies nicht zutrifft. 32 Prozent Befragte äußern sich positiv zu Landschaft und/oder Natur, ohne etwas Positives zur ländlichen Lebensweise zu sagen (LaNa). Und umgekehrt: 22 Prozent der Befragten sagen etwas zur ländlichen Lebensweise, aber nichts Positives zu Landschaft/Natur (Lä). Keine positiven Äußerungen zu ländlicher Lebensweise und Landschaft/Natur machen 33 Prozent der Befragten (weder/noch).

ihnen genannt. Was wir allgemein mit Landwirtschaft bezeichnen, scheint für die Befragten nicht (mehr) Bestandteil dessen zu sein, was sie mit Natur oder Landschaft verbinden. 42 Wir erfassen sie mit folgenden Kodierkategorien: »ländlich«, »Ruhe«, »Ruhe – speziell«, »das (ruhige) Leben, Lebensqualität«. Beispiele von Äußerungen zu den Kodierkategorien: »ländlich«, mit Antworten wie »ländliche Atmosphäre«, »ländliche Struktur«; »Ruhe«, mit Antworten wie »ist ruhiger als in der Stadt: die Ruhe«; »Ruhe – speziell«, Antwortbeispiele sind »die ländliche Ruhe«, »ruhige Gegend«, »ländlich ruhig« und »das (ruhige) Leben, Lebensqualität« mit zum Beispiel »sehr gut zu leben«, »die ländliche Gemütlichkeit«, »gemütliches schönes Landleben«. 43 Einige Äußerungen Befragter, die mit der Kategorie »Erholung, Entspannung« kodiert wurden, hätten vielleicht auch zu »die ruhige ländliche Lebensweise« gepasst. Beispiele dafür sind »hoher Erholungswert«, »kein Stress«. Dies zeigt aber nur, wie schwer es ist, themenbezogen analytisch etwas zu trennen, was inhaltlich verwoben ist. »Ländlich« ist damit auch näher bestimmt durch Erholung. Ich behandle im Folgenden Äußerungen zu »Erholung, Entspannung« auch unter die Kategorie »die ruhige ländliche Lebensweise«.

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Tabelle 1: Verschiedene Angaben zu Kombinationstypen positiver Äußerungen zu ländlicher Lebensweise und Landschaft/Natur. Kombinationstypen aus Landschaft/Natur und Ländlichkeit

weder/noch

14

32

33

2,0

2,2

2,5

3,0

479

233

733

624

Mobilität

44

38

36

21

Störungen aller Art3

5

10

14

18

Durchschnittswert subjektiver Ländlichkeit* Anzahl negativer Bewertungen insgesamt (N) darunter in % negative Bewertungen zu:

LaNaLä

22

2

LaNa

Anteile an allen Befragten in %

1Lä

* Auf einer Skala von 1 bis 7 bedeutet 1 »ländlich« und 7 »städtisch«. 1 Lä steht für ländliche Lebensweise 2 LaNa steht für Landschaft u/o Natur 3 Verkehrslärm, andere Störungen durch/im Verkehr, An-, Verbindungen und/oder Störungen durch Straßen-, Wegezustand, sonstige negative Umweltbewertungen. Thünen-Befragung 2016 (n=1.717); eigene Darstellung

Man könnte annehmen, dass Befragte aufgrund der beschränkten Anzahl an Zeit nur Äußerungen zu Landschaft/Natur oder Ländlichkeit machen, aber im Grunde genommen jeweils das andere mitmeinen. Dem ist aber nicht so, zumindest im Durchschnitt. Mit der Beschränkung auf das eine oder andere geht doch ein anderer Durchschnittswert subjektiver Ländlichkeit einher, wie Tabelle 1 zeigt. Auch inhaltlich lassen sich Unterschiede zwischen den Lä- und LaNA-Typen ausmachen, die noch besser zu interpretieren sind, wenn in den Vergleich auch die anderen Typen einbezogen werden. Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass eine hohe subjektive Ländlichkeit wie im Lä-Typ mit einer relativ hohen negativen Bewertung einer Gegend in Hinblick auf den ganzen Themenbereich der Mobilität einhergeht. Störungen aller Art sind in der Gegend dieses Typs ein eher geringes Problem, wie die fünf Prozent negativen Bewertungen zeigen. Vereinfacht gesagt: geringe Ländlichkeit – geringe Probleme mit Mobilität, hohe Ländlichkeit – viele Probleme damit; geringe Ländlichkeit – geringe Probleme mit Störungen aller Art in der Umwelt, hohe Ländlichkeit – viele Probleme damit. Die Befragten, die etwas zur ländlichen Lebensweise, aber nichts zu Landschaft/Natur (Lä) sagen, wohnen ihrer

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Einschätzung nach im Vergleich der Kombinationstypen am ländlichsten. Umwandlungsfaktoren für ihre Mobilitätsvorstellungen sind für sie in ihrer Gegend vergleichsweise am wenigsten gegeben. Mit ihren Äußerungen zu »Mobilität« beziehen sie sich auf ein Objekt, bei dem m.E. für sie der expressiven Dimension – gerade wegen ihrer relativ hohen subjektiven Ländlichkeit – ein höheres Gewicht zukommt als der funktionalen. Laut Studie ergibt sich folgendes Bild: Für 32 Prozent der Befragten gehört eine positiv bewertete Landschaft und/oder Natur zu ihrer Vorstellung guten Lebens auf dem Land, ohne dass sie damit eine ländliche Lebensweise verbinden (LaNa). Bei 14 Prozent der Befragten geht ein gutes Leben auf dem Land mit einer ländlichen Lebensweise in schöner Landschaft und Natur einher. Im Durchschnitt setzen sie dafür nicht voraus, in einer sehr ländlich einzuschätzenden Gegend wohnen zu müssen (LaNaLä). Für 22 Prozent der Befragten gehört eine ländliche Lebensweise zum guten Leben auf dem Land. Dazu gehören für sie auch Umwandlungsfaktoren für eine gute Mobilität, die trotz relativ hoher subjektiver Ländlichkeit gegeben sein sollten (Lä). Expressive Integration – Bezüge zur Stadt zwischen ländlich, klein- und großstädtisch In Äußerungen von Befragten mit Bezügen zur Stadt oder zum Städtischen scheinen Lebensweisen jenseits der mit »ländlicher Lebensweise« charakterisierten Äußerungen und Vorstellungen guten Lebens auf, die bisher noch nicht behandelt worden sind. Von den in ländlichen Räumen befragten Menschen wohnen nicht wenige in kleineren Städten, auf deren Charakteristika sie als gute oder weniger gute Seiten ihrer Gegend Bezug nehmen. Sie liegen sozusagen quer zu den oben unterschiedenen Typen und kommen in allen vieren vor. Beispielsweise gibt es einige Befragte des LaNaLä-Typs, die sich nicht nur positiv zu Landschaft/Natur und ländlicher Lebensweise äußern, sondern auch positiv über ihre Kleinstadt, in der sie gut »kleinstädtisch« leben können. Im Verständnis dieser Befragten schließt das eine das andere nicht aus. Dies wird deutlich an Äußerungen Befragter, die in einer (Klein-)Stadt wohnen. »Dass man aus der überlaufenen Stadt rauskommt« und, so derselbe Befragte: »Dass es ländlich ist«. Weitere Beispiele der guten Seiten ihrer Gegend sind »Nähe zum Land«, »Die ländliche Gegend ist nicht weit von der Stadt, 2 km«. Solche Äußerungen von einem knappen Prozent der Befragten, haben wir mit »Landnähe« kodiert. Dass die eigene Stadt in einer ländlichen Umgebung liegt und das Ländliche schnell erreichbar ist, gehört für diese Befragten zu ihrer Vorstellung von gutem Leben.

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Unter allen Befragten finden sich fünf Prozent, die sich in positiver oder negativer Weise auf Aussehen und Zustand ihrer Stadt und deren Stadtbild beziehen: »Wir haben eine sehr schöne Altstadt«, »einen hübschen Markt«, »keine Hochhäuser«, »Der Stadtkern ist auf das Modernste saniert, die Umgebung lottert vor sich hin«, »Historisch wertvolle Gebäude verfallen«, »Stadtmitte… die Kirchen«, »Die ausgestorbene Innenstadt«. Die Objekte sind hier Träger symbolischer Bedeutungen, die ich in ihrer Gesamtheit als »Stadtbild« bezeichne und m.E. als ungefähres Pendant zur Landschaft begriffen werden kann. Die expressive Dimension steht bei den Äußerungen im Vordergrund; und zur Vorstellung eines guten Lebens auf dem Land gehört, in einer (Klein)Stadt zu wohnen, wo (zumindest) der Stadtkern ästhetischen Kriterien genügt. Man will eben auch ein wenig stolz sein auf die eigene Stadt. Die Mehrzahl der mit den Kodierkategorien »Ortsgröße, Struktur« und z.T. »Zentralität« erfassten positiven Äußerungen beziehen sich auf kleinere Städte, ihre überschaubare Größe und manchmal auf die dortige kleinstädtische Lebensweise: »Ist nicht zu groß, Mittelstadt«, »überschaubare Strukturen«, »kleine Stadt«, »Dass es kleinstädtisch ist«, »Die Stadt ist überschaubar«, »Mitten in der Stadt«. Sie zielen auf eine typischerweise mit einer Landstadt verbundene Lebensweise und Struktur der Stadt. Die Strukturen sind als Objekte zu verstehen, die Symbolträger für eine kleinstädtische Lebensweise sind – der expressive Gesichtspunkt überwiegt klar. Für die zwei Prozent Befragten mit entsprechenden Äußerungen gehört zum guten Leben auf dem Land städtisch wohnen zu können, ohne dass es zu städtisch wird. Was schon zu städtisch ist, zeigt sich in den wenigen negativen Äußerungen von Befragten zu ihrer Stadt mit »Ballungszentrum« und »Es ist manchmal zu städtisch«. Und was noch nicht oder zu wenig städtisch ist, zeigen Äußerungen wie »zu kleinstädtisch«, »Es ist halt zu klein die Stadt« oder »Enge«. Auch hier überwiegt in den Äußerungen die Dimension expressiver Integration. Bei diesem knappen ein Prozent der Befragten gehört zu Vorstellung eines guten Lebens, in einem ländlichen Raum in einer (Klein-)Stadt zu wohnen, in der es nicht (nur) provinziell zugeht. Unter einem etwas allgemeineren Gesichtspunkt, dem »Städtischen«, beziehen sich ein Prozent der Befragten auf die Stadt. Sie bewerten ihre Gegend positiv, weil sie in ihr eine »ideale Mischung aus Stadt und Land« vorfinden, es eine »Ausgewogenheit zwischen städtischem Umfeld und ländlichem« gibt und »Dass es ländlich und städtisch ist, und alles bei der Hand haben«. Kurzum: »Wir haben ländlich und städtisch«. Diese spezifische Mischung ist für sie ein Umwandlungsfaktor für ein gutes Leben, das vielleicht selbst – um ein bekanntes Wort aus der Diskussion um Ländlichkeit aufzugreifen – als »rurbane Lebensweise« bezeichnet werden könnte. Auf Städte beziehen sich weitere elf Prozent Befragter nicht i.S.v. eigener Stadt, sondern als Städte, die für sie schnell erreichbar sind: »Städte in der Nähe«, »Stadt-

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nähe«, »Stadt gut zu erreichen«, »Stadt in 10 km« sind Beispiele entsprechender Äußerungen. Unter diesen elf Prozent meinen vier Prozent mit Stadt eine Großstadt, auf die sie sich entweder nur allgemein beziehen: »Man kommt schnell in die großen Städte«, »Nähe einer Großstadt«, oder die sie konkret benennen: »Wohne sehr nah an München«, »Weimar und Jena ist hier«, »Ganz nah an Leipzig«. Für nur knapp ein Prozent unter den elf ist die (Groß-)Stadt zu weit entfernt: »Einkaufstädte sind weit weg«, »Man muss viel fahren, um zu einer größeren Stadt zu kommen«, »Entfernung zu Städten«. Die relativ schnelle Erreichbarkeit, besonders im Falle der Großstadt, kann m.E. als Synonym für die Einlösung freizeit- und kulturbezogener Ansprüche gelesen werden. Die elf Prozent Befragten bringen zum Ausdruck, dass für sie zu einem guten Leben auf dem Land gehört, in akzeptabler Zeit Zugang zur »großen Welt« der Freizeit und Kultur zu haben. Das heißt: Für insgesamt ca. 20 Prozent der Befragten gehört ein stadtspezifischer Aspekt bzw. des Städtischen zu ihrer Vorstellung guten Lebens auf dem Land. Den ganzen unter dem Analysethema »Freizeit, Kultur, Sport, Bewegung« zusammengefassten Gesichtspunkten zur Bewertung einer Gegend messen sie im Durchschnitt ein höheres Gewicht zu als die anderen Befragten. Unter Befragten mit positiven Bewertungen zu ihrer Gegend unter dem Aspekt »Kultur, Freizeit« beträgt ihr Anteil 31 Prozent, unter denen mit positiver Bewertung zu »Bewegung draußen, Sport« beträgt ihr Anteil 25 Prozent. Die Befragten mit den stadtspezifischen Vorstellungen guten Lebens verteilen sich relativ gleichmäßig auf die vier Kombinationstypen aus Landschaft/Natur und Ländlichkeit.44

V ORLÄUFIGER A BSCHLUSS

DER

A NALYSE

Die Analyse der Antworten zur Frage nach den guten und weniger guten Seiten unter dem Gesichtspunkt von Vorstellungen guten Lebens könnte noch weiter geführt werden. Zum Beispiel Äußerungen von knapp zwei Prozent Befragter, die negativ bewerten, dass es in ihrer Gegend zu ländlich ist. Beispiele dafür sind »Ort ist zu ruhig«, »Abgeschiedenheit«, »es ist langweilig«, »ein bisschen öde«. Davon bewerten unter dem Gesichtspunkt der Ländlichkeit ein Prozent ihre Gegend nur negativ,

44 Der Typ, in dem Befragte weder Landschaft/Natur noch Ländlichkeit als positive Seite ihrer Gegend nennen (weder/noch), hat ein leichtes Übergewicht. 24 Prozent der Befragten dieses Typs äußern mindestens einen stadtbezogenen Aspekt guten Lebens. In den drei anderen Typen bewegen sich die entsprechenden Anteile zwischen 17 und 20 Prozent. Werden die vier Typen jeweils mit den stadtspezifischen Vorstellungen zu gutem Leben kombiniert, differenziert sich die Vorstellungswelt zu gutem Leben auf dem Land aus.

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ein Prozent aber auch positiv. Letztere benennen oft positiv, dass es ruhig oder ländlich, und negativ, dass es eben (manchmal) zu ruhig sei. Ein großer Bereich beträfe beispielsweise die unter dem Analysethema »Umweltbewertung zu Verkehr, Anlagen u.a.m.« zusammengefassten zumeist negativen Äußerungen zur Gegend. Für die Zwecke dieses Beitrags scheint es mir aber ausreichend zu sein, die großen Linien und Grundlagen der Analyse herausgearbeitet zu haben. Zum Abschluss soll nun noch ein Überblick gegeben werden zur Verteilung der positiven und negativen Bewertungen der Gegenden durch die Befragten anhand der Strukturierung ihrer Äußerungen in den oben vorgestellten Analysethemen. Für diesen Überblick ordne ich die Themen auch danach ein, ob in den ihnen zugrundeliegenden Äußerungen in ihrer Mehrheit eher der Gesichtspunkt funktionaler Koordination oder (moralisch-)expressiver Integration überwiegt. Eigentlich ist dies methodisch nicht zulässig, aber eine grobe Orientierung aufgrund einer »Experteneinschätzung« gibt es doch. Eine nähere Begründung der Zuordnung spare ich mir hier, da aufgrund meiner bisherigen Ausführungen ihre Grundlagen nachvollziehbar sein sollten. In Abbildung 4 sind die Balken in drei Bereiche geordnet: von »Landschaft …« bis »Lage …« für die Äußerungen, in denen vermutlich in der Mehrzahl die expressive Dimension überwiegt. Ausnahme ist die »affektive Bewertung«, die eigentlich dazugehört. Sie steht für die allgemeine Lebenszufriedenheit, weshalb ich sie nicht zu den Umwandlungsfaktoren für ein gutes Leben rechne und getrennt zu den »Sonstigen Bewertungen« stelle. Die Analysekategorien von »Mobilität« bis »Verbindungen …« umfassen die funktionale Dimension der Umwandlungsfaktoren.

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Abbildung 4: Anteile von Befragten mit positiven und negativen Bewertungen zu ihrer Gegend im Umkreis von 10 km nach zusammengefassten Analysekategorien (Angaben in gerundeten Prozent der Befragten).

Thünen-Befragung 2016 (n=1.717); eigene Darstellung

Eine der Ausgangsfragen, und zwar diejenige nach dem Ausmaß an Voraussetzungen, um in ländlichen Räumen ein gutes Leben führen zu können (i.S.v. Lebensqualität des CA), lässt sich anhand der Daten in Abbildung 4 ansatzweise beantworten. Die Umwandlungsfaktoren in der expressiven Dimension sozialer Integration werden von den Befragten im Großen und Ganzen deutlich positiv bewertet. Nennenswerte Anteile negativer Bewertungen gibt es zum einen in der Analysekategorie »Freizeit, Kultur, Sport, Bewegung«. Hier ist es vor allem der Aspekt der »Kultur«, der negative Bewertungen auf sich zieht. Zum anderen betrifft es die Analysekategorie »persönliches, soziales, gesellschaftliches Umfeld, Bevölkerung«. Hier sind es die Aspekte des gesellschaftlichen Umfeldes und der Bevölkerungsstruktur und -bewegung, die relativ stark negativ bewertet werden. Bei »Ort – Struktur, Aussehen« geht es m.E. letztlich um das »Ortsbild« von kleineren Städten als Pendant zur Landschaft. Hier zeigen sich Schatten. Der hohe Anteil negativer

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Bewertungen in der Analysekategorie »Umweltbewertung …« ergibt sich aus der Konstruktion der Analysekategorie. Hier sind Äußerungen zusammengefasst, die mehrheitlich Störungen durch Verkehrslärm, andere Störungen durch/im Verkehr oder durch technische Anlagen umfassen. Die Umwandlungsfaktoren in der funktionalen Dimension sozialer Integration werden im Vergleich zur expressiven deutlich schlechter bewertet. Letztlich ergibt sich ein geteiltes Bild: Es scheint ländlichen Räume zu geben, in denen es um die Umwandlungsfaktoren für Lebensqualität in der funktionalen Dimension relativ gut bestellt ist, und Räume, in denen es weniger gut aussieht.

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Gutes Leben in der Uckermark – intermedial Gegenwärtige Narrative des Provinzerzählens und ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion C HRISTIAN H ISSNAUER , C LAUDIA S TOCKINGER

Die ›erzählte Provinz‹ hat seit der Jahrtausendwende Konjunktur. Ob Gegenwartsliteratur oder Kino und Fernsehen: Rurale Lebenswelten sind ›in‹, obwohl (oder weil?) Dörfer sterben und ländliche Lebensräume massiv umgestaltet werden. Auf welche aktuellen Fragen also antwortet ›das Provinzerzählen‹? Und, vor allem: Welche Aufschlüsse darüber gibt der intermediale Vergleich – Aufschlüsse, die einem monomedialen Zugang (ggf.) nicht möglich sind? Um ein diesen Fragen angemessenes, operationalisierbares Untersuchungsdesign zu entwickeln, ist es so sinnvoll wie notwendig, erstens den Gegenstand (1) und zweitens die Fragerichtung (2) noch genauer zu profilieren. Ein komparatives Vorgehen setzt voraus, dass sich alle medialen Aushandlungen welchen Formats auch immer – wir beschäftigen uns mit Filmen, Fernsehproduktionen, Romanen, wissenschaftlichen Untersuchungen, Marketing- und Werbetexten – auf dieselben oder wenigstens sehr ähnliche Phänomene beziehen. (1) Welcher Gegenstand, genauer welches Gegenstandsfeld erlaubt es uns, überhaupt Vergleiche anzustellen? In den Diskursen der letzten Jahre, die den Strukturwandel in Provinz und Stadt, die das Problem dörflicher (Fort-)Existenz, das Verhältnis von Urbanität und Ruralität etc. behandeln, ist die Uckermark zu einem intermedial beliebten – fiktionalen wie faktualen – Darstellungsraum geworden.1 Ein wichtiger Grund dafür könnte sein, dass es die Nähe zu Berlin erlaubt,

1

Ob es sich bei der Uckermark aufgrund der vielen Bezugnahmen, die teils sehr hohe Rezipierendenzahlen erreichen, um einen prototypischen ländlichen Raum handelt, müssten weiterführende, vergleichende Studien zeigen. Die unbestreitbare Popularität der Region als Darstellungssujet jedenfalls zeigen neben den in vorliegendem Beitrag behandelten

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Merkmale urbanen Lebens ins Ländliche zu injizieren bzw. ländliches Leben in seinen Annehmlichkeiten mit den Möglichkeiten des Städtischen auf niedrigschwellige Weise zu verbinden – mit der Gruppe der »Zugezogenen« hat sich jedenfalls auch die mediale Aufmerksamkeit auf die »Toskana des Nordens«2 um ein Vielfaches erhöht. Zielt demnach der aktuelle Diskurs darauf ab, die Uckermark als rurbanen Raum zu produzieren? (2) Mit Blick auf die Fragestellungen, die Formen und Funktionen des Provinzerzählens genauer auszutarieren vermögen, kommt unseren Überlegungen das diesem Band zugrunde liegende Interesse am ›guten Leben auf dem Land‹ entgegen:

Gegenständen – die Dokumentarfilme UCKERMARK (2001/02) und LANDSTÜCK (2016), die Fernsehdokumentation BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (2012) und der POLIZEIRUF: MUTTERTAG (2017), das Tourismusmarketing der Region sowie die Romane UNTERLEUTEN

(2016) und VOR DEM FEST (2014) – Beispiele des Uckermark-Erzählens wie das

Jugendbuch NACHTSCHWÄRMER (2019) von Moira Frank; Romane wie URLAUB MIT ESEL (2013) von Michael Gantenberg oder GRÜNMANTEL (2019) von Manfred Maurenbrecher; Krimis wie DAS KREUZ VON KRÄHNACK (2016) von Ralph Gerstenberg, DER UCKERRUSSE und DAS UCKERLAMM (beide 2017) von Max Victor oder DAS TAGEBUCH – NICHTS IST SO, WIE ES SCHEINT (2019) von Thomas Neumann; außerdem Filme wie JAGDHUNDE (2007) von Ann-Kristin Reyels, FERIEN (2007) von Thomas Arslan, RAKETE PERELMAN (2017) von Oliver Alexander Alaluukas oder NEUBAU (2020) von Johannes M. Schmit; Fernsehfilme wie UNTERLEUTEN: DAS ZERRISSENE DORF (2020) von Matti Geschonneck; oder Dokumentarfilme und Dokumentationen wie HERR WICHMANN VON DER DURCH DIE

CDU (2003) von Andreas Dresen oder WUNDERSCHÖN: EINE REISE

UCKERMARK (2019) von Dieter Schug. Ein blinder Fleck des Uckermark-

Erzählens ist dabei das Thema Rechtsradikalismus, das nur selten zum Gegenstand der Darstellung wird (siehe z.B. das Theaterstück DER KICK von Andres Veiel und Gesine Schmidt, 2005, oder Tamara Milosevic Dokumentarfilm ZUR FALSCHEN ZEIT AM FALSCHEN ORT, 2005/2006).

2

So

ein

Flyer

von

BÜCHERGILDE

REISEN

über

die

Uckermark,

siehe:

www.buechergilde.de/tl_files/buechergilde/magazine-pdf/2018_3.pdf, S. 9 (11.10.2018). Die POTSDAMER NEUESTEN NACHRICHTEN vom 23. November 2007 weisen – ohne nähere Angaben – den damaligen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck als Urheber der Bezeichnung aus (Metzner 2007). Zuvor ist eher von der »Deutschen Toskana« die Rede. So schreibt z.B. die WELT AM SONNTAG am 14. September 2003 unter der Überschrift LANDPARTIE UCKERMARK: »Selbst wenn die Uckermark nicht die ›deutsche Toskana‹ ist – wie ein heimatbesoffener Reiseführer behauptet.« (Wägner 2003) Und noch 2007 liest man bei Harald Martenstein (2007) in der ZEIT: »Es heißt immer: Uckermark, die deutsche Toskana. Ich dachte, deutsche Toskana, da lebe ich wild und frei wie Joschka Fischer und gehe allen auf die Nerven wie Otto Schily.«

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Gerade die Rede über ›die Uckermark‹ wird regelmäßig mit der Rede darüber verbunden, man ziehe aufs Land, um ein ›gelingendes Leben‹ zu führen. 3 Konfrontiert werden die Provinzerzählungen dabei immer wieder mit Alteingesessenen, die ihr gesamtes Leben einem bestimmten Ort gewidmet haben und ihre Selbstbeschreibung nicht selten mit einer oftmals viele Generationen überdauernden (Dorf-) Geschichte verknüpfen.4 Überhaupt spielt ›Geschichte‹ in der Uckermark stets eine Rolle, wenn es ums Provinzerzählen, um die mannigfaltigen Konstruktionen provinzieller Räume ›guter Leben-Sehnsüchte‹ geht. Was also erwarten sich die Menschen von jener ländlichen Region, in der sie ausharren, in die sie zurückkehren, in die sie fliehen und die sie mit ihrer je spezifischen Vorstellung guten Lebens allererst produzieren? Und welche Rolle spielt in diesen unterschiedlichen medialen Aushandlungen die Landschaft als Akteur spezifischer Raumerzeugungen? Die im Rahmen von Landlob- vs. Landflucht-Debatten verhandelte Frage danach, wo man leben soll, um ›gut‹ zu leben, erlebt seit den 1980er Jahren auch in der (akademischen) Philosophie eine »Renaissance« (Seel 1991: 42); mit Holmer Steinfath (1998: 14; unter Berufung auf Plato) kann sie allgemein als Frage, »wie zu leben ist«, gestellt und bedacht werden. Dadurch kommen Anschlussperspektiven auf die Adressat/innen oder/und Protagonist/innen des Guten in den Blick – eines Guten, das sich für den Einzelnen/die Einzelne bewähren, also subjektiv erstrebenswert sein mag oder das objektive Geltung beansprucht, wenn es sich auf eine größere Gruppe bezieht, begründet z.B. in einer bestimmten staatlichen Ordnung. Zu unterscheiden ist, anders gesagt, danach, ob in erster Linie entweder »das eigene Wollen« oder »das moralische Sollen« das Nachdenken über GuteLeben-Praktiken und diese selbst leiten.5 In den von uns beobachteten Texten dominieren wunsch- und zieltheoretische Begründungen einer Entscheidung für ›gutes Leben‹. Die Uckermark erscheint dabei als Produkt einer Summe von Gute-Leben-Konzepten einzelner – bestätigt von aktuellen sozialgeographischen und soziologischen Forschungen wie denjenigen von Julia Rössel (2014) oder Claudia Neu (2016), die zeigen, dass ein ›gutes Leben auf dem Dorf‹ »heute zunehmend das gute individuelle Leben und nicht ein besseres Leben für alle« meint. Die »ländliche Idylle« ist demnach »vor allem ein

3

Stellvertretend für andere provinzielle Räume, etwa die Gegend um Hamburg: vgl. Katrin Seddigs Roman DAS DORF (2017).

4

Anschaulich und vorbildhaft dargestellt etwa bei Geert Mak (2014) oder in der TATORTFolge TOD IM HÄCKSLER (SWF 1991), einer prototypisch angelegten Dorfgeschichte im Film.

5

Fenner (2007: 12) unterscheidet hier zwischen dem individualethischen Streben und dem sozialethischen Sollen, darauf fußend Rössel (2014: 44).

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Privatvergnügen« (Neu 2016: 7), und als ein solches wird sie oft auch massenmedial inszeniert sowie vermittelt (vgl. Baumann 2018).6 Geleitet werden unsere Gegenstandsbeobachtungen von einem konstruktivistisch begründeten Raumverständnis, demzufolge der Landschaftsraum Ergebnis historisch zu perspektivierender und andauernder Produktionsprozesse ist. Dass es also, mit Julia Rössel gesagt, einen »Ort, an dem das gute Leben selbst per se zu finden ist«, schlichtweg »nicht geben« kann (Rössel 2014: 226), setzen die folgenden Analysen voraus. Zugleich gehen wir zum einen davon aus, dass jeder Ort einen je raumspezifischen Beitrag zu den genannten Prozessen liefert, 7 und zum anderen, dass den Medien bei der sozialen Produktion von Orten des guten Lebens eine bedeutsame Rolle zukommt. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht dabei die Frage, wie ein Roman, Film oder Werbetext Landschaft darstellt und welche Funktion die spezifische Landschaftsdarstellung für die Prozesse der Raumerzeugung hat. Was wir vorhaben: Für unsere Untersuchungen haben wir ein allgemeines Modell medialer Raumproduktion entworfen (das sog. Raum-ZwischenraumModell), das wir zunächst vorstellen (1). Im Anschluss daran loten wir mit Volker Koepps Produktionen UCKERMARK (2001/02) und LANDSTÜCK (2016) die Geschichte der Uckermark-Erzeugungen im Dokumentarfilm aus (2), um die Beobachtungen dann zunächst mit den Aushandlungen der Uckermark in der Fernsehdokumentation BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (2012) und im POLIZEIRUF: MUTTERTAG (2017) (3) abzugleichen. Welchen Beitrag das Regionalmarketing zu den Prozessen der Raumerzeugung leistet, skizzieren wir in Teil (4) unseres Artikels. Den Abschluss bilden Ausblicke auf literarische Raumkartierungen der Uckermark: auf Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016) und Saša Stanišičs VOR DEM FEST (2014) (5).8

6

Dies gilt insbesondere für (nicht nur an ländliche Bevölkerungsschichten adressierte) Lifestyle-Magazine im Printbereich wie LANDLUST, die auch Baumann (2018) in den Blick nimmt. Dokumentarische Fernsehreihen wie UNSER DORF HAT WOCHENENDE (MDR seit 2016) hingegen betonen vor allem das dörfliche Gemeinschaftsleben (vgl. Hißnauer 2020).

7

In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass es nicht nur »Eigenlogiken der Städte« gibt (Löw 22012: 65), sondern ebenso Eigenlogiken von Regionen und/oder Dörfern. »Eigenlogik erfasst« dabei »die verborgenen Strukturen der Städte [bzw. Regionen und/oder Dörfer; CH/CS] als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame präreflexive Prozesse der Sinnkonstitution (Doxa) und ihrer körperlich-kognitiven Einschreibung (Habitus).« (Ebd.: 76)

8

Die hier präsentierten Ergebnisse sollen erste Eindrücke des medialen Raums ›Uckermark‹ und seiner (Re-)Produktion vermitteln. Eine analytisch vertiefende und ergänzende

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D AS R AUM -Z WISCHENRAUM -M ODELL ALS M ODELL MEDIALER R AUMPRODUKTION

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ALLGEMEINES

Unser Entwurf eines allgemeinen Modells medialer Raumproduktion – das wir hier nur skizzieren können9 – kombiniert Vorstellungen Henri Lefebvres zur sozialen Raumproduktion (vgl. Lefebvre 1991, 82015; vgl. dazu Schmid 22010) mit einem semio-pragmatischen Ansatz medialer Sinnproduktion nach Roger Odin (1995a, 1995b, 2019; vgl. auch Hißnauer 2011). Es geht nicht darum zu klären, wie sich innerhalb eines Textes Raum konstituiert, sondern darum, wie Raum durch den Text (re-)produziert wird. Das Modell hat dabei die Funktion eine Rahmentheorie, die (perspektivisch) unterschiedliche Forschungsfragen, -ansätze und -methoden integriert, vor allem aber ist es intermedial ausgerichtet. Raum lässt sich in Anlehnung an Lefebvre als gesellschaftliche Wirklichkeit – als soziale Praxis – operationalisieren. Dabei werden drei miteinander verzahnte Dimensionen der Raumproduktion unterschieden, die im Sinne einer dreifachen Dialektik in permanenter Wechselwirkung stehen (vgl. Lefebvre 82015: 333, 335ff.; Schmid 22010: 210-226; Rössel 2014: 35ff.): •

• •

Die materielle Produktion erzeugt räumliche Praxis und somit wahrgenommene Räume. Gemeint sind hier vor allem (auch) Objekte, Strukturen und Netzwerke. Die Wissensproduktion schafft Repräsentationen von Räumen und somit konzipierte Räume. Als Beispiel nennt Lefebvre Karten. Die Bedeutungsproduktion erzeugt Räume der Repräsentation und damit gelebte bzw. erlebte Räume. Diese spiegeln sich im Alltagsleben wider, repräsentieren aber vor allem Werte, Traditionen, Träume, Erlebnisse sowie Erfahrungen und sind deshalb den Bereichen des Imaginären und Symbolischen zuzuordnen.

Auf diese Weise wird ein ständig wandelbarer sozialer Raum erzeugt, der weder unabhängig von Zeit und Gesellschaft(sformen) zu denken ist noch von seiner medialen Repräsentation bzw. (Re)Produktion. Odin zufolge findet Sinnproduktion dabei in zwei getrennten Sphären statt: erstens auf der Ebene der Realisation, zweitens auf der Ebene der Rezeption bzw. Lektüre (vgl. Odin 1995a, 1995b; siehe auch Hißnauer 2011). Die Semio-Pragmatik fragt danach, wie es Medien gelingt, ähnliche Prozesse der Sinnproduktion in Realisation und Rezeption zu aktivieren.

Darstellung bietet unsere Monographie PROVINZ ERZÄHLEN. WIE DIE UCKERMARK ZU EINEM RAUM DES GUTEN LEBENS WIRD

9

(Hißnauer/Stockinger 2021).

Ausführlich hergeleitet und erläutert in Hißnauer/Stockinger (2021).

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Dabei spielen Kommunikationsräume (Odin 2019) eine große Rolle. Nach Odin entsteht ein Kommunikationsraum im Zusammenspiel aller an der Kommunikation beteiligten Akteure – die Odin »Aktanten« nennt und in Sender (»E«, bezogen auf frz. émetteur) und Empfänger (»R«, wie Rezipient) unterscheidet10 –, indem diese auf der Grundlage derselben ›Relevanz‹-Kriterien »Bedeutung […] produzieren« (Odin 2019: 63f.). Odin spricht deshalb auch von einem »Raum von Beziehungen« (ebd.: 130). Dabei umschließt ein solcher Kommunikationsraum verschiedene (Teil-)Räume. Neben dem Raum der Realisation (der die konkrete Sendung betrifft) und dem Raum der Rezeption (der den Akt der Lektüre umfasst; vgl. ebd.: 56) lässt sich u.E. ein dritter Raum annehmen, den wir Raum der Rahmung (Bedingungsgefüge) nennen. Dieser Raum ist in einem weiten Sinne als kommunikativer Kontext beschreibbar11 und kann dergestalt ggf. institutionelle, rechtliche, technische, medien-, genre-, programm- und/oder formatspezifische etc. Aspekte umfassen. Da für Odin die Einführung des Begriffs ›Kommunikationsraum‹ den Versuch darstellt, »den Kontext zu ›modellieren‹« (ebd.: 63), könnte man argumentieren, dass Kommunikationsraum und Raum der Rahmung deckungsgleich sind. Dagegen gehen wir davon aus, dass ein Kommunikationsraum in jenem voraussetzungsreichen Moment überhaupt erst Gestalt annimmt, in dem tatsächlich in Realisation und Rezeption die gleichen Modi der Sinnproduktion aktiviert werden (vgl. Odin 1995a: 227). Der Begriff Raum der Rahmung bietet deshalb die Möglichkeit, Kommunikationszusammenhänge auch außerhalb eines bestimmten Kommunikationsraums zu erfassen. Räume der Realisation, der Rezeption und der Rahmung können Kommunikation demnach auch ohne einen ›verwirklichten‹ Kommunikationsraum, der seiner Definition nach ›gelungene‹ Kommunikation impliziert, steuern. Ähnlich wie in Lefebvres Raum-Modell stehen diese Kommunikations(teil)räume in einer Wechselbeziehung zueinander (sie greifen regelrecht ineinander). Allerdings sind sie den Lefebvreschen Räumen nicht analog zu denken, weil Lefebvres Modell (eher) empirische Dimensionen der Raumproduktion verhandelt, Odin dagegen (eher) theoretisch konstruierte und begründete Räume der Textproduktion. Kommunikationsverträge aktivieren bzw. programmieren auf der Basis von (para-)textuellen Lektüreanweisungen sog. Lektüremodi, die »funktionale Ensembles« (Odin 2019: 72) von »Prozesse[n] der Sinnproduktion« darstellen, durch die Kommunikation gesteuert wird. Im Regelfall – wobei die mögliche Abweichung

10 Odin (2019: 44; Herv. i. Orig.) begreift Sender und Rezipient als theoretische Konstrukte, als Aktanten, genauer »als Schnittpunkte des Zusammenlaufens eines Bündels von Bedingungen, die sie kreuzen und konstruieren«. 11 Odin (2019: 49) begreift unter Kontext – recht vage und allgemein – »ein Bündel von Bedingungen […], auf das sich das Funktionieren (oder Nicht-Funktionieren) von Kommunikation stützt«.

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immer mitgedacht ist – werden so in Realisation und Rezeption die gleichen (oder hinreichend ähnliche) Modi aktiviert. Deshalb lesen wir einen Roman als Roman oder einen Liebesfilm als Liebesfilm. Die Vorstellung eines zwischen Realisation und Rezeption vermittelnden Pakts impliziert dabei eine Reziprozität des Wissens und eine – zumindest indirekte – Interaktivität von Realisation und Rezeption (als sozialer, nicht individueller Aushandlungsprozess, durch den auch Rahmungen – z.B. Genrekonventionen – flexibel werden; vgl. dazu Hißnauer 2011). Der Kommunikationsvertrag lässt sich also als überindividuell ausgehandelte Übereinkunft verstehen, wie (nach welchen Mustern) einem Text in einem gegebenen soziokulturellen Rahmen in der Regel Sinn zugeschrieben wird und welche (para-)textuellen Markierungen Hinweise darauf geben. Geht man mit Odin davon aus, dass die Sinnproduktion in zwei getrennten Sphären stattfindet (in der Realisation und in der Rezeption bzw. Lektüre), so könnte man meinen, dass – bezogen auf die Raumtheorie Lefebvres – die Realisation medialer Texte Teil der Bedeutungsproduktion sozialer Räume ist, während die Rezeption, also die Lektüre, Teil der Wissensproduktion ist, da sie kognitive Repräsentationen bzw. Wissen um Räume erzeugt. Dies ist aber zu einfach gedacht. Die mediale Raumproduktion spielt sich u.E. vielmehr in den Zwischenräumen des Lefebvreschen Modells ab. So wie der konkrete Medientext dabei zwischen der Bedeutungs- und der Wissensproduktion vermittelt, vermittelt die Textlektüre zwischen der Wissensproduktion und der materiellen Produktion.12 Räumliche und (medien-)institutionelle Bedingungen schließlich vermitteln zwischen der materiellen Produktion und der Bedeutungsproduktion. Der konkrete mediale Text ist dabei als Bedeutungsproduktion ›zweiter Ordnung‹ zu verstehen, da er die zirkulierenden und latenten Bedeutungen und Rauminszenierungen seinerseits (symbolisch) verdichtet und so Bedeutung von Bedeutungen erzeugt. Diese erlebbaren Räume ›zweiter Ordnung‹ erscheinen dem Rezipienten in der Regel als Raumkonzeptionen ›erster Ordnung‹, als etwas, das – vermeintlich – unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung existiert. In der Aneignung des medialen Textes entsteht kognitiv eine subjektive Vorstellung des Raums. Dieses Vorstellungsbild leitet die Wahrnehmung des Raums ebenso wie das Handeln im Raum und damit die materielle Produktion, so dass der wahrgenommene Raum – aufgrund sowohl konservativer als auch innovativer Aspekte in Realisation und Rezeption – (re)produziert wird. Wie verhält sich nun aber das gute Leben zu diesem Modell? Wie auch Rössel (2014: 70-72, 76-79) orientieren wir uns hier an den in den Texten dominierenden wunsch- und zieltheoretischen Vorstellungen des guten Lebens und der Idee einer

12 Wir orientieren uns hier an der von Schmidt eingeführten Begrifflichkeit, da sie die Prozesshaftigkeit der Raumproduktion stärker betont (vgl. Schmidt 22010: 208).

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reflexiven Selbstverwirklichung. Wir unterscheiden – wieder in Anlehnung an Lefebvre – zwischen einem Möglichkeitsraum (Bedeutungsproduktion), der Lebenskonzeption (Wissensproduktion) und der Lebensgestaltung (materielle Produktion). Wünsche sind sozial überformt. Wie Werte und Beurteilungsmaßstäbe sind sie daher dem kollektiven Möglichkeitsraum zugeordnet. Wenn man so möchte, findet sich hier die Summe aller in einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt denkbaren – guten – Lebensentwürfe. Auch mittels medialer Leitbilder bilden sich daraus konkrete Lebenskonzeptionen als Zielvorstellungen eines individuell guten Lebens, die sich in der Lebensgestaltung im konkreten Handeln manifestieren und Orte des guten Lebens (re)produzieren. Abbildung 1: Allgemeines Modell medialer Raumproduktion

Eigene Darstellung

D IE P RODUKTION

DER

U CKERMARK IM D OKUMENTARFILM

In UCKERMARK, einem Dokumentarfilm von Volker Koepp (2001/02), trägt der Ort zur Raumerzeugung etwa über seine spezifische Landschaft bei, die über ausführliche und musikalisch unterlegte Panoramafahrten veranschaulicht wird; über raumprägende und den Raum produktiv nutzende Maßnahmen der ›Arbeitsbeschaffung‹ (als einer räumlichen Praxis); oder über dessen ganz eigene Geschichte. Interessant ist, dass in UCKERMARK die aus Berlin Zugezogenen um die Jahrtausendwende noch keine Rolle spielen. Stattdessen fokussiert der Film zum einen auf die Gruppe der alteingesessenen Bewohner/innen: auf arbeitslose Frauen der Nachwendezeit etwa, die ein positives Bild der untergegangenen DDR zeichnen; auf einen der

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wichtigsten Kulturschaffenden der DDR, Fritz Marquard, der in seiner Studienzeit die Landbevölkerung der Uckermark agitierte und in den 1990er Jahren erlebte, wie sich der enteignete Adel tatkräftig am Wiederaufbau beteiligte; oder auf die in der DDR enteigneten Bauern. Zum anderen konzentriert sich der Film auf eine spezifische Gruppe von Rückkehrenden, auf den uckermärkischen Land-Adel nämlich, der in den Nachkriegsjahren vertrieben wurde und die Wiedervereinigung als Chance dafür sah, an alte Familientraditionen anzuknüpfen, um dadurch zugleich am ›Aufbau Ost‹ mitzuwirken, und in seinen Gute-Leben-Konzepten – der eigenen Selbstbeschreibung nach – mithin Individualinteresse und Allgemeinwohl zu vereinen suchte. Die junge Saskia Hahn von Burgsdorff z.B. ist mit ihrem Mann in die Uckermark gezogen, um sich, wie sie sagt, der überkommenen familiären »Verantwortung« zu stellen, um es dort »wieder schön zu machen, voranzubringen«. Hilfreich ist dafür sicherlich, dass sie »das Land herrlich« findet: »[I]ch kannte es vorher gar nicht, und es ist wunderwunderschön«.13 Am Beispiel dieser beiden Akteursgruppen spielt Koepps UCKERMARKUckermark die Nachwende-Situation in den Vordergrund und konserviert so eine historische Gemengelage zwischen unmittelbarer Nachkriegszeit, DDR-Vergangenheit und einer Zukunft, die eher von Rückkehrern (und damit von außen), unter BRD-Bedingungen, bestimmt wird. In einer Erzählweise des Zeigens, Beobachtens und Zu-Wort-Kommen-Lassens werden Informationen wertfrei eingeholt. Im Verlauf des Films setzt sich so ein immer genaueres (aber niemals endgültiges) Bild einzelner Positionen und Personen zusammen. ›Objektiv‹ ist diese Darstellung dennoch nicht. Sie beruht auf der Auswahl ganz bestimmter Zeitzeugen, einer Auswahl, die auf das erkenntnisleitende Programm des Films verweist. Anscheinend verschafft Koepp Stimmen Gehör, die den besonderen Blickwinkel auf die Uckermark als einer ›historisch gewordenen und sich verändernden Kulturlandschaft‹ konturieren – wobei unterschiedliche Bedeutungsproduktionen deutlich werden.

13 Vgl. Saskia Hahn von Burgsdorff, geb. Knigge: »und ich finde es wunderschön, hier zu sein, ich finde das Land herrlich, ich kannte es vorher gar nicht, und es ist wunderwunderschön« (Koepp: UCKERMARK, 01:36:35-01:36:42), »dass es wie anderswo ein schönes Leben sein kann hier, man kann sich das immer schön gestalten« (01:36:46-01:36:51), »weil er [gemeint ist ihr Mann; CH/CS] die Verantwortung, die seine Eltern übernommen haben, indem man hierhergeht und etwas versucht, aufzubauen, sehr sehr groß ist und sie dabei unterstützen möchte, natürlich, und auch, dass es ein Betrieb ist, der natürlich mit Wurzeln behaftet ist, die in seiner Familie auch liegen, also, er anerkennt sozusagen seine Geschichte, die darin liegt, und möchte sie fortführen und versucht, die Kraft aufzubringen, die auch seine Eltern schon hatten, um es weiterzuführen, um es wieder schön zu machen, voranzubringen« (01:37:04-01:37:40).

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Indem der Film dabei auf zwei Handlungsträger der Uckermark-Erzeugung fokussiert, Alteingesessene und Rückkehrende aus der Gruppe der Heimatvertriebenen nach 1945 (Rückkehrende 1), spart er weitere aus: Zugezogene nach der Wende sowie Rückkehrende aus der Gruppe derjenigen, die nach 1989 die Uckermark verlassen haben (Rückkehrende 2) – eine Blickverengung, die es erlaubt, stark zu kontrastieren: Von den Alteingesessenen entsteht ein negatives Bild. Sie werden als Opfer der historischen Entwicklungen gezeigt oder stellen sich selbst so dar. Ein positives Bild zeichnet der Film dagegen von den (adligen) Rückkehrenden, die für Aufbruch und Neuanfang stehen, indem sie sich ganz dem Wiederaufbau und der Transformation der Uckermark in eine »blühende Landschaft« zu verschreiben scheinen. Daneben dominiert die Darstellung ein weiterer Akteur der UckermarkErzeugung: der Landschaftsraum, der nicht nur als Hintergrundkulisse zu den Interviews aufscheint, sondern in epischen Zwischenstücken eine eigenständige Rolle erhält. Landschafts- und Interview-Passagen wechseln einerseits einander ab. Andererseits bleibt die Landschaft atmosphärisch in den Interviews stets präsent (via Windrauschen, Hahnkrähen, Vogelgezwitscher etc.). Auf diese Weise folgen die Landschaftsszenen einer Eigenlogik: Sie bilden die Tageszeiten nach, nehmen also den Tagesablauf landschaftlich in den Blick; und sie vollziehen den Jahreslauf nach, indem alle Jahreszeiten zu ihrem Recht kommen. In den Raum bzw. in dessen Produktion ist die Zeit somit untrennbar eingeschrieben und wird als zentraler Bestandteil der Raumproduktion zugleich mit ausgestellt. Darüber hinaus gibt dieses Verfahren den Raum als einen eigenständigen Akteur zu erkennen, einen Raum, der gleichsam als sein eigener Souverän agiert bzw. als solcher objektiviert wird – und zwar unabhängig von den individuellen Raumproduktionen der interviewten Personen. Deren Positionen bestätigt oder subvertiert er entweder oder verhält sich dazu völlig indifferent. Zugespitzt formuliert bündelt dieses Verfahren die Botschaft des Films als eines konzipierten Raums: Die Uckermark ist ein Ort des guten Lebens. Die Gruppe der Alteingesessenen mag ›das gute Leben‹ verloren oder (noch) nicht erreicht haben; und die Gruppe der Rückkehrenden (1) mag dieses ›gute Leben‹ erst noch herbeizuführen versuchen. Während ›das gute Leben‹ im ersten Fall demnach lediglich Vergangenheit und im zweiten eine Zukunftsvision ist, tut der Film gerade so, als sei es in der Landschaft selbst bereits realisiert. In diesem Sinne also ist die Uckermark – ob bereits, ob immer noch oder ob seit jeher – ein Ort guten Lebens, mögen dessen Bewohner/innen dies nun selbst (schon) bemerken oder (noch) nicht. Ganz anders der Tenor 15 Jahre später: Volker Koepp führt im Dokumentarfilm LANDSTÜCK seine Uckermark-Erzählung zwar fort. Er bietet aber eine veränderte Sicht auf den Landstrich, indem er ihn als einen immer problematischer werdenden Lebensraum darstellt – eine »todtraurige Liebeserklärung an die Uckermark«, wie das NEUE DEUTSCHLAND bemerkt: »Es ist ein Film über verfehlte Politik geworden

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und darüber, warum es zu blühenden Landschaften in der Uckermark nun wohl nicht mehr kommen wird.« (Buck 2016: 15) Der Kapitalismus, so scheint es, zeigt seine hässliche Fratze: Bodenspekulationen lassen die Preise explodieren, die fortgesetzte Automatisierung bedroht massiv die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze und die zunehmende Monokulturalisierung in der Landwirtschaft führt zu Artensterben in Tier- und Pflanzenwelt. Der Film lässt demnach in Abgründe blicken. Zugleich aber zeigt er Lösungswege auf, die ebenfalls in der Landschaft selbst angelegt sind. In den Blick rücken damit jene Umweltschützer/innen, Ökolandwirt/innen und Nachhaltigkeitsaktivist/ innen, die in den Interviews zu Wort kommen. Einer dieser Ökobauern, RolfFriedrich Henke von Gut Temmen, erhebt etwa den Anspruch, »ein Stück Landschaft für die Menschheit gerettet« zu haben (00:39:47-00:39:49) und ist ganz erfüllt von der »Genugtuung«, »dass man das Richtige tut« (00:54:22-00:54:32). Vorgelegt wird ihm diese Selbstbeschreibung durch die Off-Stimme von Interviewer Koepp, der jetzt sehr viel stärker eingreift als in der Vorgängerdokumentation UCKERMARK. Der Film handelt von den je unterschiedlichen Kämpfen einzelner um das ›gute Leben‹ in der Uckermark und zeigt diese Kämpfe zugleich in Ausschnitten bzw. bringt sie in O-Tönen zu Gehör. Gerade die ›Gute-Leben‹-Perspektive der Zugezogenen, derjenigen, die »gekommen« sind, »um zu bleiben« (Rössel 2014: 12), erhält breiten Raum; ihre Ziele haben mehrheitlich die sozialethischen Interessen aller im Blick, und sie setzen sich mit ihrer ganzen Existenz dafür ein (vgl. ebd.: 97231). Der Erzähler bringt sich mittels Voice-Over-Kommentaren und Homodiegese als Person und Position dezidiert ins Spiel. Dieses spezifische von der Erzählerstimme dominierte Verfahren stellt implizit zum einen die Machart des Films selbst aus. Die flächigen, panoramatisch angelegten Landschaftsbilder orientieren sich an Vorlagen des romantischen Malers Caspar David Friedrich; sie wirken beinahe unbeweglich, wenn nicht gelegentlich zart im Wind schwankende Gräser, kaum merklich vorüberziehende Wolken oder Hintergrundgeräusche (wie blökende Schafe, zwitschernde Vögel oder zirpende Grillen) den Bildern eine gewisse Lebendigkeit verliehen. Tatsächlich sieht die hier inszenierte Natur als Kulturlandschaft nicht selten »wie gemalt« aus.14 Zum anderen gibt der Film explizite Handreichungen, wie er zu verstehen sei: »Landschaftsbild ist immer auch Weltbild« (00:15:4700:15:49), lautet ein früh eingefügter Erzählerkommentar, der nicht nur als Motto oder Inscriptio dem gesamten Film überschrieben sein könnte, sondern diesen zugleich raumtheoretisch positioniert.

14 Die Landschaftsaufnahmen der Uckermark in Lola Randls Dokumentarfilm VON BIENEN UND BLUMEN

(2018) wirken wie ein Koepp-Zitat.

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Darüber hinaus erscheinen Landschaftspanoramen und Interviewpassagen zum einen sehr viel stärker aufeinander bezogen als in UCKERMARK; die gezeigte Landschaft geht dem Interview voraus, dessen Bestandteil sie nicht selten ist. Zum anderen stehen gezeigtes Idyll und Interview (oder zwei aneinander gereihte Interviews) regelmäßig in deutlichem Kontrast zueinander: Einer Szene, in der die Themen ›Biodiversitätsverlust‹ und ›Globalisierungskritik‹ im Mittelpunkt stehen, folgen in der nächsten Szene Aussagen wie »der schönste Blick, den ich kenne, in der Uckermark« oder »die größte Freiheit, die man sich vorstellen kann«. Gezeigt werden ein lauer friedlicher Sommerabend, ein herrlicher Sonnenuntergang, ein üppiger Sternenhimmel – all dies also, »was man in der Stadt nicht mehr sieht« (01:16:20-01:23:43 sowie ab 01:23:44).

Fazit: Der Film gibt die Möglichkeit, ganz unterschiedlich, auch widersprüchlich, auf ihn zu reagieren: Von ›Das wollt Ihr zerstören?‹ über ›Das dürft Ihr nicht zulassen!‹ bis zu ›Das scheint doch alles [noch gar] nicht so schlimm zu sein‹ ist in seinen Uckermark-Bildern alles gleichermaßen enthalten. Ob die oben skizzierte Aussage von UCKERMARK, der Landstrich sei ein Ort guten Lebens, in LANDSTÜCK widerlegt wird, wäre zu diskutieren. Relativiert und neu perspektiviert wird diese Position darin auf jeden Fall, zumal im Film konfligierende Raumproduktionen aufeinandertreffen.

D IE U CKERMARK

FERNGESEHEN

»Gut zu leben heißt, in Spielräumen zu leben«, so Georg Lohmann (2007: 37). Als Motto könnte dies auch die Fernsehdokumentation BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (2012) von André Meier und Anja Baum überschreiben. Die Autoren inszenieren den Landstrich als Raum der Möglichkeiten – und das in einer spezifischen, rurbanen Variante. Geht man nämlich mit Lohmann davon aus, dass der »paradigmatische[ ] Ort« (Lohmann 2007: 48) einer experimentellen Selbstverwirklichung die Großstadt ist, da hier »viele Weisen eines guten Lebens offenstehen«, so insinuiert BILDERBUCH: DIE UCKERMARK, dass gerade die Provinz ein Ort des »Mit-sichExperimentieren[s]« (ebd.: 44) und daher ein besonders geeigneter Ort des guten Lebens sei. Hier gebe es die Freiheit, sich zu entwickeln und auszuprobieren. Oder, wie es in BILDERBUCH: DIE UCKERMARK heißt: Hier finde man »jede Menge Platz, seine Träume auch zu leben« (00:00:15-00:00:18).15 Dass dies zugleich ein Zwang zur Freiheit, zum Experiment ist, wird lediglich in Nebensätzen angedeutet und

15 Dergestalt erscheint die Uckermark als idealer – oder vielmehr idealisierter – Ort der medial wie wissenschaftlich oftmals gehypten ›Raumpioniere‹ (vgl. z.B. Faber/Oswalt 2013).

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nicht näher ausgeführt. In der filmischen Rhetorik ist der Möglichkeitsraum eines guten Lebens demnach schon auf ein bestimmtes Lebenskonzept (nämlich das Ziel der experimentellen Selbstverwirklichung) verengt, dessen erfolgreiche Umsetzung an Beispielen konkreter Lebensgestaltung präsentiert wird. Im Bild sieht man allerdings nicht nur die (kanonische) Weite der Landschaft, sondern zudem eine den Raum durchschneidende Autobahn, mittels derer man die Region ja auch schnell wieder hinter sich lassen kann. Erkennbar ist hier bereits eine subtile Ironisierung als Verfahren des Films (s.u.). Insgesamt bündelt eine additive Dramaturgie verschiedene Erzählungen individuell guten Lebens und deutet damit an, dass aus der Summe des subjektiven Glücksversprechens ein gutes Leben für alle entsteht. Gerade die geringe Bevölkerungsdichte wird als Grund für die guten Möglichkeiten und die offenen Freiräume erwähnt – dass damit ggf. nicht nur Kaufkraft oder Kaufinteresse fehlen, sondern es auch zu ganz grundsätzlichen Problemen der Daseinsvorsoge kommen kann und in zunehmendem Maße tatsächlich kommt, ist eine Seite, die kaum thematisiert wird.16 Vielmehr wird betont, dass man in der Regel der erste und einzige mit einer bestimmten Idee sei und so nicht in der anonymen Masse der Großstadt und deren kreativem Überschusspotential untergehe (00:30:23-00:31:03): Überschaubarkeit als Standortfaktor. Dabei wird die Uckermark – obwohl immer wieder auch mit Archivaufnahmen auf die Geschichte verwiesen wird – nicht als besonders traditionsbewusst inszeniert: Cowboys, Whiskey, Alphörner und Stracke stehen hier u.a. für das ökonomische, touristische und kulturelle Potential der Region, das jedoch oftmals von außen in sie hereingetragen wird. Das BILDERBUCH ist auf den ersten Blick eher affirmativ. Über kritische oder negative Aspekte wird mit schnellen Schnitten und einer auf Abwechslung zielenden Dramaturgie ›hinweggehuscht‹; bspw. wenn es um prekäre Arbeitsverhältnisse geht und im Minijob die Zukunft der Uckermark prognostiziert wird. Eine dezidierte Haltung hat die rbb-Produktion, so scheint es zunächst, nicht. In einer Sequenz sehen wir die Berliner Underground-Musikerin Gudrun Gut, die in der Uckermark eine »Teilzeitheimat« gefunden hat – in einem ›aufwändig sanierten Feriendomizil‹, um das sich eine »Teilzeithausangestellte« kümmert, wie es im Kommentar heißt (00:24:45-00:26:58). Obwohl Frau Kirchhof, so der Name dieser Teilzeitkraft, ihrem Wunsch nach einer guten, vernünftigen Anstellung Ausdruck verleihen kann, heißt es im Voice Over: »Tja, so könnte sie aussehen, die Zukunft der Uckermark. Die Dörfler als fleißige Dienstleister, der betuchte Berliner als Minijob-Lieferant.« (00:28:06-00:28:14) Der Kommentar enthält sich hier einer negativen Wertung

16 Dies gilt nicht nur für BILDERBUCH: DIE UCKERMARK, sondern ist auch als allgemeiner Trend des Provinzerzählens im Fernsehdokumentarismus zu beobachten (vgl. Hißnauer 2018/2020).

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(wenngleich Frau Kirchhofs Wunsch eine solche nahelegen würde). Die bewusst inszenierte Gestaltung durch die Montage kann allerdings als subtile Kritik verstanden werden: Die Großstädterin schaut im Müßiggang schaukelnd der Haushälterin bei der Arbeit zu.17 Die Andeutung, dass die Selbstverwirklichungs-Erzählung durchaus zu hinterfragen sei, findet man auch an anderer Stelle; so z.B. wenn der Kommentar mit ironisierendem Unterton betont, dass die vermutlich nur saisonal Beschäftigten der Cowboy-Stadt ›fleißig Punkte für’s Rentenkonto sammeln‹ und ›pünktlich Feierabend haben‹ (00:12:27-00:12:34). Hierbei ist auch die Intention des rbb relevant, die von den Autor/innen mit ironischen Brechungen subtil unterlaufen wird. In der Realisation wurde also gezielt mit der Rahmung der Produktion ›gespielt‹, indem Formatvorgaben offensichtlich erfüllt, aber ironisch gebrochen werden. Zwar beschreibt der rbb auf seiner Homepage zum BILDERBUCH die zweifache Raumproduktion der Uckermark wie folgt: »Für den gestressten Hauptstädter [...] ist die Uckermark die ›Toskana des Nordens‹, eine Sehnsuchtslandschaft zum Träumen und Nichtstun. Mit der Kehrseite dieser Idylle müssen die Einheimischen klarkommen. Die Arbeitslosigkeit in der Uckermark ist mehr als doppelt so groß wie im Bundesdurchschnitt. Die Bevölkerung schrumpft in atemberaubendem Tempo. Überleben kann die Uckermark nur als Urlaubs- und Wellnessoase.«18

Doch BILDERBUCH: DIE UCKERMARK zeigt vor allem das Überleben und will Lust auf die Region machen. Die auf der Homepage angesprochenen Kehrseiten werden kaum erwähnt. BILDERBUCH: DIE UCKERMARK ist in erster Linie eine Art ›televisueller Reiseprospekt‹19 voller Hochglanzaufnahmen, in dem alles bunt, schön und lebendig erscheint – eine Dokumentation, die gefällig ›verfeaturet‹. Die Uckermark wird als ein Ort des guten Lebens erzählt, an dem man sich frei entfalten kann. Selbst ein Scheitern bedeutet dort immer nur einen kurzfristigen Rückschlag – und ist offenbar nicht existenzbedrohend. Die Landschaft wirkt dabei nicht im gleichen Maße als Akteur wie es bei Koepp der Fall ist, wenngleich ihre Weite und Schönheit und ihre landwirtschaftliche sowie touristische Funktion immer wieder ausgestellt werden (oft aber nur in Schnittbildern oder als Hintergrund für den dominanten Voice-Over-Kommentar).

17 Dabei handelt es sich um einen Effekt der Montage, denn Gudrun Gut und Frau Kirchhof sind hier nie zusammen im Bild zu sehen. Erst durch den Schnitt entsteht der beschriebene Eindruck, obwohl sich eine solche Szene bei den Dreharbeiten – vielleicht – nie zugetragen hat. 18 https://www.rbb-online.de/doku/bilderbuch/bilderbuch-uckermark.html (11.10.2018). 19 Siehe zu diesem Aspekt im aktuellen Fernsehdokumentarismus auch Hißnauer (2018).

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Vielmehr stehen hier die ›Macher/innen‹, die ›Menschen‹ also, im Vordergrund – insbesondere die Zugezogenen sowie die Rückkehrenden (1) und (2). Wenn dann am Ende der Dokumentation ›die Jugend‹ in geselliger Festlaune auftaucht, wird klar, dass gerade sie eine Adressatin dieses BILDERBUCHS ist. Ihr soll das BILDERBUCH Gründe geben zu bleiben. Keinesfalls als ein Ort des guten Lebens hingegen wird die Uckermark im POLIZEIRUF: MUTTERTAG (2017) in Szene gesetzt – zumindest nicht auf den ersten Blick. Gerade im Vergleich zu BILDERBUCH: DIE UCKERMARK zeichnet der ebenfalls vom rbb produzierte POLIZEIRUF 110 am Beispiel eines kleinen, fiktiven Orts mit dem sprechenden Namen Wüsterow ein völlig anderes Bild der Brandenburgischen Provinz: Von einem gelungenen Strukturwandel, von kreativem Potential, von naturnahem Idyll oder einer boomenden Tourismusregion ist hier nicht viel zu sehen. Auch wenn solche Bilder immer wieder aufgerufen und anzitiert werden, sind sie doch stets gebrochen: Man arbeitet in prekären Verhältnissen als Reinigungskraft oder zu schlechten Löhnen in Polen; Kreativität zeigt sich in den Schnitzereien einer Treppenverzierung; das wiedereröffnete Gasthaus lebt den Charme der 1990er Jahre; das Dorf wirkt weniger pittoresk als heruntergekommen; die Kirche ist nur noch eine Landmarke, eine religiöse Gemeinde scheint nicht (mehr) zu existieren; selbst die Landschaft wirkt oft eher karg als idyllisch. Der einzige Ort des sozialen Lebens ist das wiedereröffnete Gasthaus Melli’s Oase. Hier kehren Gäste ein, hier gibt es wieder einen Stammtisch. Die Wirtin Melanie Opitz steht in der filmischen Narration, die damit zugleich einen klassischen Topos des literarischen Genres der Dorfgeschichte aufnimmt und fortschreibt, für das ›bessere Dorf‹, für »ein positives Gegengewicht zu den Modernisierungsüberforderungen« (Stockinger 2018: 58). Dergestalt ist sie eine »Vorbildfigur[ ] in Vermittlerfunktion« (ebd.). Allerdings: Das Gasthaus stellt nur eine ›Oase‹ dar (siehe sein Name), umgeben von Wüste-row. Dieser ›Oase‹ gegenüber positioniert wird die Figur des weiblichen Opfers, Sabrina Uhl. Sie ist aus unbekannten Gründen erst vor kurzem aus Berlin zurückgekehrt. Ihr (vermeintlich) ›urbanerer‹ Lebensstil wird ihr nun zum Verhängnis: Sie muss sterben, weil sie mit einem verheirateten Polen eine Affäre eingegangen war. Der Möglichkeitsraum Uckermark, der in BILDERBUCH: DIE UCKERMARK besonders hervorgehoben wird, bleibt in der POLIZEIRUF-Folge ein mehr oder weniger leeres Versprechen. Selbst das Wochenendhaus gut gestellter Berliner wirkt heruntergekommen – die Bewohner sind nur selten da und haben offensichtlich das Interesse an einem Leben auf dem tristen Land verloren. Einen ›Aufschwung‹ bringen sie dem Dorf jedenfalls nicht – nicht einmal einen einzigen 400 €-Job. So verwundert es auch nicht, dass sich selbst ein Billig-Discounter – die Pfennig World – in der angrenzenden Kleinstadt nicht halten kann. Den Niedergang zeigt sinnbildlich eine der letzten Einstellungen des Films: Ein einzelner Arbeiter reißt den gesamten Gebäudekomplex mit einer Axt ab (01:26:58-01:27:02).

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Regisseur Eoin Moore erzählt seinen POLIZEIRUF gezielt gegen das Gentrifizierungs-Klischee.20 Der Film wirkt daher in gewisser Weise unzeitgemäß. Zwar wird – wie erwähnt – eine Vielzahl von Aspekten aufgegriffen und erwähnt, die das Uckermark-Narrativ der letzten 15 Jahre ausmachten, doch nicht nur die Kostüme und das Set-Design (Mobiliar, Autos) verweisen permanent auf die 1990er Jahre. Auch die im POLIZEIRUF gezeigte Trost- und Perspektivlosigkeit nimmt die Darstellung der Uckermark-Erzählungen als Teil der Bedeutungsproduktion der PostWende-Zeit auf, wie diese bspw. in einigen zeitgenössischen LANDSCHLEICHERClips des rbb aufscheint. Fokussiert wird darin nicht der Aufbau ›blühender Landschaften‹, sondern deren Niedergang. Jene Kehrseite, die die rbb-Dokumentation BILDERBUCH: DIE UCKERMARK (wenn überhaupt) nur andeutungsweise zeigt, ist hier nicht nur präsent; für die Uckermark-Erzählung im POLIZEIRUF: MUTTERTAG, der damit den Wandel der medialen Uckermark-Produktion reflektiert, ist sie geradezu prägend: »[A]n dieser Uckermark scheint die Zeit vorbeigegangen zu sein« (Buß 2017). Und dennoch: Gleich zu Beginn des Films sehen wir eine zufrieden, wenn nicht gar glücklich wirkende Heide Schoppe, als Reinigungskraft arbeitend, zugleich die Mutter des Täters Enrico (wie sich herausstellen wird). »Aber egal, was noch kommt«, trällert Enricos Mutter lauthals den Text eines Schlagers mit – fast tanzend, während sie im Autohaus putzt, umgeben von Fahrzeugen, die sie sich niemals wird leisten können (00:00:20-00:01:00). In dieser Sequenz schwingt zum einen eine genrebedingte düstere Vorausahnung mit, zum anderen ein gewisser Trotz: Trotz allem, was wir in diesem Krimi von der Uckermark noch sehen werden, kann die Region ein Ort des guten Lebens sein. Es kommt demnach v.a. auf eines dabei an – die Haltung des Einzelnen. Implizit verweist das Krimidrama so darauf, dass die im Kontext des guten Lebens reflektierte Selbstverwirklichung auch bedeutet, die eigenen Wünsche und Ziele dem Möglichen und Machbaren anzupassen, gerade wenn man bspw. einen Ort nicht nach den persönlichen Bedürfnissen verändern oder ihn verlassen kann (wie dies bei Heide Schoppe und Melanie Opitz der Fall ist). Auch wenn der Ort als Raum des guten Lebens nicht in Frage gestellt, durch einen anderen Ort ersetzt oder als ein anderer Raum produziert wird, kann das uckermärkische Wüsterow dennoch (wieder) zu einem Ort des guten Lebens werden.

20 »Ich wollte für meine Geschichte kein hübsches, saniertes Örtchen.« (Zit. in Starke 2017)

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W ERBENDES S ELBSTBILD : R AUMPRODUKTION IM R EGIONALMARKETING Wie Provinz erzählt wird, zeigt sich nicht nur in Film und Fernsehen, sondern auch im Regionalmarketing. Regionalmarketing lässt sich im Sinne unseres Modells als ein programmatischer Versuch begreifen, über gezielte Bedeutungsproduktionen den wahrgenommenen Raum zu verändern. Gleichzeitig kann man am Beispiel des Tourismusmarketings der Uckermark sehen, wie sich verschiedene Raumproduktionen wechselseitig aufeinander beziehen. Anders gesagt: Es gibt im Fall der »Uckermark« eine Annäherung zwischen der Raumproduktion Zugezogener und der Selbstdarstellung der Uckermark als Raum des guten (Urlaubs-)Lebens. Die gentrifizierte Uckermark wird zunehmend zum (neuen) Selbstbild des Landkreises. Rössel (2014: 222) identifiziert sechs Kategorien, mit denen Zugezogene das gute Leben in der Uckermark beschreiben: Freiheit, Naturnähe, Zeit und Ruhe, Einfachheit, Kapitalismuskritik, Gemeinschaft. Gerade in den aktuellen Selbstbeschreibungen der Provinz, wie sie in Tourismusbroschüren aufscheint, werden diese Aspekte auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder betont. In älterem Werbematerial der letzten 10-15 Jahre spielen diese Aspekte – mit Ausnahme der Naturnähe – eine deutlich geringere Rolle. Dies zeigt sich insbesondere bei den Kategorien Einfachheit und Kapitalismuskritik. »… einfach schön«, »einfach erleben« oder »natürlich Uckermark – Ferien fürs Klima« sind mittlerweile die hervorgehobenen Claims des Regionalmarketings.21 Und auch das gastgewerbliche Angebot wird zunehmend hinsichtlich verschiedener Aspekte von Nachhaltigkeit (z.B. Regionalität, Anteil an Bioprodukten, Klimaneutralität) beworben.22

21 So die Titel einiger von der tmu Tourismus Marketing Uckermark GmbH 2017 herausgegebener Broschüren. 22 Vgl. tmu Tourismus Marketing Uckermark GmbH (2017): NATÜRLICH UCKERMARK. FERIEN FÜRS KLIMA, Prenzlau. – Die Broschüren der tmu sind natürlich dem gewünschten Image entsprechen klimaneutral gedruckt.

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Abbildung 2: Verdichtung der Werbebotschaft auf »… einfach schön«

Eigene Darstellung unter Verwendung der Broschüren des Uckermark-Regionalmarketings

Auffällig ist dabei, dass sich einzelne Aspekte und Bestandteile des Regionalmarketings gar nicht einmal so sehr verändern (z.B. findet sich schon auf dem Titel des URLAUBSKATALOGS 2005 der Slogan »Ferien in der Uckermark … einfach schön!«). Sie werden aber tendenziell anders gewichtet. So prägt der wie ein Logo wirkende Schriftzug »Natur | reich« noch das Werbematerial bis 2007. Ab 2008 wird hingegen offenkundig versucht, »Uckermark« als Marke aufzubauen, was sich auch in einem neuen Logo niederschlägt. Wird die Natur hier noch als ›Erholungsressource‹ beworben und als etwas vermarktet, das man erlebt (vulgo konsumiert), 23 so impliziert der Claim »Ferien fürs Klima« die eigene – aktive – Verantwortung für einen umweltschonenden, nachhaltigen Tourismus (wie man auch an der erwähnten Broschüre zum gastronomischen Angebot der Uckermark sieht). Naturnähe wird also zunehmend – zumindest implizit – mit (einer leichten Form) Kapitalismuskritik ›angereichert‹: Nachhaltigkeit statt ›Ausbeutung‹. Die Uckermark steht im Selbstbild für »Wege in die Ursprünglichkeit«, wie es im URLAUBSKATALOG 2012 heißt. Entsprechend wird auch der Claim »... einfach schön« zunehmend in den Vordergrund gerückt. Ist er zunächst nur ein Zusatz (siehe Abbildung 2), so dominiert er als Slogan den IMAGEKATALOG UCKERMARK 2017 (siehe Abbildung 3).

23 Im ERLEBNISKATALOG 2008 wir die Uckermark als »Land der tausend Möglichkeiten« apostrophiert.

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Abbildung 3: Imagekatalog Uckermark 2017

tmu Tourismus Marketing Uckermark GmbH

Die Uckermark präsentiert sich im Regionalmarketing als ein Raum, in dem man ein ›einfaches‹ und ›ursprüngliches‹ Leben – zumindest für die Zeit des Urlaubs – führen kann – wobei nicht näher bestimmt wird, was denn ›das Ursprüngliche‹ an einem Leben in der Uckermark sein soll; stellvertretend dafür stehen entsprechend naturnahe Aktivitäten und regionale Produkte sowie Möglichkeiten eines nachhaltigen Urlaubs bspw. ohne Auto. Auch das kulturelle Angebot der Region zwischen Kunst und Kunsthandwerk wird in einer eigenen Broschüre beworben. Die Uckermark inszeniert sich so als ein – vielfältig – kreativer Raum, der bei aller ›Naturverbundenheit‹ in der Lebensführung auch kulturelle und intellektuelle Ansprüche zu befriedigen vermag.

L ITERARISCHE R AUMPRODUKTIONEN Ob hingegen ›Gutes Leben‹ in Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016) möglich ist, lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Die Positionen dazu sind so vielfältig wie die Stimmen, aus denen sich der Roman zusammensetzt. Alle Gruppierungen, die uns bereits als Uckermark-Akteurinnen und -Akteure begegnet sind, spielen eine Rolle: Alteingesessene, Wendeverlierer/innen, ›Heuschrecken‹, Zugezogene, gescheiterte Stadtflüchtige, Dorfflüchtige, Stadt-Land-Pendler/innen. Dass das Dorf jedem/jeder Einzelnen als Projektionsfläche seiner/ihrer je eigenen Gute-Leben-Phantasien dient, steht nicht in Frage – der Roman fügt sich darin nahtlos in die fiktionalen (filmischen), faktualen (dokumentarischen wie werblichen) Uckermark- als Provinzerzählungen ein, die wir bislang beobachtet haben.

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Auffälligerweise fokussiert der Roman – wie dies ja überhaupt im ›UckermarkDiskurs, intermedial‹ der Fall ist – auf individuelle Glücks-Konfessionen. Dem individualistischen Wollen wird dabei von den Protagonisten alles untergeordnet, gerade auch ethische Bedenken: »Jeder Spinner auf der Welt geht seinen Interessen nach. Nur ich muss den Moral-TÜV bestehen, oder wie?« (Zeh 2016: 299) Auch Dorfgrande Gombrowski verfolgt eigennützige Interessen; er sieht darin aber ein probates Mittel, um das Glück der Allgemeinheit zu befördern. Social affections und selfish affections schließen sich dieser Moralphilosophie demnach gerade nicht aus (»Es gibt immer eine Lösung, die alle glücklich macht. […] Größtmögliche Zufriedenheit bringt den größtmöglichen Nutzen«; ebd.: 466). Sich ganz dem kollektiven »Glück« (ebd.: 20) verschreiben zu wollen behauptet Gerhard Fließ. Seine Frau Jule Fließ-Weiland dagegen hat gar keine »Idee von einer besseren Welt« (ebd.: 123). Sie steht für eine Position der Indifferenz. Wahlfreiheit als Wahlpflicht führt zur Überforderung des Einzelnen, und Jule reagiert einigermaßen hilflos darauf, indem sie permanent die »Rollen« wechselt bzw. ›probiert‹, ohne darüber zu einem konsistenten Selbstentwurf zu gelangen (ebd.) – um nur einige Beispiele zu nennen. In ihren Aussagen rufen die Bewohner/innen jene bis heute wirkmächtigen ›Dorf‹-Schemata auf, die durch die Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts »präfiguriert« (Nell/Weiland 2014: 23) sind. So gilt der Ort Unterleuten einem alteingesessenen Einwohner namens Kron als eine transparente Gesellschaft, genauer als »das reinste Panoptikum. Wenn sich Datenschützer […] wegen Überwachung im Internet ereiferten, musste Kron regelmäßig lachen. Man musste nur ein handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne Mensch tatsächlich war« (Zeh 2016: 211). Zugleich aber bleibt keine Aussage unwidersprochen. Die Figuren treten als Figuren auf. Sie produzieren Sentenzen über das Leben auf dem Land und im Dorf. Eine (implizite) Gegenposition zu Kron formuliert z.B. der Zugezogene Gerhard Fließ, wenn er feststellt, dass der »Dorffunk […] verblüffend […] schlecht […] funktionierte. Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war.« (Ebd.: 606f.) Er kommt der Wahrheit des Romans damit ziemlich nahe. Dessen Poetologie ist die Frage nach der intrinsischen »Logik« eines (hier vielstimmig erzählten) Dorfs eingeschrieben, die sich zugleich als eine Suche nach »Wahrheit« darstellt. Eine Figur, der oben bereits eingeführte Gombrowski, formuliert die bemerkenswerte Einsicht, »Wahrheit« sei »nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten« (ebd.: 408). Im Erzählen erzeugt, lässt sich Wahres gerade als Erzähltes nicht fassen.24 Eben dieses Paradox macht die »Logik« des

24 Vgl. Jule Fließ: »Das hier ist ein Dorf, Gerhard. Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen« (Zeh 2016: 365).

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Dorfs aus und damit auch die Frage nach der Erzählbarkeit der Uckermark, die, je nachdem, als Ort des ›guten Lebens‹ taugt – oder eben nicht. Wie in den Dokumentarfilmen und journalistischen Beiträgen spielen Erinnerungen und die Geschichte des Landstrichs eine konstitutive Rolle: nach dem Krieg die Bodenreform; die Einrichtung von LPGs; in der Nachwendezeit deren Abwicklung, die alte-neue Verlierer/innen produziert und Verletzungen provoziert, die bis in die Gegenwart fortdauern. Zugezogene werden deshalb für die Alteingesessenen zum Problem, weil sie nicht verstehen, »dass der Weltuntergang hier bereits stattgefunden hatte. Mehrmals«, wie Kron gegen Ende erkennt (ebd.: 613). Gerade dadurch aber könnte sich die »Ankunft von Menschen ohne Erinnerung« (also von Zugezogenen) für den Landstrich selbst zu einer zweiten Chance entwickeln. Die »Auslöschung« des Alten würde dann zur Voraussetzung für ein »neues Unterleuten« (ebd.: 613f.) – ähnlich wie die Eichsfelder Stracke in BILDERBUCH: DIE UCKERMARK in eine »Wurst von hier« (00:00:06f.) transformiert wird. Auf den Punkt gebracht: Der Roman bietet ein Anschauungsbeispiel dafür, wie bedeutungs- sowie wissensgenerierende und materielle Dimensionen bei der Raumproduktion ineinandergreifen, wie also die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte, Erinnerungen und Wünsche von Zugezogenen ebenso wie von Alteingesessenen (Bedeutungsproduktion) zu je eigenen Raum- und Lebenskonzeptionen (Wissensproduktion) und damit zu verschiedenen räumliche Praxen der Lebensgestaltung (materielle Produktion) führen. Die den Uckermark-Diskurs multimedial bestimmende Frage danach, ob die Region ein Ort des guten (schlechten) Lebens ist oder nur dazu gemacht wird, konturiert, motiviert und entschlüsselt Zehs UNTERLEUTEN und dessen Programm. Auf einen in der Herausgeberinnenfiktion des letzten Kapitels25 überlieferten Gedanken überprüft, ob »Unglück etwas mit Orten zu tun« habe (Zeh 2016: 634f.), bietet der Text ebenfalls keine eindimensionale Antwort. Wie in den faktualen Uckermark-Darstellungen (gerade bei Koepp) funktioniert aber auch hier ein Akteur zuverlässig: die Landschaft. Selbst ein Skeptiker wie Frederik Wachs kann sich ihrer Wirkung nicht entziehen: »Jetzt spürte er, wie ihm die Schönheit der Landschaft den Brustkorb dehnte. Der Kiefernwald stand in Reih und Glied; das Gelb der Stoppelfelder erstreckte sich bis zum Bahndamm, auf dem sich das weiß-rote Band eines ICE bewegte, von der Entfernung auf ein verträgliches Tempo verlangsamt. Der Sand des Wegs war sauber wie gesiebt; […] nicht einmal eine Fußspur berichtete von der Anwesenheit anderer Menschen. Über ihnen wölbte sich der Himmel kuppelförmig wie in einer literarischen Beschreibung. Vielleicht hatte Linda recht, dachte Frederik: Heimat wurde nicht aus Mietshäusern und Straßenbahnen, sondern aus Erde und Horizonten gemacht.« (Ebd.: 533)

25 »62. Finkbeiner. Epilog« (Zeh 2016: 626-635).

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Die Landschaft legt sich (vergleichbar der Nacht) »dem Dorf wie eine beruhigende Hand auf den Scheitel« (ebd.: 635). Von den aktuellen Aufregungen um den Strukturwandel des Ländlichen scheint sie sich nicht vereinnahmen zu lassen. Fast scheint es, als habe Saša Stanišič aus dieser – in unserem Beispiel anhand unterschiedlicher Dokumentarfilme, Werbeclips oder Fernsehdokumentationen je eigens vorgeführten und bei Zeh metaphorisch gewonnenen – Einsicht ein eigenes Gestaltungsprogramm abgeleitet. Dass auch sein Roman VOR DEM FEST (2014) in der Uckermark spielt, mag selbst schon Effekt der aktuellen UckermarkAushandlungen sein. Ansonsten aber möchte der Text mit diesen Diskursen selbst kaum etwas zu tun haben. Zwar kartographiert der Roman das Lokal scheinbar präzise und präsentiert sich sowohl räumlich als auch historisch als UckermarkErzeugnis, indem er etwa die Geschichte des Dorfs Fürstenfelde über dessen Chroniken bis ins 16. Jahrhundert stets mit aufruft. Die zeitgenössischen Debatten bleiben aber auffällig unmarkiert. Das als Erzähler auftretende Dorf hält der gängigen Rede über den aktuellen, mit Entvölkerung, Überalterung, Perspektivlosigkeit und Isolation einhergehenden Strukturwandel eine historisch begründete Zuversicht entgegen: Es habe schon Schlimmeres überlebt als die derzeitigen Veränderungen, so der Tenor. Das Dorf wird so zu einem Erfahrungsraum, in dessen Rahmen sich die Debatten der Gegenwart relativieren: »Es gehen mehr tot, als geboren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen. Im Frühling haben wir den Stundentakt vom 419er eingebüßt. Die Leute sagen, ein paar Generationen noch, länger geht das hier nicht. Wir glauben: Es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen.« (Stanišič 2014: 12f.)

Zu den großen Stärken dieser spezifisch literarischen Erzeugung ›der Uckermark‹ gehört es, sich nicht von zeitgebundenen, kurzfristigen und in diesem Sinne immer auch kurzsichtigen Debatten, Aufgeregtheiten oder Ängsten vereinnahmen zu lassen. Gerade dadurch aber wird die Uckermark im Roman zu einem ganz konkreten Ort für ein je individuell möglichst gelungenes, ›gutes Leben‹.

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Sehnsuchtsort Natur Von Ralph Waldo Emerson bis Peter Wohlleben: Schreiben über Natur in den USA und in Deutschland P ETER B RAUN , C AROLINE R OSENTHAL »You must have the bird in your heart before you can find it in the bush« JOHN BURROUGHS / »SHARP EYES« »Man solle, sagt er, nicht versuchen, einen Vogel nur zu identifizieren, sondern sich vielmehr mit ihm identifizieren.« JOHANNA ROMBERG / »FEDERNLESEN«

N ATURE W RITING – B EZIEHUNG

EINE

A MERIKANISCH -D EUTSCHE

Rurale Topographien sind in unserer kulturellen Imagination maßgeblich von der Natur geprägt. Wiesen und Wälder, Flussläufe, Moore und Seen durchziehen sie, in der Ferne erhebt sich vielleicht ein Mittelgebirge oder ist das Meer zu erahnen und Dörfer oder Bauernhöfe fügen sich harmonisch in sie ein. In ruralen Topographien können wir auf Vogelstimmen achten, Bäume betrachten, Beeren pflücken und Pilze sammeln, oder uns für eine Zeit dem Gaukeln der Schmetterlinge überlassen. Hier können wir den Wind und die Sonne auf unserer Haut spüren. In rurale Topographien fliehen wir, wenn wir unseren schnelllebigen Lebenszusammenhängen für einen Augenblick entkommen wollen – und manche ziehen sich aus diesem Grund für eine längere Zeit oder ganz auf das Land zurück. Diese konkreten, sinnlichen Erfahrungen natürlicher Phänomene sind noch immer stark genug, um in uns die Vorstellung einer natürlichen Landschaft wachzurufen, obwohl wir wissen, in

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welchem Maß sie menschlich überformt worden und durch die intensive Landwirtschaft zu einem einseitigen und effizientem Ertrag gezwungen ist. Der Grund dafür liegt in der kulturellen Rede über Natur. Sie erst bereitet den Boden für die konkreten und individuellen Erfahrungen, indem sie Erwartungen weckt und Erlebensmuster vorgibt. Wie und wo wir Natur erfahren, ist in hohem Maß von den kulturellen Imaginationen beeinflusst, die in der jeweiligen Gesellschaft, Kultur und Nation, in der wir leben, über Natur zirkulieren. Erst spezifische kulturelle Diskurse füllen die abstrakte und philosophische Kategorie ›Natur‹ aus, die meist als oppositionelles Paar zusammen mit ›Kultur‹ eingesetzt wird, und laden sie mit Bedeutung auf. Die klassischen Künste Malerei und Literatur tragen dazu ebenso bei wie Fotografie und Film; die Publizistik und der Journalismus spielen dabei eine ebenso große Rolle wie das Tourismusmarketing. Sie alle stellen Anschauungen bereit und benutzen die jeweilige(n) Natur(imaginationen) für kulturelle Zwecke. Die Rede über Natur beruht in jeder Kultur auf spezifischen Konstrukten, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben und Teil des kulturell Imaginären geworden sind. Oft kommt der Natur dabei eine identitätsstiftende Funktion zu. So wirkt in Deutschland noch immer das Konstrukt einer ›romantischen‹ Natur nach, die in der Epoche der Romantik wurzelt, seitdem aber immer wieder neu als ›romantisch‹ modelliert worden ist. Darin herrschen Bilder einer harmonischen und idyllischen Natur vor, die eine kultivierte und gehegte, um ihrer Gefahren weitgehend minimierte Natur voraussetzen. In den USA hingegen ging eine viel mächtigere, als ›unberührt‹ und ›wild‹ imaginierte Natur in die kollektive Konstruktion ein. Diese Projektion von ›Ursprünglichkeit‹ der Natur in der ›neuen‹ Welt, die mit Qualitäten wie Frische und Stärke und mithin einem Erneuerungsvermögen assoziiert wurde, bildete sogar die Grundlage für die kulturelle Formation der Nation in Abgrenzung von der ›alten‹, ermüdeten Welt Europas. Bis heute spielen Darstellungen von Natur eine große Rolle für das amerikanische Selbstverständnis. Eine Gattung, in der sich dies in besonderer Weise zeigt, ist das Nature Writing. Es hat seit der amerikanischen Romantik und den Schriften von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau eine kraftvolle und genuine Tradition entfaltet, die als literarische Mischform zwischen philosophischem Traktat, persönlichem Essay und intensiver Naturerkundung changiert. In Deutschland hingegen hat sich eine vergleichbare, ästhetisch ambitionierte und literarisch gestaltete Naturerkundung nicht ausgebildet.1 Die Neugier und empirische Frische, die in den Berichten der großen Forschungsreisen im 18. und frühen 19. Jahrhunderts bei

1

Vgl. dazu die umfassende, auf 33 Thesen beruhende Studie von Ludwig Fischer NATUR IM

SINN. NATURWAHRNEHMUNG UND LITERATUR (siehe Fischer 2019: v.a. 33ff. und

195ff.). Dieses Buch bietet darüber hinaus eine wichtige Grundlage für unseren Beitrag.

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Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso vorherrschten und sich dort auf natürliche und kulturelle Phänomene gleichermaßen richteten, versiegten im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem sich Naturwissenschaft und Literatur in zwei strikt voneinander getrennte Systeme auseinander entwickelten. Unter dem Diktat des Experiments wurde die Natur in den für sie zuständigen Wissenschaften immer mehr zergliedert und in ihren isolierten Phänomenen im Labor untersucht. Die Literatur hingegen nahm die Natur seit der Romantik vor allem als Spiegel des Menschlich-Seelischen oder verwandelte sie zu einem Reservoir naturmagischer Vorstellungen – beide Spielarten wirkten weiter im Realismus des 19. Jahrhunderts, so bei Adalbert Stifter oder Theodor Storm, oder auch in der Tradition der Naturlyrik bis zu Wilhelm Lehmann und Günter Eich im 20. Jahrhundert. Erst in jüngster Zeit ist in Deutschland eine Wiederbelebung des Schreibens über Natur zu beobachten, die Natur als einen genuinen Gegenstand des Schreibens nimmt und ihr gegenüber eine neugierige, erkundende, mittels Sprache erforschende Haltung einnimmt. Diese neuen Naturbücher haben sogar einen regelrechten Boom ausgelöst. Häufig wird dabei, sowohl in der Vermarktung als auch in der Rezeption, auf das amerikanische Nature Writing rekurriert und damit implizit der Anspruch erhoben, dieses neue Schreiben über Natur setze zum ersten Mal ein deutsches Nature Writing um. Der wohl profilierteste Akteur, der diese Strategie verfolgt, ist der Berliner Verlag Matthes und Seitz. Zusammen mit der Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky gründete er 2013 die Reihe NATURKUNDEN, die auf Anhieb einen Nerv der Zeit traf. Mit ihrem Programm, »von der Natur zu erzählen« und das: »kundig, anschaulich und im Bewusstsein, dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt – und von seinem Blick auf eine Natur, die ihn selbst mit einschließt« 2 – stieß die Reihe beim Publikum und in der Literaturkritik auf große Resonanz. Inzwischen sind fast 70 Titel in einer Gesamtauflage von über 300.000 verkauften Exemplaren erschienen.3 Zum großen Erfolg der Reihe hat jedoch nicht nur die Thematik der Bücher beigetragen, sondern auch deren sorgfältige, alte Traditionen der Buchherstellung wie Fadenheftung und farbigen Kopfschnitt aufnehmende und ausgesprochen schöne Gestaltung. Von Beginn an wurden in die Reihe NATURKUNDEN auch Bücher aufgenommen, die zum Kanon des amerikanischen Nature Writing zählen. So erschien gleich als Nummer zwei der Reihe das Buch eines amerikanischen Pioniers dieser Gattung, THE MOUNTAINS OF CALIFORNIA von John Muir aus dem Jahr 1894, zum

2

Zitiert nach dem Programm auf der Website des Verlags: www.matthes-seitzberlin.de/reihe/naturkunden.html (11.03.2020).

3

Die Angaben folgen der Verlagsvorschau Frühjahr 2019.

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ersten Mal ins Deutsche übertragen von Jürgen Brôcan.4 Seitdem sind eine Reihe weiterer renommierter Autoren und Autorinnen des Genres gefolgt; so ist beispielsweise im Herbst 2019 auch eine neue deutsche Ausgabe von Aldo Leopolds Klassiker der Umweltschutzbewegung SAND COUNTY ALMANAC (1949) unter dem Titel EIN JAHR IM SAND COUNTY veröffentlicht worden.5 Doch wie berechtigt ist der damit intendierte Bezug auf das amerikanische Nature Writing für die gesamte Reihe der NATURKUNDEN – gerade im Vergleich zu den neu geschriebenen, deutschsprachigen Büchern dieser Reihe? Welche Tradition wird damit aufgerufen? Welche Anschauungsformen der Natur, und welches Verhältnis von Natur und Mensch sind mit dem amerikanischen Nature Writing verbunden? Und lassen sich diese Kriterien im neuen deutschsprachigen Schreiben über Natur – auch über die Reihe der NATURKUNDEN hinaus – wiederfinden und wenn ja, in welcher Form? Besitzen sie schließlich das Potential, die kulturelle Rede über Natur in Deutschland und damit die gegenwärtigen, immer noch ›romantisch‹ konnotierten Imaginationen der Natur zu erweitern und zu verwandeln? Diesen Fragen einer amerikanisch-deutschen Beziehung im Schreiben über Natur werden wir im weiteren Verlauf des Beitrags nachgehen. Dafür folgt zunächst ein ausführlicher Abschnitt über die Geschichte des amerikanischen Nature Writing, in dem sowohl dessen Kriterien als auch dessen kulturelle Hintergründe herausgearbeitet werden. Danach wenden wir uns wieder der gegenwärtigen Situation in Deutschland zu und unterziehen den aktuellen Boom von Naturbüchern einer kritischen Prüfung. Dabei geht es uns nicht um einen direkten Vergleich, der das eine am anderen im Modus der Konkurrenz misst und bewertet. Wir benutzen vielmehr das amerikanische Nature Writing als Vergleichsfolie, um die spezifischen Ausprägungen des neuen Schreibens über die Natur in Deutschland an ausgewählten Beispielen freizulegen und ihr Veränderungspotential für die gegenwärtigen kulturellen Konstruktionen zu untersuchen.

4

Zudem flankiert der Verlag Matthes und Seitz seine Reihe NATURKUNDEN seit 2016 mit der ambitionierten Edition der Tagebücher Henry David Thoreaus, einem der Gründungsväter des Nature Writing.

5

Dieses Buch ist bereits 1992 auf Deutsch unter dem Titel AM ANFANG WAR DIE ERDE. »SAND COUNTY ALMANAC«. PLÄDOYER ZUR UMWELT-ETHIK mit einem Vorwort von Horst Stern im Knesebeck Verlag erschienen. Doch das Buch wurde damals kaum wahrgenommen – es kam für die neue Welle des Schreibens über Natur zu früh.

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Z U DEN RELIGIÖSEN UND NATIONALEN U RSPRÜNGEN DES N ATURE W RITING IM 19. J AHRHUNDERT IN DEN USA Die Wurzeln des amerikanischen Nature Writing finden sich im transzendentalistischen Gedankengut Ralph Waldo Emersons (1803-1882) und Henry David Thoreaus (1817-1862). Emersons bahnbrechender Essay NATURE von 1836 läutete eine neue Ära ein, in der die Natur eine Aufwertung erfuhr und mit religiöser wie nationaler Bedeutung aufgeladen wurde. Hatten die Puritaner die Natur noch dämonisiert als Ort, der dunklen Sehnsüchten, Trieben und Kreaturen Raum bot und so der religiösen Ordnung und den zivilisatorischen Kräften entgegenstand, begann mit den amerikanischen Transzendentalisten eine semantische Umdeutung der Natur. Wildnis wurde nun nicht mehr als Bedrohung, sondern als geheiligtes Refugium (Sanctuary) und als Regenerationsquelle des Individuums wie auch der Gesellschaft als Ganzem gesehen. Der Transzendentalismus war weder eine zusammenhängende Theorie noch eine nationale Bewegung. Er speiste sich aus den aufklärerischen Ideen Kants ebenso wie aus dem deutschen Idealismus und der englischen wie deutschen Romantik und verband diese Ideen mit religiösen und nationalen Gründungsmythen der USA. Die Transzendentalisten waren eine kleine Gruppe von Ostküsten-Intellektuellen, die sich im 19. Jahrhundert vor allem in dem kleinen Ort Concord, unweit von Boston, um Ralph Waldo Emerson versammelten, der sich 1835 mit seiner ersten Frau Lydia dort niedergelassen hatte. Emerson, der als Kopf und Zentrum der Bewegung gelten kann, wollte als ehemaliger unitaristischer Pastor Religion aus institutionellen Zwängen befreien und sprichwörtlich aus der Kirche in die Natur tragen. Denn es war die Natur, in der das Individuum Gott sowie die eigene Göttlichkeit erfahren sollte. Dieser letzte Aspekt – die Göttlichkeit des Menschen – war eine radikale Abkehr vom puritanischen Religionsverständnis und brachte Emerson von der unitaristischen Kirche – einer gemäßigten Form des Puritanismus – so viel Gegenwehr ein, dass er von dieser ausgeschlossen wurde. Emerson wollte »God-reliance« durch »Self-reliance« ersetzen; so postuliert er in NATURE: »A man is a god in ruins« (Emerson 1983a: 45), der nach seinem Wiedererwachen strebt. Diese Erweckung war für Emerson und die Transzendentalisten untrennbar mit der Erfahrung von Natur verbunden, insbesondere der amerikanischen Natur. Denn im Gegensatz zur europäischen verfüge diese über wilde Landschaften, in denen das Erhabene seine volle Wirkung auf das Subjekt entfalten konnte, das so nicht nur der Präsenz Gottes, sondern auch der eigenen Göttlichkeit gewahr zu werden vermochte. Emerson schreibt in NATURE: »In the woods we return to reason and faith. [...] I become a transparent eye-ball; I am nothing; I see all; the currents of the Universal Being circulate through me; I am part or particle of God« (ebd.: 10). Dieses

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wohl berühmteste Zitat aus Emersons Essay verweist mit dem »transparent eyeball« auf das sowohl nach innen als auch nach außen gerichtete Sehen/Verstehen des Individuums in der Natur. Den Kern transzendentalistischen Denkens bildete die Triade aus »Self«, »Nature« und »Over-soul«, die nicht hierarchisch, sondern in gegenseitigem Austausch und ständiger Wechselwirkung zu verstehen ist. Das Ich erkennt in der Beobachtung der Natur sich selbst, seine eigene Göttlichkeit sowie die der Natur innewohnende universelle göttliche Kraft. Mit »reason« bezieht Emerson sich auf eine von Coleridge stammende Unterscheidung zwischen »reason« und »understanding«, in der »reason« eine höhere Form des Begreifens bezeichnet. Während »understanding« auf ein Erfassen der Welt in einem wissenschaftlich rationalen Sinne verweist, ist mit »reason« ein ganzheitliches Verstehen gemeint, das auf self-reliance (Eigenverantwortlichkeit) und Intuition – zwei weiteren für Emerson ganz zentralen Begriffe – fußt. Für diese Art des Verstehens war die sinnliche Erfahrung der Natur ganz zentral. Diese konstitutive Verschränkung des Sehens und Verstehens von Natur und Selbst sollte im weiteren Verlauf der Geschichte des Nature Writing immer wieder aufgenommen und fortgeschrieben werden. John Burroughs (1837-1929), ein früher amerikanischer Naturalist und Naturessayist, wandte Emersons Konzept des »transparent eye-ball« in seinem 1879 erschienen Essay SHARP EYES auf die Naturbeobachtung und deren ästhetisierte schriftliche Niederlegung an. Für Burroughs waren nicht die »outward eyes«, sondern »inward eyes« essentiell bei der Naturbetrachtung: »The Eye sees what it has the means of seeing, truly. You must have the bird in your heart before you can find it in the bush« (Burroughs 1879: 18). Diese Aussage benennt prägnant ein zentrales Charakteristikum des Nature Writing, nämlich die äußerliche genaue Betrachtung der materiellen Natur mit einem nach innen gewandten Blick zu verbinden, der das Beobachtete transzendiert, so dass eine Erkundung des Selbst mit der Naturbeobachtung einhergeht. Was Burroughs hier einforderte, war die innere Haltung, mit der wir an die Naturbeobachtung herangehen. Ein wahres (»truly«) Beobachten der Natur war für ihn nicht nur ein wissenschaftliches, sondern ein intuitives Sehen. Burroughs bezog sich damit direkt auf Emerson, für den die Intuition ein Begreifen mit allen Sinnen war; ein Verstehen, das dem rein rationalen Verständnis überlegen war, weil es einerseits der self-reliance und nicht etwa den sozialen Konventionen entsprang und weil es andererseits Emotionen einbezog. Neben Emerson sollte besonders Henry David Thoreau prägend für das amerikanische Nature Writing werden; setzte er doch – zunächst als Schüler Emersons und dann als enger Vertrauter der Familie – viele Lehren Emersons in die Praxis um. Als einziger der Transzendentalisten war er in Concord geboren und verließ seinen Heimatort ebenso ungern, wie er es liebte, dessen Umwelt als Mitwelt

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genauestens zu erkunden. Thoreaus einflussreicher Essay WALKING6 beginnt mit einem flammenden Plädoyer für die Natur: »I wish to speak a word for Nature, for absolute freedom and wildness, as contrasted with a freedom and culture merely civil—to regard man as an inhabitant, or a part and parcel of Nature, rather than a member of society« (Thoreau 2012: 557). Natur wird hier mit »wildness«, also mit Wildheit, nicht aber mit »wilderness«, also mit Wildnis gleichgesetzt – ein für Thoreau wichtiger begrifflicher Unterschied – und der Mensch als integraler Bestandteil (»part and parcel«) der Natur gesehen. Zwar ist die Wildnis und deren Erhaltung der notwendige Raum, um Wildheit zu erfahren, aber »wildness« bezeichnet keinen Raum, sondern eine geistige Haltung. Für Thoreau war Wildheit das Reservoir all dessen, das noch nicht von der Zivilisation überformt, aber dennoch essentieller Teil von ihr ist. In seinem Essay heißt es: »I derive more of my subsistence from the swamps which surround my native town than from the cultivated gardens in the village« (ebd.: 574), denn dort »is the strength, the marrow, of Nature« (ebd.: 575). Das Moor an der Ortsgrenze barg für Thoreau mehr Diversität und kreative Unordnung als die angelegten Gärten, aber es war doch Teil des Städtchens. Für Thoreau kam es auf das Verhältnis von zivilisatorischer Ordnung und natürlicher Unordnung an; reinen Wildwuchs verurteilte er ebenso wie keinen Wildwuchs. Und man musste nach Auffassung Thoreaus auch nicht in die entlegene Wildnis fahren, um Wildheit zu erleben, sondern konnte diese auch beim Pflücken wilder Äpfel oder Heidelbeeren erfahren.7 Am eindrücklichsten setzte Thoreau dies in seinem berühmt gewordenen und ebenso oft missverstandenem wie nachgeahmten Lebensexperiment am Walden Pond um, aus dem das Buch WALDEN entstand. Von 1845-47 lebte Thoreau für etwas länger als zwei Jahre am Walden See auf einem Grundstück der Emersons ein weitestgehend unabhängiges und selbstversorgendes Leben. Er wollte sich dabei nicht in die Wildnis zurückziehen – seine Hütte war nur drei Meilen von Concord entfernt –, sondern intensiv die Natur erleben, um dabei heraus zu finden, wie viel es für ein selbstbestimmtes Leben in Einklang mit der Natur braucht. WALDEN, ein durchaus sperriger und in seinem Eklektizismus schwer zu lesender Text, enthält somit ökonomische Berechnungen und Tabellen ebenso wie genaue Beschreibungen der Flora und Fauna Neuenglands sowie eine Vielzahl philosophisch reflektierender Passagen.

6

Wie bei so vielen seiner anderen Schriften, hielt Thoreau WALKING zunächst als Vortrag am Concord Lyceum, und zwar am 23. April 1851. Er veränderte den Text dann noch mehrmals, bevor dieser 1862, ein Jahr nach seinem Tod im ATLANTIC MONTHLY veröffentlicht wurde.

7

Siehe hierzu die Einleitung von Bradley P. Dean in WILD FRUIT (2001), in dem dieser erstmalig Thoreaus späte Naturessays herausgibt, sowie Schulz (2008).

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Mit Hinblick auf das Nature Writing ist an WALDEN auch der Entstehungsprozess des Textes interessant, der exemplarisch für die Gattung insgesamt ist. Es handelt sich bei WALDEN eben nicht um die spontane Niederschrift des Erlebten, sondern um einen mehrfach sorgfältig überarbeiteten und auf seine ästhetische Wirkung hin ausgeloteten Text. Thoreau machte sich zunächst unterwegs genaue Notizen seiner Naturbeobachtungen, die er dann in sein Tagebuch übertrug. Aus diesen Aufzeichnungen entstand zunächst der Vortrag A HISTORY OF MYSELF, den Thoreau 1847 am Concord Lyzeum hielt, um die Wirkung seiner Worte auf die Zuhörerschaft zu prüfen, und der später große Teile des Kapitels »Economy« ausmachen sollte. WALDEN erschien schließlich erst 1854 nach acht überarbeiteten Textfassungen. Ein vergleichbarer Werkprozess, der mehrere Versionen umfasst, findet sich in nahezu allen Nature Writing-Texten von John Muir bis Edward Abbeys DESERT SOLITAIRE (1968) und Annie Dillards PILGRIM AT TINKER CREEK (1974). Die Merkmale des amerikanischen Nature Writing lassen sich demnach wie folgt zusammenfassen: Man versteht unter der Gattung einen nicht fiktionalen Bericht in der ersten Person, der stets ein äußeres mit einem inneren Erleben verbindet – und zwar anhand einer genauen und akkuraten Beobachtung der vom Menschen weitestgehend unberührten Natur. Die genaue Kenntnis und wissenschaftliche Beschreibung der Natur wird geknüpft an ein erlebendes und auch nach innen beobachtendes Subjekt. Die Gattung speist sich in Amerika aus der Naturkunde, der spirituellen Autobiographie8 und dem amerikanischen Transzendentalismus, der für das Subjekt in der Natur einen Ort gefunden hat, an dem es eine authentische Beziehung zu sich selbst und der Umwelt – frei von sozialen Konventionen – etablieren konnte. Fast alle Texte des Nature Writing sind aus großer zeitlicher Distanz geschrieben. Es kommt zu einer Ästhetisierung des Erlebten, das eine Spannung zwischen Authentizität und Fiktionalität sowie zwischen genauester Naturbeschreibung und individueller innerlicher Reflexion erzeugt. Zudem lebten viele Nature Writer nicht auf dem und gar vom Land, sondern hielten sich nur für eine begrenzte Zeit in den beschriebenen Regionen auf. Darüber hinaus wohnte dem amerikanischen Nature Writing von Anbeginn an ein nationalistisches Moment inne, denn die Art von Natur, die es für eine religiös überformte Selbsterkenntnis brauchte, gab es vor allem und im Überfluss in der Neuen Welt. In den unermesslichen Weiten und erhabenen Landschaften Amerikas lag für die Transzendentalisten das Potenzial der gesellschaftlichen und kreativen Erneuerung der Menschheit. Emerson hatte in seinem epochemachenden Essay THE AMERICAN SCHOLAR von 1837 bereits ein amerikanisches Zeitalter angekündigt, in

8

Die spirituelle Autobiographie bezeichnet eine im Puritanismus des 17. Jahrhunderts weit verbreitete Gattung, in der ein Gläubiger seine persönliche Erlösungsgeschichte erzählt.

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dem die USA sich von Europa emanzipieren und das eigene schöpferische Potential verwirklichen würden.9 Der Aufsatz, der die Epoche der American Renaissance oder amerikanischen Romantik einleitete, sieht als ersten maßgeblichen Einfluss auf diesen amerikanischen Gelehrten die Natur. Amerikas Größe liegt für Emerson – wie für Thomas Jefferson und viele andere vor ihm – in seinen natürlichen Ressourcen, die den geschichtsträchtigen Orten Europas weit überlegen sind. Denn anders als Europa verfügte Amerika in der Lesart der amerikanischen Romantik über Wildnis, in welcher der Mensch sich frei von sozialen Normen neu erfinden konnte. Auch für Thoreau war vor allem die amerikanische Natur Garant für poetische Schaffenskraft und neue Imagination: »If the heavens of America appear infinitely higher, and the stars brighter, I trust that these facts are symbolical of the height to which the philosophy and poetry and religion of her inhabitants may one day soar« (Thoreau 2012: 570). Die Erhabenheit der amerikanischen Natur wurde seit der amerikanischen Romantik vermischt mit der Idee nationaler Größe.10 Wildnis wurde zum Markenzeichen der amerikanischen Nation und zum Pfand für originäre amerikanische Werte. Dadurch wurde die Natur auch zu einem schützenswerten Gut, weil sie neben der Freiheit das Herzstück nationaler Identität verkörperte, das es für nachfolgende Generationen von Amerikanern zu erhalten galt. Dies führte in den USA zu einer engen Verknüpfung von Nature Writing und Naturschutz,

9

»Perhaps the time is already come [...], when the sluggard intellect of this continent will look from under its iron lids, and fill the postponed expectations of the world with something better than the exertions of mechanical skill. Our day of dependence, our long apprenticeship to the learning of other lands, draws to a close. The millions, that around us are rushing into life, cannot be fed on the sere remains of foreign harvests. Events, actions arise, that must be sung, that will sing themselves. Who can doubt, that poetry will revive and lead in an age« (Emerson 1983b: 53).

10 Der Umwelthistoriker William Cronon hat aufgezeigt, dass die Kategorie des Erhabenen, wie Burke und Kant sie in Europa entwickelt hatten, in Amerika verbunden wurde mit dem Nationaltopos der »frontier«. 1893 hatte der Historiker Frederick Jackson Turner in einem als FRONTIER THESIS bekannt gewordenen Vortrag die Grenze als »point of Americanization« ausgerufen, an dem aus dem Europäer durch die Konfrontation mit dem anderen Wilden – was damals nicht nur Natur, sondern die Ureinwohner einschloss – ein Amerikaner wird. Turners These wurde signifikanter Weise in dem Moment zum Nationalmythos, als die tatsächliche Grenze mit dem Erreichen des Pazifiks überflüssig geworden war. Und so argumentiert Cronon später schlüssig: »Thus, in the myth of the vanishing frontier lay the seeds of wilderness preservation in the United States, for if wild land had been so crucial in the making of the nation, then surely one must save its last remnants as monuments to the American past – and as an insurance policy to protect its future« (Cronon 1995: 76).

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wie sie sich etwa in der Schaffung von Nationalparks oder der Gründung des Sierra Club oder dem WILDERNESS ACT von 1964 zeigte.11 Die dargelegten nationalistischen und religiösen Vereinnahmungen der Natur nahm das amerikanische Nature Writing in der Folge auf, widersetzte sich diesen aber auch. Dafür stehen zwei prominente amerikanische Texte, die beide auch eine elementare Rolle im Umweltschutz spielten. John Muirs MY FIRST SUMMER IN THE SIERRA offenbart die religiöse Dimension des Nature Writing, während Aldo Leopolds SAND COUNTY ALMANAC den Übergang zu einem ökologisch nachhaltig orientierten Nature Writing zeigt.

J OHN M UIR : N ATURE W RITING K ONVERSIONSERFAHRUNG

ALS

John Muir wurde 1838 in Dunbar, Schottland, geboren und war elf Jahre alt, als er mit seiner Familie nach Wisconsin in die USA einwanderte. Von seinem Vater streng calvinistisch erzogen und an harte Farmarbeit gewöhnt, ging Muir als Erwachsener auf Wanderschaft und bildete sich dabei zum autodidaktischen Naturforscher, Botaniker und Geologen. Im Herbst 1867 brach Muir zu seinem berühmt gewordenen Fußmarsch auf, der ihn von Kentucky über die Appalachen bis nach Florida führen sollte. 1868 erreichte Muir mit dem Schiff San Francisco, um das Yosemite Gebiet zu erkunden. Yosemite und die Sierra Nevada sollten Muir für den Rest seines Lebens gefangen nehmen – er fertigte dort wegweisende geologische und botanische Studien an. Muir war nicht nur Naturforscher, sondern Naturschützer und wurde zum Mitbegründer des Sierra Club, der ältesten und größten Naturschutzorganisation der USA. Er trug maßgeblich zur Schaffung des Yosemite Nationalparks 1890 bei, der neben dem Yellowstone Park (gegründet 1872) zu den ältesten Amerikas gehört. Im Jahr 1869 bestieg Muir, der sich bereits seit einem Jahr als Schafhirte in der Sierra Nevada verdingte, mit einem Schäfer und seiner Herde die Sierra Mountains. Er war damals 31 Jahre alt. Seine botanischen und geologischen Studien hielt er in einem Feldjournal fest, das er später in Notizbücher übertrug. Seinen Text über diese Naturerfahrung, MY FIRST SUMMER IN THE SIERRA, schrieb er aber erst 191011 und veröffentlichte ihn mit 73 Jahren. Es geht beim Nature Writing immer auch

11 Die Konservation der Wildnis in Nationalparks ging mit einer Definition einher, die Natur als das außerhalb der menschlichen Zivilisation liegende bestimmte. Der Mensch war in der Natur nur ein Gast, was dazu führte, dass Roosevelt, als der erste Präsident, der sich für die Schaffung von Nationalparks einsetze, Native Americans zwangsumsiedelte, denn die Natur sollte ein von Menschen freier Erfahrungsraum sein.

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um die Ästhetisierung der eigenen Naturbeobachtung aus der (zeitlichen und räumlichen) Distanz heraus und nicht um die spontane Niederschrift eines emotionalen Erlebnisses. So findet sich auch in Muirs Text ein erlebendes und ein erzählendes Ich. Viele seiner emphatisch offenbarenden Äußerungen zur Natur sind mehr als Stilmittel zu lesen, denn als spontane Emotionsflutungen. Muir wollte den Leserinnen und Lesern die tief religiöse und erweckende Dimension der Natur nahebringen. Sein Text maß der erhabenen amerikanischen Landschaft eine bekehrende Funktion zu. Neben sehr genauen und bis heute gültigen Studien der Flora und Fauna finden sich in Muirs Text Passagen, welche die Natur mit religiöser Bedeutung aufladen und als »vast«, »noble« und »glorious« beschreiben. Die Wildnis wird als reichhaltig und sanft beschrieben; sie sorgt für ihre Kinder wie eine Mutter und alles in der Natur folgt »God’s divine manuscript« (Muir 1911: 54). Den transzendentalistischen Lehren Emersons folgend, beschrieb Muir die Berge der Sierra wiederholt als »temple« und »cathedral« und trug religiöse Erfahrung und Erweckung hinaus in die Natur. Muirs Text ist um klare Oppositionen strukturiert, die mit einer moralischen Wertigkeit versehen sind.12 Die staubigen Täler der Sierra werden mit den hohen Bergen kontrastiert, die ein »spiritual glow« (ebd.: 48) umgibt. Die wilde Natur und die in ihr lebenden Tiere werden stets als »pure« und »clean« beschrieben – also als rein im physischen wie spirituellen Sinne –, während Muir die domestizierten Schafe als dreckig und dumm bezeichnete. Im Gegensatz zu den wilden Tieren, die sich in Gottes Plan einfügen, beschrieb er die Schafe als behufte Heuschrecken, die alles niedertrampelten und kahlfraßen. Sein Text kritisierte vor allem die profitorientierte Schafhaltung, die nur auf schnellen Reichtum aus ist und Natur nicht etwa bewahrt, sondern ausbeutet (ebd.: 16). In THE PASTORAL IMPULSE IN AMERICA hat Don Scheese überzeugend argumentiert, dass sich in Amerika die Pastorale, also die Sehnsucht nach dem idyllischen, besseren Leben in der Natur und der Harmonie zwischen Mensch und Natur vom Garten in die Wildnis verschiebt.13 Es ist die Wildnis, die zum Sehnsuchtsort für ein

12 Muirs dichotomisches Denken führt auch zu zahlreichen rassistischen Äußerungen. Der »Chinaman« heißt im Text nur so und hat keinen individuellen Namen. Vor allem aber weiß Muir die Indigenen, die ihm begegnen, nicht einzuordnen, da sie sich in kein Schema pressen lassen. Sie sind ihm unheimlich. Er bewundert einerseits, dass sie mit wenig Essen und Kleidung in der Natur überleben können und sich dieser, anders als der weiße Mann, anpassen (Muir 1911: 39). Andererseits beschreibt er sie als dreckig, während sonst alles in der Natur rein ist (ebd.: 29), als »grim and silent«, als hinterhältig und feindselig (ebd.: 27; 90) 13 Zum Einfluss der Pastorale in der amerikanischen Literatur siehe außerdem die wegweisende Studie von Leo Marx: THE MACHINE IN THE GARDEN (1974).

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Leben jenseits der korrumpierenden Einflüsse der Zivilisation wurde. Muir beschrieb die Natur, wie bereits erwähnt, mehrfach als umsichtige Mutter, die für ihre Kinder sorgt (Muir 1911: 20; 60), jede Wunde heilt (ebd.: 24-28) und den Menschen äußerlich wie innerlich genesen lässt (ebd.: 19; 94). Für Muir war alles in der Natur göttlich und spendete Frieden: »They [the gentle winds] seem the very breath of Nature, whispering peace to every living thing« (ebd.: 20). Ebenso fügte sich alles in einen nahtlosen Kreislauf aus Werden und Vergehen: »Everything kept in joyful rhythmic motion in the pulse of nature’s big heart« (ebd.: 34). Und diese Perfektion und überwältigende Schönheit hat, so Muir am Beispiel der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung, eine große Wirkung auf das Subjekt. Er schrieb: »I tremble with excitement in the dawn of these glorious mountain sublimities« (ebd.: 47). MY FIRST SUMMER IN THE SIERRA erzählt eine Konversionserfahrung, in der ein Mensch durch die Begegnung mit der göttlichen Wildnis für immer verändert wird (Branch 2004). Dabei unterliegt Muirs Wildnisbeschreibung das Narrativ einer Pilgerreise, die ihn aus den niederen und staubigen Tälern hinauf zu den göttlichen Bergen führte. Anfangs blickte Muir aus dem Tal in die erhabenen schneebedeckten Gipfel der High Sierra: »How near they seem and clear their outlines on the blue air, or rather in the blue air; for they seem to be saturated with it. How consuming strong the invitation they extend! Shall I be allowed to go to them? Night and day I’ll pray that I may, but it seems too good to be true. Someone worthy will go, able for the Godful work, yet as far as I can I must drift about these love-monuments mountains, glad to be a servant of servants in so holy a wilderness.« (Muir 1911: 14f., Hervorhebung im Original)

Die Gipfel bargen für Muir ein Versprechen auf Regeneration und Erlösung. Zugleich fragt das erzählende Ich sich aber, ob es würdig genug ist, Gottes »immortal gift« (ebd.: 25) zu empfangen. Muirs Text steht hier, wie Branch herausgearbeitet hat, ganz in der Tradition der spirituellen Autobiographie, in welcher der Gläubige seine religiösen Zweifel und Prüfungen darlegt, um letztendlich von Gottes unendlicher Gnade zu zeugen, die den Gläubigen trotz dessen Zweifel erlöste (Branch 2004: 141). Muir näherte sich den Berggipfeln in seinem Text immer weiter demütig an: »Yosemite dome, I gaze and sketch and bask […] the vast display of God’s power, and eager to offer self-denial and renunciation with eternal toil to learn any lesson in the divine manuscript« (ebd.: 54). Der Aufstieg war zugleich eine Annäherung an Gottes Gnade und Licht: »All the wilderness seems to be full of tricks and plans to drive and draw us up into God’s light« (ebd.: 100), bis Muir am Cathedral Peak seine wahre Kirche fand: »This I may say is the first time I have been to church in California, led here at last, every door graciously opened for the poor lonely worshiper« (ebd.: 102).

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Diese Erweckungserfahrung war bei Muir wie bei den Transzendentalisten eng an die genuin amerikanische Landschaft geknüpft. So schrieb er etwa über die gigantischen Sequoias, Douglas-Fichten und Kiefern der Sierra, sie seien »unrivaled on the globe« (41). Die Erhabenheit hat somit nicht nur eine religiöse, sondern auch eine nationale Dimension, wie Cronon treffend über den frühen Naturschutz in den USA bemerkt: »wild country became a place not just for religious redemption but national renewal, the quintessential location for what it meant to be American« (Cronon 1995: 76). Gleichzeitig waren es Muirs Studien, die, zum Teil gegen heftige wissenschaftliche Widerstände, belegten, dass es Gletscher waren, die das Yosemite Valley geformt haben. Zudem ist festzuhalten, dass er die Flora und Fauna wissenschaftlich genau beschrieb. Es sind also nicht nur schwärmerische romantisch-religiöse Ergüsse, die den Text ausmachen, sondern sehr detaillierte Beobachtungen der Natur. Dennoch fungierte bei Muir die Natur noch als Sehnsuchtsort für ein besseres Leben und war daher schützenswert, blieb aber stets etwas außerhalb der Zivilisation Liegendes. Was der Mensch von der Natur lernen konnte, war vor allem das nicht rational rein empirisch Zugängliche. Dieses Verständnis von Natur wandelte sich mit Aldo Leopolds SAND COUNTY ALMANAC, das zu einem der Gründungstexte der frühen Umweltbewegung wurde.

A LDO L EOPOLD : N ATUR ALS

BIOTISCHE

G EMEINSCHAFT

Aldo Leopold (1887-1948) war ein amerikanischer Forstwissenschaftler und Ökologe, der sich früh für die Erhaltung von Biodiversität einsetzte und als Begründer der Umweltschutzbewegung in den USA gilt. Leopold kaufte 1935 achtzig Morgen Land in Sauk County, Wisconsin; also in der Gegend, in der Muir als Junge aufgewachsen war. Das einst bewaldete Gebiet war zunächst abgeholzt und damit Präriefeuern ausgesetzt worden, die es weiter entholzten; schließlich wurde es dann von Milchkühen der Farmer abgegrast, bis es brachlag. Auf und an diesem durch menschlich herbeigeführte Umweltkatastrophen zerstörten Stück Landschaft entwickelte Leopold im SAND COUNTY ALMANAC seine Gedanken einer Umweltethik. Das 1949, ein Jahr nach Leopolds Tod, erschienene Buch wurde zum Best- wie Longseller. Es hat sich über zwei Millionen Mal verkauft, wurde in 14 Sprachen übersetzt und avancierte zur »environmentalist bible« des Nature Conservationism. Das Buch hat drei Teile. Der erste Teil umfasst 22 Essays, allesamt persönliche Betrachtungen der Natur von Sauk County, Wisconsin, wo Leopold ab 1935 versuchte, das ausgeblutete Farmland ökologisch sinnvoll wieder in Wildnis zurück zu verwandeln. Teil I basiert auf Feldjournalen, die Leopold über 14 Jahre unterhielt und erst zum Ende seines Lebens in Buchform übersetze, als der Verlag Knopf ihn bat, ein Naturkunde-Buch über die Gegend für den Laien zu schreiben. Der zweite

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Teil des ALMANAC widmet sich Naturbeobachtungen während diverser Reisen Leopolds durch die USA und Kanada. Teil III schließlich, übertitelt »The Upshot«, also Fazit oder Ende vom Lied, enthält vier Essays, die Leopolds Vorstellung einer Land-Ethik darlegen. Leopolds Werk nimmt einige bemerkenswerte Paradigmenwechsel vor. Zum einen sieht es den Menschen nicht nur als integralen Teil der Natur, sondern als Teil eines Ökosystems, in dem jeder Organismus und jede Spezies ihre Rolle spielen. Die Vorstellung einer solchen biotischen Gemeinschaft zieht eine Verantwortung jedes einzelnen Menschen für ihre und seine Mitwelt nach sich. Auch wenn dieser Gedanke schon seit der Romantik mitschwingt, wurde er in Leopolds Nature Writing konkretisiert und mit praktischen Ausführungen und Handlungsmodellen unterlegt. Zum anderen zog Leopold daraus die Konsequenz, dass Menschheitsgeschichte und Naturkunde nicht getrennt betrachtet werden können. Kultur- und Siedlungsgeschichte waren für ihn untrennbar verknüpft mit dem Wissen um die Natur und mit der Migration bestimmter Pflanzen oder Tiere, die eine menschliche Besiedlung eines bestimmten Gebiets erst möglich machten. Leopolds ALMANAC nimmt damit Gedanken zum Wert und notwendigen Erhalt von Biodiversität, zu biotischer Migration zu Zeiten des Siedler-Kolonialismus und zu den ökologischen Konsequenzen der Ausrottung oder forcierten Ansiedlung von Spezies vorweg, die erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und in den Diskussionen um die Rolle des Menschen im Anthropozän wirklich virulent werden sollten. Schon im Vorwort zum ALMANAC brach Leopold mit der Auffassung von »Land«, wie es in einem jüdisch-christlichen Weltbild definiert ist, in dem die Erde dem Menschen untertan sein soll. Stattdessen verstand Leopold Land als Gemeinschaft, in der die Menschen nicht als Eroberer des Landes, sondern Mitbürger und Mitbewohner sind. Eine Landgemeinschaft bestand für Leopold zudem nicht nur aus dem Land selbst, sondern aus dem tatsächlichen Erdreich, dem Wasser sowie den Pflanzen und Tieren, die der Mensch in ihrer Gesamtheit zu respektieren hat: »Conservation is getting nowhere because it is incompatible with our Abrahamic concept of land. We abuse land because we regard it as a commodity belonging to us. When we see land as a community to which we belong, we may begin to use it with love and respect« (Leopold 1990: xviii-ix).

Diesen Gedanken einer Gemeinschaft von Mensch und Umwelt als Mitwelt entwickelte Leopold in den drei Teilen des Buches. Für ihn ist das Land nicht nur eine passive Ressource, sondern schreibt aktiv Kulturgeschichte und stellt alternatives Wissen sowie alternative Wege bereit, Wissen überhaupt zu erlangen und zu begreifen. Im ersten Teil etwa beschreibt Leopold ausführlich eine alte Eiche, die er fällen musste, und liest in deren Jahresringen wie in einem Geschichtsbuch. In Leopolds

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Dendrochronologie wird die Eiche zum Zeugen politischer Ereignisse ebenso wie von Einschnitten der Umweltzerstörung. So steht ein und dasselbe Jahr für den Stock Market Crash und die Ausrottung des Marders in Wisconsin. Menschliche Geschichte und Naturkunde werden nicht mehr getrennt, sondern überblendet. Aber die Eiche bietet auch andere Möglichkeiten, Geschichte zu begreifen. Während ein horizontaler Schnitt durch den Stamm eine chronologische Abfolge der Jahre symbolisiert, bündelt ein keilförmiges Stück die Kultur- und Naturgeschichte und »yields a collective view of all the years at once« (ebd.: 18). Auch in der Kompasspflanze (Silphium), einer oft als Unkraut verfemten Pflanze, die ihren Namen dem Umstand verdankt, dass sich bei starkem Sonneneinfall ihre Blätter in Nord-Süd Richtung aufstellen, kann man, so Leopold, lesen wie in einem Buch. Für ihn hat die hochanpassungsfähige Präriepflanze »personality« (ebd.: 52). Ebenso vergleicht er im ersten Teil einen Treibholzhaufen im Fluss mit einer Bibliothek: »The autobiography of an old board is a kind of literature not yet taught on campuses, but any riverbank farm is a library where he who hammers or saws may read at will. Come high water, there is always an accession of new books« (ebd.: 27). Leopold versuchte durchweg, die Unterscheidung von Natur und Kultur aufzuheben und Natur nicht als das Andere zur Kultur zu sehen, sondern als elementaren Bestandteil von ihr. Der Gedanke, dass die Mobilität und Migration von Menschen und Natur zusammen gedacht werden und auch so unterrichtet werden sollten, durchzieht den ganzen Text: »In short, the plant succession steered the course of history […]. Is history taught in this spirit? It will be, once the concept of land as a community really penetrates our intellectual life« (ebd.: 243). Die Besiedlung des Mississippi Valley hätte, so Leopold, nie so stattgefunden, wenn nicht zufällig das Bluegrass dorthin migriert wäre und der Region ökonomische wie ökologische Sicherheit geboten hätte. Anders als andere, weniger nutzbare Graspflanzen, ist Bluegrass ein nahrhaftes Futter für Vieh. Im zweiten Teil des ALMANAC wird deutlich, dass Leopold einen Paradigmenwechsel von einem anthropozentrischen zu einem holistischen Weltbild vornimmt. Er machte auf die Kurzsichtigkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen aufmerksam, die mittel- und langfristige Konsequenzen für die Umwelt und das Ökosystem völlig außer Acht lassen. Etwa beim Straßenbau in Wisconsin, für die das Marschland trockengelegt und damit den Kranichen die Lebensgrundlage entzogen wurde. Im Herzstück des zweiten Teils, dem schon im Titel programmatischen Essay THINKING LIKE A MOUNTAIN, ging es Leopold vor allem um die Langfristigkeit von Handlungen in einer biotischen Gemeinschaft und um die Rolle, die jeder Organismus in der Gesamtheit des Ökosystems spielt. Wer beispielsweise Wölfe als Raubtiere abschießt, um ein Naturschutzgebiet für den Tourismus sicherer zu machen – wie Leopold es zu Beginn seiner Karriere als Wildlife-Manager auch unhinterfragt tat –, der verursacht die exponentielle Vermehrung des Wilds, das die Gegend dann wiederum kahl frisst und damit Umweltschäden verursacht. Langfristig zu denken

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wie ein Berg, der Generationen überdauert, bedeutete für Leopold, die checks and balances der Natur zu achten und ein auf menschliche Interessen fokussiertes Denken durch ein ökozentrisches zu ersetzen. Diese Idee eines holistischen Naturverständnisses, in dem Mensch und Natur eine biotische Gemeinschaft bilden, entwickelt Leopold dann im letzten Teil des Buches anhand seiner »land ethic«. Leopolds Konzeption von Land sieht den Menschen als Teil der Welt, die er nutzt, und damit in der Verantwortung für seine Mitwelt. Er kritisierte zunächst, dass es bislang keine Definition der Beziehung von Mensch und Natur gäbe, die auf Reziprozität beruhe und in welcher der Mensch die Rolle eines »steward«, also eines Verwalters, mit Verantwortungspflichten gegenüber dem Land einnimmt. Stattdessen beklagte Leopold: »Land, like Odysseus’ slave girls, is still property. The land-relation strictly economic, entailing privileges but not obligations« (ebd.: 238). Im Gegensatz hierzu wollte Leopold die ethischmoralische Verantwortung jedes einzelnen Landbesitzers bzw. jeder einzelnen -besitzerin für die Erhaltung der Natur und deren Ressourcen auf seinem oder ihrem Besitz einfordern. Denn, so Leopold, der Mensch stehe nicht außerhalb oder über der biotischen Landgemeinschaft. Im Verständnis seiner Umweltethik gehören, wie bereits erwähnt, zu dieser biotischen Gemeinschaft neben Mensch, Tier und Pflanzen auch Gewässer und Böden, für die der Mensch als Individuum sowie die Gesellschaft eine Verantwortung tragen (ebd.: 239). Wilderness, so mahnte Leopold abschließend, »is a resource which can shrink but not grow« (ebd.: 278). Während in John Muirs Text die Natur noch in der Tradition der Transzendentalisten überhöht wird, zeigen sich in Leopolds Werk erste Anzeichen des Ecocriticism, wie er sich in den 1970er Jahren dann in Amerika formiert hat. Der SAND COUNTY ALAMANC ist aber dennoch in den klassischen Kanon des amerikanischen Nature Writing einzuordnen, da ein erzählendes Ich eine konkrete Naturbeobachtung beschreibt und dabei die naturkundliche Erfassung mit reflektierenden Elementen verbindet, die bei Leopold weniger persönlich als bei Muir ausfallen, sondern sich mehr auf philosophische Themen einer Umweltethik verlagern.

V OM N ATURE W RITING

ZUM

E COCRITICISM

Auf John Muir und Aldo Leopold folgten zahlreiche weitere Autorinnen und Autoren, die sich in die Tradition des amerikanischen Nature Writing einreihten. Zu nennen sind hier etwa Edward Abbey, Mary Austin oder Annie Dillard, deren Texte zentrale Motive und Verfahren des Nature Writing aufnehmen und ein äußeres Beobachten mit einem inneren Erleben verknüpfen. Mit Gary Snyder und Wendell Berry traten zudem Autoren auf, die in poetischen Texten oder essayistischer Reflexion die Tradition fortsetzten, schreibend unsere Verantwortung für die Natur

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und unser Verhältnis zu ihr zu definieren. Allerdings steht hier weniger die Erkundung des eigenen Selbst im Vordergrund als die Formulierung einer Umweltethik, die bereits auf den Ecocriticism und die aus ihm entsprungene Literatur verweist. Als literaturtheoretischer Ansatz, der sich an Marxist Criticism, Critical Race Studies oder Feminismus anlehnt, sieht der Ecocriticism den Anthropozentrismus und die damit einhergehende Trennung von Natur und Kultur als Grund für die ökologische Krise und untersucht literarische Texte auf deren Repräsentation der Beziehung von Mensch und Natur. Dabei werden Texte aller Jahrhunderte kritisch in den Blick genommen. Zudem haben die im Ecocriticism formulierten Grundannahmen in der zeitgenössischen Prosa der USA einen ganzen Strang von Untergattungen hervorgebracht, die in verschiedenen Narrativen auf ökologische Krisen und Umweltkatastrophen reagieren. Erzählformen der Climate Change Fiction (kurz Cli-fy) oder der Post-apocalyptic Fiction sind nur einige Beispiele dafür, wie die literarische Imagination hypothetische Räume schafft, in denen uns die ansonsten schwer greifbaren Konsequenzen von Umweltzerstörung vor Augen geführt werden. Neben diesen eher dem Science-Fiction Genre oder der Speculative Fiction (Margaret Atwood) verwandten Formen gibt es aber auch realistische Darstellungen aktueller Umweltzerstörung, die etwa Ursachen und Auswirkungen von Klimawandel, Umweltverschmutzung, Genmanipulation oder Artensterben fokussieren und literarisch reflektieren. Eine distinkte Tradition des Nature Writing hat in Amerika seit den 1970er Jahren aber nicht nur aufgrund des ecocritcal writing abgenommen, sondern auch, weil indigene Autorinnen und Autoren zunehmend darauf verwiesen haben, dass klassisches Nature Writing nicht nur die Natur auf eine ganz bestimmte Art und Weise konstruiert – eben als sanctuary oder Refugium –, sondern auch ein vornehmlich weißes und damit erneut distinkt soziales Selbst. Zudem ist das holistische Weltbild, nachdem viele Nature Writer streben und sich sehnen, im Weltbild indigener Völker längst fest verankert.14 In ihrer Aufsatzsammlung FAMILY OF EARTH AND SKY: INDIGENOUS TALES OF NATURE AROUND THE WORLD verweisen John Elder und Hertha Wong zurecht darauf, dass klassisches Nature Writing oft ein Individuum statt eine Gemeinschaft in Beziehung zur Natur setzt: »›Nature writing‹ has conventionally been taken to mean personal, reflective essays in a Thoreauvian mode – a species of nonfiction grounded in the appreciation of contemporary science and at the same time remaining open to the physical creation’s spiritual and emotional significance. The essays in this genre have been powerful vehicles for integrating observation with revelation, and for bridging the rift between the ›two cultures‹ of science and literature.

14 Siehe hierzu auch die Einleitung in Kathleen R. Wallace und Karla Armbrusters Band BEYOND NATURE WRITING (2001).

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But they have also projected the voice of solitary – and sometimes alienated – individuals rather more often than they have emphasized how the human community might be seen as a part of nature«. (Elder/Wong 1996: 3)

Mit der Einsicht in die übergreifenden Zusammenhänge von Umweltzerstörung und Naturschutz hat sich das klassische Nature Writing gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewandelt und stellt sich seitdem mit neuen und weiter ausgefächerten narrativen Formen der neuen globalen Situation.

D ER W ALD DES P ETER W OHLLEBEN : EIN MEDIALES P HÄNOMEN Zu dem Zeitpunkt also, als das Nature Writing in den USA an Bedeutung verloren hat, um Formen zu weichen, die mit einem anderen Selbstverständnis über Natur schreiben, sind in Deutschland die ersten Anzeichen für ein neues Interesse an der Natur und einem neuen Schreiben über Natur auf dem Zeitschriftenmarkt zu bemerken. Im Oktober 2005 wurde er um ein neues Lifestyle-Magazin mit dem Titel LANDLUST bereichert. Das Echo war unerwartet hoch, die Auflage liegt inzwischen bei über 800.000 Exemplaren, obwohl das Format von mehreren Magazinen nachgeahmt wird. Die Zeitschrift entdeckte das Land auf neue Weise: als einen Raum des Rückzugs für gebildete Städter, in dem sie zu sich selbst kommen können und in dem die Nähe zu den vermeintlichen Rhythmen der Natur die eigene Kreativität, die Lust am Dekorativen und den Genuss an gutem Essen befördert. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die LANDLUST-Magazine nicht nur spezifische Imperative für die eigene Lebensgestaltung enthalten und vermitteln, sondern diese Gestaltung zugleich auch konkret beeinflussen (vgl. Baumann 2018: 170-211).15 Im Zuge des Erfolgs hat der deutsche Zeitschriftenmarkt inzwischen nicht nur das Land, sondern auch die Natur entdeckt. Hierfür steht das Magazin WALDEN, das seit 2015 im Verlag Gruner und Jahr erscheint. Wie der Titel signalisiert, ist es nach dem Lebensexperiment von Henry David Thoreau modelliert und wirbt mit Slogans wie »Die Natur will dich zurück« oder »Abenteuer vor der Haustür« (vgl. Rosenthal 2019). Von einem Naturboom lässt sich indes erst sprechen, nachdem sich 2015 ein recht schmucklos gestaltetes Buch mit dem Titel DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME zu einem unerwarteten Bestseller entwickelte. Erschienen ist es im Verlag Ludwig,

15 Die sich daraus ergebenden sozialen Phänomen wurden und werden unter dem Schlagwort der Neuen Ländlichkeit vielfach und durchaus kritisch diskutiert (u.a. Neu 2016 und ebenfalls Baumann 2018).

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der zur großen Verlagsgruppe Random House gehört und sich das Motto gegeben hat: »Sachbücher für das wahre Leben«. Es war nicht das erste Buch des Autors, eines hauptamtlichen Försters. Seit 2007 veröffentlichte er Sachbücher, in denen er sich kritisch mit der gängigen Waldwirtschaft und dem Umweltschutz auseinandersetzt, so in HOLZRAUSCH aus dem Jahr 2008 oder NATURSCHUTZ OHNE NATUR aus dem Jahr 2009. Aber erst DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME übertraf alle Erwartungen: Bis heute wurden über 700 000 Exemplare allein in Deutschland verkauft und das Buch in mehr als 30 Sprachen übersetzt – ein internationaler Bucherfolg. Inzwischen hat Peter Wohlleben weitere Bücher folgen lassen, vor allem DAS SEELENLEBEN DER TIERE (2016) und DAS GEHEIME NETZWERK DER NATUR (2017); im August 2019 ist ein weiteres erschienen: DAS GEHEIME BAND ZWISCHEN MENSCH UND NATUR. Hinzu kommen zwei Bildbände, zwei Kinderbücher, einige stärker als Ratgeber konzipierte Bücher, ein Hörbuch und eine Anfang 2020 in den Kinos gezeigte dokumentarische Verfilmung von DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME, die einerseits die grundlegenden Ideen des Buches vermittelt, andererseits aber auch ein Porträt Peter Wohllebens zeichnet. Im Jahr 2019 kam zudem die erste Ausgabe eines neuen, ganz auf den inzwischen öffentlich bekannten Peter Wohlleben ausgerichteten Personality-Magazins bei Gruner und Jahr heraus: WOHLLEBENS WELT. Es erscheint vier Mal im Jahr und firmiert als »Das Naturmagazin von GEO und Peter Wohlleben«. Der Verlag zeigte sich mit 45.000 verkauften Exemplaren der Startausgabe sehr zufrieden und setzt das Projekt seitdem fort.16 Peter Wohlleben fungiert in diesem Magazin als ChefReporter, trägt pro Ausgabe mehrere Texte bei und bestimmt auch die Auswahl der Themen mit. Das Cover der ersten Nummer rückt den Förster markant ins Bild. Er steht am linken Bildrand unter einem Baum in einem leicht nebligen Wald und blickt beobachtend nach oben. Daneben steht, ganz zentral: »Ein neuer Blick auf die Natur« (Hervorh. im Original). Unterfüttert wird dieses Versprechen mit Themenüberschriften wie »Wenn uns Bäume gesund flüstern« oder »Wie sich eine Wiese anhört«. Im Heft selbst findet sich dann eine Mischung aus persönlichen Berichten, kleinen Reportagen – so, wenn in DAS JAHR MIT SOPHIE eine Forstwirtin von ihrer Freundschaft mit einer Füchsin erzählt – und stärker erklärenden Beiträgen über die Geburt einer Eiche oder über Moose. Das Zentrum bildet dabei immer Peter Wohlleben, der gelegentlich auch in Beiträgen anderer Autorinnen und Autoren zumindest im Bild zu sehen ist. Sein ökologischer Blick dominiert die Berichterstattung, stets bodenständig und ohne jemals in greifbar Ideologisches zu kippen.

16 Die Angaben entstammen der Plattform MEEDIA: https://meedia.de/2019/07/01/grunerjahr-naturmagazin-wohllebens-welt-uebertrifft-zum-start-die-erwartungen/ (12.03.2020).

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Der erste Beitrag im Heft indes ist ein autobiographischer. In WIE ICH WURDE, WER ICH BIN erzählt Wohlleben die wichtigsten Stationen seiner beruflichen Entwicklung und seiner ökologischen Haltung, die sich schon bald nach den ersten desillusionierenden Erfahrungen als traditionell wirtschaftender Förster in der Eifel abgezeichnet habe. Das schloss, wie er schreibt, zu einem bestimmten Zeitpunkt auch ein, seine Beamtenstelle auf Lebenszeit, die er als Staatsbediensteter innehatte, zu kündigen. Danach bot ihm die Stadt Wershofen, zu welcher der von ihm betreute Wald gehörte, an, als Angestellter weiter zu arbeiten und seine ökologischen Vorstellungen umzusetzen. Dazu zähle auch das Schreiben von Büchern. Seine Beobachtungen und sein Wissen, das er bisher vor allem bei Waldführungen weitergegeben hatte, wollte er schließlich auch schriftlich mitteilen. »Es war«, wie er lapidar schreibt und darin jedoch sein Selbstverständnis offen legt, »nichts anderes als die Übersetzung aktueller Forschungen in die Sprache von Nichtwissenschaftlern. Und weil es dazu keine Bücher gab, schrieb ich sie […] selber« (Wohlleben 2019a: 16). Nach dem großen Erfolg von DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME gründete Wohlleben eine Waldakademie, in der er nun sein Wissen weitergibt. Auch engagiert er sich für den Erhalt von Buchenwäldern – der traditionellen Baumart in Deutschland –, die er behutsam in Urwälder zurück zu verwandeln sucht. Mit dem amerikanischen Nature Writing teilen die verschiedenen Arbeiten Peter Wohllebens mehr als man auf den ersten Blick vermuten mag. Das betrifft zum einen die intime Kenntnis des Gegenstands, über den er schreibt. Er hat Forstwissenschaft studiert und als konventioneller Förster zu arbeiten begonnen. Erst durch diese Erfahrungen kam es zu einer Konversion. Durch waldpädagogische Projekte, die er selbst durchgeführt hat – Survivaltrainings, Blockhüttentouren und Waldbestattungen – hat er gelernt, den Wald neu zu sehen – nicht nur mit merkantilem Blick auf das Holz. Nicht zuletzt dadurch ist Wohlleben zu einem überzeugten Vertreter einer ökologischen und nachhaltigen Waldwirtschaft geworden, der Pferde statt schwere Traktoren einsetzt und jeden Kahlschlag vermeidet. John Muir oder Aldo Leopold nicht unähnlich – und das ist eine zweite Parallele zu einigen der amerikanischen Nature Writern – haben die Erfahrungen aus Peter Wohlleben einen konsequenten und aktiven Naturschützer gemacht. Wie Aldo Leopold, dessen Überzeugungen schließlich in das Programm einer Land-Ethik geflossen sind, tritt auch Wohlleben am Beispiel des Waldes für ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur ein und nutzt seine ihm zugewachsene Popularität, um dieses crossmedial zu verbreiten. Damit leistet er, ohne sich von einer Gruppe oder einer Partei vereinnahmen zu lassen, einen wichtigen Beitrag für den heute notwendigen Transformationsprozess zu einem schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen unseres Planeten. Nicht zu unterschätzen ist auch, was Wohlleben zur Akzeptanz von Themen beiträgt, die zur Zeit der ersten Ökologiebewegung in den 1970er Jahren als drogeninduzierte Esoterik auf den Spuren von Carlos Castaneda abgetan

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worden sind, so zum Beispiel Aufmerksamkeit für den diffizilen Klangteppich einer Wiese zu entwickeln. Peter Wohlleben versteht sich als Kommunikator, der möglichst viele Menschen erreichen will. Er möchte, wie er mehrfach in Interviews bekundet hat, seine Beobachtungen und sein Wissen einem breiten Publikum vermitteln, das über keine Vorkenntnisse verfügen muss und setzt deshalb auch immer wieder Vergleiche aus der Lebenswelt seiner Leserinnen und Leser ein, die zugleich illustrieren und emotionalisieren sollen. So überträgt er immer wieder soziale Aspekte metaphorisch auf den Wald. Diese rhetorische Strategie lässt sich bereits an den Überschriften der jeweils vier bis fünf Seiten umfassenden Kapitel in DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME ablesen: »Freundschaften«, »Sozialamt«, »Gemeinsam geht’s besser«, »Sozialer Wohnungsbau«, »Straßenkinder« oder »Burn Out«. Im Kapitel »Sozialer Wohnungsbau« geht es um Vogelarten, die ihre Nester in Baumstämme schlagen: »Den Anfang macht meist ein Bunt- oder Schwarzspecht. Er hackt ein Loch in den Stamm, allerdings nur wenige Zentimeter. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung, die Vögel würden nur in morschen Bäumen bauen, suchen sie sich oft gesunde Exemplare aus. Würden Sie in ein baufälliges Eigenheim einziehen, wenn Sie nebenan einen Neubau errichten dürften?« (Wohlleben 2015: 114)

Hier ist die an den Leser adressierte Anthropomorphisierung so weit getrieben, dass er direkt – narratologisch: in einer Metalepse – angesprochen wird. Wohlleben appelliert an das eigene Verhalten seiner Leserinnen und Leser, worüber er eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen und der Vogelart der Spechte herstellt. Damit vermenschlicht er auf der einen Seite das Verhalten der Bunt- und Schwarzspechte, denen er ein ähnliches Kalkül wie den Menschen unterstellt. Als Kehrseite davon führt Wohlleben damit aber auch seinen Leserinnen und Lesern vor, in welchem Maß ihr eigenes Verhalten – möglicherweise – eine Grundlage in der Natur und sich im Laufe der evolutionsbiologischen Entwicklung herausgebildet haben könnte. Metaphern und Vergleiche schaffen immer eine Schwebe zwischen den darüber verbundenen Elementen; sie lassen ihre Beziehung in einem Moment der poetischen Ungewissheit offen. An anderer Stelle, in denen er das menschliche Gehirn als Metapher nimmt, formuliert Wohlleben vorsichtiger – aber auch das letztlich mit rhetorischem Kalkül: »Zurück zu der Frage, warum die Wurzel der wichtigere Teil ist. Möglicherweise sitzt hier so etwas wie das Gehirn des Baums. Gehirn? Ist das nicht ein wenig zu weit hergeholt? Möglicherweise, doch wenn wir wissen, dass Bäume lernen können, mithin also Erfahrungen abspeichern, dann muss es dafür einen entsprechenden Ort innerhalb des Organismus geben.

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Wo er sich befindet, weiß man nicht, doch die Wurzeln wären zu diesem Zweck am besten geeignet. Zum einen zeigen die alten Fichten in Schweden, dass der unterirdische Teil der dauerhafteste des Baumes ist – wo sonst sollte er langfristig Informationen speichern? Zum anderen zeigt die aktuelle Forschung, dass das zarte Geflecht immer für eine Überraschung gut ist.« (Ebd.: 77)

Hier überträgt Wohlleben nicht nahtlos das menschliche Gehirn auf Bäume. Er räumt das Wagnis, das darin liegt, ein; und er reflektiert auch den spekulativen Charakter des Gedankens. Dann jedoch appelliert er wiederum an seine Leserinnen und Leser, der wahrscheinlichen und naheliegenden Lösung zu trauen und verweist darüber auf die Wissenschaft. Im Weiteren werden dann nur noch Hinweise gegeben, die diese Ansicht unterstützen. Die am Anfang geäußerten Zweifel haben sich am Ende des Kapitels für die Leser aufgelöst. Fortan gilt die Annahme, Bäume verfügten in ihren Wurzeln über gehirnähnliche Strukturen, als gesetzt.17 Umgekehrt jedoch wird auch hier wieder – über das Gehirn – eine Gemeinsamkeit von Bäumen und Menschen gestiftet, wird die Lernfähigkeit als ein tief in der Natur liegendes Vermögen gesehen, zu dem alle Lebewesen fähig sind und das nur graduell unterschiedlich zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen ausgebildet ist. Der sich selbst zugesprochene Sonderstatus als animal rationale, als ein Wesen von Vernunft und Bewusstsein, ist vor der Einsicht, dass auch Bäume ein Gehirn besitzen, nicht länger aufrecht zu erhalten. Peter Wohllebens Bücher und das auf ihn zugeschnittene Personality-Magazin zielen auf eine populäre, z.T. auch populärwissenschaftliche Vermittlung des heutigen Wissens über Bäume und den Wald. Sie inszenieren dabei einen ›neuen Blick‹ auf ihren Gegenstand und engagieren sich für neues, die Gemeinsamkeit betonendes und die Notwendigkeit der Schonung hervorhebendes Verhältnis der Menschen zu ihm. Dabei beruht die Darstellung auf einem intimen Wissen seines Autors, der dieses zudem zurückgebunden an seine Person und sein Erleben weitergibt. Wie bei Aldo Leopold reicht diese Rückbindung jedoch nicht – oder nur an wenigen Stellen – ins Persönlich-Autobiographische, sondern mündet in politisches Engagement.

17 Das zeigt sich etwa auch im Kapitel »Straßenkinder«, in dem es über Bäume in der Stadt geht, die entlang von Straßen gepflanzt sind. In Baumschulen werden sie vorbereitet, indem ihnen jährlich die Wurzeln und die Krone beschnitten werden. Wohlleben führt dazu aus – und fällt bei dem Versuch, kurzfristig die Perspektive der Bäume einzunehmen, in eine Kindersprache: »Das dient nicht etwa der Gesundheit des Bäumchens, sondern lediglich der leichteren Handhabung. Beim Rückschnitt werden leider auch die gehirnähnlichen Strukturen zusammen mit den empfindlichen Wurzelspitzen abgeschnitten – aua!« (Wohlleben 2015: 155f.)

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Vor der Folie des amerikanischen Nature Writings zeigen sich also eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Ein Element jedoch, das für diese Tradition konstitutiv ist, fehlt bei Wohlleben: die selbstreflexive Befragung des eigenen Verhältnisses zur Natur, die Suche nach dem autobiographischen Sediment, die zugleich eine stärker literarische Schreibweise erfordern würde. In der medialen Vermarktung des Waldes von Peter Wohlleben erscheint dieses nur vermeintlich als PersonalityElement, das gerade nicht der Person Peter Wohllebens gilt, sondern ein öffentlichkeitswirksames Image von ihm entwirft – die persona bzw. soziale Rolle des »bekanntesten« und »beliebtesten« Försters Deutschlands. Letztlich greifen in seinem Schreiben die Normen und Konventionen des naturkundlichen Sachbuchs. Die Sache steht im Mittelpunkt, nicht der Autor. Das gilt auch gerade dann, wenn Wohlleben über ein neues Verhältnis zur Natur schreibt und über das »geheime Band«, das uns Menschen mit der Natur verbinde. Es geht nicht um sein persönliches Verhältnis, sondern um ein allgemeines, das alle entwickeln können.

D IE

JOURNALISTISCHE P RÄGUNG DES NEUEN ÜBER N ATUR IN D EUTSCHLAND

S CHEIBENS

Die Konventionen des Sachbuchs zeigen sich in anderer Gestalt auch in der Reihe NATURKUNDEN, vornehmlich in jenen Büchern, die eigens dafür neu geschrieben werden. Es handelt sich dabei vor allem um die im Kleinoktav-Format gestalteten, jeweils mit eindrücklichen, zumeist historischen Abbildungen versehenen Porträts von einzelnen Tier- und Pflanzenarten, seien sie nun den Fliegen, Krähen, Schnecken, Schmetterlingen oder Wölfen gewidmet, den Nelken, Brennnesseln oder Algen. Sie eröffnen einen vorrangig kulturgeschichtlichen Zugang zu ihrem porträtierten Naturphänomen und richten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Spuren, die diese in der Kulturgeschichte, also in Kunst, Literatur und Philosophie, aber auch in Märchen oder im bäuerlichen Handwerk hinterlassen haben.18 Der überwiegende Teil der Autorinnen und Autoren dieser Bücher stammt aus dem Journalismus, ist manchmal naturwissenschaftlich gebildet und deshalb auch, aber nicht ausschließlich, in der journalistischen Berichterstattung über NaturThemen engagiert. Diese Beobachtung gilt auch über die Reihe NATURKUNDEN hinaus für eine Vielzahl neuer Publikationen über Natur in Deutschland. In dieser

18 Eine Ausnahme bildet darunter der Band SCHMETTERLINGE (2016) von Andrea Grill. Sie wählt ihre eigene Karriere als Schmetterlingsforscherin zur Basiserzählung. Dabei findet sie auch immer wieder den Mut zum szenischen Erzählen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Autorin in Biologie promoviert worden ist und auch weiterhin wissenschaftliche Lehraufträge wahrnimmt, zugleich aber auch als Schriftstellerin tätig ist.

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journalistischen Prägung des neuen deutschsprachigen Schreibens über Natur liegen, wiederum vor der Vergleichsfolie des amerikanischen Nature Writing, Vorund Nachteile gleichermaßen. Autorinnen und Autoren, die auch im Journalismus tätig sind – das gereicht ihnen zum Vorteil –, partizipieren an der konstitutiven »Neugier auf die Welt«, die im Journalismus kultiviert wird und zu der spezifische, zu erlernende, professionelle Recherche-Praktiken ausgebildet worden sind. Allerdings hat sich in Deutschland – und das ist ihr Nachteil –, ein auf literarische Darstellungsmittel zurückgreifender Journalismus wie in den USA der New Journalism in den 1960ern oder die Creative Nonfiction seit den 1990er Jahren nicht durchsetzen können (vgl. Braun 2018). Deshalb sind die aus dem Journalismus kommenden Verfasserinnen und Verfasser der NATURKUNDEN-Porträts und anderer Bücher über Natur strukturell, man könnte sagen: von innen her, limitiert. Sie bewegen sich – in handwerklich hoher Qualität – innerhalb der Grenzen des journalistischen Schreibens; eigenwillige Ausbrüche daraus oder ästhetisch kalkulierte Brüche damit, die vielleicht ein neues, intensiviertes Sehen auslösen könnten, finden sich nicht. Vereinzelt begegnet man jedoch Passagen, in denen sich eine Sehnsucht nach einer anderen Schreibweise ausdrückt. Eine solche Passage bilden beispielsweis die letzten Sätze im Porträt der BRENNNESSELN von Ludwig Fischer.19 Sie lauten: »Sie [die Brennnessel, P.B.] kann noch mehr sein als eine Heilerin, Ernährerin, Faserlieferantin, Gartenhelferin, ökologische Verbündete – wenn wir sie noch besser verstehen lernen, wenn wir uns noch aufmerksamer ihr nähern, könnte sie auch unsere Lehrmeisterin für ein gewandeltes Naturverständnis werden.« (Fischer 2017: 144)

An diesem Punkt, so der Eindruck, der sich vermittelt, könnte ein anderes Schreiben über Natur beginnen – ein Schreiben, das aus dem System Journalismus ausbricht und ästhetisch kalkuliert andere Wege einschlägt.

19 Bezeichnenderweise ist auch Ludwig Fischer kein Journalist, sondern studierter Biologe, Literaturwissenschaftlicher und Autor. In seinem Buch NATUR IM SINN schiebt er zwischen seine Abhandlungen zu den 33 Thesen auch eigene, »Exerzitien« genannte Versuche im Nature Writing (vgl. auch Fußnote 1).

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U NTERWEGS

ZU EINEM DEUTSCHEN

N ATURE W RITING ?

Erste Beispiele dafür lassen sich auch bereits erkennen. Zu ihnen zählen MEIN SCHMETTERLINGSJAHR. EIN REISEBERICHT des Journalisten und Schriftstellers Peter Henning und FEDERNLESEN. VOM GLÜCK, VÖGEL ZU BEOBACHTEN der Journalistin Johanna Romberg, jeweils 2018 veröffentlicht. Beide Bücher beruhen ebenfalls auf einem journalistischen Schreiben. Romberg und Henning greifen dabei vor allem auf die Formmöglichkeiten der Reportage zurück, übersteigen diese jedoch, indem sie den Lauf ihrer Erkundungen immer wieder durch autobiographische Erinnerungen unterbrechen. Zudem bekennen sich Autorin und Autor zu einer für sie selbst schwer zu fassenden und zu beschreibenden Passion für Schmetterlinge bzw. Vögel, die in die Kindheit zurückreicht. So beginnen beide ihre Bücher mit einem populären Bestimmungsbuch, das ihre Leidenschaft in frühen Jahren, jeweils angeleitet durch die Eltern, bzw. bei Henning den polnischen Ziehvater, geweckt hat. Henning berichtet in seinem Buch von einer neunmonatigen Reise, die ihn quer durch Europa – beginnend auf der Insel Samos, über Kroatien und die Toskana, in die Alpen und bis zur Sierra de Guardarrama in Spanien – führt, um seltene Schmetterlinge zu beobachten. Denn wer Schmetterlinge wirklich erkunden will, schreibt Henning, darf sich nicht auf die wenigen Tagfalter am heimischen Ort beschränken, sondern muss sie am Ort und in der Jahreszeit ihres Vorkommens aufsuchen. Immer wieder spannt er nachts ein weißes Laken auf und bescheint es mit LED-Leuchten, um die große Zahl der nachtaktiven Schmetterlinge anzulocken. Manchmal wird er dabei von einem Freund oder Bekannten begleitet, so dass sich auch die Perspektiven anderer Figuren auf die Schmetterlinge eröffnen. Sich selbst beschreibt er in Abgrenzung zu einem Wissenschaftler, der einer strengen Systematik verpflichtet ist, als einen, der von »der freien, ungezwungenen und oft ekstatischen Leidenschaft eines in die Formen-, Farben- und Wesensvielfalt vernarrten Beobachters und Geschichtenerzählers« angetrieben werde (Henning 2018: 10). Immer wieder schieben sich in den Bericht Erinnerungen an frühere Schmetterlingsreisen. Oftmals sucht der Autor Orte auf, die er bereits kennt – meistens von Reisen, die er als Jugendlicher mit Viktor unternommen hat, seinem unkonventionellen Ziehvater aus Polen, der ihm die eigene Passion für Schmetterlinge weitergegeben hat. Mit ihm hat der Autor Schmetterlinge gejagt, präpariert, in Schaukästen gesammelt und gezüchtet. Doch diese klassischen Techniken, die auf eine Dauer zielen, hat der Autor inzwischen aufgegeben. Im Gegensatz dazu stehen die nun wichtigen, ephemeren Momente des Beobachtens und der Begegnung mit Schmetterlingen, die allenfalls noch fotografiert werden. Ihnen eignet stets etwas Flüchtiges, das nur einen Moment währt. Einmal ist es eine Windböe, die den beobachteten Schmetterling plötzlich davonträgt, ein anderes Mal die eigene Unvorsichtigkeit, so etwa, wenn der Autor im Norden Italiens dem »Großen Fuchs« begegnet:

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»Vorsichtig nähere ich mich dem Falter in der Hoffnung, er möge mir einen Blick aus nächster Nähe auf seine geschlossenen, steil aufragenden Flügel gönnen. Müde von dem aufregenden Balzflug krabbelt er ein Stück an der schroffen Borke hinauf, aus dem Schatten hinein in einen kleinen Lichtkreis, um in der Sonne auszuruhen. Der Falter öffnet ganz langsam seine Flügel, die an den äußeren Rändern gezackt sind. Ungehindert vom Licht angestrahlt entfaltet ihr warmer, brauner Grundton seine ganze Wirkung. Ich verharre reglos und genieße den außergewöhnlichen Augenblick […]. Gebannt lasse ich mich von den erlebten Wonnen einschläfern, bis ich für eine Sekunde dem eigenen Körpergewicht nachgebe, es überraschend trocken knackt, weil ich auf einen am Boden liegenden Ast getreten bin, und der Falter sich erschrocken aufschwingt und davonflattert.« (Ebd.: 130f.)

Auch für Johanna Romberg ist das Beobachten – in ihrem Fall von Vögeln – zu einer »Lebensfrage« geworden (Romberg 2018: 12), wie sie in ihrem Buch FEDERNLESEN beschreibt. Denn auch sie treibt eine Passion für Vögel um, die in ihrer Kindheit gelegt worden ist; wenngleich sie nicht von Anfang an zündete, sondern erst langsam gewachsen ist. Zudem grenzt sich Romberg ebenfalls von einem wissenschaftlichen Zugang ab und bekennt: »Ich habe Vögel eigentlich immer nur zum Vergnügen betrachtet und belauscht – zweckfrei, ohne wissenschaftlichen Anspruch, auch ohne den Ehrgeiz, besonders viele, seltene Arten zu sammeln.« (Ebd.: 13) So folgt Rombergs Buch chronologisch einer Beobachtungssaison vom späten Winter bis in den Herbst, ist aber im Vergleich zu Hennig loser miteinander verknüpft. Jedes der zwölf Kapitel ist einer Vogelart und den Geschichten gewidmet, die sie mit ihr verbindet. Das Buch reflektiert aber nicht nur die individuellen Erfahrungen eines nun über fünf Jahrzehnte währenden Vogelbeobachterinnenlebens. Es erkundet und reflektiert in journalistischer Manier ebenso ausführlich die gesellschaftliche und umweltpolitische Situation. So erhalten die autobiographischen Passagen ein Gegengewicht durch Passagen im Stil einer Reportage. Beispielsweise besucht die Autorin in Münster einen Experten in der Zählung – oder wie die Ornithologen sagen: in der Kartierung – von Vögeln und lässt sich von ihm in die neuesten Methoden, die u.a. mit GPS-Sendern arbeiten, einweisen. Auch erklärt er ihr die alarmierenden Ergebnisse des Rückgangs der Arten und Populationen in ganz Europa. Einen Professor für Verhaltensforschung an der Universität Bielefeld indes wählt die Autorin als Gesprächspartner, um mit ihm den Konflikt zwischen Energiewende und Vogelschutz zu diskutieren. Der Wissenschaftler hat an der ersten Studie mitgearbeitet, die über mehrere Jahre die Kollisionsrate von Vögeln mit Windenergieanlagen untersuchte und Hochrechnungen dazu vorlegte. Ein ganzes Kapitel ist schließlich den VOGELTAGEN auf Helgoland gewidmet, die jedes Jahr im Oktober stattfinden. Doch statt die Zugvögel zu beobachten, verschiebt sich der Blick der Autorin mehr und mehr auf die Schar der Zugvögel-Beobachter – allesamt »optisch hochgerüstet« mit Spektiv und der neuesten Version des I-PAD

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sowie eingebunden in WhatsApp-Gruppen, die in Sekundenschnelle den Beobachtungsort einer seltenen Art weitergeben, woraufhin sich jeweils ein Pulk von Birdern in Bewegung setzt (vgl. ebd.: 253). Doch bei aller Kritik am Phänomen des Birdings – wie der aktuelle Boom des Vogelbeobachtens genannt wird – und bei aller immer wieder geäußerten, tiefen Sorge um den enormen, weltweiten Rückgang des Vogelbestands, besteht das »Glück« des Beobachtens von Vögeln, von dem Romberg erzählt, in einem wiederum flüchtigen Moment der Absichtslosigkeit. Es übersteigt den analytischen Blick, der Vögel erkennt und ihr Verhalten erforscht, hin zu einem tieferen, körperlichsinnlichen Wahrnehmen der Vögel, ein Sich-Öffnen auf ihren Flug, ihren Gesang, ihre Schönheit, ohne etwas davon festhalten zu wollen. Schon im ersten Kapitel führt Romberg dazu als Gewährsmann den amerikanischen Ornithologen Donald Kroodsma an, einen Experten für vocal behavior, also dem Stimmverhalten der Vögel. Er hat eine Methode des Zuhörens entwickelt, die er deep listening – tiefes Zuhören – nennt. Die Autorin referiert Kroodsma: »Man solle, sagt er, nicht versuchen, einen Vogel nur zu identifizieren, sondern sich vielmehr mit ihm identifizieren. Ihn als Individuum wahrnehmen, nicht nur als Vertreter einer bestimmten Spezies. Sich so lange und intensiv in ihn hineinhorchen, bis einem sein gesamtes Lautrepertoire vertraut ist, seine besondere Art sich auszudrücken – einschließlich der persönlichen Nuancen und Varianten.« (Ebd.: 30)

Die intensiven Begegnungen, wie sie Peter Hennig mit Schmetterlingen und Johanna Romberg mit Vögeln beschreiben, besitzen eine spezifische Erfahrungsqualität, für die Romberg am Ende ihres Buches auch den Begriff der »Kontemplation« verwendet (vgl. ebd.: 267). Der Beobachtende legt für einen geschenkten Moment alle Absichten ab und verschmilzt mit dem Beobachteten – bis es sich wieder entzieht. Eine solche Wahrnehmung besitzt selbst etwas Wildes – oder vor der Folie des Nature Writing: von wildness –, da sie letztlich auf einer Unverfügbarkeit für den wahrnehmenden Menschen beruht.20 Diese Unverfügbarkeit bewahrt schließlich solche Erfahrungen zudem davor, als festes Element in eine kulturelle Konstruktion der Natur eingebunden zu werden.

20 Der Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem jüngsten Buch aufgezeigt, wie gerade Erfahrungen der Unverfügbarkeit in der Moderne, die ganz auf Kontrolle und Verfügbarkeit gründet, ein anderes Weltverhältnis ermöglichen – im Sinne Rosas ein Verhältnis der Resonanz (vgl. Rosa 2018).

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R ESÜMEE Die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, die heute über Natur schreiben und sie mit Hilfe der Sprache erkunden und zugleich damit eine neue Aufmerksamkeit und ein sich wandelndes Naturverständnis vermitteln wollen, können auf keine vergleichbare Tradition wie das Nature Writing in den USA zurückgreifen. Sie unternehmen ihre Versuche ohne role models in der eigenen Literaturgeschichte – und damit auch ohne ein etabliertes Formenreservoir, geschweige denn entsprechende im Literatursystem etablierte Produktions- und Rezeptionswege. So rekrutieren sich jene Autoren auch weniger aus der Literatur, sondern vielmehr aus dem Journalismus oder der Wissenschaft. Das amerikanische Nature Writing formierte sich zudem bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bezog sich in hohem Maße auf das Erstarken der neuen, jungen amerikanischen Nation, die sich über ihre Natur(imaginationen) kulturell von der alten Welt Europas absetzte. So wanderte die Natur als eines der zentralen Elemente in die kulturelle Imagination und bereitete damit den Boden für eine Vielzahl von künstlerischen Arbeiten – oftmals ästhetisch anspruchsvollen und reflektierten Werken nicht nur in der Literatur, sondern auch in allen anderen Künsten. Bis heute bildet der Rückzug in die Natur, um sich dort zu erneuern und zu den alten Werten zurück zu kehren, ein beliebtes und immer wieder aufgenommenes Motiv in der amerikanischen Populärkultur, das von seiner Wirksamkeit bis heute nichts verloren hat. Das aktuelle deutschsprachige Schreiben ereignet sich zu einem ganz anderen historischen Zeitpunkt, zu dem die Natur nicht mehr ungebrochen als Refugium einer potentiellen Erneuerung wahrgenommen werden kann. Vielmehr ist sie von Artenrückgang und dem Verlust ihrer Diversität gezeichnet und durch Erderwärmung und Klimawandel bedroht – eine Einsicht, die sich immer mehr verbreitet, unabhängig davon, in welchem Maß sie der Einzelne an sich heranlässt. Insofern ist es durchaus folgerichtig, dass der Journalismus dieses Thema als gesellschaftlich relevant entdeckt und sich ihm mit seinen Praktiken und in seinen Stilmöglichkeiten angenommen hat. Offensichtlich jedoch stößt der Journalismus bei dem Thema Natur immer wieder an die Grenzen seiner etablierten Formen. Aus dieser Reibung bezieht das neue Schreiben über Natur seine Energie. Im deutschsprachigen Journalismus selbst hat dies zu einem der interessantesten Experimente in der jüngeren Geschichte geführt – den RIFFREPORTERN, einer online-Plattform, für die sich inzwischen ca. 100 Journalistinnen und Journalisten zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen haben, um in kleinen Gruppen spezielle Themenbereiche zu Umweltschutz, Klimawandel und Natur zu bearbeiten. So gibt es beispielsweise Digitalmagazine wie ANTHROPOSCENE, FLUGBEGLEITER (Thema: Vögel), FLUSSREPORTER, KLIMA-

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SOCIAL oder WALDREPORTER.21 Wer die Magazine lesen will, kann entweder einzelne von ihnen abonnieren oder eine Flatrate für alle erwerben. Das Thema Natur drängt aber auch auf längere Formen und damit auf den Buchmarkt. Hierbei entwickeln sich neue Erzählweisen, die mit den etablierten Konventionen und Normen des Sachbuchs brechen. Durch die inzwischen aktive Rezeption der Tradition des amerikanischen Nature Writing modellieren sich manche Beispiele danach, nähern sich im Vergleich ihrem Gegenstand aber dennoch mit größerer Nüchternheit an – auch, um sich nicht ideologisch oder politisch vereinnahmen zu lassen. Interessante Formexperimente entstehen vor allem da, wo die Autorinnen und Autoren die Grenzen der journalistischen zu literarischen Verfahren übersteigen. Um nicht nur von der Natur, sondern auch von ihrer Beziehung zur Natur zu erzählen, nehmen sie beispielsweise Elemente des autobiographischen Schreibens auf oder bedienen sich auch narrativer Mittel wie Figurenperspektive und Dialog. Auf diese Weise gelingt es zugleich, den Schilderungen eine persönliche Färbung zu geben, in die Qualitäten der Faszination und der Passion miteinfließen. Auch wenn viele Leser die jeweiligen Leidenschaften nicht im gleichen Maße teilen, so bilden diese doch in zugespitzter Ausprägung Identifikationsmöglichkeiten, die durch die Lektüre geweckt oder verstärkt werden können. So besehen besitzt das neue deutschsprachige Schreiben über Natur ein Potential, die kulturell entworfenen Imaginationen von Natur zu verändern. Indem es dem amerikanischen Nature Writing darin folgt, nicht nur Phänomene der Natur, sondern auch das eigene Verhältnis zu ihnen zu erforschen und in der sprachlichen Darstellung zum Ausdruck zu bringen, kann es und wird es an einem neuen Verständnis (mit)arbeiten, das Natur nicht lediglich entlegen hinter Dörfern in ruralen Regionen, sondern als uns umgebend begreift – als Mitwelt statt Umwelt und wir selbst ein Teil davon.

L ITERATUR Baumann, Christoph (2018): Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust, Bielefeld: transcript. Branch, Michael P. (2004): »John Muir’s My First Summer in the Sierra (1911)«, in: ISLE 11:1, S. 139-152. Braun, Peter (2018): »›You can’t make this stuff up – Das kannst Du Dir nicht ausdenken‹. Creative Nonfiction als Spielart realistischen Erzählens«, in: Carsten

21 Vgl. https://www.riffreporter.de/projekte-korallen-im-ueberblick (18.05.2020).

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Schulz, Dieter (2008): »Thoreaus Natural History Essays, oder: Was uns ›Huckleberries‹ zu sagen haben«, in: Hubert Zapf (Hg.), Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft, Heidelberg: Winter, S. 155-173. Thoreau, Henry David (2012): Walden, in: The Portable Thoreau. Edited with an Introduction by Jeffrey S. Cramer, New York: Penguin, S. 197-457. – (2012): »Walking«, in: The Portable Thoreau. Edited with an Introduction by Jeffrey S. Cramer, New York: Penguin, S. 557-590. Wallace, Kathleen R./Karla Armbruster (2001): »Introduction: Why Go Beyond Nature Writing and Where to?« in: Karla Armbruster/Kathleen R. Wallace (Hg.), Beyond Nature Writing: Expanding Boundaries of Ecocriticism, Charlottesville: University Press of Virginia, S. 1-25. Wohlleben, Peter (2015): Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt, München: Ludwig. – (2019a): Wohllebens Welt, Ausgabe 1/April 2019, Hamburg: Gruner und Jahr. – (2019b): Wohllebens Welt, Ausgabe 2/Juli 2019, Hamburg: Gruner und Jahr.

Rural Criticism Oder: Welche Erzählungen über das Drama des ländlichen Raums brauchen wir dringend? Ein Plädoyer B ARBARA P IATTI , T HOMAS S TREIFENEDER »Unser heutiges Problem scheint darin zu bestehen, dass wir nicht nur für die Zukunft, sondern auch für das ganz konkrete ›Jetzt‹, für die rasend schnellen Veränderungen der Welt, noch keine passenden Erzählformen haben. Es fehlt uns die Sprache, es fehlen Sichtweisen, Metaphern, Mythen und neue Märchen.« OLGA TOKARCZUK: DER LIEBEVOLLE ERZÄHLER (2020)

K ENNTNISREICHES R URAL W RITING Der ländliche Raum wird nicht erst seit gestern zubetoniert, ausgeräumt, monokultiviert. Energie- oder agroindustrielle Landschaften haben alte Kulturlandschaften abgelöst. Vieles stößt dort schon längst an seine ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen. Und nimmt durch den Klimawandel noch mal richtig an Fahrt auf. Das Anthropozän, das entstand also auch bei uns, auf dem europäischen Land. Doch wer kann davon erzählen? Was wir brauchen, ist eine neue Literatur der Ländlichkeit und Dörflichkeit, ein neues Rural Writing1: Kenntnisreiche Texte voller Atmosphäre, die uns in die

1

Zum Begriff: Jüngst ist ein Sammelband unter dem Titel RURAL WRITING. GEOGRAPHICAL IMAGINARY AND EXPRESSION OF A NEW REGIONALITY

(Fournier 2018) erschienen.

Und im englischen Lake District wurde vor einigen Jahren das Rural Writing Institute

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dramatischen Entwicklungen auf dem Land, in den Dörfern eintauchen lassen – wozu auch der enorme, zunehmende finanzielle und psychische Druck gehört, dem die Landwirte und Landwirtinnen ausgesetzt sind. Gerade die Literatur könnte bewegende Stories über diese Umwälzungen bringen. Sie könnte detaillierte Einblicke ermöglichen, um ein besseres Verständnis dessen zu fördern, was in diesen oft marginalisierten Gebieten vor sich geht. Doch trotz des vielfach konstatierten und auch schon umfassend untersuchten Booms der neuen Land- und Dorfromane (bei dem vorerst kein Ende abzusehen ist) fällt auf: Nicht wenige Texte scheitern daran, ein facettenreiches, adäquates Bild dieser ländlich-dörflichen Welt im Umbruch zu zeichnen. Was aus unserer Sicht gelungene literarische Darstellungen von weniger gelungenen unterscheidet, das versuchen wir in diesem Beitrag an Beispielen aus der Gegenwartsliteratur aufzuzeigen. Unsere Analysen verorten wir an der interdisziplinären Schnittstelle von Geographie und Literaturwissenschaft. Dabei kristallisiert sich ein Ansatz heraus, den wir unter anderem in Anlehnung an den Ecocriticism spezifischer als Rural Criticism bezeichnen.2

D ER LÄNDLICHE R AUM

ALS I DENTITÄTSTRÄGER

Das 21. Jahrhundert ist das große Zeitalter der Städte, der Metropolen und Megacities. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn das ›Hinterland‹, die ländlichen Regionen sind nach wie vor prägend für das kulturelle Selbstverständnis, die Identität ganzer Nationen, auch für unser Umweltbewusstsein – und sie bergen plötzlich wieder ungeheure politische und ökologische Sprengkraft, wo man sie gar nicht mehr vermutet hätte. Gelbwesten und Traktorsternfahrten stehen für die Empörung der Landbevölkerung. Denn das Land denkt, wählt und tickt ganz anders als die Stadt. Und nicht nur das: Rem Koolhaas’ jüngst eröffnete Guggenheim-Ausstellung COUNTRYSIDE. THE FUTURE (2020) in New York macht klar: im ländlichen Raum entscheidet sich unsere Zukunft. Die Berufs- und Lebenswelten der Bauernfamilien, die durch menschliche Anstrengungen geformten und gepflegten Kulturlandschaften: Sie waren neben ihrer offensichtlichen Ernährungsfunktion über Jahrhunderte hinweg der Spiegel, der Sehnsuchtsort, der Bild- und Geschichtenspeicher der Städte. Was wäre der

gegründet, »an immersive and nurturing retreat gathering seasoned teachers, best-selling authors, and inspiring speakers for workshops, discussions, and fieldwork with the aim to encourage diverse perspectives of 21st-century rural life« (so die Beschreibung auf der Website: https://www.kathrynaalto.com/writing/rural-writing-institute/). 2

Für Leseempfehlungen und weitere Informationen siehe auch: www.rural-criticism.eu

R URAL C RITICISM . E IN P LÄDOYER | 201

Norden Deutschlands ohne seine Deich-, Küsten- und Insellandschaften? Was die Alpenländer ohne Almwiesen am Fuß der Schneeberge, ohne Hochtäler und Passübergänge? Was der mediterrane Raum ohne Weinberge und Olivenhaine? Überall, in all diesen tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägten ›LandIdyllen‹, erleben wir zurzeit dramatische Umbrüche, von den Folgen des Klimawandels zusätzlich beschleunigt und verschärft, sichtbar etwa an den Beispielen Landnutzungsänderungen und Habitatverluste mit immer schneller schwindender Artenvielfalt. Da sind die finanziell gebeutelten Landgemeinden, die ihre Ländlichkeit Discounter-Gewerbezonen geopfert haben. Da sind von Abwanderung, Vereinsamung und Leerstand gezeichnete, ja entvölkerte Regionen, inmitten von Monokulturen und Energielandschaften. Das von sehr heterogenen Typen ländlicher Räume geprägte Land verschwindet in vielen Gebieten als Wirtschafts- und Lebensraum, es wird geprägt von unwirtlichen Zwischenstädten (Bätzing 2020). Oder ist vielleicht eher von hybriden rurbanen Landschaften zu sprechen? Trotz dieser Umwälzungen im Zuge der Spätmoderne, die auch und gerade das Land betreffen, erweisen sich die »Erfahrungen, Imaginationen und Konzeptionen dörflichen Lebens ebenso wie das ›Dorf im Kopf‹ als erstaunlich widerstandsfähige und zugleich flexible Bezugspunkte« (Nell/Weiland 2019a: VII). Gerade vor dem Hintergrund der klassischen Narrative und Stereotypen einer überschaubaren Dörflichkeit (vgl. ebd.) bleibt selbst dieses schwindende Land für viele ein attraktiver Platz, um sich zurückzuziehen aus einer Welt mit viel zu hohem Tempo. Noch immer gilt ›das Land‹ aus städtischer Sicht als Idylle und Sinnbild hoher Lebensqualität mit nachbarschaftlichen Beziehungen und scheinbar unberührter Natur ums Eck. Deshalb kamen und kommen Städter, verstärkt seit den 1980er Jahren, von dieser Sehnsucht getrieben. »Néoruraux«, »New Highlanders« und »Landpioniere« lassen sich nieder, um alternative Ideen zu realisieren, und sorgen mit ihren Vorhaben – innovativ, rentabel, markttauglich! – für Gesprächsstoff am Stammtisch. ›Modernisierte‹ Vorstellungen bauen auf den ›Assets‹ des Dörflichen auf, formen und gestalten es mit und um (vgl. ebd.). Dabei entstehen nicht selten Konflikte, schwelend, brodelnd. Mancherorts sind sie schon offen ausgebrochen, gewinnen an Schärfe und werden zum gesellschaftlichen Zündstoff. Und schon sind wir mitten drin in der Anti-Idylle. Das Dorf, das Land, kann zwar die Erfüllung bringen, aber ebenso oft auch die Hölle sein oder zu ihr werden. Wer kann »Stories« über diese gewaltigen Umwälzungen, Konflikte und Spannungen erzählen, die ein Nach- oder besser noch Umdenken bewirken? Uns aufrütteln? Die uns vermitteln, dass vieles, was passiert ist, gerade passiert oder noch passieren wird, irreversibel ist? Gibt es diese Geschichten bereits oder warten wir noch auf (anspruchsvolle) Erzählungen, die sich den ländlichen Gebieten und ihrer unwiderruflichen Veränderung widmen?

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D AS VERFORMTE L AND : E INE ERZÄHLERISCHE H ERAUSFORDERUNG Nicht die Quantität ist das Problem, das zeigt sich schnell: Es gibt eine enorme Fülle an Gegenwartsliteratur zum Thema Ländlichkeit, mühelos zu finden unter Schlagwörtern wie »der neue Dorfroman«, »Neo-Dorfroman«, »neue Heimatliteratur« oder aber wahlweise »Anti-Dorfroman«, »Anti-Heimatliteratur« etc. Doch das Themenspektrum ›neue Ländlichkeit‹ ist komplex – seine literarische Gestaltung scheint eine Herausforderung zu sein. Warum? Weil hinter jeder Stalltür und in jeder Bauernstube Klischees lauern – ein ganzes Set von vorgefertigten Vorstellungen, das sich Schreibende und Lesende aus dem städtischen Umfeld teilen? Weil eben zur Zeit alles im Umbruch ist und weil man sehr viel wissen und verstehen muss, um von diesen Transformationen überzeugend erzählen zu können? Weil es um jeden Preis zu vermeiden gilt, in kitschig-nostalgischen Rückblicken auf die Welt von gestern zu schwelgen oder heutigen Stadt-Land-Stereotypen zu verfallen? Oder vielleicht auch einfach, weil der deutschsprachige Dorfroman, der manchmal auch als Bauern-, Regional- oder Heimatroman bezeichnet wird (oder mit diesen überlappt), eine über weite Strecken konservative, modernekritische Tradition hat, von seiner Popularität im Nationalsozialismus ganz zu schweigen? Und es aus all diesen Gründen alles andere als leicht ist, ihn für unsere Gegenwart angemessen zu aktualisieren? »Man schreibt nicht ungestraft einen Bauernroman«, bemerkt der Kritiker Karl Wagner (2016) dazu lakonisch. Das literaturgeschichtliche Terrain, auf dem sich die Autoren und Autorinnen bewegen, ist eines voller Tücken. Und jenes, über das sie schreiben, voller Narben. In diesem Beitrag suchen wir nach überzeugenden literarischen Erzählungen über den ländlichen Raum, wie wir ihn heute weitestgehend wahrnehmen: als verschwindende, überformte, stellenweise sogar geschundene Restgröße der urbanen Entscheidungszentren. Wie es dazu gekommen ist, was künftig werden wird – hat die Literatur dazu etwas Neues zu sagen? Das wäre in erster Linie wichtig für alle Städter und Städterinnen, deren Wissen ›über das Land‹ eher ab- als zunimmt. Ein Detail in diesem Zusammenhang, aber ein sprechendes: Noch bis vor zwei bis drei Generationen kannten die allermeisten Menschen in der Stadt persönlich jemanden ›vom Land‹, Familie, Bekannte, Verwandte. Das ist heute – trotz aller Landflucht – nicht mehr der Fall, die Verbindungen werden schwächer, der Austausch ergibt sich nicht von selber. Werden die Veränderungen auf dem Land in den Städten, der Hauptmarkt für Literatur, also überhaupt bewusst wahrgenommen oder lediglich indifferent registriert? Wir suchen also nach einem Rural Writing auf der Höhe der Zeit, nach Landund Dorfromanen, Dorfgeschichten, Erzählungen, in denen es sowohl um den Naturraum und die Kulturlandschaft (Ländlichkeit) als auch um dörfliche und

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bäuerliche Lebenswelten (Dörflichkeit) geht. Und um den Wandel dieser Welten. Denn die Dramatik der strukturellen und ästhetischen Veränderungen bleibt vielen unentdeckt. Das Schema ›dynamisch = urban, Stillstand = rural‹ ist common sense. Aber ist diese Dichotomie von ›städtisch‹ und ›ländlich‹ noch berechtigt? Unterschiede bestehen nach wie vor. Landleben ist für den Geographen Werner Bätzing (2020: 251) vor allem das: geringe Bevölkerungsdichte, größere Naturnähe, geringere Arbeitsteilung, größere soziale Nähe. Aber das sind keine Gegensätze zum Urbanen. Es sind Merkmale für »spezifisch [und zum Urbanen ergänzende] ländliche Lebens- und Wirtschaftsformen« (ebd.). Gerade aus konstruktivistischer Sicht durchdringen sich beide Sphären schon längst physisch und psychisch zu stark. Es existieren räumlich-soziale Hybride. Und das gibt es auch: Eine sehr dynamische dörfliche Peripherie mit ihren ›Hidden Champions‹ mittelständischer Weltmarktführer neben in ihren Strukturen verharrenden Klein- und Mittelstädten. Ist die Gegenwartsliteratur dieser Komplexität gewachsen, wenn es darum geht, ›neue Dorfromane‹ zu schreiben? Um Antworten zu finden, haben wir aus der immensen Fülle von Dorfromanen der Gegenwartsliteratur eine kleine Auswahl zusammengestellt und analysiert: Es handelt sich um keine reine Unterhaltungsliteratur (wobei etwa das Phänomen ›Dora Heldt‹ durchaus eine eigene Betrachtung verdienen würde), um keine Krimis und keine semi-fiktionalen Erfahrungsberichte unter dem Label ›Ich bin von der Stadt aufs Land gezogen‹ (ebenfalls ein boomendes Genre), sondern um Romane, in denen Ländlichkeit, dörfliche Gesellschaften und Landwirtschaft, so scheint es, eine zentrale Rolle spielen. Erschienen sind sie in den letzten 10 Jahren, mehrfach übersetzt, medial beachtet, hauptsächlich deutschsprachige Texte, ergänzt um Beispiele aus anderen, europäischen Literaturen. Nicht wenige dieser Texte wurden preisgekrönt und ausnehmend positiv rezensiert. Manche sind zu Bestsellern avanciert, etwa ALTES LAND (2015) von Dörte Hansen, BLASMUSIKPOP (2012) von Vea Kaiser, VOR DEM FEST (2014) von Saša Stanišić, UNTERLEUTEN (2016) von Juli Zeh (kürzlich für das ZDF als Dreiteiler verfilmt) und jüngst DIE BAGAGE (2020) von Monica Helfer. Das heißt: Diese Geschichten werden von sehr vielen gelesen, die sich unter anderem aus diesen Quellen ein Bild vom ländlichen Raum machen. Sie bestimmen damit den gesellschaftlichen Diskurs darüber und was wir darunter verstehen mit – bis hinein in die Social-Media-Kanäle, als mächtige Multiplikatoren. Die Frage ist deshalb: Welche Ländlichkeit konstruieren und vermitteln diese Romane? Und in welchem Verhältnis steht diese wiederum zu den multiplen (sozialen, ökonomischen, ökologischen) Realitäten ländlicher Räume?

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D AS K ONZEPT

DES R URAL C RITICISM – THEORETISCHER R AHMEN UND P ROGRAMM Wir lesen die literarischen Texte bewusst aus einer doppelten Perspektive, einer literaturwissenschaftlichen und einer geographischen. Konkret: In unsere Lektüren fließen Literaturtheorien ebenso ein wie sozioökonomisches und geographisches Hintergrundwissen über gesellschaftliche, institutionelle und ökonomische Transformationsprozesse im ländlichen Raum und deren Folgen. Denn über die oft konfliktreichen, gesamtgesellschaftlichen Grundfragen und Neuordnungs- und Modernisierungsprozesse – also über jene »asymmetrische Kontaktszenen« (Neumann/ Twellmann 2014a: 483) – zu schreiben und zu reflektieren, das ist spätestens seit Norbert Mecklenburg (1982) als die DNA der Dorfgeschichte identifiziert worden. »Dorfgeschichten können daher als lokale Reaktionsbildungen auf kontinuierlich verlaufende Reformen oder aber abrupt einsetzende Umbrüche und Krisen verstanden werden« (Nell/Weiland 2019b: 57). An genau diesen Bruchstellen schließen die großen Sujets einer verschwindenden oder schon verschwundenen, überformten, durchurbanisierten oder peripheren, demographisch entleerten Welt an (Weiland 2018a). Wir bezeichnen unsere Herangehensweise, passend zum Rural Writing, als Rural Criticism, in offensichtlicher Anlehnung und Weiterentwicklung des etablierten Ecocriticism, der sich intensiv mit der literarischen Darstellung von Natur, Umwelt und Umweltzerstörung befasst (vgl. Dürbeck/Stobbe 2015). Dabei speist sich dieser Ansatz aus drei Quellen. Rural Criticism kann, erstens, eben als Teilbereich des Ecocriticism gesehen werden, als Zoom auf Kulturlandschaft, Landwirtschaft, bäuerliche bzw. dörfliche Lebensweisen und deren Wandel. Schon der Ecocriticism zeichnet sich durch eine große methodische Vielfalt aus. Er liefert keine eigene stringente Theorie (Bühler 2016: 62), sondern bündelt verschiedene literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Ansätze, richtet sie auf ein Gebiet, darin vergleichbar etwa mit den Gender Studies, und ist wie diese durchaus auch einem politischen Projekt verpflichtet, und zwar in Richtung Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Aktuelle Studien des Ecocriticism befassen sich etwa mit literarischen Darstellungen von Artensterben, Risiko-Narrativen, Umweltkatastrophen und Tieren als Protagonisten (ebd.: X). In einem wesentlichen Punkt sind sich aber fast alle Ecocriticism-Akteure und Akteurinnen einig, nämlich, dass ›Natur‹ und ›Umwelt‹ kulturell bedingte Konstrukte sind, bei deren Konstitution die Literatur in der Vergangenheit eine wesentliche Rolle gespielt hat und auch heute noch spielt. Diese Perspektive lässt sich auf ländliche Gebiete und ›Dorfwelten‹ im weitesten Sinn übertragen. Auch diese können als sozial und kulturell konstruiert betrachtet werden – woran auch die erfolgreichen, breit rezipierten Dorfromane ihren Anteil haben.

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Zweitens – dies eine weitere Inspirationsquelle – gibt es in der Literaturwissenschaft eine lange Tradition, sich mit ›literarischen Landschaften‹ zu beschäftigen und zu untersuchen, wie bestehende Regionen und Orte in Fiktion verwandelt wurden – und wie berühmte literarische Texte die Regionen, in denen sie spielen, beeinflussen. Literarische Werke können dabei auch als Quellen genutzt werden, um mehr über das ›Ortsgefühl‹ (sense of place) herauszufinden. Diese Interpretationen der Interaktion von Literatur und Landschaft haben sich zu eigenen literaturwissenschaftlichen Bereichen entwickelt: Inzwischen renommierte Ansätze sind die Literaturgeographie (Moretti 1999; eine Übersicht bei Piatti 2015) und die Geokritik (vgl. Tally 2017). Rural Criticism könnte durchaus als literaturgeographischer Ansatz verstanden und weiterentwickelt werden, zumal wir einen dezidiert interdisziplinären Ansatz verfolgen: Eine vertiefte inhaltliche Analyse der Romane aus geographischer Perspektive, ergänzt durch literaturwissenschaftliche Methoden, um stilistische Aspekte zu beleuchten. Letztlich ist Rural Criticism unter die Sammelbegriffe der Spatial Humanities und Spatial Literary Studies einzuordnen, Forschungsfelder, die inzwischen so immens produktiv und unüberschaubar geworden sind, dass wir sie hier einfach im Sinne eines disziplinären Rahmens unserer eigenen Vorgehensweise benennen. Drittens hat sich die wissenschaftliche Erforschung der literarischen Darstellung des ländlichen Raums und des Dorfes in den letzten Jahren vor allem im deutschsprachigen Raum intensiviert. Getrieben unter anderem durch ein breites journalistisches Interesse an ländlichen Transformationsprozessen findet sie zumeist disziplinenübergreifend statt und sucht den Austausch zwischen Raum-, Kultur- und Sozialwissenschaften (vgl. Baumann 2018; Ehrler/Weiland 2018; Langner/FrölichKulik 2018; Barlösius/Neu 2018; Steinführer et al. 2019; Nell/Weiland 2019a). Wegweisende literaturwissenschaftliche Arbeiten wurden jüngst von Ananka/ Marszałek (2018), Marszałek/Nell/Weiland (2018), Stockinger (2020) und insbesondere Twellmann (2019) vorgestellt. Rural Criticism baut auf diesen Studien auf, konzentriert sich aber viel stärker auf den Inhalt (das Erzählte) vor dem Hintergrund aktueller tatsächlicher Entwicklungen und Herausforderungen in ländlichen Regionen – im Sinne einer kritischen Kontextualisierung. Darüber hinaus untersuchen wir genauer das ›Wie‹, d.h. die sprachliche Umsetzung, die stilistischen Mittel. Wir streben eine vertiefte Analyse der behandelten Themen und Stile an, denn wir sind überzeugt, dass gerade die Kombination dieser Aspekte nicht nur die Qualität, sondern auch die Aussagekraft und – wenn man so will – auch die längerfristige Gültigkeit eines literarischen Werkes ausmacht. Das Programm des Rural Criticism und damit auch dieses Beitrags deckt drei Aufgabenbereiche ab: Es gilt erstens zu analysieren, was thematisch, aber auch stilistisch gelungenes Rural Writing von einem weniger gelungenen unterscheidet (dies ist vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass es eben eine ungeheure Menge an Gegenwartsliteratur gibt, die sich den Themen Dorfleben und Ländlich-

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keit verschreibt und es deswegen nicht leicht ist, einen Überblick zu behalten); zweitens und parallel zu erläutern, was sich ›auf dem Land‹ wirklich abspielt; und drittens zu erklären, weshalb dieses Erzählen von den Umbrüchen in den ländlichen Regionen gesamtgesellschaftlich relevant, ja dringlich ist. Der Ansatz verbindet somit nach Nell/Weiland (2019b: 56) die drei grundlegenden literaturwissenschaftlichen Erkundungsansätze für literarische Dorftexte – die literatursoziologische, literaturästhetische und kulturwissenschaftliche. Rural Criticism reiht sich deshalb in eine traditionelle interdisziplinär-wissensgeschichtliche Forschungsperspektive ein (ebd.: 57). Der Fokus liegt jedoch nicht so sehr auf der etablierten Verknüpfung von literaturwissenschaftlichen und anthropologischen Fragen, sondern verbindet spezifischer und stärker die räumliche Perspektive der literaturwissenschaftlichen Forschung mit der kultur-, agrar- und naturgeographischen Transformationsforschung des ländlichen Raumes.

Z EITEN EPOCHALER U MBRÜCHE Der ländliche Raum wird durch Verkehrs- und Siedlungsinfrastrukturen versiegelt und fragmentiert. Habitate werden zerstört. Wiesen verbuschen, Wälder breiten sich aus. Mit riesigen High-Tech-Traktoren, klimatisiert und GPS-gesteuert, ackert heutzutage ein Präzisions-Landwirt in Deutschland für die Ernährung von durchschnittlich 140 Menschen. Ende der 1940er Jahre waren es zehn. Landschaftliche Unterschiede werden damit allerdings auch zugleich nivelliert; architektonischer und landschaftlicher Einheitsbrei, wohin man blickt: »Der Zug rollte durch Maisfelder; unmöglich bei einem flüchtigen Blick aus dem Fenster zu sagen, ob draußen noch Brandenburg, Sachsen oder schon Nordbayern war. Auch die übergroßen Jurten vor den Dörfern, in denen das Getreide vergor, waren überall gleich. Wo sich keine Reaktoren erhoben, standen flache, fensterlose, von Stacheldraht gekrönten Zäunen umgebene Hallen am Rande der Felder: Schweinemastställe. Aber ein Tier war nirgends zu sehen«, schreibt Stefan Klein (2017) in seiner SZ-Reportage TÖDLICHE STILLE. Kleinstrukturierte Gebiete schwinden. Der demographische, technologische und wirtschaftliche Wandel, das sind vor allem unfassbare Zahlen: In Deutschland 70 Fußballfelder asphaltierte Fläche mehr, 11 Landwirtschaftsbetriebe weniger – und das pro Tag. Ein Drittel aller deutschen Trinkwasseranlagen haben zu hohe Nitratwerte. Oder das Beispiel Großbritannien mit seinen landschaftsprägenden Hecken: Ende der 1950er Jahre existierten sie noch auf einer Länge von 800.000 km; 330.000 km an intakten Lebensräumen und Futterquellen wurden mittlerweile für Felder geopfert, die zu Europas größten gehören (vgl. Dover 2019). Das entspricht mehr als achtmal dem äquatorialen Erdumfang. Flurbereinigung und Intensivland-

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wirtschaft in vielen Gebieten Europas – das hat Folgen. Seit den 1980er Jahren sind in Europa hunderte Millionen Vögel, mehr als die Hälfte, verschwunden (vgl. Lingenhöhl 2019). Auf den Äckern ist es inzwischen sehr still. Das Szenario der Biologin Rachel Carson (SILENT SPRING, zu deutsch: DER STUMME FRÜHLING, 1962), in der mit teils sehr literarischen Mitteln eine Welt ohne Insekten und Vögel geschildert wird, ist mittlerweile bittere Realität geworden. Selten sind beglückende Erfahrungen mit einer vielfältigen Fauna geworden, wie sie uns Jean-Henri Fabre so eindrucksvoll schildert (vgl. Streifeneder 2020). Die Folgen des Anthropozäns, der Epoche des Umbaus unseres Planeten durch Menschenhand, sind auch bei uns, auf dem europäischen Land überdeutlich ablesbar. Intensivlandwirtschaft, Flächenfraß und fragmentierte Habitate durch Siedlung und Verkehr sind wesentliche Ursachen für Artenschwund und Treiber des Klimawandels. Spätestens die letzten mitteleuropäischen Dürre- und Hitzesommer haben klar gemacht, dass auch wir mitten drinstecken. Aber nicht nur die Natur und die Agrarflächen werden umstrukturiert, auch das soziale Gefüge bricht auseinander: Jede vierte bayerische Gemeinde ist ohne Wirtshaus. Die Gespräche am Stammtisch verstummen immer mehr, eine jahrhundertealte Dorfkultur geht vielerorts und endgültig dahin, in der die Dörfler, Landwirte und nicht zuletzt auch Durchreisende, Fremde, Feriengäste immer mal wieder miteinander ins Gespräch kommen konnten. Doch längst nicht alle Folgen sind so leicht zu erkennen, wie kaum mehr belebte Dörfer, geschlossene Landgasthöfe oder stellenweise brutale Eingriffe in die Landschaften. Unsichtbar bleiben zunehmende Einsamkeit, prekäre Gesundheit, finanzielle Notlagen. Dieser gefährliche Mix führt unter anderem zu einer überdurchschnittlichen Selbstmordrate im Agrarsektor. In Frankreich begeht durchschnittlich jeden Tag ein Landwirt Suizid, Burnouts sind weit verbreitet (vgl. ARTE 2020). Private Tragödien, die zu oft passieren und zu oft ähnliche Ursachen haben, als dass sie nicht als Spiegel einer an bestimmten Stellen chronisch kranken Gesellschaft gelten können. Bewegen uns all diese Fakten? Machen sie uns betroffen und demütig? Warum gehen sie uns überhaupt etwas an? Klar, es gibt Lichtblicke. Dazu gehören eine wachsende Biolandwirtschaft und Initiativen für lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe. Doch die neu gemischten Karten zwischen Stadt und Land beziehungsweise das Zerschmettern und die Auflösung bekannter gesellschaftlicher und landwirtschaftlicher Strukturen mitsamt den geschilderten Folgen – sie betreffen uns alle, im Guten wie im Schlechten (vgl. Streifeneder 2017). Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, wie wir in Zukunft leben werden (Adams 2017). Deshalb ist es jetzt so wichtig, diese Themen noch stärker in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Auch mit den Mitteln der Literatur, die nicht zu unterschätzen sind. Denn: »Hinter den Zahlen stehen Menschen, Schicksale und Traditionen, die verschwinden« (Streifeneder 2010: 228). Nochmals: Wer kann davon erzählen? In diesem Zusammenhang kann man der polnischen Dichterin Olga Tokarczuk nur

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applaudieren. Für sie ist die Verbindung zwischen Welt und Erzählung zentral, wie sie in ihrer Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises im Dezember 2019 nachdrücklich festhält. Sie ist inzwischen in deutscher Übersetzung unter dem Titel DER LIEBEVOLLE ERZÄHLER (2020) erschienen. Für Tokarczuk ist die Welt »ein Stoff, an dem wir tagtäglich weben«, wir alle verarbeiten auf großen Webstühlen Fäden aus Abertausenden von Quellen zu Erzählungen. »In diesem Sinne ist die Welt aus Wörtern geschaffen. Wie wir über die Welt denken und – vermutlich noch wichtiger – wie wir von ihr erzählen, hat daher eine ungeheure Bedeutung. Was geschieht, aber nicht erzählt wird, hört auf zu sein und vergeht.« (Tokarczuk 2020: 7)

»D AS D ORF BOOMT –

DIE

D ÖRFER STERBEN «

Was gerade vergeht, verschwindet, ist die Welt der bäuerlichen Existenz. »Die bemerkenswerte Beständigkeit bäuerlicher Erfahrung und bäuerlicher Weltsicht gewinnt im Moment, da sie von der Auslöschung bedroht ist, eine beispiellose und unerwartete Wichtigkeit« schrieb John Berger (2000: 29) schon 1979 in SAUERDE. Gleichzeitig haben Dorf- und Landromane, haben »Bildwelten bäuerlicher Lebensformen« in Phasen »massiver Modernisierungsschübe« Konjunktur (vgl. Neumann/ Twellmann 2014b: 32). Sie können auch als Kompensationen gesehen und verstanden werden, für eine Welt, die im Niedergang begriffen ist, von der täglich und unwiderruflich ein weiteres Stück verloren geht: »Das Dorf boomt – die Dörfer sterben«, formulieren die Literaturwissenschaftler Werner Nell und Marc Weiland (2014: 11) in ihrem Vorwort pointiert. Das Land, das ist zwar (auch) ein Aufbewahrungsort traditioneller und kultureller Werte und natürlicher Ressourcen. Doch wird es in der Gegenwartsliteratur häufig als begierdeloses, sterbendes Krisengebiet dargestellt: »Das Leben im Dorf ging auf Krücken oder am Rollator. Einen Kinderwagen hatte Frieda schon lange nicht mehr gesehen. Das Dorf war ein Auslaufmodell geworden. […] Im Dorf gibt es kein Begehren mehr [...]. Das Dorf stirbt«, heißt es bei Kathrin Gerlof in NENN MICH NOVEMBER (2018: 7, 64). Das Land, das ist ein abgehängtes, marginalisiertes, seltsam entfremdetes und »allen Namen enteignetes«, von »Neubauten versehrtes Außenseiterland«, »ein graues Niemandsland« und »Land der Ausmerzung«, schreibt Esther Kinsky in HAIN (2018: 65). Eine leere, vergessene, missachtete Gegend, eingezwängt zwischen Autobahnzubringern und Industriebauten, unzähligen häßlichen Versorgungs- und Verkehrsinfrastrukturen; von einer »Rumpelkammer der Zivilisation« und »Anti‐Landschaft von frustrierender Beliebigkeit« liest man in Juli Zehs UNTERLEUTEN (Zeh 2016: 570f.). Obwohl unweit der Stadt, könnte sich das Dorf, das Land »in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut

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auf der anderen Seite des Planeten befinden« (ebd.: 29). Die Dorfgemeinschaft, wie sie in diesen und anderen Fiktionen dargestellt wird, ist meist keine offene Gesellschaft, sondern feindlich, distanziert, abwartend, eine intrigierende Bande, auf das Scheitern wartend, selten kooperativ. Die Mehrheit der Geschichten kommt überhaupt erst in Gang, weil jemand (oder mehrere) ›von außen‹ dazu stößt: Heimkehrende nach langer Abwesenheit, aus der Stadt Zugezogene oder Feriengäste. Nur selten zoomt ein Autor allein auf die bestehende Dorfgemeinschaft. Bei Arno Camenisch etwa bleiben die Dörfler unter sich, häufen sich die Skurrilitäten, die in ihrer wiederkehrenden Alltäglichkeit erzählt werden. In seinem Roman USTRINKATA (2012) nimmt er sein Lesepublikum mit an den letzten Stammtisch des schließenden Gasthauses Helvezia, wo der Alkohol in Strömen fließt und eine kuriose Geschichte nach der anderen gefeiert wird: »Die Tante stellt dem Gion Baretta einen neuen Kübel hin und dem Otto eine grosse Flasche. Sie holt der Silvia einen Caffefertic und eine neue Schnapsflasche und dem Luis einen Quintin. Der Gion Baretta schüttet aus seinem Flachmann Schnaps in seinen Kübel. Er zittert. Der Otto zündet sich eine Krumme an. Der Gion Baretta nimmt aus seiner Tschopentasche eine Zigarre, jetzt aber, sagt der Otto, der noble Herr hier raucht Zigarren, und nicht nur Gestümp« (Camenisch 2012: 88).

Schon diese Beispiele zeigen: Der literarische Umgang mit der Vorstellung eines ländlichen Zurückgebliebenseins ist thematisch und stilistisch vielfältig. Wichtige Themen wie etwa die hochproblematische Realisierung der Energiewende in Juli Zehs UNTERLEUTEN oder die Massentierhaltung in Reinhard Kaiser-Mühleckers ENTEIGNUNG (2019) sowie die neuen sozialen Grenzlinien und Oppositionsstellungen zwischen »städtischen Ökofritzen«, militanter Bürgerwehr, ausländischen Migranten und kapitalistischen Großbauern in Kathrin Gerlofs NENN MICH NOVEMBER bestimmen mal mehr, mal weniger das Geschehen. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei, von komödiantisch-süffisant-ironischen Ergüssen über die Tücken des Lebens auf dem Land bis zu Erzählungen über individuelle und kollektive Schicksale, die von großer Wucht sind. Sagen wir es offen: Innerhalb dieser großen Vielfalt sind wahre Meisterwerke die Ausnahme. Rural Criticism versucht deshalb im Folgenden, eine Wegweiser-Funktion zu erfüllen, Qualitätskriterien mit dem Ziel herauszuarbeiten, eine Art Rural-Writing-Bibliothek mit aus unserer Sicht herausragenden Texten zusammenzustellen und ein Plädoyer zu formulieren, wie es weitergehen könnte mit diesem immer noch boomenden Literatursektor.

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M ISERE , M ODERNISIERUNG , M ARKETINGIDYLLE Inhaltlich kristallisieren sich in dieser Textauswahl drei Phasen heraus, an denen eine dreifach gestaffelte Erzählung über das Ländliche ablesbar wird. Geschrieben wird einmal über die ländliche Misere, einen unterentwickelten Raum voller Entbehrungen in der Vergangenheit und Gegenwart. Zu den eindrücklichsten Stellen in Roy Jacobsens Insel-Saga DIE UNSICHTBAREN gehört ein Dürresommer, der das Trinkwasser versiegen lässt und Menschen und Tiere in große Not bringt. »Hans führt leise Gespräche mit Maria, müssen sie schlachten?« (2019: 128). Sie wühlen sich tagelang in die Erde, durch Lehmschichten – »Lars und Hans ziehen sich nackt aus und arbeiten dort unten wie ein Trupp Heizer in einer Maschinerie von biblischen Ausmaßen« (ebd.: 129). Endlich sprudelt das Grundwasser tief unten, endlich können sie die »muhenden und blökenden Tieren« tränken, »jetzt scharen sich auch die Schafe um die Eimer, in Panik und Erlösung.« (ebd.: 130). Unfassbar hart gearbeitet haben alle, bitterarm waren die allermeisten, es war eine archaische, mittelalterliche Welt, und zwar noch bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, wie in Robert Seethalers EIN GANZES LEBEN (2014). Dieser führt bereits im ersten Satz in die vormoderne – und auch von der ständigen Anwesenheit des Todes gekennzeichneten – Lebenswelt eines weitab gelegenen Bergdorfs ein.3 Die Menschen sind beschränkt durch widrige soziale und ökonomische Bedingungen einer vorindustriellen Zeit, bevor sich, und das ist die zweite große Erzählung, vor allem mit der Modernisierung der Landwirtschaft durch Maschinisierung und Flurbereinigung und dem Einzug des Tourismus in den 1960/70ern große strukturelle Umbrüche vollziehen – mit Gewinnern und Verlierern. Von diesem mitunter auch gewaltigen und gewalttätigen Vordringen der Moderne berichten etwa Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), Kathrin Gerlofs NENN MICH NOVEMBER (2018) und Dörte Hansens MITTAGSSTUNDE (2018). Hansens norddeutscher, fiktiver Schauplatz Brinkebüll wird in den Sechziger Jahren Opfer der Flurbereinigung: »Die Arbeit der Vermessungsingenieure war getan, sie hatten Brinkebüll bereits erledigt, abgehakt. In ihren Flurkarten und Plänen gab es dieses alte Dorf nicht mehr, es war auf dem Papier schon ausradiert, berichtigt und begradigt« (Hansen 2018: 38). Die »ungeteerten, rumpeligen Wege, die Trampelpfade und die Dorfchaussee« (ebd.) wird es bald nicht mehr geben, ebenso wenig die »lächerlich kleinen Felder, auf denen ein moderner Mähdrescher kaum wenden konnte« (ebd.).

3

Er lautet: »An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundertdreiunddreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerhannes gerufen wurde, von seinem stark durchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneedecke begrabenen Bergpfad ins Dorf hinunterzutragen.« (Seethaler 2014: 7)

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Mit dem steigenden Wohlstand schließt sich der dritte, man kann sagen dominierende, Erzählstrang der aktuellen Dorfromane an. Das Land erlebt eine Renaissance, ausgehend von einer vor allem städtischen Sehnsucht nach einer sehr konstruierten ländlichen Idylle. Konstruiert deshalb, weil es eine solche Idylle so nie gab. Das reale Land wird verformt und vor diesem Hintergrund wird literarisch ausgelotet, ob ein besseres Leben ›dort draußen‹ im (gewissermaßen auch: exotischen) Ländlichen überhaupt möglich ist oder ob es bloß noch weiter abwärts geht. Paolo Cognetti stellt sich diese Frage in ACHT BERGE (2017) reflektierendphilosophisch, mit deutlichem Hang zur Nostalgie, in Daniel Mezgers Roman mit dem bezeichnenden Titel LAND SPIELEN (2012) wird in einem fast durchgehend (selbst)ironischen Ton von der Suche nach dem glücklichen Landleben erzählt: »Wir spielen Dorfkneipe. Das Bier kommt, der Apfelsaft auch, wir sitzen an unserem Tisch und merken, dass wir bereits den ersten Fehler gemacht haben: Wir sitzen da allein, und es gibt keinen Anlass, das zu ändern.« (Mezger 2012: 45). Nicht von ungefähr überspannen einige der gelungensten Romane mehrere dieser Phasen (Seethaler, Jacobsen und auch Jean-Baptist del Amo mit TIERREICH, 2019, zu dem wir noch ausführlicher kommen werden). Und nicht von ungefähr thematisieren sie Bruchstellen, Übergänge und Transformationsprozesse. Es ist zweifellos auch dieses longue-durée-Merkmal, das die erzählerische Attraktivität der Texte mit bedingt; es sind die historischen Tiefenbohrungen, die zur literarischen Qualität dieser Werke beitragen. Sie zeigen plastisch, wie die Menschen durch die soziale und wirtschaftliche Realität geformt werden – und das über Generationen. Es sind Werke, ›mit Wörtern, hart wie das Leben‹ (vgl. Ernaux 2020), deren spezifische Stimmung ein unmittelbares Erleben des Vergangenen ermöglicht (vgl. Gumbrecht 2017). In ihnen sind Schauplätze und Handlungsräume mit Bedeutung aufgeladen. Interessanterweise, und das wird die folgende Analyse von Beispielen zeigen, scheint es ungleich schwieriger, überzeugendes Rural Writing für die Gegenwart zu betreiben, sozusagen mitten aus der Situation heraus. Die aus unserer Sicht hochkarätigen literarischen Beispiele haben dabei, wie bereits gesagt, eines gemeinsam: Sie widmen sich zuallererst der Vermessung und Dokumentation verschwundener, vergangener ländlicher Lebenswelten und ziehen von dort aus die Linien bis in die Gegenwart oder deuten diese zumindest an, wie jüngst etwa im zurecht hochgelobten und preisgekrönten schmalen Roman DIE BAGAGE (2020) von Monica Helfer. Es ist die Geschichte einer buchstäblich randständigen Familie in einem abgelegenen österreichischen Tal zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Auch Helfer schildert einen archaischen Kosmos voller unvergesslicher Figuren und lotet gleichzeitig anhand von Zeitsprüngen, Leerstellen und nicht zuletzt auch durch ein subtiles Rekonstruieren der Familiengeschichte (die ihre eigene ist) das Nachwirken dieser Geschichte bis in die Gegenwart aus. Der Text kann als ein gutes (und zugleich sehr erfolgreiches) Beispiel dafür gelten, dass die gegenwärtigen Entwicklungen sich

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gerade im Rural Writing nur dann sinnvoll einordnen, interpretieren, verdeutlichen lassen, wenn auch Rückblicke, in welcher Form auch immer – seien sie nun ausgedehnt oder punktuell –, Bestandteil der Erzählung sind.

S TREITGESPRÄCHE ZWISCHEN Ö KOFRITZEN UND B AUERN -B IMBOS Andere Gegenwartsromane, überraschend viele, stellen das Sujet der wechselseitigen Fremdheit und der Gentrifizierung in den Mittelpunkt. So viel sind es, dass sie inzwischen ein eigenes Genre der ›Stadtflucht- und Landlustromane‹ (vgl. Seel 2018) prägen. Denn gerade dieses Setting – da die Städter, dort die Dörfler – ist zur »Basisstruktur der neuzeitlichen‐modernen Dorfliteratur« (Kohn 2013: 26; vgl. Weiland 2018b: 107) geworden. Es bietet ein zuverlässiges, aber eben auch total vorhersehbares Komik- und Ironiepotenzial; und das urban-rurale Gefälle kann dabei sehr steil sein: Vom Trottoir in den Matsch, von der Kopfarbeit zum Schweinemistausbringen. »Es kamen immer nur die Ausgemusterten, die es in der Stadt nicht geschafft hatten. Akademiker und Kreative der Güteklasse B, zu angeschlagen für das Großstadtsortiment. Gesellschaftliche Ladenhüter, die auf dem Bauernmarkt nochmal durchstarten wollten«, heißt es etwa in Dörte Hansens ALTES LAND (2015: 91f.). In Michel Houellebecqs KARTE UND GEBIET (2012) scheint eine Zukunftswelt auf, die allerdings in bestimmten Gegenden längst Wirklichkeit geworden ist: eine totale Gentrifizierung des »von Grund auf verändert[en]« Landes (Houellebecq 2012: 402) durch die Städter. »Die einheimischen Bewohner der ländlichen Gebiete waren fast alle verschwunden. Neuankömmlinge aus der Stadt mit ausgeprägtem Unternehmungsgeist und bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen, hatten sie abgelöst.« (Ebd.)

Nicht selten kommt es in diesen Erzählmustern zum Showdown zwischen den Welten. Etwa dann, wenn ein Bauer mit seinen pestizidverseuchten Äckern erfolgreich den städtischen Ökofritzen auf Distanz hält (Gerlof 2018: 90). Die Landwirte, ja das sind die »cleveren Arschlöcher«, geschickt den Fördermitteln hinterherbauend, -kaufend, -säend, die auch ihre »Wälder abfackeln« würden, gäbe es hierfür ebenfalls Geld (Gerlof 2018: 85). Da prallen – wie etwa in Dörte Hansens ALTES LAND – die Öko‐Predigt der neuen Landbewohner mitsamt deren Loblieder auf alte Obst‐ und Gemüsesorten auf den dummen spritzenden Bauern‐Bimbo, der, idiotischerweise, noch nicht auf Demeter gekommen ist (Hansen 2015: 94). Auch Daniel

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Mezger lässt in LAND SPIELEN (2012) in einem Kurzdialog den besserwissenden Neo-Öko-Freak mit dem stumpenrauchenden Landwirt eines 250 Jahre alten Erbhofes in der fünften Generation über den richtigen Anbau und Viehhaltung streiten. Die Kluft, was Städter und Bauern als tragfähige Landwirtschaft verstehen, ist wohl einer der größten und auch immer wieder reproduzierten Gegensätze. Geht man davon aus, dass »literarische Texte [...] nicht nur als bloße Erfindungen eines Nicht-Wirklichen zu verstehen« sind und dass gerade literarische Dorftexte eine »Fiktionalisierung des Realen« (Nell/Weiland 2019b: 56) stark charakterisiert, stellt sich schon die Frage: Erschöpfen sich – in der Gegenwartsliteratur – die Blicke des Städters und Landmenschen auf den jeweils anderen und seiner Bedürfnisse in diesem Themenkreis?

D IE

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V ERMESSUNG DER P ROVINZ

So läuft es, so ist es also auf dem Land!? Ist es nicht eher so, dass die Lesenden durch eine tendenziell unterkomplexe Wirklichkeit in die Irre geführt werden? Sind die bisher genannten Werke von Gerlof, Zeh, Hansen, Mezger (auch Jan Brandt mit GEGEN DIE WELT und Kaiser-Mühlecker zählen dazu) wirklich neue Dorfromane in der Fortsetzung einer fast 200-jährigen Traditionslinie? Ein Merkmal der im 19. Jahrhundert entstandenen Dorfliteratur war ja gerade ihr ausgeprägter Realismus, ihre »Bindung an eine lokale, soziale, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit« (Hein 1976: 1). Diese Texte erzählen vom Bauernjahr, vom zyklischen Lauf der Jahreszeiten, von der bäuerlich-dörflich kleinen Welt. Mit ihnen wurden neue Figuren, Räume und Themen in die Literatur eingeführt – es ging, kurz gesagt, um eine ganz neue Sicht auf die Ländlichkeit und damit um eine neue Darstellungsqualität des Bäuerlichen. Dabei ist der Bezug zum realen ländlichen Raum mit all seinen Charakteristiken zentral, weil er »den Vorgang tiefer, reicher und vor allem auch anschaulicher und verständlicher« macht (Petsch 1975: 36). Dieser Anspruch wird im 20. Jahrhundert weitergetragen und weiterentwickelt, durch Autoren wie Isaak Bashevi Singer, Knut Hamsun, Ignazio Silone, Giovanni Verga, John Steinbeck, Corinna Bille, John Berger und Oskar Maria Graf, um nur einige wenige Namen aus einer viel längeren Liste zu nennen. Sie haben mit ihren Werken gezeigt, wie Romane über spezifische Landstriche und Dörfer zu Weltliteratur werden können. Sie erzählen detailliert, kenntnisreich, poetisch und vielleicht fast am wichtigsten: mit einem gewissen Respekt, mit einem ernsthaften Interesse an Mensch, Kreatur und Landschaft. Aber eins sind ihre Bücher ganz sicher nicht: leichte Unterhaltungslektüre.

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Und im 21. Jahrhundert? Reicht es, dass eine Dorfgeschichte im Dorf spielt? Müsste nicht auch für die Weiterentwicklung, für die aktualisierte Dorfliteratur gelten, dass die neuen, sich immer schneller wandelnden sozialen, ökonomischen, kulturellen Realitäten in diesen Fiktionen verhandelt werden – und zwar in ihrer ganzen Breite und Tiefe? Seit Jahrzehnten werden niederschmetternde Grün-Kaputt-Entwicklungen auf dem Land dokumentiert. Von ihnen berichteten unter anderem der mahnende und aufklärende Dokumentarfilmer Dieter Wieland (TOPOGRAPHIE-Filmreihe, 19732004, siehe auch Wieland 1984) und der Soziologe und Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt (Burckhardt 2006) schon früh (seit den Siebziger Jahren) und eindrucksvoll. Wäre es nicht eine der Stärken der Literatur, diesem räumlichen Einheitsbrei in Wielandscher und Burckhardterscher Manier entgegenzutreten, genau und kritisch hinzuschauen und das Lokale, das Unterscheidbare, das Besondere herauszuarbeiten? Nicht ›Fake-Land-Fiktion‹ zu schreiben, die eine Scheinwelt entwirft, das Bekannte bedient und ein ›Es-tut-sich-nichts‹ suggeriert? Unsere Kritik lautet: Eine Reihe brennender Themen findet kaum Eingang in diese literarischen Dorfwelten. Zu diesem Schluss kommt auch Seel, der in seiner Analyse der Stadtflucht- und Landlust-Romane festhält, dass realpolitische Entwicklungen und Probleme wie etwa kapitalistische Spekulation auf Boden und Nahrung, weitgehend ausgeklammert werden (Seel 2018: 76). Gibt es einen Roman, der die Machtspiele der Agrarlobby unter die Lupe nimmt? Gibt es einen Roman, der die Verzweiflung der Bauern schildert, die aus der Investitionsmühle, aus all den Problemen von Verschuldung über fehlende Hofnachfolge bis zur totalen psychischen und physischen Erschöpfung nicht mehr herauskommen und mitunter extreme Konsequenzen ziehen?4 Offensichtlich wird diese narrative Lücke, das narrative Vakuum auch beim Klimawandel, einem der drängendsten Themen unserer Zeit. Im modernen Dorfroman scheint er weitgehend ausgeblendet zu sein, sieht man einmal ab von Juli Zehs UNTERLEUTEN, wo mit der drohenden Errichtung eines Windparks ein hochaktuelles Thema ganz im Mittelpunkt steht.5

4

Ansätze sind zu finden in Alina Herbings NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017), wo die aus einer distanzierten Innenperspektive heraus geschilderte Milchbauernfamilie unter permanenten ökonomischen Druck steht.

5

Zur Mühe, adäquate Plots, eine adäquate Sprache für die Klimakrise zu entwickeln, siehe Ghosh (2016). Zwar gibt es inzwischen sogar einen neuen Genrebegriff – »Climate Fiction«, Cli-Fi –, dennoch treffen Ghoshs Fragen nach wie vor den Kern der Sache: Haben wir vielleicht noch gar nicht die erzählerischen Mittel, um diese globale Bedrohung literarisch zu fassen? Für erste Ansätze zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Klimakrise und Energiewende im Kontext der Gegenwartskünste sowie der aktuellen »Energieliteratur« siehe Uhlig (2018a, 2018b).

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Ebenfalls kaum eine Rolle spielen die eingangs thematisierten Umwälzungen, die alles prägenden Prozesse der Transformation, die vielfältig, komplex, teils konträr und in jedem Fall schwer einzuordnen sind. Nicht wenige der hier besprochenen literarischen Beispiele verweisen, so unsere These, nicht nur auf eine vereinfachte, oberflächliche Dörflich- und Ländlichkeit, sondern sie verdecken damit eben Vorhandenes, eine viel komplexere Realität. Die Tradition des realistischen Dorfromans wird nicht weitergeführt. Der subtile Blick hinter die Kulissen, die Achtsamkeit für räumliche und atmosphärische Details, so prägend für den realistischen Dorfroman, bleibt leider auf der Strecke. Wir vermissen Atmosphäre. Wir vermissen fundamentale Kontroversen, Konflikte, authentische Lebensläufe, Wirtschaftsweisen und Landschaftsbeschreibungen, die uns einen ›sense of place‹ vermitteln. Wie oben schon dargelegt: Die neuen Dorfromane müssen gegen vieles anschreiben, sich zur Wehr setzen. Umso verwunderlicher, dass so viele schon erschienen sind und ein Einbrechen dieser Hochkonjunktur nicht in Sicht ist. Unter anderem müssen sie sich ja auch als kritische Antwort auf die grassierenden Landlust-Phänomene positionieren, müssen deutlich machen, dass sie sich von dieser fotogenen Welt der Einmachgläser, Strickjacken und Lagerfeuer vor dem frisch restaurierten Vierkanthof, die in der Werbung und in Magazinen bisweilen bizarre Züge annehmen kann, abheben wollen. So beschreibt es Iris Radisch (2018) treffend in ihrer Verteidigung der neuen Dorf-Romane, so auch Sandra Kegel (2012) ein paar Jahre zuvor. Es ist so gesehen nur konsequent, dass Stilmittel und Schreibweisen wie Ironie und Persiflage zuweilen beinahe penetrant zum Einsatz kommen. Aber genügt das? Wir vermissen eine gewisse Nuancierung, vielleicht auch Dosierung derselben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Mittel in einigen der neuen Dorfromane bisweilen überstrapaziert werden: Als wäre eben alles nur ein verrücktes Tralala-Spiel, ein populäres Musical vor PappmaschéKulissen. Als gäbe es keine andere Möglichkeit, sich mit der aktuellen ländlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, die, wie beschrieben, nicht selten lebensbedrohliche Züge aufweist.

M ARKTTAUGLICHE P ROTAGONISTEN Unser Unbehagen bei gewissen Lektüren könnte man in dieser Formel zusammenfassen: Nicht-Figuren bevölkern Nicht-Orte. In etlichen Dorfromanen der Gegenwartsliteratur wird zwanghaft ein Plot konstruiert, der mit dem Land und seinen Leuten recht wenig zu tun hat. Zunächst zu den Figuren: In Juli Zehs Erfolgsroman UNTERLEUTEN steht jeder Protagonist, jede Protagonistin für einen auf spezifische Charakteristiken reduzier-

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ten bestimmten Typ bzw. Menschenschlag, egal ob es sich um den erfolglosen Professor aus der Stadt, den sich heuschreckenartig verhaltenden Unternehmensberater oder die Pferdenärrin handelt. Zugespitzt formuliert: Zeh, Gerlof, Hansen, Mezger, Brandt und Kaiser-Mühlecker, auch in diesem Sinne Marketingexperten, reagieren auf einen gierigen Markt und sind sehr geschickt darin, die Landlust- und Dorfgeschichten zielgruppengerecht in Plots zu gießen und ländliche sowie städtische Helden und Antihelden zu kreieren, die geistige Wellnessapplikationen höchsten Unterhaltungswerts versprechen. Der Preis dafür? Die Protagonisten könnten zwischen den Romanen hin- und herspazieren, sie könnten ausgetauscht werden. Es würde funktionieren. Keiner würde einen Unterschied wahrnehmen, zu ähnlich sind sich die Charaktere und dargestellten Typen. Das ist ein schlimmer Befund. Die alles kontrollierenden Großbauern Schulz aus Gerlofs NENN MICH NOVEMBER und Gombrowski aus Zehs UNTERLEUTEN sind sich zum Verwechseln ähnlich. Und ihre zögerlichen und ängstlichen Bürgermeister könnten Brüder sein. Aber braucht es nicht das Individuelle, um es auf das Kollektive übertragen zu können? Es gibt sie jedoch durchaus, die einprägsame Figuren, die einen Roman ausmachen, »individuelle moralische Abenteuer – von dem Individuum, das sich in einem vielgestaltigen und annähernd ebenbürtigen Kampf mit der Welt der Umstände entfaltet –, welches den Roman seit ›Don Quijote‹ und ›Robinson Crusoe‹, von der Fabel und der Chronik unterscheidet« (Updike 1988: 117). Welch ein Charakter-Facettenreichtum in Stanišićs VOR DEM FEST (2015) im uckermärkischen Fürstenfelde, einem amüsanten Schmelztiegel persönlicher Marotten. Und wie gut – und wie viel gelungener als in ALTES LAND – geraten Hansen in MITTAGSSTUNDE die eigentümlichen, von Macken und Grillen geprägten Figuren in der Geschichte rund um die Dorfnärrin Feddersen. Auch Bernd Schroeder gelingt es in AUF AMERIKA (2012) überzeugend, den Leser und die Leserin hineinzuziehen in authentische Dorfszenen im Münchner Norden rund um das Leben des demütigen und scheinbar einfältigen Knechtes Veit. Der Bau eines Hühnerstalls, die einzige gemeinsame Unternehmung von Vater und Sohn, die für den selbstherrlichen Vater zum Fiasko wird, der angeblich pädophile Onkel, der im erlebnisreichen Chaos seiner Gartenlaube lebt und Geschichten erzählen kann – Kindheits- und Jugenderlebnisse eines verschwundenen Landlebens, die in Erinnerung bleiben, gerade weil die Figuren so einzigartig sind. Brigitte Kronauer, zweifellos eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hat zu genau diesem Punkt, der Figurenzeichnung, einen glänzenden Essay geschrieben, unter dem Aspekt, was Literatur leisten kann und wozu sie ihrer Ansicht nach sogar moralisch verpflichtet sei. In Nabokovs Roman DIE MUTPROBE, so Kronauers Beispiel, bedauert der jugendliche Held Martin die bloße Floskelhaftigkeit im Nachruf auf den alten Jogolewitsch, er vermisst darin die »›Originalität des Verstorbenen, die wahrhaft unersetzbar war‹. Was man darunter zu verstehen hat? Ein plötzliches schüchternes Lächeln, sein Jackenknopf, an einem

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Faden hängend, seine unverwechselbare Art, Briefmarken aufzukleben beispielsweise« (Kronauer 1994). Kronauers eindringlicher Appell lautet: »Das Wie des Individuums, die vom Vergessen, von Nivellierung und faktischer Unerheblichkeit bedrohte Qualität der Einzelheiten! Hier ist Literatur moralisch zuständig, solche Art von Humanität kann man von ihr erwarten: Die Feier der einzigartigen, einmaligen, zerbrechlichen Ausformung einer Gestalt, mit sanfter Miene durchaus kämpferisch eingesetzt gegen Pauschalisierung, Begriff, Ideologie. Der Modus des unwiederholbaren Einzelwesens gegenüber der alles niederwalzenden und täglich zunehmenden Quantität.« (Ebd.)

Z UM F REMDGEHEN

BRAUCHT MAN KEINEN

B AUERNHOF

In einer ganzen Reihe von Romanen könnte das, was im dörflichen Milieu geschildert wird, überall passieren. Die Schauplätze selber haben zu wenig Gewicht, zu wenig Bedeutung. Zum Fremdgehen braucht man keinen Bauernhof – jedenfalls dann nicht, wenn er so bar aller charakteristischer Details geschildert wird wie in Kaiser-Mühleckers ENTEIGNUNG (2019). Für den westernartigen Rachefeldzug in Thomas Willmanns Historienroman DAS FINSTERE TAL (2010) ist, auch wenn dieser Ortsverschiebung eines Genres originell sein mag, eine Alpenkulisse nicht zwingend. Denn außer Holzfäller- und Gasthaus-Szenen passiert recht wenig, was typisch wäre für ein Leben in einem alpinen Hochtal im Winter. Kurz: Eine Mehrheit der Romane der neuen Ländlichkeit ist ganz einfach zu wenig raumhaltig. Franco Moretti (1999: 98) sagt es in aller Deutlichkeit: Im modernen Roman hängt »das, was passiert, stark davon ab, wo es passiert.« Aber offenbar ist es ein Merkmal vieler zeitgenössischer Dorfromane ohne diese Verschränkung, ohne dieses sich gegenseitige Bedingen von Plot und Handlungsraum auszukommen? Das ist eigentlich eine merkwürdige Erzählstrategie, da Ländlichund Dörflichkeit doch Hauptthemen sein sollten und die Romane ja vielfach unter genau diesem »Label« auch verkauft und angepriesen werden. Fehlen stimmige Details, mangelt es an Plausibilität, dann werden die ländlichen Räume ihres Charakters, ihrer Besonderheit, ihrer kulturellen Verankerung in Zeit und Raum beraubt. Das macht die Handlungsorte nicht nur austauschbar, sondern sie werden auch zu literarischen Nicht-Orten des Ländlichen im Sinne Marc Augés (2012). Sie werden rasch durcheilbares Niemandsland, ohne Identität, Geschichte, Bedeutung; Orte, die sich überall in Europa finden lassen. Sie wirken beziehungslos zu den Figuren und zur Handlung – und beziehungslos bleiben auch die Lesenden zurück. Der Plot dominiert, die Ländlichkeit (im Niedergang) erscheint als hippe, trendige Kulisse.

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E POCHENROMANE , G ENIESTREICHE ODER U NTERHALTUNG ?

DES

Z EITGEISTES

Aber vielleicht ist das ja alles gerade gewollt. Vielleicht entsprechen ja in der gegenwärtigen Situation diese ungefähren Landschaften – diese »Anti-Landschaft von frustrierender Beliebigkeit« (Zeh 2016: 571) wie Juli Zeh es in UNTERLEUTEN selber beschreibt – dem Ennui der Roman-Figuren? Wenn das der Fall ist, dann wären die Romane von Hansen, Gerlof und Kaiser-Mühlecker (sowie auch Brandts Hyperrealismus und Fetischobjekte-Totalität eines ostfriesischen Dorfes in GEGEN DIE WELT) ja wahre Geniestreiche des Zeitgeistes. Vielleicht ließen sie sich dann auch als Epochenromane verstehen. Stellen sie uns doch eine weitgehend illusionsund perspektivlose Ländlichkeit vor Augen. Einen möglicherweise gerade jetzt an einen End- und Wendepunkt kommenden grundlegenden strukturellen Wandel. Eine Umwälzung dessen, was ehemals mit Ländlichkeit als Gegenpol zum Urbanen, mit Bäuerlichkeit und dem ländlichen Raum, als vermeintlicher Ruhepol einer Erholung suchenden urbanen Bevölkerung assoziiert wurde. Es entsteht ein Bild ländlicher Dekadenz, des Verfalls, der Beziehungslosigkeit und der empathischen Unfähigkeit, Beziehungen zwischen Einheimischen und neuen Einwohnern, untereinander und der Umwelt herzustellen. Ja, so könnte man die Texte (vielleicht) auch lesen. Dann würden sie wie präzise Messgeräte die gegenwärtige Lage und Stimmung eines historischen Moments, der Spätmoderne und des Anthropozäns erfassen und für uns erfahrbar machen (ganz im Sinne von Hans Ulrich Gumbrecht). Aber taugen sie wirklich dazu? Ist es nicht eher so, dass gerade diese NichtFiguren und Nicht-Orte es den Lesenden erschweren, sich in Land und Leute und deren Probleme, in die komplexen, mitunter auch bedrückenden Stimmungen einzufühlen? Auf der Produktionsseite konstatieren wir nämlich, wie schon ausgeführt, nicht selten einen doppelten Mangel, nämlich fehlende Ernsthaftigkeit und Realitätsferne. Beides, in Kombination, führt in die Irre, wenn das Land den Bach runtergeht: Das ist unserer Ansicht nach eben gerade kein Programm, keine Absicht, diese ungefähren Landschaften, sondern ein gewisses Unvermögen, heutige ländliche Räume und Dörflichkeit sinnlich und in ihrer ganzen Komplexität zu schildern. Wenn immer mehr Risse durch die dörfliche Gesellschaft gehen, weil Großstrukturen, Investoren, Land-Grabber, identitätszerfressende Urbanität dominieren – wer schildert solche Schicksale, eingebettet in viel größere Zusammenhänge? Wenn Hunderte europäische Landwirte jedes Jahr an Burnout erkranken oder Selbstmord begehen – wer gibt ihnen eine authentische Stimme?6

6

Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang Texte aus erster Hand, wie etwa jener des Schäfers James Rebanks. THE SHEPARD’S LIFE (2016) ist zu einem New-York-TimesBestseller geworden. Rebanks erzählt darin die Geschichte seiner Gegend, des englischen

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Wir denken, dass oberflächliche Schilderungen Land und Leute verdecken und verschleiern. Anstatt mit der Lupe über die »sich unaufhaltsam zersetzende Dörflichkeit«, wie es Esther Kinsky (2014: 36) in AM FLUß formuliert, zu schreiben, wird das Vokabular unscharf und glatt. Erschreckend dünn wäre ein Gegenwartsdorfroman-Wörterbuch. Klar, soll sich jeder Leser und jede Leserin eine andere Allee vorstellen, wenn sie nur Allee heißt. Doch zwischen einer Platanen- oder Zypressenallee und einer Linden- oder Eichenallee – Vorsicht, wo spielt der Roman? – existieren atmosphärische Welten. Scheinbar spielt das keine Rolle mehr. Dabei trägt doch die spezifische Atmosphäre wesentlich dazu bei, dass ein Raum überhaupt als solcher identifiziert und wahrgenommen werden kann. HansUlrich Gumbrecht (2017) und Gernot Böhme (1995) haben hierzu schon alles Wesentliche gesagt.7 Für den Zusammenhang von Raum und Literatur gilt: »Raum [wird] auch dadurch zum menschlichen Raum, indem er narrativ angeeignet – und das heißt zumindest zweierlei: erzählt und gelesen wird« (Nell/Weiland 2014: 21). Doch die literarische Nicht-Atmosphäre oder atmosphärische Leere, die in vielen zeitgenössischen Romanen auszumachen ist – konventionelle, abgenutzte, belanglose, stimmungslose Schauplätze bar jeder Sinnlichkeit –, geht einher mit einer geringen ›Aufenthaltsqualität‹ auch für die Lesenden. Auch das ist sehr bedauerlich, denn es hat durchaus Auswirkungen auf die außerliterarischen Realitäten: Was wir durch die Literatur räumlich vermittelt bekommen, prägt unsere räumliche Wahrnehmung im Alltag, im besten Fall werden wir aufmerksamer (und gerade das wäre dringend nötig), im schlechtesten Fall abgestumpft. Nur wenigen Schreibenden gelingt das, indem sie Landschaft, Natur und Umwelt begrifflich differenziert beschreiben. Sie feiern wie Roger Deakin Pflanzen-

Lake Districts, in der seine Familie seit Jahrhunderten wirtschaftet. Ein weiterer Exponent ist der US-Amerikaner Wendell Berry, ein anderer der Schweizer Jean-Pierre Rochat, der über Jahrzehnte einen Bauernhof mit Schafzucht in der Romandie betrieben und ›nebenbei‹ mehr als fünfzehn, teils mit Preisen ausgezeichnete Bücher geschrieben hat. In PETITE BRUME (2017) thematisiert er etwa auf eindrückliche Weise die rebellischen Impulse einer Bauerngewerkschaft: Es ist ein tragisch-komischer Roman, der die schwierige bäuerliche Realität durch pointierten Humor abmildert, aber nie beschönigt. Denn der Held, Jean, muss zusehen, wie sein Hab und Gut und auch seine Tiere versteigert werden. Innerhalb eines einzigen Tages wird sein Leben auf den Kopf gestellt. 7

Es sei an dieser Stelle nur auf interessante Parallelen zum Resonanz-Konzept von Hartmut Rosa (2016) hingewiesen und auf die Bedeutung von achtsam und störungsfrei wahrgenommenen Naturerlebnissen – Resonanzerfahrungen – für die Welterfahrung und -wahrnehmung (Habekuß 2020).

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namen, die Faszination des einzelnen Wortes, Details, Klänge und Rhythmen, weil sie Pflanzen noch schöner machen, »wie die rankenden Verzierungen die Initialen mittelalterlicher Inkunabeln oder das Geißblatt den Baum, um das es sich windet« (Deakin 2018: 382). Jürgen Goldstein (2019: 207) zitiert so weit auseinanderliegende Gewährsleute wie Wilhelm von Humboldt, für den Wörter Kunstwerken ähnlich seien, mit einer durchaus eigenen Natur, und Marion Poschmann mit ihrer MONDBETRACHUNG IN MONDLOSER NACHT (2016). Für Poschmann hat jedes Wort einen »Hallraum«, hat »Assoziationsmöglichkeiten«, ist umgeben von einem »Bedeutungshof« (Poschmann 2016: 55, 8). Wörter haben eine »Aura« (siehe ebd.: 15). Poschmanns Forderung, sich sprachlich-emotional mit der »Kunst der subtilen Betrachtung« (ebd.: 107) und der Suche nach exakten Begrifflichkeiten und Bezeichnungen, mit dem Raum und seinen Überformungen auseinanderzusetzen, kommt dem recht nahe, was der deutsche Naturlyriker Wilhelm Lehmann schon viel früher für sein eigenes Schreiben ausgedrückt hat: »Wirklichkeitsbesessen« zu sein, um den Phänomen gerecht zu werden. Lehmann forderte seit den 1920er Jahren »Andacht vor den Dingen! [...] Naturtreue, das ist ein schönes Tun, das ist eine schwierige Tat«, so gibt er in einer Interview-Summa am Ende seines Lebens zu Protokoll (Lehmann 1999: 605). Auch der fast ein Jahrhundert später geborene Brite Robert MacFarlane, mittlerweile ein Star des Nature Writing (siehe etwa MacFarlane 2015), ist ebenso überzeugt, dass »place-terms« und »place-language«, also ortsgebundene Begriffe, überhaupt eine ortsgebundene Sprache, uns Horizonte eröffnen, uns das Sehen lehren. Exakte Begriffe verleihen uns die Fähigkeit, Landschaften richtig zu ›lesen‹, aufmerksam, achtsam wahrzunehmen im Sinne einer ›Literacy of landscape‹. Begrifflichkeiten und Metaphern können lyrische, atmosphärische Stimmungen evozieren. Sie machen uns sensibler und aufmerksamer für das Räumliche, sie schaffen einen sense of place, eine emotionale Verbundenheit mit Raum und Ort. Wenn hingegen die Begriffe, die exakten und spezifischen Wörter, Ausdrücke und Beschreibungen für Orte, Landschaft, Naturphänomene, Flora und Fauna aus der Literatur, den Wörterbüchern und aus den Romanen verschwinden und nicht mehr verwendet werden, dann werden sie unbedeutend. Sie verschwinden nicht nur aus unserem Wortschatz, aus unserer Sprache. Sondern sie verschwinden auch aus unserem Bewusstsein, sie hören in gewisser Weise auf zu existieren. »Wer die Wörter ändert, der ändert die Welt« (Assheuer 2019). Während gerade die Literatur unser Sprachvermögen schärfen sollte, trägt sie in vielen Fällen zu einem gewissen Analphabetismus, zu einer Abstumpfung in Bereichen der Raum- und Umweltwahrnehmung bei. Wird damit nicht die ohnehin »politisch und ökonomisch forcierte Abkehr von der Natur« auf diese Weise sogar »sprachlich bestätigt und legitimiert« (Fischer 2019: 178)? Verpassen wir es, über eine Natur im Zeitalter des Anthropozäns zu schreiben und dadurch differenziert unsere Umwelt wahrzunehmen? Jürgen Goldstein (2019: 15) stellt die Frage in aller

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Schärfe: »Können wir es uns leisten, gegenüber einer Wirklichkeit sprachlos zu werden, von der wir elementar abhängen?«

I NSPIRATIONSQUELLE »N ATURE W RITING « Ein am »Nature Writing« geschultes Schreiben wäre also nicht das Schlechteste, was man sich für künftige Dorf- und Ländlichkeits-Romane wünschen könnte: Das wäre, sozusagen, eine Reaktivierung einer Poetologie aus dem Zentrum des Gegenstands (Umwelt, Natur) heraus; eine fruchtbare Wechselwirkung, die sich immer dann ereignet, wenn die Welt auch mit poetischen Mitteln erforscht und betrachtet worden ist, etwa in der Renaissance und Romantik. Der kaum übersetzbare Begriff oder vielleicht sogar das Label »Nature Writing« vereint dabei ganz verschiedene literarische Phänomene, die sich einer Etikettierung eigentlich verschließen, aber gekennzeichnet sind durch »ein nichtfiktionales Schreiben in der Ich-Perspektive [...], durch das über eine äußere physische und innere mentale Erkundung einer überwiegend nichtmenschlichen Umwelt Rechenschaft abgelegt wird« (Goldstein 2019: 12). Nature Writing ist in der Tendenz eine eher essayistische Schreibform. Ihr Gegenstand ist die Naturbeobachtung und -beschreibung, eine Verführung zur Naturerfahrung (nicht jedoch deren Ersatz). Nature Writing zeigt, wie es gelingen kann, Natur in Sprache zu verwandeln. Und, ganz entscheidend: »Mögen sich die klassischen Nature Writer auch durch Meisterhaftigkeit auszeichnen, Nature Writing ist nicht elitär.« (Ebd.: 219) Nature Writing ließe sich ohne weiteres weiter in den Dorf-Roman hinein verlängern, indem das Soziale, Räumliche und Kulturelle überzeugend verbunden wird – und das ist ja auch bereits geschehen, so wie es etwa Esther Kinsky in HAIN (2018) und AM FLUß (2014) gelingt. Nature Writing wäre also eine wichtige Referenz für ein (spezifischeres) Rural Writing, das in Zeiten der globalen Umweltkrise des Anthropozäns die Komplexität und Dynamik des ländlichen Raums sowie das Verhältnis des Menschen zu ihm in den Mittelpunkt stellen könnte. 8 Denn Nature Writing verdankt sich von Anfang an »diesem neuen Spannungsverhältnis von Natur und moderner Zivilisation« (Goldstein 2019: 13). Nur darin »behauptet das Nature Writing seine Aktualität und entfaltet sein diagnostisches und therapeutisches Potential.« (Ebd.) Es gilt aber aufzupassen, auch darauf weist Goldstein hin.

8

In diesem Zusammenhang sollen die herausragenden Leistungen des Matthes & Seitz Verlags in Sachen Nature Writing erwähnt werden. Der Berliner Verlag hat nebst einem diesbezüglich großartigen Programm (sowohl Romane wie Essays wie Sachbücher) auch den »Deutschen Preis für Nature Writing« ins Leben gerufen, der 2020 bereits zum vierten Mal verliehen wird.

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Nicht wohlfeile Befriedigung, nicht unsere Sehnsucht nach einer heilen Natur sollte das Ziel sein, denn sonst »verkommt Nature Writing zum Naturkitsch.« (Ebd.) So gesehen: Könnte ein neues Rural Writing, ein neuer Dorfroman in Verbindung mit den Diskussionen um Anthropozän und Klimawandel, dazu geschult am Nature Writing nicht zum Genre der Stunde werden? Wegweisende Thesen zu einem deutschsprachigen Nature Writing, das, wie er meint, erst in den Anfängen steckt, sind bei Ludwig Fischer zu finden (siehe Fischer 2019: 195-230). Unter anderem schwingt für ihn in den besten Nature-Writing-Texten eine unterschwelliges »Protestenergie« mit: etwa gegen die Verknechtung und Vernichtung von Tieren, gegen die Zerstörung von gewachsenen Landschaften und ganzen Ökosystemen. Aber nur »durch die unmittelbare Sinnlichkeit der Erzählung«, durch »etwas über die verwertbaren Informationen Hinausreichendes […] kann jene Protestenergie in einem sehr elementaren Sinn ergreifen.« (Ebd.: 171f.). Genau das wäre dringend angezeigt. Denn die bisherigen Kniffs und Tricks der Romankunst genügen bei weitem nicht, um, so Robert MacFarlane, der »enormity of this new epoch« (2016) gerecht zu werden. Vielmehr erkennt er einen dringenden Bedarf an »fresh vocabularies and narratives« (ebd.). Und tatsächlich sind wir sprachlich und erzählerisch im Augenblick denkbar schlecht gerüstet: Es kommen uns nicht nur die Wörter und Beschreibungsmöglichkeiten abhanden für das, was gerade vergeht oder gefährdet ist. Es fehlen uns auch (noch) die Narrative, um von dem zu erzählen, was sich abzeichnet, was kommt. Genau dieser Meinung ist auch Olga Tokarcuzk. In ihrem Appell in Stockholm heißt es: Wir behelfen uns mit »angerosteten, überholten Erzählformen« und versuchen »auf diese Weise mit den eigenen beschränkten Horizonten zurechtzukommen. Kurz gesagt: Es mangelt uns an neuen Methoden, von der Welt zu erzählen.« (Tokarczuk 2020: 7)

D IE M ACHT

VON

E RZÄHLUNGEN

Aber diese neuen Erzählungen, selbst wenn wir sie schon hätten, könnten sie die Welt verändern? Viel ist geschrieben worden über die wirklichkeitsbildende Kraft von Literatur. Tatsächlich gibt es literarische Werke, die mitgeholfen haben oder immer noch mithelfen, herrschende Zustände langfristig zu verändern – dadurch, dass sich ihre Botschaft ins kollektive Bewusstsein einprägt: Von Harriet Becher Stowes Anti-Sklaverei-Roman UNCLE TOM’S CABIN (1852) über Emile Zolas aufrüttelnde Schilderung des Arbeiterelends in GERMINAL (1885) oder Virginia Woolfs Impulse, die Geschlechterstereotypen mit ORLANDO (1928) zu hinterfragen (immer noch ein wirkungsmächtiges Kultbuch), bis zu Edouard Louis’ fulminanter Klassenkampfprosa QUI À TUÉ MON PÈRE (WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT,

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2019). Louis ist ein Shootingstar, seine Bücher werden weltweit übersetzt, sie werden verfilmt, auf die Bühne gebracht, im Elysee-Palast gelesen und in den Medien, auf allen Kanälen, debattiert. Er selber bezeichnet sein Schreiben als »konfrontative Literatur« (siehe Lehmkuhl 2018). Dass Fragen nach der sozialen Ungerechtigkeit in Frankreich wieder ganz oben auf der Agenda stehen, das mag nicht nur, aber auch an diesen schmalen Bändchen liegen. Wir sollten also niemals vergessen, wie machtvoll Geschichten – Stories – sind. Dieser Meinung sind nicht nur Literaturfachleute, sondern auch Robert J. Shiller, Ökonom, Nobelpreisträger und nicht von ungefähr Bestseller-Autor im NonFiction-Bereich. Shiller weiß sehr genau, wie gute Geschichten funktionieren, egal ob er sie analysiert oder selber erzählt. In seinem neuesten Buch mit dem Titel NARRATIVE ECONOMICS (2019) erläutert er die gesellschaftliche Wirkung von Stories, genauer: »An economic narrative is a contagious story that has the potential to change how people make economic decisions« (Shiller 2019: 3). Solche Narrative wie etwa der »housing boom«, der American Dream oder Bitcoin und die dadurch jeweils ausgelösten Emotionen auf einer Skala von Panik über Zuversicht bis hin zur Euphorie, so Shillers Kernaussage, haben einen enormen Anteil an ökonomischen Entwicklungen. Sie beeinflussen, wie und was Leute konsumieren, ob sie Geld sparen oder Geld ausgeben, ob Firmen Mitarbeitende einstellen oder entlassen, ob sie das Risiko wählen oder doch lieber auf Nummer sicher gehen. Sie haben Anteil an den großen Katastrophen, die im schlimmsten Fall zu Krieg, Arbeitslosigkeit und wachsender Ungleichheit führen. Shillers Buch müsste übrigens in Zeiten der Corona-Pandemie keineswegs um- oder neu geschrieben werden, im Gegenteil: Die sich widerstreitenden, machtvollen Corona-Narrative (je nachdem, welche Helden, Bösewichte oder Opfer ins Zentrum gestellt werden) bestätigen seine Theorie nur: Erzählungen sind Trigger und Motoren von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen; sie können Meinungen prägen und Handlungen beeinflussen – und selbstverständlich auch manipulieren. Dabei zeichnet sich überdeutlich eine Wechselwirkung ab: »[...] new contagious narratives cause economic events, and economic events cause changed narratives« (ebd.: 71). Für unser Thema, das ja durch und durch auch als ein ökonomisches zu lesen und zu verstehen ist, könnte das heißen: Zwischen einer Erzählung darüber, dass das, was vom Land übrigblieb, problembehaftet, rückständig, abgehängt, im Niedergang begriffen ist, und jener, dass die ländlichen Regionen immer noch (oder wieder?) Möglichkeitsräume, voller Entwicklungspotential sind, liegen Welten. ›Auf dem Land‹ ist künftig ein sinnerfülltes Leben ebenso denkbar wie eines voller Frustrationen und verpasster Chancen, ein Leben in der Sackgasse oder in der Abwärtsspirale. Es kommt nur darauf an, wie man es erzählt.

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M ODERNE M ASSENTIERHALTUNG – S PIEGEL UMFASSENDEREN U NORDNUNG

EINER

Jean-Baptiste del Amo, Schriftsteller, Tierschutz-Aktivist und überzeugter Veganer, hat eine solche wirkungsmächtige Story geschrieben, aktueller denn je. »Sollte der Roman ›Tierreich‹ (2019) viele Leser finden, wäre es gut möglich, dass sich die Zahl der Fleischesser sprunghaft weiter vermindert« (Schulz 2019). Del Amo setzt all sein erzählerisches, sein ganzes sprachschöpferisches Können und Wissen ein, um ein grauenvolles, blutiges Panorama zu malen, in dessen Mittelpunkt eine Schweinezüchter-Dynastie und deren ›Rohstoff‹, die Tiere, stehen. Die existentielle Not der Menschen ist dabei mindestens ebenso groß wie jene der Kreaturen in den Koben, Bestien sind die einen wie die anderen. Man kann, gleichermaßen angewidert wie fasziniert, gar nicht sagen, was sich mehr ins Gedächtnis einbrennt: Die präzisen Schilderungen des heruntergewirtschafteten, dreckstarrenden Hofes um 1900 am Anfang der Geschichte oder die hochindustrialisierte Tierfabrik als apokalyptischer Endpunkt der Entwicklung. Del Amos TIERREICH ist ein Buch, das an die Grenze des Erträglichen geht. Das es aber auch schafft, gleichzeitig das zutiefst deprimierende Thema der Massentierhaltung metaphorisch auf eine höhere Ebene zu bringen und in einen größeren Kontext zu stellen: »Diese Gleichmütigkeit, diese mühsam errungene Gleichgültigkeit den Tieren gegenüber, […] der Eindruck – die Gewissheit, […] einer Abnormität: die der Schweinezucht inmitten einer viel umfassenderen Unordnung, die sich seinem Verstand entzieht, etwas wie eine festgefressene Maschine, wahnsinnig, ihrem Wesen nach unkontrollierbar, etwas, das aus dem Ruder läuft und sie zermalmt, ihr Leben und ihre Grenzen übersteigt; der Schweinestall als Wiege ihrer Bestialität und der der Welt« (Del Amo 2019: 304, 308).

Del Amo könnte seine Geschichte gar nicht erzählen, nicht so unvergesslich und eindringlich, sie würde nicht funktionieren, wenn er dem Thema der Schweinezucht mitsamt all seiner grausigen Details nicht so viel Platz einräumen würde: diese Passagen (und es sind viele) sind integraler Bestandteil der erzählten Welt. Auch in anderen Romanen wird das Elend der Stalltiere beschrieben. In Kaiser-Mühleckers ENTEIGNUNG heißt es: »Lange Reihen von Boxen gingen wir entlang, in denen viele Dutzend schmutzige und zerkratzte Schweine unterschiedlicher Größe auf mit Spalten durchsetzten Betonplatten lagen oder standen [...]; und alles – Tiere, Gegenstände und auch wir – war übersät von Fliegen.« (Kaiser-Mühlecker 2019: 55)

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Einen wieder ganz anderen Tonfall wählt Kathrin Gerlof in NENN MICH NOVEMBER: »Diese Höllenteile, in denen das Vieh vom ersten Atemzug an vor sich hin krepiert. Aufrecht gehalten durch Antibiotika und weil man so dichtgedrängt gar nicht umkippen kann. Wahrscheinlich kann man mit der Gülle, die danach auf die Äcker kommt, die Syphilis heilen, so viel Antibiotika wie da drinstecken.« (Gerlof 2018: 276)

Die agroindustrielle Tierhaltung, ein signifikantes Merkmal der Moderne auf dem Land, ist also im Gegenwartsroman angekommen. Dass dieses konfliktreiche und kontroverse Thema fiktional verarbeitet und im Falle von del Amo sogar zu dem Thema eines Romans werden kann, ist sehr zu begrüßen. 9 Bei Gerlof und KaiserMühlecker aber hat Massentierhaltung einen vollkommen anderen Stellenwert und eine andere Funktion. Eine vertiefte Auseinandersetzung ist nicht das Ziel, im Plot geht es um anderes. Welche Funktion haben diese hinein collagierten Schweinezucht-Impressionen? Massentierhaltung erscheint hier als ein Versatzstück der Ländlichkeitskulisse, als ein hintergrundbildendes Element, das mal eben, jedenfalls bei Kaiser-Mühlecker, atmosphärisch-punktuell aufgerufen wird, um die Verfassung der Figuren zu spiegeln. Gerlofs Botschaft ist bissig-sarkastisch, mittels eines starken Bildes, das auch eine reißerische Headline sein könnte – quasi: »antibiotikagetränkte Gülle heilt Syphilis«. Ein leises Unbehagen könnte sich auch hier bemerkbar machen: Wird hier nicht eines der tristesten Kapitel unserer Zeit ins Lächerliche gezogen oder zumindest unterkomplex behandelt? Klaffen hier Bedeutung des Themas und stilistische Umsetzung nicht zu sehr auseinander? Rural Criticism plädiert – in bewusst engagierter Weise – dafür, folgenreiche Entwicklungen auf dem Land stärker ins Zentrum des Gegenwartsromans zu stellen – wie das del Amo für die Massentierhaltung leistet und Juli Zeh für das Themenspektrum der Energielandschaften. Hierzu braucht es Details. Hierzu braucht es Recherche. Aus Sicht eines Erzählers des 21. Jahrhunderts hält Matthias Politycki dazu fest:

9

Beat Sterchi verfasste bereits vor Jahrzehnten einen Roman über die Grausamkeiten der Massentierhaltung und der Schlachthöfe. Doch BLÖSCH (1983) kam als literarisches, engagiertes Statement zumindest für den internationalen Markt zu früh (in der deutschsprachigen Literaturszene wurde er mit Preisen ausgezeichnet und sehr positiv besprochen). Umso interessanter, dass es nun ein englischer Verlag unter dem Titel COW (2018) erstmals übersetzte, weil das Thema eben den Nerv der Zeit trifft.

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»Ein Text muss einfach in sämtlichen Details ›stimmen‹, wenn er nicht in seiner Wirkung als Ganzes gefährdet sein möchte. Alles muss so genau recherchiert sein, dass man beim Erzählen auch ganze Passagen aus freier Erfindung einbauen kann: Wenn die Fakten stimmen, kann man als Erzähler richtig draufloslügen« (Politycki 2017: 21, Hervorh. im Original).

An eingehender Recherche und/oder Einbringen biographischer Erfahrungen der Schreibenden führt also kein Weg vorbei,10 denn »die narrative Funktion [trägt] menschliche Raumerfahrungen in sich [...] und [ist] dadurch an der Erzeugung und Vermittlung sozialer, kultureller und historischer Raummodelle beteiligt« (Nell/Weiland 2014: 21). Scheinbar reicht aber diese Korrelation für eine adäquate Neudefinition des Dorfromans – auch im Odo Marquardschen Sinne von ›Zukunft braucht Herkunft‹ – nicht. Denn warum profitieren zum Beispiel Kaiser-Mühleckers Werke atmosphärisch nicht stärker von seiner ländlich geprägten Biographie und dem Landwirtschaftsstudium (Informationen, die immerhin auch den Klappentexten seiner Bücher und seiner eigenen Webseite zu entnehmen sind und damit der Leserschaft auch eine gewisse Authentizität versprechen)? Ganz anders präsentiert sich das Bild bei del Amo: Er war ebenso wenig wie wir, seine Lesenden, Zeuge davon, was auf einem Bauernhof mit Schweinezucht um die vorletzte Jahrhundertwende passiert. Aber er baut diese vergangene Welt so überzeugend, so plastisch und plausibel auf, dass wir das Gefühl haben, mittendrin zu stehen. Del Amo steht für uns in der Tradition klassischer Dorfromane wie Singer und Silone. Eine Tradition, die er allerdings bravourös auf den ›Next Level‹ bringt. In seiner Verbindung von persönlichem Engagement und schriftstellerischem Können könnte er ein Pionier einer neuen Autorengeneration sein – und davon brauchen wir mehr.

10 Eine weitere Inspirationsquelle, ergänzend zum Nature Writing, könnte die US-amerikanische Traditionslinie der nicht-fiktionalen Literatur sein (u.a. Truman Capote, Joan Didion, Siri Hustvedt), die »jenseits unserer im Deutschen üblichen Kategorie des Sachbuchs anzusiedeln ist und romanhafte Qualitäten besitzt, ohne die Lizenz zur Erfindung in Anspruch zu nehmen« (Goldstein 2019: 219). Die verschiedenen Ausprägungen dieser »non-fictional novel«, »factual novel«, Tatsachenromane, dokumentarischen Erzählungen, Faktographien sind – wie die Begriffe sagen – geprägt durch einen Fokus aufs Faktische und Dokumentarische, sie setzen dabei zugleich elaborierte Erzähltechniken ein und können so (im besten Fall) zu literarischen Seismographen für Erschütterungen im Bereich der Gesellschaft werden (ebd.: 220).

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E NGAGIERTES R URAL W RITING –

EIN

P LÄDOYER

Wir brauchen ein engagiertes Rural Writing und damit eine neue, letztlich radikalere Form der Erzählung ›über das Land‹. Ja, wir glauben an die wirklichkeitsverändernde Macht von Geschichten und trauen einer Dorfliteratur auf der Höhe der Zeit viel zu. Dass sie wie keine andere Gattung die historische Wahrnehmung der Umwälzungen, Transformationen und Modernisierungsprozesse im ländlichen Raum einordnen kann (vgl. Neumann/Twellmann 2014b). Dass sie gerade nicht Allgemeinplätze verbreitet, sondern Überraschendes erzählt, denn die »Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft nicht zu teilen, ist Voraussetzung dafür, ihr etwas zu erzählen, was sie noch nicht weiß oder nicht wissen will« (Jessen 2019). Dass sie uns zu einem geschärften Bewusstsein, einer Sensibilisierung verhilft; und zwar dafür, wie konfliktreich die einstige Einheit von Landwirtschaft, Ländlichkeit und Dorf auseinanderfällt (vgl. Beetz 2004). Dass sie der enormen Heterogenität des ländlichen Raums Rechnung trägt, seinen lokalen Besonderheiten, aber auch seinen strukturellen Unterschieden, denn das Spektrum umfasst entleerte Gebieten ebenso wie touristische Hot Spots. Dass sie den öffentlichen, von den Städten dominierten Diskurs über den ländlichen Raum beeinflusst. Dass sie Zukunftsszenarien entwirft. Dass sie schließlich das Denken und idealerweise sogar das Handeln von uns allen verändert, wie es engagierte Literatur für andere sozial relevante Themen immer wieder geschafft hat. Denn es besteht dringend Handlungsbedarf. Rural Writing wäre eine literarisch und gesellschaftlich angemessene Antwort auf das, was wir im Anthropozän gegenwärtig erleben und noch erleben werden. So gesehen ist noch viel narrativer Platz frei für ›Rural Writer‹ und große Stories über einen Raum, der für unser aller Zukunft entscheidend ist. Zu entscheidend für Plattitüden, Klischees und Persiflage. Phantastische Entfaltungsmöglichkeiten also für eine engagierte Literatur:11 Wir meinen damit gar nicht zwingend Texte mit einer klaren Botschaft, also Texte im ›Dienste von etwas‹. Es könnten unter die Haut gehende Geschichten sein, die Gedanken formulieren zum Zustand und zur Zukunft der Dörflichkeit, die einen gekonnt und plausibel hineinziehen in Einzelschicksale und authentisch wirkende Welten. Werke, mit denen wir tief eintauchen in Raum und Landschaft, sie erfahren in einem atmosphärischen Sog, als ob man dort selber unterwegs wäre – eine Fortsetzung des Dorfromans mit Mitteln und Themen des 21. Jahrhunderts: »Romane erzählen uns von den Möglichkeiten der

11 ›Littérature engagée‹, engagierte Literatur, ein Begriff, der von Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Aufsatz WAS IST LITERATUR? (1947) in der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt worden ist – was das ist, wer die schreiben soll, ob wir die brauchen, darüber wird seit einiger Zeit wieder vermehrt debattiert, auch unter Autoren und Autorinnen (vgl. Lüscher 2020).

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Welt. Wir spiegeln uns darin. Wir und unsere Zeit. Die besten Romane lesen sich, als ob sie Wirklichkeit wären. Sie sind es nicht. Sie sind Abbilder einer möglichen Welt.« (Weidermann 2016: 127). Wir wenden uns gegen klischeehafte Darstellungen, Pauschalisierungen und Vereinfachungen, wenn es um die Darstellung von Ländlichkeit geht. Diese Kritik leitet sich zugegebenermaßen von einem ziemlich hohen Anspruch an Literatur ab und knüpft an das vielbeschworene alternative ›Wissen der Literatur‹ an: Dass die Bücher nicht bloß unterhalten, sondern einen Erkenntnis-Mehrwert bieten. Alternative Welten entwerfen. Uns emotional berühren. Oder uns die Dinge neu sehen lassen. Es muss ja nicht gleich Kafkas viel zitierte Axt sein, die das gefrorene Meer in uns spaltet, aber irgendetwas Überraschendes, zum Nachdenken Anregendes, Sensibilisierendes, ja, weshalb nicht auch Schockierendes, das wäre doch nicht zu viel verlangt, sollte man meinen. Stattdessen: Allzu häufig Figuren, die man weder hasst noch liebt, die einem schlicht ziemlich egal sind, Handlungen, die irgendwo spielen könnten und nun ist halt zufälligerweise ein maroder Bauernhof zum Schauplatz geworden, und eben Landschaften und Landstriche, die blass und so ganz und gar nichts Charakteristisches an sich haben. Wir plädieren selbstredend nicht für eine literaturkonservative Rückkehr bzw. Kopie des ›alten Dorfromans‹ – sind aber sehr wohl der Meinung, dass etliche dieser Romane (etwa von Ignazio Silone oder John Berger) immer noch zum Besten gehören, was man lesen kann, um die Systeme ›Ländlichkeit‹ und ›Dorf‹ zu verstehen; und dass sich daraus viel lernen lässt. Willkommen wären neue, neuartige Märchen und Mythen, denn auch sie lehren uns, wenn auch mit ganz anderen Mitteln als die hier besprochenen Romane, Essentielles über den Mikrokosmos Dorf und die Ländlichkeit (vgl. das Motto dieses Beitrags): Erzählerische Experimente, wie sie etwa Olga Tokarcuk selber mit UR UND ANDERE ZEITEN (2000, poln. 1996) früh vorgelegt hat, in einer Mischung aus Dorfchronik und Märchen, situiert in einer fiktiven polnischen ländlichen Region, voller rätselhafter, zauberischer Gestalten. Oder jüngst etwa Max Porter mit LANNY (2019), der Geschichte eines kleinen Jungen in einem abgelegenen englischen Dorf. Im Wechsel von vielen Stimmen ist auch die Stimme oder besser: der Bewusstseinsstrom einer mystischen Wesenheit zu vernehmen – »Altvater Schuppenwurz«, der halb Geist, halb Pflanze oder Kreatur, mal unterirdisch, dann wieder auf dem Boden oder in der Luft Teil des dörflichen Kosmos ist. Oder ist er der allgegenwärtige Naturgott Pan? Ein zumindest ungewöhnlicher, poetischer Einfall, um der ›Essenz von Ländlichkeit‹ eine Stimme zu geben. Willkommen wären Zukunftsszenarien, Dystopien, Utopien, die erstaunlicherweise rar gesät sind (eines der wenigen Beispiele liefert Michel Houellebecq). In dieser Hinsicht, so scheint es, sind die visuellen Medien einen Schritt weiter, etwa der Leipziger Künstler Hartmut Kiewert, der in seinen Gemälden mit Verve Geschichten vor den Ruinen des Spätkapitalismus entfaltet, Geschichten von einer

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alternativen Mensch-Tier-Koexistenz. Diese befremdlich-schönen Zukunfts-Szenen fordern unsere gewohnte Wahrnehmung heraus und liefern Stoff zum Nachdenken. Abbildung 1: Hartmut Kiewert: HÜGEL.

© hartmutkiewert.de (CC BY-NC-ND DE 3.0)

Willkommen sind auch ›Erzählungen aus erster Hand‹ (vgl. Fußnote 6). Es kommt scheinbar nicht oft vor, dass sich große Erfahrung im landwirtschaftlichen Bereich mit ebenso großem schriftstellerischem Talent paart. Natürlich hat es immer schon Schriftsteller bäuerlicher Herkunft, sogenannte ›Bauernschriftsteller‹, gegeben. Aber zeitgenössische Praktiker, Praktikerinnen – vom Feld an den Schreibtisch – sind gegenwärtig schon eher rar gesät. Ausgesprochen lesenswert sind die Bücher von James Rebanks, Wendell Berry und Jean-Pierre-Rochat. James Rebanks, Schäfer von Beruf, schreibt über den Ort seiner Herkunft und seines Wirkens: »It is, above all, a peopled landscape. Every acre of it has been defined by the actions of men and women over the past ten thousand years. [...] When we call it our landscape, we mean it as a physical and mental reality. [...] A landscape divided and defined by fields, walls, hedges, dykes, roads, becks, drains, barns, quarries, woods, and lanes.« (Rebanks 2016: 17)

Da ist alles drin, die Authentizität, die plastischen Schilderungen, das Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der Landschaft, das Thematisieren von größerer Bescheidenheit und einen respektvollen Umgang mit Land, Tieren und Nachbarn. »I also knew in a crude way that if books define places, then writing books was important,

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and that we needed books by and about us.« (Ebd.: 9) Vielleicht hören wir nicht genau genug hin, vielleicht sollte man solche Stimmen finden und fördern? Wir sollten! Soviel zum Potential, das wir im aktuellen und künftigen Rural Writing sehen. Dieses hier umrissene neue Schreiben über ländliche Räume im Umbruch, auf das wir unsere Hoffnungen setzen – es ist ja partiell schon da, man muss es nur entdecken. In den Fokus sollen durchaus auch ältere Romane gelangen, die, wie es mit Beat Sterchis Kuhhaltungs- und Schlachtungsroman BLÖSCH von 1983 geschehen ist (vgl. Fußnote 9), unter neuen Vorzeichen plötzlich hochbrisante (Re-)Lektüren ermöglichen.12 Die Kriterien, die wir innerhalb des Rural Criticism entwickelt haben – darunter eine dichte Atmosphäre, eine am Nature Writing geschulte Sprache, eine überzeugende Einheit von Handlungsraum und Plot, gut recherchierte Hintergründe und Details, eine Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Gegenstand (die selbstverständlich Ironie und andere Spielarten nicht ausschließt, im Gegenteil) – lassen sich als Gradmesser für ein gelungenes Rural Writing verwenden. Sie ermöglichen es zugleich, ein größeres Spektrum an Romanen in den Blick zu bekommen, für die literarische Vielfalt zu sensibilisieren – und nicht nur jene Romane in den Vordergrund zu rücken, die ohnehin gerade gehypt werden, sei es durch gekonnte MarketingAktionen oder Feuilleton-Hymnen. Es ist nicht egal, was wir lesen. Rural Criticism könnte dabei helfen, neben den vornehmlich unterhaltenden Büchern auch jene aufzuspüren, die weniger gefällig daherkommen, die uns mitunter überfordern, 13 die aber vielleicht gerade deshalb wegweisend sein könnten. An dieser Stelle ist auch deutlich der oben erwähnte Anknüpfungspunkt an die Literaturgeographie und allgemeiner an die Spatial Humanities erkennbar: Wäre es bei dieser Fülle an Romanen nicht an der Zeit, einen Atlas des Rural Writing zu entwerfen? Auf dem sich verschiedene literarische Traditionen abzeichnen würden, räumlich unterschiedliche Umgangsweisen mit ein- und denselben Phänomenen? Der Strukturwandel in ländlichen Gebieten wird etwa durch ganz unterschiedliche

12 Und die künftigen Romane, auf die wir warten? Dazu ist zu sagen, dass es möglicherweise auch zu früh ist für den großen Rural-Writing-Wurf, der wirklich als Epochenroman und künftiger Klassiker gelesen werden könnte. Die Literaturgeschichte zeigt, dass die Phänomene häufig nur mit Abstand literarisch gültig verarbeitet werden können, man denke nur an die jahre-, ja jahrzehntelangen Rufe nach dem »Wenderoman«. 13 Zur Überforderung als literarisches Qualitätskriterium, vor allem der Gegenwartsliteratur siehe den Beitrag von Robin Detje (2019) auf ZEIT ONLINE: »Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert? Was haben wir von der Welt in den nächsten Jahrzehnten denn anderes zu erwarten als Überforderung und wie sollte eine Literatur, die uns nicht überfordert, so einer Welt gerecht werden?«

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Filter betrachtet: Bei Paolo Cognetti (italienisches Alpengebiet) herrscht eine romantisierende Sichtweise vor, bei Michel Houellebecq (französische Provinz) eine dystopisch-futuristische, bei Reinhard Kaiser-Mühlecker (österreichische Voralpen) eine betont nüchterne. Wir wagen auch zu behaupten: Es ist etwa in der Schweiz, aus bekannten Gründen, sehr viel einfacher an die Tradition des Bauernromans anzuknüpfen als in Deutschland oder in Österreich. Die zentralen Fragen der Literaturgeographie – wo spielt die Literatur und warum dort, wo sind Leerstellen auszumachen und wo liegen die hot spots? – ließen sich außerordentlich gewinnbringend mit Analysen im Sinne des Rural Criticism verknüpfen. Rural Criticism hätte schließlich die zentrale Aufgabe, die gesellschaftliche Funktion eines engagierten Rural Writing herauszustreichen: Jenes könnte nicht zuletzt eine Lücke schließen zwischen der Öffentlichkeit und einer meist unverständlichen, abstrakten Wissenschaft. Eine Lücke, die offenbar auch mittels medialer Diskursen nicht geschlossen werden kann, denn zahllose Nachrichten etwa über die Folgen der Massentierhaltung, das Abnehmen der Biodiversität durch Landnutzungswandel, Fragmentierung, Habitatverlust und das Verschwindenden von Kulturlandschaften oder die überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate unter Landwirten bleiben trotz eindringlicher Manifeste von weltweit anerkannten Experten folgenlos (Cardoso et al. 2020; Guy Pe’er et al. 2020). All diese Entwicklungen lösen immer noch viel zu wenig Betroffenheit aus oder werden, weil an ein Fachpublikum gerichtet, von zu wenigen wahrgenommen. Romane können jedoch – dafür bietet der aktuelle ›Klimawandelroman‹ ein passendes Beispiel – das Abstrakte fassbar machen, indem sie reale Ursachen und Folgen aufzeigen und dabei das »Lesepublikum nicht nur intellektuell, sondern auch emotional-affektiv erreichen« (Mayer 2015: 234). Weshalb uns das alles so wichtig und dringend erscheint? Weil es, wie eingangs schon angemerkt, um nichts Geringes geht, als darum, wie (und wo) wir in Zukunft leben wollen. Entscheidend wird dabei sein, wie wir das Stadt-Land-Verhältnis gesellschaftlich, ökonomisch, kulturell neu aushandeln – Niklas Maak hat es in einem jüngst erschienenen Essay unter dem Titel DIE ZUKUNFT LIEGT AUF DEM LAND! auf den Punkt gebracht beziehungsweise mit einem Ausrufezeichen versehen (Maak 2020). Gerade gelungenes Rural Writing kann also vor dem Hintergrund dieser Diskussionen Erkenntnisse erzeugen und weitergeben an all jene, die die jeweils sehr heterogene und komplexe Problemlage nicht aus eigener Anschauung kennen, nie ein Sachbuch oder einen wissenschaftlichen Artikel in die Hand nehmen.14 Ein wirkmächtiges Aufklärungsprogramm: Engagiert über das Land erzählen.

14 Das wusste übrigens auch schon Ignazio Silone, der mit FONTAMARA (1933) einen Meilenstein der Dorfliteratur veröffentlichte und sich, wie Twellmann (2019: 268) anführt, in

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Dank Unseren ersten Leserinnen und Lesern sind wir zu großem Dank verpflichtet, sie haben die Entwicklung des Rural Criticism-Konzepts in unterschiedlichen Stadien begleitet und durch kluge Kommentare und herausfordernde Rückfragen wesentlich mitgeholfen, die Argumentation zu schärfen: Karin Amor, Andreas Bäumler, Sven Behrisch, Derek Bochmann, Reto Bürgin, Jessica Lucy Delves, Basil Huwyler, Christina Ljungberg, Leonhard Voltmer, Gabi Weber. Ein ganz besonderer Dank geht an Marc Weiland für das so kenntnisreiche und engagierte Lektorat. Weitere Leseempfehlungen und Forschungsideen zum Rural Criticism unter: www.rural-criticism.eu

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einem Brief aus dem Jahr 1934 wie folgt über die Leserschaft seines Romans äußerte: »Nicht alle lassen sich predigen, aber alle lassen sich erzählen.«

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Provinz, Dorf, Heimat oder Warum ich neuerdings so oft eingeladen werde Kleine Diskursgeschichte aus dem Kulturbetrieb A NDREAS M AIER

Es begann vor etwa zehn, fünfzehn Jahren, da wurde ich zum ersten Mal zu Vorträgen, Kolloquien, Symposien eingeladen, die sich mit dem Thema Provinz beschäftigten. Das Thema kam plötzlich empor, wie wenn man ein Quietsche-Entchen unter Wasser drückt und dann losläßt: Es schnellt unmittelbar über Wasser. Was ich erstaunlich daran fand, war, daß ich die Bewegung des Unter-die-Wasseroberfläche-Drückens gar nicht mitbekommen hatte. Es ging zunächst nur um den Konflikt, wenn es denn überhaupt einer sein kann, zwischen ›der‹ Provinz als Nichtmetropolenraum, die, trotz bestimmtem Artikel, meistens diffus-unbestimmt blieb, und eben der Metropole, also meistens Berlin. Die Gründe werde ich später zu erörtern versuchen, hier zunächst nur ganz kurz der Durchlauf. Einige Jahre später hatte sich der Diskurs vom Inhalt her leicht, aber merklich verschoben. Es ging nun um das Leben auf dem Land, in Dörfern, bei mir glauben ja viele, ich käme aus einem Dorf und vom Land. Man wollte nun in den Symposien und Kolloquien, ja, wie soll ich sagen, erfahren, von Einheimischen erfahren, von intellektuell befähigten Einheimischen, also von kulturbefähigten Dorfbewohnern wie mir, wie sich das überhaupt anfühlt, Leben auf dem Land, und was dieses Rätselding ist. Und dann kippte es, das hat natürlich massiv mit den weltweiten Migrationsbewegungen zu tun, von denen einige meinen, diese Bewegungen hätten als Ziel- und Fluchtpunkt ausgerechnet hauptsächlich und vielleicht sogar ausschließlich unser kleines Heimatdorf Bundesrepublik. Die Nachrichten und Bilder von den süditalienischen Meeresküsten kennen wir zwar seit über zwanzig Jahren, aber das war ja immer weit weg und hat die Diskurse hierzulande nicht beeinflussen können. Jetzt hängt der Begriff Heimat groß an jeder geistigen Plakatwand in Deutschland, und selbst die Zeitungen diskutieren den Begriff von oben bis unten.

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Ich selbst, Dorfbewohner aus einer mittelgroßen hessischen Kleinstadt, einer Kreisstadt namens Friedberg in der Wetterau, Einwohnerzahl knapp 30.000, wurde durch alle diese drei Diskursstufen durchgereicht, die einen merklichen, vielleicht sogar teuflischen, vielleicht sehr deutschen inneren Zusammenhang haben: Provinz, Dorf, Heimat. Ich werde nun zu rekonstruieren versuchen, wieso es mich so erwischte, wieso ich so gern eingeladen wurde. Ich werde zu rekonstruieren versuchen, wie die Diskurse entstanden und wie sie sich verschoben, warum sich die Begriffe, wie ich sie früher mal verwendete, verschoben haben, und warum ich mit Provinz, Land, Dorf und dem schwierigen und nicht unbedrohlichen Begriff Heimat früher etwas anderes verbunden habe bzw. diese Begriffe nun in anderen Sprachzusammenhängen verwende als noch vor zehn Jahren. Ich habe eben gesagt, daß gerade das Wort Heimat derzeit von oben bis unten auch in den Zeitungen durchdiskutiert wird. Neulich hat die BILD eine ganze Sonderausgabe HEIMAT gemacht. Ich selbst habe vor einiger Zeit einen großen Artikel zu dem Begriff Heimat im SPIEGEL geschrieben, also in der neuen Bedeutung, nicht mehr im Sinn von Provinz oder Region, das heißt, auch ich war mal wieder dabei. Allerdings darf ich natürlich auch erzählen, wie so etwas läuft. Es ist bei uns Schriftstellerinnen und Schriftstellern ja nicht so, zumindest hoffe ich das, daß wir von uns aus die Hand heben und sagen, ich möchte dies und das in die Zeitung bringen. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas von mir selbst aus für eine Zeitung geschrieben. Vielmehr rufen sie dich an bzw. mailen dir, d.h. du bekommst eine Anfrage. Die Diskursdichte zu einem Begriff wie Heimat oder früher Provinz, will ich damit sagen, entsteht nicht unbedingt durch die ins Rennen geschickten Diskutanten. Sondern sie beruhen auf Redaktionsentscheidungen. Auch heute, da ich nun zu dem Thema meines Titels schreiben und sprechen werde, geschieht das ja nur, weil ich eingeladen wurde, hier etwas zu sagen. Also ebenfalls auf Anfrage. Was ich im Folgenden ausführen werde, ist rein subjektiv, bezieht sich ausschließlich auf meine eigene Geschichte, will den Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit nicht erheben. Was daran für Sie verallgemeinerbar ist, also auf Sie selbst beziehbar, können Sie selbst entscheiden. Wenn ich nun von Provinz, Dorf, Heimat spreche, wird ihnen einiges fremd und skurril vorkommen, Sie werden sich denken, wovon redet der denn da gerade, was hat das denn mit dem Thema zu tun? Aber es ist besser, die Dinge für mich mal von Grund auf und in aller Naivität zu klären. Ich beginne mit Fernsehserien. Mitte der Siebziger lief eine Serie, die SPANNAGL & SOHN hieß. Ort der Handlung: Bayerische Kleinstadt. Ein Gemischtwarenladen, Hauptdarsteller Walter Sedlmayr. Die Kleinstadt ist nicht besonders ländlich gezeichnet, es wird keine romantisierende oder retrograde oder mondäne Atmosphäre in der Ländlichkeit erzeugt, das lag der damaligen Zeit noch fern. Die gezeigte Region war, was sie war, wurde mit nichts anderem konnotiert und durfte sie selbst sein, stellte auch keine Alternative dar, noch meilenweit entfernt von unseren LANDLUST-Magazinen heute. Es war, als wären alle Lebensbereiche noch

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wie von Natur her geschieden. Einmal reist Sedlmayr alias Gemischtwarenhändler Spannagl ins große München. Natürlich findet er dort vieles seltsam, wie immer, wenn ein Kleinstädter in die große Stadt versetzt war in früheren Zeiten. Einmal steht Spannagl vor einem Geschäft, und im Schaufenster sieht er altes Gerümpel aus vergangenen Zeiten als Schauauslage. Spannagl reagiert mit Unverständnis, weil er die Sachen der Vorgängergeneration in seiner Kleinstadt längst aus dem eigenen Schaufenster geräumt hat, um nicht altmodisch zu wirken. Hier, in München, werden sie dagegen neu in die Auslage geräumt. Wir haben uns an RetroAccessoires seit langem gewöhnt, unserem Gemischtwarenhändler anno 1975 ist das völlig neu, und das ist der Kipp-Punkt. Er steht vor dem Schaufenster und begreift nicht, warum da dieses alte Zeug steht, bis ihm ein Bekannter erklärt, daß das der neue Trend ist. »Anlocken muß man sie«, sagt dieser, »vorwärts denken heißt heute rückwärts denken«. Und er schärft ihm ein: »Spannagl, merk dir, Heimweh nach der guten alten Zeit steigert den Umsatz«. Spannagl fährt nach Hause in seine noch fortschrittsgerichtet denkende Kleinstadt, findet eine alte Waage auf dem Speicher und holt sie in den Laden herunter. Seine Frau sagt: »Aber geh, wir haben doch so eine gute Waage im Geschäft.« Und Spannagl: »Ja, aber keine alte.« Da er auch mit antiken Petroleumlampen zu hantieren beginnt, brennt er irgendwann das ganze Schaufenster ab. Ein bemerkenswerter Moment. Gewisse Tendenzen zurück in die Vergangenheit führen offenbar unweigerlich zu Bränden. Später kamen Ländlichkeitsserien auf den Markt. Die berühmteste ist vermutlich die SCHWARZWALDKLINIK, hier wurde Ländlichkeit vor allem dafür benutzt, antiländliche Mondänität zu zelebrieren. Die eigentlichen Protagonisten kommen nicht aus der gezeigten Region, sind aber immer aufs beste frisiert, fahren wertvolle Autos und heben sich von der Umgebung ab. Ich habe das damals nicht geschaut. Ich habe als Kind auch nicht SPANNAGL & SOHN geschaut. Ich habe am liebsten Science-Fiction-Serien geschaut, zusammen mit meinem älteren Bruder. Die Tatsache, daß ich damals in meiner Kleinstadt Science Fiction schaute, kann man mit dem Zustand des Spannagl’schen Ladens vergleichen, bevor der Retrotrend kam. Auch ich war zukunftsgewandt, bevor Retro Mode wurde. Als ich studierte, kamen zwei neue Serien auf den Markt, die für mich das Bild wandelten, weil sie Ländlichkeit, das Leben auf dem Land, in der Provinz, milieutreuer und schroffer zeigten. Da ging es nicht mehr um den Wohlstandsmünchner oder Tegernseer, der nach Hamburg geht. Sondern es ging um eine geschlossene Welt, die nicht mit Mondänität oder Zukunft oder Metropole konnotiert war, sondern mit, ja, Regionalismus. Das war zum einen DER BULLE VON TÖLZ mit Ottfried Fischer und einer ganzen Menge renommierter bayerischer Volksschauspielerinnen und -schauspieler, und zum anderen STOCKINGER mir Karl Markovics, ein in Salzburg und dem Salzburger Land spielender Ableger der berühmteren Serie KOMMISSAR REX. Allesamt Sat.1-Serien, der Sender war damals teils noch ein Hort der Innovationen.

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Früher schaute ich Science Fiction, nun, als Student, schaute ich manchmal den BULLEN VON TÖLZ. STOCKINGER sah ich regelmäßig. Warum konnte ich diese Serien ertragen, da ich doch nie SCHWARZWALDKLINIK oder BERGDOKTOR oder ZWEI MÜNCHNER IN HAMBURG verfolgt hatte? Warum plötzlich Land? Ich sah zu der Zeit kaum mehr Fernsehen, aber bei den beiden Serien blieb ich hängen. Das ist erklärungsbedürftig. Natürlich liefen in meiner Kindheit Serien, die ebenfalls in Süddeutschland oder dem sowieso für unsere Augen und Ohren immer regionalistisch wirkenden Österreich spielten. Etwa das in einer verklärten Vergangenheit lokalisierte KÖNIGLICH BAYERISCHE AMTSGERICHT oder INSPEKTOR WANNINGER mit Beppo Brem, letzteren habe ich als Kind geliebt. Aber die neuen Sat.1Serien unterschieden sich maßgeblich von den alten Serien, weil sie in ihren Gemütlichkeits- und Unterhaltungsfaktor etwas aufnahmen, was es früher nicht gegeben hatte. Ich möchte nicht vorschnell von schwarzem Humor sprechen, das wäre zu unspezifisch. Auch das Wort Abgründigkeit (es trifft auf STOCKINGER wesentlich mehr zu als auf den BULLEN VON TÖLZ) ist mir zu einfach und zu allgemein. Der ganze existenzialistische, absurde Kosmos, der sich in der Literatur-, Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts angesammelt hatte, von Beckett bis Handke, von Thomas Bernhard bis Herbert Achternbusch, konnte sich plötzlich in diesen Unterhaltungsserien spiegeln. Um es auf den Punkt zu bringen: Das KÖNIGLICH BAYERISCHE AMTSGERICHT zeigte einen Münchner Regionalismus bzw. Provinzialismus, der noch ganz den Klischees entsprach, die man gemeinhin Ludwig Thoma oder Ganghofer vorwirft. Spätestens STOCKINGER war ohne den manchmal so genannten Voralpen-Beckett Thomas Bernhard und die in seinen Romanen erzeugten düsteren, morbiden Voralpenlandschaften und ihre Bevölkerung nicht mehr denkbar. Und tatsächlich wird der österreichische Autor auch häufig bei STOCKINGER zitiert. So war plötzlich Fernseh-Ländlichkeit in der literarischen Moderne angekommen. Indem sie mit der Thomas-Bernhard-HerbertAchternbusch-Samuel-Beckett-Stimmung versehen wurde, war sie für einen Moment ihrer eigenen Klischeehaftigkeit entkleidet und auch für jemanden wie mich möglich. Eine letzte Fernsehserie sollte ich erwähnen, weil sie den Übergang zu meinem eigenen Schreiben darstellt, und mein Schreiben ist ja dafür verantwortlich, warum ich in den letzten Jahren so häufig, wie es der Beitragstitel sagt, zu Diskursbeiträgen wie diesem hier eingeladen werde. Es ist die hessische Familienserie FIRMA HESSELBACH, die ich spät als Student in den letzten Semestern kennenlernte. Sie ist größtenteils vor meiner Geburt entstanden und war lange für mich sagenumwoben. Heute gibt es wissenschaftliche Untersuchungen darüber, inwieweit das hessische Nachkriegsfernsehen und auch die FIRMA HESSELBACH das, was wir heute unter Hessisch verstehen, also unseren eigenen Regionalismus und Provinzialismus – und mit welchen Gefühlswerten wir ihn im Sinne von Identitätsstiftung füllen –, prägte; inwieweit also der Hessische Rundfunk, eine Medienanstalt, dafür ursächlich ver-

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antwortlich ist. Kurz, daß also das heutige Hessen, oder was wir darunter verstehen, von seinen Gefühlswerten her in gewisser Weise ein mediales Kunstprodukt ist, mit dem wir uns inzwischen alle identifizieren, ob wir wollen oder nicht. Die HESSELBACHS haben Hessenkolorit, so wie DER BULLE VON TÖLZ Bad Tölzer Kolorit und STOCKINGER Salzburgkolorit hat. Das HESSELBACH-Kolorit war mein eigenes Kolorit, der Schöpfer der Serie kommt aus Friedberg in der Wetterau, eben jenem vermeintlichen Dorf, das in Wirklichkeit die mittelgroße hessische Kleinstadt ist, in der auch ich aufgewachsen bin. Meine ersten Romanversuche kann ich im Nachhinein lesen als etwas, was aus mehreren Linien besteht. Erstens wollte ich dieses Hesselbach-Hessen-Kolorit. Vermutlich setzte ich es unbewußt gegen das, was zur damaligen Zeit Literaturmode war, nämlich die Metropole Berlin oder, schlimmer noch, die damals grassierende (auf mich immer sehr provinziell wirkende) Amerika-Kosmopolitenliteratur, bei der Leben überhaupt erst in New York möglich war und vorher nicht. Neben dem Hessenkolorit wollte ich die Stockinger-Bernhard-Achternbusch-Endgültigkeit und -Abgründigkeit. Zugleich wollte ich die Alpenvorlandbayernbeckettstimmung gleichsam auf den Boden meiner Tatsachen holen, indem ich sie in meine eigene Heimat verlagerte. Ich wollte diese Stimmung einerseits bewahren, andererseits auf mein eigenes Land übertragen bzw. aus meinem etwas herausholen, was adäquat zur ersten ist. Sagen wir, eine spezifische Wetterau-Stimmung. Also die drei Linien, die ich im nachhinein ausmachen kann: das Kolorit der eigenen Herkunft, das Sich-Verwenden dagegen, daß vollgültiges Leben nur in der Metropole oder in anderen Ländern, also in der Nicht-Heimat, am Ort der Nicht-Herkunft möglich sei, und das Bewahren des eigentlichen Kerns meines Schreibens, nämlich jene undefinierbare, schmerzhafte Abgründigkeit immer dabeizuhaben, auch wenn sie erst mal ihre eigene Wetterauer oder Friedberger Form finden mußte. Im Jahr 2000 kam dann mein erster Roman heraus, er heißt WÄLDCHESTAG und spielt in unmittelbarer Umgebung meiner Heimatstadt. Der Name kommt von einem Volksfest, das wir an manchen Orten im Hessischen feiern. Kaum war der Roman heraus, wurde ich mit dem Wort Provinz verbunden. Genauer gesagt spielt der Roman in einer Gemeinde namens Florstadt, diese Gemeinde hat 8.000 Einwohner. In meinem Roman, so kam es einigen Rezensenten vor, hätte ich die Riten und Gebräuche einer Landbevölkerung beschrieben. Natürlich einer in gewisser Weise skurrilen Landbevölkerung. Als skurrile Person lief ja auch einstmals Walter Sedlmayr alias Gemischtwarenhändler Spannagl durchs große München, mit Trachtenjanker und Gamsbartbusch. Mir kam die Rezensionslandschaft um den Roman damals seltsam vor. Ich lebte zu der Zeit hauptsächlich in Frankfurt am Main, ging mit meinen Ex-Kommilitonen ins Waldstadion zum Fußball, einer davon spielte in einer Prog-Rock-Band, gab Konzerte, wir gingen ins Kino, Theater, in Weinbars oder Apfelweinwirtschaften, fuhren nach Berlin, nach München, nach Rom, nach Siena, nach London, lasen Vergil oder Schopenhauer, und wenn

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ich in meiner alten Heimat war, sprach ich mit daheimgebliebenen Freunden, die Vergil lasen, Schopenhauer, nach Frankfurt in Weinbars fuhren, ins Waldstadion gingen, Verwandtschaft in den USA hatten, Freunde in England. Apfelwein hatten sie zuhause, da mußten sie nicht nach Frankfurt fahren. In nichts, aber auch gar nichts unterschieden sich meine Frankfurter Freundinnen und Freunde, also die vermeintlichen Großstädter, von meinen Friedbergern. Letztere wohnten nur an einem kleineren Ort. Natürlich rede ich nur von meinem eigenen Kontaktkreis. Mir ist schon klar, daß es in Frankfurt auch andere Gesellschaftskreise und -schichten gab, die in Friedberg so nicht zu finden waren, und umgekehrt auch. Aber was meine eigene Lebenswelt als damals Endzwanziger und Ex-Student anging, so wäre ich mir lächerlich vorgekommen, hätte ich behauptet, es gäbe einen kategorialen Unterschied zwischen Friedbergern und Frankfurtern oder, sagen wir, Gießenern und Offenbachern und Leuten aus solchen Orten wie Bruchenbrücken, die zwar klein waren, aber an der S-Bahn-Linie lagen. Dennoch war ich jetzt jemand, der Riten und Sitten einer skurrilen, abgeschiedenen Landbevölkerung beschreibt, so wie früher die Ethnologen nach Afrika gegangen sind. Dabei hatte ich alles bloß in der Welt, unser aller Welt, spielen lassen, wie sie eben ist. Bis heute würde ich nicht einmal behaupten, daß Florstadt »auf dem Land« liegt. Dazu war schon damals Frankfurt, die Autobahn, die S-Bahn, die Märkte, die Geschäfte, das Fernsehen, das Telefon, kurz: die Welt viel zu nah, als daß Florstadt nicht Teil dieser Welt gewesen wäre. Ein Dorf wie das heute in Frankfurt eingemeindete Bockenheim war noch zum Zeitpunkt der Eingemeindung vor 120 Jahren sicherlich ebenso »Land« wie Florstadt. Heute macht das alles keinen großen Unterschied mehr, zumal inzwischen alle sowieso die gleiche Sprache sprechen, jenes, ich erinnere an oben, mehr oder minder medial und durch den Hessischen Rundfunk verbreitete Allgemeinhessisch, das es vor dem Hessischen Rundfunk noch nicht gegeben hatte. Mein zweiter Roman spielte in Südtirol, in einem Ort, der zwar bekannter ist als Florstadt, aber noch weniger Einwohner hat, nämlich Klausen, das liegt an der Autobahn 22 zwischen Brenner und Bozen. Die Worte Wetterau oder Hessen oder Friedberg kamen in dem Roman nicht vor, und das Romangeschehen verließ auch niemals Südtiroler Boden. Heimatroman konnte man ihn nicht nennen, ich kam ja nicht daher, Südtirol war nicht meine Heimat. Allerdings, und das zeigt viel über den gegenwärtigen Diskurs und wie er sich entwickelt hat, wurde auch mein erster Roman WÄLDCHESTAG damals nie als Heimatroman tituliert. Das setzte erst viel später ein, Richtung heute, als der Heimatbegriff wieder en vogue wurde. Mit dem zweiten Roman wurde ich allgemeiner gefaßt. Ich war für die Rezensentinnen und Rezensenten nun ein Autor, der sich nicht mit der eigenen Provinz um ihrer selbst willen beschäftigt, sondern mit der Struktur von Provinzen schlechthin. So, wie ich im ersten Roman angeblich die Sitten und Gebräuche von skurrilen Landbewohnern geschildert hatte, so war ich jetzt jemand, der sich damit beschäftigt, wie politische, gesellschaftliche und kommunikative Situationen in kleinen,

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provinziellen, abgeschlossenen Gebieten funktionieren. Aus meinem regional gebundenen, undistanzierten Schreiben wurde für die Rezensenten ein analytisches, distanziertes Schreiben, welches sich eben mit dem Thema Provinz beschäftige. Mein dritter Roman spielte dann in Frankfurt am Main, mein vierter in Potsdam nahe Berlin, aber ich verlor niemals mehr den Ruf eines Autors, der hauptsächlich mit Provinz zu tun habe. Für mich dagegen habe ich immer über die Welt geschrieben. Tatsächlich wurde die Dichotomie zwischen Provinz und Metropole anfänglich stark an den Kontrapositionen Berlin und Restdeutschland festgemacht. Wir können uns nochmal vergegenwärtigen, es gab Zeiten, da wurde man schlichtweg schräg angeschaut, wenn man nicht in Berlin lebte. Als hätte man irgendetwas nicht so ganz geschafft in seinem Leben. Das bestimmte tatsächlich eine Zeitlang den Diskurs, was natürlich eigenartig war, da in der Metropole Berlin zwar mehr als drei Millionen Leute lebten, im Rest des zu vernachlässigenden Provinzdeutschland dann aber immerhin noch fast 80 Millionen weitere, bei denen man damals im öffentlichen Diskurs gar nicht so genau wußte, wie Leben bei ihnen überhaupt möglich war. Was gerade noch ging, war, sich in die Rettungsboote München oder Hamburg zu flüchten, Stockholm, London oder New York waren natürlich auch möglich, wenn auch extraterritorial. Ich war einer der wenigen aus dem Gebiet der Dorfkinder, der Dorfjugend, der das Sprechen und Schreiben gelernt hatte, und konnte im deutschen Literaturbetrieb somit Feldbericht erstatten, wie es denn so zugehe auf dem Land. Soviel zu Provinz, dem ersten Begriff. Die nächste Stufe heißt Dorf. Die Dorfstufe beginnt für mich nach dem BULLEN VON TÖLZ und STOCKINGER, ich siedle sie Mitte der Zweitausend-Nuller-Jahre an. Mitte des vorletzten Jahrzehnts wurden ein paar Dinge anders. Goutierte man Provinz und Ländlichkeit eine Zeitlang erstmal bloß in Kriminal- oder Arztserien, wollte man das im Fernsehen Vorästhetisierte plötzlich in die Realität und ins eigene Leben holen. Dazu waren wir auf dem ersten Höhepunkt der, ich will sie mal so nennen, Neo-Öko-Bewegung. Vielleicht war es einfach der Beginn der Kommerzialisierung des früheren oppositionellen Öko-Gedankens. Erinnern wir uns mal! Alle waren damals rundherum optimistisch, daß alles auf dem Weg zu einer totalen Besserung sei. Man schwärmte von quasi abgasfreien Automobilen, sie wurden für einen winzigen historischen Moment sogar kleiner in Deutschland (natürlich nur, um anschließend noch viel größer zu werden). Ein Wochenmagazin wie DIE ZEIT war damals so grüngewaschen (obwohl es den Ausdruck noch gar nicht gab), daß es eine individualverkehrsinkludierende Utopie ausrufen konnte. Alles würde miteinander vereinbar sein, Wiesen, Straßen, Autos, gute Nahrung, gesunde Luft, glückliche Kühe, glückliche Atomkraftwerke, für einen Moment sah die Welt aus wie wenige Jahre später nur noch die Autowerbung (luftige Landschaften, frohe Familie, blauer Himmel).

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Und was geschah just zu diesem Zeitpunkt? Es war das Jahr 2005, als die erste Ausgabe von LANDLUST erschien. Was LANDLUST tat, war, ein bestimmtes, nicht zuletzt STOCKINGER-artiges Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen. Was LANDLUST zugleich tat, war den Landlebengedanken produkttauglich zu machen und für Großstädter, Autopublikum, Berliner, Metropoliten so zu ästhetisieren, daß er, wenn ich mich mal komplex ausdrücken darf, hinter das im BULLEN VON TÖLZ und STOCKINGER erreichte Niveau an Abgründigkeit und Thomas-Bernhard-Haftigkeit und Warten-auf-Godot-Haftigkeit wieder deutlich zurückfiel ins Reich der bloß schönen Bilder. Diese Bilder verhießen nun aber ein für dich selbst mögliches Leben auf dem Land, sei es als Bewohner dort, sei es als temporärer Urlauber, oder du holst dir das Land in die Stadt und deinen Garten, nämlich in Form von Landhausstil. Die STOCKINGER-Welt sollte nun nach Hause geholt werden, wenn ich das so verkürzt und wie immer rein subjektiv und von meiner Warte aus gesehen sagen darf. Man kochte wie auf dem Land, weckte ein wie auf dem Land, rupfte Kornblumen wie auf dem Land, und die Anleitung oder den Anreiz dafür erwarb man sich für ein paar Euro am Kiosk oder per Abonnement, wo andere sich nach wie vor ihr Pornomagazin kauften, das auf gewisse Weise ja ähnliche Anreize und Anleitungen für das Thema Natur bot. Ganz folgerichtig gründete sich neben vielem in Frankfurt damals im Jahr 2005 auch der Verlag Heinrich & Hahn, mit dessen Verlegern ich befreundet bin. Dieser Verlag beschäftigte sich in seinem Programm ausschließlich mit zwei Dingen. Es sollten Bücher und Texte veröffentlicht werden, die mit Frankfurt zu tun hatten, also Francofortensien, und zum anderen solche, die sich mit Natur in all ihren Facetten, von Spaziergängen über Parkarchitektur bis hin zu Singvögeln oder Waldund Wiesenblumen beschäftigten. Meine Frau hatte damals eine Zeitlang ein Blumentagebuch geführt, sie kennt sich sehr gut mit Wildblumen aus, ich übrigens auch ein bißchen. Und wir können vergleichsweise viele Singvögel erkennen an Gestalt wie auch an ihrem Gesang oder Ruf. Also fragte uns die Verlegerin, ob wir nicht ein Buch für sie schreiben könnten. So entstand damals ein Büchlein, das wir BULLAU. VERSUCH ÜBER NATUR nannten, benannt nach einem winzigen Ort im Odenwald namens Bullau. In dem Buch erzählten wir, wie wir dazu kamen, Blumen und Vögel erkennen zu können, was Blumen und Vögel oder überhaupt Spaziergänge für uns bedeuten, was wir in ihnen suchen und was das mit dem Begriff Natur zu tun haben könnte. D.h., das Buch BULLAU existiert nur, weil es damals, um das Jahr 2005, mit der neuen Landlustbewegung losging, wie ich sie mal nennen will. Auch hier sind die ins Rennen geschickten Diskutanten also nicht allein verantwortlich, wir selbst, meine Frau und ich, wären nämlich niemals von uns selbst auf den Gedanken gekommen, solch ein Buch zu schreiben. Ich muß allerdings auch sagen, daß uns damals in keiner Weise klar war, in welcher Bewegung wir plötzlich mittendrin saßen.

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Nun also ging es nicht mehr um die gesellschaftliche Dichotomie zwischen Hauptstadt und Region, diese Diskussion hatte ja hauptsächlich nach dem Hauptstadtwechsel dazu gedient, für die Westdeutschen Berlin als Metropole zu zementieren, oder sagen wir zu emblematisieren, und den neuen Hauptstädtern ihre Selbstgewißheit als Hauptstädter zu verschaffen, damals wahrscheinlich in der Hoffnung, von der Berliner Warte aus könnte man tatsächlich aufs deutsche Umland so schauen wie vom zentralistischen Paris in die französischen Provinzen. Nun kam die Dorf- und Landleben-Utopie als nächste Wohlstandsstufe über uns, wie gesagt auf diesem ersten Gipfel der Neo-Öko-Bewegung, aus der dann wenige Jahre später die Gesundheits-Vegan-Hipster- und SUV-Bewegung werden würde. Für die Literatur und auch für die Filmlandschaft bedeutete das: Es wurden jetzt immer mehr Geschichten erzählt, die nicht in Berlin oder New York spielten, sondern dezidiert auf dem Land. Nicht in Paderborn oder Osnabrück oder, sagen wir, Freiberg oder Bad Hersfeld, sondern in dörflicher Umgebung. Ich will damit nicht sagen, daß das das Hauptsegment künstlerischer Produktion in diesen Jahren wurde. Man und frau beschäftigte sich auch stark mit Dingen, die mit dem Dritten Reich zu tun hatten, es ging inzwischen auch schon um Identitätsfragen, Geschlechterfragen, Migrationsfragen. Aber Dorf und Land war ein gängiges Segment. Ich selbst hatte inzwischen einige Romane geschrieben, die, wie gesehen, in größeren Städten spielten, aber weil es nun auch das mit meiner Frau zusammen geschriebene Buch BULLAU. VERSUCH ÜBER NATUR gab, das etwa in der ZEIT und der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG besprochen und überall geradezu mit Liebe aufgenommen wurde, wurden wir und wurde ich nun als jemand eingeladen, der einen ganz besonderen Bezug zum Landleben habe. Es rückten nun Dinge in den Mittelpunkt, die mir nicht so bewußt gewesen waren, z.B. meine diversen Stipendien. Die hatten nämlich größtenteils auf dem Land stattgefunden. Einen gewissen Erfahrungsschatz hatte ich inzwischen durch sie gesammelt. Ich hatte ein halbes Jahr im Süden Brandenburgs auf dem Land verbracht, in einem winzigen Ort namens Wiepersdorf. Ein Jahr hatte ich im hannoverschen Wendland in einem noch viel winzigeren Ort mit 78 Einwohnern gelebt. In dem Dorf verkehre ich bis heute. Ich war 30 Kilometer vor Münster auf dem Land, unter einem Heer von Windrädern. Ich hatte zweieinhalb Jahre meines Lebens im Eisacktal in Südtirol verbracht und war dort tatsächlich jeden Tag spazieren, hatte unter anderem mein erstes Goldhähnchen gesehen, meinen ersten Fichtenkreuzschnabel, meine ersten Bluthänflinge. Und ich lebte in der Wetterau, was ja seltsamerweise seit meinem ersten Roman als besonders ländlich galt, als hätten wir da alle sehr besondere Sitten und Gebräuche. Ich hielt allerdings immer dagegen, denn auch wenn ich Wetterauer bin, komme ich dennoch nicht vom Land. Auch wenn unter meinem Fenster ein riesiger Zuckerrübenacker lag, ich war nie Landbewohner gewesen. Warum z.B. kenne ich mich mit Singvögeln aus? Als Kind kannte ich höchstens Amsel, Spatz und Taube, die

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kennt jeder. Als Kind schaute ich mit Begeisterung z.B. KRIEG DER STERNE und kannte jedes Detail und jede Szene auswendig. Vögel kannte ich nicht. Später, da war ich schon Mitte zwanzig, es war allerdings auch noch Jahrzehnte vor der neuen Landlustbewegung, tauschte ich mit dem jüngeren Bruder eines Freundes meine alte KRIEG DER STERNE-Filmmusik-Platte gegen eine Vogelstimmenplatte. So fing es an. Ich bin nicht mit Singvögeln sozialisiert, sondern mit KRIEG DER STERNE. Später las ich Eichendorff, durch ihn kam ich auf Singvögel. Weil mich nämlich frustrierte, daß ich keinen der bei ihm erwähnten Vögel kannte. In meiner Geburtsstadt auf dem Bauernland war sogar einmal der Zar zu Besuch gewesen, vor Jahrzehnten, und Hans Albers und Albert Einstein auch. Die Dorfbewohner, die ich kennengelernt habe, vor allem die in meinem 78-Seelen-Dorf, haben übrigens nie einen besonderen Bezug zu Singvögeln gehabt. Die hatten Landwirtschaft und einen ganz anderen Bezug zur Natur. Aber dennoch gelte ich seit mindestens zehn Jahren auch als Fachkraft für Landleben, so wie ich vorher als Provinzsoziologe unterwegs war. Aus der neuen Landlust-Dorfbewegung Mitte des letzten Jahrzehnts hat sich dann unsere heutige Welt heraus entwickelt. Das Internet wurde noch einmal viel wichtiger, die Vernetzungen totalitärer, die Autos größer als je zuvor, die Gesundheits- und Ernährungsvorstellungen exklusiver, die Werbung infiltrierender und umfassender, und wo es früher mitunter noch reine Produktwerbung gab, werden heute ganze Lebensstile und Lebensentwürfe beworben. Die Menschen sind noch viel beweglicher geworden, vermutlich auch deshalb, weil in der Schicht, in der wir hier zusammensitzen, der Wohlstand noch einmal um ein Erhebliches gestiegen ist. Ich bin mittlerweile über fünfzig Jahre alt, und ich kam mir schon in meiner Jugend oder spätestens mit zwanzig in meinem Heimatweltteil Friedberg so vor, als würde ich im Vergleich zum größten Teil der übrigen Welt wie Gott in Frankreich leben. Und so war es ja auch. Dennoch ist in unserer Schicht die Anzahl der Autos noch einmal erheblich gestiegen, die Quadratmeterzahl des Wohnraums, das Urlaubsvolumen, die Unmenge an Konsumgütern. Und die meisten Produkte, die verbraucht werden, haben wesentlich längere Wegstrecken zurückgelegt als noch zu meiner Zeit und werden auf ganz andere Weise produziert. Die Welt, die deutsche Mittelschichtbürgerwelt, die mir früher so reich schien, ist monetär noch einmal geradezu explodiert in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, gemeinsam übrigens mit der NeoÖko-Bewegung, letztere offenbar als Feigenblatt dieses gigantischen Lebensaufwand-Wachstums. Die Wahl zwischen Stadt und Land ist selbst zu einem Produkt geworden, Lebensentwürfe sind temporär. Früher waren es Leben, ganze, die waren nicht temporär. Heute ziehen die Familien aus der Stadt aufs Land, dann trennen sich die Familien, dann zieht der eine wieder in die Stadt, der andere nach da, und das Landleben ist kein ganzes, von jeher ins Land integriertes mehr, sondern ein Lebensentwurf-Verhalten und ein Konsumverhalten. Auf dem Land hast du ja auch Internetbeschickung, es mangelt dir an nichts mehr, du kannst leben wie in der

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Stadt, nur eben in Landlustumgebung. Deshalb ist die Stadt-Land-Dichotomie, wie wir sie auch hier diskutieren, natürlich selbst ein Wohlstandsphänomen. Wir haben nämlich, als Menschen im heutigen Wohlstand, die Wahl und die Alternative. Wir können wählen zwischen Stadt und Land, und die Wahl ist nicht einmal endgültig, denn es zwingt uns ja keiner dazu, hier oder dort zu leben. Indem wir über Wohlfühlen und Lebensqualität auf dem Land und in der Stadt sprechen, sind wir den Qualitätshipstern schon ziemlich nahe, kommt mir vor. Ich nehme mich da übrigens überhaupt nicht aus, ich habe vorletztes Jahr ein Haus auf dem Land gekauft, und letztes Jahr bin ich wieder weggezogen. Letztes Wochenende habe ich einen Freund auf dem Land besucht, in unmittelbarer Nähe des 78-Seelen-Dorfs, wir überlegen jetzt, eine Alters-WG zu gründen. Stadt, Land, wir wechseln das, wenn wir Geld haben, wie Mietwohnungen. Und wer das Geld nicht hat, hat an der Diskussion dieser Dichotomie Stadt und Land wahrscheinlich auch kein allzu großes Interesse, denn sie ist für ihn ja nicht zielführend. Er kann eher nur von außen beobachten, was andere sich da inzwischen so alles leisten können. Soweit ist die Dorf- und Landluststufe gekommen. Es war möglicherweise vor allem ein Wohlstandsdiskurs. Meine Landbewohner aus dem 78-Seelendorf, Bodo Olm, Uli Techand, HansJürgen Oehlke, Wilfried Penzhorn, ich kenne sie gut – alle die waren von der StadtLand-Diskussion schon immer unberührt. Sie waren einfach immer da, wo sie waren, haben das nie verklärt und haben auch ihre Häuser nie zu Landlustparadiesen im Landhausstil umgemodelt, auch wenn sie mitten im Ländlichen wohnen. Wäre ich zu Hause in meinem Friedberg in der Wetterau geblieben und nie weggegangen, würde ich genau das gleiche Leben führen. Die letzte, die neueste Stufe ist die Heimatstufe. Sie hat für viele angefangen mit dem 4. September 2015. Seit den Migrationsbewegungen ist hierzulande ein neuer Heimatbegriff entstanden, der natürlich etwas mit der eigenen Identität und mit Abgrenzungsbemühungen gegen ein gefühltes Draußen, gegen ein gefühltes Anderes, gegen ein gefühltes Nichtzugehöriges zu tun hat. Blicken wir hier mal kurz zurück, wie wir den Begriff Heimat noch bis vor kurzem verwendet haben! Ich meine damit, in welchen Kontexten wir das Wort verwendet haben, bevor es abgrenzend-identitär wurde. Ich selbst habe das Wort Ende der 2000-Nuller-Jahre offensiv verwendet. Es hat sogar in einen meiner Titel Eingang gefunden, ONKEL J. HEIMATKUNDE. Das war damals gegen Berlin und die Metropole gesetzt, ich habe oben schon darüber geschrieben. Heimat meinte zu der Zeit für eine kurze Epoche wohl nicht viel mehr als Provinz, ländlicher Raum, etwas, wo man nun einmal herkam und was nicht Großstadt war. Heimat meinte damit nicht in aggressiver Weise meine Heimat. Es war eher die Herkunft zum Fremdschämen. Ich habe ein Gespräch in Erinnerung, das ich im Jahr 2012 mit der Konrad-Adenauer-Stiftung führte, damals begann der Heimatbegriff öfter aufzutauchen und meinte noch Provinz, Region. Der Interviewer machte ein Statement, das zeigt, daß sich seit damals die Verwendung des Begriffs geradezu umgedreht hat. Ich zitiere es hier:

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»Weshalb man Ihren Namen ja oft mit dem Heimatbegriff in Verbindung setzt, liegt ja daran, daß einige Ihrer Romane in der Wetterau spielen, in Südtirol, also in klar umgrenzten Regionen, die dann auch für die Figuren ganz konkrete Rahmenbedingungen schaffen. Aber ist Heimat in diesem regional definierten Sinne eigentlich noch aktuell oder möglich, wenn man sich vorstellt, daß gerade die junge Generation im Grunde ihre Identität gar nicht mehr regional, sondern wahrscheinlich global oder über Facebook definiert?« Das Gespräch fand damals im Rahmen einer Tagung mit dem bemerkenswerten Titel WIEVIEL HEIMAT VERTRÄGT EUROPA? statt. Der Titel meinte so etwas wie: Ist die Definition eines für sich stehenden regionalen Raums innerhalb Europas überhaupt noch möglich, und wenn ja, inwieweit denn noch? Auf ein Nationalstaatsgebilde übertragen hätte der Titel also heißen können: Wieviel Dorf verträgt die Nation? Der Begriff Heimat diente hier noch ganz für das, was der Interviewer in seiner Frage auf den Punkt bringt: »eine klar umgrenzte Region, die dann auch für die Figuren ganz konkrete Rahmenbedingungen schafft«. Für mich ist das wie eine Flaschenpost aus vergangener Zeit, denn diese Definition von Heimat klingt heute völlig anders. D.h. hätte der Interviewer diese Formulierung heute gebraucht, würde sie völlig anders verstanden werden. Der Begriff Heimat hat sich in der heutigen politischen und medialen Diskussion von Begriffen wie Region, Land, Dorf, Provinz fast völlig gelöst. Heute bezeichnen die Leute mit Heimat vor allem ihre Herkunft oder das, worin sie seit langem leben. Heimat kann heute auch Paderborn oder Osnabrück sein, oder die ganze Bundesrepublik als großes Dorf. Wir haben sogar als running gag inzwischen ein Heimatministerium, das natürlich ein Bundesministerium ist, zuständig für das ganze Heimatbundesgebiet. Aber all die Merkmale, die wir dem ländlichen, dörflichen Raum beigelegt hatten, nehmen wir in den neuen Heimatbegriff hinein. Ich zitiere nochmal meinen Interviewer von damals, und hören Sie es bitte mit den Ohren von 2018. Er nennt die Heimat »eine klar umgrenzte Region«. Grenze! Klar umgrenzt! Durch die klar umgrenzte Region werden für die Figuren darin ganz konkrete Rahmenbedingungen geschaffen. D.h. innerhalb des Gebietes läuft es nach klaren Regeln und Gesetzmäßigkeiten ab, die durch die klare Umgrenzung des Gebietes zustandekommen bzw. ermöglicht sind. Für meinen Interviewer war das noch die Beschreibung von Wetterau oder einem Südtiroler Tal. In unserem politischen Diskurs ist das zur Beschreibung der ganzen Bundesrepublik geworden. Sie soll eine klar umgrenzte Region, Heimat sein, die dann für die Figuren auch ganz konkrete Rahmenbedingungen schafft. Indem die Heimatmerkmale einer Diskurszeit, als Heimat noch synonym für Provinz, Region, Land, Dorf verwendet wurde, in unsere Gegenwart hineintransportiert werden, ist zwar kein neuer Begriff entstanden, aber er wird auf etwas völlig anderes angewendet, nämlich auf eine ganze Nation. Und diese wird darin so umhegt, als sei sie ein Dorf, als sei sie umgrenzt, sei für sich, sei entlegen und dem Zugriff der Restwelt idyllisch zu entziehen. Mit diesem Heimatbegriff habe ich nichts zu tun, das Wort Nationalismus wäre hier angemessener. Für

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die vorliegenden Buchpublikation hat der Begriff Heimat auch nur insofern Relevanz, als er, wie gezeigt, im neuen Sinn in seinen identitären semantischen Hof auch Dinge hineinnimmt, die aus einem anderen Zusammenhang stammen, nämlich all die Aspekte, mit denen wir sonst Landleben, Dorfleben, regionales Leben belegen. Und so bin ich plötzlich, nun in der neuen Diskurszeit, in überraschendem Morphing ein Fachmann für Heimat geworden und werde zum Beispiel vom SPIEGEL angefragt. Für Heimat im Diskurssinn nach dem 4.9.2015. Zuerst kannte ich mich mit regionalen Sitten und Gebräuchen aus, dann wurde ich Fachkraft in Provinzsoziologie, nur um anschließend Spezialist in Dorfleben und Naturkunde zu werden (ich denke mal, wegen diesen letztgenannten Punkten wurde ich hier eingeladen), und jetzt werde ich in Heimat promoviert, weil ich etwas zu dem neuen Heimatdiskurs zu sagen hätte. Sie sehen, die Begriffe taumeln vor sich hin, aber ich habe mir jetzt mal durch diesen Beitrag und durch die Einladung dazu wenigstens selbst erklären können, aufgrund welcher Verschiebungen der Begriffe und Diskurse wir uns hin zu unserem Heute, unserer heutigen politischen Welt und diesem Fach-Diskurs hier entwickelt haben, und wieso ich wie eine Art Forrest Gump auf jeder Stufe des Diskurses immer wieder in neuer Rolle erscheine, also kurz, aus welchen Gründen ich seit Jahren so oft eingeladen werde zu Themen, die fast identisch mit sich scheinen, in Wahrheit aber eine Entwicklung aufzeigen, die jeder für sich selbst bewerten mag. Bei Spannagl brannte irgendwann das Schaufenster aufgrund seiner antiken Petroleumlampen, mit denen er zündelte. Er hatte immerhin einen modernen funktionstüchtigen Feuerlöscher. Ich hoffe inständig, wir haben auch einen parat.

Imaginationen I

Freiheit als Kern der Idylle Daseinszustände im Vergleich in Johann Heinrich Voß’ Die Leibeigenschaft F ELIX K NODE

E INLEITUNG Die Idyllensammlung DIE LEIBEIGENSCHAFT ist im Jahr 1775 im Lauenburger MUSENALMANACH FÜR DAS JAHR 1776 erschienen und enthält zwei als Idyllen betitelte Schriften. Die erste trägt den Titel DIE PFERDEKNECHTE und stellt den menschlichen Daseinszustand unter dem Joch der Leibeigenschaft dar. Die zweite trägt den Titel DER ÄHRENKRANZ und stellt einen Daseinszustand befreit von der Leibeigenschaft dar. Im Kontrast dieser beiden Zustände entfaltet sich das kritische, gesellschaftspolitische Potenzial dieser Idyllensammlung, auf das in der Forschung immer wieder hingewiesen worden ist. E. T. Voss und E. J. Schneider haben deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Gegenüberstellung der beiden Zustände als Aufruf zur Befreiung von Leibeigenen von Johann Heinrich Voß durchaus lebenswirklich ernst gemeint war.1 Dies gilt vor allem für die frühe Fassung dieser Idyllen. So schreibt Voß in einem Brief vom 20.03.1775 an den freundschaftlich verbundenen Pastor Brückner über seine Leibeigenen-Idyllen: »Ich denke zuweilen so stolz, dass ich durch diese Gedichte Nuzen stiften könnte. Welch ein Lohn, wenn ich etwas zur Befreiung der armen Leibeigenen beigetragen hätte.« (Voß/Boie 2001: 212)2 Die bestehenden Forschungsansätze sehen in der Idyllensammlung DIE LEIBEIGENSCHAFT und den späteren erweiterten Fassungen dieses

1

Vgl. Voss (1968: (29)-(79), besonders (39ff.)); Schneider (1975: 27-37); Schneider (1978: 395-400); Voss (1995: 35-54, besonders 43).

2

Vgl. auch Schneider (1975: 27); Kaiser (1977: 120f., vor allem Anm. 16); Lubinski (1999: 161f.); Birkner (2015: 228).

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Werks ein vehementes Postulat für die Freiheit.3 Freiheit wird auf einen freiheitlichen Daseinszustand festgelegt, das heißt in diesem Fall nicht mehr Leibeigener zu sein, sondern ›als Mensch‹ wieder anerkannt zu werden (vgl. Birkner 2015: 227f.; Schneider 1975: 33). Der freiheitliche Daseinszustand ist im Kontrast zum Dasein in der Gefangenschaft der Leibeigenschaft ›dem Wesen des Menschen‹ angemessen. Daher ist die Befreiung der Leibeigenen eine humanitäre Notwendigkeit und der Herr kann durch die Vernunft zu dieser Überzeugung geführt werden (vgl. Birkner 2015: 227ff.; Schneider 2004: 117f.; Kaiser 1977: 24). Doch bei aller Betonung der Bedeutsamkeit der Freiheit weist die Forschungslage bei einer spezifischen Bestimmung von Freiheit eine Leerstelle auf. Zu hinterfragen ist, was es ganz konkret heißt, ›Mensch und frei zu sein‹. Hinsichtlich der Kontrastierung der Daseinszustände in der Idyllensammlung muss unter Berücksichtigung des Begriffs der Freiheit die paradox wirkende Beobachtung hinreichend erklärt werden, dass der Daseinszustand der Leibeigenschaft und auch der der Freiheit beiderseits jeweils schwer arbeitende Bauern aufweisen, die sich ihrem Herrn unterordnen. Im ersten Fall geschieht die Arbeit gezwungenermaßen und im zweiten Fall geschieht sie freiwillig. Dies führt unweigerlich zu der Frage, was genau durch die Befreiung aus der Leibeigenschaft errungen wird. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Freiheit eng mit einer anthropologischen Bestimmung des Menschen zusammen gedacht werden muss. Wenn der Zustand der Leibeigenschaft den Menschen ›entmenscht‹, dann wird mit der Frage nach einer spezifischen Bestimmung von Freiheit auch danach gefragt, was ›den Menschen zum Menschen macht‹. Es werden die folgenden zwei Thesen vorgestellt: Freiheit ermöglicht einen Daseinszustand, der ›dem Wesen des Menschen gerecht wird‹, weil sie eine Subjekt- und Lebenssphärendifferenzierung von Äußerlichem und Innerlichem als Antizipation von öffentlich und privat etabliert. Die Etablierung dieser beiden Sphären gestaltet den Daseinszustand der Freiheit in der Idylle DER ÄHRENKRANZ im Vergleich zu der gegenübergestellten Anti-Idylle DIE PFERDEKNECHTE besonders lebenswert.

D ER D ASEINSZUSTAND DER L EIBEIGENSCHAFT Die erste Schrift der Idyllensammlung mit dem Titel DIE PFERDEKNECHTE wird als Anti-Idylle betrachtet (vgl. Kaiser 1977: 27; Birkner 2015: 224). Als Anti-Idyllen werden in Anlehnung an Birkner die Texte bezeichnet, die »im Paratext als Idylle« deklariert werden »oder durch den Rekurs auf substanzielle idyllische Topoi einen

3

Genannt sei hier neben E. T. Voss und E. J. Schneider auch noch Kaiser (1977: 11-126), F. Schneider (2004: 112-118) und Birkner (2015: 223-241).

F REIHEIT

ALS

K ERN

DER I DYLLE

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deutlichen Bezug zur Gattungstradition besitzen«, dabei jedoch »keine sozialutopische Gegenwelt, sondern Missstände« (Birkner 2015: 223, Anm. 1) darstellen. Birkner sieht in Anti-Idyllen eine bewusste Negation der literarischen Tradition der Idylle, die »das Denkbild des Idyllischen destruier[en]« (ebd.). Der Daseinszustand der Leibeigenschaft4 wird durch eine Anti-Idylle beschrieben, da in diesem Lebensverhältnis kein idyllisches Leben möglich ist. Die AntiIdylle DIE PFERDEKNECHTE beginnt mit dem Aufeinandertreffen zweier Knechte. Der depressiv und hoffnungslos erscheinende Knecht Michel trifft auf den geschwätzigen und beschwichtigenden Hans. Letzterer ist froh, dass er während der Feiertage einmal nicht den Frondienst leisten muss, sondern ruhen kann. Diese Ruhe möchte der Knecht Hans nutzen, um gemeinsam mit Michel einen Gesang anzustimmen. So wird durch die Figur des Pferdeknechts Hans das idyllische Motiv des Gesangs thematisiert, das jedoch von dem Knecht Michel direkt verweigert wird. Es treffen mit Hans und Michel zwei verschiedene Typen von Leibeigenen aufeinander, denn Michel hat sich im Gegensatz zu Hans noch nicht mit seiner ausweglosen und allein von seinem Herrn abhängigen Lebenslage abgefunden, während Hans sich bereits in einem Daseinszustand befindet, in dem er das Diesseits in der Hoffnung auf jenseitige Gerechtigkeit schlichtweg einfach erträgt. 5 Diese Konstellation der aufeinander treffenden Knechte ist für die Anti-Idylle programmatisch, denn das repräsentative Bild des defizitären Zustands der Leibeigenschaft kommt erst in der Gegenüberstellung von Michel und Hans vollkommen zur Geltung. Hans erscheint als ordnungsstabilisierend, indem er als Knecht erscheint, der sich das erwägende Aufbegehren Michels zwar durchaus mitfühlend anhört, aber letztendlich vor allem mit seiner ›Geistergeschichte‹ dafür sorgt, dass

4

Im Kontext des 18. Jahrhunderts und der Frühen Neuzeit muss die Gesamterscheinung der Leibeigenschaft in »sehr unterschiedliche Formen sozialer Abhängigkeit und Bindung« unterteilt werden, jedoch mit dem gemeinsamen Nenner, dass der Leibeigene in einem »persönliche[n] Abhängigkeitsverhältnis[]« zum Herrn steht (Lubinski 1999: 165).

5

Diese Charakterisierung von Hans findet Evidenz darin, dass er durchweg seinen Status als Leibeigener nicht infrage stellt, denn im Gegensatz zu Michel hat er nicht das Bestreben frei zu werden. Hans ist es am Ende auch, der Michel eine ›Geistergeschichte‹ erzählt, die Michel überzeugt, in seiner diesseitigen Situation auszuharren, um auf jenseitige Gerechtigkeit als Vergeltung zu hoffen. Er gibt Michel auf diese Art und Weise ›neue‹ Hoffnung, jedoch auf Kosten politischer Reaktion. Die ›Geistergeschichte‹ wird programmatisch von dem Knecht Hans erzählt und nicht von einem Pastor, um sie als eine ›Form von Aberglauben‹ zu stilisieren. Die Abwesenheit eines Vertreters des christlich religiösen Glaubens erklärt die perspektivenlose Lage der Leibeigenen, da kein ›humanitärer Erzieher‹ des Adels da zu sein scheint.

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am Status quo nichts verändert wird.6 Michel hingegen ist von der ›ungerechten‹ Verweigerung des Herrn, ihn aus der Leibeigenschaft zu entlassen, so aufgebracht, dass er durchaus tatkräftig aufsässig werden könnte. Im Gespräch mit dem beruhigenden Hans legt sich die Aufsässigkeit aber wieder. Zuvor schildert Michel Hans jedoch ausführlich seine Lebenslage und gibt damit der Anti-Idylle ihren bildhaften Charakter zur Darstellung des Daseinszustands der Leibeigenschaft. Die für Michel ungerechte und ausweglose Situation, unter dem Joch der Leibeigenschaft gefangen zu sein und ohne die Gnade und Barmherzigkeit seines Herrn keine Möglichkeit zu haben, sich aus eigener Kraft in dem ländlichen Raum, in dem er sich befindet, offiziell aus der Leibeigenschaft befreien zu können, wird wie folgt beschrieben: »Laß ihn [mich] erzählen, was wahr ist! Verspricht der Kerl mir die Hochzeit, Und die Freyheit dazu, für hundert Thaler! Mein Alter, Mit dem kahlen wackelnden Kopf, und mein krüpplicher Bruder, Den der Kerl an die Preußen verkauft, und den die Kalmucken, Tatern und Menschenfresser im Kriege zu Schanden gehauen, Scharren alles zuhauf, Schaumünzen mit biblischen Sprüchen, Blanke Rubel, und schimmliche Drittel, und Speciesthaler; Und verkaufen dazu den braunen Hengst mit der Bläße, Und den bläulichen Stier, auf dem Frühlingsmarkte, für Spottgeld. Michel, sagen sie, nim das bißchen Armut, den letzten Noth und Ehrenschilling, und bring’s dem hungrigen Junker! Besser, arm und frey, als Sklave bei Kisten und Kasten! Wasser und trocknes Brod schmeckt Freyen, wie Braten und Märzbier! Weinend bring’ ich’s dem Kerl; er zählt es: Michel, die Hochzeit Will ich euch schenken; allein… mit der Freyheit… Hier zuckt er die Achseln.« (Voß 1996: 8)

Michel und seine Familie haben all ihre materiellen Ressourcen zusammengenommen, damit er sich bei seinem Herrn freikaufen kann. Er berichtet jedoch weiter, dass dieser ihm nicht die Freiheit gibt, weil er Schaden bei der Arbeit angerichtet und angeblich seinen Herrn bestohlen hätte. Doch die Reaktion von Hans verweist darauf, dass diese Argumente nichtig und erlogen sind (vgl. ebd.: 8f.). Dies zeigt auf, dass der Herr Michel gegenüber eigentlich keine Argumente für die Verweigerung der Freiheit hat. Allerdings benötigt er in seiner Position als Herr auch keine Argumente, denn der Missbrauch seiner Macht ermöglicht es ihm, Michel willkür-

6

Dies gilt auch für die Fassung von 1801. Dort glaubt Hans so sehr an das bestehende System der Gesellschaft und die darin bestehende Möglichkeit von Gerechtigkeit, dass er Michel empfiehlt, eine Klage gegen ihren Herrn einzuleiten (vgl. Voß 1968: 29-33).

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lich länger als Leibeigenen zu unterdrücken. Michel ist so seiner Lebenssituation aussichtslos ausgeliefert, denn auch eine offizielle Klage, die wieder kostspielig wäre, will Michel angesichts des in seinen Augen nur scheinbar bestehenden Rechtssystems nicht einreichen. Daher wird der Versuch der rechtmäßigen Befreiung verworfen, weil »ein Rabe […] dem andern die Augen nicht aus[hackt]« (ebd.: 9). Folglich ist Michel seinem Herrn äußerlich 7 gnadenlos ausgeliefert und dieser Zustand bestimmt sein ganzes Dasein. Durch diese vollständige Bestimmung des Daseins durch die äußeren Umstände wird er selbst zu etwas Äußerlichem8 für seinen Herrn; und dieser verhält sich ihm gegenüber auch dementsprechend. Michel ist als Leibeigener auf diese Weise ›entmenscht‹ – er wird sowohl begrifflich als auch praktisch als ein Ding verstanden und eingesetzt. Verdeutlicht wird dies etwa darin, dass Michels Bruder vom Herrn an die Preußen verkauft und dann als Soldat »im Kriege zu Schanden gehauen« (ebd.: 8) wurde. In der Leibeigenschaft kann der Herr willkürlich über den körperlichen Zustand verfügen und muss nicht für die Unversehrtheit seiner Leibeigenen garantieren. Deshalb sehnt Michel sich nach einem Dasein, das ihn nicht auf das Äußerliche festsetzt; und mit dem Konzept der Freiheit verbindet er einen Zustand des Daseins, in dem ihm ein Inneres zuerkannt wird und er damit als ein ganzheitlicher Mensch betrachtet wird. An dem ruralen Ort, an dem er sich befindet, hat er keine Möglichkeit, frei zu werden, wenn es sein Herr ihm nicht ermöglicht. Stattdessen ist er zum Frondienst verpflichtet und muss das Vieh und das Land seines Herrn bewirtschaften. Außerdem darf er als Leibeigener das Land seines Herrn nicht verlassen und ist in gewisser Weise räumlich eingesperrt. Als einziger Ausweg, dieses räumliche Gefangensein aus eigener Kraft zu brechen, erscheint eine Flucht in die nächst gelegene Stadt Hamburg, denn nach den Gesetzen des späten 18. Jahrhunderts versetzt Stadtluft in den Zustand der Freiheit. So erwägt denn auch Michel, sich »den hurtigsten Klepper im Stall [zu zäumen] und nach Hamburg [zu jagen]« (ebd.: 9). Hinsichtlich Michels Gespräch mit Hans ist auffällig, dass im Bezug zu seiner Liebesbeziehung zu Lenore, die markanterweise in der Anti-Idylle nicht als Figur auftritt, sondern nur als Gesprächsthema präsent ist, die alleinige Erlaubnis der Hochzeit mit Lenore für Michel keinen Wert hat. Erst wenn er frei ist, erscheint ihm eine eheliche Bindung mit Lenore als sinnhaft und lebenswert, damit sie »ein freyes glückliches Eheweib [und] bald die glückliche Mutter von freyen Söhnen und

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Die Begriffe des Äußerlichen und Innerlichen sind Relationsbegriffe, die in einem Reziprozitätsverhältnis zueinanderstehen, welches in der Anthropologie des ganzen Menschen im 18. Jahrhundert facettenreich in der Leib-Seele-Problemkonstellation thematisiert wird (vgl. Koschorke 1999 und Schings 1994).

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Michel ist für seinen Herrn etwas rein Äußerliches im Sinne von einem lebenden Körper, der als Arbeitskraft dient.

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Töchtern [ist]« (ebd.). Die Erlaubnis des Herrn, heiraten zu dürfen, hat für Michel in dem äußerlichen Daseinszustand der Leibeigenschaft keine Bedeutung.9 Sein Sehnen gilt der Befreiung aus der Leibeigenschaft, die die Hochzeit mit Lenore erst besonders lebenswert macht, und verweist auf eine Abwendung vom rein Äußerlichen. Michel ist von den äußerlichen Umständen seines Lebens in einem so allumfassenden Sinne beeinflusst, dass er als vollkommen von diesem Äußerlichen bestimmt erscheint; ihm fehlt schmerzlich eine Subjekt- und Lebenssphäre, die nicht durch das Äußere bestimmt ist. Die nicht zustande kommende Hochzeit von Michel und seiner Geliebten Lenore ist als Entscheidung Michels zu betrachten, dass der Daseinszustand der Leibeigenschaft eine innerlich verbundene, zwischenmenschliche Bindung nicht zulässt, da er für seinen Herrn lediglich eine Form von Besitz darstellt und einer beständigen Gefahr und Unsicherheit der Fremdbestimmung ausgesetzt ist. Diese Entscheidung Michels zeigt am signifikantesten auf, wonach er sich konkret sehnt, wenn er sich Freiheit wünscht und vorstellt: eine Sphäre des Innerlichen. Michel heiratet als Leibeigener Lenore nicht, weil dieser äußerliche Zustand ihn vollkommen bestimmt und ›entmenscht‹. Das Äußere der Leibeigenschaft überformt das Innere Michels. Das hat aus anthropologischer Perspektive Folgen; schließlich ist der Mensch ›als Mensch‹ nicht allein durch das Äußerliche definiert. Er ist vielmehr als leibseelische Einheit aufzufassen – und nur in der Verbindung und Entsprechung dieser beiden Sphären kann er auch ein ›ganzer Mensch‹ sein. Unterdrückten Menschen wie Michel fehlt jedoch die Anerkennung als leibseelische Einheit, da sie als Leibeigene verdinglicht werden. Perspektiviert man das Innere als Relationsbegriff für das Geistige und Seelische und das Äußere als eben solcher für das Körperliche und Sinnliche, dann zeigt sich, dass Michel eine wesentliche Sphäre seines Daseins abgesprochen wird. Michels Entscheidung schützt Lenore, denn eine Heirat würde auch sie in diesen ›Zustand der absoluten Äußerlichkeit‹ versetzen. Demgegenüber steht Michels innerliche Verbundenheit mit Lenore, die ihm auch die Vorstellung eines ins Private weisenden Schutzraums eröffnet, der ihm bisher jedoch anthropologisch nicht zugestanden und gesellschaftlich negiert wird. Michel möchte Lenore vor seinem Daseinszustand der Leibeigenschaft bewahren und verzichtet daher auf die mögliche Hochzeit. Seine Liebe steht symbolisch für die Innerlichkeit, die ihm aberkannt ist und die er nicht entfalten kann, sondern unterdrücken muss. So erscheint die Liebe in Michels Daseinszustand einzig noch als entfernter, schattenhafter Konturenumriss. So äußert er zu Hans:

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Lubinski weist darauf hin, dass Michel die Heiratserlaubnis von seinem Herrn erhalten hat und allein »[d]ie Verweigerung der Entlassung aus der Leibeigenschaft […] für Michel derart gravierend [ist], daß sie für ihn auch die Hochzeit, ja seine gesamte weitere Existenz in Frage stellt« (Lubinski 1999: 163).

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»Siehst du dort bey dem Mühlenteich was weißes im Mondschein? Dort! Und kennst du sie, Hans, die dort vergeblich ihr Brauthemd, Ach vergeblich jetzt bleicht? Und nöthigst mich dennoch zum Singen?« (Voß 1996: 8)

Dieser Dialogbeitrag untermauert Michels eigentliche Sehnsucht und seinen anvisierten Gewinn im Leben durch die Befreiung aus der Leibeigenschaft: Er verlangt schmerzlich nach einer Differenzierung von verschiedenen Subjekt- und Lebenssphären. Die Liebe zu Lenore steht hier repräsentativ für eine Sphäre der Privatheit, in der Michel nicht durch den äußerlich gesellschaftlichen Daseinszustand geprägt wäre, sondern für einen Subjekt- und Lebensbereich, in dem er sich aus seinem Inneren heraus definieren kann. Die dreimalige Nennung des Adverbs »dort« verweist darauf, dass Michel als Mensch zwei Subjektsphären aufweist: Neben seiner äußerlichen Sphäre der Leibeigenschaft kommt eine innerliche Sphäre deutlich zum Vorschein, die durch seine Geliebte Lenore repräsentiert wird, aber lediglich noch in der Ferne und damit rudimentär vorhanden ist. Die unerreichbare und unnahbare Lenore verdeutlicht als Sinnbild der unterdrückten Innerlichkeit die ›Entmenschung‹ durch die Leibeigenschaft. Folglich ist Michels Streben nach der Befreiung aus der Leibeigenschaft eng verlinkt mit der gewünschten Heirat Lenores. Beides zusammen wird als Drang gedeutet, nicht ausschließlich auf die äußerliche Sphäre festgelegt zu sein. Michel hat das Bedürfnis, sich im Leben durch mehr zu definieren als durch das Äußerliche. Stilisiert wird das als ein genuin menschliches Verlangen. Dies wird durch das Zusammensuchen der 100 Thaler verdeutlicht, die er seinem Herrn eigentlich für die Freiheit und die Hochzeitserlaubnis bezahlt hat. Mit der Verweigerung der Befreiung aus der Leibeigenschaft verwehrt der Herr Michel jedoch die individuelle Etablierung und gesellschaftliche Anerkennung einer innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre. Der Herr betrachtet Michel nicht als Mitmensch, sondern als kalkulierbares Element seines Besitzes.10 Diese Betrachtungsweise des Herrn auf Michel ist das grundlegende Problem. Aus diesem Grund ist das idyllische Leben auf dem Land nicht möglich, sondern in eine Anti-Idylle verkehrt. Versteht man den Menschen aus anthropologischer Perspektive als leibseelische Einheit (vgl. Pfotenhauer 1987), dann ist die hier vorgenommene Differenzierung einer rein äußerlichen und einer rein innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre sowie die daran anschließende Absolutsetzung der einen (derjenigen des Äußerlichen) und

10 Zu reflektieren ist, dass die Anti-Idylle den Herrn nur aus den subjektiven Perspektiven von Michel und Hans präsentiert. Das bedeutet, dass der Herr nicht als eigenständige Figur verstanden werden kann, sondern als Bild, das sich aus den subjektiven Darstellungen der beiden Pferdeknechte ergibt und ihn als Symbol von Macht und Unterdrückung erscheinen lässt.

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Negation der anderen Seite (derjenigen des Innerlichen), als ein Angriff auf die Natur des Menschen zu betrachten. Gerade daraus zieht die Anti-Idylle ihre argumentative Stärke. Denn dadurch wird deutlich, dass die Leibeigenschaft ein Daseinszustand ist, der ›dem Wesen des Menschen‹ nicht gerecht wird, weil dieser Zustand den Menschen in die äußerliche Lebenssphäre festsetzt, ja den Menschen für den Herrn auf eine Äußerlichkeit reduziert. Dass der Pferdeknecht Michel als Mensch jedoch eindeutig eine innerliche Sphäre aufweist, die er jedoch nicht entfalten kann, sondern stattdessen unterdrücken muss, wird neben der Beschreibung der Liebe zu Lenore vor allem in einem Entwicklungsprozess von innerlich geprägten Zuständen dargestellt.11 Zu Beginn der Anti-Idylle ist Michel desillusioniert, die Hoffnungslosigkeit bzgl. einer Befreiung aus der Leibeigenschaft schmerzt ihn. Im Verlaufe des Gesprächs mit Hans, in dem der Betrug seines Herrn dargestellt wird, ereifert er sich in einem so hohen Maß, dass seine Desillusionierung und Ausweglosigkeit in Zorn und Wut umschlagen. In diesem Zustand sucht er nach Möglichkeiten, seine Befreiung aus der Leibeigenschaft zu bewirken, ohne auf die Gnade seines Herrn angewiesen zu sein. Die Flucht aus dem ruralen Raum heraus in die Stadt Hamburg erscheint als einzige Möglichkeit. Doch Hans erzählt Michel am Ende eine ›Geistergeschichte‹, die thematisiert, dass die Herren, die Leibeigene haben und ausnutzen, für ihr Verhalten im Jenseits bestraft werden und ihnen, den im Diesseits Gepeinigten, dann Gerechtigkeit für das Ausharren der leidigen, diesseitigen Situation widerfahren werde. So beruhigt sich Michel schließlich wieder und beschließt, doch im dörflichen Raum bei seiner Familie zu bleiben. Er nimmt im Angesicht der Hoffnung auf jenseitige Gerechtigkeit in Kauf, im Leben unfrei zu sein. Das rurale Leben Michels ist kein ›gutes‹ ländliches Leben, weil sein Herr ihm dies nicht ermöglicht, indem er ihm die Freiheit versagt und ihm damit einem ›dem Wesen des Menschen‹ angemessenen Daseinszustand verweigert. Für ihn ist Michel ein äußerliches Gut und kein Mensch; und demgemäß verhält er sich ihm gegenüber. Durch den Dialogpartner Hans wird deutlich, dass einzig die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits das

11 Das bedeutet auch, dass ›Natur‹, hier als ›die Natur des Menschen‹, in der Anti-Idylle noch fragmentarisch präsent ist. Sie ist nicht verloren, sondern ihre Entfaltungs- und Realisierungsmöglichkeit ist für die Pferdeknechte lediglich nicht gegeben. Daraus folgt aber, dass für die Formation der Idylle nicht ›die Natur von außen‹, sondern vielmehr ›das Wissen von dieser Natur‹ in die Anti-Idylle eingeführt und schließlich auch ›als Wissen‹ von dem Herrn bzw. den Herren (auch in ihren folgerichtigen Konsequenzen) erkannt und anerkannt werden muss. Kaiser sieht dagegen die ›von außerhalb‹ stattfindende Einführung von der »Idyllennatur«, die »als eine statische Vernunftnatur« lediglich »vermeintliche Naturformen von Gesellschaft als Vernunftformen« darstelle, als signifikanten Unterschied zwischen Anti-Idylle und Idylle (vgl. Kaiser 1977: 35f. und 100).

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lebenswirkliche Hier und Jetzt der Pferdeknechte ertragbar macht. Im ländlichen Diesseits bleiben beide ohne die Einsicht ihres Herrn Leibeigene und müssen ein Leben führen, das dem Wesen des Menschen unwürdig ist.

D ER FREIHEITLICHE D ASEINSZUSTAND Die Anti-Idylle DIE PFERDEKNECHTE wird mit der zweiten Idylle DER ÄHRENKRANZ, die eine Idylle im eigentlichen Gattungsverständnis darstellt, kontrastiert. In ihr wird ein Dialog zwischen dem Liebes- und Brautpaar Henning und Sabine dargestellt. Ein signifikanter Unterschied der Daseinszustände zeigt sich so schon in der Konstellation der Dialogpartner. Während die Dialogpartner in der ersten Idylle zwei Pferdeknechte sind und das Aufeinandertreffen der beiden mit dem äußerlichen Umstand der Leibeigenschaft zusammenhängt, so ist die Konstellation eines Liebespaars eine Kommunikationssituation, die sich vom rein Äußerlichen abwendet. Diese Distanzierung vom Äußerlichen wird in der Idylle von Beginn an deutlich. Es wird eine Handlung angedeutet, die in der literarischen Gattung der Idylle häufig auftritt: Ein Sänger wird beim Singen von seiner Geliebten belauscht. Doch der Sänger, das ist Henning, bemerkt eine »weisse Gestalt« (Voß 1996: 11), die sich als seine Geliebte Sabine enttarnt; und so wird der Gesang des Hennings an dieser Stelle der Idylle nicht mitgeteilt. Gemein ist beiden Texten, dass die jeweilige Geliebte und Braut symbolisch mit der Farbe Weiß auftritt. Während Michels Lenore ihr Brauthemd im Mondschein allerdings vergeblich bleicht, geht Sabine, die Geliebte von Henning, als weiße Gestalt auf Henning zu. Die Ab- und Anwesenheit der Geliebten unterscheidet die beiden Daseinszustände bereits vehement und korrespondiert mit der Möglichkeit, das eigene Innere als Subjekt- und Lebenssphäre etablieren und entfalten zu können. Nach einer Begrüßungsszene fordert Sabine indirekt darüber Rechenschaft, dass Henning sie allein gelassen hat. Es folgt darauf die folgende Dialogsequenz: »HENNING Närrchen, [nimm] die Hand von dem Mund‘! Ich will dir Rechenschaft geben. Seit der Baron uns die Freyheit geschenkt, singt alles im Dorfe; Aber alles im Dorf‘ (ob ich’s schon nicht glaube) behauptet, Ich sey der beßte Sänger, und spiel‘ am beßten die Cyther. Morgen sind’s dreyzehn Jahr, als nach der gesegneten Ernte, Unter dem Klockengeläut‘ und dem Schall der Trompeten und Pauken, Uns der Baron frey gab; und als Braut und Bräutigam, weißt du, Müssen wir beyd‘ im Zug mit dem Ährenkranz vorangehen. … Dirne! wir waren noch Kinder, und kannten nicht Knechtschaft noch Freyheit!

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Aber du hörtest heut die kräftige Predigt, wie alles, Alt und Jung laut weint‘, und der Priester nicht reden konnte, Und wir die Hand uns drückten… SABINE Du weinst? Schweig, Henning! Ich weiß schon! Henning, der beßte Sänger, und bravste Bengel im Dorfe, Hat ein Lied auf die Freyheit gemacht, um es morgen zu singen! Nicht so? und schlich sich allein, um hübsch beweglich zu singen! Schelmchen, küß mich dafür! Er verdient’s, der liebe Baron der!« (Voß 1996: 12)

Während in der ersten Idylle das Singen als Zeitvertreib negiert wurde, rückt dies in dieser Idylle in den thematischen Fokus. So wird Henning seiner Geliebten Sabine im Verlauf der Idylle sein panegyrisches Lied vorsingen. Die Grundstimmung dieser Idylle – und dies artikuliert das panegyrische Lied Hennings ebenfalls ausführlich – drückt Dankbarkeit, Zufriedenheit und Glück aus. Das selbstgedichtete Lied Hennings wird wie die Liebe zu Sabine als Entfaltung einer innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre gedeutet. So kann Henning im Gegensatz zu Michel eine erfüllte Liebe leben und Sabine heiraten. Außerdem hat er im Kontrast zu Michel die Ruhe und das Gemüt dazu, ein Lied zu dichten und zu singen. Das Lied Hennings erscheint als kulturelle Tradierung der Wohltat des Barons, ihnen die Freiheit geschenkt zu haben. Das Lied wird als Dichtung auf diese Weise als ›Frucht‹ des freiheitlichen Daseinszustands konstruiert. So wird dargestellt, dass es in diesem Zustand möglich ist, sich als ganzer Mensch zu entfalten. Der freiheitliche Daseinszustand bietet Henning die Möglichkeit, zwischen zwei Sphären zu differenzieren. Über die äußere Sphäre berichtet Henning in seinem panegyrischen Lied, das für ein öffentliches Ereignis erdichtet wurde. Im Vordergrund des sonstigen Dialogs zwischen Henning und Sabine steht entweder ihre Zuneigung zueinander oder die Freiheit, die sie durch den Baron erhalten haben. Daraus resultiert, dass die zweite Idylle als Daseinszustand die Entfaltung einer privat-innerlichen Lebenssphäre darstellt, die in der ersten Idylle fehlt und nach der sich der Pferdeknecht Michel so sehr sehnt. Der Kontrast von Äußerlichkeit und Innerlichkeit ist in den thematischen Schwerpunktsetzungen der beiden Idyllen angelegt. Die Freiheit der Idylle, die in DER ÄHRENKRANZ in der Gegenüberstellung zu der Anti-Idylle DIE PFERDEKNECHTE vorgestellt wird, besteht in der Sphäre der Innerlichkeit als Antizipation von Privatheit.

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Die Deutung von Freiheit als Etablierung und Anerkennung einer innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre wird durch einen Blick in das panegyrische Lied Hennings verdeutlicht. Das Lied Hennings unterbricht die sonst bestehende Hexameter-Form der Idyllensammlung DIE LEIBEIGENSCHAFT12 und besteht aus insgesamt elf Strophen, die jeweils sechs Verse umfassen. Die Strophen weisen das Reimschema des Schweifreims auf und können als Schweifreimstrophen identifiziert werden. Die Schweifreimstrophe zeichnet sich besonders durch eine zweigliedrig rhythmische Melodie aus. Das Lied Hennings ist durch eine Regelmäßigkeit der Reime geprägt, die die zweigliedrig rhythmische Melodie voll zur Geltung bringt und auf diese Art die Singbarkeit untermauert und die intendierte Gedichtform des Liedes unterstützt. Die Gedichtform des Liedes wird zusätzlich durch die Metrik verstärkt. Die ersten beiden sowie der vierte und fünfte Vers jeder Strophe weisen als Versmaß einen vierhebigen Jambus auf, während der dritte und sechste Vers jeweils um eine Hebung verkürzt ist. So wird die zweigliedrige Struktur der Schweifreimstrophe in der Metrik betont und unterstreicht die rhythmische Singbarkeit des Liedes. Das Lied wiederum erfüllt die Funktion, eine lebensfrohe, glückerfüllte und zufriedene Stimmung auszudrücken. Die siebte Strophe dieses Liedes offenbart, wie sich die äußerlich gesellschaftliche Lebenssphäre in dem freiheitlichen Daseinszustand gestaltet: »Wir ackern tief, und dröschen aus, Und bessern Feld und Wies’ und Haus, Kein Schweiß ist uns zu theur! Kein harter Vogt steht hinter uns! Ein Wink vom lieben Herrn; wir thun’s! Und liefen durch das Feuer!« (Voß 1996: 15)

12 Kaiser sieht die Versform des Hexameters in den sozialkritischen Idyllen von Voß erst als Monumentalisierung der »Anklage« und dann des »Ideal[s]« (vgl. Kaiser 1977: 51 und 112f). Vgl. zur Funktion des Hexameters in den Idyllen von Voß auch BöschensteinSchäfer (1977: 100f.). Hinzugefügt sei an dieser Stelle noch, dass die Versform des Hexameters auf einen gewissen Grad von Bildung hinweist und so die bäuerliche Alltagswelt mit der Bildungssprache kontrastiert wird. Diese Kontrastierung offenbart den Adel als den Adressaten dieser Dichtung, die in dieser als die Instanz kenntlich gemacht wird, die eben durch Bildung zu der Einsicht gelangen kann (und soll), dass auch die Leibeigenen doch eigentlich Menschen und als solche zu behandeln sind.

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Das Lied Hennings, besonders diese Strophe, ist für die Bestimmung von Freiheit sehr aufschlussreich, weil geschildert wird, dass der äußere Lebensumstand Hennings bezüglich der Arbeit sich im Wesentlichen von dem Umstand unter der Leibeigenschaft nicht unterscheidet. Ein hervorzuhebender Unterschied ist, dass Henning die schwere Arbeit sogar freiwillig erledigt und singt, dass er für seinen »lieben Herrn […] durch das Feuer« laufen würde. Der freiheitliche Daseinszustand wird von dem Daseinszustand der Leibeigenschaft folglich nicht im Äußeren differenziert. Die Befreiung aus der Leibeigenschaft ist nicht gleichzusetzen mit der Befreiung von schwerer körperlicher Arbeit und auch nicht mit der Loslösung von der notwendigen Gehorsamkeit gegenüber dem Adel. Der vehemente Unterschied dieser beiden Daseinszustände ist einzig, dass Henning zwei deutlich voneinander getrennte Subjekt- und Lebenssphären aufweist: die äußerlich öffentliche und die innerlich private Sphäre. Der Pferdeknecht Michel dagegen ist als Leibeigener auf eine Sphäre, und zwar die äußerlich-öffentliche, festgelegt. Freiheit beschreibt somit in der Idyllensammlung DIE LEIBEIGENSCHAFT die Möglichkeit, sich als Mensch neben dem Äußerlich-Öffentlichen auch durch das Innerlich-Private bestimmen zu können.13 Eine solche Auffassung von Freiheit umfasst zwei wesentliche Komponenten, die sich in dem Aufbau der zweigliedrigen Idyllensammlung widerspiegelt. Die Basis von Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang, Fremdbestimmung und Unterdrückung. Zur umfassenden Verwirklichung von Freiheit ist jedoch auch die gesellschaftlich etablierte (bzw. aus der Perspektive Michels: zu etablierende) Subjekt- und Lebenssphäre der Innerlichkeit in ihrer besonderen Eigentümlichkeit zu entfalten. Wenn diese individuelle Entfaltungsmöglichkeit anerkannt und zugestanden wird, dann kann auch das durch harte Arbeit und Adelsgehorsam geprägte rurale, dörfliche Leben ein ›gutes‹ Leben sein.14

13 Die Feststellung Lubinskis, dass »[e]in solchermaßen von den konkreten, vor allem ökonomischen Existenzbedingungen losgelöstes Freiheitsideal […] wenig mit der bäuerlichen Lebenswirklichkeit jener Zeit zu tun [hatte]«, erscheint in diesem Zusammenhang sehr plausibel (vgl. Lubinski 1999: 172). Anknüpfend daran sei hier die These vertreten, dass die in der Idyllensammlung entworfene Vorstellung von Freiheit vielmehr als ein bürgerlicher Wert erscheint und die Idyllenfiguren als Sprachrohr dieses Werts fungieren. Außerdem wird der freiheitliche Daseinszustand für den Adel als ökonomischer Vorteil vorgestellt, indem die freien Landarbeiter als arbeitswilliger, tatkräftiger und loyaler konstruiert werden. Dies affirmiert den Adressatenbezug auf adlige und gelehrte Kreise, der durch die Hexameterform der Idyllen hervortritt. 14 Dieser freiheitliche Daseinszustand kann als ›Versöhnung von Natur und Zivilisation‹ verstanden werden, denn die hierarchisierte Gesellschaftsstruktur ist als ›Produkt‹ eines Zivilisierungsprozesses zu verstehen. Damit ist die Leibeigenschaft ein echt zivilisatorischer Daseinszustand. So kann auch die Deformation und Fragmentierung ›der Natur‹

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F AZIT Die Bestimmung von Freiheit als Etablierung und Anerkennung einer innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre bekommt auch durch die spätere Fassung von 1801 weitere Evidenz. In dieser werden die beiden Idyllen DIE PFERDEKNECHTE und DER ÄHRENKRANZ erweitert und erscheinen nun unter den Titeln DIE LEIBEIGENEN und DIE FREIGELASSENEN. Zwischen diesen beiden Werken wird eine dritte Idylle mit dem Titel DIE ERLEICHTERTEN hinzugefügt, die ausführlich thematisiert, dass ein Herr mit ›Bildung und Vernunft‹ zu der Erkenntnis geführt werden muss, dass Leibeigene auch Menschen sind und daher befreit werden sollten. Die Betrachtung von Menschen als eine Form von Besitz wird aus einer humanitären Überzeugung heraus deutlich negiert, da der Mensch so entfremdet und ›entmenscht‹ werde (vgl. Voß 1968: 45-71). Die Idylle DIE FREIGELASSENEN konstatiert vor diesem Hintergrund, dass der Herr bei der Entlassung der Leibeigenen auch gewinnt. Dieser Gewinn zeigt sich symbolisch im Aufblühen der ›äußerlichen Natur‹, denn die Ernte bei den freien Bauern ist sehr gut und impliziert somit, dass die Wiederherstellung der ›menschlichen Natur‹ mit der ›äußeren Natur‹ korrespondiert (vgl. Voß 1968: 72-98).15 Die Menschen, die sich nun im Zustand der Freiheit befinden,

erklärt werden. Wird doch mit dem freiheitlichen Daseinszustand der Leibeigenen eine Beschaffenheit der (zwischen-)menschlichen Daseinsverhältnisse anvisiert, die in dieser Beschaffenheit in der Vergangenheit nie realisiert war, da vor dem Zivilisierungsprozess im Sinne eines ›ursprünglichen Naturzustands‹ von einer grundlegenden »Gleichheit der Menschen« (Birkner 2015: 228) ausgegangen werden muss. Aus diesem Grund ist der freiheitliche Daseinszustand eine ›Synthese von Zivilisation und Natur‹. Die Struktur der feudalen Ordnung als Zivilisation verbindet sich mit ›der eigentlichen Natur des Menschen‹, indem ›Menschen als solche‹ anerkannt und dementsprechend behandelt werden und leben können. Kaiser sieht in dem Ziel der sozialkritischen Idyllen von Voß die Vergangenheit als Zukunft gesetzt (vgl. Kaiser 1977: 30, 50, 89, 102 und 107-126). Zwar ist Kaiser mit Blick auf patriarchalische Strukturen und die Verklärung dieser durchaus zuzustimmen, doch erscheint die geschichtliche Perspektive in den sozialkritischen Idyllen ›nicht rückwärtsgewandt, sondern nach vorne gerichtet‹. Vgl. für die Konstruktion der »patriarchalischen Gutsherrschaft […] als utopisches Ideal« auch Lubinski (1999: 181ff). 15 Das reziproke Harmonieverhältnis zwischen ›menschlicher und äußerer Natur‹ stellt ein weiteres, ökonomisches Argument für die Obrigkeit dar, ihre Leibeigenen freizulassen. Dieser postulierte höhere Ertrag durch die Entlassung aus der Leibeigenschaft steht so im Dienste der Fürsprache für die Freiheit. Die Fokussierung des höheren Ertrags für die Obrigkeit kann im freiheitlichen Daseinszustand jedoch auch ins Negative gewendet werden, indem es unter den Bauern als Erbpächtern zu einem Konkurrenzkampf im

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können eine innerliche Lebenssphäre etablieren und so wieder ›ihrer Natur entsprechend‹ leben und arbeiten – und sind daher gewissermaßen auch ›leistungsfähiger‹.16 Mit der Bestimmung von Freiheit als Etablierung einer privat-innerlichen Subjekt- und Lebenssphäre kann die Polarisierung zwischen den sozialkritischen Idyllen und den häuslich familiären, bürgerlichen Idyllen (wie sie sich paradigmatisch in der prominenten LUISE zeigt)17 zusammengedacht werden. Die Ersteren fordern Freiheit als Daseinszustand ein, die Letzteren bilden sie als gelebten Daseinszustand ab, indem das Innerliche materiell und räumlich ›veräußerlicht‹ wird und als bürgerlicher Innenraum erscheint.

L ITERATUR Birkner, Nina (2015): »Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter«, in: Nina Birkner/York-Gothart Mix (Hg.), Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter, S. 223-241. Böschenstein-Schäfer, Renate (1977): Idylle, Stuttgart: Metzler. Kaiser, Gerhard (1977): Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Koschorke, Albrecht (1999): Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink. Lubinski, Axel (1999): »Johann Heinrich Voß und Die Leibeigenen – Perspektiven auf die ländliche Gesellschaft Mecklenburgs in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-

Arbeitsbereich und letztendlich zu einer Ökonomisierung von Arbeitskraft und dem zur Verfügung stehenden Land als ›Natur‹ kommen kann. 16 Was nicht zuletzt auch mit Blick auf den Adressatenbezug der Idylle als zusätzliches (ökonomisches) Argument angeführt werden kann. 17 Böschenstein-Schäfer sieht vor allen in der LUISE einen Wechsel vom Fokus der Landschaft hin zu einem Innenraum: »Im Familienspaziergang zum Aussichtspunkt, an dem Kaffee gekocht und unter behaglichen Gesprächen getrunken wird, erschafft die ›Luise‹ einen Topos der Idyllik des 19 Jhs. An die Stelle der Landschaft tritt der Innenraum, der jetzt als poetischer Gegenstand entdeckt wird.« (Böschenstein-Schäfer 1977: 100f.) E. T. Voss sieht in den bürgerlichen Idyllen im Kontrast zur außermedialen Lebenswirklichkeit eine Gegenbildlichkeit, die auch die bürgerlichen Idyllen nicht als affirmativ erscheinen lassen, sondern als »Bild die Erfüllung eines bis dahin unerfüllten Wunsches« (vgl. Voss 1968: 60ff.) darstellen.

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hunderts«, in: Andrea Rudolph (Hg.), Johann Heinrich Voß. Kulturräume in Dichtung und Wirkung, Dettelbach: Röll, S. 161-191. Pfotenhauer, Helmut (1987): Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart: Metzler. Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.) (1994): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler. Schneider, Florian (2004): Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen und Neumann. Schneider, Helmut Jürgen Eduard (1975): Bürgerliche Idylle. Studien zu einer literarischen Gattung des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Johann Heinrich Voss, Diss., Bonn. Schneider, Helmut Jürgen Eduard (1978): »Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder«, in: Ders. (Hg.), Idyllen der Deutschen, Frankfurt a.M.: Insel, S. 353-423. Voss, Ernst Theodor (1995): »Idylle und Aufklärung. Über die Rolle einer verkannten Gattung im Werk von Johann Heinrich Voß«, in: Wolfgang Beutin/Klaus Lüders (Hg.), Freiheit durch Aufklärung: Johann Heinrich Voß (1751-1826). Hrsg. von. Frankfurt a.M.: Lang, S. 35-54. Voss Ernst Theodor (1968): Nachwort. In. Johann Heinrich Voß: Idyllen. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1801. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ernst Theodor Voss, Heidelberg, Lambert und Schneider, S. (29)-(79). Voß, Johann Heinrich (1968): Idyllen. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1801. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ernst Theodor Voss, Heidelberg: Lambert und Schneider. Voß, Johann Heinrich (1996): »Die Leibeigenschaft«, in: Ders., Ausgewählte Werke. Hrsg. von Adrian Hummel, Göttingen: Wallstein, S. 7-16. Voß, Johann Heinrich/Boie, Ernestine (2001): »Doppelbrief an Ernst Theodor Johann Brückner vom 22.02. und vom 20.03. 1775«, in: Elmar Mittler/Inka Tappenbeck (Hg.), Johann Heinrich Voß 1751-1826. Idylle, Polemik, Wohllaut, Göttingen: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, S. 209-213.

Das gelobte Land Ökonomie und Ruralität in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre M ARCEL K RINGS

Immer noch gelten die LEHRJAHRE als Bildungsroman.1 Der Großteil der Forschung ist der Auffassung, der theatralisch dilettierende Kaufmannssohn Wilhelm Meister lerne durch den Einfluss von Abbé, Lothario und Natalie eine sinnvolle Tätigkeit ergreifen, entwickele sich zum nützlichen Glied der schönen, humanen Welt des Turms und entsage dabei sogar seinen ästhetischen Schwärmereien. Damit werde er endlich doch zum citoyen – und also zum tätigen Mitglied einer Vernunftgesellschaft, wie sie Rousseau und Kant dem 18. Jahrhundert entworfen hatten. Goethe habe also mit Wilhelm für eine Bildung zum Bürger plädiert, zu dessen Schaffensfreude und freier Entfaltung der Anlagen er den Leser überreden wolle. Schon Schiller, bekanntlich der erste Leser der LEHRJAHRE, hatte in diesem Sinne befriedigt festgestellt, Wilhelm trete »von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes und tätiges Leben«2. Auch das 19. Jahrhundert berief sich auf den Typus des reüssierenden jungen Mannes: Der Grüne Heinrich etwa wird in Kellers gleichnamigem Roman am Ende zwar nur ein kleiner, dafür aber nützlicher Amtmann, und noch Stendhals oder Balzacs Romane kreisen um das Thema der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft.

1

Ich erwähne hier beispielhaft die folgenden breit rezipierten Untersuchungen: Schings (1984), Ammerlahn (2003) sowie Schößler (2003). Spätestens seit Schlechta (1953) gibt es kritische Lesarten. Zu einer entsprechenden Übersicht verweise ich auf mein Buch, an dem sich auch die hier vorgestellten Überlegungen orientieren: Krings (2016).

2

Brief an Goethe vom 08. Juli 1796. In: Goethe/Schiller (1990: 206).

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Ö KONOMIE

UND

G ESELLSCHAFT

Bei soviel Bürgerethos macht indes nachdenklich, dass die LEHRJAHRE für Wilhelm nicht allzu viel übrig zu haben scheinen. Wirklich bleibt die Tätigkeit im Dunkeln, zu der der junge Mann doch befähigt sein soll. Weder ein Dichter noch ein Gutsherr, geschweige denn ein Kaufmann wird aus ihm, und wenn ihn der Turm am Ende nach Italien entfernt, liegt gar der Verdacht nahe, dass man den Schwärmer fürs Geschäftliche schlicht nicht brauchen kann. Denn die Sozialreformen des Turms – geplant sind Aufhebung des Feudalsystems, Abgabenerlässe, Aufhebung der Steuerfreiheit, Abschaffung des »Lehns-Hokuspokus« (507)3, ein flexibleres Erbrecht und freie Heirats- und Berufswahl – zeichnen einen historischen Progress nach, der unbarmherzig über diejenigen hinweggeht, die sich in ihn nicht schicken können. Lothario und der Turm beabsichtigen eine zweckrationale Ökonomisierung der Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild. Denn während seiner Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hat Lothario im Land der unbegrenzten Möglichkeiten moderne ökonomische Verhältnisse vorgefunden. Nun sollen auch in Deutschland alte Zöpfe abgeschnitten werden: »Hier oder nirgends ist Amerika!« (431) lautet die Parole. Der nur rund 20 Jahre vor Abfassung der LEHRJAHRE gegründete Staat figuriert als Beispiel für ein Land ohne Traditionsbürde, und bekanntlich hat Goethe noch im späten Gedicht AMERIKA, DU HAST ES BESSER dessen zweckmäßige Einrichtung bewundert: »Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit.« (HA I: 333)

Dass eine Gesellschaft nützlich und effizient organisiert sein müsse, hat auch Gutsherr Lothario begriffen. Ungeachtet Jarnos Einrede will er auf finanzielle Privilegien verzichten. Einige »Befugnisse« seien »nicht ganz unentbehrlich«, so dass er

3

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München 13

1994 (= Hamburger Ausgabe Bd. 7, zuerst Hamburg 1950). Nach dieser Ausgabe wer-

den die LEHRJAHRE im Folgenden mit in Klammern gesetzter Seitenangabe im Text zitiert. Die Ausgabe wird darüber hinaus als HA mit Bandangabe zitiert.

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»davon [s]einen Leuten auch was gönnen« könne. Die wachsenden »Einkünfte« (430) sollen erstmals zum Vorteil für die Bauern ausfallen. Lothario erwägt damit entweder eine Gewinnbeteiligung oder einen Abgabenerlass für seine Angestellten, weiterhin geht es ihm um die Verkäuflichkeit von Grund und Boden (vgl. 507f.). Der philiströse Werner entsetzt sich vor soviel Veränderung. Seine Reaktion hat nicht wenig dazu beigetragen, dass sich Lothario in der Forschung des Rufs erfreut, Anwalt der sozial Bedürftigen zu sein. Er setze fort, was das 18. Jahrhundert – etwa durch die Sozialreformer Justus Möser, Graf Rantzau – an Möglichkeiten der Bauernbefreiung auf den Weg gebracht hatte.4 Und auch im Text fallen die drei Schlagworte der französischen Revolution. Freiheit – »freie Tätigkeit« (507) von Menschen »mit freien Augen« (508) – folge aus der Neuordnung von Erbrecht und Heirat. Durch die Steuerpflichtigkeit des Grundbesitzes erreiche man »Gleichheit« (507) von Bauer und Edelmann vor dem Gesetz. Und Brüderlichkeit sei die Gewinnbeteiligung: Man säkularisiert das Ethos der herrenhuter »Brüdergemeinde« im Sinne sozialer Fürsorge und verspricht den Arbeitern einen pekuniären »Himmel auf Erden«. Lotharios Ausruf »Hier oder nirgends ist Herrnhut!« (432) weist dafür die Richtung. Doch derlei jakobinisches Pathos täuscht. Lothario ist kein Sozialrevolutionär. Das Chaos einer Umwälzung kann die ökonomische Sozietät nicht brauchen. Maßvolle Reformen sollen die Veränderungen nur mit Billigung des Staates ins Werk setzen (vgl. 507), und gegen eine »regelmäßige Abgabe« (ebd.) – eine Art Steuer – wünscht Lothario die Obrigkeit an seinen Geschäften zu beteiligen und sich überdies Rechtmäßigkeit zu sichern. Weder Gerechtigkeitssinn noch Altruismus treiben Lothario an. Denn erstens hat er sich durch seine amerikanische Expedition hoch verschuldet und Hypothesen auf seine Güter geladen. Da der reiche Oheim ihm kein Geld leiht, sollen die Reformen helfen, den Handel zu erleichtern und so die eigenen Finanzen zu sanieren. Und zweitens, so analysiert Lotharios politischer und ökonomischer Weitblick, lebt man in unsicheren Zeiten. Die maßvollen Reformen sollen der Gefahr einer sozial motivierten »Staatsrevolution« (564) entgegenwirken. Und träte sie doch ein, will sich der Turm untereinander die Existenz »assekurieren« (ebd.). Dafür bildet er eine weltweit tätige »Sozietät« (ebd.), deren Mitglieder auch nationale Katastrophen finanziell überstehen können. Jarno in Amerika, der Abbé in Russland und Lothario in Deutschland garantieren sich gegenseitig, dass sie die ökonomische Rendite auch genießen können. Damit zeichnet der Roman für Deutschland das Bild einer Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zur modernen Ökonomie. Worauf alles hinausläuft, zeigen später beredt genug die WANDERJAHRE und FAUST II. Lothario, Lenardo und Faust sind der Typus der Neuzeit, der mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Kolonisation der Welt über die Grenzen Europas hinausgreift. Auswanderungspläne, der funktio-

4

Zu Goethes Kenntnissen über Möser vgl. Mahl (1982: 253-264).

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nal-arbeitsteilige ›Bund‹ der WANDERJAHRE, das sich ausbreitende Maschinenwesen sowie Fausts brutales Landgewinnungswerk und sein weltumspannender Handel legen Zeugnis davon ab, dass die ökonomische Moderne weder auf Menschen, noch auf Tradiertes Rücksicht nimmt. Noch Fausts Mahnung, der Mensch »stehe fest und sehe sich hier um; / Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm« will in diesem Sinne zur Einsicht in die rationale Machbarkeit der Verhältnisse überreden.

D AS L AND

ALS

M OTOR DES F ORTSCHRITTS

Freilich verwundert, dass Goethes LEHRJAHRE ein solches Reformunternehmen ausgerechnet auf dem Land ansiedeln, also nicht in den großen Reichs- und Handelsstädten wie etwa Frankfurt, das noch im sogenannten Roßmarkt-Brief von 1797 als Ort geschäftigen Wirtschaftens berufen wird. Vielmehr liest man von abgelegenen Landgütern und -schlössern, das Figurenarsenal des Turms besteht zumeist aus »armselige[n] Landedelleute[n]« (Müller 1982: 82) und wenn einmal – wie im ersten Buch – eine Provinzstadt erwähnt wird, kommt der Roman nie mehr auf sie zurück. Für diese Auszeichnung des Ruralen als Motor des Fortschritts lassen sich zumindest drei Gründe angeben. Erstens sind die sozialen Risiken auf dem Land beträchtlich, so dass die Pläne des Turms unmittelbare Plausibilität gewinnen. Die Erzählstränge um Therese und Lothario, aber auch die Familiengeschichte Mignons berichten davon, wie leicht es ist, durch fehlenden Sozialverbund (Lothario), übersteigerte Religiosität und antiquierte Berufsvorschriften (Harfner) oder die Missgunst von Gutsherren (Therese) unter die Räder zu kommen. Zweitens zeichnet der Roman das Land als nahezu strukturfreien Raum, der sich zur reformerischen Neuorganisation besser eignet als die geregelten Städte. Könnte man ihn produktiv nutzen, ergäben sich bislang ignorierte Möglichkeiten. Wie der Turm beim Umbau der Verhältnisse vorgeht, zeigt paradigmatisch Lotharios Schloss an. Anders als das Grafenschloss, das mit Haupt- und Nebengebäuden den repräsentativen Geist der Prachtbauten à la Versailles atmet, wurde Lotharios Wohnsitz nicht schön, sondern zweckmäßig gebaut und nach und nach vergrößert (vgl. 422f.) – ein Abbild also der Turmreformen, die Altes effizient erweitern und dafür Gestaltungsfreiheit brauchen. Einen pekuniären »Himmel auf Erden« (432) will man ja schaffen, also eine Variante des gelobten Landes, die metaphysisches durch wirtschaftliches Heil ersetzt. Denn der alte Adel etwa, nach französischem Muster gestaltet und ebenso untätig wie historisch überholt, interessiert sich weder für moderne Wirtschaft noch für den Boden, der nach wie vor in seinem Besitz ist. Lothario hat daher leichtes Spiel, ein profitables Stück Land zu erwerben, und

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hellsichtig gibt der Roman im Folgenden bereits die moderne Bodenspekulation zu denken. Denn nach dem Tode des Oheims (vgl. 492) kann Lothario aus der Erbmasse wieder über »Geld und Kredit« (ebd.) verfügen. In Immobilien will er das Geld anlegen und »wichtige Güter« (ebd.) in der Nachbarschaft kaufen. Doch auch ein »auswärtiges Handelshaus« (ebd.) tritt als Interessent auf: Es gehört Wilhelm und Werner, Wilhelms Jugendfreund, der das Unternehmen, in das er das Vermögen der beiden Väter überführte, verantwortlich leitet. Auch er bevorzugt Grundstücke. Der Kaufpreis wird so aber zwischen den beiden Parteien immer weiter hinaufgetrieben. Doch man habe es mit »einem klugen Manne« zu tun, weiß der Turm. Zum beiderseitigen Vorteil will man »gemeine Sache« machen und »ökonomisch« überlegen, »wie wir die Güter teilen können, so dass ein jeder ein schönes Besitztum erhält« (ebd.). Doch Werner befürchtet, bei der Aufteilung skrupellos übervorteilt zu werden. Den Verhandlungsführern ruft er also ihre Verbindung zu Wilhelm ins Gedächtnis: »›Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es scheint, gut meinen […], so sorgen Sie selbst dafür, daß unser Teil nicht verkürzt werde […].‹ Jarno und der Abbé versicherten, daß es dieser Erinnerung nicht bedürfe.« (499f.)

Denn Wilhelm sollte auf das neue Grundstück ziehen, um »Verbesserungen« (288) durchzuführen und das Gut später mit Gewinn zu veräußern. Zwar interessiert er sich kurzzeitig für »Baumschulen« und »Gebäude« seiner Güter und sinnt »darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und das Verfallene zu erneuern« (502). Doch er sieht die Immobilie nie. Die Chance, aus dem Land etwas zu machen, lässt er aus, weil er zum planenden, vorausschauenden Praktiker nicht taugt. Dabei führen die WAHLVERWANDTSCHAFTEN mit ihren Obstgärten, vor allem aber die späten WANDERJAHRE mit den ausgedehnten und wohlgeschützten Plantagen des physiokratischen Oheims vor Augen, welcher Profit sich aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen schlagen lässt. Drittens aber inszenieren die LEHRJAHRE eine Umwertung des alten literarischen Topos vom Land als dem Ort idyllischer Natur – und zwar just in jenen »neuern Zeiten, wo«, wie Lothario anführt, »so viele Begriffe schwankend werden« (507). Das trifft eben auch auf die Konzeption des Ländlichen zu. Nichts liegt dem Roman ferner als eine Apologie von Gefühl, Schäfererotik oder Vernunftkritik. Im Gegenteil: Die neuen Perspektiven verlangen neue Menschen. Nicht jeder ist auf die Übernahme moderner Verantwortlichkeiten sogleich vorbereitet. Zum Problem wird daher, dass die neue Elite des Turms zur weiteren Expansion Mitglieder benötigt. Also hat der Abbé ein Bildungsprogramm konzipiert, das potentielle Kandidaten auf ihre Fähigkeiten hin untersuchen soll. Doch dabei geht es weder um Ideale der Humanität noch um Vervollkommnung des Menschen oder gar allseitige Ausbildung der natürlichen Anlagen. In mehreren Gesprächen sucht der Geistliche

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Wilhelm schlicht zu Vernunft und Tätigkeit zu überreden. Dazu gehöre, dass man sich auf eine konkrete Praxis spezialisiere und sie zum eigenen und fremden Wohle ausübe. Wilhelms ästhetischen Träumereien, mit denen er durch das Theater eine allseitige Ausbildung seiner Anlagen zu erreichen meint, wird von Anfang an widersprochen. Nicht ästhetisch, sondern rational-praktisch wird erzogen, und die Maximen des Lehrbriefs verhehlen nur dem Leichtgläubigen, dass oberstes Ziel des Turms rentable Ökonomie ist.

N ATUR VERSUS V ERNUNFT Ein »Meister« ist demnach derjenige, der die Tendenzen des Zeitalters erkennt, sie tatkräftig für seine Zwecke zu nutzen weiß – und sie nicht wie Wilhelm in weltferner Lässlichkeit des Gefühls verschläft. Wohl hat der junge Mann Potential. Jarno erkennt – neben dem Abbé – Meisters Fähigkeit, eine Sache selbstbestimmt, tatkräftig und umsichtig durchzuführen. Freilich: Dass Wilhelm dafür ausgerechnet das Theater erwählt hat, gibt den Turmstrategen manchen Grund zum Kummer. Die Welt der Schauspieler ist nicht die der Ökonomen. Doch auch als Wilhelm sich vom Theater abwendet, bleibt ihm im Grunde unklar, wofür man die diffizilen pädagogischen Forderungen des Turms befolgen solle. Meister rechnet schließlich mit dem Turm und dessen Vernunfterziehung ab. Zur Ratio bekennt sich nicht, wer argwöhnt, durch sie heteronom missgeleitet und verwirrt worden zu sein. Die Vernunft verdächtigt Wilhelm nach wie vor des Despotismus. Auch mit dem praktischen Drängen auf Spezialisierung kann er nichts anfangen. Auf Zweck und Nutzen eines Tuns will der weltfremde Träumer nicht permanent hingewiesen werden. Lieber will er – à la Herder – der Natur vertrauen. Denn sie sorge durch eros und Vaterschaft dafür, dass der Mensch von sich aus das Genügende tue. Bildung soll keine Zwecke setzen, sondern allein das Mittel zum Wohlfühlen an die Hand geben: »O, der unnötigen Strenge der Moral! […] da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O, der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken!« (502)

Wozu also Bürger werden, wenn man doch schon Mensch sei? Natürliche Humanität, meint Wilhelm, solle natürliche Fraternität stiften und die Gemeinschaft und Zwänge der Ökonomie substituieren. Als er für Felix Spielzeug »zweckmäßiger« einrichten will und der Sohn daraufhin die Lust verliert, ruft er aus: »Du bist ein

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wahrer Mensch! […] komm mein Sohn! komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können!« (569) Das Motiv der unzertrennlichen Brüder war Wilhelm schon in einem Traum begegnet. Den Dioskuren-Mythos erinnert es. Doch dahinter ist bedeutet: Es geht um die Fortsetzung des Gleichen. Der Sohn, der sich schon in der Jugend an Zwecke nicht gewöhnen kann, wird ebenso zum schwärmerischen Dilettanten wie der Vater. Wirklich zeigen die WANDERJAHRE später, dass dem unartigen Felix selbst die Pädagogische Provinz keine Vernunftbildung vermitteln kann: In Unehren und ohne Abschluss wird er vorzeitig entlassen. Zum tätigen Menschen der Moderne konnte er nicht erzogen werden. Dabei ist die Pointe der Vater-Sohn-Geschichte: Die Vaterschaft kann zweifelsfrei nicht bewiesen werden. Zwei Deszendenz-Varianten werden angeboten, keine durch den Roman bestätigt. Ob Felix das Kind von Wilhelm und Mariane oder von Mariane und Norberg ist, lässt sich nicht entscheiden. Nicht nur wundert sich Wilhelm so über die blonde Haarpracht (vgl. 251) des kleinen Felix, die sich von seiner eigenen braunen Haarfarbe (vgl. 306) so unterscheidet. Auch scheinbare »Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde«, die er vor dem Spiegel sucht, sprechen keine eindeutige Sprache: »Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so drückte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, daß er sich betrügen könne, setzte er das Kind nieder und ließ es hinlaufen. ›O!‹ rief er aus, ›wenn ich mir dieses unschätzbare Gut zueignen könnte, und es würde mir dann entrissen, so wäre ich der unglücklichste aller Menschen!‹« (489f.)

Und noch später wird er zögern, seinem Jugendfreund Werner die »doch immer zweideutige Geschichte« (501) von Felix zu erzählen. Dem Turm ist das Zaudern nicht recht. Durch die Übernahme der Vaterspflicht sucht man Wilhelm zu bürgerlicher Verantwortung und Praxis zu drängen. Doch die Adoption, die der Abbé inszeniert (vgl. 497), erweist sich als kontraproduktiv. Meister sieht Felix hinfort als seinen eigenen Sohn an – und begreift nicht, dass der Sinn des Rituals darin bestand, ihn von der Bedeutungslosigkeit biologischer Abstammung zu überzeugen.

N EUE G EMEINSCHAFTSMODELLE Der Turm propagiert ein neues Familienmodell. Wilhelm kann mit ihm nichts anfangen. Dabei soll es die moderne Form der Gemeinschaft präfigurieren. Der Roman löst den alten Familienverband auf, zeigt unvollständige und zerrüttete Familien oder verrätselt Deszendenz bis zur Grenze des Nachvollziehbaren. Offenbar ist daran gedacht, die natürliche durch eine künstliche Familie zu ersetzen. Ihr

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Merkmal ist die Vaterlosigkeit: Therese, der Abbé, Wilhelm, insbesondere aber die Turmgeneration Lothario, Natalie, die Gräfin und Friedrich sind Halb- oder Vollwaisen. Im Einzelnen wird an verschiedenen Stellen des Romans berichtet: Die vier Geschwister Lothario, Natalie, Gräfin und Friedrich werden früh zu Waisen. Noch vor Friedrichs Geburt stirbt der Vater bei einem Reitunfall, und die Mutter folgt ihm aus Gram nach der Niederkunft (vgl. 416). In der Generation der Onkel und Tanten gibt es keinen Ersatz. Eine ledige Schwester der Mutter stirbt, noch bevor Lothario zur Welt kommt (vgl. 412), und die schöne Seele wird von der Erziehung der Kinder ferngehalten (vgl. 420). Da auch der Großvater – der Vater der schönen Seele – noch vor der Geburt Natalies gestorben ist (vgl. 413), bleibt von der Familie nur der Oheim, eigentlich Stiefgroßonkel, übrig, der die Kinder »an verschiedenen Orten« (419) erziehen und »bald hier, bald da in […] Kost« (ebd.) geben lässt. Bei Therese ist die Familiengeschichte noch bizarrer. Thereses Stiefmutter, die Ehefrau des Vaters, kann keine Kinder bekommen. Die sinnliche Leere kompensiert sie mit Gefühlsexzessen: Mit Lydie und anderen spielt sie Theater, leistet sich Liebschaften und Verehrer – unter anderem Lothario – und reist unter dem »romantische[n] Namen« Frau von Saint Alban (458). Doch ihr Ansehen ist in Gefahr. Bei den Nachbarn gerät sie wegen ihrer Unfruchtbarkeit ins Gerede, im Haushalt droht der Bedeutungsverlust (vgl. 560). Auch wünscht sich ihr Mann Nachkommen. Also treffen die Eheleute eine Vereinbarung. Der Vater darf mit der Erlaubnis seiner Frau ein Kind mit der Geliebten zeugen. Als »rechtmäßiges« (ebd.) führt man es im Haus ein. Doch der anfängliche beiderseitige Vorteil rentiert sich nicht. Die Eheleute entfremden sich. Der Stiefmutter ist das Kuckuckskind, das der Vater liebt, ein Dorn im Auge. Therese berichtet: »ihre [der Mutter, M.K.] Neigung konnte ich nicht erwerben, sie verachtete mich, und ich weiß noch recht gut, daß sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: ›Wenn die Mutter so ungewiß sein könnte als der Vater, so würde man wohl schwerlich diese Magd für meine Tochter halten‹« (448).

Die Mutter weitet ihre Eskapaden aus. Doch die extravagante Lebensweise kostet Geld. Zwischen den Eheleuten gibt es darüber manchen Disput. Schließlich einigt man sich: Der Vater kauft die »Gegenwart« seiner Frau »mit einer ansehnlichen Summe« (450) ab. Er finanziert also ihre Reisen und damit ihre Entfernung aus dem familiären Kreis, in dem es für alle unerträglich geworden ist. Doch wie soll sie sich nach seinem Tode finanzieren? Also weiß sie die Neigung des Vaters trotz allem wiederzugewinnen. Als Alleinerbin setzt er sie ein und legt »das Glück seines Kindes« (561) in ihre Hände. Doch die Stiefmutter denkt nicht an Fürsorge. Zu lange hat sie Therese schon ertragen. Nach dem Tod des Vaters vertreibt sie die Stieftochter vom Gut, und nur eine »Dame in der Nachbarschaft« (451), die Therese

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eine Stelle als Verwalterin anbietet und später etwas Geld vermacht, verhindert die völlige soziale Desolation. Auch Wilhelm entstammt keiner glücklichen Familie. Denn die Ehe der Meisters ist zerrüttet, und vorsichtig deutet der Text ein Verhältnis der Mutter mit dem Hausfreund an. Schon in WILHELM MEISTERS THEATRALISCHER SENDUNG, dem Vorläufer der LEHRJAHRE, hatte der Erzähler bedauert, sagen zu müssen »daß diese Frau [...] noch in ihren ältern Jahren eine Leidenschaft für einen abgeschmackten Menschen kriegte, die ihr Mann gewahr wurde, nicht ausstehen konnte, und worüber Nachlässigkeit, Verdruß, Hader sich in den Haushalt ein schlich [sic]; daß, wäre der Mann nicht ein redlicher treuer Bürger, und seine Mutter eine gutdenkende billige Frau gewesen, schimpflicher Ehe- und Scheidungsprozeß die Familie entehrt hätte.« (Goethe 1987: 14)

Es zeigt sich wie schon bei Thereses Eltern, dass die – bürgerliche – Fassade gewahrt bleiben muss, auch wenn die Eheleute sich längst einander entfremdet haben. Doch Wilhelm – beati pauperes spiritu – bekommt davon kaum etwas mit und bekümmert sich auch sonst nicht viel um seine ihm allzu bürgerliche Verwandtschaft. Nach dem Tode des Vaters – Wilhelm hat ihn nie wiedergesehen – wird Wilhelm zum Halbwaisen, ohne sich darüber, anders als andere, allzu viele Gedanken zu machen. Solch ausführlich beschriebener sozialer Zerfall zeigt nun: Die alte Kernfamilie löst sich auf. Weder die vier Waisenkinder des Turms noch die anderen Mitglieder ihrer Generation können auf häusliche Geborgenheit zählen, wo familiäre Bande nahezu aufgekündigt und die Personen beziehungslos sind. Doch die Eltern- oder Vaterlosigkeit ist nicht länger eine Tragödie. Sie avanciert vielmehr zum Zeichen der Freisetzung aller zu einer Funktion, die selbst gewählt werden kann. Bürgerlicher Zwang des Hausvaters, wie ihn noch Wilhelm zu spüren bekam, und Rückzug ins Private sind antiquiert. Nun ist es an der Zeit, die isolierten Überreste der zerfallenen Familien neu – und anders – zusammenzufassen. Ein »junger Mensch«, weiß der Abbé, habe »immer Ursache […], sich anzuschließen« (567). Zu lange haben die Kapriolen der Liebe und die biologische Gemeinschaft über das Glück des Menschen entschieden. Im modernen Zeitalter der Mach- und Planbarkeit lehnt man derlei riskante Determinierung ab. Der Wankelmut des eros wird in der Verbindung zwischen Lothario und Therese durch die Vertragsehe gebändigt, die als Versorgungsgemeinschaft der beiden Partner auf Wertzuwachs angelegt ist und sich am gegenseitigen Nutzen der Partner füreinander ausrichtet. Im Gegensatz zum Großoheim, der Lothario durch eine Verheiratung mit einer »reiche[n] Frau« (456) finanziell sanieren möchte, ist dieser daher der Auffassung, dass »einem wohldenkenden Manne nur mit einer haushältischen gedient sei« (ebd.). ›Haushältisch‹, also im Wortsinn ökonomisch, hat Lotharios Ehefrau zu sein, und geradezu prototypisch entspricht Therese dem Profil. Die Verbindung zwischen ihr und Lothario wird also

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zum beiderseitigen Nutzen zweier rationaler Ökonomen geschlossen: Die praktische Therese, die ihre Fähigkeit zu kluger Bewirtschaftung bereits unter Beweis gestellt hat, soll Lotharios Güter in Ordnung halten und erhält dafür ein weit besseres Auskommen als bisher. Die Wirtschaftlichkeit der Verbindung sowie der gemeinsame Besitz erweisen sich als stabilisierender Faktor: Der oikos dominiert jederzeit den eros, und auch hier wird Natur durch ökonomische Rationalität aus dem Feld geschlagen. So kann sich auch Therese bei Lothario vorstellen, ein außereheliches »Verhältnis zu ertragen«, »wenn es nur ihre häusliche Ordnung nicht gestört hätte; wenigstens äußerte sie oft, daß eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne jede kleine Phantasie nachsehen und von seiner Rückkehr jederzeit gewiß sein könne [sic]« (461).

Das Ende der Sinnlichkeit zeigt der Roman typologisch beim Theaterbrand. Den Flammen fallen nicht nur das Theater und Augustins Harfe (vgl. 336), sondern vor allem Philines Pantoffeln, die Attribute fleischlicher Attraktion, zum Opfer (vgl. 334). Die Katastrophe markiert das Ende der alten Welt. Keine erotische Beziehung findet sich nach dem Brand mehr im Text. Der eros wird in der Moderne nicht mehr gemeinschaftsbildend wirken. Nun ist das Zeitalter der Ökonomie angebrochen, in dem um den Preis des Triebverzichts Tätigkeit und Vernunft den neuen Zusammenschluss stiften sollen. Unerotisch sind deshalb alle vom Turm beförderten Verbindungen, und in diesem Sinne hatte schon Novalis festgehalten: »Wilhelm soll oeconomisch werden durch die oeconomische Familie, in die er kommt« (Novalis 1978: 801, Hervorh. im Original). Die Vorherrschaft des Ökonomischen führt dazu, dass die biologische Abstammung in der neuen Familie keine Rolle mehr spielt. Jeder, ob Mann, ob Frau, der sich auf Tätigkeit versteht oder derlei Befähigung wenigstens für die Zukunft verheißt, wird aufgenommen. Nicht wer man ist, zählt, sondern was man kann, und die Vaterlosigkeit ist kein soziales Problem, sondern im Gegenteil die Voraussetzung für die Neuordnung des Natürlichen, das Zeichen der Freisetzung aller zu einer Funktion, die selbst gewählt werden kann.

M OBILITÄT

UND

S PEZIALISIERUNG

Nur Wilhelm will das nicht einsehen. Von seinem Sohn Felix will er partout nicht lassen. Dass der Turm anderes mit Meister vorhat und ihn als Begleiter des Marchese ohne Felix nach Italien schicken möchte, interessiert ihn nicht. Eigensinnig beharrt er darauf, seinen Sohn mitnehmen zu wollen. Nur »schwerlich«, meint aber der Abbé, könne das unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zugestanden werden. Wilhelm begreift nicht, dass die neue Turmfamilie nicht mehr auf häusli-

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che Enge und permanentes Zusammenleben gegründet ist, sondern sich weltweit ausbreitet und die Mitglieder trennt. Noch die WANDERJAHRE zeigen mit der Gesellenvorschrift, niemals länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben, die moderne Forderung nach mobiler Flexibilität. Und auch die Arbeitermassen in Goethes Altersroman haben bereits begriffen, dass man der Arbeit nachreisen muss. Den privaten Preis der neuen Zeit will Meister indes nicht zahlen. Der Turm aber hatte für die Suprematie des Intellekts votiert. Die Differenz lässt befürchten: Der Lehrbrief, in dem man Wilhelm von der Natur lossprach und ihm das Ende der Lehrjahre verkündete, wurde voreilig verliehen. Ein »Meister« – laut Jarno und Lehrbrief der höchste Turmrang – ist Wilhelm Meister nicht. Der Turm hat sich im jungen Mann getäuscht, der sich auf den Weg der Tätigkeit und Vernunft nicht bringen ließ. Doch nun kommt in Betracht: Mit seiner Beschwerde hat Meister unrecht. Der Text hatte schon früh auf die »harte Schule« (14) der Bildung aufmerksam gemacht, in der man lernen müsse, puerile Illusionen zu verabschieden; ja, in der es gar zu erkennen gilt, dass es für den Menschen »vorteilhaft« ist, »wenn er sich in einer größern Masse zu verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben« (493). Die Moderne fordert vom Einzelnen Entsagung – und die WANDERJAHRE erzählen später die Geschichte solchen Verzichts. Eine rationale Gesellschaft wird die Zukunft sein, die Altes unbarmherzig verabschiedet. Also macht Wilhelm die Erfahrung, dass der Mensch nach dem Nutzen und dem Grad seiner Spezialisierung beurteilt wird, familiäre Bindungen und Individualität der Tätigkeit geopfert werden, und persönliches Glück allein noch die materielle Absicherung ist. Der Herrschaft der Vernunft muss der Mensch sich beugen. Sie presst ihn in allgemeine Form. Human ist die neue Gesellschaft dabei nicht. Der Geist kennt kein »[S]chonen«, geht mit »grausame[r] Bestimmtheit« (553) zu Werk, und seine »Strenge der Moral« schreibt den Katalog praktischer Tugenden vor. Wilhelm findet das ganz »unnötig[]« (502). Doch Natalie gibt zu bedenken, dass für »schöne Naturen« keine »Nachsicht« in der Welt herrsche. »Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er an sich und andern mit einer gewissen Roheit zu kämpfen hat, wieviel ihn seine Bildung kostet, und wie sehr er doch in gewissen Fällen nur an sich selbst denkt und vergißt, was er andern schuldig ist. Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein.« (518)

Bildung zur Tätigkeit sei vielmehr das Gebot der Stunde. Wohl mag sie einen hohen Preis fordern. Sie zwingt die natürliche »Roheit« des Menschen unter ihr Gesetz und ruft sie zur Pflicht: Nicht Egoismus, sondern ökonomisch-rationale Tätigkeit zum allgemeinen Wohle sind verlangt. Doch im Hintergrund steht die Idee sozialer Verantwortung. Längst schon operiert die Turmfamilie nicht nur für

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allseitigen Gewinn, sondern auch für gegenseitige Versorgung. Schon Oberhaupt Lothario weiß, dass »der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen Kindern vorlegt« (508). Dafür erwartet er, dass die Mitglieder Regeln und Pflichten der Sozietät erfüllen. Der ökonomische Wohlfahrtsstaat ist bedeutet. In ihm besitzen schwärmerische Naturen wie Wilhelm, die weder Entsagung noch Pflichterfüllung gelernt haben, keinen Platz. Meister bleibt der »arme Hund« (Müller 1982: 52), als den Goethe ihn bezeichnete. Denn die Epoche der Subjektivität und Individualität ist zu Ende. Nun folgt das Zeitalter des Kollektivismus und der Allgemeinheit. Nicht deutsche Bildungstheorie von Herder bis Humboldt, sondern französische Vernunfterziehung – ins Ökonomische gewendet – privilegiert der Roman also. Doch er weiß, dass er seiner Zeit voraus ist. Utopische Züge im Wortsinn trägt darum die Turmfamilie, deren Herkunft »in keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden [war], und die genealogischen Handbücher sagten nichts von einer solchen Familie« (238f.). Die Utopie wollte Goethe als hoffnungsvolle Prognose verstanden wissen, die international expandierende Turmgesellschaft wohl auch als ökonomisch-realistische Begründung jenes Völkerbunds aller bürgerlichen Rechtsgesellschaften lesbar machen, den Kant in der IDEE EINER ALLGEMEINEN GESCHICHTE IN WELTBÜRGERLICHER ABSICHT auf den Plan der Vorsehung zur Errichtung eines Friedensreichs zurückgeführt hatte. Als Inventur der Neuzeit künden die WANDERJAHRE und FAUST II freilich davon, dass die Realität die LEHRJAHRE weit hinter sich gelassen hatte. Vom gelobten Land der Ökonomie war nicht viel übrig geblieben, wo nicht nur Ästhetik und Natur verloren waren, sondern sich auch die Verheißungen der Ökonomie als falsch erwiesen hatten.

L ITERATUR Ammerlahn, Hellmut (2003): Imagination und Wahrheit. Goethes KünstlerBildungsroman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg: Königshausen & Neumann. Goethe, Johann Wolfgang (1994): Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München: dtv (= Hamburger Ausgabe Bd. 7, zuerst Hamburg 1950). Goethe, Johann Wolfgang (1990): Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller in den Jahren 1794 bis 1805, in: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Manfred Beetz, München/Wien: Hanser (= Münchner Ausgabe Bd. 8.1). Goethe, Johann Wolfgang (1987): Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Hannelore Schlaffer et al., München/Wien: Hanser (= Münchner Ausgabe Bd. 2.2), S. 9332.

D AS GELOBTE L AND | 283

Krings, Marcel (2016): Der schöne Schein. Zur Kritik der Literatursprache in Goethes ›Lehrjahren‹, Flauberts ›Education sentimentale‹ und Kafkas ›Verschollenem‹, Tübingen: Francke. Mahl, Bernd (1982): Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den ›Amtlichen Schriften‹, Frankfurt a.M.: Lang. Müller, Kanzler Friedrich von (1982): Unterhaltungen mit Goethe, hg. v. Renate Grumach, München: Beck. Novalis (1978): Fragmente und Studien, in: Ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, 3 Bde., Bd. II, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 751-848. Schings, Jürgen (1984): »Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman«, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium, Tübingen: Niemeyer, S. 42-68. Schlechta, Karl (1953): Goethes Wilhelm Meister, Frankfurt a.M.: Klostermann. Schößler, Franziska (2002): Goethes ›Lehr‹- und ›Wanderjahre‹. Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen/Basel: Francke.

Von der lieben Heimat plaudern Karl Mays Volkserziehung zwischen Erzgebirge und Wildem Westen T HORSTEN C ARSTENSEN »Als echte Deutsche liebten sie den Gesang.« KARL MAY/WINNETOU III

»S CHTAMMVERWANDTE M ENSCHEN UND C OUSÄNGS «: D ORFGESCHICHTEN IN DER W ILDNIS ? Während seine Indianer-Romane um den Apachen-Häuptling Winnetou und dessen deutschen Sidekick Old Shatterhand längst »ein Eigenleben als mythischer Kosmos« (Lowsky 1987: XI) führen, liegen die literarischen Anfänge ihres Verfassers in der weniger exotischen Gattung der Dorfgeschichte. Zwischen 1875 und 1879 veröffentlichte Karl May zwölf Erzählungen, die im dörflichen Milieu des Erzgebirges angesiedelt sind und sich bewusst an den Konventionen des seit dem Vormärz populären Genres orientieren. Häufig kreisen die realistisch gestalteten Geschichten um Kriminalfälle. May nutzt dabei die eher schablonenartigen Figurenkonstellationen, um die sozialen Verhältnisse zu beleuchten und moralische Fragestellungen durchzuspielen. Schon hier begegnen die Leser jener utopischen Idee von Gerechtigkeit, die für das Oeuvre dieses Schriftstellers über weite Strecken kennzeichnend ist. In den Dorfgeschichten, bemerkt May denn auch in MEIN LEBEN UND STREBEN (1910), seiner von offensiver Selbststilisierung geprägten Autobiographie, habe er »regelmäßig« nachgewiesen, »daß Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genau so straft, wie man sündigt« (May 1910: 115).1

1

Vgl. auch May (1910: 118): »Ich gab allem, was ich damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz.«

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Die Forschung hat Mays Werk, bei dem es sich laut Arno Schmidt »einwandfrei um ein unerschöpfliches Chaos von Kitsch & Absurditäten handelt« (Schmidt 1963: 10), lange Zeit als isoliertes Kuriosum betrachtet und sich bereitwillig am »Spektakel um einen undurchsichtigen Autor« (Schmiedt 1983: 11) erfreut. So hat man anstatt der als trivial erachteten Texte lieber die »Gesamterscheinung Karl May« (Eggebrecht 1987b: 131) ins Zentrum gerückt – obwohl Romane wie DURCHS WILDE KURDISTAN (1892), die WINNETOU-Trilogie (1893) und DER SCHATZ IM SILBERSEE (1894) durchaus als »Volksbücher des 20. Jahrhunderts« (Polheim 1988: 46) bezeichnet werden können. Wie ernst sollte man das Werk des sächsischen Hochstaplers, der behauptete, man müsse seine Reiseerzählungen »studieren« (May 1902: 4), um sie wirklich zu verstehen, aus germanistischer Perspektive nehmen? Thomas M. Scheerer hat die faszinierenden Widersprüchlichkeiten, die sich mit den Texten Mays verbinden und gewiss dazu beigetragen haben, dass deren Rezeption mitunter ins Anekdotische abgeglitten ist, anschaulich zusammengefasst: »Ein Massenautor eben, dessen Erfolg auch die Nähe zu (je nach Belieben:) billiger Unterhaltung, Trivialliteratur oder Schmutz und Schund bedeutet. Ein großer Fabulierer, aber auch ein Wichtigtuer; ein packender Erzähler, aber auch ein bis zur Drolligkeit schlechter Stilist; ein Wissensvermittler, aber auch ein überführter Schaumschläger und Ahnungsloser.« (Scheerer 1997: 276)

Einem Vergleich mit den Ansprüchen des Bürgerlichen Realismus konnten die Romane und Erzählungen der 1880er und 1890er Jahre gewiss nicht standhalten (Hohendahl 1989: 239), und erst in der vergangenen Dekade hat die Forschung vermehrt ertragreiche Versuche unternommen, Mays Werk im Spektrum der literarischen Moderne zu verorten.2 Die frühen Erzählungen, darunter auch die Dorfgeschichten, wurden lange Zeit als bloße »Talentproben« betrachtet, mit denen sich der Autor »in ausgefahrenen Gleisen der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts« (Lowsky 1987: 38) bewege. Tatsächlich wäre es aber lohnenswert, die Dorfgeschichten im Kontext ihrer Gattung neu einzuordnen. Mit Blick auf die Rezeptions- und Schreibstrategien des Frühwerks ließe sich erörtern, auf welche Weise May Themen, Motive und Figuren den österreichischen Heimatgeschichten Ludwig Anzengrubers und den in der GARTENLAUBE publizierten Fortsetzungsgeschichten Herman Schmids entlehnte; wobei gerade letztere als Formate erscheinen, die in Zeiten zunehmender Modernisierung ein imaginäres nation building vollziehen und dabei ein auch volkserzieherisches Programm realisieren (vgl. Stockinger 2018). Ferner wäre der Umstand, dass May die Darstellung des Alltagslebens für literaturpädagogische Zwecke zu instrumentalisieren weiß, neu zu bewerten, beispielsweise

2

Vgl. hierzu vor allem die Beiträge in Pyta (2010) und Vollmer/Schleburg (2012).

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– gerade in Bezug auf sein utopisches Alterswerk – im Kontext lebensreformerischer Ideen. So ließen sich schließlich neue Erkenntnisse hinsichtlich der Frage gewinnen, inwieweit sich die frühen Dorfgeschichten tatsächlich als »Keimzelle« (Lowsky 1987: 40) des späteren, literarisch deutlich avancierteren Werks erweisen. Die folgenden Überlegungen werden sich indes auf einige Aspekte der thematischen Verzahnung von Mays Dorfgeschichten mit seinen klassischen Reiseerzählungen konzentrieren. Trotz der geographischen Expansion seiner Texte zwischen 1892 und 1899, als er mit seinen Abenteuerromanen zum Bestseller-Autor avancierte, verlor May das Genre der Dorfgeschichte nie ganz aus dem Blick. Dass er 1903 eine Anthologie seiner frühen Dorfgeschichten, eingerahmt von zwei neuen, eigens für diesen Anlass verfassten Texten, publizierte, mag ökonomischen Erwägungen geschuldet sein. Mit der Rückkehr in den heimatlichen Horizont der Leserschaft war wohl auch die Erwartung verbunden, die eigene Popularität zu erneuern, die im öffentlichen Disput um seine plötzlich ans Licht gekommene Biographie als Zuchthäusler gelitten hatte (vgl. Potthast 2010: 134). Bemerkenswert ist jedoch, dass sich auch in den Romanen um die sächsischen Abenteurer Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi Konstellationen und Wertvorstellungen der Dorfgeschichte finden lassen – und dies obwohl die Helden durch geradezu märchenhafte Konstruktionen des amerikanischen Westens bzw. des »Orients« reiten. Offenkundige Parallelen bestehen vor allem hinsichtlich des dualistischen Weltbildes, welches Materialismus und Humanität einander gegenüberstellt (vgl. Potthast 2010: 137), sowie der Normen, nach denen die Charaktere ihr Verhalten ausrichten (vgl. Hein 1976a: 63f.). Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, christliche Nächstenliebe: Diese Erziehungsideale propagieren Mays Erzählungen unabhängig von ihrem jeweiligen Handlungsort. Überdies wird in den Reiseerzählungen der Blick auf die Fremde, in dem sich das angelesene Wissen des Autors mit seiner Fabulierkunst und dem Hang zur Sublimation verbindet,3 durch die Rückbindung an den heimischen Kontext akzentuiert und zugleich geerdet. So nutzen die beiden deutschen Auswanderer Tante Droll und Hobble-Frank im SCHATZ IM SILBERSEE ihren Wachtposten dazu, »von der lieben Heimat zu plaudern« (May 1894b: 412), und sind überhaupt froh, einander begegnet zu sein: »Vetter, also hier, hier mitten in der Wildnis finden wir uns als schtammverwandte Menschen und Cousängs!« (Ebd.: 396) So manifestiert sich denn auch in Texten, die DER KUNSTWART und andere selbsternannte Organe des guten Geschmacks als »Schundliteratur« abqualifizierten, Mays eigenwilliger volkserzieherischer Impetus.

3

Vgl. Eggebrecht (1987a: 233): »May erzählt aber, um sich seines Ichs und auch dieser Welt zu vergewissern; und umgekehrt füllt er die Welt mit seinem Ich, bis sie seine Welt ist. Nicht Mittel irgendeines Abbildens der Realität, sondern Mittel der Entgrenzung, des Hemmungslosen prägen diese Gebilde einer einzigartigen Phantasie.«

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»T IEF IM DEUTSCHEN A CKERBODEN «: Z UR D EBATTE UM K ARL M AY ALS S CHUNDLITERATEN Unter dem Eindruck der Verkaufserfolge Karl Mays und der zunehmenden öffentlichen Kritik an seinem Werk stand für Ferdinand Avenarius, den Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift DER KUNSTWART, schon 1902 fest, dass dieser Autor der »unreifen Phantasie« junger Leser »in skrupellosester Weise eine Sensationenwelt ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit vorlog« (Avenarius 1902: 586). Seit der Journalist Rudolf Lebius 1904 damit begonnen hatte, Mays kriminelle Vergangenheit publik zu machen und ihn in einer von den Medien bereitwillig rezipierten Diffamierungskampagne als Anführer einer Räuberbande zu porträtieren (vgl. Lowsky 1987: 32-35), wurde Avenarius nicht müde, dem Publikum des KUNSTWARTS den Schaden vorzurechnen, den Mays »literarische Bauernfängerei« (Avenarius 1910: 184) im deutschen Volk verursacht hätte. Im Rahmen seines Programms einer ästhetischen und zugleich sittlichen Erziehung des Volkes (vgl. hierzu Carstensen 2016) verstand Avenarius seine Artikel als notwendige Warnungen vor Mays Schriften, würde doch »all das Verwirrende, Falsche, Erheuchelte« (ebd.), das in ihnen stecke, gerade von jungen Lesern unbewusst aufgenommen: »Die Natur hat in gesunden Geistern, Gott sei Dank, Selbstreinigung, wie bei Flüssen, wir dürfen hoffen, daß nicht alles, was aus Mayschen Schriften zwischen den Zeilen in die Köpfe und Herzen geflossen ist, unausgeschieden blieb. Aber über ein Maß hinaus versagt die Selbstreinigung, auch wieder wie beim Fluß. Wieviel Mayschen Innenwesens ist mit den Hunderttausenden seiner Bände in unser Volk, in andre Völker geflossen, weil all diese Leser, vor allem: weil all diese Propagatoren seines Ruhms nicht bemerkten, was doch die anfangs kleine Zahl seiner Bekämpfer sofort beim Lesen sah?« (Avenarius 1912: 194)

Mays Bücher wertete Avenarius denn auch als Indiz dafür, dass DER KUNSTWART noch viel Arbeit im Kampf um die »Ausdruckskultur unserer Tage« (ebd.) vor sich habe: »Vielleicht zeugt keine einzige Erscheinung des ganzen vorigen Jahrhunderts eindringlicher davon: wie bitter not uns eine ästhetische Kultur aus ethischen Gründen tut!« (Ebd., Herv. i.O.) Während der KUNSTWART in den Romanen Karl Mays eine Bedrohung für das deutsche Kulturerbe sah, dessen Schutz sich Avenarius auf die Fahne geschrieben hatte, mehrten sich vor allem in der Zeit zwischen den Weltkriegen die Stimmen, die in dem Autor der WINNETOU-Reihe einen »Märchenerzähler fürs ganze Volk, mit größter Wirksamkeit und unbestreitbar sittlichen, fördernden Tendenzen«4 zu

4

So Otto Eicke (1889-1945) in seinem Artikel »Eine Umwertung der Ästhetik«, der 1918 in der Zeitschrift DIE HOCHWACHT (Heft 11/12) erschien; zit. nach Geyer-Ryan (1987:

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erkennen meinten. So prangert der nationalkonservative Kritiker Otto Eicke, der ab 1918 die Gesammelten Werke im Radebeuler Karl-May-Verlag bearbeitete, in mehreren Beiträgen die vom KUNSTWART betriebene »Karl-May-Hetze« an. May wird als Beispiel des gesunden Volksschriftstellers5 zelebriert und gilt als Heilmittel gegen die Dekadenz-Literatur – eine Position, die Eicke 1918 in einem emphatischen Aufsatz in DIE HOCHWACHT, der »Monatsschrift zur Wahrung und Pflege deutscher Geisteskultur«, vertritt: »Ferdinand Avenarius rennt von neuem grimmigen Sturm gegen die Hochburg literarischen Schunds, die – seiner Meinung nach – Karl May in deutschen Landen errichtete [...]. Die modernen Kunsterscheinungen [...], deren Prediger und Verkünder und Richter Avenarius sein will, etwa die Werke eines Schnitzler, Wedekind, Hasenclever, Dörmann, Hofmannsthal, Mombert usw. werden in dem neuen deutschen Volke im Frieden beschwerlich tiefere, ja kaum so tiefe Wurzeln schlagen wie bisher. Denn das ist eine Kunst der Überempfindlichkeit, berechnet für Menschen, die viel Zeit, das nötige Geld und eine gewisse Reizlosigkeit (aus Überreizung) gegen normale Affekte haben. Diese Kunst, die es liebt, das Ungesunde, Schwüle, oft das Perverse zum Vorwurf zu nehmen, fand ihr Publikum unter denen, die des Alltags harten Kampf ums tägliche Brot mit seiner tragischen Größe nicht kannten [...]. [Die anderen aber] haben natürlichen Hunger und wollen sich satt essen an solider Hausmannskost. Und diese Kost gibt dem Volke Karl May, der mit den Wurzeln seines Wesens tief im deutschen, schwerkrumigen Ackerboden steckt, dessen Gedanken noch so lustig zur Sonne aufflattern mögen. Sie hängen doch [...] mit festem Faden an der deutschen Erde. Und die Kinder seiner Muse sind pausbäckig und gesund und haben blondes Haar und blaue Augen.« (zit. nach Geyer-Ryan 1987: 253)

254). Für den späteren Nationalsozialisten Eicke stand außer Frage, dass May »nicht in erster Linie unterhalten«, sondern »vielmehr dem Volke seine Ideale predigen« wollte, wie er 1919 in einem Beitrag für NATUR UND GESELLSCHAFT – überschrieben mit »Ein Verkünder der neuen Zeit« – konstatierte: »Und nur um willig angehört zu werden, kleidete er seine Predigt in eine Form, die das Volk willig und gespannt zuhören ließ. Seine Ideale aber waren: Entwicklung des Gewaltmenschen zum Edelmenschen, paradiesische Beglückung der Menschheit durch die Wunder des Friedens und den Segen der Liebe in einer neuen besseren Zeit.« (Eicke 1919) 5

Zu den Projektionen, die sich aus der Rolle Mays als »Volksschriftsteller« ergeben, vgl. Roussel (2016: 252-259), der ganz richtig anmerkt: »[D]ie Stunde des ›Volksschriftstellers‹ Karl May schlägt – ungeachtet der völkischen Herkunft des Begriffs und gemessen an seiner Unstrittigkeit – im Grunde erst in den 1950er und 1960er Jahren mit einem Verlag, der den Namen eines einzigen Autors trägt, dem Karl-May-Verlag, millionenfachen Auflagen und mit einer vor allem filmisch erreichten Verwandlung ins Medienereignis.« (Ebd.: 264)

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Vom deutschen Ackerboden, in dem der Autor Karl May angeblich verwurzelt sei, mag im Wilden Westen auf den ersten Blick nicht viel zu finden sein. Dass er in seinen Reiseerzählungen die sächsische Heimat hinter sich lässt, um mit der von Avenarius problematisierten »Macht der Phantasie« (Schmiedt 2011) – und vor allem mithilfe von Landkarten, Lexika und einschlägiger Literatur – teils haarsträubende Plots in Weltgegenden zu entwerfen, die er erst Jahre später bereisen wird,6 kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er heimische Maßstäbe und damit den vertrauten Werthorizont seiner Leserschaft stets im Auge behält. Mit seiner kaum zu fassenden Weite ist der nordamerikanische Kontinent auch bei May ein Fluchtraum; mit jeder Erzählung strickt der Autor an der »Herstellung einer erträumten Heimat für alle, die am Bürgertum litten und dafür weder Wort noch Tat finden durften« (Seeßlen 2012). Zugleich zieht sich durch die Geschichten »das Band der Muttersprache, mit dem sich überall in Mays Welt Deutsche fernab der Heimat gegenseitig ausweisen« (Roussel 2013: 63). Immer wieder kontrastieren die Texte Abenteuer in fremden Landschaften mit heimischen Abenteuern des Gewöhnlichen, über welche die Figuren in nostalgischen Dialogen reflektieren.

»E HRLICHE D EUTSCHE «: M AYS A USWANDERER Bereits in den »Imaginationsräumen« der Mayschen Kolportageromane der 1880er Jahre findet sich häufig die Geschichte Deutschlands eingelagert (Roussel 2013: 64). Ebenso verweisen die klassischen Abenteuer- und Reisegeschichten um Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, hinter denen die zeitgenössischen Leser zunächst den Autor selbst vermuteten,7 zurück auf den deutschen Erfahrungshorizont, und sie tun dies auf bemerkenswert ambivalente Weise: »[D]er Held sucht das Abenteuer, weil er in der Heimat nicht leben mag; das Resultat des Abenteuers teilt mit, daß in der Heimat alles besser sei.« (Schmiedt 1983: 9) Konnten die deutschen Leser mit Mays Romanen einerseits die Erfahrungen ihrer emigrierten Landsleute nachempfinden, sahen sie sich andererseits in ihrer Entscheidung bestätigt, in der Heimat zu bleiben (vgl. Berman 2002: 287f.). In Amerika, so wird Old Shatterhand immer

6

Dass May den nordamerikanischen Kontinent bei der Abschrift seiner WINNETOURomane nur aus zweiter Hand kannte, ist vermutlich auch der Hauptgrund dafür, dass sich einem als Leser der Eindruck aufdrängt, hier sei ein Autor mit starker Einbildungskraft, aber wenig Erfindungsreichtum am Werk gewesen (Sammons 1998: 230).

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Eine Lesart, die May lange Zeit unterstützte, indem er mit Silberbüchse und Henrystutzen posierte und sich damit brüstete, neben den geläufigen Sprachen der Alten Welt auch zahlreiche »Indianersprachen« sowie »3 südamerikanische Dialekte« zu beherrschen: »Lappländisch will ich nicht mitzählen.« (Zit. in Schmiedt 1983: 7)

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wieder belehrt, ist das Leben gerade für Neuankömmlinge weit beschwerlicher, als man in Deutschland gemeinhin annehme.8 Im zweiten Band der WINNETOUTrilogie ist es der erfahrene Westmann Old Death, der ihm bei einem »Schluck Pilsener« in einer »deutschen Bierstube« (May 1893b: 16) in New Orleans eine entsprechende Warnung mit auf den Weg gibt: »Da drüben im alten Europa denken die Leute eben, daß man hier nur die Tasche aufzumachen habe, um die blanken Dollars hineinfliegen zu sehen. Wenn es einmal Einem glückt, so schreiben alle Zeitungen von ihm; von den Tausenden aber, welche im Kampfe mit den Wogen des Lebens untersinken und spurlos verschwinden, spricht kein Mensch.« (Ebd.: 20)

Konstitutiv für das narrative Programm der Reiseerzählungen ist der Umstand, dass Deutschland in erster Linie ein Projektionsraum bleibt. Wenngleich die Texte fortlaufend auf die Heimat rekurrieren, erweist sich diese doch – vor allem im Vergleich zu den nicht-deutschen Handlungsorten, deren Plastizität May seine hohen Auflagen nicht zuletzt verdankt – als auffällige Leerstelle, die man als Leser selbst zu füllen hat. Mays Wild-West-Helden kennzeichnet oft »eine problematische deutsche Vergangenheit« (Scheerer 1997: 288), doch Genaueres wird kaum mitgeteilt. So erfährt man in WINNETOU I nahezu nichts über die konkreten Gründe für Old Shatterhands Auswanderung. Zwar zitiert der Ich-Erzähler zu Beginn des Romans den Topos des American Dream, indem er die besseren »Bedingungen« (May 1893a: 9) anführt, die zum Zeitpunkt seiner Abenteuer auf dem amerikanischen Kontinent geherrscht hätten. Warum diesem ambitionierten Mann der Erfolg in der deutschen Heimat verwehrt geblieben wäre, präzisiert der Text allerdings nicht: »Unerquickliche Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Thatendrang hatten mich über den Ocean nach den Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage.« (Ebd.)

Es würde freilich in die Irre führen, wollte man gerade im Falle Old Shatterhands die Maßstäbe realistischen Erzählens anlegen, handelt es sich bei diesem Alter Ego Mays doch um einen Idealtypus – um einen »ungebrochenen Helden« (Neuhaus:

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Er bringt damit eine Erfahrung der Ambivalenz zum Ausdruck, von der auch die SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN eines Berthold Auerbach, der übrigens ebenfalls nie in Amerika war, angesichts der (zu jener Zeit: massenhaften) Auswanderung in die Neue Welt wiederholt berichten; wobei Auerbach hierbei vor allem die sozialen wie auch emotionalen Folgen dieses ›Verlusts‹ für die Entwicklung der Dörfer in den Blick nimmt (vgl. Belgum 2009: 62-66).

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156), der »eine Form praktizierter Humanität« (Scheerer 1997: 281) verkörpert. May hat dies in MEIN LEBEN UND STREBEN später folgendermaßen zusammengefasst: »Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, das verstand sich doch wohl ganz von selbst.« (May 1910: 146) Zu Beginn von WINNETOU I werden die Leser darüber in Kenntnis gesetzt, dass Old Shatterhand erst vor kurzem nach Amerika gekommen ist; er gilt mithin als ziemliches »Greenhorn« (May 1893a: 7). Die amerikanischen Verhaltensweisen und sozialen Codes kennt er, ohne sie verinnerlicht zu haben. Unschwer würde man in diesem Mann, der sich mit einiger Selbstironie als »studiert« (ebd.: 9) betrachtet, dem es unangenehm ist, »seine Suppe mit dem Schnaufen eines verendenden Büffels hinabzuschlürfen« (ebd.: 8), und der sich deshalb anhören muss, er solle doch endlich einmal »die Nase ins Leben« (ebd.: 11) stecken, die europäische Sozialisation erkennen. An »der Heimat und den Meinen« hängt er, wie er sogleich versichert, »mit ganzem Herzen« (ebd.: 10). Nicht zuletzt sein Beharren auf dem vielleicht eigentlichen Ziel seines Reisens – nämlich der Ausbildung von Autorschaft (vgl. Neumann 1988: 31) – belegt Old Shatterhands Beheimatung in der abendländischen Zivilisation, in der symbolischen Ordnung der Schrift: 9 »Ich mache Reisen, um Länder und Völker kennen zu lernen, und kehre zuweilen in die Heimat zurück, um meine Ansichten und Erfahrungen ungestört niederzuschreiben.« (May 1893a: 152) Mag die Kennzeichnung durch einen »Körpernamen« (Neumann 1987: 75) auch auf den Mythos der Neuen Welt verweisen, indem sie »die Geburt des Helden aus dem selbstverantworteten Namen« betont (ebd.: 74), bleibt Old Shatterhand als »Lehrer meiner Leser« (May 1893a: 153) doch stets dem System der Abstraktion, welches die Alte Welt repräsentiert, verhaftet. Obendrein geht seiner Verschriftlichung dessen, was er in Nordamerika erlebt, die Entzifferung der Natur voraus: Trotz ihrer Hervorhebung »richtige[r] Klugheit« (ebd.: 11) im Sinne praktischer, nützlicher Erfahrung erweisen sich somit gerade die WINNETOU-Romane als dem epistemologischen Paradigma der Moderne verhaftet, wenn sie das Spurenlesen in den Kontext eines Identitätsexperiments einbetten, das in der Tradition des Bildungsromans steht (Neumann 1988).10

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Da, wie Gerhard Neumann prononciert, die Schreibhand Karl Mays und die Faust Old Shatterhands ein und dieselbe sind (Neumann 1987: 82), ergeben sich aus dieser Konstellation hinreichende Folgen für die Subjektkonstitution des Autors: »Das Paradoxon von Karl Mays Autorschaft besteht darin, daß sich ihm erst im Pseudonym die ›Erschreibung des Ich‹ vollendet.« (Ebd.: 85)

10 Neumann spricht sogar von einer »[p]ostmoderne[n]« (Neumann 1988: 33) Tendenz in der WINNETOU-Trilogie, da sich Old Shatterhands Orientierung in der Welt wiederum an

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Mays Blick auf das Schicksal der Indianer ist einerseits von Anteilnahme geprägt, bleibt andererseits aber dem Wertesystem der europäischen Heimat verhaftet: Die amerikanischen Ureinwohner treten häufig als edle Wilde auf, die allerdings auch zu allerlei Grausamkeiten bereit sind; idealisierten Auswanderern wie Old Shatterhand sind sie nicht zuletzt deshalb unterlegen, weil ihnen für die christliche Nächstenliebe das eigentliche Verständnis fehlt (vgl. Hohendahl 1975: 231, 236f.). An der »Superiorität des deutschen Wesens« (Schmiedt 1983: 9) lassen die Romane somit wenig Zweifel; die Verhältnisse in der Heimat dienen in der Regel als nur sanft hinterfragter Referenzrahmen für die Beurteilung jener Menschen, Sitten und Gebräuche, auf die Mays Helden in der Fremde treffen.11 Old Shatterhand kommt dabei die Rolle zu, den Lesern als eine Art lebender Maßstab zu dienen, schließlich verkörpert er »alles in reiner Form: praktische Vernunft, idealisierte Humanität und [...] bürgerlichen Anstand deutscher Provenienz.« (Scheerer 1997: 282) Entsprechend emphatisch klingt Winnetous Lobeshymne auf seinen Begleiter: »Mein Bruder kennt die Länder der Erde und ihre Bewohner; er kennt alle Bücher der Weißen; er ist verwegen im Kampfe, weise am Beratungsfeuer und mild gegen die Feinde.« (May 1893c: 427) Insbesondere steht Old Shatterhand für deutsches Pflichtbewusstsein (Scheerer 1997: 285), wie der Beginn von WINNETOU I verdeutlicht: »Meine Kollegen waren echte Yankees, welche in mir das Greenhorn, den unerfahrenen Dutchman sahen, dieses letztere Wort als Schimpfwort genommen. Sie wollten Geld verdienen, ohne viel danach zu fragen, ob sie ihre Aufgabe auch wirklich gewissenhaft erfüllten. Ich

der Schrift orientiere. Mays Held ist passionierter Leser, der den Inhalt der studierten Bücher »gut im Kopfe« (May 1893a: 11) hat. Seinem Spurenlesen in der Neuen Welt geht das Aneignungsverfahren der Alten Welt voraus, die Lektüre von Literatur: »Wesentlich aber und alle Welterfahrung bestimmend ist dabei die Zirkulationsstruktur der Schrift, ein ewiger Kreislauf von Produktion und Reproduktion der Buchstaben: Old Shatterhand hat Bücher gelesen, die ihm die Entzifferung des Buches der Natur ermöglichen, und eben diese Entzifferung, das Erleben des Abenteuers, des Fährtenlesers nämlich, wird wieder in Bücher verwandelt: die Reiseromane des Autors Karl May.« (Neumann 1988: 25) Dass Mays Reiseprosa häufig ein »Patchwork« (Schweikert 2020) aus ausgebeuteten, oftmals nur geringfügig umformulierten Fremdtexten ist, hat die Forschung inzwischen gezeigt. 11 Dies trifft nicht nur auf die in den USA angesiedelten Erzählungen zu. In dem Südamerika-Roman AM RIO DE LA PLATA (1894) ist von einem Lieutenant die Rede, der mit seiner phantastisch wirkenden Uniform und dem starken Bartwuchs »nicht den Eindruck eines Offiziers« macht, »jedenfalls weil ich die hiesigen Verhältnisse nicht kannte und das knappe ›schneidige‹ Aussehen unserer heimischen Offiziere als Maßstab anlegte«. Nach den Verhältnissen in Deutschland stellt er nur »albern[e]« Fragen (May 1894a: 193).

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war als ehrlicher Deutscher ihnen dabei ein Hemmschuh, dem sie die erst gezeigte Gunst sehr bald entzogen. Ich ließ mich dies nicht anfechten und that meine Pflicht.« (May 1893a: 37)

Vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Spannungen, die sich in der deutschen Heimat in Folge der Industrialisierung herauskristallisieren, formulieren die WINNETOU-Romane eine explizite Kritik an kapitalistischen Interessen – auch Mays Indianer bewegen sich ja »außerhalb bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse« (Scheerer 1997: 286) und sind in diesem Sinne unzivilisiert –, ohne den Geltungsanspruch des bürgerlichen Individuums zu bestreiten (Hohendahl 1989: 241): »In diesem Sinne ist Mays Oeuvre Teil der bürgerlichen Kultur, auch wenn es von ihren elitären Vertretern nicht anerkannt wurde.« (Ebd.: 242) Dabei offenbart sich auch der didaktische Impetus dieses Erzählens, das die Leser nicht nur unterhalten, sondern auch belehren will. Innerhalb der Mayschen Werteordnung erscheinen viele der »Westmänner«, denen Old Shatterhand begegnet, als Menschen »von sehr niederem moralischem Range« (May 1893a: 38), die sich durch Trinkfestigkeit, Faulheit und Disziplinlosigkeit auszeichnen. Das deutsche Ideal ehrlicher Arbeit projizieren die Texte auf den Wilden Westen, indem sie den materialistischen Vorsatz, schnell zu Geld zu kommen, der die angelsächsischen Siedler bei May oft antreibt, verurteilen. Dabei kommt es zu einer Verschiebung: »weg vom arbeitsfreien Reichtum, hin zum Wohlstand durch Arbeit« (Scheerer 1997: 287). Dank ihrer Bodenständigkeit lassen sich Mays deutsche Siedler von der Aussicht auf angeblich märchenhafte Edelsteinfunde nicht blenden. So werden die bayrischen Auswanderer der Helldorf-Settlement in Idaho in WINNETOU III als fleißige Arbeiter geschildert, die ihre Zukunft mit Bedacht aufbauen: »Sie waren aus dem bayerischen Fichtelgebirge, wo es viele Steinschneider giebt, nach Amerika gekommen, hatten in Chicago treu zusammengehalten und fleißig gearbeitet, um sich das Geld zu einer Farm zu verdienen. Das war allen fünf Familien gelungen. Als sie sich entscheiden sollten, in welcher Gegend sie sich eine Heimat gründen wollten, gab es eine schwere Wahl. Da hörten sie einen alten Westmann von den Tetons erzählen und von den Reichtümern, welche in jenen unerforschten Gegenden aufgestapelt liegen. Er hatte ihnen zugeschworen, daß da oben ganze Felder von Chalcedonen, Opalen und Achaten, Karneolen und anderen Halbedelsteinen zu finden seien. Hillmann war eigentlich Steinschneider, und dieser Bericht begeisterte ihn. Seine Begeisterung bemächtigte sich auch der andern, und so wurde beschlossen, nach jenen Gegenden zu gehen. Aber die vorsichtigen Deutschen waren klug genug, nicht ihr ganzes Vertrauen auf jene Reichtümer zu setzen. Sie beschlossen, in der Nähe der Berge einen für Farmereibetrieb passenden Ort zu suchen« (May 1893c: 419).

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Noch in den Edelmensch-Phantasien des zivilisationskritischen Alterswerks12 stellt der »Yankee« die Negativfolie dar, vor deren Hintergrund May seine Idee einer neuen »Rasse« entwickelt. Es obliegt der Kurdenfürstin Marah Durimeh, der Kara Ben Nemsi schon in DURCHS WILDE KURDISTAN begegnet war, zu Beginn des zweiteiligen Romans ARDISTAN UND DSCHINNISTAN (1909) das »völkerverbindende Weltethos« (Pyta 2012: 21) des Verfassers zu verkünden: »Dieser rote Mann stirbt nicht. [...] Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben Beide das, was wohl kein anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen. [...] Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken.« (May 1909: 18f.)

Das Maysche Edelmenschentum mag übernational sein, es vereint jedoch das Beste jener beiden Volksgruppen, die der Autor bereits in den nordamerikanischen Reiseerzählungen verherrlicht. Aus der Symbiose des ehrlichen Sachsen mit dem edlen Indianer entsteht der neue, »hochbegabte« Mensch.13

S ACHSEN

UND I NDIANER :

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Zu behaupten, man erhielte in Karl Mays Amerika-Romanen unter der Hand auch eine Geschichte der deutschen Auswanderung, wäre wohl übertrieben. Immer wieder begegnet sein sächsischer Held jedoch deutschen Siedlern, auf die May die mit der Emigration verbundenen Hoffnungen und Ängste projiziert. So spiegeln die Nordamerika-Romane das wider, was Greverus im Zusammenhang mit der deut-

12 Vgl. den berühmten Vortrag EMPOR INS REICH DER EDELMENSCHEN, den May am 22. März 1912, kurz vor seinem Tod, im Wiener Sofiensaal hält und der den Schlusspunkt eines Lebens bildet, »das sich nie mit der Wirklichkeit abfinden konnte« (Sudhoff 2001: 472). Den zahlreichen Zuhörern verkündet May, der Weg zum Edelmenschen sei »ein Thema meines ganzen Lebens, meines ganzen schriftstellerischen Wirkens, das Thema jedes einzelnen meiner Bücher« (Bartsch 1970: 52). 13 Wie Pyta (2012) darlegt, partizipiert May mit seiner Idee der Verschmelzung der Ethnien, die auf einem kulturanthropologischen Begriff von »Rasse« gründet, am Fortschrittsdiskurs der Jahrhundertwende. Zu untersuchen wäre, in welchem Verhältnis Mays Vorstellung von der Höherentwicklung des Menschen durch Rassenverbrüderung zur Weltanschauung der Lebensreform steht, deren Praktiken ja ebenfalls auf die Veredelung des Menschen ausgerichtet waren.

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schen Heimatliteratur eine »prospektive Satisfaktionsraumerwartung« (Greverus 1976: 47) genannt hat. Entsprechend heißt es von den Auswanderern immer wieder, sie seien nach Amerika gekommen, um dort ihr »Glück zu machen« (May 1893b: 20). Nicht zuletzt die politische Motivation spielt dabei eine Rolle: So haben Klekih-petra in WINNETOU I und Old Firehand in WINNETOU II Deutschland im Anschluss an die gescheiterte Revolution von 1848 verlassen. Auch bei May knüpft sich an die Emigration die Erwartung, in der Fremde gewissermaßen einen Re-Start wagen zu können und dadurch ein besseres Auskommen zu finden: »Ihre Identität rührt von der Heimat her; Sühne, Erlösung oder Glück finden sie (allenfalls) in der Ferne.« (Roussel 2013: 63) Wie stark die deutschen Auswanderer nach wie vor von den Traditionen der zurückgelassenen Alten Welt geprägt sind, inszenieren die Romane in Passagen, die der eigentlichen Abenteuerhandlung als Ornamente beigefügt sind und diese entschleunigen. Eindrücklich geschieht dies in WINNETOU III, als Old Shatterhand und Winnetou in die Helldorf-Settlement eingeladen werden, wo man im Rahmen eines Männergesangvereins die aktive Pflege des deutschen Kulturguts betreibt: »Nach und nach füllte sich der Wohnraum des Blockhauses, und wir feierten einen Abend, wie ich ihn im Westen noch nicht erlebt hatte. Die Männer konnten noch alle Lieder, welche sie in der Heimat und dann später in Chicago gesungen hatten. Als echte Deutsche liebten sie den Gesang und hatten sich ganz leidlich zu einem Doppelquartette zusammengeübt. Selbst der alte Hillmann sang einen erträglichen Baß, und so kam es, daß die Pausen des Gespräches mit deutschen Volksliedern und Quartetten ausgefüllt wurden.« (May 1893c: 421f.)

Bei aller Aufbruchstimmung sind die WINNETOU-Romane beseelt von gehörigem Heimweh, lassen sie doch regelmäßig deutsche Landschaften, Sitten und Gebräuche retrospektiv in der Erinnerung der Figuren entstehen. Das führt dazu, dass man über Deutschland vor allem »Indirektes« (Roussel 2016: 251) erfährt. Dabei entwerfen die Romane ein ambivalentes Deutschland-Bild, indem sie einerseits suggerieren, dass Selbstverwirklichung und ökonomischer Erfolg in der Heimat erschwert würden, andererseits aber heimische Alltagspraktiken verklären. Aus der Perspektive des amerikanischen Westens erscheint Deutschland als idealer, dezidiert provinzieller Staat, und die Heimatbezüge, die Mays Geschichten um Old Shatterhand herstellen, orientieren sich häufig an lokalen und regionalen Identitäten. 14

14 Vgl. auch die Begegnung des Ich-Erzählers mit einem deutsch-schweizerischen Paar in AM RIO DE LA PLATA, welches sich in Uruguay kaum deutscher hätte einrichten können: »Er öffnete eine schmale Thüre, durch welche wir in den Wohnraum traten, der höher war, als man es gewöhnlich in Ranchos findet, und eine Bretterdecke hatte. Die Glasfenster zeigten keinen einzigen Flecken, und die einfachen Tische und Stühle waren ebenso

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Vor allem sprachlich wird das deutsche Lesepublikum an die Heimat erinnert. Zum einen zitieren die Reiseerzählungen immer wieder deutsche Sprichwörter und Redewendungen. So hat etwa Droll »die Gewohnheit, die Festtage so zu feiern, wie sie fallen« (May 1894b: 393), und mutige Westmänner haben seiner Meinung nach »Haare off de Zähne« (ebd.: 415). Wer schon seinen Mitmenschen in der Heimat mit pragmatischer Skepsis begegnete, der wird sich im Staube der Prärie nicht unbedingt von optimistischerer Seite zeigen: »Borgen macht Sorgen, sagen wir in Sachsen.« (Ebd.: 457). Zum anderen bedienen sich viele der deutschen Nebenfiguren, auf die Mays Helden im amerikanischen Westen oder dem Orient treffen, ihres Heimatdialekts (vgl. Pinnow 1989).15 Figuren wie der aus Moritzburg – »Mittelpunkt aller kalospinthechromokrenen Größe und Anschtändigkeet« (May 1894b: 416) – stammende Hobble-Frank, der eigentlich Heliogabalus Morpheus Franke heißt und in den Romanen DER SCHATZ IM SILBERSEE und DER ÖLPRINZ auftritt, stehen insofern in der Tradition der Dorfgeschichte, als sie keine Zivilisationsschäden aufweisen. Sie verkörpern nicht nur »Kühnheet« und »Tapferkeet« (ebd.), sondern eben auch Anstand und eine nicht zu erlernende Klugheit – eine Mischung, mit der sie, so Hobble-Frank, im Westen bestens bestehen können: »Wehe den Indianern, und wehe dem ganzen wilden Westen, wenn eenem von unsern Leuten een falsches Haar gekrümmt wird! Ich bin een guter Mensch; ich bin so zu sagen zwee Seelen und een Gedanke; aber wenn ich rabbiat werde, so haue ich die ganze formidable Weltgeschichte in die Pfanne. Du wirst mich schon noch kennen lernen. Ich bin een Sachse.

wie die Diele blitzblank gescheuert. Das mutete einen so heimatlich an. Neben der Thüre hing ein Weihwassergefäß, was ich während dieser Tage noch nirgend anderswo gesehen hatte, obgleich die Staatsreligion der Banda oriental die katholische ist. Gegenüber hing der Spiegel und zu beiden Seiten von ihm die Mater dolorosa und der Erlöser mit der Dornenkrone in nicht üblem Oelfarbendruck. In der Ecke stand ein großer Kachelofen und hinter demselben, in dem Raume, welchen man in einigen Gegenden Deutschlands die ›Hölle‹ nennt, ein altes, mit Leder bezogenes Sofa. Es war mir ganz so, als ob ich mich in einer thüringischen oder bayerischen Bauernstube befände. Und ebenso wie die Wohnung heimelten mich auch die Besitzer an. Die Frau, welche mich so herzlich bewillkommnet hatte, mochte an die vierzig Jahre alt sein; ihr Mann vielleicht zehn Jahre älter. Beide trugen sich heimatlich gekleidet, ungefähr wie die Leute im Fichtelgebirge.« (May 1894a: 253f.) 15 Martin Roussel hat diesen Aspekt treffend zusammengefasst: »An den unwahrscheinlichsten Orten, zu den unwahrscheinlichsten Zeitpunkten entdecken einander gänzlich Unbekannte die gemeinsame Wurzel der Sprache, die sie eine Gemeinschaft bilden lässt, die so real ist wie die Situation, in der sie sich befinden und so imaginär, wie das Deutschland, das nicht ist.« (Roussel 2016: 265)

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Verschtehste mich! Wir Sachsen sind schtets een schtrategisch amüsantes Volk gewesen und haben in allen Kriegen und diatonischen Schtreitigkeeten die schwersten Prügel ausgeteelt.« (Ebd.)

Indes verweist der Umstand, dass deutsche Auswanderer sich ihrer jeweiligen Dialekte bedienen, sobald sie miteinander ins Gespräch kommen, gerade nicht auf eine einseitig positive Konnotation des Heimathorizonts. Im SCHATZ IM SILBERSEE wird die Mundart ausdrücklich als wesentlicher Grund für die soziale Stigmatisierung benannt, die Tante Droll zur Emigration in die USA bewogen hat. »Mein Dialekt hat mich herübergetrieben« (May 1894b: 156), erklärt diese Figur, die mit bürgerlichem Namen Sebastian Melchior Pampel heißt, aus Langenleuba-Niederhain in Sachsen-Altenburg stammt und auf die May »die psychosoziale Biographie eines deutschen Auswanderers um die Mitte des 19. Jahrhunderts« (Scheerer 1997: 288) projiziert.16 Anders als man vermuten könnte, wird der Dialekt nicht etwa zur Signatur der verlorenen Heimat, sondern ist im Falle Drolls vielmehr ursächlich mit diesem Heimatverlust verschränkt: »Er hat mich daheim aus einem Hause in das andre, aus einer Straße in die andre, aus einem Orte in den andern und endlich gar über das Meer getrieben.« (May 1894b: 156) Dass er in Amerika Englisch sprechen kann, empfindet er als Befreiung; an eine Heimkehr ist aufgrund des Dialekts nicht zu denken, zumal er sich in einem der norddeutschen Häfen einschiffen müsste, wo er sich sogleich in seiner alten Rolle als Dialektsprecher wiederfände. 17 Es ist somit die eigene Sprache, die ihm die Rückkehr in die Heimat verstellt, wie der schwarze Tom, ein anderer Auswanderer, bemerkt: »Droll spricht nämlich ein so schauderhaftes Deutsch, daß er sich drüben gar nicht hören lassen kann.« (Ebd.: 157) Derweil verdankt sich die Komik des Romans dem Umstand, dass er den Horizont der deutschen Heimat verlässlich – und besonders dann, wenn es brenzlig wird

16 Folglich lässt sich Tante Droll als »Beispiel für eine Helden-Projektion« verstehen: »Ein Kind von armseliger Herkunft, mit lächerlichem Namen, mit Fistelstimme und grauenhaftem Dialekt, ein Schulversager zudem, darf zum gefährlichsten Polizeispion [...] Amerikas werden, findet dort Bewunderer und gewinnt sogar einen lieben Verwandten aus der Vergangenheit zurück [...]. Das ist der Weg, den die Träume nehmen – die Karl Mays, die von Proletarierkindern, die von Gymnasiasten in deutschen Schulzimmern, die von Zu-Kurz-Gekommenen jeder Provenienz.« (Scheerer 1997: 289; Herv. i.O.) 17 So erklärt Tante Droll: »Ich sehne mich nach meinem Vaterlande, ich hätte auch die Mittel, mich da drüben dauernd zur Ruhe zu setzen, aber ich kann leider nicht hinüber, denn in Hamburg oder Bremerhaven steht dieser Teufel schon seit Jahren, um sich mir sofort nach der Landung wieder beizugesellen.« (May 1894b: 156f.)

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– zur maßgeblichen Referenz erhebt.18 Dass Hobble-Frank und Tante Droll selbstbewusste Sachsen sind, zeigt sich, wenn sie sich gemeinsam gegen die feindlichen Indianer behaupten müssen: »Bleib da! Nich so schnell hinaus! Wenn die Indianersch itzt bei Nacht eenen Ueberfall unternehme, so sind ihrer so viele beisamme, daß mer so vorsichtig wie möglich zu sein hat. Wolle erscht sehe, wie de Sache schteht. Nachher wisse mer, was mer zu mache habe. Mer müsse uns niederlege und vorwärts krieche.« (May 1894b: 413)

Als sich die Perspektive ungeahnten Reichtums eröffnet, gilt der erste Gedanke hinsichtlich der Geldanlage dann doch der Rückkehr in die Heimat, die den Auswanderern plötzlich als jener »Satisfaktionsraum der territorialen Bedürfnisse nach Identität, Sicherheit und aktiver Lebensgestaltung« (Greverus 1976: 47) erscheint, der das Amerika Mays letztlich nicht werden kann. Hobble-Frank hat bereits konkrete Pläne geschmiedet: Sollte man tatsächlich Silber oder Gold finden, wolle er sich »alle Taschen voll« machen und »nachher heeme, nach Sachsen« fahren, wo er sich am Elbstrand »eene sogenannte Villa« bauen werde, »um den Leuten zu zeigen, was für een vornehmer und großartiger Kerl ich geworden bin.« (May 1894b: 468) Sein Vetter entwickelt derweil die Vorstellung eines guten Lebens auf dem Land, samt »Bauergut mit zwanzig Pferden und achtzig Kühen«, wo er wiederum »weiter nischt als Quark und Ziegenkäse« machen wolle: »Dadroff kommt’s nämlich im Altenburgischen hauptsächlich an.« (Ebd.) So endet DER SCHATZ IM SILBERSEE denn auch mit der Vision der Rückkehr in die Heimat: »Die Hoffnung, welche man in den Ort gesetzt hatte, bewährte sich. Der Sand war reich an Gold und ließ eine ebenso reiche Ausbeute des festen Gesteins erwarten. Der Goldstaub und die Nuggets mehrten sich von Tag zu Tag; jeden Abend wurde neu gewogen und taxiert, und wenn das Resultat, wie stets, ein erfreuliches war, so flüsterte Droll vergnügt seinem Vetter zu: ›Wenn’s so fortgeht, werde ich das Bauerngut bald koofe könne. Das Geschäft geht brillant.‹ Und der Hobble-Frank antwortete regelmäßig: ›Und meine Villa is mehrschtendeels schon fertig, wenigstens im Koppe. Das wird een komposanter Bau am schönen Schtrand der Elbe, und der Name, den ich ihm gebe, wird noch viel komposanter werden. Ich habe geschprochen. Howgh!‹« (Ebd.: 521)

18 Auch in den WINNETOU-Romanen werden Bezüge zur Heimat durch Vergleiche hergestellt. So sieht sich Old Shatterhand im zweiten Band gezwungen, in dem kleinen Ort Matagorda die Nacht in einem Hotel zu verbringen, welches »einem deutschen Gasthofe dritten oder vierten Ranges« gleicht, samt einem Bett, aus dem er »beim Schlafen entweder den Kopf oben oder die Beine unten hinaushängen lassen« muss. (May 1893b: 46)

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»G EISTIG FROHES F ORSCHEN «: K ARL M AYS A RBEIT AM EIGENEN M YTHOS Während seine deutschen Auswanderer davon träumen, den im amerikanischen Westen ergatterten Goldschatz in einen Bauernhof in der Heimat umzumünzen, bediente sich Karl May in seiner Selbststilisierung bemerkenswerterweise ebenfalls der Topoi des guten Lebens auf dem Land. In seiner umständlich betitelten Broschüre »KARL MAY ALS ERZIEHER« UND »DIE WAHRHEIT ÜBER KARL MAY« ODER DIE GEGNER KARL MAYS IN IHREM EIGENEN LICHTE VON EINEM DANKBAREN MAY-LESER (1902), vom Autor selbst verfasst, aber anonym in einer Auflage von 100.000 Exemplaren veröffentlicht, unternimmt er den Versuch, sich als »untadelhaft[er]« (May 1902: 18) Geistesmensch zu präsentieren, der – mögen die Leser ihn auch »nur als den Schilderer fremder Länder und fremder Völker« kennen – tief »in das Seelenleben des deutschen Volkes eingedrungen ist« (ebd.: 14).19 Gleichwohl stehe er, wie die Verteidigungsschrift in salbungsvollem Ton hervorhebt, fest auf dem von Literaturkritikern wie Adolf Bartels besungenen deutschen Ackerboden: »Was ist er? Litterat? Schriftsteller? Journalist? Dichter? Nichts von alledem! Er ist ein einfacher, arbeitsamer Landwirt, weiter nichts! Er hat sich ein kleines Ackerland zu eigen gemacht. Wo? In irgend einer der vielen Unendlichkeiten, um welche sich gewöhnliche Menschen nicht zu kümmern pflegen. Es ist ein unbeschreiblich schönes, geistiges Land. Das hat er bebaut — — als Erster und auch Einziger, der das wagte. Nicht etwa ein Klondike, sondern ein Eden!« (Ebd.: 15)

Jenseits der metaphorischen Qualitäten evoziert die Broschüre das deutsche Ackerland, indem sie die ERZGEBIRGISCHEN DORFGESCHICHTEN als Beleg dafür heranzieht, dass Mays Werk unter dem Vorwand, Abenteuer zu erzählen, von Beginn an moralische Fragestellungen verhandelt habe. Mögen die Geschichten in der Forschung einen zweifelhaften Ruf genießen und »eine drittklassige Rolle« (Lowsky 1987: 40) innerhalb der Gattung spielen, so waren sie für Mays Selbstverständnis nach 1900 doch von zentraler Bedeutung. Sie offenbarten, so die »ERZIEHER«Broschüre, jene Ideale einer strengen, gerechten Welt, die wohl kaum der »handelnde[n] Seele« (ebd.: 5) eines bloßen Jugendschriftstellers entspringen könnten:

19 Ferdinand Avenarius sah sich durch die Broschüre dazu veranlasst, im KUNSTWART offensiv gegen May Stellung zu beziehen. Nicht nur betrachtete er den Versuch, »einen Schundfabrikanten als eine geistige Macht« hinzustellen, als »Lächerlichkeit« (Avenarius 1902: 585). Mays Erfolg erschien ihm ferner als Indiz dafür, »wie dringend notwendig« (ebd.: 586) eine Reform der deutschen Jugendliteratur sei.

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»Wer noch nicht an Gott glaubt, der muß hier glauben lernen. Wer an der Gerechtigkeit der Vorsehung zweifelt, dem wird hier das freudigste Vertrauen kommen. Und Niemand und Nichts als nur das Böse geht zu Grunde. Es wird kein einziger Konflikt durch den Mord, den Untergang gelöst. Es wird niemals etwas hier geborgt, was erst in jenem Leben bezahlt werden soll. Die Ewigkeit ist schon hier in der Zeit. Der Richter verbirgt sich nicht geheimnisvoll hinter den Kulissen des Grabes. Er waltet schon auf Erden seines Amtes. Er thut das mit fürchterlicher Strenge, mit fast wörtlicher Wiedervergeltung, und aber doch so schonend, so mild, so göttlich lieb mit dem, der ihn um Gnade bittet!« (May 1902: 14; Herv. i.O.)

Im Vorwort zur Buchausgabe der ERZGEBIRGISCHEN DORFGESCHICHTEN, die 1903 erschien und aufgrund mangelnder Nachfrage auf einen Band beschränkt blieb, 20 setzt May die Arbeit am eigenen Mythos fort. Die nachträgliche Inszenierung des Werks als einem der Entwicklung vom Gewalt- zum Edelmenschen gewidmeten Kontinuum (vgl. Vollmer 1985: 160) wird hier auf den Höhepunkt geführt, 21 wobei in dem Bezug auf die erzgebirgische Landschaft wohl auch der Wunsch des Autors zum Ausdruck kommt, den eigenen schriftstellerischen Weg als Reifeprozess zu begreifen:22 »Komm, lieber Leser, komm! Ich führe Dich hinauf in das Gebirge. Du kannst getrost im Geiste mit mir gehen. Der Weg ist mir seit langer Zeit bekannt. Ich baute ihn vor nun fast dreissig Jahren, und Viele, Viele kamen, die meine Berge kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! Dass es auch Höhen giebt, in denen man nach geistgem Erze schürft, das sahen sie bei offnen Augen nicht, und darum ist es unentdeckt geblieben.« (May 1903: iii)

Die metaphysischen Absichten, mit denen May seine Leser »hinauf in das Gebirge« geleiten möchte, offenbaren auch die Titelbilder, die der Maler und Bildhauer

20 Der Band enthält vier frühe, bereits publizierte Geschichten (DES KINDES RUF, DER EINSIEDEL, DER DUKATENHOF, VERGELTUNG), die eingerahmt werden von zwei neuen, im Jahr 1903 eigens für die Publikation verfassten Erzählungen, SONNENSCHEINCHEN und DAS GELDMÄNNLE. 21 In den Dorfgeschichten ist dieser Prozess weniger eindeutig gestaltet. Potthast bemerkt, dass die propagierte Entwicklung zum Edelmenschen in DAS GELDMÄNNLE abstrakt bleibt, vollzieht sie sich doch lediglich »als ein alternierendes Gegeneinander« von unbestimmten, nicht beeinflussbaren, guten und bösen Impulsen (Potthast 2010: 145). 22 Vgl. hierzu Potthast (2010: 136): »Mit der Wiederaufnahme der Gattung Dorfgeschichte und der Imagination einer erneuten Wanderung durch das Gebirge nach 30 Jahren bezieht Karl May sowohl seine schriftstellerischen wie seine lebensgeschichtlichen Anfänge in die Idee seiner poetischen Aufwärtsentwicklung und erhöhten Existenz ein.«

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Sascha Schneider (1870-1927) nach 1904 für Neuausgaben von Reiseerzählungen wie DURCHS WILDE KURDISTAN entwarf. Die Einbände der im Freiburger Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld erscheinenden Bücher zierten nun nackte, stilisierte Männerkörper, die Mays Idee von der Erziehung zum neuen Menschen veranschaulichen. Die Ähnlichkeiten mit den vitalistisch-heroischen Lichtgestalten des lebensreformerischen Malers Fidus (1868-1948) sind frappierend. Abb.1: Forschen nach dem neuen Menschen: Sascha Schneiders Buchdeckel für den Roman DURCHS WILDE KURDISTAN.

Abb.2: Das LICHTGEBET, ein lebensreformerischer Verkaufsschlager.

May (1904)

Fidus (1913)

Ob May auch seine klassischen Abenteuererzählungen von vornherein als »Gewand für geistig frohes Forschen« (May 1903: iii) konzipierte, wie er seinen Lesern später im Vorwort der ERZGEBIRGISCHEN DORFGESCHICHTEN weiszumachen sucht, sei dahingestellt. Tatsächlich aber werden jene moralischen Dilemmata, welche sich in Mays Frühwerk noch in dörflich-familiären Konflikten manifestierten, bereits in den berühmten Reiseerzählungen in christlich konnotierten23 Fantasien von der Veredelung des Menschen zugespitzt. Dabei entwerfen die Texte immer wieder Konstellationen, in denen der volkserzieherische Blick zurück auf die Alte Welt

23 Zu Mays biographischer wie literarischer Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben vgl. die Beiträge in Ehrhardt/Eißler (2012).

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eben jenen »Fluchtlandschaften« (Bach 1971) entspringt, die als charakteristisch für seine Abenteuergeschichten gelten können. Damit orientiert sich May gewissermaßen an einer Strategie, die bereits in der klassischen Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts angelegt ist. Schon Berthold Auerbach, dessen SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN, veröffentlicht zwischen 1842 und 1880, ebenfalls wiederholt von Erfahrungen des Auswanderns berichten, wies ja darauf hin, dass das Volk naturgemäß nicht darauf erpicht sei, in der Literatur »sich seine eigenen Zustände wieder vorgeführt zu sehen«; seine Neugierde sei vielmehr »nach Fremdem, Fernem gerichtet, wie sich das auch in anderen Bildungskreisen zeigt« (Auerbach 1846: 72):24 »Welch eine bevorzugte Rolle spielen wundersame Abenteuer und Fahrten, Könige und Grafen, Prinzessinnen und Schlösser in den Geschichten, die in dem Munde des Volkes leben.« (Ebd.: 73) May fügt dieser Reihe märchenhafter Topoi und Gestalten nun die Vertreter und Insignien einer Neuen Welt hinzu, die zeitgenössischen Lesern in den 1880er und 1890er Jahren kaum weniger phantastisch erschienen: Rothäute, Bleichgesichter, Westmänner, Henrystutzen, Silberbüchse – auch sie entsprechen dem »Zug nach Außergewöhnlichem« (ebd.), den Auerbach erkennt. Zu einer regelrechten Programmatik entwickelt sich Mays »Forschen« in religionsphilosophischen Altersromanen wie IM REICHE DES SILBERNEN LÖWEN (Band 3 und 4),25 wo der Autor im Rahmen eines allegorischen Schreibens »menschheitliche« Fragen verhandelt. Waren die Helden in den klassischen Abenteuergeschichten noch schablonenartig angelegt, fungieren die Figuren nun als Verkörperungen abstrakter Ideen. »Ich trete erst jetzt an meine eigentliche Aufgabe«, erklärte er am 10. September 1900 in einem Brief an seinen Verleger Ernst Fehsenfeld. Da war es dann nur folgerichtig, dass May den Publikumserfolg, den ihm die Erzählungen um Winnetou und Old Shatterhand beschert hatten, im Vorwort zur Buchausgabe der ERZGEBIRGISCHEN DORFGESCHICHTEN rückblickend zum notwendigen Opfer stilisierte: »Wer das ihm Nahe nicht verstehen will, den muss man klüglich in die Ferne leiten, wenn auch auf die Gefahr, dabei verkannt zu werden!« (May 1903: iii)

24 Schon Hein hat in seiner grundlegenden Untersuchung von Mays Dorfgeschichten auf die Parallelen zu Auerbachs Thesen in SCHRIFT UND VOLK verwiesen (Hein 1976a: 55). 25 Gerade dieser Roman, »das ästhetisch bedeutsamste« (Lowsky 1987: 106) Werk Mays, kann als Beleg für den Anschluss des Autors an die Diskurse der Moderne gelten.

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L ITERATUR Avenarius, Ferdinand (1902): »Karl May als Erzieher«, in: Der Kunstwart 15 (1901/02), S. 585-586. — (1910): »Der Fall May und die Ausdruckskultur«, in: Der Kunstwart 23 (1910), S. 183-185. — (1912): »Zu Karl Mays Tode«, in: Der Kunstwart 25 (1912), S. 193-194. Auerbach, Berthold (1846): Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebel’s, Leipzig: Brockhaus. Bach, Wolf-Dieter (1971): »Fluchtlandschaften«, in: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft 1971, S. 39-73. Bartsch, Ekkehard (1970): »Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation«, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1970, S. 47-80. Belgum, Kit (2009): »›Wie ein Mensch sich selbst bilden kann.‹ Zur Funktion von Amerika in Auerbachs Landhaus am Rhein«, in: Ute Gerhard/Walter Grünzweig/Christof Hamann (Hg.), Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung, Bielefeld: transcript, S. 59-82. Berman, Nina (1997): Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart: M & P. — (2002): »The Appeal of Karl May in the Wilhelmine Empire: Emigration, Modernization, and the Need for Heroes«, in: Todd Kontje (Hg.), A Companion to German Realism 1848-1900, Rochester, NY: Camden House. Carstensen, Thorsten (2016): »Auffrischungen für Leib und Seele. Der lebensreformerische Diskurs im ›Kunstwart‹«, in: Ders./Marcel Schmid (Hg.), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld: transcript, S. 119-136. Depkat, Volker (2010): »Abenteuerräume. Die Verschränkung von Amerika- und Orientbildern im Werk Karl Mays«, in: Pyta (Hg.), Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen, S. 109-130. Eggebrecht, Harald (Hg.) (1987): Karl May der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. — (1987a): »Abenteuer-Konzeptionen«, in: Ders. (Hg.), Karl May der sächsische Phantast, S. 223-233. — (1987b): »Rückblick auf Karl May. Hans Wollschläger im Gespräch mit Harald Eggebrecht«, in: Ders. (Hg.), Karl May der sächsische Phantast, S. 131-152. Ehrhardt, Heiko/Eißler, Friedmann (Hg.) (2012): »Winnetou ist ein Christ«. Karl May und die Religion, Berlin: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Eicke, Otto (1919): »Ein Verkünder der neuen Zeit«, in: Natur und Gesellschaft, 5. Februar 1919.

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V ON DER LIEBEN H EIMAT

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Zwischen Postkarten-Idyll und Kriegsschauplatz Fontanes deutsch-amerikanisches Dorf-Panorama Quitt im Kontext seiner Zeit K LARA S CHUBENZ

W ALD UND K ONFLIKT Was den einen das Urlaubsparadies, ist den anderen die verhasste heimatliche Enge. Diese Beobachtung war im 19. Jahrhundert noch keine Binsenweisheit, wie Theodor Fontanes wenig bekannter, aber kulturgeschichtlich hochinteressanter Wildererund Auswandererroman QUITT (1890) zeigt, um dessen vielschichtige Polyperspektivität es im Folgenden gehen soll. Seine Handlung spielt in den 1870er Jahren und ist auf zwei Schauplätze aufgeteilt: Während der erste Teil das Leben im schlesischen Dorf Krummhübel zeichnet, verfolgt der zweite Teil den Weg eines Dorfbewohners in eine nordamerikanische Mennoniten-Kolonie.1 Thematisiert wird der

1

Schlesien war eine Provinz Preußens; als Teil Preußens gehörte es bis 1866 zum Deutschen Bund und ab 1871 zum Deutschen Reich. Zwischen 1871 und 1881 verlieren Ostund Westpreußen 96.820 Personen durch Auswanderung, meist in die USA, entsprechend 0,263 % der Bevölkerung jährlich. Die Auswanderung erfolgte aus politischen, religiösen und ökonomischen Gründen. In den 1850er Jahren ließen sich die ersten Ausreisen kleiner Gruppen von oberschlesischen Bauern nach Amerika beobachten. Amerika weckte Hoffnungen nach gesellschaftlichem Aufstieg und persönlicher wie religiöser Freiheit. Die Mitglieder der niederländisch-norddeutschen Täuferbewegung flüchteten vor Verfolgung zuerst in die Region um Danzig, wo sie die Niederungen des Weichsel-NogatDeltas kultivierten und Deiche bauten. Im 19. Jahrhundert stellten die Mennoniten eine von Deutschlands größten religiösen Minderheiten dar. Aufgrund der Einführung des

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Ausschluss des Wilddiebs Lehnert Menz aus der heimatlichen Gemeinschaft und seine Auswanderung, mit welcher der heimatliche ›Krieg um den Wald‹, wie der Konflikt um die gerechte Verteilung der Forstressourcen von zeitgenössischen Schriftstellern wie Moritz Hartmann genannt wurde,2 um die globale Perspektive der amerikanischen Wälder erweitert wird. In literarischen Waldgeschichten finden sich ab den 1840er Jahren vermehrt Spuren der voranschreitenden Industrialisierung und der damit einhergehenden tiefgreifenden Umwälzungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. In Bezug auf das Landleben führten vor allem die Agrarreformen um 1800 zu einem Wandel der Eigentumsformen und zu daraus resultierenden Rechtskonflikten. So wurde die germanische Eigentumsform der Allmende, die einen gemeinsamen Nutzen des Waldes aller Dorfbewohner zur Deckung ihres alltäglichen Bedarfs erlaubte, sukzessive zugunsten des von der rationellen Landwirtschaft favorisierten Privatbesitzes abgelöst.3 Dies wiederum hatte einen enormen Anstieg von Forstfreveln innerhalb der ärmeren Landbevölkerung sowie immer schärfere Forstgesetze zur Folge (vgl. Grewe 2004). In Annette von Droste-Hülshoffs JUDENBUCHE (1842) zeigt sich diese juristische Problematik ebenso wie in Karl Marx’ DEBATTEN ÜBER DAS HOLZDIEBSTAHLSGESETZ (1842) und in Otto Ludwigs Wald-Verwaltungs-Drama DER ERBFÖRSTER (1850). Nicht zuletzt war auch das adlige Jagdprivileg Teil dieses Konflikts, das zwar 1848/49 de jure abgeschafft wurde, de facto aber weiterhin bestehen blieb. Fontanes Text thematisiert diesen ländlichen Konflikt. Er interessiert sich jedoch weniger für die soziale Frage als vielmehr für verschiedene kulturelle Imaginationen vom Landleben; für Bewegungsweisen vom Land weg oder auf das Land zu; und für Medienformate, die mit diesen Imaginationen und Bewegungsweisen einher gehen.4 Die kunstvoll-ironische Polyperspektivität5 findet sich dabei nicht nur in dem Blick aus und auf Deutschland/Preußen, sondern auch in dem Auftritt verschiedenster Akteure, die durch das Dorf miteinander verbunden werden: Da ist

Militärdienstes, der mit ihrer pazifistischen Grundauffassung kollidierte, wanderten viele Mennoniten im letzten Drittel des Jahrhunderts dann nach Amerika aus. 2

Vgl. Moritz Hartmann: Der Krieg um den Wald. Eine Historie. Frankfurt am Main 1850.

3

Zu nennen ist hier Albrecht Daniel Thaers Schrift GRUNDSÄTZE DER RATIONELLEN LANDWIRTHSCHAFT von 1809. Zu den Agrarreformen und Allmendeteilungen vgl. Brakensiek (2004) und (2005).

4

Zu Fontanes Medienexpertise vgl. den Sammelband »Realien des Realismus« und darin insbesondere den Aufsatz von Joseph Vogl (Vogl 2010).

5

Auch Christian Garwe betont das polyperspektische Erzählen und die Perspektivenbrechungen, er verknüpft diese aber nicht mit dem Konflikt um das Jagdrecht, vgl. Garwe (1991).

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einerseits die dörfliche Unterschicht mit dem Protagonisten Lehnert Menz, der wie die anderen ›kleinen Leute‹ Wilderer und Schmuggler ist – und andererseits die im Gasthaus Schnitzelessenden und Skatspielenden Dorf-Honoratioren (Forstaspiranten und Grenzaufseher, Lehrer und Richter); da sind einerseits die gutsituierten Touristen aus Berlin, die ihre Sommerfrische wandernd im Riesengebirge verbringen und fröhlich Ansichtskarten verschicken – und andererseits deutsche Emigranten, die aufgrund von Armut und Verfolgung nach Amerika auswandern und dort mit ihren preußischen Tugenden von »Ordnung und Arbeit« das Land bestellen. Doch damit nicht genug: im amerikanischen Dorf »Nogat-Ehre« finden sich einerseits die vermeintlich pazifistischen, aber fleißig missionierenden Mennoniten – und andererseits die aus ihrem Territorium verdrängten Indianer, die aber, sofern sie ihrem ›barbarischen‹ Glauben abzuschwören bereit sind, zum Weihnachtsfest mit Tannenbaum bei den Deutschen eingeladen werden.

M IGRATION Zunächst zum Gang der Erzählung: In Krummhübel stehen sich der junge »Trotzkopf« Lehnert Menz, Sohn aus einer verarmten Handwerkerfamilie und talentierter Schütze, und der dienstbeflissene Revierförster Opitz als einander verhasste Antagonisten gegenüber (Fontane 1964: 218). Lehnert ist wegen seiner Wilderei im gräflichen Forst vorbestraft, im Falle einer Wiederholungstat droht ihm eine zweite Gefängnisstrafe. Einer der »kleine[n] Leute«, Gebirgsführer und Träger, Schmuggler und Wilderer wie Lenz, spricht für alle, als er sagt: »Opitz ist ein Narr und ein Quälgeist, und ich wollte bloß, er tränke seinen Seidel und hätte seinen Schlag weg. Dann wären wir ihn los, und das arme Volk wär’ ihn los, das in den Wald geht, und könnte sich ruhig sein bißchen Holz raffen.« (Ebd.: 226, 229) Opitz erscheint als Karikatur des unsympathischen preußischen Verwaltungsbeamten, der bei jeder Kleinigkeit sofort Stift und Zettel zückt, um seine Mitbürger zu denunzieren. »Immer aufpassen und nie vergessen, daß man Vorgesetzte hat, und daß man dem Staat dient«, lautet seine penetrante Devise (ebd.: 232); die Dorfbewohner höhnen: »nach oben hin kriecht er und nach unten hin tritt er« (ebd.: 228). Der Förster beharrt auf gesellschaftliche Hierarchien und verteidigt die strengen Forstgesetze. Er wisse selbst, dass von einem geschossenen Rehbock die Welt nicht untergehe, aber: »Orderparieren geht unter, Oderparieren, ohne das die Welt nicht gut sein kann. Und heut am wenigstens, wo jeder denkt, er sei Graf oder Herr und könne tun, was ihm beliebt und sei kein Unterschied mehr.« (Ebd.: 238) Es ist diese beständige obrigkeitliche Kontrolle, die noch durch den Umstand, dass die Grundstücke der beiden Feinde unmittelbar aneinandergrenzen, verstärkt wird, die Lehnert ein Gefühl der klaustrophobischen Enge verursacht: »Es ist mir alles so klein und

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eng hier, ein Polizeistaat, ein Land mit ein paar Herren und Grafen, so wie unserer da, und sonst mit lauter Knechten und Bedienten. [...] Ich mag nicht, daß, wenn ein Schuß fällt, gleich sieben Förster da sind, die’s mit ihren vierzehn Ohren hören und sich die Köpfe zerbrechen, wer da mal wieder den Staat betrügt und ein schwer Verbrechen auf seine Seele lädt.« (Ebd.: 261) In einem Auswanderer-Buch mit dem Titel »Die Neue Welt oder Wo liegt das Glück?« liest er daher tagträumend »von Urwald und Prärie, von großen Seen und Einsamkeit« (ebd.: 246) und ersehnt sich einen von Gesetzen noch unberührten amerikanischen Wald, »wo’s anders aussieht und wo, wenn ich mein Gewehr abschieße, niemand es hört« und – vor allem – wo jeder jagen darf (ebd.: 261). Tatsächlich wurde die deutsche Migration ab der Jahrhundertmitte zu einer Massenbewegung: Von einem regelrechten »Menschenstrom nach Amerika sonst und jetzt« ist 1870 in der Familienzeitschrift DAHEIM die Rede (Winter 1870). Allein zwischen 1819 und 1871 migrierten ca. 2,4 Mio. Menschen nach Nordamerika, meist aufgrund von Überbevölkerung, materieller Not und dem Wunsch nach Freizügigkeit; sie bildeten insbesondere in der Zeit zwischen 1840 und 1880 die größte Einwanderergruppe. Auswanderer-Bücher und -Zeitungen mit hilfreichen Reise-Anleitungen und Erfahrungsberichten für ›Europamüde‹ erlebten in der Jahrhundertmitte einen regelrechten Konjunkturboom. »Der rechtliche, kluge und tätige Mann lebt nirgends so gut, so frei, so glücklich als in Amerika, der ärmste besser als der in Europa zwei Stufen höher Stehende« (Eggerling 1839: 103) wird in ihnen geworben, und dass »Tausende von Unglücklichen, Verfolgten und Heruntergekommenen« dort »wieder zu Wohlstand, zur Ruhe und zu wahrer Zufriedenheit gelangen« (ebd.: 10; vgl. Brunner 2009: 83).6 Für diejenigen, für die »in der Heimat kein Platz« ist, werden so die überseeischen Wälder Amerikas zum Zufluchtsort.7

6

Zu den bekanntesten Publikationen des 19. Jahrhunderts zählt Gottfried Dudens BERICHT ÜBER EINE

REISE NACH DEN WESTLICHEN STAATEN NORDAMERIKA’S UND EINEN MEHR-

JÄHRIGEN

AUFENTHALT AM MISSOURI (IN DEN JAHREN 1824, 25, 26 UND 1827), IN

BEZUG AUF AUSWANDERUNG UND UEBERBEVÖLKERUNG (1829); vgl. auch die ALLGEMEINE

AUSWANDERER-ZEITUNG – EIN BOTE ZWISCHEN DER ALTEN UND NEUEN WELT

(1846/57-1871) und die DEUTSCHE AUSWANDERER-ZEITUNG (1852-75). Zur Situation der deutschen Auswanderer in den USA vgl. Hagen (1970: 270-293). 7

Dass in dem engen und von der »hohen königlichen Forstverwaltung löblich kultivierten« deutschen »Winzelwald« kein Platz mehr für verarmte Familien sei und diese deshalb zur Auswanderung nach Amerika gezwungen werden, liest man beispielsweise auch in Wilhelm Raabes Roman DIE LEUTE AUS DEM WALDE aus dem Jahr 1863 (Raabe 1962: 86). Hier geht es nicht wie bei Fontane um einen jungen Wilderer, sondern im Gegenteil um einen armen, verwahrlosten Förstersohn mit dem sprechenden Namen Robert Wolf, dessen Vater »nicht sehr beliebt bei den Menschen in der Gegend [war], weil er so wild

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So richtig ernst ist es Lehnert Menz aber mit dem Auswandern wegen seiner großen Heimatliebe nicht, bis der Konflikt mit Opitz eskaliert – und zwar wegen einer Lappalie. Opitz’ Jagdhund beißt Lehnerts Lieblingshahn tot, woraufhin Lehnert trotzig einen Hasen auf seinem Feld schießt und diesen dem Förster – der als Nachbar natürlich sofort zur Stelle ist – nicht aushändigen will. Der große, am Jagdrecht ablesbare Klassenkonflikt des 19. Jahrhunderts schnurrt hier auf die Banalität eines Nachbarschaftszanks zusammen, der darüber hinaus auch noch von den zahlreichen in der Gemeinde logierenden Sommerfrischlern und Wandergruppen aus der Großstadt interessiert-amüsiert beobachtet wird. Trotz der Nichtigkeit des Kleinviehs, das den Stein des Anstoßes bildet, erschießt nun Lehnert den Förster nachts im Gebirgswald. Und weil der Schuss zwar durchaus im nahen Wirtshaus gehört wurde, fälschlicherweise aber für den einer wandernden und krakeelenden Gymnasiasten-Schaar gehalten wurde, stirbt der angeschossene Opitz einen langsamen und qualvollen Tod. Als man endlich doch losgeht, um nach ihm zu suchen,8 wird seine Leiche – so klein ist der Wald, so gut kennt man sich aus auf seinen Wanderwegen – sofort gefunden und direkt daneben auch die Kugel, die auf Lehnert als Täter hinweist, weshalb nun Lehnert tatsächlich nach Amerika flieht (Fontane 1964: 298). Nach einigen Umwegen landet Lehnert schließlich in einer deutschen Mennoniten-Kolonie im »Indian-Territory« in Oklahoma, die von Obadja Hornbostel geleitet wird und in Gedenken an die verlassene Heimat an der Nogat- und Weichselniederung »Nogat-Ehre« heißt (ebd.: 325). Dort waren die verfolgten Täufer zunächst als Land-Kultivierer geduldet, nach Einführung des Militärdienstes wanderten aber viele aus. Eine solche gruppenweise Ansiedlung Deutscher, »bound together by a common idea, [and] the desire to found a religious or social Utopia«, ist historisch belegt (Cunz 1952: 32). Der »friedliche Verkehr« der dort versammelten »bunte[n] Menschenmasse« – einer »happy familiy« bestehend aus Katholiken, Lutheranern und Atheisten, Missionaren und Indianern, sowie aus Royalisten und Kommunisten – und der pazifistische Leitspruch der Taufgesinnten – »Absage dem Krieg« – erscheinen als das utopische Gegenbild zum deutschen ›Krieg um den Wald‹ (Fontane 1964: 346f., 377). Hornbostels missionarisch-kultivatorisches Programm ist allerdings selbst keineswegs frei von Aggressionen: »Der aber macht sich am nützlichsten, der arbeitet und vordringt und aufschließt und den Wald und das Heidentum ausrodet und den Glauben an Jesum Christum, unseren Erlöser, an seine

und hart gegen die Wilddiebe und die Holzfrevler war« (ebd.: 15). Vgl. zum umweltgeschichtlichen Kontext Schmidt (2015). 8

Allerdings schön unauffällig, damit die Urlaubsgäste »keinen Schreck kriegen und nicht etwa denken, unser altes Krummhübel sei über Nacht eine Mördergrube geworden« (Fontane 1964: 298).

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Stelle setzt.« (Ebd.: 338) Das Leben im damals westlichsten Siedlungsgebiet der USA steht also im Zeichen einer Expansionsbewegung der »vorschreitende[n] Kultur«9 – und verweist damit indirekt auf einen anderen zeitgenössischen Waldkonflikt. Die deutschen Auswanderer, für die in ihrer Heimat kein Platz mehr war, verdrängten in Amerika wiederum die Ureinwohner Amerikas. Zugespitzt ließe sich daher sagen: Das schlechte Leben auf dem Land in Deutschland führt zum Traum vom guten Leben auf dem Land in Amerika, das wiederum für andere ein schlechtes Leben auf dem Land wird usw. In diese »happy family« der umtriebigen Mennoniten-Gemeinschaft möchte der inzwischen bekehrte und seine Mordtat bereuende Lehnert jedenfalls gerne einheiraten, doch wie es das Schicksal so will, stirbt er kurz vor seiner Hochzeit mit Hornbostels Tochter Ruth einen ganz ähnlichen Tod wie Opitz. Bei einer Rettungsaktion für einen Freund im Gebirge stürzt Lehnert; und weil niemand seinen Gewehrschuss in den landschaftlichen Weiten hört, verendet er – wie damals Opitz – allein und qualvoll unter einem Gebüsch. Und wie der Förster hinterlässt auch Lehnert noch einen unter Todesqualen verfassten Abschiedsbrief (hier sogar noch dramatischer mit seinem eigenen Blut und gefundenen Holzstäbchen geschrieben), in dem seine Freunde später folgende fromme Worte lesen: »Vater unser, der du bist im Himmel... Und vergib uns unsere Schuld... [...] Ich hoffe: quitt.« (Fontane 1964: 447, Hervorhebung im Original) Suggeriert wird dadurch eine die ursprüngliche Schuld Lehnerts ausgleichende Retribution.

B ILDER UND P ERSPEKTIVEN Fontanes Text ist jedoch vielschichtiger und ironisch gebrochener als er aufgrund dieses Resümees erscheinen mag. Was nämlich Kritiker stets als Schwäche des Romans moniert haben: dass Fontane Amerika ›unbesehen‹, also nicht aus erster Hand, schilderte und hierbei auf Muster aus der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur zurückgriff – u.a. des Reisenden und Schriftstellers Balduin Möllhausen, dessen Porträt »als Trapper« 1862 prominent in der GARTENLAUBE erschien –, das

9

So heißt es wieder in Raabes DIE LEUTE AUS DEM WALDE: »Immer weiter mit Büchse und Axt, mit Karren und Wagen, mit Weib und Kind, zu Pferd und zu Fuß, immer weiter gen Westen – westward ho! Wo die Axt klingt, wo die Büchse knallt, ist nicht mehr der wilde Westen; die vorschreitende Kultur hat nur ihre Grenzen ein wenig hinausgerückt, und der wilde Westen ist ein wenig weiter vor ihr zurückgewichen.« (Raabe 1962: 123)

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vertuscht der Text selbst nicht, im Gegenteil, er stellt seine vielgestaltigen Rezeptionsphänomene geradezu aus.10 Abb. 1: Balduin Möllhausen und James Fenimore Cooper.

Balduin Möllhausen als Trapper, in: Die Gartenlaube. Illustrirte Familienzeitung (1862), S. 453; Rudolf Cronau: Auf Lederstrumpfs Spuren, in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt (1897), S. 797.

So beginnt der zweite, in Amerika spielende Teil des Romans direkt mit einer Replik auf die in Deutschland viel gelesenen Schriftsteller James Fenimore Cooper und Bret Harte: Lehnert Menz betritt nach sechs Jahren wieder die Bühne und ähnelt inzwischen »halb einem Cooperschen Trapper und halb einem Bret Harteschen Kalifornier« (Fontane 1964: 321). Nach dem edlen, letzten Mohikaner Uncas aus Coopers gleichnamigem Roman ist auch der Hornbostelsche Familienhund benannt; und die Erzählungen Hartes werden bei gemeinschaftlichen Leseabenden in der Kolonie gelesen und kritisch auf ihren Realismus hin diskutiert.11 Auch das

10 Fontanes Kollegen Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker und Balduin Möllhausen reisten selbst in die USA. Vgl. dazu Sammons (2009) und Graf (1991). Eine interessante Korrelation von Auswanderungsbewegung und fiktionaler Literatur arbeitet Juliane Mikoletzky heraus (1988: 44, 52) und schildert im Übrigen akribisch den Literaturmarkt; auch sie weist auf die Rezeptionsphänomene im QUITT hin (ebd.: 190). 11 Explizit genannt werden die Erzählungen THE LUCK OF ROARING CAMP und OUTCASTS OF POKERS FLAT

des amerikanischen Schriftstellers Bret Harte, der nach seinen anfängli-

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Lieblingsbuch Hornbostels wird an diesen Abenden besprochen, nämlich Pestalozzis utopisch-erzieherische Geschichte GERTRUD UND LIENHART. EIN BUCH FÜR DAS VOLK aus dem Jahr 1787 (vgl. ebd.: 385f.). Das Leben in Amerika erscheint so durch die Linse von zeitgenössischen Erzählmustern gesehen: Abenteuerliche Wildwestromantik wird hier gepaart mit dokumentarischem Auswandererbericht und erbaulicher Erweckungsliteratur, die allesamt mit ironischen Untertönen versehen werden.12 Aber auch die Darstellung der deutschen Heimat erscheint von unterschiedlichen Erzählmustern geprägt und von unterschiedlichen Standpunkten aus besehen. Zunächst gehört es zur perspektivischen Anlage des Romans, dass es einen geographischen Standpunkt-Wechsel genau in der Mitte des Textes gibt: Ab jetzt wird von außen, aus der Fremde auf die Heimat geblickt. Fernweh verwandelt sich in Heimweh; wie u.a. eine absurde Weihnachtsbaum-Episode zeigt (es ist die Rede von einem »preußisch-hyperboreischen Tannenbaumkultus«), halten die Einwanderer an ihren alten Bräuchen und Backwaren fest und erschaffen eine »preußische Kolonie« (ebd.: 411, 341).13 Und mehr noch: Auch der zentrale Konflikt zwischen Wilderer und Förster wird aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, wie die Fokalisierung auf den Kreis um Rechnungsrat Espe deutlich macht, der sich sowohl zum Zeitpunkt von Opitz’ Mord als auch von Lehnerts Todesnachricht aus Erholungsgründen mit seiner Familie in der Gemeinde Krummhübel aufhält (wie übrigens auch Fontane selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erzählung). Espe, »ein korrekter Mann und sehr ängstlich dazu«, wünscht sich den flüchtigen Menz schnellstmöglich gefasst (ebd.: 314). Gemäß der Fontane’schen Dialog-Kunst (vgl. Mecklenburg 1998) kommt jedoch gleich darauf der Freund von Espes Frau, ein gewisser Dr. Sophus Unverdorben zu Wort, um eine andere Meinung kundzutun. Der wiederum hält nichts von einer Gefängnisstrafe »bloß um fiat justitia willen« und prophezeit Leh-

chen großen Erfolgen 1878 einige Jahre als Amerikanischer Konsul im deutschen Krefeld lebte. 12 Eines der vielen Zeichen dieser Ironie ist der Vergleich der harmonischen MennonitenKolonie mit einem »nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten [...], drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze samt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammengewohnt hatten«, wodurch nicht nur die Bezeichnung »A happy family« die Konnotation eines kuriosen Menschenzoos erhält, sondern auch der Krummhübelsche Konflikt um Hund, Hahn und Hase witzig konterkariert wird (347). 13 Die Passage verliert auch dann nichts von ihrer Komik, wenn man ihren Wirklichkeitsgehalt bedenkt: denn wie die Turnvereine und Sängerbünde, gehört auch der deutsche Tannenbaum-Brauch in Amerika in der Tat zum Erbe der deutschen Immigranten.

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nert, wenn dieser hoffentlich »den Händen der Gerechtigkeit« entschlüpfen sollte, eine Karriere als »Mohrenkönig«, »chinesischer Admiral« oder »Robinson« (ebd.: 320). Und überhaupt, so Unverdorben weiter: was heiße in diesem Falle schon Gerechtigkeit? »Was war hier Gerechtigkeit? Dieser Opitz, der für seiner Sünden Schuld hat zahlen müssen... [...] Und wer will sagen, wie’s stand und wie sich Schuld und Unschuld in diesem Falle verteilt haben?« (Ebd.) In Form solcher Dialoge thematisiert der Roman explizit die Frage des jeweiligen ›point of view‹. Nach Lehnerts Tod schreibt Hornbostel einen Brief 14 aus den USA an den Gemeindevorstand in Krummhübel, um über das Hinscheiden des einstigen Ortsangehörigen zu informieren und lässt auch Lehnerts letzte Worte darin nicht unerwähnt. Hornbostel schließt seinen Brief in der Überzeugung, dass Lehnerts Buße »seine Schuld gesühnt« habe (ebd.: 447). Dieses Schriftstück wird zu den Dorf-Akten gelegt, doch »[w]er irgend konnte, nahm Abschrift von dem Brief.« (Ebd.: 448) Als wenig später wieder einmal Familie Espe im Gasthaus erscheint, wird ihnen denn auch brühwarm vom Serviermädchen die ganze traurige Geschichte kolportiert: »Es ist alles sehr rührend, und alle sind wieder für ihn [also Lehnert] und gegen Opitz, und die alte Frau Böhmer hat sogar geweint.« (Ebd.: 451) Auch Espes Töchter geraten vor allem angesichts der verhinderten Heirat zwischen Lehnert und Ruth ins Schwärmen. Die eine seufzt über den hübschen Namen ›Ruth‹, was die andere Schwester fachkundig kommentiert: »Ja. Und wie geschaffen für eine Liebesgeschichte. Hättest du ihn nicht nehmen mögen, Selma?« – »Gewiß hätt’ ich. Und noch dazu drüben in Amerika, wo man nicht das Aussuchen hat. Aber wenn auch, wer sich für einen Freund opfert, opfert sich auch für eine Braut. Und darauf kommt es an. Er muß ganz ungemein schneidig gewesen sein.« (Ebd.)

P OSTKARTENIDYLLE Was geschieht hier erzähltheoretisch? Lehnerts mit Blut geschriebener Abschiedsbrief wird also von Hornbostel in dessen Brief zitiert, der wiederum von den Dorfbewohnern abgeschrieben wird und nun den jungen Leserinnen aus Berlin zu Ohren kommt, die hierin das gängige Muster einer ›lovestory‹ mit »schneidigem« Helden erkennen. Zum einen scheint sich Fontane hier somit einen Witz über die Muster der Unterhaltungsliteratur zu erlauben. Zum anderen werden im Text wiederholt Rezeptionssituationen vorgeführt, in denen das Gelesene und Gehörte diskutiert wird.

14 Zum Kontext der Auswanderer-Briefe vgl. die Quellensammlungen von Helbich/ Kamphoefner/Sommer (1988) und Paul (2009).

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Während alldem nimmt Frau Rechnungsrätin Espe nicht besonders großen Anteil am Schicksal Lehnerts, sondern schickt sich lieber mit ihren wechselnden Urlaubsbekanntschaften idyllische »Hotelpostkarte[n] mit aufgedruckter Landschaft« – zum Beispiel »Tannen inmitten von Burgtrümmern« (ebd.: 315). Genau ab den 1870er Jahren beginnt der Siegeszug der Ansichtskarte in der deutschen Reichspost, einem neuen, billigen, und Text und Bild kombinierenden Kommunikationsmedium, bei dem das Riesengebirge mit seiner Schneekoppe ganz vorne mit dabei war. 15 Abb. 2: Postkarten vom Riesengebirge aus den Jahren 1894 (l.) und 1900 (r., u.).

ANSICHTSKARTEN-LEXIKON; https://ansichtskarten-lexikon.de

15 Das Riesengebirge mit seiner Schneekoppe ist bereits sehr früh (ab 1. Juni 1872) postalisch in Erscheinung getreten; vgl. zur Geschichte der Post- bzw. Correspondenzkarte Leclerc (1986), Hille (1989), Willoughby (1993), Linke (1997) und Piatti (2003).

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Die romantische Gebirgs- und Wald-Landschaft erstarrt im Text damit zur Kulisse. Der ländliche Konflikt von Förster und Wilddieb wird seines revolutionären Sprengstoffes entledigt und Teil einer bekannten Szenerie, in der ein bisschen »Kommunismus« nicht mehr gefährlich erscheint. 16 Abb. 3: Louis Kramp DIE WILDDIEBE (ca. 1830).

Lithografien DIE WILDDIEBE, Serienbilder 1 und 2, Wikimedia Commons

Situiert in der Nähe zum Postkartenidyll, das durch neue Drucktechniken stereotype, leicht reproduzierbare und konsumierbare Bildausschnitte schafft – wie in den populären Lithographien Louis Kramps 17 – wird Lehnerts abschließende Apotheose

16 Kriminalkommissar Otto Busdorf berichtet 1928 verärgert, dass sich diese Meinung im Volk noch immer finde: »Das Wild hat Gott nicht nur für die reichen Leute, sondern für jedermann geschaffen, deshalb ist wildern keine Straftat!« (Busdorf 2003: 5) Er nennt solche Überzeugungen dabei aus »praktischem Kommunismus« geboren, die v.a. unter Gebirgsvölkern vorkommen (ebd.). 17 Bereits 1830 fertigte der deutsch-französische Lithograph Louis Kramp eine Bilderserie mit dem Titel DIE WILDDIEBE an. Sein 1832 gegründetes Unternehmen Kramp & Comp. gilt als eines der ersten Unternehmen überhaupt, welches lithografische Erzeugnisse kommerziell erfolgreich vermarktete. Aus Lithographien, Kupfer- und Stahlstichen wiederum, die mit Grüßen in Briefkuverts versandt wurden, entwickelte sich das Schreiben von Ansichtskarten.

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zum Romanhelden für die seufzenden Espe-Töchter zum leicht konsumierbaren Genuss und damit zu Kitsch.18 Gegen solch hartnäckige Romantisierung des Wildschütz-Motivs, die Fontane in seinem Text als Medienphänomen beobachtet, müssen noch ehrenwerte Archivare der deutschen Förstermorde wie der Kriminalkommissar Otto Busdorf im ersten Drittel des 20. Jahrhundert anschreiben, indem er entgegen der starken »Sympathien der Leserin« behauptet, dass Wilderei ein gravierendes Verbrechen der Habgier und »Grausamkeit« sei (Busdorf 2003: 5).

L ITERATUR Beylin, Pawel (1968): »Der Kitsch als ästhetische und außerästhetische Erscheinung«, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik Bd. 3), München: Fink, S. 393-406. Brakensiek, Stefan (2004): »Die Auflösung der Marken im 18. und 19. Jahrhundert: Probleme und Ergebnisse der Forschung«, in: Uwe Meiners/Werner Rösener (Hg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cloppenburg: Museumsdorf, S. 157-169. Ders. (2005): »Das Feld der Agrarreformen um 1800«, in: Eric J. Engstrom u.a. (Hg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Lang, S. 101-122. Brunner, Bernd (2009): Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung, München: Beck. Busdorf, Otto (2003): Wilddieberei und Förstermorde. Ungekürzte Originalfassung 1928-1931, Band I-III, Melsungen: Neumann-Neudamm. Cunz, Dieter (1952): »The German Americans: Immigrations and Integration«, in: Francis Brown (Hg.), One America. The History, Contributions and present Problems of our racial and national Minorities, New York: Prentice-Hall, S. 2943.

18 Denn solch ein Verfahren des Kopierens und des Hantierens mit totaler Erwartbarkeit hat einen einfach zu konsumierenden Lesegenuss zum Ziel und wird Kitsch genannt. »Indem der Kitsch mit dem Stereotypen operiert, entauthentisiert er die Kunst« und liefert zugleich eine erhebliche Komplexitätsreduktion (Beylin 1968: 398). Kitsch möchte hauptsächlich einen schon einmal hervorgerufenen Gefühlseffekt wiederholen; er kreiert mit Vorliebe eine lyrisierende Atmosphäre und verwendet Ausdrücke, die poetisches Prestige genießen oder die nachweislich Gefühlsregungen zu wecken vermögen. Dafür benutzt er eine Technik der Wiederholung, Überladung und Redundanz (vgl. Eco 1994: 61f.).

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Eco, Umberto (1994): »Die Struktur des schlechten Geschmacks«, in: Ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 59-116. Eggerling, H.W.E. (1839): Kurze Beschreibung der Vereinigten Staaten von NordAmerika, Mannheim: Tobias Loeffler. Fontane, Theodor (1964): »Quitt«, in: Ders., Sämtliche Werke. Romane, Erzählungen, Gedichte. Bd. 1. Hg. von Walter Keitel, München: Carl Hanser, S. 213452. Garwe, Christian (1991): »Quitt«, in: Ders. (Hg.), Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart: Reclam, S. 157-184. Graf, Andreas (1991): »Fontane, Möllhausen und Friedrich Karl in Dreilinden«, in: Fontane-Blätter 51, S. 156-175. Grewe, Bernd-Stefan (2004): Der versperrte Wald. Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz (1814-1870), Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Hagen, Victor W. von (1970): Der Ruf der Neuen Welt: Deutsche bauen Amerika, München: Droemer Knaur. Helbich, Wolfgang/Kamphoefner, Walter D./Sommer, Ulrike (1988) (Hg.): Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830-1930, München: C.H. Beck. Hille, Horst (1989): Sammelobjekt Ansichtskarte, Berlin: Transpress, Verlag für Verkehrswesen. Jeffrey L. Sammons (2009): »Die Darstellung Amerikas unbesehen: vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane«, in: Christof Hamann/Ute Gerhard/Walter Grünzweig (Hg.), Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung, Bielefeld: transcript, S. 153-170. Leclerc, Herbert (1986): »Ansichten über Ansichtskarten«, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 2, S. 5-65. Linke, Arnold (1997): »Ansichten und Karten gleich Ansichtskarten«, in: Post- u. Telekommunikationsgeschichte 1, S. 60-70. Mecklenburg, Norbert (1998): Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mikoletzky, Juliane (1988): Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, Tübingen: Niemeyer. Paul, Roland (2009) (Hg.): »Hier hat man ein viel besseres Leben wie in Deutschland«. Briefe pfälzischer Auswanderer aus Nordamerika (1733-1899), Kaiserslautern: Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde. Piatti, Barbara (2003): »Als regne es hier nie...«. Ansichtskarten, Landschaften im Taschenformat = Cartes postales ou le monde en poche, Basel: Schwabe. Raabe, Wilhelm (1962): »Die Leute aus dem Walde. Ihre Sterne, Wege und Schicksale«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe Bd. 5. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Vogl, Joseph (2010): »Telephon nach Java: Fontane«, in: Stephan Braese/AnneKathrin Reulecke (Hg.): Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin: Vorwerk8, S. 117-128. Willoughby, Martin (1993): Die Geschichte der Postkarte. Ein illustrierter Bericht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart, Erlangen: Müller. Winter, Carl (1870): »Der Menschenstrom nach Amerika sonst und jetzt«, in: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen VI, S. 679-683.

Das gute Leben kommt noch Dorfgeschichte und Geschichtsdiskurs in der Literatur der frühen DDR: politisch-poetische Allianzen bei Jurij Brězan F ÜR M ARTINA K ASPER ( GEB . Z IESCH )

N ORMAN K ASPER »Geschichten zu wissen, erzählen zu können bedeutet noch lange nicht, jenen bestimmten Extrakt aus einer Geschichte zu ziehen vermögen, der sich dann als winziges Mosaiksteinchen der großen Geschichte, der Historie, erweist.« JURIJ BRĚZAN/GESCHICHTE UND GESCHICHTEN

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Dass so viele Bauern die Romane, Erzählungen, Dramen aber auch die Lyrik der SBZ/DDR der späten 1940er bis 1960er Jahre bevölkern, ist ohne politischen Subtext kaum verständlich. Bereits frühe historiografische Bemühungen führen die ›Bauerndichte‹ nicht auf gattungs- oder genregeschichtliche, sondern realgeschichtliche Entwicklungen zurück. »Die Veränderungen im Leben der Dorfbevölkerung, vor allem im Gefolge der Bodenreform,« so die zeitgenössische Erklärung von offizieller Seite, wurden durch die neue »sozialistische Nationalliteratur« »unmittelbar sichtbar und die neuen Lebensprozesse lagen vor den Menschen anschaulicher ausgebreitet als die in der Arbeiterklasse. Das mag mit dazu geführt haben, daß wir diese Thematik in breiterem Maße in unserer Literatur vorfinden.« (Geerdts 1968: 687) Sieht man einmal von Strittmatters TINKO (1954) und OLE BIENKOPP (1963) ab, so dürfte es allerdings kaum Texte geben, die die Zeit überlebt haben und auch

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heute noch gelesen werden. Neben gewandelten wertungsästhetischen Maßstäben, die zu einem Desinteresse an dieser Art von Literatur führten, geht es hier vor allem um Vorbehalte gegenüber einer Darstellung von Bodenreform und Kollektivierung, die mit Planung und Ablauf der tatsächlichen Ereignisse – wie sie die neuere Geschichtsforschung rekonstruiert (vgl. Schöne 2008 u. 2005) – nur wenig zu tun hat. Doch auch die Literaturgeschichte interessiert sich nicht besonders für die DDRDorfliteratur. Marcus Twellmann hat erst kürzlich anlässlich einer Vermessung von Otto Gotsches TIEFE FURCHEN (1949) im biografischen, kulturpolitischen, literarischen und zeitgeschichtlichen Kontext darauf hingewiesen, dass das primäre Interesse der Literaturgeschichtsschreibung an widerständigen Charakteren und Handlungsmustern einer zunächst west-, später dann auch gesamtdeutschen historiografischen Praxis zuarbeitete und noch heute zuarbeitet, die ›Autonomie‹ belohnt (vgl. Twellmann 2016: 304f.) – und vermutete oder nachgewiesene ›Heteronomie‹, so kann man hinzufügen, durch Vergessen sanktioniert. Die unterschiedlichen Gründe für ›heteronomes Verhalten‹ und die literarischen Strategien, die zur Durchsetzung der gesetzten Ziele dienen, können so nicht in den Blick rücken. Das wäre aber notwendig, um die Eigenheiten dieser Form von Literatur besser beschreiben zu können. Dabei müsste es freilich zunächst darum gehen, den Literaturbegriff der sozialistischen Moderne nicht unter den modernisierungstheoretischen Prämissen abzuhandeln, die für die Literatur der westlichen Moderne geltend gemacht werden. Interessant ist hier zunächst, dass es zu den Kennzeichen des frühen sozialistischen DDR-Dorfromans gehört – und auf diesen möchte ich mich im Folgenden konzentrieren –, dass er offizielle politische Direktiven, die der Veränderung auf dem Land gelten, nicht nur in das Gewand einer Anerkennung durch große Teile der Bevölkerung kleidet, sondern diese Bevölkerung gleichsam zum Urheber der neuen Politik stilisiert. Das scheinbar natürlich aus den Anforderungen an die Organisation des landwirtschaftlichen Lebens erwachsende Lob der Vergemeinschaftung arbeitet auf diesem Weg jenem Idealismus zu, der erst in einem zweiten Schritt als von offizieller Seite verordnete Maßgabe kanalisiert vorgestellt wird. In dieser Form gesellschaftspolitisch institutionalisiert werden kann dieser Idealismus aber in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nur, so die hier anzutreffende Argumentation, da dessen Anspruch auf Verbesserung der Lebensverhältnisse und damit auf ein gutes Leben auf dem Dorf als berechtigt und erfolgversprechend gelten muss. Anspruch ist jedoch nicht mit Realisierung gleichzusetzen, was zweierlei impliziert. Zum einen: Trotz aller Verheißungsrhetorik ist das Leben auf dem Dorf zum jetzigen Zeitpunkt, d.h. innerhalb der erzählten Gegenwart, keinesfalls als ›gut‹ zu bezeichnen – das gute Leben kommt noch. Daraus ergibt sich – zweitens – der eigentliche narrative Handlungsspielraum der Literatur. Sie muss das gute Leben anschaulich entwerfen, das, da es eben noch nicht Realität, auch alles andere als anschaulich ist.

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An dieser Stelle nun treten die poetologischen Aspekte des Dorfromans in den Blick. In seinem fiktional-entwerfenden Charakter ist es ihm aufgegeben, das gute Leben darzustellen und aus dem Geschichtsverlauf, d.h. aus dem, was der historische Materialismus dafür ausgibt, zu entwickeln. Dass die poetologischen den politischen Valenzen grundsätzlich unterstellt sind, bedeutet jedoch nicht, dass der Roman seinen eigenen geschichtsdiskursiven Status – und damit seine Möglichkeiten, Geschichte zu erzählen – zu verschweigen hat. Die häufig verbreitete Sichtweise, der zufolge metanarrative und metafiktionale Reflexionen (in ihrem latenten Konstruktivismus) die ›Wahrheit‹ der Geschichtserzählung einschränkten oder subvertierten, mag zwar hinsichtlich postmodernen Erzählens einige Berechtigung haben, hilft aber innerhalb des hier gesetzten, sozialistisch-realistisch konturierten literaturgeschichtlichen Problemhorizontes nicht weiter. Damit ist auch klar: Ein metanarratives Problembewusstsein, das Geschichte offen als Verhandlungsobjekt ausstellt, darf nicht vorschnell als Revolte gegen den Wahrheitsanspruch einer offiziellen Geschichtskultur gewertet werden. Der Blick soll im Folgenden auf einen Text fallen, der in zahlreichen älteren und neueren DDR-Literaturgeschichten zwar häufig erwähnt, jedoch kaum eingehender analysiert wird. Es handelt sich um den Roman MANNESJAHRE des deutschsorbischen Autors Jurij Brězan (1916-2006). Dieser erschien 1964 als letzter Teil der sog. Felix-Hanusch-Trilogie (DER GYMNASIAST, 1958; SEMESTER DER VERLORENEN ZEIT, 1960), in der der Autor die Entwicklung eines jungen Sorben vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Nationalsozialismus bis hin zur Ankunft im DDR-Sozialismus schildert. Im Anschluss an die in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussionen um die narrativen Implikationen von Geschichte und Geschichtsschreibung im Allgemeinen und das metahistoriografische Potential der Literatur im Besonderen, möchte der Beitrag am Beispiel von Brězans Roman für eine (Re-)Lektüre der DDR-Dorfgeschichten werben, die einerseits – im Gegensatz zu einer bloßen Rekapitulation des geschichtsideologischen Rahmens – sensibel bleibt für die literarische Verhandlungsebene historiografischer Möglichkeiten und Probleme, andererseits jedoch diese Verhandlungsebene nicht ›kritisch‹ überfordert.

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Zunächst ein paar Stichworte zu Jurij Brězan (vgl. zum Folgenden: Scholze 2016: 11-59). 1916 in dem kleinen Dorf Räckelwitz nahe Kamenz geboren, war er nach Besuch des Gymnasiums in Bautzen ab 1933 im sorbischen Widerstand aktiv und emigrierte 1937 nach Prag. Auf seine Rückkehr in die Heimat 1938 folgte bald die Verhaftung. Von 1942 bis 1944 dann war Brězan – zwangsweise – Soldat der Wehrmacht. Nach dem 2. Weltkrieg fungierte er bis 1948 als Jugendfunktionär der

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Domowina, dem Dachverband sorbischer Vereine und Vereinigungen, für den er bereits in den 1930er Jahren tätig war. 1946 trat Brězan schließlich in die SED ein, die ab 1948 die Domowina zur einzig anerkannten Interessenvertretung der sorbischen Bevölkerung machte und auf Linie brachte. Jegliche Bestrebungen nach politischer Autonomie und Selbstbestimmung der Sorben – nach Kriegsende durchaus im Gespräch – waren damit vom Tisch. Seit 1949 arbeitete Brězan als freischaffender Schriftsteller, wobei er tatkräftig beim Aufbau des Sozialismus mitwirkte. Im literarischen Feld der DDR verortet, gehörte er zweifelsohne zu jenen, die »im Zuge ihrer affirmativen Selbstbindung an das sozialistische Projekt […] freiwilligemphatisch die Rolle« übernahmen, »Volkserzieher und Sozialpädagogen mit den Mitteln der Literatur zu sein« (Emmerich 1996: 15). Bereits Brězans erste Veröffentlichung, die ihn einem größeren deutschen Publikum bekanntmachte, AUF DEM RAIN WÄCHST KORN. SORBISCHE ERZÄHLUNGEN UND GEDICHTE (1951) variiert Motive, die er in den Folgejahren in einer Vielzahl von Erzählungen und Romanen ausbuchstabieren wird: Die DDR als wahre Heimat und ›Vaterland‹ der Sorben. Bereits auf dem III. Deutschen Schriftstellerkongress (1952) lobte Volksbildungsminister Paul Wandel Brězans Dorferzählungen als ›realitätsnah‹ (vgl. Scholze 2016: 130). In einer von SINN UND FORM zum 10. Todestag von Johannes R. Becher (1968) in Auftrag gegebenen Umfrage unter DDR-Schriftstellern, als besonders gelungen zu bezeichnende und damit prägende Texte des SED-Dichter-Politikers zu würdigen, nennt Brězan das Gedicht HEIMAT, MEINE TRAUER. Er erläutert: »Ich lernte Bechers Gedicht erst kennen, nachdem ich WIE ICH MEIN VATERLAND FAND geschrieben hatte, Bechers Gedicht war die vorweggenommene Lösung dazu.« (Brězan 1968a: 1033) In WIE ICH MEIN VATERLAND FAND, das AUF DEM RAIN WÄCHST KORN eröffnet, schildert Brězan in prosanahen Rhythmen den Besuch einer sorbischen »Delegation« bei einem hohen politischen Würdenträger. Hinter dem im Gedicht aufgerufenen »Präsident[en]« verbirgt sich kein anderer als Wilhelm Pieck, der erste und einzige Präsident der DDR (1949-1960). Zeigt sich der »Staat« zunächst in Gestalt eines sympathischen Menschen, so lässt ihn sein ehrliches Interesse an den Problemen der Bauern wiederum als Repräsentant eines begrüßungswürdigen Staates erscheinen: »und da war der Mensch / wieder Staat, / oder, ich weiß nicht – / ich konnte auf einmal / den Menschen vom Staat / nicht mehr trennen /« (Brězan 1951: 16). In Bechers rührseligem Gedicht ist zwar nicht vom sozialistischen Deutschland als Vaterland die Rede, jedoch wird Deutschland als Heimat angesprochen, aus der das lyrische Ich zu fliehen gezwungen war. Für Brězan nun, der Nazi-Deutschland auch verlassen musste, wird erst das neue, sozialistische Deutschland zur Heimat – zum Vaterland. Folgt man Brězans Biografen Dietrich Scholze, so ist seine Akzeptanz der DDR tatsächlich nicht unmaßgeblich auf die persönliche Begegnung mit Pieck zurückzuführen (vgl. Scholze 2016: 104). Hinzukommen die negativen politischen Erfahrungen bis 1945/49. Noch in den

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späten 1960er Jahren, in VON ENGE UND WEITE (1969), stilisiert Brězan die »Gründung der Deutschen Demokratischen Republik zum Haupterlebnis meines bewussten Daseins« und zur Grundlage seiner schriftstellerischen Tätigkeit: »Das Grunderlebnis [Republikgründung, N.K.] wurde abgetastet und getestet auf seinen über die subjektive Emotion hinausreichenden objektiven Wahrheitsgehalt, und das Subjektive demonstrierte sich so als gesellschaftliche Wahrheit auch dann, wenn ein zufälliges Detail der Wirklichkeit nicht dieser Wahrheit entsprach. Inhalt und Sinn schriftstellerischer Arbeit mußte also natürlicherweise sein, mein Erlebnis, als gesellschaftliche Wahrheit erkannt, anderen, den Lesern, nacherlebbar zu machen als ihr eigenes Erlebnis, ihnen zu helfen, ebenfalls ihr Vaterland zu finden. Das einmal. Und zum zweiten schreibend beizutragen, daß sich die Wirklichkeit der Wahrheit immer mehr nähere, um als Idealfall mit ihr kongruent zu sein« (Brězan 1989: 161f.).

Dass Brězan seine Vaterlandssuche als SORBISCHE ERZÄHLUNGEN UND GEDICHTE untertitelt, ist mehr als nur ein Hinweis darauf, in welcher Sprache die Texte zunächst entstanden und welchem kulturellen Umfeld sie zuzuordnen sind. In der ethnischen Konkretisierung der Gattungen wird die politische Rhetorik des Autors in einen anonymen Kollektivzusammenhang gestellt: Die paratextuelle Rahmung stellt die den Aufbau des Sozialismus preisenden Erzählungen und Erzählgedichte in ein innerhalb der sorbischen Kultur vermitteltes Überlieferungsgeschehen. Der vom Titel her an die orale Tradition der Märchen, Sagen und älteren Dorfgeschichten anknüpfende Text WIE DIE ALTE JANTSCHOWA MIT DER OBRIGKEIT KÄMPFTE etwa schildert das Aufgehen der sorbischen in der sozialistischen Kultur – wiederum vermittelt durch den Personenkult um Pieck. Die politische Sphäre wird hier in einen quasi-vorgesellschaftlichen Raum verlegt, in dem sich die Anerkenntnis der neuen Kräfte gleich einer Beglaubigung durch eine gleichnishafte Erzählung vollzieht. Brězans ausführlich zitierte Begründung der Bedeutung des persönlichen Erlebnisses der Republikgründung für dessen allgemeine ›objektive‹ Relevanz bleibt hingegen ganz in den Grenzen dessen, was der Sozialistische Realismus argumentativ zu bieten hat: Nicht nur müssen subjektive Wahrnehmung und gesellschaftlicher Wahrheitsgehalt aufeinander bezogen werden; hinzukommt die Forderung an den Schriftsteller, dazu beizutragen, »daß sich die Wirklichkeit der Wahrheit immer mehr nähere, um als Idealfall mit ihr kongruent zu sein« (Brězan 1989: 162). Augenscheinlich, so muss man hinzufügen, stimmen ›Wirklichkeit‹ und Wahrheit noch nicht überein, und augenscheinlich ist es die entscheidende Aufgabe für den verantwortungsbewussten Schriftsteller nicht einfach, die mangelhafte Realität abzubilden – also Geschichten davon zu erzählen, was und warum etwas nicht funktioniert –, sondern diese Realität auf jenes als Wahrheit identifizierte Ziel hin zu fokussieren. Der Maßstab des Geschichtenerzählens wird hierbei nicht in erster

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Linie durch innerfiktionale Kohärenz bestimmt; im Mittelpunkt steht vielmehr das Verhältnis, in das sich die literarische Geschichte zur Wahrheit und damit zum antizipierten Geschichtsverlauf setzen lässt. Sanktioniert sie diesen Verlauf glaubwürdig? Und: Ergibt sich der utopische Gehalt der literarischen Geschichte auch tatsächlich aus einem Umgang mit dem Faktischen, der dessen Potentialitäts-Kern nicht bloß subjektiv bestätigt, sondern gleichsam als objektives Gesetz der Geschichte präsentiert?

G ESCHICHTEN , DIE G ESCHICHTE MACHEN SOLLEN : E NTSTEHUNG UND K ONZEPTION DER H ANUSCH -T RILOGIE Als letzter Roman der Felix-Hanusch-Trilogie bilden die MANNESJAHRE konzeptionell jenen Schlussstein, auf den, so Brězan 1974 retrospektiv in FELIX HANUSCH UND ICH, von Anfang an alles zulief (vgl. Brězan 1989: 220, 223): »So – vor den Augen immer den dritten Band: Was ist Glück in der sozialistischen Gesellschaft und welche Wege führen zu ihm – fing ich an von meiner Kindheit und meinen Jugendjahren zu schreiben.« (Ebd.: 220) Doch beim Schreiben des ersten Bandes – es geht um »die Jahre der Konsolidierung der Reaktion« (Ebd.: 219) – gerät Brězan schnell ins Stocken. Trotz Zuspruchs von Willi Bredel, Hans Marchwitza und Strittmatter bricht Brězan die Arbeit einstweilen ab (vgl. Scholze 2016: 154). Schuld sei das (literatur-)politische Klima in der DDR gewesen, das maßgeblich dazu beigetragen habe, »Literatur zu einer höheren Stufe von Agitation zu machen« (Brězan 1989: 219). Die ursprüngliche Konzeption eines Gesellschaftsromans gibt der Autor zugunsten eines biografisch gefärbten Entwicklungsromans auf, von dem er sich mehr Darstellungsfreiheit verspricht: »Es war die Zeit, als sich bestimmte Formen in der Epik bei uns sozusagen festgefressen hatten. Eine seltsame Art von sozialistischem Realismus wurde an- und ausgepriesen. […] Es war ein Lösungsschema vorgegeben, worin der möglichst positive Held und der Ausblick in eine rosarote Zukunft das Allerwichtigste waren. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mich aus dieser Zwangsjacke der Vorschriften nicht anders befreien, als durch die Konzentration auf eine Figur und deren Entwicklung, die ich genau kannte und die sozusagen historisch war.« (Brězan 1979: 1003)

Brězans Unterteilung in ideologisierten Gesellschafts- und freiheitsverheißenden Entwicklungsroman ist nicht besonders gelungen: Gegen Ende der 1950er Jahre lagen nämlich bereits eine ganze Menge an mehrteiligen Bildungs- und Entwicklungsromanen vor (vgl. Küntzel 1981; vgl. Emmerich 1996: 142f.), die als Probe auf das Exempel eines besonders rigiden Sozialistischen Realismus gelesen wurden

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und sich häufig auch so verstanden (vgl. zum Sozialistischen Realismus Spies 1991; Ohlerich 2005: 203-290). Mit Marchwitza und Bredel, gleichermaßen ›klassenkämpfende‹ Schriftsteller wie schriftstellernde Klassenkämpfer und in dieser Eigenschaft gewissermaßen Gründungsväter des neuen Genres, war Brězan auch persönlich bekannt. Marchwitza kritisierte übrigens den Sorben für den Abbruch der Hanusch-Arbeit (vgl. Brězan 1979: 1003). Wenn es jemanden gab, der wusste, welche Mühe es macht, eine Entwicklungsgeschichte auf drei Bücher zu verteilen, dann Marchwitza. Sein Roman DIE KUMIAKS (1934) gab den Startschuss für die mehrbändig orientierte Entwicklungsschriftstellerei, die die materialistisch orientierte Geschichtsphilosophie in handlichen, häufig biografisch gefärbten (Familien-) Geschichten präsentierte und vor allen Dingen in den späten 1940er und 1950er Jahren florierte. Zu nennen sind hier neben Marchwitzas DIE HEIMKEHR DER KUMIAKS (1952) und die DIE KUMIAKS UND IHRE KINDER (1959) vor allen Dingen die Trilogie VERWANDTE UND BEKANNTE von Willi Bredel (DIE VÄTER, 1941; DIE SÖHNE, 1949; DIE ENKEL, 1953). Brězan ist in Sachen ›Volkstümlichkeit‹ durchaus mit Bredel zu vergleichen; der große Unterschied ist jedoch: Der Sorbe ersetzt das Arbeitermilieu durch eine an Maxim Gorki geschulte dörfliche Welt, die – jenseits jener »Dorf- oder Bauernliteratur«, die »Menschen und Verhältnisse« entwarf, »die nur eine sehr, sehr geringe Ähnlichkeit mit dem Dorf hatten, das ich kannte« – ihm »die Literaturwürdigkeit meiner eigenen Welt, meiner eigenen Leute« (Brězan 1979: 1000) aufzeigte. Die prinzipielle Literaturwürdigkeit der dörflichen Lebenswelt ist für Brězan das eine; hinzukommt die Frage, wie die in diesem Milieu angesiedelten Geschichten sich zu der Geschichte verhalten. Im Gespräch mit Eberhard Röhner, das unter dem Titel GESCHICHTE UND GESCHICHTEN 1975 in die WEIMARER BEITRÄGE Eingang findet, formuliert Brězan: »Geschichten zu wissen, erzählen zu können bedeutet noch lange nicht, jenen bestimmten Extrakt aus einer Geschichte zu ziehen, der sich dann als winziges Mosaiksteinchen der großen Geschichte, der Historie, erweist.« (Brězan 1989: 267f.) Gleichwohl hält er den Zusammenhang von Geschichte und Geschichten für evident. Der Dichter müsse hier das richtige Gespür haben. Im Gespräch mit Röhner vermittelt die von Becher geprägte Denkfigur der »›Dreieinigkeit der Zeiten‹«, an der Brězan allerdings Veränderungen vornimmt. Bechers Konzeption versteht sich als Konkretisierung der Theorie des Sozialistischen Realismus. Die Dreieinigkeit der Zeiten behauptet die Wirklichkeitskongruenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Mittelpunkt steht dabei die Zukunft, die – auf den antizipierten Geschichtsverlauf verpflichtet – keine imaginär-utopische Größe darstellt, vielmehr selbst Wirklichkeitscharakter zugesprochen bekommt. Becher spricht in VON DER GRÖSSE UNSERER LITERATUR (1956) diesbezüglich von »neuen Wirklichkeiten«:

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»Zu diesen neuen Wirklichkeiten gehört zunächst die Tatsache, daß wir Dichter heute nicht nur imstande sind, das Vergangene und das Gegenwärtige als Wirklichkeit zu gestalten, sondern daß zugleich mit der vergangenen und mit der gegenwärtigen Wirklichkeit eine neue Wirklichkeit entstanden ist, eine Wirklichkeit dessen, was verwirklicht werden wird, die Wirklichkeit des Künftigen.« (Becher 1962: 455)

Der argumentative Wert des Dreieinigkeits-Konzepts im Rahmen einer Begründung des Sozialistischen Realismus lässt sich kaum überschätzen, spricht es doch jenem zukünftigen, antizipierten und das heißt eben auch: keineswegs vollumfänglich realisierten und damit zeitlich und inhaltlich erst noch zu gewärtigenden Ideal bereits den Status der Realität, d.h. den Status einer neuen ›Wirklichkeit‹ zu. Brězan hält grundsätzlich an Bechers Dreieinigkeit der Zeiten fest, insistiert jedoch Mitte der 1970er Jahre darauf, dass man »mit der dritten der Dreieinigkeit« – also der Zukunft – »anders wird umgehen müssen, als es damals wohl verstanden worden ist. Um es einmal mythisch zusagen: Sie wäre der Geist, der über den Wassern schwebt.« (Brězan 1989: 269.) Dies mag man einerseits als qualitative Relativierung der von Becher starkgemachten Wirklichkeitsdimension verstehen, andererseits jedoch bedeutet dies keine kategorische Abkehr vom grundsätzlichen Wirklichkeitscharakter. Entscheidend ist, dass Brězan an der Gleichursprünglichkeit von dichterischliterarischem und politisch-geschichtlichem Bewusstsein festhält: »Geschichten«, »kleine, alltägliche Geschichten«, fingen ihn ab dem Punkt an zu interessieren, »als ich – etwa achtzehnjährig – aufhörte, mich in einer Welt Irgendwo zu bewegen und mich ansiedelte in einer Welt, die da hieß Vater – Klasse – Volk.« (Ebd.: 268) Die poetisch-politischen Allianzen tragen bei Brězan zunächst den Charakter eines gegenkulturellen Gedächtnisses, denn die »feindliche Obrigkeit« – bei Jünger häufig ein Synonym für die Trias adeliger, bürgerlicher und nazistischer Kräfte – sorgt bis 1945/49 dafür, »daß niemand winzige Geschichten zu tausend winzigen Geschichten fügen können sollte, woraus dann die Historie entstanden wäre – es sollte keine Historie geben für meine Leute, Vater – Klasse – Volk.« (Ebd.: 268f.) Erst mit der Gründung der DDR, so der Grundtenor, bekommt Brězans Perspektive tatsächlich historiografische und literarische Relevanz. Damit verändert sich auch der Status jener Geschichten, denen von der (repressiven) Geschichte aus betrachtet bisher jeglicher Raum verweigert wurde: Die Geschichte ist nun nicht mehr die Folie, vor der die narrative Identität ihre gegenkulturelle Position aufzubauen sucht, sondern – strukturalistisch betrachtet – das verbindliche Paradigma, das dem Syntagma der Einzelgeschichte zur Verfügung steht. Distanzierungen von der Theorie und Praxis des Sozialistischen Realismus findet man bei Brězan – seit 1969 einer der fünf Vizepräsidenten des Deutschen Schriftstellerverbandes (später: Schriftstellerverband der DDR) – seit den 1970er Jahren (vgl. Scholze 2016: 142, 147). Mit dieser Distanzierung einhergehende

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Zweifel an der über die Klammer ›Erfahrung‹ zusammengefassten Einheit von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, für die die Verwandtschaft von Literatur und Geschichte bürgen soll, tauchen bei Brězan gleichfalls relativ spät, nämlich erst gegen Ende der 1970er Jahren auf. Sie haben auf die konzeptionelle Ausgestaltung dieses Verhältnisses in der Hanusch-Trilogie wohl noch keinen Einfluss gehabt: »Wir schreiben doch alle Geschichte und Geschichten letztlich deswegen, damit den Söhnen das Heute erkennbar und Zukunft faßbar wird. Wir breiten unsere Erfahrungen aus. Vielleicht haben wir das in der Vergangenheit allzusehr mit dem erklärten Willen getan, diese unsere Erfahrung als Norm auszugeben, gültig auch für die Nachkommenden. Die Welt der Väter und die Welt der Söhne sind aber voneinander geschieden, so daß unsere Erfahrungen nicht als genormte Lehren übertragbar sind.« (Brězan 1978: 10)

L ITERARISCHER G ESCHICHTSDISKURS GUTEN L EBENS : M ANNESJAHRE

UND

A UFSCHUB

DES

Doch kehren wir in die Zeit um 1960 zurück. Am Ende des SEMESTERS DER VERLORENEN ZEIT, dem zweiten Band von Brězans Trilogie, desertiert Felix Hanusch an der Ostfront, und als der Erzähler mit dem Satz schließt, dass nun die Zeit gekommen sei, »die neue Saat zu säen« (Brězan 1960: 295), ist das weniger als Schlusswort denn als Prospekt auf den folgenden Band zu verstehen, der laut Selbstauskunft des Autors die Jahre von 1946 bis 1962 zu gestalten sucht. Aus der als unspektakulär eingeschätzten Ausgangssituation macht Brězan in MEHR ALS DIE TATEN DES HERAKLES (1963) eine spektakuläre Tugend – ganz im Sinne der Ethik des sozialistischen Humanismus (vgl. Streim 2017): »Ich hatte […] in den beiden vorhergegangenen Bänden diesen Burschen Felix Hanusch so festgelegt, daß mir als Schauplatz nicht die Welt blieb, nicht einmal Berlin, sondern ein kleines Dorf […]. Ich hatte weder einen Helden noch irgendwelche Heldentaten zur Verfügung und war gezwungen, mit ganz gewöhnlichen Leuten […] auszukommen und mich zufriedenzugeben mit unserem Alltag […]. Im Laufe der weiteren Arbeit stellte es sich für mich heraus, daß dieser Alltag alltäglicher Menschen, gereinigt vom Zufälligen, gedeutet im Sinn, sinnvoll im notwendigen Ziel, ein Heldenlied neuer Art ist: daß die Taten des Herakles, der ein Gott werden sollte, nichts sind vor den Taten des Menschen, der Mensch sein will.« (Brězan 1989: 43)

Der Leser erlebt Hanusch in den MANNESJAHREN tatsächlich als eine Art sozialistischen Herakles. Im Mittelpunkt steht sein Engagement für den Aufbau einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in einem obersorbischen Dorf. Dabei

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geht es freilich nicht nur um technisch-organisatorische Aufbauarbeit, auch in ideeller Hinsicht ist Hanusch gefragt. Als Nachfahre Wilhelm Meisters – so viel Erbe muss sein – schreibt er etwa das Theaterstück DIE WITWE UND DAS GLÜCK, eine Art Marschroute auf dem Weg zum guten Leben auf dem Land. Das Stück schildert den Prozess einer schwierigen, letztendlich jedoch geglückten Kollektivierung. Realpolitische Probleme im Dorf – es geht um die Witwe Nakonz, die sich weigert, der Genossenschaft beizutreten – werden durch die künstlerische Verarbeitung gelöst und als Perspektive präsentiert, die von den Zuschauern angenommen wird. »Die Herzen begannen den Männern und Frauen«, so der Erzähler elektrisiert, »in der Brust zu wummern, was dort auf der Bühne geschehen wird, wird morgen oder übermorgen ihnen geschehen« (Brězan 1964: 246). Felix versucht in seiner Theaterarbeit mit den Mitteln der Utopie die Probleme des real existierenden Sozialismus in der Zukunft als aufgehoben zu präsentieren. Die theatrale Geschichtsentwicklung, wie sie das Stück zeigt, überlagert die realgeschichtlichen, gegenwärtigen Vorgänge im Dorf. Dieses gestalterische Element verweist auf Bechers Dreieinigkeit der Zeiten. In die erzählte Gegenwart des Romans wird durch das Theaterstück eine zukünftige ›Wirklichkeit‹ geschoben, die von den Zuschauern als ihr eigener Entwicklungsweg begrüßt und damit anerkannt wird. Wichtigstes Ergebnis dieser Verbindung von Gegenwart und Zukunft ist also eine Beglaubigung »der Wirklichkeit des Künftigen«. (Becher 1962: 455) Die konkreten Kollektivierungsprobleme, so der Grundtenor des Romans, müssen vor der Folie ihrer zukünftigen Lösung, die es als eigentliches Geschichtsziel nicht aus den Augen zu verlieren gelte, diskutiert werden. Wer von den dörflichen Zuschauern des Theaterstücks das gute Leben bereits für die Gegenwart einfordert, hat Hanuschs dramatische Intention nicht verstanden; denn in der Gegenwart, die Brězans Charakter zum Ausgangspunkt dient, zeigt sich zwar potenziell die Entwicklungsrichtung zum Guten, aber eben noch nicht das gutgelebte Leben selbst. Schaut man sich die Wirkung des Theaterstücks auf den Fortgang der Handlung an, so muss man zu dem Ergebnis kommen: Hanusch hat die Wirkmächtigkeit von DIE WITWE UND DAS GLÜCK wohl etwas überschätzt, denn die alte Witwe Nakonz lässt sich nicht versöhnen. Oder anders gesagt: Die Lösung, die das Stück präsentiert, ist voreilig. Die theatrale Utopie, die jenes Geschichtsziel zu formulieren sucht, von dem aus die reale Problemgeschichte der Kollektivierung als gelöst betrachtet werden kann, versagt in der fiktionalen Realität. Denn die Nakonz bleibt stur, und ihre Weigerung bestimmt immer mehr den Fortgang der Handlung. Die im Weiteren vom Erzähler präsentierte Geschichte rächt sich gleichsam an ihrer lediglich ästhetisch und damit allein spielerisch verbrieften Teleologisierung durch ein Theaterstück. Während Felix in realpolitischer Hinsicht die Genossenschaft und den Sozialismus mit dem Vernünftigen an sich gleichsetzt, dementiert die Witwe jegliche gemeinschaftliche Umarmung wie auch die durch das Theaterstück vorangetriebene Versöhnung mit der als verbesserungswürdig empfundenen ›Wirklichkeit‹.

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Das wird für sie gefährlich. Denn der Bürgermeister des Dorfes Rumbo – Felix Hanuschs Jugendfreund, innerparteilicher Gegenspieler (SED!) und Saufkumpan – hat es im Folgenden auf die Witwe Nakonz abgesehen. Er verdächtigt sie der »konterrevolutionären Boykotthetze« (Brězan 1964: 332). In Charakter und Rede trägt Rumbo deutliche Züge des unnachgiebig-linientreuen Parteifunktionärs – später verweist Brězan u.a. auf Walter Ulbricht als Vorbild (vgl. Brězan 1997: 135) –, der das Stalin-Portrait in seinem Büro auch noch Jahre nach dessen Tod hängen lassen will, um auch tatsächlich als kommunistischer »Dogmatiker« (Brězan 1979: 1004; Töpelmann 1965: 141) wahrgenommen zu werden. Der Witwe selbst will er »klarmachen, daß wir nicht in Ungarn sind«; zudem befindet er sich im politisch motivierten Verfolgungswahn: »In der Schule wurde sie tätlich, offensichtlich beeinflußt von den Ereignissen in Ungarn. Sie sagte… sagte sie nicht: Wir werden dich hängen wie in Ungarn? So sagte sie es, oder so ähnlich. Auf jeden Fall meinte sie das.« (Brězan 1964: 305) Geschichtsdaten auf der einen Seite – der Tod Stalins 1953 und der ungarische Volksaufstand 1956 – und deren Deutung auf der anderen zeigen sich als variable Größen; Zusammenhänge lassen sich flexibel, zudem durch Mutmaßungen gestützt begründen. Erfährt der Leser zunächst noch vom Erzähler, der sich auf Ergebnisse des – vor allem durch Entstalinisierungstendenzen bekannt gewordenen – XX. Parteitages der KPdSU (1956) beruft, dass Stalin ein Mensch gewesen sei, »der sich über andere Menschen erhoben hatte, ohne in Menschlichkeit über sich hinausgewachsen zu sein« (Ebd.: 292), so trifft er bald auf Rumbos Stalin-Verteidigung und die Projektion der Ereignisse in Ungarn auf den lokalen Konflikt mit der störrischen Witwe. Was die Wertung der präsentierten Konfliktlage angeht, bleibt der Erzähler eigentümlich zurückhaltend, man könnte auch sagen: kommentarfaul. Bereits der DDR-Germanistik fällt die Veränderung im Vergleich zur Komposition der ersten beiden Bände der Trilogie auf. Einigkeit herrscht darüber, dass die »Vorgänge im Dorf« »sinnbildhaft den Übergang zu einer neuen Entwicklungsphase der Gesellschaft« (Haase 1979: 344) markieren würden. Diejenigen, die sich die erzählerischen Mittel des Romans genauer ansehen, bemerken eine Abkehr vom auktorialen Realismus eines Bredel oder Marchwitza; an dessen Stelle trete die »stärkere[] Nutzung der personalen Erzählhaltung, des inneren Monologs bzw. der dem inneren Monolog ähnlichen Formen« (Gundlach 1976: 247). Der Grund für den Verzicht auf eine vordergründige auktoriale Regie und die Auflösung des »einheitliche[n] Handlungsverlauf[s]« in »mehrere relativ selbständige Handlungsstränge« wird in der prinzipiellen Abkehr vom Entwicklungsroman gesehen – der Ankunft Felix Hanuschs im Sozialismus sei es gedankt: »Die meisten Entwicklungsromane der DDR stellen den Helden auf seiner Suche nach dem richtigen Platz im Leben bis zu seiner Entscheidung für die als ihm gemäß erkannte sozialistische Lebensform dar, die die Grundlage für die erstrebte Übereinstimmung mit der Gesell-

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schaft bietet. Brězan aber zeigt im letzten Band seinen Felix Hanusch nach dieser Entscheidung als führendes Glied der sozialistischen Gesellschaft und hebt den Entwicklungsgedanken damit auf eine höhere geistige Ebene. Dieser Umschlag hat Folgen für die Erzählstruktur.« (Ebd.: 246)

Die Absicht der Deutung ist es, die Multiperspektivität in einer Art vollentfalteten sozialistischen Bewusstseins zusammenlaufen zu lassen, hinter dem, so die Schlussfolgerung, kein anderer als der Autor selbst stehe. Die mangelnde auktoriale Koordination der einzelnen Perspektiven und Kommentare lässt sich aber auch anders lesen: Es gehe um das Offenlegen von »Wertungsalternativen« (Gruner 1989: 124), so eine Position der späten DDR-Germanistik: »Die erzählte Geschichte thematisiert nicht Probleme sozialistischer Entwicklung, sondern sich selbst – als eine mögliche Art, von diesen Probleme zu berichten.« (Ebd.: 125) Man darf hinter dieser Position sicher nicht gleich das Gegenteil von dem etwas offiziös anmutenden ersten Deutungsangebot ausmachen – ein subversives Geschichtsbild etwa –, und doch sind die Unterschiede deutlich erkennbar. Basiert die erste Interpretation auf der Annahme, die von auktorialer Bevormundung befreite Vielstimmigkeit des Romans sei das Ergebnis einer – bereits in vollendeten gesellschaftspolitischen Konturen erkennbaren – Entwicklung des sozialistischen Helden, so sieht die Lesart der späten 1980er Jahre nicht mehr die sozialistische Entwicklung an sich, sondern diskursive Muster, von dieser Entwicklung zu berichten, im Mittelpunkt. Weit entfernt davon, die Entstehungsbedingungen eines gefestigten sozialistischen Bewusstseins als Handlungskern auszumachen, wird hier die metanarrative Reflexion als Besonderheit des Erzählens markiert. Der Erzähler gibt jedenfalls der Auseinandersetzung von Rumbo, Hanusch und der alten Nakonz breiten Raum, ohne selbst einen eindeutigen Standpunkt zu beziehen. Stattdessen präsentiert er unterschiedliche Versionen, wie die Geschichte ihrer Auseinandersetzung auch erzählt werden könnte. Felix will die Witwe retten, indem er sie dem Zugriff Rumbos entzieht und einstweilen im Spritzenhaus der örtlichen Feuerwehr unterbringt. Als seine Hilfsaktion auffliegt, ist das Gelächter im Dorf groß – je weiter sich die erzählte Geschichte jedoch von ihrem Ursprungsort entfernt und an Lokalkolorit einbüßt, umso mehr verändert sie sich und umso gefährlicher wird sie. »Aber schon als die Geschichte am anderen Dorfende aus Wierbitz hinausrannte, war die Rede von einer Frau aus dem Volk und von der Obrigkeit, es war noch ein Spaß, aber einer mit Augenzwinkern und hackendem Spott. Im nächsten Ort war es ein Auto voll Obrigkeit, und ein Dorf, das zusammenhielt wie Pech und Schwefel und die mutige Frau versteckte von Haus zu Haus. Hier war der Spaß auf der Strecke geblieben, ein Flüstergerücht mit hämischer Zunge und gespitzten Eselsohren war aus stinkigem Ei gekrochen. Es hatte Flügel und flog. Morgen wird

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es auf einer Radiowelle schnattern: Das Volk revoltiert gegen die Macht.« (Brězan 1964: 368)

Der Roman thematisiert an dieser Stelle die unterschiedlichen Deutungen ein und desselben Vorgangs mit Blick auf mögliche Politisierungen. Die geschichtsträchtigen Daten 1953 und 1956 erhalten ihre Bedeutung innerhalb des Romans vornehmlich durch eine Kontextualisierung im innerfiktional gültigen Geschichtsdiskurs, und wie ein solcher Geschichtsdiskurs ganz konkret entstehen kann, führt der Roman am Beispiel der Witwe Nakonz vor – zwar abseits der großen politischen Bühne, jedoch keineswegs abseits von politischen Implikationen. Die Auseinandersetzung um die Witwe ist ein historiografisches Exempel, das mit Mustern der Machtbegründung und Ereignisdeutung spielt, die in der sozialistischen Rhetorik der 1950er vorgeprägt sind. Die aus heutiger Sicht sofort ins Auge fallende Unverhältnismäßigkeit von tatsächlichem läppischem Ereignis und politischer Deutung holt der Roman reflexiv nur unvollständig ein. Felix Hanusch soll aufgrund seiner Hilfe für die störrische Alte bei der »Bezirksleitung« (Brězan 1964: 376) in Dresden vorsprechen, wo er sich vorhalten lassen muss, ein »Don Quichotte« zu sein und die Witwe Nakonz sei sein »Sancho Pansa« (Ebd.: 388). Doch ist mit der Überführung der Charaktere in die schelmische Tradition keineswegs eine Absage an die politische Relevanz ihrer Taten verbunden. Über Hanusch heißt es: »Er wußte, die Auseinandersetzung war nicht zu Ende, es wird noch heiß und heftig zugehen.« (Ebd.) Schuldbewusst und bockig zugleich wird der Held aus dem Romangeschehen entlassen. In gattungstypologischer Hinsicht ist interessant, dass es ausgerechnet jene Charaktere sind, die den Text zum Geschichtsdiskurs treiben, die dem klassischen Entwicklungsroman eher fremd bleiben: Der Grobian und die zänkische Alte. Während letztere ihren festen Platz in der Commedia dell’arte (und auch im sorbischen Volkstheater) hat, steht der Grobian Rumbo in der Tradition schelmischer Helden: körperlich präsent, trinkfest, laut, ungebildet, aber bauernschlau. Dass ausgerechnet er für die Umsetzung offizieller Verlautbarungen der DDR-Machthaber steht, ist nicht ohne Brisanz. Die zeitgenössische Kritik limitiert das komische Potential des Verhaltens Rumbos mit dem Hinweis auf seine tatsächliche Gefährlichkeit (vgl. Töpelmann 1965: 141). Doch nicht nur dieser selbst gilt als gefährlich: Als problematisch eingestuft wird zudem der Umstand, dass Brězan Rumbo »›Brüder im Geiste‹ auch auf höheren Parteiebenen« zuordnet, während die für die sozialistische Idee glaubhaft einstehenden Charaktere zu blass seien: »Diese Seiten des Buches bleiben schwach« (Ebd.), resümiert die Rezensentin in der NEUEN DEUTSCHEN LITERATUR.

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F AZIT Blicken wir abschließend nochmal auf das Verhältnis von ideologischen und poetologischen Aspekten. Gemeinhin ist man geneigt, zwischen metanarrativen und metafiktionalen Reflexionen einerseits und einer ideologisierten Sicht auf die Geschichte zu unterscheiden. Dieser Lesart zufolge führt die Thematisierung des Geschichtenerzählens zu einer Abkehr von der Wahrheit der Geschichtserzählung, wird wahlweise ihr inszenatorischer, konstruktiver Charakter und/oder ihre subjektive Verfasstheit betont. Eine solche Schwarz-Weiß-Sicht verfehlt die Hauptmerkmale der sozialistischen Dorfgeschichte vom Schlage Brězans. Der Roman verweist zwar in Form des Theaterstücks auf die Brüchigkeit einer ästhetischen Utopie, die jenes Geschichtsziel zu formulieren sucht, von dem aus die realen Problemen der Kollektivierung als gelöst behandelt werden können, dies jedoch nur, um diese Probleme innerhalb der fiktiven Dorf-Welt umso konzentrierter entfalten zu können. Im metahistoriografischen Spiel mit Diskursmustern der sozialistischen Verurteilungs- und Schuldzuweisungs-Rhetorik geht es dann nicht darum, den verleumderischen und instrumentellen Charakter der Anschuldigungen offenzulegen oder gar die Kollektivierungs-Verweigerung mit politischen Sympathien zu bedenken, wie man meinen könnte, sondern allein darum, die partielle Unangemessenheit einer Geschichtsschreibung aufzuzeigen, die eine störrische Alte zum revoltierenden Volk stilisiert. Das eigentliche Protest-Potential, das der Widerständigkeit der Witwe Nakonz zukommt, wird dabei denkbar kleingehalten. Grundsätzlich, so muss sich Hanusch vorhalten lassen, habe er durch sein Engagement für die Alte die Gesetzlichkeit des Staates DDR durch Eigengesetzlichkeit ersetzt und obendrein noch an der »Aufhebung der Leninschen Normen« (Brězan 1964: 387) mitgewirkt. Jene Aspekte des Geschichtsdiskurses, die durch die erzählerische Eigenart des Romans begründet werden, lassen sich also nur schwerlich in einen subversiven Gegensatz zu einer ideologisierten Geschichtssicht setzen – auch wenn sie mit dieser keineswegs vollumfänglich kongruent sind. Folgerichtig ist mit Blick auf die Analyse von Texten der DDR-Literatur die Entwicklung von Beschreibungsmustern, die das Zugleich von literarischer, spezifisch poetisch-narrativer Eigenmächtigkeit einerseits und historiografischer Fremdbestimmung andererseits – man könnte auch sagen: von Fiktionalitätsspielraum und Faktualitätsprimat – genauer zu analysieren erlaubt, eine der dringlichsten Aufgaben im Schnittpunkt literatur- und geschichtswissenschaftlicher Erzählforschung. Kehren wir abschließend nochmal kurz zu den dörflichen Lebensverhältnissen zurück und fragen konkret: Was ist nun mit dem guten Leben auf dem Land? Schafft es den Sprung von der Literatur in die Wirklichkeit? Die Antwort muss wohl eher negativ ausfallen. In der hier vorgestellten Variante kommt der Topos ab den späten 1960er Jahren in der DDR endgültig aus der (literarischen) Mode. Ohne

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je erreicht, d.h. lebenspraktisch realisiert worden zu sein, versagt das utopische Denken insofern seinen Dienst, als die Zukunft nun nicht mehr jenen Ort markiert, der, im Sinne Bechers, schon immer mit allen Insignien der ›Wirklichkeit‹ ausgestattet ist. Die Zukunft ist einfach nur die Zukunft, und das gute Leben zeichnet sich nicht durch projektierte Idealität, sondern vor allem dadurch aus, gelebtes Leben werden zu können. In dem Maße, wie die Prägung des Geschichtsdiskurses durch jene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende ›Wirklichkeit‹ nachlässt (ohne freilich von offizieller Seite dementiert zu werden), verliert auch die sozialistische Dorfgeschichte jenes historiografische Korsett, das es ihr erlaubte, im guten Leben den innerfiktional problematisierten, aber doch auch beglaubigten Fluchtpunkt der Handlung zu markieren. Im Ergebnis lässt der Verzicht auf geschichtsphilosophische Übersicht das Interesse am Genre der Dorfgeschichte sozialistischen Zuschnitts allmählich schwinden. Bei Brězan zeigt sich ab den späten 1960er Jahren eine vermehrte Hinwendung zur sorbischen Volkssage. Diese Hinwendung äußert sich vor allem im Interesse an einer Figur, die wie kaum eine andere mit der sorbischen Kultur im Zusammenhang steht: Krabat (vgl. Ehrhardt 1982; Schneikart 1981). Ist die DIE SCHWARZE MÜHLE (BRĚZAN 1968b) noch als Jugendbuch konzipiert, so schlüpft der Titelheld in der monumentalen Großerzählung KRABAT ODER DIE VERWANDLUNG DER WELT (BRĚZAN 1976) in die Rolle eines sorbischen Fausts, der die Gattung Roman wieder zu ihren epischen (und mythischen) Wurzeln führt. Der phantastische Kontext der Sagenwelt, in dem nun aktuelle Themen (u.a. Folgen genetischer Manipulation, Umweltzerstörung) diskutiert werden, ersetzt die Orientierung an der Geschichte, ja führt sogar – im Zeichen der Diskussion allgemeinmenschlicher Probleme und eines geschärften ökologischen Bewusstseins – zu einer veritablen Geschichtskritik. Das gute Leben zeigt sich hier im verantwortungsbewussten Umgang des Menschen mit der Natur; sowohl mit seiner eigenen als auch mit der ihn umgebenden. Das Dorf interessiert nun nicht mehr als Ort agrarökonomischer oder gesellschaftspolitischer Veränderungen; vielmehr wird es zum Knotenpunkt der Verbindung unterschiedlicher Ebenen: Realistische und phantastische, wissenschaftskritische und mythische Perspektiven blendet der Roman in einem vielsträngigen, unterschiedliche Zeitebenen umfassenden Erzählen zusammen, das zur Parabel drängt (vgl. Steiger 1984). Der Umstand, dass das Dorf auf diesem Weg wieder – in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR bisweilen unter Mystizismus-Verdacht gestellte, wahlweise als ›reaktionär‹, ›bürgerlich‹ oder ›konservativ‹ apostrophierte – naturmagische Züge bekommt, dürfte deutlich machen, wie fern hier jener Typ sozialistischer Dorfgeschichte gerückt ist, der es sich zur Aufgabe machte, die Geschichte in literarische Geschichten zu verwandeln. Die ›Wirklichkeit‹ der Sage ist eben doch eine andere als jene geschichtliche ›Wirklichkeit‹, die der Dorfgeschichte dazu diente, mit kritischer Sympathie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander verpflichten zu können.

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L ITERATUR Becher, Johannes R. (1962): Über Literatur und Kunst, Berlin: Aufbau. Brězan, Jurij (1997): Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiberleben, Leipzig: Gustav Kiepenheuer. Brězan, Jurij (1989): Ansichten und Einsichten. Reden, Aufsätze und andere Nebenarbeiten. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 8, Berlin: Neues Leben. Brězan, Jurij (1979): »Gespräch mit Jurij Brězan«, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 31/5 (1979), S. 995-1012. Brězan, Jurij (1978): »Matrosenhosen-Segelflick-Geschichten«, in: Neue deutsche Literatur 26/6 (1978), S. 7-11. Brězan, Jurij (1976): Krabat oder Die Verwandlung der Welt, Berlin: Neues Leben. Brězan, Jurij (1968b): Die schwarze Mühle, Berlin: Neues Leben. Brězan, Jurij (1968a): »Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers«, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, 20/5 (1968), S. 1033. Brězan, Jurij (1964): Mannesjahre. Roman, Berlin: Neues Leben. Brězan, Jurij (1960): Semester der verlorenen Zeit, Berlin: Neues Leben. Brězan, Jurij (1951): Auf dem Rain wächst Korn. Sorbische Erzählungen und Gedichte, Berlin: Volk und Welt. Ehrhardt, Marie Luise (1982): Die Krabat-Sage. Quellenkundliche Untersuchungen zu Überlieferung und Wirkung eines literarischen Stoffes aus der Lausitz, Marburg: Elwert. Emmerich, Wolfgang (1996): Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Leipzig: Gustav Kiepenheuer. Geerdts, Hans Jürgen (1968) (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, Berlin: Volk und Wissen. Gruner, Stephan (1989): Im Streit um die Geschichte. Kriegsdarstellung und Entwicklungssujet in der frühen DDR-Prosa – dargestellt an der KumiakTrilogie (Hans Marchwitza), der Trilogie Verwandte und Bekannte (Willi Bredel), der Adam-Probst-Tetralogie (Herbert Jobst) und der Felix-HanuschTrilogie (Jurij Brězan), Diss., Berlin (Ost). Gundlach, Christine (1976): »Jurij Brězan«, in: Hans Jürgen Geerdts u.a., Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen, Berlin: Volk und Wissen, S. 242-258. Haase, Horst u.a. (1976): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 11, Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin: Volk und Wissen. Küntzel, Heinrich (1981): »Von Abschied bis Atemnot. Über die Poetik des Romans, insbesondere des Bildungs- und Entwicklungsromans, in der DDR«, in: Jos Hoogeveen/Gerd Labroisse (Hg.), DDR-Roman und Literaturgesellschaft, Amsterdam: Rodopi, S. 1-32.

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Ohlerich, Gregor (2005): Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ/DDR 1945 bis 1953, Heidelberg: Winter. Schneikart, Monika (1981): Traditionen der Volksdichtung im Schaffen Jurij Brězans. Das Verhältnis von Tradition und Neuerertum im Roman Krabat oder Die Verwandlung der Welt bei der künstlerischen Aufnahme von Motiven und Prinzipien der Figurengestaltung, Diss., Greifswald. Schöne, Jens (2008): Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Schöne, Jens (2005): Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDRLandwirtschaft, Berlin: Christoph Links. Scholze, Dietrich (2016): Jurij Brězan. Leben und Werk, Bautzen: Domowina. Spies, Bernhard (1991): Georg Lukács und der Sozialistische Realismus, in: Heinz Ludwig Arnold/Frauke Meyer-Gosau (Hg.), Literatur in der DDR. Rückblicke, München: Edition Text+Kritik, S. 34-44. Steiger, Martina Claudia (1984): Parabolische Formen und weltanschaulichphilosophische Elemente in der Prosa Jurij Brězans am Beispiel von Krabat oder die Verwandlung der Welt und Der Brautschmuck und andere Geschichten, Diss., Waterloo. Streim, Gregor (2017): »›Grosse Ahnen‹ und ›erbärmliche Erben‹. Die Begründung des ›sozialistischen Humanismus‹ in den literarisch-politischen Debatten des Exils«, in: Matthias Löwe/Gregor Streim (Hg.), ›Humanismus‹ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, Berlin/Boston: de Gruyter, S. 193-214. Töpelmann, Sigrid (1965): »Eine Spirale, sich aufwärts windend« [Rez. Mannesjahre], in: Neue deutsche Literatur 13/1 (1965), S. 137-142. Twellmann, Marcus (2016): »Bodenreform und Poesie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90 (2016), S. 301-330.

Dorf/Stadt erzählen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Am Beispiel von Jan Brandts Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt (2019) und Matthias Nawrats Der traurige Gast (2019) N ATALIE M OSER , U LRIKE S CHNEIDER

Ein Blick auf die Liste der nominierten Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 zeigt, dass trotz der zahlreichen Dorfromane, die in den letzten Jahren erschienen sind, das Interesse für diese anhält. Mit Verena Güntners Buch POWER wurde ein Dorfroman nominiert, der sämtliche Dorfromanstereotypen bedient und sie gleichermaßen unterminiert. Das als pädagogisch wertvoll und gesundheitsfördernd erachtete Spiel in der Natur wandelt sich hier zur Konstruktion einer Parallelgesellschaft. Die den titelgebenden Hund suchenden Kinder werden dabei selbst zu einer Art von Hunderudel und leben nach eigenen Regeln. Eingeleitet wird POWER dabei von einer zweiseitigen Exposition, die mehrere Motivfelder und Handlungsstränge der nachfolgenden Geschichte antizipiert, aber auch eine zentrale Leitdifferenz zeitgenössischer Dorfgeschichten ausstellt: »KERZE STEHT BARFUSS am Eingang des großen Kaufhauses. […] Kerze, die die Stadt und Kaufhäuser hasst, stürzt einer Glastür entgegen, fällt hinein ins grelle Bling Bling.« (Güntner 2020: 7f.) Durch die in einem Dorf wohnhafte junge Protagonistin mit Aversionen gegen die (Groß-)Stadt wird zu Beginn, und damit an einer prominenten Stelle, die Differenz ›Dorf‹ versus ›Stadt‹ eingeführt. Wie sich im Laufe der Lektüre jedoch herausstellt, handelt es sich bei der skizzierten Unterscheidung nicht um die einzige, da auch ›Dorf‹ und ›Wald‹ miteinander kontrastiert werden. Die im Roman verwendeten Opposita wie ›Dorf‹ und ›Stadt‹ sowie ›Dorf‹ und ›Wald‹ dienen folglich nicht nur der Darstellung konkreter Lebenswelten, sondern insbesondere der Illustration von Denkmustern und Lebenskonzepten.

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Eine die Stadt-Land-Differenz nicht nur thematisierende, sondern geradezu ausstellende Auseinandersetzung mit dem Konzept ›Dorf‹ hat Jan Brandt in seinem 2019 erschienenen Buch EIN HAUS AUF DEM LAND / EINE WOHNUNG IN DER STADT vorgelegt. Brandt stellt der Dorfgeschichte eine Stadtgeschichte an die Seite, wobei beide Bestandteil einer Publikation sind und anhand des Formats – das Buch muss gewendet werden, die Cover verhalten sich wie Negative zueinander, die Reihenfolge der Lektüre ist nicht vorgegeben – bereits darauf hingewiesen wird, dass es sich um zwei Seiten einer Medaille handelt. Die Verbindung der beiden Teile manifestiert sich denn auch im Inhalt, da der Ich-Erzähler, der sich als der Autor Brandt ausgibt und dessen Eigenschaften teilt, jeweils aus der Stadt aufs Land (und auch umgekehrt) fährt. Er vollzieht damit eine reale wie auch imaginäre Pendelbewegung, die für eine Vielzahl von Biographien typisch ist: Nach einer Kindheit auf dem Land verlagert sich, zum einen, im Jugendlichen- und Erwachsenenalter der Lebensschwerpunkt in die (Groß)Stadt; es handelt sich hierbei um eine Form der Binnenmigration, die häufig mit dem Schlagwort der Landflucht umschrieben wird. Allerdings bildet dabei das Dorf als Ort der Herkunft, zum anderen, immer auch einen Fluchtpunkt, aus dem sich Erfahrungen speisen und an den sich Erinnerungen knüpfen – ein Ort, der dadurch immer wieder von Neuem aufgesucht und nicht zuletzt auch zur Erkundung von Vergangenheit und Gegenwart (des eigenen Selbst, der Familie, der Gesellschaft etc.) genutzt wird: »Immer öfter fuhr ich jetzt nach Ostfriesland, um Interviews zu führen und mit denjenigen zu sprechen, die das Dorf meiner Kindheit geprägt hatten. […] [Meine Eltern hatten nach ihrem Umzug in die Neubausiedlung des Dorfes] ihrem Empfinden nach zu wenig Anteil am kommunikativen Gedächtnis des Dorfes […], am sozialen Geschehen generell, dass sie kaum noch Erinnerungen und Geschichten beisteuern konnten und auch selbst kaum von den Erinnerungen und Geschichten der anderen profitierten. […] Was für die Familie gilt, gilt in abgeschwächtem und gleichzeitig größerem Maße fürs Dorf: Die Anforderungen mögen, was die Intensität und das Abhängigkeitsverhältnis angeht, nicht gleich hoch sein, aber im Kern sind sie doch dieselben: ›Kohärenz sichern, Identität bewahren und Loyalitätsverpflichtungen nachkommen.‹ Im Gespräch findet das Dorf zu sich selbst. Die menschlichen und architektonischen Leerstellen werden mit Worten gefüllt. Das Alte erwacht noch einmal zum Leben.« (HL: 170-173)1

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Um die beiden Teile von Jan Brandts Buch EIN HAUS AUF DEM LAND / EINE WOHNUNG IN DER STADT,

die keine gemeinsame Seitennummerierung haben, zu kennzeichnen, wird

der Teil EIN HAUS AUF DEM LAND mit der Sigle HL und der Teil EINE WOHNUNG IN DER STADT mit der Sigle WS gekennzeichnet und direkt im Fließtext zitiert.

D ORF /S TADT

ERZÄHLEN IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN

G EGENWARTSLITERATUR

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Während der als Ich-Erzähler fungierende Protagonist hier sowohl auf dem Dorf als auch in der Stadt versucht, Spuren zu konservieren, um eine Verbindung zur Vergangenheit aufrechtzuerhalten und mitunter auch, darauf verweisen die angesprochenen Leerstellen, Verlusterfahrungen zu kompensieren, ist der Protagonist von Matthias Nawrats ebenfalls 2019 erschienenem Roman DER TRAURIGE GAST in der Stadt Berlin auf der Suche nach Geschichten, deren Inhalte er unmittelbar zu reproduzieren scheint. Während Brandts Erzähler Substanzielles festzuhalten oder zu erschaffen sucht – z.B. ein dörfliches Kulturzentrum, das überregionale Gäste anlocken soll –, erkundet Nawrats Figur Berliner Straßen, Plätze und Gebäude und beobachtet, wie in diesen Zeit und Raum zusammenzufallen scheinen und sich die Idee, dass sich dahinter ein Inhalt verberge, als Illusion entpuppt: »Ich ging noch eine Weile durch die Straßen um den Platz. Über den Dächern ragten Kräne auf, die an der Baustelle des Berliner Schlosses und der Verlängerung der U55 standen. Mir kam es bald vor, als herrschten um mich falsche Lichtverhältnisse – die Gebäude an dieser Stelle der Stadt schienen keine Schatten zu werfen. Obwohl ich schon oft hier gewesen war, irritierte mich plötzlich das Nebeneinander der Baustile in den Straßen hinter der Universität. Die Kuppel der St.-Hedwigs-Kathedrale. Der preußische Prunk der Oper. Die Glas- und Stahlwürfel des Arcotel J. F. Berlin und der B. B.-Bank. Die schmalen Wohnhäuser des Nikolaiviertels, die sich aneinanderdrängten wie Imitationen uralter Bürgerhäuser in Amsterdam. […] Das Licht kam mir künstlich vor, die Gebäude wirkten zu plastisch und körperlich; sie sahen so aus, als hätten sie vielleicht gar kein Inneres.« (TG: 38)2

Trotz der unterschiedlichen Perspektiven und Anlagen der Texte bestehen zwischen den beiden Büchern Ähnlichkeiten, und zwar nicht nur aufgrund des geteilten Schauplatzes Berlin und der die Hauptschauplätze überschreitenden Referenzen zum einen (bei Brandt) auf Landstriche in Ostfriesland und Newport (USA) und zum anderen (bei Nawrat) auf polnische und nord- und lateinamerikanische Städte, sondern auch, weil beide Autoren anhand räumlicher und topographischer Relationen die Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens von Geschichte(n) reflektieren und damit verbundene Aspekte wie Verlusterfahrungen und Gewalt thematisieren. Die Bewegungslinien und Erinnerungsspuren, die in beiden Werken zentrale Bezugspunkte darstellen, sowie das Wiedergeben und Aufnehmen von Geschichte(n) bilden Gemeinsamkeiten der Texte, die eng an Dorf- und Stadterfahrungen gebunden sind und die nachfolgend analysiert werden. Der vorliegende Beitrag widmet sich im ersten Teil der Frage, wie in der jüngsten Gegenwartsliteratur vom Land bzw. von der Stadt erzählt wird und wie diese

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Matthias Nawrats DER TRAURIGE GAST wird nachfolgend direkt im Fließtext mit der Sigle TG zitiert.

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beiden Perspektiven sich wechselseitig bedingen. Denn eine Erzählung vom guten Leben auf dem Dorf macht auch zeitgenössische Stadtwahrnehmungen sichtbar, während städtische Verlusterzählungen oftmals mit Imaginationen von (ländlichen) Sehnsuchtsorten einhergehen. Der zweite Teil ist den Analysen der Bücher von Jan Brandt und Matthias Nawrat gewidmet, insbesondere den Aspekten Topographie, Erinnerung und Gewalt. Im letzten Teil des Beitrags erfolgt eine Zusammenschau der beiden Textanalysen hinsichtlich des Erzählens von (Dorf-/Stadt-)Geschichte(n) in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

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In den 2010er Jahren sind zahlreiche deutschsprachige Romane erschienen, deren Handlungen ausschließlich auf dem Land bzw. in Dörfern angesiedelt sind. Man denke beispielsweise an Judith Zanders DINGE, DIE WIR HEUTE SAGTEN (2010), Saša Stanišićs VOR DEM FEST (2014), Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016), Mariana Lekys WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN (2017), Jan Böttchers DAS KAFF (2018), Verena Güntners eingangs genannten Roman POWER (2020) oder auch an den großen Erfolg der beiden von Dörte Hansen verfassten Romane ALTES LAND (2015) und MITTAGSSTUNDE (2018). Dass diese zwei- bis sechshundertseitigen Bücher eine starke Resonanz erfahren haben, lässt sich anhand der Bestsellerlisten, der vielen Rezensionen im Feuilleton sowie der Nominierungen für bzw. ihren Auszeichnungen mit Literaturpreise(n) belegen. Diese Romane, die nicht selten als ›Dorf- oder Heimatromane‹ klassifiziert werden, beschränken sich jedoch nicht auf das Lokale und Regionale, sondern verweisen ebenso auf globale Strukturen und Zusammenhänge, die wiederum auch in zeitgenössischen Großstadtromanen verhandelt werden. Das Interesse für das Naheliegende in einem buchstäblich lokalen Sinn ragt bis in die Unterhaltungsliteratur und Fernsehlandschaft hinein, was sich an den unzähligen regionalen Kriminalromanen und -serien ablesen lässt. So wurde, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, im März 2020 die Verfilmung von UNTERLEUTEN im ZDF als dreiteiliger Fernsehfilm ausgestrahlt und im ZEIT-Magazin im Februar eine Fortsetzung von Moritz von Uslars DEUTSCHBODEN, »[Ü]ber das Leben in der brandenburgischen Kleinstadt« (ZEIT-Magazin 9/2020: 3), abgedruckt. Literaturkritische Reflexionen wie der HEIMATROMANE. AUF EINMAL HEIMAT betitelte Beitrag von Ursula März (2017) und der DORF-ROMANE. DER SOG DER HEIMAT überschriebene Essay von Iris Radisch (2018), beide in der ZEIT, liefern die entsprechenden Rahmenbeobachtungen zum Dorfliteratur-Hype und befeuern ihn zugleich (vgl. Geisel 2017). Da der Dorfroman trotz seines expliziten Fokus auf das Ländliche gleichermaßen auf ökonomische, soziale, kulturelle und geschichtli-

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che Zusammenhänge verweist, die über die dörflichen Ordnungen hinausgehen, besteht Ursula März zufolge eine auffällige Ähnlichkeit zu aktuellen Großstadtromanen, die oftmals suchende Figuren ins Zentrum stellen, wie es beispielsweise auch im Roman DER TRAURIGE GAST von Matthias Nawrat der Fall ist. In diesem wie in zahlreichen anderen zeitgenössischen Erzählungen und Romanen bildet Berlin den Mittelpunkt der Handlungen. Zugleich unternimmt März jedoch eine eklatante Unterscheidung in Bezug auf die Autor/innen, die einige Probleme aufwirft. Denn sie weist den von ihr apostrophierten Schriftsteller/innen der ›Migrationsliteratur‹ das Sujet des Stadtromans zu, die »biografischen und kulturellen Nomadismus ab[bildeten]« (März 2017); die »deutschen Dorfgemeinschaften, mal fiktiv, mal halb autobiografisch« (ebd.), dagegen sieht sie von in Deutschland geborenen Autor/innen thematisiert.3 Dass diese Zuordnung nicht unproblematisch ist und Klischees hinsichtlich der Autorschaft und der verhandelten Sujets nicht nur bedient, sondern geradezu befördert, spricht dabei nur eine Problematik des zu untersuchenden Themenfeldes an. Die innerhalb der Literaturwissenschaft in den letzten Jahren verstärkt diskutierte Neujustierung des Begriffes Gegenwartsliteratur, mit der weniger biographische als vielmehr textästhetische und thematische Parameter angesprochen werden sollen, lässt sich bspw. in Arbeiten zur aktuellen Jüdischen Literatur und zu transnationalen Erzählformen ablesen. Diese stehen dem von März angewandten, vereinfachten Einordnungsversuch entgegen (vgl. Banki/ Battegay 2019; Berger 2019). Durch den Hinweis auf eine Verwandtschaft der gegenwärtigen Dorf- und Stadtliteratur und insbesondere auf die zentrale Rolle der Dorfromane innerhalb unterschiedlicher Erinnerungsdiskurse versucht Iris Radisch dagegen den Vorwurf eines neuen Konservativismus in der Gegenwartsliteratur zu entkräften. Aber auch innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschungen lässt sich ein reges Interesse an der Dorf/Stadt-Thematik feststellen. Zahlreiche jüngst erschienene Monographien und Sammelbände verweisen auf die vielfältigen Interessenlagen und Untersuchungsschwerpunkte, die mit dem Gegenstandsbereich nicht allein in der deutschsprachigen Literatur einhergehen (u.a.: Ananka/Marszałek 2018, Ehrler/ Weiland 2018, Gerstner/Riedel 2018, Twellmann 2019, Nell/Weiland 2019). Demgegenüber stehen die in den letzten Jahren publizierten Monographien und Sammelbände zur Stadtliteratur, die mit Analysen zu transnationalen Schreibweisen

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Vgl. dazu auch den im Februar 2014 publizierten Artikel von Maxim Biller LETZTE AUSFAHRT UCKERMARK (Biller 2014), in dem er Autor/innen, die oder deren Eltern nach Deutschland emigriert sind, hinsichtlich ihrer zu großen Anpassung an den deutschen Literaturbetrieb kritisiert. Ijoma Mangold reagierte auf diese Polemik mit einer Einsprache, in der nicht die Herkunft der Autor/innen, sondern ästhetische Befragungen der Texte angemahnt werden. (Mangold 2014)

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ebenso verbunden sind wie mit Problematiken der Globalisierung. Die Themenfelder der Stadtromane sind dabei vielschichtig ausgerichtet. Anhand von oftmals kosmopolitisch angelegten Protagonist/innen werden Prozesse der Migration, Befragungen von Diaspora-Existenzen und kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, Krieg und Vertreibung, Genderdiskurse, Fragen sozialer Milieus und Klassenzuordnungen behandelt (vgl. u.a. Peters 2012; Hill/Yildiz 2018; Bischoff/KomfortHein 2019). Daran geknüpft ist nicht selten die Suche nach der eigenen Verortung, erzählt – wie auch in den Dorfgeschichten – über die Rekonstruktion von Familiengeschichten und Erinnerungsprozessen, der auch der Abschied von tradierten Familienmodellen gegenüberstehen kann. Die in den Romanen und Erzählungen geschilderten Suchbewegungen werden quer über den europäischen Kontinent gespannt und reichen oftmals weit über diesen hinaus, z.B. in den jüngsten Romanen von Vladmir Vertlib (SHIMONS SCHWEIGEN, 2012), Abbas Khider (OHRFEIGE, 2016), Olga Grjasnowa (GOTT IST NICHT SCHÜCHTERN, 2017), oder Nino Haratischwili (DIE KATZE UND DER GENERAL, 2018).4 Dabei werden die Untersuchungen der gegenwärtigen Dorf- und Stadtliteratur des Öfteren mit Befragungen des Konzepts und Wortfeldes ›Heimat‹ verbunden, welches sehr unterschiedliche Konnotationen enthält und kritische Auseinandersetzungen um zugewiesene, als feststehend verstandene kulturelle Fixierungen hervorruft, wie der bei der Buchmesse in Leipzig im März 2019 präsentierte Band EURE HEIMAT IST UNSER ALBTRAUM von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah zeigt. In seiner 2017 erschienenen Reportage DEUTSCHLAND AB VOM WEGE. EINE REISE DURCH DAS HINTERLAND geht der ZEIT-Journalist Henning Sußebach gesellschaftspolitischen, sozialen und kulturkritischen Themen im Hinblick auf das »Hinterland« – dem Leben auf dem Lande – nach. Dabei verweist er zum einen auf die immer wieder zitierten Gegensätze zwischen Stadt, nicht selten der Hauptstadt Berlin, und Land – »Stadt- und Landvolk, Gläubige und Ungläubige, Linke und Rechte, Arme und Reiche, Ossis und Wessis, Erzeuger und Konsumenten, Erneuerer und Bewahrer« (Sußebach 2017: 125) –, befragt diese Gegenüberstellungen zum anderen aber differenziert und deutet auf parallele Entwicklungen, gerade im Zusammenhang mit einer »Landkarte der Milieus« (ebd.: 92), hin. So überlegt er, »was heute eigentlich der Zufluchtsort für Romantiker [ist] – das Land oder die Stadt? Wo spielt sich Wesentliches ab und wo Nebensächliches?« (Ebd.: 62) Magdalena Marszałek, Werner Nell und Marc Weiland weisen in ihrer Einleitung

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In den letzten Jahren ist nach den Metropolregionen London, New York oder Paris, die allesamt bereits klassische Topoi der modernen Literatur bilden, eine besondere Aufmerksamkeit für Istanbul zu beobachten, wie u.a. AUßER SICH (2017) von Sasha Marianna Salzmann und ELLBOGEN (2017) von Fatma Aydemir belegen.

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für den Band ÜBER LAND (2018) ebenfalls auf die Verflechtungen von Dorf- und Stadtnarrativen hin: »[I]n den gegenwärtigen Aufnahmen und Fortschreibungen des kulturellen Deutungsmusters der Stadt-Land-Differenz bildet das Urbane nicht etwa nur das konstituierende Gegenstück des Ruralen, auch Dorfromane und Dorfgeschichten können mitunter als konstitutive Bestandteile gegenwärtiger Großstadtnarrative fungieren.« (Marszałek/Nell/Weiland 2018: 21)

Ausgehend von dieser Diagnose und den Beobachtungen Henning Sußebachs, die verdeutlichen, dass der wiederholt konstatierte Kontrast zwischen Stadt und Land für einige gesellschaftliche Bereiche durchaus zu hinterfragen ist, steht die Erörterung regionaler Zuordnungen und die Diskussion von Milieuschilderungen anhand aktueller literarischer Texte noch aus. Folgende Fragen scheinen für dieses Untersuchungsfeld von besonderem Interesse: Bestehen trotz der von der Literaturkritik behaupteten Evokation eines transkulturellen/-nationalen Raumes innerhalb der Stadtliteratur, für die vor allem Namen einer jüngeren Autor/innengeneration, deren Eltern nach Deutschland emigriert sind, und die Stadt Berlin ins Feld geführt werden, Parallelen zur Dorfliteratur? Auf welche Weise werden anhand der städtischen und dörflichen Orte soziale Zuordnungen veranschaulicht? Welche sozialen Schichten werden in den Blick genommen, mit welchen ökonomischen Entwicklungen wird dies verbunden, in welchem Umfeld sind die einzelnen Protagonist/innen situiert? Wie werden sowohl in den Stadt- als auch in den Dorfromanen Fragen individueller Existenzweisen, gesellschaftlicher Verortungen und die Suche nach Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen verhandelt? Beschränkt sich die Darstellung des Land- und Dorflebens, die Flucht bzw. der Rückzug aus dem städtischen Großraum wirklich auf eine Vorstellung von Idylle und die Idealisierung des Ländlichen? Oder weisen beispielsweise die von Alina Herbing und Fatma Aydemir entworfenen Lebenswelten, wie sie sich in den 2017 veröffentlichten Romanen NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN und ELLBOGEN zeigen, trotz ihrer unterschiedlichen Handlungsorte – mecklenburgisches Dorf vs. Berlin/Istanbul – nicht mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze hinsichtlich der beschriebenen Milieus und problematisierten Existenzformen auf? Dieser Fragehorizont soll im Folgenden an zwei konkreten Beispielen konkretisiert werden.

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Z WEI F ALLANALYSEN Die folgenden Textanalysen und -interpretationen setzen bei der Gegenüberstellung von zeitgenössischer Dorf- und Stadtliteratur an und untersuchen anhand von Jan Brandts EIN HAUS AUF DEM LAND / EINE WOHNUNG IN DER STADT und Matthias Nawrats DER TRAURIGE GAST, ob sich die oben angesprochene und argumentativ erst noch einzuholende Ähnlichkeit von Dorf- und Stadtroman – oder allgemeiner: Dorf- und Stadtkonzepten – für die Interpretation der beiden Texte fruchtbar machen lässt. Auf den Vergleich beider Texte aufbauend und auf die aufgeführten Fragen rekurrierend werden zudem zentrale Deutungsmuster in der Gegenwartsliteratur bzw. in der Gegenwart im Hinblick auf Stadt und Land herausgearbeitet. Jan Brandt: Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt Iris Radisch kategorisiert Jan Brandts Buch in ihrer Rezension für die ZEIT als »Immobilienmarktliteratur« (Radisch 2019), womit sie seinen dokumentarischen Charakter herausstreicht und es in die Nähe des preisgekrönten Buches SCHÄFCHEN IM TROCKENEN (2018) von Anke Stelling rückt. Der Rezensent der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erkennt hingegen in der Frage, ob Übersichtlichkeit und Freiheitsanspruch vereinbar seien, und der Sehnsucht nach Heimat die Kernthemen des Textes (vgl. Matzig 2020). Darauf verweisen nicht zuletzt auch die Untertitel der beiden Teile, die gleichermaßen den Entzugscharakter von Heimat ansprechen.5 Auf der Rezensionsplattform literaturkritik.de wird Brandts Buch weder gattungspoetologisch noch thematisch, sondern werkgeschichtlich verortet. Im Gegensatz zu seinem 2011 erschienenen Antiheimatroman GEGEN DIE WELT, in dem die wenig idyllische Geschichte und Gegenwart eines Dorfes mit dem biblischen Namen Jericho beschrieben wird, werden in EIN HAUS AUF DEM LAND / EINE WOHNUNG IN DER STADT die real existierenden Orte Berlin und Ihrhove in Ostfriesland zueinander in Beziehung gesetzt.6 Der Rezensent streicht die chiastische Positionierung der beiden gleichwertigen Teile des Buches heraus, da »am [sic!] Land nach idealen, fast idyllischen Vorstellungen ein abbruchreifes Gebäude in der Imagination Stück für Stück restauriert [werde, während] in Berlin das Verfallene romantisiert« (Huber 2020) werde. Im Stadtteil wird von einer erfolglosen Verteidigung einer Mietwohnung und der schwierigen, letztlich glückenden Suche nach einer neuen, im Dorfteil von dem im Unterschied zur Berliner Wohnungssuche nicht erfolgrei-

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EINE WOHNUNG IN DER STADT ist unterschrieben mit »Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen«, EIN HAUS AUF DEM LAND mit »Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden«.

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Das Dorf Jericho ist allerdings ziemlich exakt der Topographie Ihrhoves nachgebildet.

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chen Versuch, einen ehemaligen Bauernhof zu erwerben, erzählt. Die kontrastive Beschreibung zweier Lebenskonzepte (vgl. Nell/Weiland 2014), dasjenige des Dorfes und der Stadt, wird von einem Erzähler sowie einer der Kapitelnummerierung übergeordneten Ordnung nach Jahreszahlen flankiert, sodass sowohl die Landals auch die Stadtdarstellung als voneinander durchdrungene Perspektiven und ineinander verwobene Lebenswelten kenntlich gemacht werden. Gemäß Marc Redepenning führen die Erfahrungen, dass zwischen Dorf und Stadt empirisch keine Grenze gezogen werden kann, dazu, dass der vermeintliche Verlust einer trennscharfen Unterscheidung mit einer semantischen Kompensation ausgeglichen wird und dabei einen »Wiederaufbau der trennenden Unterscheidung zwischen Stadt und Land« (Redepenning 2019: 324) erzeugt. Diese Bewegung bedient Brandt mit der Zweiteilung seines Buches, unterläuft sie aufgrund der formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten der beiden Teile aber gleichermaßen und regt dazu an, über beide Konzepte und ihre Bezogenheit aufeinander zu reflektieren. Wie in den früheren Büchern des Autors enthalten beide Buchteile nicht nur Text(-material) – einzelne Kapitel wurden vor der Buchpublikation bereits in Zeitungen publiziert –, sondern auch Bilder, genauer Photographien, sowie eine Übersicht der verwendeten Quellen. Sie unterstreichen den Faktualitätsanspruch des Textes, den der Verlag ohne Gattungsbezeichnung veröffentlicht hat. Bilder haben allerdings nicht nur eine dokumentarische oder konservatorische Funktion, sondern können auch Aspekte eines Textes verstärken und eine Kommentarfunktion wahrnehmen; oder aber eine eigene Botschaft oder Geschichte vermitteln, die mit dem Inhalt des Textes konkurriert oder ihn sogar unterwandert. Ein Blick auf die Photographien im Text zeigt, dass sie sich in den beiden Teilen sowohl hinsichtlich ihres Typus als auch ihrer Funktion unterscheiden. Während im Dorfteil Schwarz/WeißPhotographien von Mitgliedern der Familie Brandt sowie Farbphotographien von Gebäuden, insbesondere vom urgroßväterlichen Gulfhof überwiegen, prägen den Stadtteil Farbphotographien mit Slogans, eingerüsteten Gebäuden und dem Fernsehturm. Im Gegensatz zu den Dorfillustrationen sind sie anonymisiert und austauschbar. Erstere sind Zeugnisse vergangener Zeiten, während letztere Spuren der jüngeren (künstlerischen) Gegenwart, insbesondere Schriftzüge auf Wänden, Transparenten und Schildern, zeigen und selbst eine künstlerische Bildkomposition aufweisen. Unter ihnen ist auch ein Bild, das die Kernthemen des Buches visualisiert und pointiert. Es zeigt ein mit »Heimat Berlin« überschriebenes leeres Lokal, in dessen Fenster sich die Neonreklamen der Lokale und Geschäfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite spiegeln (vgl. WS: 210). Altes und Neues sind auf einem Bild vereint, während die photographierende Person trotz des Spiegeleffekts nicht zu sehen ist. Ein ehemaliges Heimat-Konzept wird von einem neuen überblendet, gerade so, wie es der Protagonist in Berlin erlebt, wo die ehemals preiswerten Gebäude zu ertragreichen Spekulationsobjekten wurden. Während der Protagonist in der Stadt den Prozess passiv erlebt und diesem ausgesetzt scheint, will er auf

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dem Land als Handelnder in Erscheinung treten. Der ehemalige Gulfhof, der im Laufe der Zeit verschiedenen Transformationen ausgesetzt war und von nachfolgenden Eigentümern vor allem als Drogerie genutzt wurde, soll zu einem Kulturzentrum umgewidmet werden, damit ein Wahrzeichen des Dorfes und die mit diesem verbundenen Geschichten nicht verschwinden. Diese »Heimat«-Photographie im doppelten Wortsinn vereint folglich zentrale, nachfolgend zu untersuchende Schwerpunkte des Textes: den topographischen Aspekt, die Themen Verlust (der Heimat) und Erinnerung sowie das omnipräsente Macht- bzw. Konkurrenzprinzip. In topographischer Hinsicht sind beide Teile von Brandts Buch auf einen Ort zentriert, von dem ausgehend andere Orte anvisiert werden. In EIN HAUS AUF DEM LAND bildet ein ostfriesisches Dorf und noch spezifischer ein Gulfhof das Zentrum, in EINE WOHNUNG IN DER STADT ein Kiez und insbesondere die Mietwohnung von Klaus Thiel, in der der Protagonist lebt und schreibt. Im Unterschied zu Nawrats DER TRAURIGE GAST, dessen Erzähler in Rezensionen als Flaneur bezeichnet wurde, obwohl er sich auffällig oft in Innenräumen aufhält, handelt es sich bei der Fortbewegung von Brandts Protagonisten in Berlin nicht um ergebnisoffene Spaziergänge durch die Stadt, sondern um jagdartige Bewegungen innerhalb dieser, und um Erkundungsfahrten auf dem Dorf. Beide Soziotope weisen eine begrenzte Anzahl an Figuren auf, was für einen Dorfroman typisch, für einen Stadtroman jedoch eher atypisch ist, und haben einen ausgeprägt symbolischen Charakter. Im Dorfteil wird dies explizit verbalisiert, wenn mit Blick auf ein Geschäft festgehalten wird: »Ein Laden im Laden. Eine Welt in der Welt.« (HL: 49) Dieser Formulierung liegt die in vielen zeitgenössischen Dorfromanen, u.a. auch in GEGEN DIE WELT, verkörperte Idee zugrunde, dass sich im Mikrokosmos, einem Dorf oder hier in der Dorfdrogerie, der Makrokosmos spiegelt und dass man letzteren anhand des Mikrokosmos rekonstruieren kann. Der Drogist Thurau wird folgerichtig als »Weiser aus dem Morgenland« (HL: 49) bezeichnet und als Universalgelehrter charakterisiert, während sich der Erzähler selbst in Anlehnung an den Titel von Werner Herzogs Film als »Fitzcarraldo von Ostfriesland« (HL: 51) bezeichnet und damit eine Nähe zum ›fremd‹ und ›eigen‹ verbindenden Drogisten installiert. Im Text ist die Rede von einer »Aura des Exotischen« (HL: 48), welche die Präsenz des Fernen und Fremden im Eigenen, dem Dorf, evoziert. Dieser Exotik- bzw. Binnenexotik-Diskurs wird zum einen an Abenteuergeschichten, Entwicklungs- und Künstlerromane sowie an Märchen angebunden, so wie es die beiden Untertitel andeuten. Zum anderen referiert er auf traditionelle Dorfgeschichten wie Berthold Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN (1843ff.) oder auch Theodor Fontanes UNTERM BIRNBAUM (1885), in denen ein Fremder zureist, der von den Dorfbewohner/innen zunächst kritisch beäugt und erst nach längerer Zeit, im besten Fall, integriert wird. Im Vergleich zu realweltlichen Dörfern des 21. Jahrhunderts und dem aktuellen Dorfdiskurs, der u.a. auch in Sußebachs DEUTSCHLAND AB VOM WEGE aufscheint, fällt auf, dass es sich bei Brandts Dorf um ein prosperierendes Dorf handelt: »Es gibt

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hier keine Landflucht. Nicht einmal Braindrain.« (HL: 55) Ihrhove ist weder ein ›sterbendes‹ Dorf, d.h. der »Topos des Verschwindens der Dörfer« (Nell/Weiland 2019a: 55) wird – wie später gezeigt wird – nur indirekt bedient, noch ist es ein urbanisiertes Dorf, da beispielsweise keine partizipative Dorfgestaltung durch die Bewohner/innen oder migrationsbedingter Wandel (verstanden als Faktoren einer städtischen Moderne) beschrieben werden. Mit Rückgriff auf seine Lektüre – Didier Eribons RÜCKKEHR NACH REIMES bildet den Leitfaden – nennt es der Protagonist ein »unkreative[s] Dorf« (WS: 47). Während die Überlegungen des Protagonisten zum Gulfhof-Projekt mit einer Idyllisierung des Dorfes einhergehen, vor dem er als Jugendlicher in Richtung Großstadt geflüchtet ist, fallen die ebenfalls vom Protagonisten verantworteten Beschreibungen der dörflichen Topographie und des »Thujaheckeneigenheimkleinbürgerspießertum[s]« (HL: 33) nüchtern-kritisch aus. Mit ähnlichen Stereotypisierungen wird auch im Stadtteil gearbeitet, wenn sich der Protagonist wie ein Verbrecher auf die Fährte von Sascha Thiel, dem Sohn des Vermieters, macht, sich unerlaubterweise Zugang zu Gebäuden verschafft und die Post durchsucht und anschließend während mehrerer Tage in einem Stehcafé auf der Lauer liegt (vgl. WS: 161). Auf diese Weise werden den Leser/innen nicht nur zwei Lebenskonzepte, Dorf und Stadt, sondern auch die den Konzepten jeweils unterliegenden Wahrnehmungsschablonen vorgeführt. Wie bereits anhand der Photographien angesprochen wurde, spielen in beiden Buchteilen, wenn auch unterschiedlich stark, Themen wie Erinnerung, Verlust und Heimat eine zentrale Rolle. Den Dorfteil eröffnet denn auch die Familiengeschichte der Brandts, von denen einige in die USA ausgewandert und teilweise wieder nach Ostfriesland zurückgekehrt sind. Auf diese genealogische Geschichte folgt eine Art von Weltgeschichte, wobei fraglich ist, ob überhaupt noch von ›Geschichte‹ gesprochen werden kann. In der Form einer Animationsszene – der Protagonist legt seine Hand auf die Steine des urgroßväterlichen Gulfhofes (vgl. HL: 70) – wird das Haus zum Sprechen gebracht. Die Auflistung der historischen Daten bzw. Ereignisse zieht sich über dreißig Seiten, bestimmendes Darstellungsprinzip ist die additive Reihung, mit der eine Nivellierung der historischen Daten einhergeht.7 Rückblickend auf seine Geste und Auflistung resümiert der Protagonist pathetisch: »Und die Zeit wurde hier zum Raum. Und ich nahm meine Hand von der Wand.« (HL: 102) Im Unterschied zur Familiengeschichte werden die Daten nicht narrativ verknüpft, sondern lediglich aneinandergereiht (und zum Teil mit wertenden Attributen versehen). Damit versinnbildlichen bzw. vielmehr radikalisieren sie das Prinzip des Materialbuches und stellen Brandts faktenaffine (Ideal-)Poetik aus, die auf den Wunsch eines Freundes zu reagieren scheint, der »gerne mal urbane Geschichten

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Dass dies im Hinblick auf die Verbrechen zurzeit des NS-Regimes äußerst problematisch ist, sei an dieser Stelle angemerkt.

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[…] oder auch welche von der fernen Dorf- und Kleinstadtwelt, witzige, lapidare, nicht romantisch ausformulierte Erzählungen, nicht cool, nicht lässig, sondern still und scharf beobachtend« (WS: 29) lesen würde. Auch der Stadtteil hat eine Tendenz zur Reihenbildung bzw. Wiederholung, wenn Wohnungsbesichtigungen und die damit verbundenen Enttäuschungen einzeln geschildert werden. Sucht man eine Gemeinsamkeit dieser Geschichten, ist es die in den beiden Untertiteln genannte, aber auch im Motto von Edgar Reitz (vgl. WS: 9) erwähnte Heimat, deren Verlust markiert und allenfalls zu kompensieren versucht wird: »Heimat suggeriert das Versprechen einer Gewissheit und Selbstverständlichkeit verlässlicher räumlicher, sozialer und zeitlicher Bindungen, die nicht hinterfragt oder legitimiert werden müssen, weil sie im Rahmen primärer Sozialisationsprozesse entstanden sind und damit gesetzt scheinen.« (Schmoll 2016: 32)

Die Idee ›Heimat‹ scheint in Brandts Buch zugleich Movens und Ziel der narrativen Geschichtsschreibung zu sein. Auf die Frage, worin diese Heimat bestehen könnte, hat Brandts Buch mindestens zwei Vorschläge: aus Gebäuden bzw. Räumen und aus Personen, die sowohl im Text als auch auf den Photographien hervorgehoben werden. Der Protagonist versucht gleich zwei Räume und Gesellschaften zu konservieren bzw. vor dem Verschwinden zu retten: diejenige des Dorfes – die »Erhaltung des Dorfes« (HL: 69) ist Ziel seiner Sondierungs- und Immobilienerwerbsversuche – und diejenige von Stadtvierteln, in denen Künstler/innen bezahlbaren Wohn- und Arbeitsraum finden können (vgl. WS: 206). Das Projekt eines dörflichen Literaturzentrums hätte aber automatisch eine »Urbanisierung des Ruralen« (Redepenning 2019: 319) zur Folge, da sich hier andere Gemeinschaften versammeln würden als die Gruppe von Frauen, der die Mutter des Protagonisten angehört, oder als die Gruppe von Schulkamerad/innen, von denen sich der Protagonist aufgrund seiner (an dieser Stelle nicht romantisierten) Stadterfahrung abzugrenzen versucht. Zudem setzt es auf einer anderen Ebene die Romantisierungstendenzen fort, die sich in den Beschreibungen der Lebens- und insbesondere Wohnsituationen der ehemaligen Mitschüler/innen zeigen (vgl. HL: 148). Eine umgekehrte Bewegung ist in den Gedanken, die ein ideales Leben in der Stadt betreffen, zu erkennen, da hier eine »Ruralisierung des Urbanen« (Redepenning 2019: 320) beobachtet werden kann, wenn über Wohnblock- und Nachbarschaftsallianzen und -initiativen gegen die fortschreitende Gentrifizierung oder über Stadtlokale, die als Treffpunkte für die Bewohner/innen eines Stadtviertels dienen (vgl. WS: 163), nachgedacht wird. Der dritte zentrale Aspekt von Brandts Text sind Gewalterfahrungen, die sich in Veränderungen und Zerstörungen von Lebensumständen und den daraus resultierenden zwischenmenschlichen Umgangsformen manifestieren. Hier stehen zwei gesellschaftliche Bereiche, die von starker Konkurrenz geprägt sind, im Vorder-

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grund: der zeitgenössische Immobilien- und Literaturmarkt. Ersterer wird entsprechend dieser Wahrnehmung auch durch Kriegsvokabular beschrieben: »Ich musste an die Geschichten aus meiner Nachbarschaft denken, an die Investoren, die Immobilienfondgesellschaften, die Kündigungen, die Modernisierungsumlagen, die Mieterhöhungen, die Schikane, die Bürgerinitiativen, die Demonstrationen, die Prozesse […]. Schlagartig wurde mir klar, wo die Front lag: Der Krieg war in meiner Wohnung angekommen.« (WS: 102)

Doch nicht nur hinsichtlich der eigenen Wohnung muss der Protagonist in den Krieg (gegen seinen Vermieter) ziehen, sondern sich auch bei einer Art von Revierkampf auf Wohnungsbesichtigungen durchschlagen, wovon das unmittelbar vor der Photographie der »Heimat Berlin« abgedruckte achtzehnte Kapitel handelt: »Ich wartete wie vor dem Horizontalpaternoster auf den richtigen Moment, warf mich in den Menschenstrom […]. Nach sieben Minuten bekam ich keine Luft mehr und stieg […] im Flur wieder aus.« (WS: 208) Trotz der erkennbar schwierigen Situation drängen weitere Interessent/innen nach, um sich in den Kampf um das rare Gut Mietwohnung zu stürzen. Ähnlich scheint es auf dem Literaturmarkt zuzugehen, wo sich nur marktgängige Literatur durchsetzen kann, sodass Schriftsteller/innen gezwungen sind, solche zu produzieren, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können (vgl. WS: 203). Die insbesondere den Stadtteil des Buches prägende Schilderung der Schriftstellerwerdung des Protagonisten macht die Bedingungen gegenwärtiger Literaturproduktion und -rezeption aus unterschiedlichen Perspektiven sichtbar. Der Stadtteil schließt denn auch wenig hoffnungsvoll wie folgt: »[D]ie Alarmbereitschaft war zum Dauerzustand geworden. […] Berlin war keine Heimat, sondern ein Provisorium geworden, ein Ort des Übergangs« (WS: 227), während es am Ende des Dorfteils und nach dem Scheitern des Gulfhofkaufes lakonisch heißt: »Es war, das begriff ich in dem Moment, überall das Gleiche. Es war die Welt, in der wir lebten.« (HL: 185) Sowohl die Dorf- und Land- als auch die Stadtbeschreibungen geben ausschnitthaft Einblick in eine durchkapitalisierte westliche Gesellschaft, die an ihren eigenen Idealen wie Individualisierung und Optimierung zugrunde zu gehen scheint. Dieses Scheitern in auf den ersten Blick diametral entgegengesetzten Lebensräumen immer wieder aufs Neue offenzulegen und aufzuzeigen, darin besteht der politische Aspekt von Brandts Buch; und in dieser Perspektive erscheinen Stadt und Dorf als zwei lokal unterscheidbare Schauplätze ein und desselben Geschehens.

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Matthias Nawrat: Der traurige Gast In den Rezensionen zu Matthias Nawrats Roman DER TRAURIGE GAST finden sich wiederkehrende Zuschreibungen, die das Buch als »Berlin-Roman« (Moritz 2019) oder »Porträt […] Berlins« (Kijowska 2019) ausweisen. Zum einen wird es als expliziter Stadtroman gelesen. Zum anderen dominieren in den Kritiken die Bestimmungen von thematischen Schwerpunkten, für die Schlagworte wie »Suche nach […] Identität« (Seidler 2019), »Angst und Verunsicherung« (Kijowska 2019), »Tod« (Griguhn 2019), »Entwurzelung und Verlorenheit« (März 2019) verwendet werden. Einigkeit besteht bei den Rezensent/innen der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, der ZEIT und des DEUTSCHLANDFUNK (vgl. Schröder 2019), dass die Erfahrung von Verlusten und Entwurzelung an Migrationsprozesse gebunden seien, die sie vornehmlich den aus Polen emigrierten Protagonist/innen zuordnen, welche sich jedoch ebenso auf den deutschen Studienfreund des namenlosen Ich-Erzählers übertragen ließen. Die von Juliane Liebert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG getroffene Aussage, die beschriebene Stadt Berlin sei »Magnet und ewiger Transitraum« (Liebert 2019), kann daher für alle Figuren, mit denen der Ich-Erzähler in ein längeres Gespräch kommt, gelten. Wiederkehrend ist weiterhin die Engführung der Literaturkritiken auf den Topos der verwundeten Stadt, der sich aus Nawrats Bezug auf den Terroranschlag am Breitscheidplatz im Dezember 2016 ergibt und in der Rezension der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG seine Zuspitzung im gewählten Titel »Berlin zu Zeiten des Terrors« (ebd.) erfährt. Die zeitliche Struktur des Romans, die durch Angaben über die unterschiedlichen Jahreszeiten – von den dunklen Abenden im Winter zu den warmen, langen Tagen des Sommers – markiert wird, erstreckt sich nicht allein, wie einige Kritiken suggerieren, auf das Jahr und besonders den Dezember 2016, sondern auch auf die Jahre 2015 bis 2017. Der Roman setzt sehr genau am »dritten Sonntag im Januar« (TG: 9) 2015 ein und endet im Frühsommer 2017. Wiederholend werden Januartage aller drei Jahre beschrieben (TG: 9, 97, 188), die an unterschiedliche Lebenssituationen des Ich-Erzählers gebunden sind: ausgehend von einer relativen Unbefangenheit und Neugier der Stadt gegenüber im Jahr 2015 über eine genauere Inspektion bestimmter Orte im Jahr 2016 zu einer erneuten und vorsichtigen Annäherung an den engeren und weiteren Stadtraum zu Beginn des Jahres 2017 – resultierend aus der Unsicherheit nach dem Terroranschlag. Demgegenüber steht die formale Gliederung des Buches, bei der das Jahr 2016 durch die Anordnung der drei Teile desselben zentral gesetzt wird. Gerahmt durch den ersten – DIE ARCHITEKTIN – und dritten – DER ARZT – bildet der mittlere Teil, überschrieben mit DIE STADT und hauptsächlich während des Jahres 2016 spielend, das Zentrum. Im Unterschied zum ersten und dritten Teil werden auch hier Begegnungen beschrieben, diese werden aber insgesamt sehr viel kürzer erzählt, weshalb dieser Textteil insgesamt den kürzesten der drei bildet. Die

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Erkundungen des Ich-Erzählers von unterschiedlichen Orten, Plätzen, Vierteln oder Straßen in Berlin, nicht nur mittels des flaneurhaften Spazierens, sondern auch mit dem Fahrrad oder der U- und S-Bahn, sind fragmentarisch und in kurzen Textsequenzen dargelegt. Im ersten und dritten Teil trifft der namenlose Ich-Erzähler, der einige biographische Eckpunkte mit dem Autor Matthias Nawrat gemeinsam hat – den Geburtsort Opole, das Studium der Biologie, die Arbeit als Schriftsteller –, auf die Architektin Dorota Kamszer und den ehemaligen Arzt Dariusz, der nun als Tankstellenmitarbeiter tätig ist. Die Begegnungen mit den beiden ebenfalls aus Polen stammenden Figuren sind mehr oder weniger zufällig. Der Ich-Erzähler wird über mehrere Monate zum Zuhörer der beiden, eine Zuhörerschaft, die nicht immer freiwillig erfolgt – eine mehrfach empfundene »Wut«, ein fortgesetztes »Unbehagen« und regelmäßiger »Ärger« ob des empfundenen Ausgeliefertseins gegenüber den Erzählungen ziehen sich in Form einer Gedankenrede des Ich-Erzählers durch den Text.8 Er scheint primär als ›Gefäß‹ für ihre von Verlusten und Melancholie durchzogenen Lebensgeschichten zu fungieren. Gleichzeitig geht mit diesen Zusammentreffen, insbesondere infolge der sozial- und kulturgeschichtlichen Beschreibungen und Ausführungen der Architektin, ein neuer Blick des IchErzählers auf die Stadt, ihre Gebäude, auf bisher nicht bekannte Orte einher. Der aus den Stadtrundgängen konstatierte Rückbezug auf das Konzept des Flaneurs, welchen Ursula März als zentralen Gesichtspunkt in ihrer Rezension in der ZEIT behandelt (vgl. März 2019), bildet einen von drei thematischen Schwerpunkten – neben der Befragung von Erinnerungen und der Verhandlung von Gewalterfahrungen –, die im Folgenden, analog zu der Analyse von Brandts Text, näher betrachtet werden sollen. Das Unterwegssein des Ich-Erzählers im Stadtraum ist durch die Überschreitung von Grenzen bestimmt, von »unserem Viertel« (TG: 9), 9 das sich im Norden der Stadt befindet, genauer im Bezirk Wedding, auf »die andere Seite der Stadt« (TG: 9),10 in den Süden, womit die alten Westberliner Bezirke (SchönebergTempelhof, Charlottenburg) angesprochen sind. Die Bewegungen durch den großstädtischen Raum folgen dabei nur bedingt einer Zufälligkeit, einem SichTreibenlassen oder einem unbestimmten Schlendern. Eine Ziellosigkeit, ein zufälliges »Durchkämmen[] und Beobachten[] der urbanen Räume« (Düllo 2018³: 124),11

8

Vgl. TG: 55, 83, 97, 104, 109, 110, 179, 236, 241.

9

Vgl. weiterhin TG: 18, 66, 92, 97, 139, 185, 187, 199.

10 Vgl. weiterhin TG: 129, 188, 189, 267. 11 Zu stark erweiterten, differenzierten und nicht durch den männlichen Blick, welchen Ursula März in ihrer Rezension noch zentral setzt, auf die Stadt bestimmten Perspektiven vgl. den 2019 im Verbrecher Verlag erschienenen Band FLEXEN. FLÂNEUSEN* SCHREI-

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welche Thomas Düllo als wesentliche Merkmale der Sozialfigur des Flaneurs anführt, finden sich vor allem im Teil DIE STADT: »An einem Vormittag war ich in Moabit aus der U-Bahn gestiegen, ohne dass ich dort irgendein Ziel gehabt hätte.« (TG: 132) Die Erkundungen beziehen sich auf das engere, eigene Umfeld, auf die Nachbarschaft, die als »Dorf in der Stadt« (Rosol/Vogelpohl 2019: 371, 372) aufscheint, angedeutet durch das mehrmalig verwendete Possessivpronomen »unser«, womit ein gleichzeitiges Bestehen von »Vertrautheit und [eine] ständige Begegnung mit Fremdheit« (ebd.: 372) evoziert wird. Zum anderen wird der Radius auf fremde, weniger frequentierte Stadtteile erweitert, die visuell eingefangen werden und der Befragung der eigenen Verortung des Ich-Erzählers und seines Schreibprozesses dienen. Die fragmentarischen Beobachtungen des Stadtraumes, die Flüchtigkeit kurzer Begegnungen transferiert Nawrat dabei in die Erzählstruktur. Im Gegensatz zu den beiden rahmenden Teilen ist die narrative Struktur sehr viel offener, reflexiv, kreisend, der Tagebuchform12 nachempfunden, die einzelnen Unterkapitel sind kurz gehalten und vermitteln, wie es in der modernen Stadtliteratur häufiger geschieht, »Miniaturen eines Kiezlebens« (Peters 2012: 224). Im ersten und dritten Teil lassen sich ebenfalls wesentliche Charakteristika des auf Walter Benjamin zurückgehenden »flanierenden Denkens« (ebd.: 203) erkennen, welche die Treffen mit der Architektin und dem ehemaligen Arzt kennzeichnen, die sich vornehmlich nicht im städtischen Außen-, sondern im Innenraum abspielen. Für die Beschreibung der Wohnung der Architektin bedient sich der Ich-Erzähler eines Vokabulars, welches dem Stadtraum zugeordnet ist, indem auf das Labyrinth und eine damit verbundene Orientierungslosigkeit rekurriert wird, die die Architektin wiederum nach ihrer Ankunft in Berlin bei dem »ersten selbständigen Spaziergang« (TG: 50) empfunden hat: »Etwas in meinem Gehirn hatte sich verschoben, oder etwas in dieser Stadt: Jede Straße sah plötzlich identisch aus. […] Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, um in die andere Richtung zu schauen, verschob sich in mir die innere Karte der Straßen, alles ordnete sich neu – oder war es die Stadt selbst, die sich umbaute?« (TG: 51f.)

Zugleich gelten ein Großteil der Erzählungen der Architektin dem Thema Stadt selbst, den geschichtlichen Schichtungen, die sich in den Gebäuden der Städte wiederfinden, dem mnemischen Potential, das Häuser, Orte, Plätze oder Straßen besitzen. Durch die Gespräche mit der Architektin schärft sich der von Peters all-

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STÄDTE, herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann

und Lea Sauer. 12 Vgl. dazu den Hinweis in der Rezension von Juliane Liebert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, die auf die Entstehungsstufen des Romans verweist.

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gemein für die Stadtliteratur hervorgehobene »Wahrnehmungsmodus« des IchErzählers für die Stadt, sowohl für deren Künstlichkeit als auch für »Raum und Zeit«, die »erkenntnistheoretisch als untrennbare Phänomene« (Peters 2012: 205) zusammengeführt werden. Benjamins Konzept des »flanierenden Denkens« im Sinne einer Befragung von »Geschichte als kausale Abfolge von Ereignissen in der Vergangenheit« lässt sich durchaus auf die drei Protagonist/innen (Architektin, Arzt und Ich-Erzähler) übertragen, die die von Peters benannte »Gleichzeitigkeit und Komplexität des urbanen Raums« dazu veranlasst, »Widersprüche zusammen[zu]denken« (ebd.: 204). In der erzählerischen Struktur schlägt sich dies in der episodischen Anordnung nieder, in der handlungsoffenen Anlage der Erzählstränge und der assoziativen thematischen Gestaltung. Hinsichtlich der Stilistik des Erzählens bestehen geringe Differenzen zwischen den Redeweisen der Architektin und des Arztes, die bei beiden durch lange Redeanteile, unterschiedlich gelagerte Exkurse, Abschweifungen und vermittelnde Fragen an den Ich-Erzähler gekennzeichnet sind, ein figurenspezifisches Erzählen wird nur bedingt umgesetzt. Die Stadt als Erinnerungsraum, das Aufdecken, Spurenlesen und Sichtbarmachen von geschichtlichen Ereignissen oder vergessenen Biographien, das Heraufbeschwören von persönlichen in der Vergangenheit liegenden Erlebnissen durch kleine Alltagserfahrungen kennzeichnen den gesamten Roman in besonderer Weise. Die repetitiv verwendeten Sätze »war meine Erinnerung wieder da« (TG: 56), »kam meine Erinnerung mit einem Mal zurück« (TG: 62) oder »stieß eine Erinnerung in mir an« (TG: 29) kommen bei Personen, Orten, beobachteten Szenen zum Einsatz, die für den Ich-Erzähler und die Architektin den eigenen Erinnerungsprozess in Gang setzen. Dieser ist für beide sowie für den Arzt Dariusz, bei dem die erinnerungsauslösenden Momente jedoch unbenannt bleiben, an die Kindheit und Jugend sowie die Studienjahre geknüpft und geht insbesondere in Bezug auf die Kindheit bei Dariusz und dem Ich-Erzähler mit nostalgischen Zuschreibungen einher. Neben die prononcierten, idealisierten jahreszeitlichen Beschreibungen – »in dem Winter meiner Erinnerung [gab es] stets Schnee« (TG: 91); »In diesen Erinnerungen ist immer Frühling, die Weidenkätzchen treiben aus den Zweigen, erste Vögel singen.« (TG: 260) – tritt die Sehnsucht nach einer Rückkehr in den unversehrten, als Ruhepol und Einheit apostrophierten heimatlichen Raum der Kindheit, in der keine Krisen zu bestehen schienen und die eine ungetrübte Geborgenheit enthält: »Etwas in mir wollte […] in dieser erinnerten Welt bleiben, die für mich zeitlos war und weiter andauerte […].« (TG: 91) In den Erzählungen der Architektin werden die Städte Stanisławów, Opole – ehemals habsburgische/polnische bzw. deutsche und heute ukrainische/polnische Städte – und Berlin auf ihre geschichtlichen Spuren hin befragt. Mittels ihrer Ausführungen zur heterogenen und wechselnden Bevölkerungsstruktur der ersten beiden Städte, zur deutschen Besatzungspolitik, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg zur einer neuen Zusammensetzung der Einwohner/innen, vor allem aber

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zur Auslöschung des jüdischen Lebens geführt hat, unternimmt Nawrat einen erweiterten historischen Exkurs. Dieser deutet zum einen auf die spezifischen Erfahrungen der polnischen und jüdischen Bevölkerung in den genannten Städten und damit verbundenen Landstrichen hin, verweist aber gleichermaßen durch die Rede der Architektin auf die Vereinnahmungen durch nationale Geschichtsschreibungen, in denen erinnerungsgeschichtliche Bezüge unterschiedlich akzentuiert und verarbeitet werden. Die Präsenz der veränderten kulturellen, politischen und geschichtlichen Landkarte nach 1945 erweist sich im zunehmenden Alter als prägendes Element für die Architektin und als Ausgangspunkt für die Erforschung polnisch-jüdischer Spuren im vergangenen und gegenwärtigen Berlin, insbesondere am Beispiel der Biographie des Schriftstellers Arnold Słucki. Zugleich geht damit ein erweiterter Blick auf Berlin als Ort von Migrationserfahrungen einher, auf eine Stadt, die nicht erst seit dem 20. Jahrhundert Transitraum ist. Mittels der Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven weisen die von den Figuren unternommenen Erörterungen auf die Verflechtungen der verschiedenen Städte als europäische Orte hin. Möchte man die eingeführten drei Protagonist/innen als in unterschiedlichem Sinne »bewegungsfreudige Figuren« (Hausbacher 2019: 191) verstehen – die Architektin Dorota Kamszer, die die geographische Bewegung längst abgeschlossen hat, sich stattdessen aber in ständiger kulturgeschichtlicher Überschreitung befindet; der Arzt Dariusz, der an mehreren europäischen Orten lebte; der Ich-Erzähler, der die Erkundungen im Stadtraum unternimmt –, kann die Wahl dieser Figurenzeichnung als Merkmal eines transnationalen Schreibens gelesen werden. In Rückgriff auf Eva Hausbachers Kriterienkatalog (vgl. ebd.: 193f.) sind es zudem die Verhandlung, Erweiterung und Differenzierung gängiger geschichtlicher, aber auch gesellschaftspolitischer Diskurse, die Nawrats Text zu einem transnationalen werden lassen, da er national konstituierte Festschreibungen ebenso aufbricht wie auch als Widersprüche bestehen lässt, indem er die durch die Protagonisten vermittelten Perspektiven gerade nicht zu vereinheitlichen sucht. Es sind somit nicht allein die im Erinnerungsraum der Stadt Berlin existierenden Widersprüche und Bruchlinien, um eine Aussage der Architektin abzuwandeln (vgl. TG: 86), die das politisch-historische und soziokulturelle Potential des Textes ausmachen, sondern auch die anderen Städte, die den urbanen Raum als ein vielschichtiges, in der Tiefe der historischen Lagerungen und Erfahrungen durchaus den ländlichen Räumen vergleichbares Geflecht ausweisen. Gemeinsam ist den im Roman vorgestellten Lebensgeschichten die Erfahrung von Verlust und Gewalt. Die Konfrontation mit Gewalt betrifft in der Gegenwart den Alltag des Ich-Erzählers und steht im Zentrum des bereits erörterten Mittelstücks DIE STADT. Die Großstadt, das vertraute eigene Berliner Stadtviertel werden nach dem Terroranschlag vom Dezember 2016 für den Protagonisten zum undurchsichtigen Gefahrenraum. Die plötzliche Unsicherheit, die Irritationen, die mit dem Anschlag in den Alltag eindringen, werden seitens des Ich-Erzählers sehr eindrück-

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lich geschildert, der um eine Rückkehr zur ›Normalität‹, zur Vertrautheit der bekannten, aber auch weniger bekannten Orte in der Stadt ringt. Einen sicheren Rückzugsort bietet allein die fast irreal erscheinende »Zwischenwelt in meinem Zimmer« (TG: 184), die eigene Wohnung, welche als »wie im Nichts schwebende Blase« (TG: 183) charakterisiert wird. Trotz des offenen Endes des Romans findet sich am Schluss des Buches eine behutsam formulierte Heimkehr in das Alltagsleben und die Stadt selbst: »Ich dachte an Veronika und an unsere Wohnung in unserem Viertel, ich dachte an die Arbeit an der Tankstelle. Als wir auf den Hauptweg bogen, war vor uns ein Ausgang zu sehen. Wir gingen darauf zu.« (TG: 299) Die andauernde Erfahrung von Trauer und Verlust wird von der Architektin Dorota beschrieben, deren älterer Bruder als Kind an einer Lungenkrankheit starb. Der Protagonist Dariusz, der in den 1980er Jahren aus Lublin nach Bayern emigrierte, verliert seinen erwachsenen Sohn nach einem Unfall in Bolivien und sich selbst zunehmend an den Alkohol. Der in Rumänien aufgewachsene Schauspieler und ehemalige Seefahrer Eli, den der Ich-Erzähler während einer privat organisierten Lesung in Charlottenburg kennenlernt, berichtet ausführlich in der Distanz vermittelnden dritten Person von einer prägenden Gewalterfahrung, welche sich in seinem Körper manifestiert hat: »Die Farbplättchen schnitten ihm ins Fleisch, und er sah, dass ihm schon zwei Nägel aus den Nagelbetten gebrochen waren, dass seine Fingerkuppen bluteten, aber er wollte diese Metallplatte lösen, er wollte an das Innere des Türschlosses herankommen, denn die [freie] Welt war ja gleich hinter dieser Tür, gleich hinter diesen Wänden und über der Decke mit dem Rohr über ihm.« (TG: 174)

Daneben wird von der Architektin und dem Arzt auf die Gewalttaten und die Ermordung der polnischen Juden während des Zweiten Weltkrieges verwiesen, begangen von der Deutschen Wehrmacht und den Einsatzgruppen, unterstützt von »eine[r] Bereitschaft in der zivilen Bevölkerung« (TG: 103). Deren Folgen sind bis in die Gegenwart wahrzunehmen und haben sich in die beteiligten Gesellschaften in Form von Traumata eingeschrieben sowie auch Spuren in den Landschaften hinterlassen: »[U]nd plötzlich fanden wir [Dariusz und seine Frau] uns in einem Landstrich wieder, in dem die alten Frauen, deren Männer im letzten Krieg gefallen oder im nahegelegenen Sobibór zusammen mit Tausenden in dieser Gegend damals lebenden Juden umgebracht worden waren [...].« (TG: 212)

Das Wissen um die Massenerschießungen und die Kriegsverbrechen, das mehrmals von der Architektin formuliert wird und Bestandteil der eigenen Familienerzählung ist – »Sie [die Mutter der Architektin] erzählte, dass ihr toter Vater [der Großvater

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der Architektin] ihr von den jüdischen Lehrern und polnischen Beamten erzählte, die mit ihm im Schwarzen Wald hingerichtet worden waren.« (TG: 80) 13 –, bedingt eine anhaltende Distanz zu ihrem späteren deutschen Ehemann, die aus der unterschiedlichen Perspektive auf die historischen Ereignisse resultiert. Das Fortwirken »historischer Traumata« 14, deren Verhandlung als ein konstitutives Merkmal transnationaler und jüdischer Schreibweisen der Gegenwartsliteratur begriffen wird, geht somit über einzelne nationale Darstellungen hinaus und wird auf einer europäischen, vor allem polnisch-jüdisch-deutschen, Ebene entfaltet. Mit dieser Öffnung werden erinnerungskulturelle Überlagerungen und Problematiken verdeutlicht, die oftmals kaum diskursiv verhandelt werden, ohne dass damit ein »Gründungsmythos europäischer Identität« (Schoor/Schüler-Springorum 2016: 8) einhergeht. Die von Nawrat thematisierten Gewalterfahrungen und dargestellten Erinnerungsprozesse beschränken sich keineswegs, wie am Beispiel von Brandt gezeigt, auf die Stadt, sondern sind vielmehr gleichermaßen in Stadt- und Dorfromanen anzutreffen. Dabei werden jedoch, wie abschließend zusammenfassend gezeigt wird, unterschiedliche Akzentuierungen seitens der Autoren unternommen.

G ESCHICHTE ( N ) ERZÄHLEN Brandts und Nawrats Texte weisen eine ähnliche Erzählanordnung auf: Die Protagonisten, bei Brandt ist die Übereinstimmung zwischen Autor und Erzähler offensichtlicher als bei Nawrat, flanieren weitestgehend durch die Stadt. Bei Brandt wird dies um das vornehmliche »Kurven« durch das Dorf ergänzt. Die Figurenkonstellation ist in beiden Texten überschaubar und steht damit im Gegensatz zu Zehs UNTERLEUTEN, Hansens ALTES LAND oder Haratischwilis DAS ACHTE LEBEN, in denen das Figurenensemble umfassender sowie vielstimmiger angelegt ist. Im Gegensatz zu diesen Romanen ist in den vorliegenden Büchern die Erzählweise nicht plot-orientiert, sondern durch die Wiedergabe von Beobachtungen, Überlegungen, Reflexionen sowie durch ein offenes Ende bestimmt, die einzelnen Kapitel sind zudem durch ein episodisches Erzählen gekennzeichnet. Insbesondere die Struktur der Texte, aber auch der Rückgriff auf bestimmte Thematiken verdeutlichen, dass durchaus Ähnlichkeiten des Erzählens vom Dorf/von der Stadt bei Nawrat und Brandt bestehen. So werden in beiden Teilen von Jan Brandts Buch Produktionsbedingungen von Gegenwartsliteratur in beiden Settings geschildert, u.a. weist der Ich-Erzähler darauf hin, dass er nun marktkompatible Literatur (vgl.

13 Vgl. weiterhin TG: 46, 82. 14 Vgl. Banki/Battegay (2019: 41-47), deren Befund ihrer dritten These sich partiell auf den Roman übertragen lässt.

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WS: 203) herstellen muss, um überleben zu können. Zum anderen möchte er im Haus des Großvaters einen »Hort der Kultur« (HL: 50) errichten, um dieser einen Freiraum zur Verfügung stellen zu können und sie wiederum, wenn auch zeitlich begrenzt, den marktwirtschaftlichen Mechanismen zu entziehen. In Matthias Nawrats Roman geht es ebenfalls um Bedingungen, unter denen Literatur entsteht. Die schwierige Situation eines vorübergehend nicht schreibenden Schriftstellers deutet sich am Beispiel des Ich-Erzählers und seiner Arbeit an einer Tankstelle an. Gemeinsam ist beiden Ich-Erzählern zudem die Erfahrung des überteuerten Wohnungsmarktes in Berlin, die sich bei Brandt als Leitmotiv durch den Text zieht, bei Nawrat nicht nur den namenlosen Erzähler, sondern auch die Architektin betrifft, die seit Jahren eine kämpferische Korrespondenz mit ihrem Vermieter gegen Mieterhöhungen und daran anschließende Gerichtsverfahren führt (vgl. TG: 114, 124). Die Beschreibung wirtschaftlich und sozial prekärer Lebenssituationen unternimmt Nawrat am Beispiel seiner Protagonist/innen, wobei die Unsicherheit der eigenen Existenz besonders beim Tankstellenmitarbeiter Dariusz herausgestellt wird. Mit der Darstellung der unterschiedlichen Milieus, dem angedeuteten Existenzkampf, der sich bei Brandt stärker auf den Ich-Erzähler selbst bezieht, verweisen beide Autoren auf aktuelle gesellschaftliche Umstände, die unterschiedlich deutlich – bei Nawrat eher implizit, bei Brandt expliziter – kritisiert werden. Die Erfahrung prekärer Lebenssituationen ist in beiden Texten letztlich stärker an den Stadtraum gebunden. Der Verlust von Sicherheit, der materiellen in Form des Wohnraumes, des (häuslichen) Arbeitsplatzes, wird auch bei Brandt eher mit der Lebenssituation in der Großstadt verbunden als mit der auf dem Land, da weder Landflucht aus ökonomischen Gründen noch Umbruchssituationen aus einer dörflichen Perspektive durch eine andere Figur geschildert werden. Bei Brandt bedeutet Geschichte erzählen zum einen die eigene Familiengeschichte im ostfriesischen Ihrhove zu schreiben, zum anderen die eigene Entwicklung zum Schriftsteller aufzuzeichnen. Dieser Entwicklungsprozess ist an die Großstadt Berlin gebunden, der Stoff, der von ihm bearbeitet wird, ist aber im Dorf seiner Kindheit angelegt. Für Nawrat dagegen heißt Geschichte erzählen, die Geschichten anderer zu erzählen bzw. diese erzählen zu lassen: In diesem konkreten Fall die Lebensgeschichten der Protagonist/innen Dorota, Dariusz und Eli, die durch den Ort Berlin und die Erfahrung der Migration miteinander verbunden sind. Von beiden Autoren wird das Begriffsfeld Heimat anhand eines begrenzten Raumes (Berlin/polnische Städte und Berlin/Ihrhove) und im Hinblick auf Fragen von Zugehörigkeiten thematisiert. Brandt befragt seine Zugehörigkeit zum dörflichen Herkunftsort u.a. anhand der Lebensentwürfe ehemaliger Schulfreund/innen, die im Gegensatz zu seinem Leben eine »unheimliche Stabilität« (HL: 136) besäßen, keine Brüche und existenzielle Bedrohungen erfahren hätten. In Nawrats Roman verkörpert Heimat einen Erinnerungsraum an die Kindheit/Jugend sowie an Begegnungen, aber auch das Wiedererkennen und Erkunden von Straßen und Plätzen zu unter-

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schiedlichen Zeiten, die Vertrautheit mit Orten sowie die Offenlegung von geschichtlichen Spuren, die sich in diese eingelagert haben. Über Sprachen, kulturelle Bezüge, Gewohnheiten werden Zugehörigkeiten verhandelt, die räumlich ausgedehnt und damit mehrschichtig angelegt sind. Insbesondere bei Brandt verbindet sich die Rückkehr in den Geburtsort mit einer nostalgischen Perspektive und geht so auch in die Schilderung und narrative Konstruktion des Dorfes ein: Die Beschäftigung mit der eigenen Genealogie, das Wiedertreffen von Freunden und Bekannten, die Besichtigung von Häusern und Wohnungen, die ›verschwinden‹, prägt den Blick auf die Gegenwart. Über das Schreiben und Dokumentieren, welches mit einer Schreib-, Geld- und Sinnkrise verbunden ist, soll das Vergangene/Bestehende bewahrt und konserviert werden. Die »Sagen […], Legenden, die von Generation zu Generation weitergegeben und ausgeschmückt werden« (HL: 44), bisher aber nicht aufgeschrieben, sondern allein mündlich tradiert wurden, gilt es festzuhalten. Das Selbstverständnis des Ich-Erzählers als Schriftsteller verbindet sich dabei mit dem selbst erteilten Auftrag einer Familiengeschichtsschreibung. Nawrat hingegen überschreitet die Selbstbezogenheit, indem er das Geschichten erzählen zur Be- und Hinterfragung von Geschichtsschreibungen erweitert. Die von den Protagonisten erzählten Lebensgeschichten sind eingebunden in die europäischen Geschichtsverläufe, denen hier anhand der sich überlagernden polnisch-jüdisch-deutschen Erinnerungsdiskurse nachgegangen wird, die jedoch weder aufgelöst noch zu einer einheitlichen Erzählung gebracht werden. Beiden Büchern ist jedoch gemeinsam, dass sie in Form von Dorf- und Stadtgeschichten und mit Rückgriff auf diese ineinander verwobenen Geschichten einen Gegenwartsbezug herstellen, der im Hinblick auf Produktions- und Rezeptionsbedingungen von sogenannter Gegenwartsliteratur wiederum problematisiert wird. Dorf/Stadt erzählen ist, so könnte im Rückblick auf die beiden Textanalysen resümiert werden, immer auch ein Erzählen über das Erzählen von Dorf/Stadt. Die von beiden Autoren gewählten Erzählverfahren weichen dabei nicht von anderen die Gegenwartsliteratur bestimmenden ab. Sie erweitern indessen das Themenfeld, indem sie die Befragung von Lebenssituationen an die bestehenden ökonomischen Strukturen als Ursache für die einzelnen, bedrohten Lebenswelten und die Möglichkeiten ihrer Aushandlung knüpfen. Ihren Texten ist damit ein dezidiert politischer Aspekt inhärent.

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Im Dorf K ATHARINA H ACKER

Wer früher zum Bahnhof wollte, mußte Gummistiefel anziehen im Winter, der unbefestigte Weg war schlammig, im Dunkeln, wenn es dunkel war, stolperte man leicht, die Gräben, die sich rechts oder links des Wegs ziehen, sammeln das Wasser bei starkem Regen, der ganze Untergrund aber ist sandig oder moorig, das Wasser sammelt sich in den tiefer gelegenen Teilen des Dorfes, einige Wiesen sind leicht überschwemmt, andere trocknen aus, daß im Sommer vorwiegend Sauerampfer und Hahnenfuß stehen, das eine vom Vieh verschmäht, das andere giftig, Ein großes Dorf unterteilt sich nicht weniger streng als die Stadt, diesseits und jenseits der Gleise, um den Anger, Ausbau, Dorfkern und Neubaugebiete, dann die Ausläufer. Wenn ich wieder hierher ziehe, dann nur ins Dorf, sprich an den Dorfanger, sagte eine Freundin. Die Hauptsache, erklärte mir eine alte Dame, ist die Lage. An Gelegenheiten, Leute kennenzulernen, bieten sich: Kinder, Hunde, Konsum, der jetzt Landwarenhaus heißt. Die Kirche käme auch in Frage. Die Freiwillige Feuerwehr. Der Fußballverein. Bevor der Konsum öffnet, wochentags um acht, samstags um halb acht Uhr, stehen schon einige und warten. Auch auf dem Parkplatz der Schule, auf dem das Metzgerei-Auto hält, warten Freitag Nachmittag schon ein paar Leute, sommers wie winters. Das Eisauto, mittwochs und samstags, macht sich durch seine Hupe bemerkt, ein Vierklang, einmal rauf und einmal runter, Gelateria di Fragola, Kugeln und Eisbecher.

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Hier gibt es zwei Gaststätten, Zu den drei Linden und Zur Eisenbahn. Zur Eisenbahn bietet guten und reichlichen Mittagstisch, viele essen da, auch wird das Essen ausgefahren. Im ganzen Dorf, das groß ist, sieht man die kleinen Autos des Sozialdienstes. Was alles erodiert ist: die Hilfsbereitschaft. Wie man sich Geräte teilt (Traktor, Rasenmäher, Motorsense). Die Dorffeste. Keiner tanzt. Nein, das stimmt nicht: aber wenn getanzt wird, bin ich längst schlafen. Daß die Leute Zeit haben und miteinander reden. Vielleicht Warentausch: Eier gegen Kaninchen? Also keiner hat mehr Zeit. Die Kinder sind auch nicht mehr auf der Straße, allenfalls die Jugendlichen, die an der Bushaltestelle sitzen oder auf dem neu eingerichteten Spielplatz hinter der Schule, wo sie Musik hören, schäkern, rauchen, trinken. Es gibt immer ein paar Gestalten. Die rausgefallen sind aus dem erwerbstätigen Leben, aus einer Familie, aus Ordnung und Gesundheit, aus guten Gewohnheiten, aus festen Beschäftigungen. Wobei letzteres nicht stimmt, denn einige haben doch ihre feste Beschäftigung, helfen im Garten, tragen Flaschen zum Laden, sammeln Kräuter oder Löwenzahn und Gras für ihre Hühner oder Kaninchen, gehen lange spazieren. Indem ich versuche herauszufinden, welche Form der Beschreibung angemessen ist, setzte ich mir die Struktur des Ortes zusammen. Chronik, Geschichten, Bilder, ein Mosaik, zerfasertes Gewebe, einzelnde Eindrücke. Entscheidend verändert sich der Eindruck des Dorfs in dem Moment, wo ich jemandes Tod beklage und an den Friedhof denke. Da dacht ick mir, schon achte, geh ich mal gucken, was auf dem Friedhof so los ist. Die Zusammengehörigkeit kann ja auch über das Gefühl von Unzugehörigkeit hergestellt werden: mit denen von hinter den Gleisen habe ich nichts zu tun. Oder: es gibt ja keinen Zusammenhalt mehr im Dorf. Von außen kommend finde ich die Leute verwunderlich. Aus Westdeutschland kommend, mit einem winzigen Dorf im Odenwald vertraut, als städtische Intellektuelle finde ich die Leute erstaunlich.

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Nicht, daß ich mir etwas ausgemalt hätte, und wenn nur etwas Literarisches, nämlich das Personal aus Fontanes STECHLIN. Ich meine, die Überraschung rührt nicht zwischen einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Beobachtung her. Die Beobachterposition lenkt den Blick der Leute auf mich und auf sich selber. Wer zum Bahnhof wollte im Dunkeln, mußte Gummistiefel anziehen und damit rechnen, in Schlaglöchern oder Pfützen zu stolpern. Jetzt sind die Wege gepflastert, grau für die Fußgänger, rot für die Fahrradfahrer, und es gibt eine neue Straßenbeleuchtung. Entscheidend ist, daß man sich etwas erzählen läßt. Noch entscheidender ist, daß man es weitererzählt: ich meinem Mann, er mir. Dann treffen wir die Leute wieder und wissen was. Erstens haben wir es uns gemerkt. Zweitens war es wichtig genug, um darüber zu sprechen. Drittens bewahren wir es auf oder wollen wissen, wie es weitergegangen ist. Erstaunlich heißt, daß wir so etwas nicht kennen, mit so etwas nie gerechnet haben, mit den Lebensläufen, Geschichten, Verhältnissen. Mit der Sprache der Leute, ihrem Witz, ihrer Wortgewandtheit. Und wenn mal der Planet runterscheint, komm’ ich mit meiner Madame, dann machen wir uns nackig und gehen ins Wasser. Ne, sag ich, hat mich höflich gefragt, hat er, da bring ich doch die Biergarnitur rüber, warum nich. Nachts haben die noch die Klopperei gekriegt! Mit ihrem Unglück, ihren Gewohnheiten. Im Garten wurde ein Zelt hingestellt, ein großes, Tische rein, Tischtücher, Geschirr, alles vorbereitet für ein Fest, einen runden Geburtstag, hörten wir, waren aber nicht eingeladen, natürlich nicht, warum auch, fast noch ortsfremd, neu jedenfalls und eh nicht vertraut, auch nicht zur Vertrautheit geeignet, wiewohl zur Freundlichkeit, aber eben nicht zur Vertrautheit oder Vertraulichkeiten. Anderntags sprach mich ein Bekannter an, wo ich gewesen und warum ich nicht gekommen. Wo warst du? Wie? Na, warum warst du nicht bei Sabine? Aber ich war doch gar nicht eingeladen! Na, ich auch nicht. Wie? Wir waren alle nicht eingeladen, keiner war eingeladen. Aber es waren doch bestimmt fünfzig Leute.

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Am 6. hat der X Geburtstag, er feiert in den Drei Linden, da mußt du kommen. Ich bin nicht eingeladen. Ich doch auch nicht. Bei uns lädt man nicht ein, bei uns kommt man! Wir sind nicht aufs Dorf gezogen, aber wir verbringen dort auch nicht nur die Ferien und Wochenenden und machen es uns schön. Wir werkeln nicht das ganze Wochenende herum, da wir so wenig können. Der Hausmeister der Schule mit seinen zwei Ein-Euro-Mitarbeitern stand auf der anderen Seite des Zauns, als ich versuchte, eine Glasscheibe auf vier Pfosten zu wuchten: Dach für die Tomaten. Sie standen interessiert zu dritt nebeneinander, ein großer stattlicher Mann, ein großer, rotgesichtiger Mann mit langen Haaren, ein kleiner, dicker Mann mit Mütze, und guckten, wie sie sich abmühten. Dann riefen sie über den Zaun. Vermutlich haben wir auch die Erwartungen unterlaufen. Städter, Wessis. Wochenendler. Mit Kindern. Ohne großes Auto. Mit einem Hund. Der gut hört und ohne Leine läuft. Manchmal jagt, dann stehen wir am Waldrand und rufen. Mittlerweile haben wir vier Veranstaltungen gemacht, in den leerstehenden Nebengebäuden des Hofs, die allmählich verfallen. Ein Imaginäres Bestiarium im Kleintierstall. Ein großes Fest in der Scheune mit der Berliner Künstlerin Antje Schiffes: Die lange Nacht des Bauernfilms. Einen kleinen Kino-Abend, an dem wir den Film UNTERWEGS MIT JACQUELINE gezeigt haben. Einen Abend für den verstorbenen Disc-Jockey Disco-Otto und den verstorbenen Elektriker Achim Leucht. Auf einem Fuß, wie man im Hebräischen sagt, lautet die Antwort auf die Frage: Warum? – weil Platz ist und weil ich überzeugt bin, daß ich in einem Land, in dem Staatsbürger-Sinn nicht ausgeprägt ist, nicht gut leben kann und nicht gern leben möchte.

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Die größte soziale Ungerechtigkeit besteht in dem fehlenden oder selbstverständlichen Gefühl eigener sozialer Würde. Auch wenn ich gerade de facto machtlos bin oder in bedrängter wirtschaftlicher Situation oder beruflich wenig erfolgreich, fühle ich mich als gleichberechtigter Teil des Gemeinwesens. Aber das Gefühl von Wertlosigkeit ist giftig, daß Gefühl von Machtlosigkeit ist giftig, das Gefühl von Unterlegenheit. In dem Dorf gibt es einige Gewerke, Dachdecker, Glaser, Schreiner, Landwirt, Elektriker, Heizungs-Installateur, Trockenbauer. Die meisten haben eine Arbeit, ein paar haben keine. Ein paar sind Alkoholiker. Ein paar leben von Transfer-Leistungen, wie man so sagt. Ein paar leben auf eine Weise, die mir ganz unklar ist. Eine Freundin erzählte mir, bei der einen Frau habe sie früher Fern gesehen, es gab zwei Fernseher übereinander, einen fürs Bild, einen für den Ton. Es gibt Häuser, die verwahrlost aussehen, die meisten sind sehr gepflegt. Meine erste Begegnung mit der öffentlichen Seite des Dorfes verdanke ich dem vormaligen Pfarrer. Ich entschuldigte mich, daß wir nie in der Kirche auftauchten und begründete es mit meiner Neigung zum Judentum. Das ist gut, antwortete er postwendend, dann übernehmen Sie in unserer Reihe Die Weltreligionen das Judentum. Termin: April. Das Imaginäre Bestiarium kuratierte eine Freundin, die Kunsthistorikerin und Restauratorin ist. Sie sagte mir, ich müsse allen, von denen ich ein Gedicht über ein beliebiges Tier erbitte, ein schönes Blatt gleicher Größe schicken, sie würde die Blätter dann hängen. Es waren Blätter von Kollegen und Freunden wie Marcel Beyer, Joachim Helfer, Birgit Kreipe, Steffen Popp, Aris Fioretos und anderen. Beim nächsten Anlaß wollte ich Leute aus dem Dorf dazu gewinnen: Berliner Bekannte und Grüneberger. Dazu verschickten wir wieder ein schönes Papier, 150 mg, und auf schmalen Streifen, zusammengetackert, ein paar Fragen zum Thema Mut. Die Fragen konnten abgerissen, aufgeklebt, beantwortet, ignoriert werden, mit einem Satz, mit einer Geschichte kommentiert. Am Tag des Festes regnete es. Berlin stand unter Wasser, ein Teil der Straßen war gesperrt gewesen. Während der Veranstaltungen regnete es zwölf Mal, es wurde nicht richtig hell. In der großen Scheune, die auf hundert Quadratmetern eigens einen Holzboden bekommen hatte, saßen etwa sechzig Leute beieinander. Im Halbdunkel konnte man nur schwer erkennen, wer wer war, wer aus der Stadt, wer aus dem Dorf kam, wer Professor, wer Hartz-IV-Empfänger.

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Am Ende gab es, von der Künstlerin Antje Schiffers, die Internationale Schnapsbar. Spenden haben wir nicht viele eingenommen. Man kann sagen, daß die ganze Veranstaltung verpufft ist. Man kann sagen, daß nicht mehr zu erwarten ist. Der große Vorteil meines Berufes ist, daß man sich an Wirkungslosigkeit gewöhnt und daran, nicht beurteilen zu können, was wirksam, was unwirksam. Ein Romanmanuskript kann verworfen werden. Aus einem lapidaren Satz wird ein Roman. Ich singe nicht das Lob der Bescheidenheit. Ich sage nicht, das kleine, unscheinbare Veranstaltungen substantieller sind als große. Der Unterschied zwischen Dorf und Kiez besteht in wiederholten, wiedererzählten, weitergegeben Bildern, Ärgernissen, Kümmernissen, Gewohnheiten. Die Struktur besteht aus den Partikeln Wissen, die geteilt werden, wem gehört welches Haus, wer hat noch Vieh, wo ist jemand gestorben, welcher Hof wird verkauft, wie hießen die Vorvorbesitzer, wie war das letzte Erntefest und die letzte Ernte, warum gibt es ein Dorffest oder kein Dorffest, jedes Jahr veranstaltet der Fußballverein ein Pfingstturnier, und fast alle wissen, wo umliegend die Pflaumen, wo die Mirabellen, wo die Kirsch- und die Apfelbäume stehen, die man abernten kann, daß sie der Allgemeinheit gehören. Die Vertrautheit ist unabdingbar. Was ich tue, tue ich für mich und weil ich es extrapoliere. Nicht, indem ich erwarte, daß andere zugezogene Berliner oder Leute aus dem Dorf plötzlich kleine Veranstaltungen machen. Sondern indem ich hoffe, daß sich das Dorf als Dorf sieht. Das ist es vielleicht, was ich den Leuten voraus habe. Da ich die Einzelheiten noch nicht kenne, sehe ich das Dorf in eins. Da ich nicht dazugehöre, betrachte ich die, die mir begegnen, aus einer gewissen Entfernung. Da ich sie aus einer gewissen Entfernung betrachte, gefallen sie mir. Es gibt keinen Anlaß, irgend etwas zu beurteilen. Was ich von außen als Geschenk mitbringen kann, sind Staunen und Freude. Was ich von außen mitbringen kann, ist, daß ich die Leute besser finde, als sie sich selbst. Aber vor allem gibt der Blick von Außen, daß man sich selber wahrnimmt. Die letzte Veranstaltung war ein Abend für zwei Männer, die in den letzten anderthalb Jahren gestorben sind, der eine mit Anfang sechzig an Krebs, der andere als

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alter Mann. Sie hatten miteinander zu tun, weil der eine, ein Findelkind, in sieben Waisenhäusern aufgewachsen, in der Familie des anderen Aufnahme fand. Disco-Otto kannte ich, weil ihn alle kannten, und er erinnerte mich an Samuel Beckett. Achim Leucht kannte ich, weil wir uns auf der Straße begegneten und er immer grüßte, er grüßte feierlich, mit Freude, er ging mit großer Brille hinter seinem Rollator, immer mit Jackett, er freute sich, eine Frau zu treffen. Ich wünsche Ihnen einen besonders schönen Tag. Seine Art, die Würde zu wahren im hohen Alter und in Hilfsbedürftigkeit, war diese Freude und Freundlichkeit. Er hieß Leucht, was nicht nur lustig war für einen Elektriker, sondern passend für jemanden, der es immer heller werden ließ. Von drei Kindern hatte er zwei verloren. Der Pfarrer erzählte mir, sein letztes sei sein Lieblingswort gewesen: Danke. Es ist nicht so, daß es mich insbesondere überrascht, aber ich staune doch darüber, daß ich hier, auf der Straße, jemanden kennengelernt habe, der für mich ein Vorbild geworden ist. Tun, was man für richtig hält, da man zweifelsohne jedenfalls mit sich selber zusammenleben muß. Tun, was man für richtig hält, weil darin die Imagination einer Lebensmöglichkeit und lebenswerten Welt steckt. In welcher Weise sich das mitteilt, weiß ich nicht, aber ich glaube daran, daß es sich mitteilt. Ob das Leben auf dem Dorf schwerer als im Städtischen ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Viele, mit denen ich spreche, wollten nicht in der Stadt leben oder nicht auf dem Dorf. Im Dorf sieht man den Himmel, die Sonnenuntergänge, die Störche, die Jahreszeiten, und viele sagen, daß sie das nicht missen wollten. Im Dorf gibt es noch einiges von dem Wissen, das in der Stadt beinahe esoterisch wirkt, etwa über Heilkräuter. Ins Dorf ist jemand aus der Stadt gezogen, die Honig macht und Rotöl. Als Gastgeberin in der Stadt mache ich Leute miteinander bekannt, die sich befreunden, zusammen arbeiten, einander unabhängig von mir wieder verabreden. Das ist auf dem Dorf ganz unwichtig: es kennen sich ja alle, und alle besser untereinander, als ich sie kennen werde. Aber, sagen sie manchmal, es war so nett, wieder einmal zusammenzusitzen. Wenn etwas wenig ist, ist das kein Grund, es nicht zu tun.

Imaginationen II

Dorfgeschichten, Globalisierung und gutes Leben auf dem Land Dorf und Welt in der deutschsprachigen Landlebenliteratur von Berthold Auerbach zu Juli Zeh H ENDRIK N OLDE

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In ihrem 2016 erschienen Roman UNTERLEUTEN dient Juli Zeh ein fiktionales Dorf in Brandenburg als zentraler Handlungsort einer vielstimmigen Beschreibung des gegenwärtigen Lebens auf dem Land. Das Verhältnis zwischen dem Mikrokosmos der namensgebenden dörflichen Siedlung und dem Makrokosmos der globalisierten Welt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts wird dabei explizit thematisiert: »Als Soziologe hatte sich Gerhard von Anfang an für die dörflichen Beziehungen interessiert, und drei Jahre waren lang genug, um etwas darüber zu lernen. Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei.« (Zeh 2016: 29)

Die vermeintliche Isolation und Staatsferne des Titeldorfes hallt auch in der medialen Rezeption des Romans nach, indem beispielsweise Ursula März in der Literaturbeilage der ZEIT vom 17. März 2016 erklärt, die innerdiegetische dörfliche Lebenswelt funktioniere »nach autarken, seit Jahrzehnten gültigen Spielregeln der Verbündung und Befeindung« (März 2016: 11). Bemerkenswert ist eine solch eklatante Nichtbeachtung der Außenbezüge des Dörflichen aus zweierlei Hinsicht. Zum

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einen steht sie in einer langen Tradition der Interpretation ländlicher Siedlungen als selbstgenügsame Sphären des weltabgewandten Zusammenlebens. Zum anderen wird sie durch die Romanhandlung selbst in höchstem Maße ad absurdum geführt. Unterleuten erweist sich nämlich keinesfalls als isolierte Parallelwelt an der Peripherie, sondern ist vielmehr zutiefst in komplexe überregionale Zusammenhänge eingebunden. Lokale und globale Einflussfaktoren verschwimmen anhand des zentralen Konflikts um die Errichtung eines von der Europäischen Union subventionierten Windparks zur Förderung regenerativer Energieträger, in dem die ökonomischen Interessen eines spätkapitalistischen Heuschrecken-Investors ebenso von Bedeutung erscheinen wie tief in die DDR-Vergangenheit des Dorfes reichende persönliche Feindschaften. Entscheidend an dieser Gemengelage ist jedoch, dass Auseinandersetzungen niemals auf die dörfliche Binnengesellschaft beschränkt bleiben, sondern immer auch auf externe Referenzgrößen und Diskurse verweisen. Dorf und Welt bedingen sich gegenseitig – sie sind unverkennbar und irreversibel miteinander verflochten. Es ist bezeichnend, dass es sich bei der zitierten Passage um die durch die Erzählinstanz vermittelte Perspektive einer zugezogenen Figur, dem Soziologen Gerhard, handelt, die darüber hinaus als Aussteiger aus dem großstädtischakademischen Establishment eingeführt wird. Zehs Dorfroman stellt »die Blickweisen der teilnehmenden Beobachter in ihren jeweiligen Vorprägungen und Abhängigkeiten aus […], die unter anderem die Wahrnehmung und Deutung des Dorfes beeinflussen« (Weiland 2018: 88). Gerhards Beurteilung Unterleutens als einer staatsfernen, in sich geschlossenen Entität ist emblematisch für eine weit zurückreichende Betrachtungsweise des Landlebens als eskapistisches Idyll innerhalb medialer und wissenschaftlicher Diskurse. Das Etikett der Weltlosigkeit des Dörflichen wird dabei in der Regel vom Standpunkt des städtischen Beobachters an die ländliche Siedlung herangetragen. Die im Zitat beschriebene Auffassung, basierend auf kurzlebigen persönlichen Erfahrungen zu einer allumfassenden Analyse einer Welt im Kleinen gelangen zu können, erinnert an die Methodik der teilnehmenden Beobachtung in den Sozialwissenschaften, denen dörfliche Siedlungen insbesondere in ihrer Entstehungszeit zunächst als beliebte Beispielräume der Feldforschung dienten.1 Auch in der Literaturwissenschaft war hinsichtlich der Dorfliteratur lange Zeit eine Forschungsmeinung vorherrschend, für die exemplarisch ein Artikel Friedrich Sengles mit dem aussagekräftigen Titel WUNSCHBILD LAND UND SCHRECKBILD STADT genannt werden kann, demzufolge es sich bei der literarischen

1

Neumann/Twellmann (2014a: 36): »Dass die klassische Anthropologie kleine und möglichst isoliert lebende Gruppen als Gegenstand der Forschung bevorzugte, ist bekannt. Diese Präferenz ist nicht zuletzt in ihren Methoden begründet: Nur in solchen kleinen Einheiten waren Feldforschung und teilnehmende Beobachtung durchzuführen.«

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Dorfgeschichte in erster Linie um eine »Flucht in die kleine Welt« (Sengle 1963: 624) in der Tradition der Geschichtslosigkeit pastoraler Idyllik handele.2 Im bereits erwähnten ZEIT-Artikel wird betont, es sei Zeh gelungen, »das Genre des Dorfromans auf das Zeit- und Fortschrittsniveau der unmittelbaren Gegenwart zu heben« (März 2016: 11). Diese Aussage ist aus zwei Gründen fragwürdig. Einerseits ist UNTERLEUTEN nur ein Beispiel für eine Vielzahl von deutschsprachigen Romanen, die sich in der jüngsten Vergangenheit dem komplexen Themenfeld des gegenwärtigen Landlebens gewidmet haben.3 Andererseits kann die Dorfgeschichte als Genre der realistischen Erzählliteratur bereits zu ihrer Entstehungszeit im 19. Jahrhundert als Medium der Gegenwartsanalyse betrachtet werden, mit dem Autor/ innen virulente Diskurse des öffentlichen Interesses aufgreifen und reflektiert an diesen teilhaben. Dorfliteratur bietet somit seit den 1840er-Jahren »eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Gesellschaft, einmal unter der Fragestellung, wodurch die Gegenwart beeinflusst wurde, und einmal aus dem Blickwinkel, wie Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft aussehen können und sollen« (Wild 2012: 277). Fragen nach dem guten Leben kommt im Rahmen einer solch gegenwartsbezogenen Prosa mit visionärem Anspruch naturgemäß eine zentrale Rolle zu. Sie sind eng verschränkt mit der Thematisierung tagesaktueller sozialhistorischer Phänomene wie etwa der massenhaften Armutsmigration nach Nordamerika oder dem Kampf um bürgerliche Selbstbestimmung im Angesicht eines restaurativen Staates. Soziopolitische Relevanz erhalten Erzählungen vom ländlichen Raum dabei, indem sie diesen gerade nicht als abgeschieden und isoliert darstellen, sondern in seiner Eingebundenheit in das gesellschaftliche Gesamtleben einer sich globalisierenden Welt präsentieren. Gleichzeitig offenbart sich an dieser Stelle der globale Horizont, vor dem sich die Dorfliteratur seit dem 19. Jahrhundert zunehmend entfaltet, ohne im Widerspruch zur vielfach beobachteten Nähe dorfgeschichtlichen Schreibens zu Diskursen des nation building zu stehen.4 Die nachfolgende Analyse soll verdeutlichen, welche Bedeutsamkeit dem Weltgeschehen auch in den entlegenen Handlungsorten literarischer Dorfgeschichten beigemessen wird und dass sich Entwürfe

2

Vgl. auch: »Das Dorf wird zur Festung gegenüber der historischen Bewegung, in welche die Stadt rettungslos gerissen ist« (Sengle 1963: 624).

3

Für einen detaillierten Überblick dorfgeschichtlichen Erzählens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vgl. Weiland (2018).

4

Zum idealistischen Nationalismus Auerbachs siehe Sandelmann (2012: 15f.): »Bereits Auerbachs Konzept einer Vernunftreligion ist kosmopolitischer Natur […]. Analog haben seine national-patriotischen Überzeugungen in seinen frühen Jahren eine weltbürgerliche Dimension. Für ihn ist die Identifikation mit der Nation Voraussetzung für eine spätere Überwindung des Nationalen, die zu einer Nation der Menschheit führen sollte.«

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des guten Lebens auf dem Land folglich nur unter Berücksichtigung eines dynamischen Austauschs von Dorf und Welt erschließen lassen.

G LOBALISIERUNG UND G UTES L EBEN IN B ERTHOLD A UERBACHS S CHWARZWÄLDER D ORFGESCHICHTEN Zu den zentralsten Texten einer realistischen Dorfprosa, die sich Mitte des 19. Jahrhundert in ganz Europa herausbildet und über mehrere Jahrzehnte beim zeitgenössischen Lesepublikum großer Beliebtheit erfreut,5 gehören Berthold Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN. Im Vorwort zu den ersten zwei Bänden, die im Jahr 1843 erstmals gesammelt veröffentlicht wurden, formuliert der Autor, dessen eigenes Heimatdorf Nordstetten am Neckar explizit als Schauplatz dient, seine quasi-ethnographische Poetologie einer realistischen Gesellschaftsanalyse des gegenwärtigen Lebens auf dem Land. »Ich habe absichtlich nicht in eine geschichtliche Vergangenheit zurückgegriffen, obgleich eine solche freieren Spielraum zu phantastischen Gebilden und zur Anlehnung and große Ereignisse geboten hätte; alle Seiten des jetzigen Bauernlebens sollten hier möglichst Gestalt finden.« (Auerbach 2014: 225)

Interessant ist, dass Auerbach in diesem Zusammenhang auch seinen eigenen Standpunkt als Beobachter und Chronist des Dörflichen in reflektierter Weise thematisiert und diesen Standpunkt zwischen Stadt und Land verortet: »Einer Seits nicht mitten aus dem Bauernleben heraus, anderer Seits nicht vom städtischen Gesichtspunkte befangen, diese Lebensbilder vor Augen zu stellen war mein Bestreben« (ebd.). Literarisches Resultat dieser theoretischen Selbstansprüche ist eine Reihe von Erzählungen, die sich dem Klischee der Geschichts- und Weltlosigkeit idyllischen Landlebens vehement entziehen. Im Gegenteil weist der dörfliche Alltag der SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN deutlich erkennbare Merkmale von Globalisierungsprozessen auf, sofern man hierunter, damit Jürgen Osterhammel und Niels Petersson folgend, auch die zunehmende Einbeziehung abgeschieden

5

So verweist Baur (1978: 19) in seiner Monographie zur Dorfgeschichte angesichts einer Vielzahl an beispielhaften Texten darauf, »daß es in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den bedeutendsten Literaturen Europas zur Ausbildung einer regionalen und sozialen Epik kam, die sich an der Darstellung dörflicher Lebensformen entfaltete« (Hervorhebung im Original). Für eine vergleichende Untersuchung verschiedener nationalliterarischer Spielarten dorfgeschichtlichen Schreibens ab dem 19. Jahrhundert vgl. auch Donovan (2010).

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erscheinender Dorfgemeinschaften in überregionale Geflechte multidimensionalen Zusammenspiels versteht.6 Das von Auerbach beschriebene Nordstetten erscheint von einer Vielzahl an translokalen Grenzgängern und Schwellenfiguren bevölkert. Es ist durch die Präsenz von staatlichen Angestellten wie Landvermessern und von außerhalb bestellten Lehrern in Vorgänge der Vergesellschaftung eingebunden, die zu einschneidenden Veränderungen im Dorfalltag führen. 7 Transkontinentale Armutsmigration, insbesondere nach Nordamerika, stellte eine ebenso anhaltende Quelle des Austauschs mit der Welt dar wie die Einberufung junger Männer in den Militärdienst. Größtenteils jüdische Händler verdeutlichen den Anschluss des Dorfes an weitreichende ökonomische Zirkulation und die stetige An- und Abreise verschiedener mobiler Existenzen, wie Handwerkern auf Wanderschaft oder vorüberziehenden Soldaten, illustrieren die Fluidität der Dorfgemeinschaft, die ihrerseits mit dem »Typus des Rastlosen, des Heimatlosen« (Wild 2012: 268) aus der eigenen Mitte durchaus vertraut ist. Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN sind von einer stetigen »Bewegung im Raum« (ebd.: 267) geprägt. Weggang, Heimkehr und Neuankunft bilden Konstanten der Narration und das »Fremde wird so zum Fortschrittsantrieb und zugleich zum Handlungsmotor« (ebd.: 273). Dass in zahlreichen Dorfgeschichten »Umbruchs- und Schwellensituationen verhandelt« (Neumann/Twellmann 2014a: 41) werden, und es in diesem Zuge zu einer Neusortierung des ländlichen Raums kommt, steht im Widerspruch zur vermeintlichen Statik und ewigen Wiederkehr des zeitlosen Landlebens. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass im Rahmen des Globalisierungsdiskurses in Bezug auf das Verhältnis von Globalität und Lokalität nach wie vor häufig auf Grundlage eines Aktion-ReaktionSchemas argumentiert wird, mit dem zumeist die Vorstellung eines Überschreibens

6

Osterhammel/Petersson (2003: 20): »Ist es unumgänglich, die Welt ›von oben‹ zu sehen? Läßt sie sich nicht auch ›von unten‹ konstruieren? Eine Reihe von Soziologen und Ethnologen haben dies bereits getan, indem sie Netzwerken aufeinander bezogener Interaktionen nachspüren. Selbst scheinbar isolierte dörfliche Gemeinschaften sind, wie sich dabei herausstellte, über kulturell-religiöse Kommunikation, Geldströme oder Heiratsbeziehungen in Interaktionszusammenhänge von großer Reichweite integriert.«

7

So schreibt Auerbach (1846: 408) in FLORIAN UND CRESZENZ: »Man wird sich vielleicht wundern, wie auf einmal ein so vornehmer Mann und so eine betitelte Person, wie ein Geometer ist, im Dorfe eine so entscheidende Rolle spielt; man erinnere sich aber, daß diese Geschichte zur Zeit der Landvermessung vor sich geht: wie dadurch das ganze Land endlich genau abgezirkelt zu Papier gebracht und auch nicht das verborgenste Winkelchen Wald und Feld vergessen wurde, so ward auch aller Orten in das Leben des Volkes ein neues Element geworfen.«

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tradierter lokaler Verhältnisse durch das Einwirken globaler Einflüsse einhergeht.8 Um sich von einer solch dualistischen Konzeption zu lösen, kann es hilfreich sein, sich unter Berücksichtigung des von Roland Robertson in die Sozialwissenschaften eingeführten Terminus Glokalisierung vor Augen zu führen, dass auch originär erscheinende lokale Kulturen stets als Resultate von Prozessen der Produktion und Reproduktion von Lokalität und Partikularität begriffen werden müssen.9 Auerbachs Dorfgeschichten erlauben diesbezüglich eine Verschiebung der Perspektive, durch welche dem ländlichen Raum partizipatorisches Potential im Rahmen sozialgeschichtlichen Fortschritts und damit auch der Auslotung von Vorstellungen des guten Lebens eingeräumt wird. Sie eröffnen die »Möglichkeit, Globalgeschichte als Wahrnehmungsgeschichte zu schreiben« (Neumann/Twellmann 2014a: 42). Eine solche Möglichkeit lässt sich anhand der SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN veranschaulichen. »Dies ist eine ganz absonderliche Geschichte«, heißt es zu Beginn der Erzählung DIE KRIEGSPFEIFE, »die aber doch mit der neueren Weltgeschichte […] ganz genau zusammenhängt« (Auerbach 1846: 39). Daher soll im Folgenden anhand von zwei Textbeispielen verdeutlicht werden, wie dörfliche Partizipation am Weltgeschehen und Vorstellungen vom guten Leben auf dem Land in den SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN Berthold Auerbachs miteinander verschränkt sind.

T RANSATLANTISCHE M IGRATION Die vornehmlich in die USA gerichtete Armutsmigration aus den Staaten des Deutschen Bundes stellt zur Entstehungszeit der Dorfgeschichten-Tradition ein Massenphänomen dar und betrifft insbesondere ländliche Teile der Bevölkerung, die stärker als ihre städtischen Zeitgenossen von ökonomischen Zwängen geplagt wurden. In den 1840er Jahren avanciert die nicht enden wollende Auswanderungswelle zu einem »Brennpunkt medialer Diskussionen« (Hamann 2013: 129), dem sich auch Auerbachs Dorfprosa nicht entziehen kann. Dass es sich bei der transatlantischen Wanderungsbewegung längst nicht mehr um einen außergewöhnlichen Prozess

8

Robertson (1995: 25): »There is an evident tendency to think of globalization in a rather casual way as referring to very large-scale phenomena […]. It is part of the ›mythology of globalization‹ which sees this concept as referring to development that involves the triumph of culturally homogenizing forces over all others.«

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Giulianotti/Robertson (2006: 172): »Glocalization processes have significant implications for consideration of ›the local‹. We assume that local cultures do not simply mark themselves off from each other. Rather, glocalization also includes the construction or the invention of local traditions or forms of particularity« (Hervorhebung im Original).

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handelt, suggeriert zunächst der beiläufige Ton, mit dem die Schicksale von persönlich bekannten Ausgewanderten in nahezu sämtlichen Erzählungen der ersten zwei Bände der SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN Erwähnung finden.10 Dafür, dass die Einbindung in globale Migrationsnetzwerke bereits im von Auerbach beschriebenen Dorfalltag Mitte des 19. Jahrhunderts als Normalität wahrgenommen wird, spricht auch der topische Charakter, den die Rückkehr eines Auswanderers aufgrund ihrer Häufigkeit offenbar darstellt. Am Beginn der Erzählung DER LAUTERBACHER steht die Ankunft des neuen Dorflehrers, der auf der Landstraße 11 erstmals auf Mitglieder der Dorfgemeinschaft trifft. Diese finden für das Eintreffen eines städtisch gekleideten Mannes von ausgesprochener Freundlichkeit schnell eine Erklärung: »sie meinten, das müsse Einer aus dem Dorfe sein, der aus der Fremde heimkehre; er hatte sie ja so durchdringend angeschaut, und doch kannten sie ihn nicht« (Auerbach 1846: 489). Die zunehmende transatlantische Mobilität ist in Auerbachs Dorfgeschichten allgegenwärtig und erfährt ambivalente Bewertungen und Einordnungen. Keinesfalls beschränkt sich ihre Funktion allerdings auf eine Literarisierung von »Risiken der Migration für die Auswanderer selbst, für die Zurückgebliebenen und für die Heimat insgesamt« (Hamann 2013: 130). Vielmehr bietet der kontinuierliche Anschluss des heimatlichen Dorfes an den Sehnsuchtsort Amerika auch eine Folie, vor der sich Vorstellungen eines besseren Lebens entfalten können und in Einzelfällen auch verwirklichen lassen. In der biographischen Erzählung IVO, DER HAJRLE wird das Auswanderungsland Amerika zum Kulminationspunkt einer in konzentrischen Kreisen verlaufenden Entfremdung des Protagonisten vom Dorf seiner Kindheit. Der Bauernsohn Ivo wird bereits im jungen Alter für eine geistliche Laufbahn auserkoren und durchläuft in Anlehnung an die strukturellen Muster des Bildungsromans entsprechende Entwicklungsstufen wie Lateinschule, Kloster und Konvikt. Mit dem Weg durch die Institutionen geistlicher Bildung entfernt sich Ivo nicht nur geographisch sukzessive vom heimatlichen Dorf, sondern erlebt gleichsam eine intellektuelle Entfremdung, die sich aus der Erweiterung der eigenen Welthorizontes ergibt. »So, mit neuem Bewußtsein, mit einem gewissen Bilde der Vollkommenheit in sein elterliches Haus zurückgekehrt, erschien ihm Vieles darin verzerrt und zerrissen, vielleicht ärger, als

10 Siehe bspw. die Erzählung DER TOLPATSCH: »Da kam eines Tages Mutter Marei mit einem Briefe von ihrem Mathes aus Amerika. Er hatte vierhundert Gulden geschickt, damit sich der Aloys einen Acker kaufe, oder wenn er zu ihm wolle, sich mit dem Gelde vom Militär losmache. Der Aloys, der Mathes vom Berg mit seiner Frau und seinen acht Kindern, darunter auch die Mechthilde, wanderten noch diesen Herbst gemeinschaftlich nach Amerika aus.« (Auerbach 1846: 34) 11 Vgl. Wild (2011: 176f.) zur Bedeutung des »Topos der Landstraße, die in das Dorf hinein oder aber aus dem Dorf heraus führt« (Hervorhebung im Original).

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es war« (Auerbach 1846: 288). Diese Ernüchterung ist das direkte Resultat einer Idealisierung der Heimat aus der Ferne durch den von Heimweh geplagten Klosterschüler. Das Gefühl der Zerrissenheit erweist sich jedoch auch als Vorzeichen für tiefgreifende Zweifel an der früh eingeschlagenen Karriere. Vordergründig spielt zunächst die anhaltende Anziehung zu seiner Kindheitsliebe Emmerenz eine Rolle, die in Konflikt mit dem Gebot des Zölibats steht, allerdings bildet diese nur ein Symptom eines allgemeineren und innigen Bedürfnisses nach Weltlichkeit, das sich mit dem Leben eines katholischen Geistlichen im Württemberg des 19. Jahrhunderts nicht vereinbaren lässt. Der Widerstreit von weltlichen und geistlichen Empfindungen zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung und wird zum entscheidenden Faktor von Ivos Glücksstreben. 12 An seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt – die Ausbildung abgebrochen, ohne finanzielle Mittel oder Zukunftsperspektive – erinnert er sich eines alten Liedes: »Han kein Haus und han kein Geld, // Und kein Theil an der Welt« (ebd.: 391). Das im Medium des Volksliedes angedeutete Verlangen Ivos nach einer Partizipation am Weltgeschehen richtet sich auch bewusst in die Ferne. So malt er sich etwa gemeinsam mit seinem Freund Clemens aus, »mit Gefahren zu kämpfen, fremde Länder und Gebiete zu durchstreifen« (ebd.: 300). Die Schulkameraden schwärmen vom »brausenden Weltleben« (ebd.: 331) Franzʼ von Assisi und glorifizieren christliche Missionare in Afrika als »Helden, die mit leerer Hand die Welt erobert und bewältigt« (ebd.). Dabei konkretisiert sich diese freilich eurozentrische Wahrnehmung globaler christlicher Mission als eines performativen Akts der Welterzeugung anhand des Diskurses der transatlantischen Migration, der durch den Brief eines Auswanderers aus Nordstetten an dessen daheimgebliebene Mutter eingeführt wird. Der Brief, der auf den vorlesenden Ivo tiefen Eindruck ausübt, ist voll des Lobes für die bürgerlichen Freiheiten, von denen das Leben in Amerika bestimmt wird, ohne die Schattenseiten der häufig beschwerlichen Migration zu verschweigen. »Viele von unseren Landsleuten sind hier und haben’s ärger als drüben« (ebd.: 273), wird aus der neuen Heimat vermeldet, aber auch von Religionsfreiheit, Volksversammlungen und dem freien Wirtschaften ohne Feudalabgaben ist die Rede.13 Im Mittelpunkt des brieflichen Berichtes steht allerdings die

12 Siehe unter anderem: »Mit aller Macht seines Willens wendete Ivo seine Seele von den Weltgedanken ab und es gelang ihm wiederum sich ganz in die Gottesgelahrtheit zu versenken« (Auerbach 1846: 348) sowie »da wird er mir zu lieb geistlich und sein Herz hangt doch an der Welt, und das ist einʼ schwere Sünd.« (Ebd.: 374f.) 13 So schreibt der Auswanderer: »[…] ich bin ein freier Bürger, […] ich tausch mit keinem König. Mutter! es ist ein prächtig Land das Amerika, schaffen muß man, und das recht tüchtig, aber hernach weiß man auch warum; die Zehnten und Steuern nehmen nicht den

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tabula rasa des Neuaufbaus bäuerlicher Existenz nach der Emigration. »Nun, jetzt ist Alles im Stand, es ist keinʼ Kleinigkeit, wenn man sich so ein Haus bauen und alle Aecker zum erstenmale umzackern muß« (ebd.: 273). Der amerikanische Kontinent wird durch den kolonialen Blick des einwandernden Siedlers zum leeren Raum, der als brachliegendes Versprechen eines guten Lebens lediglich mit harter Arbeit urbar gemacht werden muss. Nicht zuletzt die Ignoranz gegenüber durch diesen Prozess verdrängten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen bildet einen Anknüpfungspunkt für Vergleiche mit Glückssuchern des 21. Jahrhunderts, die den ländlichen Raum häufig als Experimentierfeld für die Verwirklichung ihrer privaten Lebensvisionen begreifen, ohne auf die lokalen Begebenheiten Rücksicht zu nehmen.14 Von besonderem Interesse ist die Absenderzeile des Briefes – er wurde aus »Nordstetten in Amerika am Ohioflusse« (ebd.) verschickt. »Habt ihr nicht schon aufgemerkt, daß ich da oben Nordstetten hingeschrieben hab? Ja, so ist’s und so bleibt’s. Ich habʼ ein Stock nicht weit von meinem Haus hingesteckt, mit einer Tafel, und darauf habʼ ich mit großen Buchstaben hingeschrieben: Nordstetten. Es wird schon kommen, daß noch mehr Leutʼ hier anbauen, und da bleibt der Namʼ; dann bauen wir einʼ Kirch, grad wie daheim […] und meine Aecker, die haben alle Namen von daheim.« (Ebd.: 275; Hervorhebung im Original)

Der emigrierte Nordstetter Bauer schildert einen Prozess der Konstruktion des Lokalen, die sich unter Mitwirkung eines translokalen Einflussfaktors vollzieht – ein klassisches Beispiel für das von Robertson beschriebene Phänomen der Glokalisierung. Die Partikularität der konkret verorteten Siedlung am Ohio mit ihren topographischen Besonderheiten ist gleichsam verschränkt mit einem universalen Schema der Reproduktion von Lokalität, auf das durch die württembergischen

Rahm oben ʼrunter. Ich lebʼ hier auf meinem Hof, da hat mir kein Kaiser und kein König was zu befehlen«. (Auerbach 1846: 280) 14 So verweist Twellmann (2016) in seinem Aufsatz auf die Untersuchungen der Sozialgeographin Julia Rössel (2014), die anhand von qualitativen Interviews die Motivation städtischer Zuzügler in die Uckermark analysiert hat. Dabei ergibt sich diese Motivation ganz explizit aus Vorstellungen des ›guten Lebens‹, die auf den ländlichen Raum projiziert wurden. Twellmann (2016: 75f.) schreibt: »Aus diesen Interviews geht hervor, dass der ländliche Raum von Neuankömmlingen nicht selten als ein leerer Raum wahrgenommen wird: Als hätte er nur darauf gewartet, ihren individuellen Wünschen gemäß umgewandelt zu werden. Das ist ein kolonialer Blick, der jene anderen Leute, die seit langem schon nach eigenen, deutlich anderen Vorstellungen dort leben, zunächst übergeht.«

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Ortsnamen als Marker der globalen Wirkungsweisen transkontinentaler Migration verwiesen wird. Robertson betont die Wichtigkeit, sich von der Vorstellung zu lösen, das Lokale und das Globale stünden in einer oppositionellen Beziehung zueinander. Stattdessen hebt er das Zusammenspiel beider Sphären im Rahmen zunehmender Verdichtung weltweiter Interaktionen hervor.15 Indem das vermeintlich binäre Verhältnis von Lokalität und Globalität transzendiert wird, erhält auch die zunächst paradox erscheinende Stiftung nationaler Einheit in der Emigration, die im Brief des Auswanderers ebenfalls Erwähnung findet, eine Wendung: »Ich hab sonst immer als nur die Württemberger für meine Landsleutʼ gehalten, aber hier heißt man uns alle Deutsche, und wenn jetzt einer aus dem Sachsenland kommt, da ist es mir gradʼ, wie wenn er vom Unterland wär« (ebd.: 274). Die Kleinstaaterei im Deutschen Bund scheint durch den Ausnahmezustand des geteilten Schicksals der Auswanderung überwunden werden zu können. Dass es sich hierbei auch um den Versuch handeln könnte, »›das Deutsche in der Welt‹ als Transposition vertrauter, dörflich-familiärer Gemeinschaften in eben diese als ›fremd‹ empfundene Welt« (Stockinger 2018: 40) zu inszenieren und somit auch »das Unbekannte, Neue, ggf. Bedrohliche und Überfordernde handhabbar zu machen« (ebd.) liegt nahe und steht doch nicht im Widerspruch zum globalen Horizont, der die Dorfprosa des 19. Jahrhunderts neben ihrer Partizipation am Ringen um nationale Einheit gleichsam auszeichnet. Die Reproduktion und Neuerfindung lokaler Traditionen als Mittel der Selbstversicherung im Angesicht als fremd empfundener lokaler Kulturen – zum Beispiel durch die Berufung auf die nationale Identität der eigenen ›Heimat‹ in der Emigration – bildet eben auch einen integralen Bestandteil eines nichtteleologischen Globalisierungsverständnisses,16 in dem vermeintliche ›Sackgassen‹ der globalen Verdichtung gleichsam Berücksichtigung finden wie die wachsende Interkonnektivität an anderer Stelle.17

15 »Much of the talk about globalization has tended to assume that it is a process which overrides locality […]. This interpretation neglects […] the extent to which what is called local is in large degree constructed on a trans- or super-local basis. In other words, much of the promotion of locality is in fact done from above or outside. Much of what is often declared to be local is in fact the local expressed in terms of generalized recipes of locality. Even in cases where there is apparently no concrete recipe at work […] there is still, or so I would claim, a translocal factor at work.« (Robertson 1995: 26) 16 So schreiben Giulianotti/Robertson (2006: 172): »globalization in part features the critical construction and reinvention of local cultures vis-a-vis other cultural entities.« 17 Zur Kritik an der teleologischen Ausrichtung vieler Globalisierungstheorien siehe Cooper (2001: 204f.): »Scholars working within globalization paradigms differ over whether the present should be considered the latest of a series of globalizations, each more inclusive than the last, or a global age distinct from the past […]. Both conceptions share the same

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Für Ivo hat der Brief vor allem daher Bedeutung, weil er außerdem ein alternatives Modell der Geistlichkeit einführt. Über das Leben eines Pfarrers in Amerika wird berichtet: »er hättʼs hier gut, aber im Feld schaffen müßtʼ er auch. « (Auerbach 1846: 275) Die Vorstellung eines Priesterstandes, der neben geistlicher auch körperliche Arbeit verrichtet, entwickelt sich zum Grundpfeiler seiner individuellen Vorstellung eines guten Lebens, die auf einer Ästhetisierung der Landarbeit basiert, welche zum Wirken an der Welt als Gottes Schöpfung und somit zum praktischen Gottesdienst stilisiert wird. »Arbeit! Arbeit! Nur das Thier lebt und arbeitet nicht […]; der Mensch aber greift ein in die ewig schaffende Kraft der Erde, frei mitwirkend in der Thätigkeit des Alls […]. Leben heißt arbeiten. Wohl ist das auch ein Kampf mit den stillen Mächten der Natur, aber ein Kampf des freien Lebens, der Liebe, der die Welt neugestaltet […]. Gib mir, o Herr! einen kleinen Fleck Erde, und ich will ihn siebenfältig umarbeiten […]. Ich will meine schwieligen Hände lobpreisend zu dir erheben, bis du mich hinaufziehst in das Reich deiner Glorie.« (Ebd.: 353f.)

Bemerkenswert an dieser keinesfalls neuartigen Sakralisierung der Landarbeit ist, dass sich diese nicht zwangsläufig auf eine heimatliche Scholle beschränkt, sondern die Erde, verstanden als Schöpfung Gottes, gewissermaßen als globales Aktivitätsfeld begriffen wird. Dass Ivo, der seine Vision des guten Lebens zunächst ebenfalls in Amerika zu verwirklichen gedenkt, letztlich doch im Württembergischen verbleibt, ist dahingehend nicht von Belang. Entscheidend ist im Rahmen der von ihm entworfenen Glücksvorstellung das dynamische Zusammenspiel von globalen Wirkungsweisen und lokaler Präzisierung, aus dem sich ein Anspruch auf Universalität ableiten lässt. Oder, um mit den Worten des ausgewanderten Bauern aus Ohio zu sprechen: »Es ist jetzt eins, Nordstetten hüben oder Nordstetten drüben« (ebd.: 284).

problem: writing history backwards to show how everything led up to it (›protoglobalization‹) or how everything, up to the arrival of the global age itself, deviated from it. In neither version does one watch history unfold over time, producing dead ends as well as pathways leading somewhere, creating conditions and contingencies in which actors made decisions, mobilized other people, and took actions which both opened up and constrained future possibilities.«

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D EMOKRATISCHE T ENDENZ Die demokratische Tendenz von Auerbachs Dorfprosa deutet sich bereits anhand der Beschreibung selbstbestimmten Lebens in Amerika an, das in IVO, DER HAJRLE thematisiert wird. Nicht selten finden sich in den SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN aber auch explizite Angriffe auf den absolutistischen Staat im Europa des frühen 19. Jahrhunderts. So heißt es beispielsweise in der Erzählung DES SCHLOSSBAUERS VEFELE: »ein Bauer, der die Welt kennt verstände oft mehr von der Regierung, als alle Minister und Landvögte« (Auerbach 1846: 84). Hier werden nicht nur die etablierten Machtverhältnisse von Herrscher und Subjekt in Frage gestellt, sondern der Bauernschaft explizit Weltkenntnis zugesprochen, was der tradierten Wahrnehmung einer weltfernen Rückständigkeit des Lebens auf dem Land diametral entgegenläuft. Die gesellschaftspolitische Aufwertung der Landbevölkerung im Angesicht derartiger Klischees – von Bettina Wild als Verleihung poetischer Menschenrechte bezeichnet18 – kann als zentrales Anliegen Auerbachs betrachtet werden, der zur ersten Welle von deutschsprachigen DorfgeschichtenAutoren zählte, die »ohne Ausnahme Liberale verschiedenster Schattierung gewesen sind« (Baur 1978: 40). Beispielhaft hierfür ist die Erzählung BEFEHLERLES, in der konkrete Konflikte zwischen Dorfgemeinschaft und ortsansässigen Regierungsvertretern geschildert werden, während zugleich darauf verwiesen wird, dass die beschriebenen Geschehnisse »von allgemeiner Bedeutung« (Auerbach 1846: 147) seien. Konfliktanlass in BEFEHLERLES ist der Beschluss einer Verordnung durch den Oberamtmann, mithilfe derer in die lokalen Gewohnheitsrechte eingegriffen werden soll. »Seit alten Zeiten ist es nämlich ein Recht und eine Sitte der Schwarzwälder Bauern, bei einem Gang über Feld, d.h. von einem Orte zum anderen, eine kleine Handaxt am linken Arme zu tragen« (ebd.: 147f.). Als Reaktion auf den Gesetzeserlass, der eben jenes auf Gewohnheit und Tradition gestützte lokale Recht negiert, solidarisiert sich die Bauernschaft Nordstettens gegen die fortschreitende Reglementierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auch auf dem Land zunehmend spürbar wird. »Mit eurem Schreiberwesen wisset ihr nichts mehr zu befehlen und ihr kommt ans Verhüten, Vorsorgen und Verhindern, ja Verhindern, ich hättʼ schier gesagt – Zuletzt stellt ihr noch an jeden Baum ein Polizeidiener, damit er kein Händel kriegt mit dem Wind und nicht zu viel trinkt wenn’s regnet.« (Ebd.: 154)

18 »Die frühen Autoren der Dorfgeschichte hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den ländlichen Raum in nunmehr genauer Abbildung der Wirklichkeit für die realistische Prosa zu öffnen und dabei den Bauern ›poetische Menschenrechte‹ zu verleihen.« (Wild 2011: 69)

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Beachtenswert an dieser satirischen Kritik eines als übermäßig bürokratisch empfundenen Verwaltungsapparates ist allerdings, dass sie nicht in die konservative Rückbesinnung auf alte Werte verfällt, die der Streitgegenstand des Brauchtums zunächst suggeriert. Zwar droht der Konflikt für einen kurzen Moment in einen archaischen Gewaltausbruch umzuschlagen, als die Bauern wutentbrannt das schwarze Brett, an dem die Verordnung aushängt, mit ihren Äxten zerhacken und im Anschluss bewaffnet aus dem Dorf ausziehen, um sich vor dem Amt persönlich Gehör zu verschaffen. Am Höhepunkt des Spannungsaufbaus erfährt die Erzählung jedoch eine entscheidende Wende, indem die Dorfbewohner keinesfalls durch Gewaltanwendung für ihre Belange einstehen, sondern sich dezidiert auf den Diskurs des staatlichen Rechtssystems beziehen, über dessen Wirkungsweisen und Direktiven sie ein erstaunliches Fachwissen offenbaren. »Ehe sich der Oberamtmann versah, war die ganze Stube mit Bauern gefüllt, die ihre Aexte am linken Arme trugen. Der Buchmaier trat vor, auf den Schreiber zu, und seine Hand ausstreckend sagte er: ›Schreibet’s auf, Wort für Wort, was ich sagʼ; sie sollen’s bei der Kreisregierung auch wissen.‹« (Ebd.: 153)

Entgegen etablierter Stereotype präsentieren sich die Bauern hier als selbstbestimmte Akteure, die sich ihrer Rechte ebenso sicher sind wie der translokalen Institutionen, durch welche diese garantiert werden. »Wir sind Bürger und Gemeinderäthe; ohne Amtsversammlung, ohne Beistimmung von allen Gemeinderäthen kann man keine solche Verordnung erlassen […]. Ohne Urtel kann man uns nicht einsperren, und dann gibt’s noch einen Ausweg weiter ʼnaus, Reutlingen zu oder Stuttgart, wenn’s sein muß.« (Ebd.: 150f.)

Anhand der Beschreibung des Kampfes der Nordstetter Bauern um ein selbstbestimmtes Leben wird auch die vermeintliche Linearität einer Fortschrittsachse vom Zentrum zur Peripherie dekonstruiert. Während der staatlich bestellte Oberamtmann sich »im Schlafrock mit der langen Pfeife im Munde« (ebd.: 152) als Vertreter des Stillstands entpuppt, geht vom Protest der Landbevölkerung erneuernde Energie aus. Statt sich von den Lebensbedingungen der Moderne abzuwenden, die durch staatliche Eingriffe in das ländliche Gemeinwesen verkörpert werden, partizipieren die Bauern aktiv an diesem Diskurs und machen ihn sich erfolgreich zu Eigen, indem die Verordnung letztlich aufgehoben wird. Eine Abschottung des Dorfes gegen die gesellschaftlichen Realitäten steht niemals zur Debatte – im Gegenteil verbreitet sich von Nordstetten aus eine basisdemokratische Bewegung, die unmittelbare Wirkung auf die außerdörfliche Welt ausübt. »Noch mehrere andere Gemeinden thaten Einsprachen gegen die neue Verordnung; die Sache kam bis vor die Kreisregierung.« (Ebd.: 158) Gutes Leben – so viel sollte deutlich geworden

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sein – bedeutet bei Auerbach immer auch Selbstbestimmung und Partizipation am Weltgeschehen. Im Rahmen der Diegese von BEFEHLERLES wird die dörfliche Siedlung zur gestalterisch bedeutsamen Entität, von der sich Vorstellungen des guten Lebens aus dem ländlichen Raum heraus entwickeln können und auf die Welt zurückwirken.

E RZÄHLBARKEIT

DES LÄNDLICHEN

R AUMS

Michael Neumann und Marcus Twellmann vertreten die Auffassung, dass im dörflichen Milieu aufgewachsene, jedoch vom Standpunkt städtischer Bildung aus schreibende Autoren wie etwa Berthold Auerbach als Fürsprecher des Landlebens auftraten und versuchten, »denjenigen Menschen und Dingen eine Stimme zu geben, die durch eine übergeordnete Verfügungsgewalt in den Fokus von Klassifikationssystemen, Modernisierungsbemühungen und Verwaltungsroutinen geraten sind« (Neumann/Twellman 2014b: 485). Auerbachs Bauernfiguren sind nicht bereit, die Deutungshoheit über Diskurse der Ländlichkeit unwidersprochen urbanen Institutionen zu überlassen. »Wer sagt denn euch, daß wir noch ärger als kleine Kinder sind, und ihre unsere Lehrer und Vormünder?« (Auerbach 1846: 155) fragt beispielsweise der Buchmaier den Amtmann in BEFEHLERLES. Dass die reale Landbevölkerung, die den SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN zum Vorbild diente, gleichsam daran interessiert war, Kontrolle über ihre eigenen Narrative auszuüben, macht das bereits zitierte Vorwort deutlich, in dem auch die Frage nach der Erzählbarkeit des ländlichen Raums durch einen urbanisierten Autoren adressiert wird. »Ich habe ohne Scheu ein bestimmtes Dorf, meinen Geburtsort, genannt. Nach Nachrichten von dort, ist die frühere veröffentliche Erzählung: ›die Kriegspfeife‹, in das Anzeigeblatt: ›Der Schwarzwälder-Bote‹ aufgenommen worden; die Bauern sind nun über mich höchstlichst ergrimmt und sagen: das sei Alles erlogen, und ich hätte sie lächerlich machen wollen.« (Auerbach 2014: 256)

Dass der Protest der Landbevölkerung freilich auch hier durch Auerbach vermittelt und somit durch einen urbanen Buchmarkt medialisiert erscheint, steht auf einem anderen Blatt und verweist auf die grundlegendere Frage nach der Möglichkeit einer Formulierung von Vorstellungen des guten Lebens auf dem Land, die nicht von außen an das ländliche Gemeinwesen herangetragen werden. Die anhaltende Relevanz dieser Problemstellung wird durch das einleitende Zitat aus Juli Zehs UNTERLEUTEN und die mediale Rezeption dieses Romans eindrucksvoll unterstrichen.

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Die Figur des Landarztes im Medienvergleich Von der Novelle bis zum Groschenroman J ONAS N ESSELHAUF »Wer ist es, der das Ungeziefer, die mephitischen Aushaugungen der siechen Armen auf moderndem Strohe, in sporadischen und epidemischen Krankheiten nicht scheuet, sondern gewappnet und dem heiligen und seeligen Vorsatze der Menschheit zu dienen […] der Gefahr Muth und Entschlossenheit entgegensetzet?« OLICARP ZU BORDORF (1819)

Der Landarzt ist eine paradigmatische Figur der Dorf- und Kleinstadtliteratur, schließlich verbindet er das ›einfache‹ Landleben mit dem medizinischen Fortschritt, stellt ein Scharnier zwischen Provinz und Metropole, Tradition und Moderne dar. Da es sich nicht um einen regulären ›Facharzt‹ handelt, sondern seine Expertise wie auch sein Tagesgeschäft eine große Bandbreite von Krankheiten und Gebrechen umfassen, ist er für seine Patienten universeller Ansprechpartner und Vertrauensperson zugleich und eine zentrale Instanz im dörflichen und kleinstädtischen Sozialgefüge. Die ländliche Verortung soll natürlich keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass viele Ärzte, die tatsächlich in Dörfern und Kleinstädten praktizierten, die Medizingeschichte nicht ebenso vorantrieben wie ihre Kollegen in Großstadt und an Universität: Der im ländlichen Kentucky tätige Ephraim McDowell (1771-1830) gilt als Wegbereiter der Ovariektomie, Edward Jenner (1749-1823) entwickelte eine Schutzimpfung gegen Pocken, und selbst Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) oder Robert Koch (1843-1910) arbeiteten zwischenzeitlich in der Provinz. Und auch in anderen Bereichen waren Landärzte kreativ tätig – um die Patienten in umliegenden Dörfern und Kleinstädten schneller erreichen zu können, waren sie in

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die Weiterentwicklung der »Stanhope«-Kutsche oder des britischen »Esculapeus«Autos eingebunden; und so überrascht es wenig, dass mit John Boyd Dunlop (18401921) ausgerechnet eben auch ein Land(tier)arzt den Luftreifen ›erfand‹. In literarischen Texten werden dementsprechend die ständige Bereitschaft des häufig einzigen (und fast ausschließlich männlichen1) Mediziners im Umkreis, die Fähigkeiten des Landarztes zu Improvisationen und schnellen Entscheidungen, seine Menschenkenntnis und geradezu ›seelsorgerische‹ Tätigkeit hervorgehoben und nicht selten idealisiert wie heroisiert. An ihm können Fragen kleinstädtischer Alltags- und Lebensverhältnisse aufgezeigt oder soziale Konflikte und Probleme verhandelt werden – der Landarzt stellt damit eine Sozial- und Reflexionsfigur der Dorf- und Kleinstadtliteratur dar, die in äquivalenter Weise beispielsweise so nicht in Großstadtromanen zu finden ist. Mehr noch: Autoren und Schriftstellerinnen inszenieren den Landarzt (als Vertreter eines aufgeklärten medizinischen Diskurses und neben bzw. in Kontrast zum Pfarrer als religiös-heilsgeschichtlicher und dem Bürgermeister als staatlicher Instanz) seit dem 19. Jahrhundert als zentrales Element und konstantes Bindeglied der ländlichen Gesellschaft.

D ER L ANDARZT

IN

D ORF -

UND

K LEINSTADTLITERATUREN

Das spannende Verhältnis von Landarzt und Literatur beginnt bereits außerhalb des Buchdeckels, schließlich ging eine beträchtliche Anzahl von Schriftstellern dem Arztberuf nach, häufig auch in Dörfern und Kleinstädten. Diese sogenannten »Dichterärzte« haben entweder Medizin studiert (Georg Büchner, Friedrich Schiller) oder dann auch selbst praktiziert (Gottfried Benn, Alfred Döblin, Arthur Schnitzler), und nicht wenige verhandeln dies in ihrem literarischen Werk an der Figur des Landarztes2 – außerhalb der deutschsprachigen Literatur etwa auch bei Anton Tschechow (1860-1904), William Somerset Maugham (1874-1965), William

1

Dieses einseitige Geschlechterrollenbild ist schlicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass Medizin verhältnismäßig lange als ›männliche‹ Profession verstanden wird und Frauen in Deutschland gerade vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur selten zum Medizinstudium zugelassen wurden (vgl. Niemeyer 1996: 293f.).

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Altvater (1930: 85f.) führt lediglich Gustav Stille (1845-1920) als exemplarisches Beispiel für die deutschsprachige Dorfliteratur auf; bei Zimmermann (1975: 180ff.) findet sich darüber hinaus der Versuch einer quantitativen Erhebung.

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Carlos Williams (1883-1963), Michail Bulgakow (1891-1940), Fernando Namora (1919-1989) oder Stanisław Lem (1921-2006).3 Generell aber – und nicht nur in Werken, deren Autoren tatsächlich eine medizinische Ausbildung abgeschlossen haben – lässt sich die Bedeutung des Landarztes innerhalb eines literarischen Textes natürlich am besten an seiner Darstellung und dem Grad der Fokalisierung bemessen: Handelt es sich um eine Rand- oder Hauptfigur, gar um den Protagonisten, die Reflexionsfigur oder sogar den Erzähler? Besonders spannend sind daher Texte, in denen der Landarzt mehr als nur flat character – wie etwa die verschiedenen Landärzte in Leo Tolstois monumentalem Roman KRIEG UND FRIEDEN (1868/69) – bleibt und beispielsweise eine eigene ›Stimme‹ bekommt. So erzählt der namenlose »Doctor« in Hermann Brochs DIE VERZAUBERUNG (1935/52) über seinen von Jahreszeiten, lokalen Bräuchen und nicht zuletzt dem Wetter bestimmten Landalltag in der alpinen Kleinstadt Kuppron sowie – rückblickend in der Mitte des Romans – von seiner Flucht auf das Land nach einer tragisch gescheiterten Liebesbeziehung (vgl. Broch 1976: 187-202). In Franz Kafkas EIN LANDARZT (1917/18) wiederum findet sich die auf eine nächtliche Krankenfahrt verdichtete Ich-Erzählung des namenlosen Arztes, von einer höchst ambivalenten, (alb)traumhaften und stark symbolischen Sprache gekennzeichnet, die den Rezipienten verunsichert und Gewissheiten verschwimmen lässt. Im Gegensatz dazu ist es eine allwissende und den medizinischen Diskurs der Zeit reflektierende Erzählinstanz, die in Sinclair Lewis’ Roman ARROWSMITH (1925) – im folgenden Jahr mit dem (vom Autor dann abgelehnten) Pulitzer-Preis ausgezeichnet – vom Arzt- und Eheleben des Martin Arrowsmith erzählt; bereits in seiner Jugend an Medizin interessiert, wird er Landarzt in einer Kleinstadt in North Dakota und sehnt sich im späteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere in New York nach den ›Freiheiten‹ dieses besonderen Berufes in der Provinz zurück. Trotz der zahlreichen Bearbeitungen liegt in der literaturwissenschaftlichen Forschung allerdings noch keine ausführliche Thematologie vor, von lediglich einzelnen Erwähnungen in Motivlexika abgesehen4; und so soll der folgende kompara-

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Dies zeigt sich auch in einer weiteren und bis heute andauernden Traditionslinie autobiographischer Erinnerungen über die Tätigkeit als Landarzt; diese anekdotenhaften Memoiren, zumeist im Eigenverlag oder in regionalen Kleinverlagen veröffentlichte Titel, finden sich dutzendfach im Verzeichnis der Deutschen Nationalbibliothek, können im Folgenden aber nicht weiter berücksichtigt werden.

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Vgl. Kampel/Thalmann (2013: 225); Schmitt 1952: (375-377) führt 58 deutschsprachige Romane und Erzählungen von 1843 bis 1951 auf, daran anknüpfend nennt Plesske (1997: 394-396) 41 Texte, die zwischen 1945 und 1992 erschienen oder (in drei früheren Fällen) wiederaufgelegt wurden. Diese Sammlungen sind allerdings keineswegs vollständig, so

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tistische Überblick an exemplarisch ausgewählten Texten vom 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert zentrale Erscheinungsformen der literarischen Figur und mit ihr verbundene Aspekte hervorheben.

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ALS

S OZIALFIGUR

Die Rolle eines Landarztes innerhalb der dörflichen oder kleinstädtischen Gesellschaft ist natürlich, wie bereits angedeutet, für das soziale Gefüge nicht zu unterschätzen und daher vielfach in literarischen Texten verarbeitet. Nach einem kurzen Blick auf die in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts zentrale Tradition der Dorfliteratur soll dem Landarzt als Sozialfigur innerhalb des Kleinstadtlebens in drei Beispielen aus verschiedenen Epochen und Nationalliteraturen sowie mit sehr unterschiedlichem Schwerpunkt nachgespürt werden – zunächst in Honoré de Balzacs Roman LE MÉDECIN DE CAMPAGNE (1833), in Michail Bulgakows Erzählsammlung AUFZEICHNUNGEN EINES JUNGEN ARZTES (1925/26) und schließlich in Thomas Bernhards Roman VERSTÖRUNG (1967). Der Landarzt in der Dorfliteratur des 19. Jahrhunderts Das Genre der Dorfliteratur war besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur stark bearbeitet – Schriftsteller wie Berthold Auerbach (1812-1882) oder Hermann Löns (1866-1914), im weitesten Sinne aber auch Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) oder Wilhelm Raabe (1831-1910) beschreiben in Erzählungen und Romanen verschiedenste Facetten des ›einfachen‹ Landlebens. Doch während die charakteristische Thematisierung der Hof- und Dorfgemeinschaft (vgl. Altvater 1930: 16) neben der Figur des Bauern etwa auch Bürgermeister, Pfarrer und Lehrer als Teil der dörflichen Wirklichkeit umfasst (vgl. ebd.: 29), bleibt die Figur des Arztes als weiterer Aspekt des ländlichen Lebensalltags jedoch wenig beachtet und scheint vielmehr hinter die »Bauernmenschen« (ebd.: 14) zurückzutreten, die stattdessen im Vordergrund stehen.5 Zwar tauchen durchaus in der deutschsprachigen Dorfliteratur des 19. Jahrhunderts zahlreiche Landärzte als

sind etwa die später in diesem Aufsatz angesprochenen Texte von Amery, Bernhard, Broch oder Raabe nicht angeführt. 5

Ähnlich definieren beispielsweise auch Baur (1997: 390-392), Charbon (2007: 166), Spies (2009: 137-142) und Wilpert (2001: 185-187) die Gattung der Dorfgeschichte und ihr Figurenpersonal.

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Haupt- oder Nebenfiguren auf – sei es der Landarzt Augustin in Adalbert Stifters DIE MAPPE MEINES URGROßVATERS (1841), Doktor Kumpan in Auerbachs AUF DER HÖHE (1865) oder Dr. Heinrich Weyland in Raabes WUNNIGEL (1887/8) –, doch werden diese andererseits in vielen literaturgeschichtlichen Überblicken und Einführungen in die Dorfliteratur entweder überhaupt nicht als Teil der ›ganzen Dorfgemeinschaft‹ (vgl. Hein 1976: 39) bzw. des ›ländlich-dörflichen Milieus‹ (vgl. Zimmermann 1975: 9) berücksichtigt oder nur als Autor solcher Geschichten hervorgehoben (vgl. ebd.: 180ff.6). Für diese offensichtliche Lücke mag es mehrere Gründe geben; so strebten viele der Autoren offenbar eine gezielte Beschränkung auf das eher bäuerliche Milieu an (vgl. Hein 1976: 54f.), und sicherlich fehlt nicht wenigen Schriftstellern auch das notwendige medizinische Wissen für die literarische Darstellung eines Arztes, während für andere eher drastisch-naturalistische Themen wie Krankheit, Tod oder Probleme der medizinischen Versorgung für die Idealisierung und Verklärung des Dorfalltags schlicht nicht passend erschienen. Der Landarzt und die ›Gesundung‹ der Gesellschaft – Honoré de Balzac: Le Médecin de campagne (1833) Im Mittelpunkt von Honoré de Balzacs (1799-1850) Roman LE MÉDECIN DE CAMPAGNE (1833) steht der aufopferungsvolle Landarzt Benassis, der allerdings dem Rezipienten erst über einen ›Umweg‹ vorgestellt wird: Der in die Dauphiné reisende Veteran Genestas sucht den Arzt auf und erfährt vor der tatsächlichen Begegnung durch verschiedene Bewohner der abgelegenen Kleinstadt von dessen Gemeinnutz. Bereits so entsteht vor dem ersten persönlichen Aufeinandertreffen eine regelrechte heroische Überhöhung des »médecin du canton« (Balzac 2015: 77), wobei der gediente Soldat Genestas dabei als Reflektorfigur für den allwissenden Erzähler fungiert, indem dessen Beobachtungen und Schlussfolgerungen für die Rezipierenden gespiegelt werden und die Informationsvermittlung vor allem durch Gespräche und Fragen erfolgt. In der Folge begleitet Genestas den Landarzt auf verschiedenen Krankenbesuchen – die Bandbreite reicht von Schwangerschaft bis Tod – und erfährt von dessen Wohltaten in der Region: Benassis versteht es nicht nur als seine Aufgabe, die Patienten zu heilen, sondern ebenso »d’élever ce pays« (ebd.: 96) und »d’améliorer un homme« (ebd.: 99). Waren die Bewohner des rückständigen Landstrichs vor

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In dieser quantitativen Analyse des ›Bauernromans‹ verzeichnet Zimmermann sieben Landärzte als Autoren von Dorf- und Bauerngeschichten, während eine andere Auszählung von Bartels immerhin zwölf Schriftsteller mit medizinischem Hintergrund verzeichnet (vgl. Zimmermann 1975: 180f.).

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seiner Ankunft noch ›verkommen‹ – »croupissaient« (ebd.: 95) –, konnte die Region inzwischen durch gezielte und von ihm initiierte und geförderte Maßnahmen zu Bildung und Wohlstand geführt werden. Damit ergibt sich eine gleich doppelte ›Heilkunde‹, auf der Mikroebene (Individuum als Patient) wie auch auf der Makroebene (Dörfer und Kleinstädte der Umgebung). Es handelt sich hierbei um eine im Roman immer wieder hervorgehobene und vom Arzt unterstrichene Analogie zwischen der Gesundheit des Menschen und seiner Umgebung.7 So erinnern die Gespräche zwischen Veteran und Arzt keinesfalls zufällig an die literarische Tradition der Utopie,8 und tatsächlich führt Benassis immer wieder Exkurse zu Gesellschaftsphilosophie und Kulturtheorie, Politik und Religion an, erläutert aber auch seine persönliche Leidensgeschichte: Nach mehreren Schicksalsschlägen hat sich der Arzt – ähnlich wie in Brochs VERZAUBERUNG – aus der Metropole Paris in die südfranzösische Provinz zurückgezogen, wo er nun mönchhaft und spartanisch lebt. Doch gerade durch seine schöpferische Produktivität in der Abgeschiedenheit wird er zum personifizierten Plädoyer für eine ›Genesung‹ des modernen Stadtmenschen auf dem Land, für eine regelrechte éducation rurale. Benassis’ bedingungsloser und uneigennütziger Einsatz für Gemeinwohl und Gesellschaft wirkt im Roman stark moralisierend und idealisierend, in dieser Form aber keinesfalls untypisch für die Literatur des Realismus und Balzacs Schreiben: Denn der Landarzt stellt damit ein exemplarisches Einzelschicksal dar, das sowohl für die Bandbreite des menschlichen Lebens steht wie auch dieses fördert. Im Vorwort zu Balzacs monumentalen Zyklus der COMÉDIE HUMAINE, aus dessen »Scènes de la vie de campagne« dieser Roman stammt, formuliert der Schriftsteller paradigmatisch:

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Diese Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos bzw. der Glaube an solch systemhafte Zusammenhänge ist keinesfalls neu und erinnert an eine seit dem Mittelalter existierende Tradition, die beispielsweise auch in Ambrogio Lorenzettis (ca. 1290-1348) Freskenzyklus der ›Guten und Schlechten Regierung‹ im Palazzo Pubblico von Siena bildkünstlerisch verarbeitet wurde. Gleichzeitig spiegelt dieser Zusammenhang von Außen und Innen auch den medizinischen Diskurs, der (teilweise bis in die Frühe Neuzeit hinein) noch von den spätantiken Schriften des Galen (2. Jhdt. n. Chr.) geprägt ist und Gesundheit als ein ideales Gleichgewicht einzelner Teile und einer perfekten Harmonie des Ganzen versteht.

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Die Informationsvermittlung über einen Dialog zwischen einem ›Unwissenden‹ und einem ›Zeugen‹ erinnert durchaus an die klassischen Utopien wie Thomas Morus’ UTOPIA (1516) oder Tommaso Campanellas LA CITTÀ DEL SOLE (1602).

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»L’immensité d’un plan qui embrasse à la fois l’histoire et la critique de la société, l’analyse de ses maux et la discussion de ses principes, m’autorise, je crois, à donner à mon ouvrage le titre sous lequel il parait aujourd’hui: La Comédie humaine.« (Balzac 1976: 16)9

Aber war es natürlich nicht nur Balzac, der im französischen Realismus den Landarzt in den grand récits verhandelte; vielmehr findet sich diese Sozialfigur auch in anderen Romanen prominent verarbeitet, beispielsweise später in Gustave Flauberts MADAME BOVARY (1856)10, Guy de Maupassant Novelle CONTE DE NOËL (1882) oder Stendhals Roman LAMIEL (1889). Und tatsächlich scheint die Figur des Landarztes in der französischen Literatur ohnehin bis heute eine besondere Stellung einzunehmen – und das vielleicht auch als Gegenpol zum Zentralismus der Metropole Paris als eine regelrechte ›Wiederentdeckung‹ der provinziellen Kleinstadt: So war beispielsweise Martin Wincklers Roman LA MALADIE DE SACHS (1998) ein literarischer Erfolg und wurde kurz darauf von Michel Deville unter dem gleichen Titel verfilmt, während gerade in den vergangenen Jahren Filme wie BIENVENUE À MARLY-GOMONT (2016) von Julien Rambaldi oder MÉDECIN DE CAMPAGNE (2016) von Regisseur Thomas Lilti ein ideales wie idealisiertes Bild vom Landarzt zeichnen.11 Der Landarzt als Entwicklungsgeschichte – Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines jungen Arztes (1925/26) Als der junge Michail Bulgakow (1891-1940) nach seinem Studium die Universität Kiew verlässt und 1916 als Landarzt in den Oblast Smolensk berufen wird, ist er gerade Mitte zwanzig und stark verunsichert. In seiner Sammlung AUFZEICHNUN-

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»Die Unermesslichkeit eines Plans, der sowohl die Geschichte wie auch die Kritik der Gesellschaft, die Analyse ihrer Missstände wie auch die Auseinandersetzung mit ihren Prinzipien umfasst, berechtigt mich, wie ich denke, meinem Werk jenen Titel zu geben, unter dem es heute erscheint: ›Die menschliche Komödie‹.« (Übersetzung J.N.)

10 Hier erscheint der Landarzt, Emmas ›verhasster‹ Ehemann, als einfältig und tölpelhaft und erhält erst in Jean Amérys CHARLES BOVARY, LANDARZT. PORTRÄT EINES EINFACHEN

MANNES (1978) eine eigene ›Stimme‹. In einer ähnlich unglücklichen Ehe

findet sich beispielsweise ebenso der junge, idealistische wie naive Landarzt Tertius Lydgate in George Eliots Roman MIDDLEMARCH (1871/72) wieder. 11 In der ÄRZTE ZEITUNG wurde zwar kritisiert, in MÉDECIN DE CAMPAGNE werde »kein Klischee ausgelassen«, doch erhielt der Film bei der Aufführung vor tatsächlichen Medizinern wohl auch »Applaus und Bravo-Rufe« (Frisch 2016: 32).

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ARZTES (Записки юного врача, 1925/26)12 gesteht der Autor späterer Werke wie HUNDEHERZ (1925) oder DER MEISTER UND MARGARITA (1929/39): GEN EINES JUNGEN

»Und … und die Geburten? Die habe ich ganz vergessen! Regelwidrige Lagen. Was mache ich dann? Na? So was von Leichtsinn! Ich hätte dieses Revier ablehnen müssen. Unbedingt.« (Bulgakow 2009a: 13)

In der Kleinstadt fernab der Metropolen St. Petersburg und Moskau ist Improvisationstalent gefragt, wenn im Operationssaal ohne Strom und elektrisches Licht komplizierte Eingriffe vorgenommen werden oder schon die Fahrt zu abgelegenen Dörfern mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann – Zeit, die viele Patienten nicht mehr haben. Die autodiegetische Erzählung des jungen Landarztes ist schonungslos ehrlich, kreist immer wieder um seine Ängste, Probleme und Schwierigkeiten und läuft damit auf den ersten Blick – auch etwa verglichen mit Michail Scholochows nahezu gleichzeitig erschienenem Romanzyklus DER STILLE DON (1925/40) – dem später als ästhetische Staatsdoktrin ausgegebenen Sozialistischen Realismus entgegen.13 Zwar zeichnen sich Bulgakows Erzählungen keinesfalls durch eine harsche Sozialkritik aus, vielmehr sind vor allem innere Konflikte, Selbstzweifel und schließlich die persönliche Entwicklung des jungen Arztes vorherrschend (vgl. etwa ebd.: 18). Über den Verlauf der verschiedenen Texte hinweg gleicht die Sammlung einem Bildungsroman – »Ich wurde zum Mann« (Bulgakow 2009c: 102) –, und jede bestandene ›Feuertaufe‹ (wie z.B. die erste ärztlich begleitete Geburt und oder der erste durchgeführte Luftröhrenschnitt) lässt ihn zu einem gefragten Landarzt werden, führen aber auch zur Erkenntnis, dass universitäre Diplome und eine gründliche Kenntnis der medizinischen Theorie dann in Realität und Praxis nicht zwangsläufig einen guten Mediziner ausmachen:

12 Die deutschsprachige Ausgabe in der Übersetzung von Thomas Reschke, die hier zugrunde gelegt wird (Bulgakow 2009), umfasst sieben Erzählungen. 13 Ohnehin reicht das literarische Spektrum der Figur des Landarztes in der russischen Literatur von Iwan Turgenjews Erzählung DER KREISARZT (Уездный лекарь, 1848) über das ambivalente Begehren des Mediziners Trifon Iwanytsch zu einer sterbenden Patientin (von einem Rahmenerzähler mit süffisanter Ironie wiedergegeben) bis hin zu Vladimir Sorokins postmoderner Romanparabel DER SCHNEESTURM (Метель, 2010) über den Kampf des Landarztes Platon Iljitsch Garin gegen eine seltsame ›Epidemie‹, die Verstorbene als Wiedergänger auferstehen lässt.

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»Die früher unklaren Stellen [im Lehrbuch ›Döderlein‹] wurden ganz begreiflich, füllten sich gleichsam mit Licht, und hier in der Einöde, im nächtlichen Lampenschein, begriff ich, was das bedeutet – wirkliches Wissen.« (Bulgakow 2009b: 44)

Einen besonderen Raum in Bulgakows fiktionalen Erzählungen nimmt aber nicht zuletzt das ›einfache‹ Leben in der Provinz ein, die Arbeit mit der religiösabergläubischen, aber zutiefst dankbaren ländlichen Gesellschaft, die den ›fremden‹ und ›gebildeten‹ Neuling schon bald akzeptiert. Die stark autobiographisch geprägten wie anekdotisch erzählten Episoden, gut ein Jahrzehnt nach Bulgakows tatsächlicher Tätigkeit als Landarzt niedergeschrieben, eröffnen gleichzeitig aber auch spannende Verknüpfungen zu anderen Werken seines Œuvres, etwa wenn die Figur des Landarztes als Adressat der Krankengeschichte MORPHIUM (1927) erneut auftaucht oder der medizinische Diskurs in HUNDEHERZ auf groteske Weise mit der sowjetischen Propaganda des ›neuen Menschen‹ vermischt wird. Der Landarzt und das Chaos – Thomas Bernhard: Verstörung (1967) In Thomas Bernhards (1931-1989) Roman VERSTÖRUNG (1967) begleitet ein Sohn seinen Vater einen Tag lang zu dessen Patienten in verschiedenen Kleinstädten der Steiermark. Im ersten Teil besuchen die beiden unter anderem eine sterbende Wirtsfrau, die in der Nacht zuvor von einem betrunkenen Gast angegriffen wurde, später einen jüdischen Intellektuellen in Stiwoll, die alte und längst bettlägerige Lehrerin Ebenhöh, einen zurückgezogen lebenden Industriellen und schließlich den Fürsten von Saurau auf der Burg Hochgobernitz. Der zweite Teil ist dann, überschrieben mit »Der Fürst« (Bernhard 2016a: 83), das wirre Selbstgespräch ebenjenes Fürsten, dem Landarzt und Sohn teilnahmslos lauschen und das den Abschluss der Krankenbesuche bildet. Erzählt wird der Roman durch den 21-jährigen namenlosen Sohn14, der als (zumeist stummer15) Beobachter fungiert, teilweise gar als Voyeur oder Lauscher (vgl. ebd.: 52f.); in einem nüchternen Sprachstil schreibt er über kaputte Körper und

14 Informationen wie das Alter (vgl. Bernhard 2016a: 39) oder dessen Studienort Leoben in der Steiermark sind lediglich durch die Gespräche des Vaters zu rekonstruieren. 15 Lediglich an einer Stelle seiner eigenen Erzählung findet sich eine direkte Rede (vgl. ebd.: 42). Seine Selbst-Referenz, »Das Auffallendste an mir sei meine Mitteilungslosigkeit« (ebd.: 74), verweist wiederum auf das paratextuelle Pascal-Epigraph, das dem Roman vorangestellt ist: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.«

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zerstörte Familien: aus Balzacs COMÉDIE HUMAINE wird die Bernhard’sche Tragédie humaine. Die Figuren – und keinesfalls nur die Patienten16 – sind gekennzeichnet von Leid und Schmerz, Krankheit und Wahnsinn; viele haben die Schwelle vom ›eigenständigen Leben‹ zum ›willenlosen Vegetieren‹ längst überschritten und wirken damit so hoffnungslos, als kämen sie direkt aus einem Stück von Samuel Beckett. Die bereits durch den erzählenden Sohn wie das programmatische PascalEpigraph angedeutete Sprachlosigkeit (vier Jahre nach Ingmar Bergmans TYSTNADEN (1963) als ›Schweigen Gottes‹) ist angesichts der hoffnungslosen Krankenfälle wie auch des pessimistischen Naturalismus wohl keinesfalls zufällig. Thomas Bernhards Landarzt hat weder etwas vom heroischen Heilsbringer à la Balzac noch von Bulgakows aufopferungsvoller Naivität – übrig bleibt ein resignierender Mann, der sich als »Opfer einer durch und durch kranken, zur Gewalttätigkeit sowie zum Irrsinn neigenden Bevölkerung« (ebd.: 7f.) sieht. Denn vielmehr scheint in der ländlichen Steiermark immer wieder das Chaos vorherrschend – ebenjenes Chaos, das Bernhard nur wenige Monate nach Veröffentlichung des Romans bei der Dankesrede zum Österreichischen Staatspreis skandalträchtig auf die Österreicher übertrug: »Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir sind auch nichts und wir verdienen nichts als das Chaos.« (Bernhard 2016b: 122) Und so sind die Kranken- nur noch Pflichtbesuche, und der Landarzt kann längst niemanden mehr retten. Die Kraft der Medizin versagt ebenso bei der schwer verletzten Wirtsfrau wie den wahnsinnigen Einsiedlern, die in trostloser Einsamkeit, dem (wie fast immer in Bernhards Texten) schlechten Wetter und der unwirklichen Landschaft zurückbleiben, was Peter Handke zu der Bemerkung hinriss, »alle lebenden Wesen [des Romans] schienen vollkommen ihrem Nervensystem unterworfen« (Handke 1970: 100). Aber vielleicht ermöglichen gerade diese »brutale ländliche Welt« und ihr gnadenloses »Panoptikum verschiedener Krankheitszustände und Existenzweisen« (Bellettini 2003: 124) wie in wohl sonst keinem anderen Landarzt-Roman überhaupt erst schonungslose Reflexionen über Leben, Krankheit und Tod. Und so ist es letztlich doch der Landarzt, der im Chaos einen nihilistischen Sinn zu finden hofft: »Jeder ist völlig für sich, obwohl wir aufs engste zusammen sind. Das ganze Leben sei nichts als ein inständiger Versuch, zusammenzukommen.« (Bernhard 2016a: 41)

16 Denn auch die Familie des Landarztes scheint längst nicht mehr intakt – wirkt der Besuch des Studierenden wie eine zeitlich begrenzte ›Rückkehr des verlorenen Sohnes‹, ist die in ihre Gedankenwelt geflüchtete, stark depressive Tochter für den Vater tatsächlich unerreichbar ›verloren‹, die Ehefrau/Mutter längst verstorben.

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S CHABLONE ?

Die Rolle eines Landarztes innerhalb der dörflichen oder kleinstädtischen Gesellschaft ist, das zeigen nicht zuletzt die vielfältigen Klagen über den Ärztemangel in ländlichen Räumen, natürlich nicht zu unterschätzen, und auch die literarischen Beispiele zuvor haben sein Potential einer Sozialfigur bereits unterstrichen. Dabei lädt diese Figur immer wieder zu einem Nachdenken über das provinzielle Leben und den medizinischen Fortschritt ein, läuft allerdings auch Gefahr, seine tägliche Arbeit am Patienten wie auch den Landalltag allgemein zu verklären oder idealisieren. Gerade in der ›Unterhaltungsliteratur‹ und in populären Formaten wie dem Heftroman (›Groschenroman‹) oder der Fernsehserie findet sich der Figurentypus des Landarztes vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unzähligen Variationen verarbeitet. Dies mag von einer ›Sehnsucht‹ nach Kleinstadtidylle und imaginierter ›Landlust‹ zeugen, doch stellt sich hierbei allerdings zwangsläufig die Frage, ob der Figur des Landarztes dann noch eine konkrete Funktion innerhalb des jeweiligen Werks zukommt, oder diese zu einer bloßen ›Schablone‹ verkommt. Dieser Fragestellung soll in drei unterschiedlichen Medien nachgegangen werden – zunächst dem Landarzt als Ermittler in Kriminalromanen von Agatha Christie und Georges Simenon, danach am Beispiel der Darstellung des Landarztes in Fernsehserien und schließlich in ›trivialen‹ Heftromanen. Der Landarzt im Kriminalroman – Agatha Christie: The Murder of Roger Ackroyd (1926) und Georges Simenon: Le Petit Docteur (1943) In den literarischen Beispielen zuvor wurde der Landarzt bereits als ›Menschenkenner‹ und ›Seelsorger‹ mit analytischen Fähigkeiten und Improvisationstalent charakterisiert, sodass zwangsläufig eine gewisse Nähe zwischen Arztberuf und logischem Denken zu vermuten ist und eine Verknüpfung zur Kriminalliteratur als folgerichtig einleuchten mag. Bereits die genrebegründenden Meisterdetektive Dupin und Sherlock Holmes 17 orientieren sich in ihrer deduktiven Vorgehensweise am medizinischen Diskurs ihrer Zeit, sodass es zunächst kaum überrascht, wenn in Agatha Christies (1890-1976) Kriminalroman THE MURDER OF ROGER ACKROYD, erschienen 1926, ein Landarzt als ›Ermittler‹ und homodiegetischer Erzähler fungiert: Innerhalb kurzer Zeit sterben in der englischen Kleinstadt King’s Abbot die wohlhabende Witwe Mrs.

17 In Edgar Allan Poes Short Story THE MURDERS IN THE RUE MORGUE (1841) bzw. Arthur Conan Doyles Erzählungen und Romanen (1887-1927).

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Ferrars und der Landadlige Roger Ackroyd. Der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot, der sich in dieser Gegend eigentlich zur Ruhe setzen und Gemüse züchten wollte, nimmt die Ermittlungen auf, detailliert erzählt durch seinen Gehilfen, den örtlichen Landarzt James Sheppard. Dabei fungiert die sozial heterogene Gruppe der Kleinstadtbewohner als genretypischer Mikrokosmos potentieller Täter, und schnell geht Poirot einer Reihe von möglichen Motiven und Verdächtigen nach, doch bleibt am Ende lediglich eine Person übrig – der Landarzt! Damit nimmt der Roman eine doppelt überraschende Wende, wird doch nun ausgerechnet Sheppard, erstens, als ein angesehener Landarzt innerhalb der Diegese wie auch, zweitens, als Erzähler und narrative Instanz des Textes als Mörder entlarvt; dies stellt innerhalb der Tradition des Kriminalromans einen Tabubruch und gar einen regelrechten »Frevel« (Egloff 1974: 26 und 69) dar und lässt die gesamte Erzählung dadurch im Rückblick natürlich unzuverlässig erscheinen.18 Wenige Jahre später lässt auch der belgische Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989) einen Landarzt in der französischen Provinz ermitteln: Jean Dollent aus Marsilly, ein gerade etwa 30-jähriger Arzt, liebevoll »petit docteur« genannt, entdeckt erst langsam das Talent, das schließlich zu seiner Berufung wird. Noch in der ersten Erzählung der Krimi-Reihe, LE FLAIR DU PETIT DOCTEUR, kommt es bei ihm zu einem inneren Wandel – unfreiwillig in einen Kriminalfall hineingezogen, ist der junge Landarzt zunächst noch überzeugt: »Il était docteur et rien d’autre« (Simenon 1973: 18), entdeckt dann aber im Laufe der Ermittlung »des talents tout particuliers« (ebd.: 33). Seine umsichtige Beobachtungsgabe und die Fähigkeit zur Kombination von einzelnen Fakten, seine besondere Menschenkenntnis und Analysefähigkeit sowie die oftmals von der Polizei nicht verstandenen Methoden lassen ihn durch seine landärztlichen Erfahrungen zu einem fähigen Detektiv werden. Und auch erst jetzt erhält der in der ersten Geschichte noch wenig ausdifferenzierte Dollent zunehmend schärfere Konturen und Eigenheiten, fast so als würde sich seine Persönlichkeit erst als Ermittler völlig entfalten können. So setzt der als Landarzt (doppelt: abstinent und rational) ›nüchtern‹ gebliebene Detektiv beispielsweise plötzlich Alkohol als Denkhilfe – »pour retrouver l’inspiration« (ebd.: 63) – in einem mysteriösen Casino-Fall ein (in der Erzählung LA DEMOISELLE EN BLEU PALE) und muss sich am Ende nun selbst eingestehen: »›[...] j’aime les problèmes criminels comme un collectionneur aime les vieilles faïences ou les tabatières anciennes!‹« (Ebd.: 89). Die Selbstverständlichkeit seiner Ermittlungen wie auch die Analogie zwischen Landarzt und Ermittler zeigen sich in späteren Fallgeschichten; als Dollent in der

18 Vgl. die Kategorie der »unreliable narration« in Wayne C. Booths einflussreicher Studie THE RHETORIC OF FICTION, erschienen 1961 (vgl. Booth 1983: 158ff.).

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Erzählung LA PISTE DE L’HOMME ROUX sogar bis in die Hauptstadt Paris bekannt und von der Polizei für seine »méthodes originales« (ebd.: 415) gefürchtet wird, versteht der Landarzt sein Vorgehen selbst aber lediglich als »psychologie pure« (ebd.: 419). Auch wenn die Fälle des ermittelnden Landarztes aus Marsilly von Bekanntheit und Werkumfang natürlich nicht an Simenons Figur des Detektivs Maigret heranreichen,19 war der »petit docteur« dennoch nach seiner Veröffentlichung sehr erfolgreich und wurde mehrfach adaptiert, darunter im Jahre 1986 in sechs etwa einstündigen Episoden für das französische Fernsehen mit Alain Sachs in der Hauptrolle sowie bereits 1974 unter dem Titel DER KLEINE DOKTOR in 13 Folgen für das ZDF mit Peer Schmidt als detektivischem Landarzt. Der Landarzt auf der Mattscheibe Ohnehin ist der Landarzt eine beliebte Figur in Fernsehserien, sowohl als Sozialfigur, an der (medizinische wie gesellschaftliche) Probleme und Konflikte des provinziellen Lebens verhandelt werden können, wie auch als die soziale Gemeinschaft komplettierende Nebenfigur in einem weiteren Figurenensemble – beispielsweise Dr. Richard Clarkson als Landarzt in der britischen Serie DOWNTON ABBEY (ITV, 2010-2015). Sehr häufig jedoch liegt der Schwerpunkt der idealisierenden Darstellung auf der Verklärung des Lebensalltags oder der vereinfachenden Inszenierung des Landarztes als Bindeglied des Sozialgefüges – ähnlich der Tradition der Heimatfilme im bundesdeutschen Fernsehen der Nachkriegszeit, in denen die dörfliche oder kleinstädtische Idylle als ›heile Welt‹ stark romantisiert wird. Gleichzeitig ist die Darstellung jeweils mit einem Lokalkolorit verbunden (wie ebenfalls heute noch bei Vorabendserien oder letztlich auch der TATORT-Reihe aus unterschiedlichen Regionen), sodass lokale Dialekte, Traditionen und Sehenswürdigkeiten hervorgehoben werden. Und wie auch bei Kriminalserien eignet sich die Figur des Landarztes für eine Verbindung aus wöchentlichen medizinischen Fällen (schließlich kann in jeder Episode der case of the week erzählt und abgeschlossen werden) mit dem Lebensalltag des Arztes (wobei hier ein langlaufender, sich über mehrere Folgen erstreckender Erzählstrang wie auch eine Charakterentwicklung möglich sind). Die Rezipierenden können damit auch mehrere Episoden auslassen,

19 Zwar lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Maigret (der sein MedizinStudium abbrach) und Dollent finden; so sind beide durch ihre kleinbürgerliche Verortung ›Detektive des Volkes‹, jedoch wirkt der erfahrene Ermittler der Pariser Kriminalpolizei (wohl auch durch Körperbau und Charakter) im Vergleich zum Landarzt häufig ›abgeklärter‹ und ›ruhiger‹ bei den Ermittlungen.

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verpassen so aber fast ausschließlich die abgeschlossenen Krankenfälle der einzelnen Folgen und können sich wieder schnell in die Rahmengeschichte um den Landarzt einfinden (vgl. Schleich/Nesselhauf 2016: 133ff.). Tatsächlich handelt direkt die erste Arztserie im deutschen Fernsehen überhaupt vom Alltag eines norddeutschen Landarztes – das Format LANDARZT DR. BROCK lief zwischen 1967 und 1969 in 26 Episoden in der ARD mit Schauspieler Rudolf Prack in der Hauptrolle des Dr. Peter Brock. Die (bis zur Einführung des Farbfernsehens zunächst in schwarz-weiß ausgestrahlte) Serie ist in der fiktiven Kleinstadt Wingenfeld in der Lüneburger Heide angesiedelt und dreht sich neben Krankenfällen, die vom vertrauensvollen Mediziner stets umsichtig behandelt werden, auch immer wieder um andere alltägliche Probleme und Konflikte, von der Lokalpolitik bis zum Umweltschutz. Diese erfolgreiche Verbindung der Figur des Landarztes mit Elementen des Heimat- und Familienfilms im seriellen Format führt auch in der Folge zu zahlreichen TV-Produktionen in Deutschland, darunter zur über 22 Staffeln laufenden und fast 300 Episoden umfassenden ZDF-Serie DER LANDARZT (1986-2013). Die Kooperation zwischen ORF und ZDF, DER BERGDOKTOR (seit 2008), wiederum setzt ein früheres Format des Privatsenders Sat.1 fort, das zwischen 1992 und 1997 fast 100 Episoden hervorbrachte. Eine kurzzeitige regelrechte Welle zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Serien wie DIE LANDÄRZTIN (ARD, 2005-2013) oder DOC MEETS DORF (RTL, 2013) wiederum ging eher auf englischsprachige Formate wie den USamerikanischen Serien DOC (Pax, 2001-2004) und HART OF DIXIE (The CW, 20112015) oder der britischen Produktion DOC MARTIN (ITV, seit 2004) zurück. Gerade bei diesen neueren TV-Serien finden sich auffällige Ähnlichkeiten in der Figurentypologie: Der fast ausschließlich männliche Landarzt ist sehr häufig Junggeselle mit Haushälterin oder Sprechstundenhilfe und ›flüchtet‹ zumeist aus privaten Gründen auf das Land. Dementsprechend muss die zu Beginn vorherrschende gegenseitige Skepsis von Landarzt und Einheimischen zunächst abgebaut werden, was durch die medizinischen Fähigkeiten wie auch das soziale Engagement des Landarztes aber recht schnell passiert. So wird die Landarztpraxis meist rasch zum sozialen Mittelpunkt der Dorf- oder Kleinstadtbevölkerung, während häufig humoristisch eingebundene regionale Besonderheiten das jeweilige Lokalkolorit unterstreichen. Heftromane Diese keinesfalls vollständige Aufzählung zentraler Aspekte lässt eine gewisse stereotype Idealisierung des Landarztes vermuten, die sich vor den Fernsehserien bereits in ›Groschenromanen‹ antreffen lässt. Noch immer finden sich mehrere Reihen von Heftromanen über Landärzte am Kiosk, die durch »Normierungen im

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Produktionsprozess« (Nusser 1991: 64) gekennzeichnet sind und somit bereits durch die äußerliche Gestaltung (farbenfrohes Titelbild mit genretypischen Motiven und Figuren), das stets gleiche Format (Zeitungspapier, 66 Seiten) und den Gebrauch der ›alten‹ Rechtschreibung auffallen. Zwei zufällig gewählte Heftromane, jeweils von den deutschsprachigen Marktführern Bastei und Kelter Verlag, sollen für den abschließenden Blick auf die Figur des Landarztes exemplarisch herhalten: Aus der Reihe DER BERGDOKTOR die Erzählung DIE TRÄUMERIN VOM MOSLER-HOF von Andreas Kufsteiner (Folge 1.743, im Dezember 2014 erschienen, Untertitel: »Noch weiß sie nichts vom Schmerz der Liebe«) sowie ALLES NUR THEATER? von Tessa Hofreiter aus der Reihe DER NEUE LANDDOKTOR (Nr. 53, im Oktober 2017 erschienen, Untertitel: »Doch meine Liebe ist wahr und aufrichtig«).20 Aber nicht nur formal, sondern ebenso inhaltlich zeichnen sich Heftromane durch eine für die ›Trivialliteratur‹ nicht untypische Ästhetik aus und verwenden unter anderem bevorzugt kurze Sätze, eine einfache (Alltags-)Sprache mit dialektalen Einschlägen und einen beschreibenden Stil. So fällt beispielsweise die erste Charakterisierung des verwitweten Landarztes Seefeld, zumindest im ausgewählten Heft und noch einen Absatz vor der eigentlichen Beschreibung seines Aussehens, sehr plakativ aus: »der junge Landarzt, der so vielen Frauen schlaflose Nächste bereitete, weil sie sich Sehnsüchten hingaben, die sich niemals erfüllen würden« (Hofreiter 2017: 5). Interessant ist jedoch der vergleichende Blick auf die eigentliche Funktion der Figur des Landarztes in den beiden Reihen: Während Dr. Martin Burger in der Kleinstadt St. Christoph verschiedensten medizinischen Notfällen nachgeht, die sich mit der Binnengeschichte (hier: Raubüberfall auf den Krämerladen) verbinden, und dabei universeller Ansprechpartner ist, umsichtig wie umsorgend zugleich – etwa bei Arbeitsschutzmaßnahmen auf dem Bauernhof (vgl. Kufsteiner 2014: 14f.) –, rücken die Arztkenntnisse von Dr. Sebastian Seefeld aus dem tirolerischen Bergmoosbach deutlich in den Hintergrund. Stattdessen dreht sich der ausgewählte Heftroman ALLES NUR THEATER? um die geplante Aufführung eines Theaterstücks (für dessen männliche Hauptrolle der gutaussehende Landarzt vorgesehen ist) sowie um mit der Vorstellung verbundene juristische Auseinandersetzungen und persönliche Intrigen. Diese Tendenz setzt sich auch in anderen Heften der beiden Reihen fort: So verbindet sich in der Reihe DER BERGDOKTOR die jeweilige Handlung mit einer medizinischen Fallgeschichte, die Dr. Burger durch seine Expertise (teilweise auch 20 Heftromane zeichnen sich durch eine kollektive Autorschaft aus, sodass beim Autorenname davon ausgegangen werden muss, dass es sich um verschiedene Schriftsteller/innen handelt, die unter dem jeweiligen Verlags-Pseudonym veröffentlichen.

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erst nach einer dramatischen Zuspitzung als regelrechter ›deus ex machina‹ am Ende des Heftromans) stets zu einem glücklichen Ausgang – und damit zu einem ›happy ending‹ – führen kann. In der Heftserie DER NEUE LANDDOKTOR hingegen scheint der Arzt als Figurentyp quasi aber belanglos zu werden, schließlich scheint es teilweise keinen Grund zu geben, warum hier ausgerechnet ein Mediziner im Mittelpunkt der Geschichte steht.

F AZIT D IAGNOSE Es mag wenig überraschen, dass der Landarzt inzwischen nicht mehr in einer Breite als Sozial- oder Reflektionsfigur zu finden ist, wie dies beispielsweise noch in der Dorfliteratur des 19. Jahrhunderts oder den Romanen von Gustave Flaubert und George Eliot, Wilhelm Raabe und Honoré de Balzac der Fall war. Zwar hat er damit seine gesellschaftliche und literarische Stellung verloren, dennoch zeigen gerade die Beispiele des Heftromans wie auch der Fernsehserien als ›populäre‹ Medien, dass offenbar das Interesse an der Figur des Landarztes ungebrochen und heutzutage auch in solch eher schematischen und durchaus klischeebesetzten Erzählungen fortzubestehen scheint. Während sich die medical romance etwa in Großbritannien zu einem eigenen und seit langem etablierten Subgenre (vgl. Linke 2003: 69) entwickelt hat, lassen sich auch im deutschsprachigen Raum inzwischen häufig im Selbstverlag erschienene Geschichten finden, in denen der Landarzt-Topos kreativ weiterentwickelt und somit auch eine klassische Figur der Literaturgeschichte aktualisiert wird.21 Und längst setzt sich diese Popularisierung auch außerhalb der Buchdeckel oder Mattscheibe fort, wenn beispielsweise der ZDF-LANDARZT nicht nur regelmäßig im Fernsehen wiederholt, sondern inzwischen auch touristisch vermarktet wird.22 Der Landarzt wird somit im frühen 21. Jahrhundert selbst zu einem Symptom – paradigmatisch wie wohl kaum eine andere literarische Figur steht er vereinfacht für eine regelrechte ›Landlust‹, die neben einer ländlichen Idylle stets auch das Versprechen körperlicher Gesundheit bereithält.

21 So zuletzt etwa mit Landarzt-Krimis wie Stefanie Ross’ DAS SCHWEIGEN VON BRODERSBY (2017) oder der inzwischen mehrere Bände umfassenden Erotik-Reihe DER FRIVOLE LANDARZT.

22 Vgl. etwa das Angebot einer lokalen Tourismus-Organisation: https://www.ostseefjord schlei.de/erleben/stadtfuehrungen-und-erlebnistouren/tagestour-rund-um-den-landarzt (31.12.2018).

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»Bestimmungsoffenheit« Franz Michael Felder und seine Leser (von Hildebrand über Rosegger bis Handke) J ÜRGEN T HALER »Das Städtische ist lernbar, Dörflichkeit hingegen nicht.« MARLENE STREERUWITZ

Ü BER L AND

SPRECHEN

Wenn man vom »guten Leben auf dem Land« spricht, dann beinhaltet diese Aussage zumindest drei weitere: Dass es erstens auch ein schlechtes Leben auf dem Land gibt, von dem sich das gute Leben abhebt, dass es zweitens ein gutes Leben auch an einem anderen Ort gibt, zum Beispiel in der Stadt, und zuletzt drittens, dass es auch in der Stadt ein schlechtes Leben geben kann. Unterwandert, korrigiert, gestützt oder verstärkt wird jede einzelne dieser Aussagen von den Umständen und Perspektiven, mit denen sie verbunden sind – je nachdem, von welchem sozialen Ort aus die Stadt, das Land, das Dorf als soziale Orte gesehen werden und er oder sie die entsprechende Aussage macht: Spricht der Städter vom guten Leben auf dem Dorf oder sprechen Dorfbewohner davon? Sprechen Städter dagegen vom schlechten Leben in der Stadt? Interessant auch, ob der Städter im Dorf oder der Dorfbewohner in der Stadt vom guten Leben auf dem Land spricht. Ebenso wichtig: wer spricht, welcher sozialen Klasse der Sprecher angehört. Der Bürgermeister, der Außenseiter, der Wissenschaftler, der Schriftsteller, der Pfarrer, der Tourist repräsentieren in diesem Sinn nicht nur andere Standorte und Erfahrungen, sondern stellen auch andere Zugänge und Wahrnehmungsinteressen vor. Das Sprechen vom guten Leben auf dem Land wird schließlich auch facettiert von jenen, an die diese Aussage adressiert ist: Spricht ein Dorfbewohner

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zu anderen Dorfbewohnern vom guten Leben auf dem Land, dann hat dies möglicherweise eine andere Qualität – und trifft mitunter auch auf eine andere Rezeptionshaltung – als wenn Städter zu anderen Städtern vom guten Leben auf dem Land sprechen; und dies gilt auch hinsichtlich der anderen Relationen und Blickrichtungen, mit denen dieses Thema angegangen werden kann. Arno Geiger (*1968), der, wie er schreibt, in dieser »Materie [dem Leben auf dem Land, JT] herkunftsmäßig mehr als nur ein wenig bewandert« [Hervorh. im Original] sei, weil seine Vorfahren und Anverwandte Bauern waren und sind und er selbst in ländlicher Umgebung aufgewachsen ist, hat in seinem Essay DIE MENSCHLICHE ERDGEBUNDENHEIT. UNTER FREIEM HIMMEL zugespitzt formuliert und raffiniert mit den Positionen des Sprechenden jongliert, auch mit jener Sprecherfunktion, die die Aussagen wiedergibt. »Eine gute Bekannte hat es anderen guten Bekannten nachgemacht und sich, wie sie sagt, ein idyllisches Wochenendhaus zugelegt. Sie sagt, in der Stadt sei es ihr zu dreckig. Sie sagt von sich auch, sie habe kein Interesse an Sex, eigentlich sei sie asexuell, und das werde immer ärger, es grause ihr, all diese Bakterien, und was da rauskomme, brrr, das finde sie einfach unappetitlich. Ich werde sie bei nächster Gelegenheit fragen, wie ihr der Dreck auf dem Land gefällt. Interessanterweise hält sie das Land für sauber.« (Geiger 2017: 264)

Das Ich ist hier dasjenige, das die Stadt und das Land kennt, das weiß, mit welchen Bakterien man auf dem Land in Berührung kommen kann. Man merkt es: Das Verhältnis von Stadt und Land, Zentrum und Peripherie ist letztlich ein vermintes Gebiet zwischen Ideologie und Kitsch, zwischen Kritik der Moderne, Katholizismus und Freizügigkeit, zwischen Dreck und Sauberkeit, Sünde und Heiligkeit, um nur einige bekannte Polaritäten zu nennen, mit denen man konfrontiert wird, wenn es um das Dorf, das Land und die Stadt in Kunst und Kultur geht. Kaum einer hat sich um die vermeintliche »Reinheit« des Bauernstandes ernsthaftere Sorgen gemacht als Martin Heidegger. In seinem kurzen Text SCHÖPFERISCHE LANDSCHAFT: WARUM BLEIBEN WIR IN DER PROVINZ? tritt er im Jahr 1933 dafür ein, die »eigenen Gesetze« der Bauern nicht anzutasten. »Hände weg – um es nicht auszuzerren in ein verlogenes Gerede der Literaten über Volkstum und Bodenständigkeit.« (Heidegger 1983: 12, Hervorh. im Original) Es fragt sich: Wer soll also das Bauerntum literarisieren? Niemand? Die Städter? Die Bauern? Die Städter auf dem Dorf? Die ehemaligen Bauern in der Stadt? Und warum soll das Bauerntum überhaupt literarisiert werden? Was kann man zeigen, was bewirken, was verdeutlichen, wenn man, von wo aus auch immer, über das Dorf und die Bauern schreibt?

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D ORF

UND

S TADT / S TADT

UND

D ORF

Während es nun auf der Hand liegt, dass die Stadt (was ist eigentlich eine Stadt?) schon immer ein Nährboden für das Sprechen über das Dorf (was ist eigentlich ein Dorf?) war und ist, hat sich das dörfliche Sprechen über das Dorf erst in den letzten 150 Jahren spärlich entwickelt, in den letzten Jahren aber vehement zugenommen. 1 Zunächst waren es Dorfgeschichten, Landleben- und Heimatkunstromane, die sich von der Stadt aus ums Dorf kümmerten, dann kamen jene städtischen literarischen Versuche, die im Dorf ein Labor sahen, um vor allem dem nachzuspüren, was es auf dem Land mit Faschismus und Nationalsozialismus auf sich hat: von Hermann Broch (1886-1951) bis Hans Lebert (1919-1993). All das, was man vor nicht allzu langer Zeit noch als »Provinzliteratur« (Mecklenburg 1982) bezeichnet und als »Grüne Inseln der Literatur« (Mecklenburg 1987) kartographiert hat, war lange Jahrzehnte in der Hand von Städtern bzw. von ehemaligen Dorfbewohnern, die alles wollten, nur nicht aufs Dorf zurück. Im Dorf geboren, dem Dorf entkommen. Man wird aber hier die Linien von heute aus gesehen noch einmal genauer ziehen müssen. Es gibt Schriftsteller, die sind – in der Tat – village natives. Dann gibt es solche Autorinnen und Autoren, die man als village immigrants bezeichnen kann. Gleichwohl ist es nicht zwingend, dass village natives oder village immigrants unbedingt über das Dorf schreiben. Hinzu kommen aber auch Autorinnen und Autoren, die das Dorf als den sozialen Ort ihrer Herkunft zum Thema ihrer Literatur machen. Auch wenn sie schon lange dem Dorf entkommen sind und nicht mehr dahin zurückwollen, von Karl Emil Franzos (1848-1904) bis Peter Rosegger (1843-1918), von Autoren des »Kritischen Heimatromans« wie Franz Innerhofer (1944-2002) bis zu Alina Herbings (*1984) Debutroman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017). Differenzen finden sich auch, was den sozialen Status, den Habitus der jeweiligen Verfasser der Erzählungen vom Land betrifft. Autoren aus dem Bauernstand waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die rare Ausnahme. Jeremias Gotthelf (1797-1854) war Pfarrer, Berthold Auerbach (1812-1882) studiert, Gottfried Keller (1819-1890) war letztlich Beamter; keine Bauern weit und breit.

1

Gerade in der finalen Arbeit an diesem Text macht dies nochmals der Schwerpunkt PROVINZ ERZÄHLEN der ZEITSCHRIFT FÜR GERMANISTIK, 30/2 (2020), deutlich, hier vor allem die Einleitung von Stockinger (2020) und der Beitrag von Weiland (2020).

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L ITERATUR

UND

B AUERNTUM

Der schreibende Bauer Franz Michael Felder Mit Blick auf diese hier nur skizzierten Zusammenhänge von sozialer Klasse, Genre und Ideologie wundert es nicht, wie unvorbereitet gerade die realistisch-bürgerliche Epoche auf das Auftauchen eines Autors wie Franz Michael Felder (1839-1869) war, der nicht nur als Bauer und Schriftsteller zugleich auftrat, sondern auch über das bäuerliche Dorf, seine unmittelbare Lebenswelt, schrieb. Nach Pierre Bourdieu benötigt das Neue in der Kunst zum einen den Bruch mit feldinternen Regeln, zum anderen jenen mit feldexternen Regeln (Bourdieu 1999: 127ff). Beides vollzieht Felder mit dem, was er macht, geradezu beispielhaft. Innerhalb des literarischen Feldes durchbricht er jede Erwartungshaltung in Bezug auf den Status eines Schriftstellers,2 außerhalb des literarischen Feldes durchbricht er jedes Reglement bäuerli-

2

Kein Wunder, dass Rudolf Hildebrand seinen Artikel in der GARTENLAUBE mit EIN BAUER ALS DICHTER (Hildebrand 1867) überschrieben hat; das ist die Sensation, und zwar bis heute. Hildebrand skizziert in diesem in seiner zeitgenössischen Wirkung für Felder kaum zu überschätzenden Artikel in der auflagenstarken GARTENLAUBE geschickt und suggestiv Felders Außergewöhnlichkeit. Auch in politischer Hinsicht. Er beginnt nämlich, die Reichsgründung wird noch einige Jahr auf sich warten lassen, mit der Überlegung, dass Felder mit seinem Schreiben ein Beispiel abgebe, wie groß das deutsche Volk eigentlich sei, dass es eine »große Familie« darstelle, die quasi das Recht habe, von Felder, der am Rande dieser Familie, im Süden des deutschen Sprachgebietes lebe, zu erfahren. Hildebrand schildert, wie er Felder auf einer Reise zufällig kennengelernt habe und wie unfassbar es für ihn gewesen sei, zu erfahren, dass hier ein Bauer dichte: »Ein Bauer selbst, der aus dem Bauerleben Bilder schriebe! Das ist ja wohl noch nicht gewesen. Der muß es ja am besten können!« (Hildebrand 1867: 235) Hildebrand teilt seine Leseeindrücke von Felders Erstling NÜMMAMÜLLERS UND DAS SCHWARZOKASPALE, der unmittelbar nach dem ersten Zusammentreffen erschienen war. Er macht sich dabei Gedanken, für wen Felder eigentlich schreibt und wie er das anstellt: »Nicht eine Art Nachbildung von Gotthelfs Stil, wie mir vorschwebte, sondern etwas ganz Eigenes, Neues. Vor allem hatte man den Eindruck, daß der Verfasser in naivster Weise schrieb (wie Schiller das Wort naiv braucht), gar nicht an Leser dachte, am wenigsten an norddeutsche oder Romanleser vom Fach, höchstens an seine Landsleute, für die beiläufige Winke darin stehen, wie sie besser leben könnten als bisher.« (Ebd.) Des Weiteren schildert Hildebrand der Leserschaft der GARTENLAUBE, wie er Felders Erstlingswerk für das DEUTSCHE WÖRTERBUCH auswertete und wie der Name Felder neben dem vom Schiller zu stehen kam. Ausgiebig zitiert er aus zwei Briefen, die ihn von Felder erreichten; und

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chen Lebens. So entsteht jenes Neue, das Aufmerksamkeit generiert. Bei Felder, der im hintersten Bregenzerwald im Westen des Kaiserreichs Österreich-Ungarn gelebt hat, ließen sich diese Brüche genau beschreiben. Sie bestimmen auch alle Texte, die nach der Lektüre von Felders Werken entstanden sind. »Der Leser, das ist immer ein Anderer«, sagt Werner Hamacher, das Lesen sei ein Prozess, setzt er fort, der nicht immer den gleichen Bestimmungen diene (vgl. Hamacher 2015: 73f.). So auch bei Felder. Das Lesen von Felder-Lektüren steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, sie sind an den Lesezeugnissen von Peter Rosegger bis Peter Handke (*1942), von Ferdinand Kürnberger (1821-1879) bis zu Olivier Le Lay (*1976) interessiert und versuchen deren »Bestimmungsoffenheit« (Werner Hamacher) nachzuzeichnen, die sie gerade in ihrem Bezug zum Werk Felders einnehmen. Dadurch eröffnet sich ein spezifischer Echoraum, in dem sich die verschiedenen Aspekte eines Felder-Bildes in den Bildern, die von Felder gezeichnet werden, überschneiden. Wenn man nun noch einmal vom guten Leben auf dem Land spricht, dann wird man mit Blick auf Felder formulieren müssen, dass es ihm mit seiner Dorfgeschichte NÜMMAMÜLLERS UND DAS SCHWARZOKASPALE, erschienen 1863 in einer Lindauer Verlagsbuchhandlung, und seinen beiden Romanen SONDERLINGE (1867) und REICH UND ARM (1868), immerhin, durch Vermittlung von Rudolf Hildebrand, bei Hirzel in Leipzig publiziert, darum ging, ein gutes Leben auf dem Land erst zu verwirklichen. Seine Romane sollten vor allem dazu dienen, der dörflichen Bevölkerung zu zeigen, wie man ein gutes Leben auf dem Lande überhaupt erreichen kann. In der Tat legt Felder in seinen drei Büchern die Bruchlinien seiner Zeit aus: vor allem in den beiden großen Romanen SONDERLINGE und REICH UND ARM werden die Konflikte verhandelt, die die modernen Impulse ins Dorf spülen. Die Romane sind Zeitromane, sie spielen in der unmittelbaren Gegenwart; man hat auch den Eindruck als dass Felder, wie das auch Hildebrand schon gesehen hat, bewusst daraufsetzt, in seinen Romanen Realitätspartikel einzubauen. Es geht um neue Ideen und alte Traditionen, um wirtschaftliche Gier und besonnenes Handeln, um katholische Prinzipien und modernes Leben (vgl. Neumann 2001). Um Solidarität. Felder verpackt diese Themen, indem er sehr stark auf die Entwicklung der Figuren setzt; es wird in den Romanen viel gesprochen und debattiert (vgl. FeierlGiedenbacher 2011). Die Texte sind ein Fest der Mündlichkeit und sie folgen in zwar mit der Anmerkung, dass er, Philologe der er war, die Briefe nicht nur ohne Korrekturen wiedergebe, sondern dass die Unregelmäßigkeiten und Fehler gar keine seien, sondern »Reste älterer Schreibweisen, die in früheren Jahrhunderten einmal Mode und Regel waren.« (Ebd.) Er schließt mit einem Ausblick auf Felders ersten Roman SONDERLINGE,

in dem »brennende, geistliche, sittliche gesellschaftliche Zeitfragen mit echter

Dichterhand behandelt und im tiefsten Sinne gelöst werden.« (Ebd.: 238)

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ihrer Grundhaltung einem harmonischen Prinzip. Felder nützt seine poetischen Welten eben nicht, um Rechnungen des realen Lebens zu begleichen. Im Gegenteil. Deshalb verstören Felders Bücher hin und wieder, um mit Hildebrand zu sprechen, heutige »Romanleser vom Fach«, weil in ihnen in der Tat »alles ein bisschen zu gut ausgeht« (Nitzke 2020: 358). Das gute Leben wird zum utopischen, volksaufklärerischen Entwurf und entwirft sich erst im Vollzug des Lesens. Schon alleine die Tatsache, dass Felder mit seinen Romanen auf die Aufklärung des Volkes setzt – und das meint vor allem auf die Bevölkerung seiner unmittelbaren Umgebung –, zeigt deutlich an, dass er auf seine Mitmenschen als Leser setzt, dass er weiß, dass sie seine Texte zu lesen im Stande sind. Nur, auf welche Leser treffen die Werke Felders: Die dörfliche Bevölkerung war zumindest in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ganz eine bäuerliche Bevölkerung. Es ist hier nicht der Ort, auf die Spezifika der Bauernwirtschaft zu Felders Zeiten einzugehen; von universaler Gültigkeit und deshalb auch gültig für Felder ist aber jene Beschreibung bäuerlichen Bewusstseins, die John Berger (1926-2017) in seinem Nachwort zum Roman SAUERDE (1982) formuliert hat. Berger beschreibt darin die bäuerliche Überlebenskultur, die sich Zukunft, im Gegensatz zum neuzeitlichen Fortschrittsbegriff, aufgrund der täglichen Erfahrung »als eine Folge wiederholter Überlebensakte« (Berger 1982: 280) vorstellt.3 Diese gegen Veränderung resistente Ökonomie des Mangels verpflichtet zur Weitergabe der »means of survival« an die nachfolgende Generation. Dies führe, so Berger, zu einer ganz besonderen Form des Konservatismus, der weder etwas mit dem Konservatismus einer privilegierten Klasse noch mit dem einer »sycophantic petty-bourgeoise« zu tun habe (vgl. Wagner 1991: 369): »Es ist ein Konservatismus nicht der Macht, sondern der Sinngebung. Er stellt eine Vorratskammer der Sinngebung dar, die von gelebtem Leben und von Generationen bewahrt wurde, die von beständiger und unerbittlicher Veränderung bedroht waren« (Berger 1982: 285). Diese bis heute bestehende Ambivalenz, dieser Konflikt zwischen einer bäuerlichen Überlebenskultur, die wesentlich auf Beständigkeit setzt und dabei einem zyklischen Zeitmodell folgt, und einer Ökonomie des Fortschritts, die wesentlich auf Veränderung zielt und

3

Berger schreibt: »Bäuerliches Leben ist ein Leben, das völlig aufs Überleben ausgerichtet ist. Vielleicht ist dies das einzige typische Merkmal, das Bauern überall gemeinsam haben. Ihr Arbeitsgerät, ihre Ernten, ihr Land, ihre Herren mögen verschieden sein, aber ob sie in einer kapitalistischen Gesellschaft arbeiten, in einer feudalen oder in anderen, die sich nicht so leicht definieren lassen, ob sie Reis anbauen in Java, Weizen in Skandinavien oder Mais in Südamerika, worin auch immer die Unterschiede in Klima, Religion und Sozialgeschichte bestehen, überall kann der Stand der Bauern als eine Klasse von Überlebenden definiert werden.« (Berger 1982: 267f.)

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dabei einer Logik der Expansion und Beschleunigung folgt (vgl. ebd.: 279ff.), ist letztlich ungelöst. Dieser Konflikt bestimmt auch die Ambivalenzen vom guten Leben auf dem Land und die meisten (seichten) Unterhaltungsfilme, die die Bauern in der Regel als sture, dem Lesen kaum mächtige Deppen auftreten lassen. Bei Felder heißt es einmal in der Erzählung EIN AUSFLUG AUF DEN TANNBERG beiläufig, dass der Bauer mit der Natur seiner Heimat zu sehr verwachsen sei, um sich ihr noch betrachtend gegenüberstellen zu können (vgl. Felder 2018: 81). Was für eine wichtige Erkenntnis. Es versteht sich von selbst, dass einer, der in diesem Milieu Schriftsteller werden will, mit Gegenwind zu rechnen hat. Es ist bislang viel zu wenig bedacht worden, dass Felders Bücher bis hin zu REICH UND ARM nicht nur literarische Funktionen hatten, sondern neben gewünschtem kulturethnografischem Gehalt vor allem auch volksaufklärerisches Potenzial entfalten sollten. Man weiß nicht viel über die Rezeption der Bücher von Felder vor Ort, ob Felders Bücher in Schoppernau, seinem Heimatdorf im Bregenzerwald, tatsächlich gelesen wurden, ob und wie sie sie sich verbreitet haben. Ihr Inhalt hätte vor Ort aber kaum Wirbel entfacht. In der Tat waren es vielmehr Felders politische und sozialreformerische Ideen, die ihn in die bekannten heftigen Auseinandersetzungen mit der Kirche, der Politik und den Käsegroßhändlern gebracht haben (vgl. Methlagl 1978). Als erster genauer Leser der Werke von Felder hat der viel zu wenig gelesene österreichische Autor und Journalist Ferdinand Kürnberger den Zusammenhang von Schreiben und dörflicher Entwicklungsmöglichkeit gesehen. Er lernte Felders Werk 1868 kennen, als er in seiner Funktion als Sekretär der deutschen Schillerstiftung im Vorort Wien über ein finanzielles Ansuchen, das Felder nach dem Tod seiner Frau gestellt hatte, ein Gutachten abfassen musste. Der Text hat sich im »FelderAkt« der Stiftung erhalten, darin heißt es: »Alles was er zu sagen hat, hat er wahrscheinlich im Dialekte gedacht; was seine Personen sagen ganz gewiß im Dialekte gehört. Seine Aufgabe ist nun, den Dialekte in die Schriftsprache zu übertragen und die letztere doch so zu halten daß sie die innere, geistige Volksthümlichkeit des Dialektes nicht einbüßt. Mit anderen Worten: der ländliche Autor hat gar keine Sprache sondern er muß sich eine Sprache selbst und mit eigener Kunst machen. Ferner. Er wird gute und schlechte, achtbare und verächtliche Menschen schildern und die Typen derselben natürlich aus seiner nächsten Umgebung nehmen. Und doch muß er sich hüthen, seine beengte Nachbarschaft sich mit Feindschaften, wohl gar mit Injurienproceßen zu verderben. Er wird den Pfarrer, den Wirth, den Bürgermeister mit ganz anderer Kunst anfaßen müßen, als der städtische Dichter Exzellenzen und Durchlauchten, Kaiser und Könige anfaßt. Er wird bei der Umdichtung seines Stoffes eine Erfindung, eine Kunst und Gewandtheit aufbieten müßen, die ich im Buche selbst gar nicht sehen kann, die aber sein nächster Nachbar in Schoppernau viel beßer zu beurteilen fähig sein wird.

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Zuletzt endlich: der Landmann thut nichts Müßiges und thut nichts für Müßige. Er wird die Kunst, welche als Selbstzweck gesetzt ist, als Mittel handhaben wollen zur Belehrung, zur Beßerung, zur Moral. Er wird Lehrer seines Gaues sein wollen und doch wird sein poetischer Instinkt ihn warnen, ein Prediger zu werden. Er wird daher die schwierigste Aufgabe der modernen Literatur zu lösen vorfinden, eine Aufgabe von welcher das classische Alterthum nichts wußte: nämlich, mit der Poesie die Tendenz zu verbinden. Und wieder wird ihm diese Aufgabe schwieriger gestellt sein als uns Städtern, deren Tendenzen sich wenigstens auf so große Verhältniße beziehen, daß sie schon an sich ein wenig wie Poesie aussehen. Um wieviel niedriger ist die naive Tendenz gestellt, den Reichen und Armen ihr ethisches Verhalten zu illustriren! Um wieviel kunstvoller die Aufgabe, diesen Zweck in die Region der Poesie zu erheben! Diese Maßstäbe macht' ich mir klar, um Felders Roman mit Gerechtigkeit zu lesen. Und ich las ein Buch das ich mit aller Gerechtigkeit loben muß!«4

Die Einsichten Kürnbergers sind verblüffend. Ziemlich genau skizziert er die Kommunikationsfelder von Felders Büchern. Er geht davon aus, dass Felder zuerst für seinesgleichen schreibt, dass er dafür seine eigene Anschauung als Ausgangspunkt nimmt. Mehr noch, nach Kürnberger entspringt die Dichtung Felders aus der Mündlichkeit, dem Dialekt, also der Natürlichkeit einer lokal sich entwickelnden Sprache. Keine Rede davon, dass Felder seine Inspirationen gerade auch aus der zeitgenössischen Literatur geholt hat. Bemerkenswert ist auch, dass Kürnberger den Umstand, dass Felder, der Bauernbub, überhaupt Bücher schreibt, gar nicht extra hervorhebt, sondern sehr exakt den schreibenden Landmann vom städtischen Dichter abgrenzt. Ein gutes Beispiel, dass die Exotik, mit der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Bauern des 19. Jahrhunderts blickt, mehr über die Blickenden als über die Angeblickten aussagt. Man fragt sich, für welchen anderen Autor des 19. Jahrhunderts der kongruente Zusammenhang von Herkunft, Autorschaft und Genre noch vorrangig ins Treffen geführt werden kann? Peter Rosegger und Franz Michael Felder Zumindest sicher für einen: für Peter Rosegger, der selbst wiederum in mehreren Texten Felder und sein Werk behandelt.5 Im Unterschied zu Kürnberger kann Rosegger bereits auf Biografien über Felder (Sander 1876) und vor allem auf Felders postum veröffentlichte Autobiografie AUS MEINEM LEBEN (1904) verwei-

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Das Gutachten ist ediert in: Die Akte »Franz Michael Felder« der deutschen SchillerStiftung. In: Jahrbuch/Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek 10 (2009), S. 7-34.

5

Vgl. Rosegger (1871); Rosegger (1877); Rosegger (1888); Rosegger (1904).

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sen, wenn er sich dem Autor in vielfacher Weise nähert.6 Felder begann seine Lebensbeschreibung nach dem überraschenden Tod seiner Frau Anna Katharina. Rudolf Hildebrand gab ihm den Rat, sich mit seinem eigenen Leben zu beschäftigen. Die Beschreibung seines Lebens reicht bis zu seiner Hochzeit. Auffallend ist, dass Felder in dieser nicht den Konflikt sucht, sondern im Gegenteil mit großer, ja auch affirmativer Hingabe sein Leben im Bregenzerwald schildert. Im Unterschied zum engeren literarischen Werk treten damit in seiner Autobiografie ganz andere literarische Vermögen auf. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Felder im Gegensatz zu den Romanen nicht daran dachte, mit diesem Werk etwas zu bewirken. Es gelingt ihm ein leichter Ton, er formt ein Denkmal für den Bregenzerwald und formuliert ein Denkmal für seine verstorbene Frau. Heute zählt dieses Werk neben Franz Grillparzers Lebensbeschreibungen zu den großen Autobiographien der österreichischen Literatur. Allein der Umstand, dass Felders Lebensbeschreibung erst 1904, also 35 Jahre nach seinem frühen Tod, erschien, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen Gattungserwartung und Habitus (vgl. Thaler 2011). Niemand wollte – und die Freunde von Felder haben vielerlei unternommen, um einen Verlag zu finden – die Lebensgeschichte eines Bauern veröffentlichen, die zudem nur bis zu dessen Hochzeit reichte, also die Jahre des öffentlichen Wirkens und Schreibens gar nicht behandelte.7 Als dann im Jahr 1904 die erste Ausgabe von Felders AUS MEINEM LEBEN erscheint, übrigens von August Schönbach, einem Schüler Wilhelm Scherers ediert, schreibt Rosegger 1904 in seiner Zeitschrift HEIMGARTEN ausführlich über dieses Buch. Er schreibt über Felder und meint doch auch sich selbst: »Die aus dem Volke hervorgegangenen Selbstlerner (zu deutsch Autodidakten) machen in der deutschen Geistesgegenwart eine beträchtliche Zahl aus. Ganz einzig aber unter diesen Selbstlernern steht der Hirtenbauer von Schoppernau da.« (Rosegger, 1904: 23) Rosegger merkt zwar an, dass das Buch unter die Hände eines Schulmeisters gefallen sei, dass hier also die Natürlichkeit des Ausdrucks wohl etwas gelitten habe, beendet aber relativ rasch die Besprechung und Vorstellung der Autobiografie, um sich jenem Teil von Felders Leben zuzuwenden, der auch für Rosegger eine »geistige« Heimat darstellte, den Kampf, den Felder gegen den fundamentalen Katholizismus geführt hatte. Rosegger endet: »Ein Jahr später schaufelten die Wäldler lieblos das Grab des Mannes zu, der seinen Heimatsgenossen geistig und wirtschaftlich ein besseres Los hatte schaffen wollen« (ebd.). Man sieht, das gute Leben auf dem Land ist verbesserungsfähig, in alle Richtungen. Natürlich muss man Roseggers Eintreten für Felder gerade um 1900 auch 6

Felders Autobiografie AUS MEINEM LEBEN ist 1904 als zweiter Band in der Reihe der Schriften des Wiener literarischen Vereins erschienen (Felder 1904).

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Vgl. zu Überlieferungs- und Editionsgeschichte Peters (2016) und Eder (1991).

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als einen Beitrag zur Heimatkunstbewegung sehen, die die fingierte Natürlichkeit, vom Dialekt bis zum Dorfroman, gegen die fiebrige, oftmals als krank apostrophierte Großstadt setzte. Roseggers Kritik an der Herausgeberschaft, die nicht haltbar ist, macht dies exemplarisch deutlich. Auch Hermann Bahrs Loblied auf die Provinz, seine Kritik der Moderne hat hier ihren Platz, auch die Leser von Felder sammeln sich um diesen Ort von Scholle, Heimat, Antikatholizismus. Sie setzen natürliche Dichterei gegen studiertes Schreiben. Felder wird über viele Jahrzehnte wegen seiner antiklerikalen Haltung auf der einen Seite und seiner Emanzipationsgeschichte auf der anderen Seite zum Testimonial jener Liberalen, aus denen Deutschnationale und später Nationalsozialisten wurden. Das gute Leben auf dem (gesunden) Land ist hier der Gegenentwurf zum Leben in der (kranken) Stadt. Kaum einer hat es häufiger beschrieben wie Peter Rosegger. Zum Beispiel in einem kurzen Text mit dem Titel KUNST UND PROVINZ: »Wie sehr die Großstadt einen verlottern kann, davon ein Beispiel. Ich hatte in Graz einen jungen Freund. Das war ein frischer, für alles Ideale glühender, in seiner edlen Begeisterung fast revolutionäre Bursche. Der ging auf einige Jahre nach Wien – und wie kam er zurück? – Was er früher in langen Oden gepriesen, das verlohnte ihm jetzt kaum eines Wortes. Natur? ›Nur in schönen Weibern.‹ Menschenliebe? ›Fängt bei sich selber an.‹ Nationalität? ›Unsinn!‹ Religion? ›Blödsinn!‹ Menschenrechte der arbeitenden Klassen? ›Torheit!‹ Kunst und Wissenschaft? ›Ach, laß mich. Ich will das Leben genießen.‹ – Er war ein ›fescher Wiener‹ geworden. Andererseits kenne ich auch Wienerkinder, die, von der Provinz in die Großstadt zurückgekehrt, nur mehr naturbummeln oder büchergucken wollen und für’s Kaffehaus kein Talent mehr haben. Sie sind eben ›verbauert‹.« (Rosegger 1908: 153)

Es hat lange gedauert, bis andere – man könnte auch sagen: genauere – Leser kamen, die sich um das Werk von Felder zu kümmerten. Als um 1980 eine Generation von österreichischen Autorinnen und Autoren sich aufmachte, eine neue Form zu finden, um sich mit der eigenen Herkunft zu beschäftigen, kamen auch Leben und Werk von Felder ins Spiel; so wie er waren die meisten von ihnen aus bäuerlichen oder kleinhäuslerischen Verhältnissen: von Felix Mitterer (*1948) über Josef Haslinger (*1955), von Gernot Wolfgruber (*1944) bis Franz Innerhofer, von Josef Winkler (*1950) bis Peter Turrini (*1944). Diese Autoren verband, dass sie eine Gattung erfanden, die es zu jener Zeit so nur in Österreich gab, die Antiheimatliteratur – und sie waren auf der Suche nach Brüdern im Geiste. Einen davon fanden sie im Bregenzerwald. Dass Felder mit seiner Literatur die Welt umkrempeln wollte, gefiel ihnen, dass er schon mit 29 Jahren verstorben ist, befeuerte den Mythos des an den Umständen zerbrochenen, dass er einer war, der es als Autodidakt (Selbstlerner!) geschafft hatte, Weltliteratur zu schreiben, erschien ihnen uneinholbar.

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Peter Handke und Franz Michael Felder Die meisten der genannten Autoren veröffentlichten damals im Salzburger Residenzverlag, der auch jene Bücher von Peter Handke publizierte, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht bei Suhrkamp erschienen. Durch einen Zufall nun bekam Peter Handke in der Mitte der 1980er Jahre Felders Autobiografie in die Hand und zeigte sich begeistert (vgl. Handke 1985: 5f.).8 Damals bewirkten einige Zeilen von Handke mehr als jede Werbekampagne. 1986 erschien Felders Autobiografie bei Residenz, später als Taschenbuch im Suhrkamp-Verlag mit einem kurzen, »Vorrede« überschriebenen Text von Handke, in der man sehr schön nachvollziehen kann, was Handke – und mit ihm eine ganze Autorengeneration – an Felder so faszinierend fand. »Was kann einem Leser des ausgehenden 20. Jahrhunderts die vor zwei Menschenaltern verfaßte Autobiographie eines Bauern aus einem entlegenen Bregenzerwald-Winkel in Vorarlberg bedeuten? Für mich war sie mehr als nur eine ›interessante Lektüre‹: Sie hat mir die eigene Kindheit gedeutet. Und mit ›gedeutet‹ will ich sagen: Sie hat mich die Struktur einer Kindheit auf dem Lande erkennen lassen, wie sie nicht bloß vor hundertdreißig Jahren bestimmend war, sondern – man prüfe nach – auch heute gilt.« (Ebd.: 5)

Dabei zeigt sich bereits in den ersten Sätzen, dass es hier nicht nur um eine aktive Aneignung des Autors zur Deutung der eigenen gegenwärtigen und vergangenen Lebenssituation geht, sondern dass Handke – wie mit ihm auch John Berger – die Universalität bäuerlicher Erfahrung durch die Zeiten hindurch hervorhebt. Handke schreibt weiter: »Vielleicht ist schon der Ausdruck ›Autobiographie eines Bauern‹ irreführend; Franz Michael Felder hat sein Leben nicht als Bauer, vielmehr als Schriftsteller beschrieben. Das heißt keineswegs, daß er sich wie einer vom Metier gibt, trickreich arrangierend, Knoten schürzend, Spannung suggerierend; im Unterschied etwa zu dem Waldbauernbub Peter Rosegger kommt er ganz ohne Schnurren, Anekdoten, Ausmalungen, Dramatisierungen aus. Andererseits erzählt er sein Leben nicht nur nach, wie es ihm in den Sinn kommt: Sein Erzählen, und das ist der schriftstellerische Instinkt Felders, drängt in jeder Episode zum Beispielhaften und bleibt doch – weiteres Merkmal eines Schriftstellerinstinkts – ganz bei der Sache.« (Ebd.)

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Vgl. zur Entstehungsgeschichte dieses Textes Methlagl (2011).

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Denkt man in Österreich an den Zusammenhang zwischen Literatur und Bauerntum, dann fällt, bis heute, als erstes der Namen von Peter Rosegger. Es spricht für Handke, dass er zwar den Namen Roseggers aufruft, ihn aber doch gegen Felder in den qualitativen Hintergrund treten lässt. »Aus der Episode wird so eine Phase, und die Gesamtheit der Phasen ergibt – nicht die Entwicklung (Felders Autobiographie ist kein Entwicklungsroman; dazu ist der Verfasser zu redlich, und deswegen ist sein Buch so unerhört), sondern eben die Struktur. Der Unterschied zwischen dem Arrangieren des Romanciers und dem Strukturieren des Erzählers: Das Arrangement ist vorausgewußt, die Struktur (die Beispielkraft) wird dagegen erst erforscht, mit Hilfe des Erzählprozesses, in welchem das Beispiel nie im vorhinein feststand – es gab nur jenes Drängen hin zu ihm. Und dieses Drängen ist bei Felder, ein weiteres Merkmal seines Künstlertums, erotisch. Er erzählt werbend, wirbt um einen Gegenstand (eine Landschaft), ein Gegenüber (einen Menschen), ja auch um sich selber. Und er ist mit seinem Werben – sonst wäre er kein Künstler – nicht auf Eroberung aus, sondern auf Gerechtigkeit. Das offene Auge für die Gegenstände; der Erkenntnis-Abstand (das ›o Mensch‹ wie auch die gleich blinde Menschenverachtung so meidend) zum Gegenüber; die fruchtbare, das heißt strukturierende Selbstkritik, und schließlich die dem allen sanft entsprechende, das alles erst setzende, verbindende Sprache: das zusammen ergibt die gerechte Form. Solche gerechte Form wäre freilich noch nicht ganz das mich nicht bloß ertappende, durchschauende, sondern mich zuletzt auch erkennende Kunstwerk Aus meinem Leben, als das ich Felders Autobiographie empfunden habe. Zu diesem wird es erst – letztes Merkmal des Künstlers Felder – durch das in jedem Satz wirkende Ideal, welches niemals definiert wird, vielmehr wiederum rein instinktiv bleibt. Der Erzähler dekretiert es an keiner Stelle; aber wohl umschreibt er es; umreißt es; läßt es kräftig ahnen. Ja, ich habe Franz Michael Felders Lebenserzählung gleichsam in Paragraphen lesen können, als ein Gesetzeswerk, so umsichtig und weitgespannt, daß es keine Novelle braucht.« (Ebd.: 5f., Hervorh. im Original)

Freilich ist bei Handke vom guten Leben keine Rede, was Handke hier aber immer und immer wieder umkreist, ist der Abstand vom Gegenüber, der »ErkenntnisAbstand« gegenüber dem zu erzählenden, in der Autobiografie also gerade auch sich selbst gegenüber, der letztlich den Künstler Felder, der aus dem Bauern-Felder geworden ist, ausmacht. Aber auch, Hinweis auf den sozialen Status des Dichter Felders, dass es dessen Herkunft zu verdanken sei, dass er nicht als Romancier auftritt, sondern als Erzähler, dass er keinen Entwicklungsroman geschrieben habe, sondern aufs Erzählen setzt. Letztlich bietet Felder für Handke eben auch die Möglichkeit, sich selbst, der er auch eine Kindheit auf dem Land erlebte, in dieser Autobiographie wiederzufinden. Interessant ist in den Ausführungen vor allem auch

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das, was nicht erwähnt wird. Kein Wort über die Lesesucht Felders,9 kein Wort darüber, dass er das Buch mit 29 Jahren geschrieben hat, kein Wort darüber, dass der Tod von Felders Frau den Schreibimpuls ausgelöst hatte. Die, so könnte man wohl sagen, ›Ent-Biografisierung‹ der Autobiographie macht Handkes Ausführungen kostbar und einzigartig. Sie entlasten den Bauern und machen ihn zum Dichter. In der Differenz zwischen Erleben und Erzählen, zwischen dem unstrukturiertem Erlebnis und dem strukturierten Erzählen des Erlebten, sieht Handke Felders poetische Gerechtigkeit und setzt ihn damit eben auch vom Bauern ab, der, wie von Felder beschrieben, zu sehr mit seiner Heimat verwachsen sei.

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HEUTE

Einen weiteren genauen Leser hat Felder in seinem französischen Übersetzer Olivier Le Lay gefunden. Dieser hat die 2015 wohl auf Anregung von Peter Handke erschienene und gefeierte Übertragung von AUS MEINEM LEBEN ins Französische mit einem schönen Essay begleitet, in dem er, der in einem bretonischen Fischerdorf wohnt, seine Sicht auf die Poesie von Felder formuliert. Auch er betont vor allem den Abstand, den Felder einnimmt. »Nämlich den Abstand, der den Menschen gerecht wird, mit aller notwendigen Genauigkeit und Nüchternheit, und der sie weder schöner scheinen lässt, als sie sind, noch sie verklärt oder ihre Fehler und Schwächen verschleiert.« (Le Lay 2014: 8)

Man wird sagen können, dass es diese von Handke und Le Lay – und von Felder selbst – beschriebene Differenz zwischen Leben und Erzählen ist, in der für Franz Michael Felder und auch für uns heutige das gute Leben auf dem Lande poetisierbar ist. Auch Felders Autorenposition als Bauer im Dorf wird dadurch beschreibbar. Damit ist ein wichtiger Indikator genannt, mit dem der Ort für das Schreiben über das gute Leben auf dem Dorfe gefasst werden kann. Man wird weiter über genau diese Differenz zwischen Dorferfahrung und literarischer Produktion nachdenken müssen, um gerade an den Rändern dieses Schreibens das gute Leben auf dem Lande in seiner poetischen und zugleich poetisierbaren Form zu finden. Die Auseinandersetzungen mit den Schriften von Felder zeigen modellhaft, dass jede Auseinandersetzung mit der Dorfliteratur, mit jeder Literatur, die vom Land handelt, gut daran tut, den Schreibort und die soziale Klasse des Schreibenden

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Die Fokussierung auf die Lesesozialisation Felders war lange Zeit Thema der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, zum Beispiel bei Frischenschlager (1991).

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mitzudenken. Es ist ein Spiel zwischen Identifikation und Ideologie, die uns diese Lesezeugnisse anbieten. Wie weit Felder dabei in die Bibliotheken (und Gedanken) seiner Berufskollegen, den Autorinnen und Autoren, eingedrungen ist, zeigt ein Tagebucheintrag von Arthur Schnitzler; also auch eines Autors, der wahrlich nicht als Dramatiker und Erzähler einer vermeintlich vormodernen bäuerlich-ländlichen Lebenswelt bekannt geworden ist. Dieser notiert am 15. Mai 1915, es war der Tag seines 53. Geburtstags: »im Bett Felders Erinnerungen und schlafe bald nach Mitternacht ein« (Schnitzler 1985: 197).

L ITERATUR John Berger (1982): Sauerde. Geschichten vom Land, München: Hanser. Pierre Bourdieu (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eder, Andreas (1991): »Die verschleppte Geschichte: zur Edition von F. M. Felders Autobiographie ›Aus meinem Leben‹ bis zur Erstveröffentlichung«, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 43/4, S. 303-310. Feierl-Giedenbacher, Birgit (2011): beten, einreden, durchhecheln: Sprechakte in Franz Michael Felders Roman »Sonderlinge«, Wien: Braumüller. Felder, Franz Michael (2018): »Ein Ausflug auf den Tannberg«, in: Ders., Liebeszeichen und andere Dorferzählungen aus dem Bregenzerwald, hrsg. von Jelko Peters und Jürgen Thaler, Lengwil: Libelle, S. 75-105. Felder, Franz Michael (1904): Aus meinem Leben, herausgeben und eingeleitet von Anton E. Schönbach, Wien: Verlag des Literarischen Vereins. Frischenschlager, Ruthilde (1991): Franz Michael Felder (1839-1869). Bildungsweg und Persönlichkeit. Zur Entstehung des literarischen Realismus in Österreich, München: Ludwig. Geiger, Arno (2017): »Die menschliche Erdgebundenheit. Unter freiem Himmel«, in: Unter freiem Himmel. Landschaft sehen, lesen, hören, hrsg. von Kirsten Voigt und Pia Müller-Tamm, Bielefeld: Kerber, S. 264-269 Hamacher, Werner (2015): »Diese Praxis – Lesen«, in: Lesen. Ein Handapparat, hrsg. von von Hans-Christian von Herrmann und Jannie Moser, Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 73-98. Handke, Peter (1985): »Vorbemerkung«, in: Franz Michael Felder, Aus meinem Leben. Mit einer Vorbemerkung von Peter Handke und einem Nachwort von Walter Methlagl, Salzburg: Residenz, S. 5f. Heidegger, Martin (1983): »Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?«, in: Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976. Gesamtausgabe Bd. 13., Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 9-13.

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Hildebrand, Rudolf (1867): »Ein Bauer als Dichter«, in: Gartenlaube 15 (1867), S. 234-238, wiederabgedruckt in: Franz Michael Felder (1978), Sämtliche Werke, Band VII, Bregenz: Lingenhöle, S. 454-463. Le Lay, Olivier (2014): »Aus meinem Leben«, in: Jahrbuch/Franz-Michael-FelderArchiv der Vorarlberger Landesbibliothek 15, S. 7-10. Mecklenburg, Norbert (1982): Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein i.T.: Athenäum. Mecklenburg, Norbert (1987): Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes, München: Iudicium. Methlagl, Walter (1978): Franz Michael Felder und Kaspar Moosbrugger im Kampf der politischen Parteien Vorarlbergs 1864-1868, Bregenz: Fink. Methlagl, Walter (2011): »›Ich werde Tag für Tag weiterlesen‹: Vier Briefe von Peter Handke an Walter Methlagl mit kurzen Erläuterungen des Adressaten«, in: Jahrbuch/Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek 12, S. 7-16. Neumann, Michaela (2001): Franz Michael Felder als Volkserzieher. Eine Analyse der Schriften des Bauerndichters unter pädagogischen Gesichtspunkten, Frankfurt a.M.: Lang. Nitzke, Solvejg (2020): »Genealogie und Arbeit. Ökologisches Erzählen bei Franz Michael Felder und Ludwig Anzengruber«, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 30/2, S. 345-362. Peters, Jelko (2016): »›das ist nicht bloß ein gutes, das ist ein ausgezeichnetes werk‹. Aus den Briefen Anton Emanuel Schönbachs an Hermann Sander über Franz Michael Felders Autobiographie Aus meinem Leben«, in: Jahrbuch/FranzMichael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek 17, S. 129-156 Rosegger, Peter (1871): »Im Bregenzerwalde«, in: Ders., Wanderleben. Skizzen, Pest: Heckenast, S. 165-174. Rosegger, Peter (1877): »Ein merkwürdiger Bauersmann«, in: Heimgarten I/8, S. 614-618. Rosegger, Peter (1888): »Wie die Wälder einen großen Dichter feiern«, in: Heimgarten XII/5, S. 381-383. R. [= Peter Rosegger] (1904): »Michel Felder, der Bauerndichter«, in: Heimgarten XXIX/1, S. 22-27. Rosegger, Peter (1908): »Kunst und Provinz«, in: Ders.: Volksreden über Fragen und Klagen, Zagen und Wagen der Zeit, Berlin: Verlag E. Kantorowicz, S. 150157. Sander, Hermann (1876): Das Leben Felders, des Bauers, Dichters und Volksmannes aus dem Bregenzerwald. Ein biografischer Versuch, Innsbruck: Wagner. Schnitzler, Arthur (1985): Tagebuch 1913-1916, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Stockinger, Claudia (2020): »Provinz erzählen. Zur Einleitung«, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 30/2, S. 295-305.

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Thaler, Jürgen (2011): »Felder und die Gattungen«, in: Franz Michael Felder (1839-1869). Aspekte des Werks, hrsg. von Ulrike Längle und Jürgen Thaler, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 171-184. Wagner, Karl (1991): Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger, Tübingen: Niemeyer. Weiland, Marc (2020): »Böse Bücher aus der Provinz. Der Anti-Heimatroman und das aktuelle Erzählen über Land«, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 30/2, S. 326-344.

Es heimatet sehr 125 Jahre Heimatfilm A LEXANDRA L UDEWIG

E INLEITUNG Die Einrichtung eines Heimatministeriums auf Bundesebene nach bayrischem Vorbild Anfang 2018, ein Boom auf dem Markt der Trachtenmoden und Regionalbzw. Heimatkrimis und die anhaltende Beliebtheit von Tatort-Episoden mit unverkennbar regionalem Flair beweisen: es heimatet sehr in Politik, Wirtschaft und Kultur. Die Filmindustrie steht dem nicht nach, kann aber im Gegensatz zu den anderen Sektoren auf eine ungebrochene Heimatgeschichte verweisen. Heimatfilme werden bereits seit nahezu 125 Jahren in allen deutschsprachigen Ländern produziert und ziehen sich wie ein grünes Band durch die Filmgeschichte des Wilhelminischen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der NS-Diktatur, der DDR, der BRD, Österreichs, der Schweiz sowie des vereinigten Deutschlands. Das Genre erlebte über die Jahre hinweg zahlreiche Transformationen und die Entwicklung von SubGenres, Schwester-Genres und Ablegern. Das Label »Heimatfilm« als Evergreen zeigte auch jüngst im Zuge von Flüchtlingsdebatten, Globalisierung und Schnelllebigkeit wieder besondere Konjunktur. Der folgende Beitrag soll einen Einblick in die Entwicklung des deutschsprachigen Heimatfilms von seinen Anfängen bis heute geben. Er fokussiert dabei die immer wieder als nahezu konstitutiv gedachte Verbindung von Imaginationen ländlicher Räume und kulturellen Heimatkonstruktionen – wenngleich sie doch, das zeigt eine Vielzahl von filmischen Beispielen, an sich keineswegs als notwendig erachtet werden muss und Heimatvorstellungen gleichfalls auch auf urbane Räume projiziert bzw. aus diesen herausgelesen werden (können). Filme, wie andere Texte und kulturelle Produkte im Allgemeinen, werden seit jeher dazu verwendet, um von realen wie imaginierten Gemeinschaften zu erzählen oder diese neu zu definieren, interpretieren und konturieren. In den Jahren vor dem

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Fernsehen und Internet bot das Kino ein einzigartig wirksames Forum dafür, Massen zu erreichen und zu mobilisieren. So sind Filme zu einem Mittel geworden, um soziale, territoriale oder ideologische Ansprüche zu rechtfertigen und um auf die sich verändernden Konfigurationen einer Gesellschaft zu reagieren. Das Medium Film erreicht nicht nur Massen von Menschen, es trifft sie ins Herz und lenkt ihre Emotionen und Sympathien. Mit Filmen können die verborgenen Wünsche und Ängste der Betrachter aufgedeckt, Fantasien freigesetzt und gemeinsame Stimmungen und Dispositionen materiell gestaltet werden. Filme können somit als Interventionen im kulturellen und politischen Leben verstanden werden, die Zusammenhänge reflektieren wie prägen können. Dies zeigt sich auch dann, wenn Filmemacher auf populäre Genres zurückgreifen: d.h. sich in einem Rahmen von Konventionen bewegen, die mit spezifischen Erwartungen verknüpft sind. Durch den Rückgriff auf generische Konventionsmuster wird ein Text unweigerlich in die Geschichte dieser Konventionen, in die Geschichte des kulturellen Repertoires, auf das sie sich beziehen, und in die Geschichte dieser Bezüge eingeschrieben.

E IN GRÜNES B AND DER K ONTINUITÄT Das Genre Heimatfilm wird mit vielerlei Konventionen assoziiert, die sich über fast 125 Jahre etabliert haben. Vom Wilhelminischen Kino (1895-1918), dem Weimarer Kino (1918-33) und dem NS-Kino (1933-45) über die nationalen Kinos in Österreich, der Schweiz sowie Ost- und Westdeutschland bis hin zum kritischen und sogenannten neuen Heimatfilm in Europa wurden diese Genreerwartungen aufgebaut und adaptiert. Besonders in den Filmen, die von nationalsozialistisch geprägten Heimatvorstellung erzählten, aber auch in den meisten Heimatfilmen der 1950er Jahre und den Vereinigungsfilmen der 1990er Jahre, versprach das Heimatfilmgenre Wiedergeburt, Erneuerung, Integration, Affirmation und Konsolidierung innerhalb einer Gemeinschaft – Köder genug für die Mehrheit der Zuschauer, um der Beschwichtigungsbotschaft der Heimatfilme zuzustimmen. Die Regisseure dieser Filme legten sich mit ihrer Wahl des Genres explizit fest, innerhalb dieses vorgegebenen Schemas zu arbeiten und ein harmonisches Konformitätsverhältnis auf gesellschaftlicher Ebene zu fördern. Folglich sahen sich die meisten Filmschaffenden dieses Genres dazu verpflichtet, eher auf Befriedigung als auf Aktion und Auflehnung zu setzen und somit, wie Hess Wright in einem kritischen Essay über Filmgenres schreibt, »den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen« (Hess Wright 1986: 41). Dies zeigt sich in den Filmen der 1950er Jahre, die im Allgemeinen als prototypisch für das Genre gelten, wie Hans Deppes SCHWARZWALDMÄDEL (1950) und GRÜN IST DIE HEIDE (1951) sowie Alfons Stummers DER FÖRSTER VOM SILBERWALD (1954).

E S HEIMATET

SEHR

– 125 J AHRE H EIMATFILM

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Zu anderen Zeiten, zum Beispiel in den 1970ern und wieder in den Jahren seit den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001, haben Filmemacher diese Formel variiert und mit spielerischen bis provokativen Abweichungen von der allgemeinen Norm versucht, soziale Debatten voranzutreiben oder divergierende Meinungen zu thematisieren und stimulieren (vgl. Ludewig 2011). Dieses Muster zeigt sich sowohl in den Filmen, die zum Neuen Deutschen Film der 1960er und 70er Jahre gehören, wie z.B. Werner Herzogs LEBENSZEICHEN von 1969 und Peter Fleischmanns JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN von 1960, als auch in kritischen und ambivalenten Heimatfilmen der Folgejahrzehnte, z.B. Edgar Reitzs HEIMAT-Trilogie von 1984 bis 2004. In einer seiner jüngsten Varianten, nämlich in Ostalgie-Filmen, wie SONNENALLEE (1999) und GOOD-BYE, LENIN! (2003), und Westalgie-Filmen, wie DIE UNBERÜHRBARE (2000), HERR LEHMANN (2003) und DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (2004), zeigt sich eine (mitunter auch kritisch gebrochene und/oder satirisch ausgestellte) Rückbesinnung und Rückerinnerung auf bzw. an scheinbar verlorene Heimatkonstrukte eines »Damals«, das in den ehemaligen ost- und westdeutschen Staaten verortet wird. In diesen ostalgischen wie westalgischen Ausprägungen des Heimatgenres lassen sich nostalgische Momente zur Etablierung eines Schutzraumes festmachen, in dem Heimatsehnsüchte nach den guten alten Zeiten, die mit der Wende von 1989/90 endgültig vergangen schienen, Ausdruck finden. Mit der Flucht in eine imaginierte Vergangenheit ist hier die Intention verbunden, Defizite der Gegenwart auszugleichen und anzuprangern. Wie bei Mythen generell geht es in Ostalgie- und Westalgiefilmen nicht um Tatsächliches und Verbürgtes, sondern um eine psychologische und symbolische Wahrheit, die einem positiven Heimatempfinden und einer gelungenen Lebensdeutung sehr nahekommt. So soll die eigene Vergangenheit vor der Verurteilung, damals sei alles schlecht oder grau oder langweilig gewesen, gerettet werden. Die Geschichten einer Nation zu erzählen, die eigene Vergangenheit zu mythologisieren und die eigene Entwicklung als Versprechen und Schlüssel für eine noch bessere Zukunft zu erklären, hat zu allen Zeiten zur Bildung und Konsolidierung von Gesellschaften beigetragen, bisweilen auch in Ablehnung und Opposition zu Anderen. Die Höhen und Tiefen des Heimatfilmgenres – einschließlich seiner zeitweiligen Verdrängung durch andere Arten von Filmen, seine kritische und populäre Rezeption, seine kreativen Veränderungen und die jüngste Renaissance – geben Hinweise auf die jeweiligen Gesellschaften, von denen diese Filme erzählen und auf die sie sich beziehen. So erlaubt der Heimatfilm als populäres Genre Einblicke in die deutsche Geschichte. Daher hebt auch Thomas Elsaesser hervor, dass insbesondere das Heimatfilmgenre als ein äußerst genaues und sensibles Barometer für Verschiebungen der öffentlichen Meinung über ein breites Spektrum sozialer und moralischer Fragen verstanden werden kann (vgl. Elsaesser 1988: 5). Soziale und kulturelle Belange werden immerfort in die Produktion und die Variation von

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Genrefilmen eingeschrieben, auch wenn mit den Konventionen spielerisch umgegangen wird (vgl. Neale 1990: 58). In den Filmen mit Heimat als zentralem Thema können in der Auseinandersetzung mit Ähnlichkeit und Analogie sowie Identität und Differenz diese vielfältigen Heimat-Ausformungen als thema con variatione gesehen werden. Der Genealogie des Heimatfilms wie auch derjenigen anderer Genres, z.B. des American Western, wurden Entwicklungen zumeist erst retrospektiv ein- und zugeschrieben. Für den Heimatfilm geschah dies insbesondere in den 1950er Jahren, als man bereits auf eine über 50-jährige Geschichte von Filmen, die Heimat imaginierten und thematisierten, zurückblicken konnte. Diese Zuschreibung etablierte sich damals zu einem Marketinglabel und einem scheinbar einheitlichen Deskriptor für ziemlich heterogene Filme. Gleichzeitig provozierte eine Schwemme von Heimatfilmen, scheinbar aus der Retorte, zu der Stigmatisierung des Genrebegriffes. Stereotype Wiederholungen reduzierten viele Vertreter des Genres besonders in den 1950er und 1960er Jahren auf populäre Strukturelemente, wie zum Beispiel eine Handlung, die gewöhnlich in einem Dorffest gipfelt, bei dem alle Mitglieder der Gemeinschaft, jung und alt, reich und arm, zusammenkommen. Schon bald kam es zu einer Übersättigung des Marktes und einem Mangel an Erneuerung. Das Publikum wurde langsam der bekannten Requisiten, der unverkennbaren Ikonographie sowie der voraussehbaren Standardstrukturen der Narration überdrüssig, kannte man dies doch nun schon seit den Volksfilmen der 1920er und 30er Jahre.

D IE A NFÄNGE Schon Rezensionen von frühen Stummfilmen bezeugen, dass zeitgenössische Betrachter bereits zuhauf heimatlichen Bildern ausgesetzt waren, die ab 1906 auch als »place films« oder nach 1918 bisweilen als »Kulturfilme« bezeichnet wurden. Nur wenige dieser Filme haben bis heute überlebt. Wie jedoch Johannes von Moltke hervorhebt, verraten ihre überlieferten Titel die enge Verbindung zwischen Heimatkunst und dem Kino im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. HEIMATLICHE SCHOLLE (1910) wurde laut von Moltke in Zensurdokumenten unter Bezug auf konstitutive dramaturgische Gegensätze beschrieben, die für das Genre Heimatfilm typisch werden, z.B.: »Bauernjunge wird in der Stadt kriminell. Rückkehr nach Hause.« (Zit. n. von Moltke 2005: 28) Von Moltke fand auch eine Vielzahl von Filmtiteln, die sich direkt oder indirekt auf Heimat beziehen, wie HEIMKEHR (1911), WENN DIE HEIMAT RUFT (1915), oder einfach HEIMAT, ein Titel, der für fünf verschiedene Filme zwischen 1912 und 1919 verwendet wurde. Dies erklärt, warum das Publikum mit den proto-generischen Filmen so sehr vertraut war, dass ein zeitgenössischer Rezensent des Films DIE GEIER-WALLY (1921) bemerkte, dass man es

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kaum noch ertragen könne, »noch mehr Tiroler Bauernhöfe, Bauernhütten, Tanzflächen im Freien und Dorfgasthöfe zu sehen« (zit. n. von Moltke 2002: 20). Ein Großteil der Heimatliteratur und -filme werden und wurden in erster Linie mit anspruchsloser Unterhaltung assoziiert und als Teil eines trivialen Genres im Dienste des Eskapismus angesehen. Darüber hinaus führte die Ideologisierung der Heimat in der Literatur, insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur Darstellung von provinziellen Idyllen, die seit je von den meisten Intellektuellen verachtet wurden und werden. Der Begriff »Heimatfilm« als Genreklassifikation entwickelte sich aus dem bestehenden Konzept der Heimatkunst, das besonders in Anlehnung an Romane und Dorfgeschichten von Ludwig Anzengruber (1839-89), Peter Rosegger (1843-1918), Ludwig Ganghofer (1855-1920) und Ludwig Thoma (1867-1921) zu Popularität gelangte. Die ersten Adaptionen der Werke von Anzengruber und Ganghofer, die zunächst als Volksfilme bezeichnet wurden, stammen aus den Jahren 1914 und 1918 und markieren durch ihr gehäuftes Auftreten die Premiere des Heimatgenres auf der Leinwand. Die Verfilmung von Ganghofers DIE BLONDE CHRISTEL (1933) wurde erstmalig mit dem Zusatz »Heimatfilm« vermarktet. Parallel zu diesen frühen Beispielen literarischer Adaptionen wurden Berglandschaften auch auf Zelluloid festgehalten; sie beleuchten Aspekte des alpinen Lebens für Touristen und Einheimische, und zwar zunächst im dokumentarischen Stil und später mit einem größeren narrativen Element, das zu dem führte, was mit der paradigmatischen Heimat assoziiert wird: Bilder von ländlichem Glück und Natur. Zu den Tropen gesellten sich alsbald typische Klanglandschaften: Kirchenglocken, Volksmusik sowie das fröhliche Lachen und Treiben glücklicher Naturburschen und ihrer Verehrerinnen. Während es im Nachhinein offensichtlich erscheint, wie leicht sogar frühe Beispiele der Heimatliteratur in späteren Jahren für politische Zwecke verwendet werden konnten, sind angesichts der Art, wie sich ihre Autoren der populären folkloristischen Literaturtradition anschlossen, viele Dorfgeschichten und Heimatromane dennoch alles andere als trivial oder eindimensional. Adalbert Stifters Biedermeierstil oder Theodor Storms poetischer Realismus evozierten Heimatbilder des ländlichen Lebens als unberührten Kosmos, unberührt von gesellschaftlichen Umbrüchen trotz drastischer Veränderungen durch zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung. Diese Autoren drückten ihre Liebe und ihren Respekt für Heimat aus, was während des ganzen 19. Jahrhunderts als eine Tugend galt. Infolgedessen erreichte das Genre der Heimatliteratur seinen Höhepunkt im späten 19. Jahrhundert, als ›die‹ Heimat vermehrt durch sozialen und wirtschaftlichen Wandel in der öffentlichen Meinung als bedroht wahrgenommen wurde. Die Erhöhung der Natur, ihr exponierter Stellenwert, ließ sich symbolisch wie ästhetisch besonders in Bergfilmen verwirklichen. Bereits Ganghofer führte seine Massenleserschaft ins Hochland, das als ideale Umgebung für die Erhebung und Verbesserung des Menschen fungierte. Diese Logik wurde vom Pionierfilmemacher

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Arnold Fanck in seinen Bergfilmen durch idealisierte Natur und siegreiche Naturburschen, die ihrer Macht und Schönheit gewachsen sind, aufgegriffen. In filmischen Adaptionen von Ganghofers Werken und zunehmend auch in auf die Berge zugeschnittenen Drehbüchern wurde die Natur zum Protagonisten. Die Berge und mit ihr das wilde Panorama der alpinen Heimat entwickelte sich zur unverzichtbaren Kulisse für Geschichten von Kameradschaft und Liebe, die gute und schöne Menschen zusammenführen und schlechte Einflüsse beseitigen. Seit Peter Ostermayr 1918 die Exklusivrechte an den Werken Ludwig Ganghofers erworben hatte, beeinflussten filmische Adaptionen seiner Romane später auch die Genreerwartungen des filmischen Publikums sowie der Fernsehzuschauer. Ganghofers Romane popularisierten die Alpen und formulierten die Ortsarchetypen des Heimatgenres (vgl. von Moltke 2005: 37), die Ostermayr in die Wirklichkeit des Kinos übersetzte. Mit der Übertragung der Heimat-Ikonographie »vom Massenmedium des 19. Jahrhunderts auf den Nachfolger des 20. Jahrhunderts, das Kino« (ebd.: 43) prägte Ostermayr die frühen Kennzeichen des Genres, welches er als sein »Metier« reklamierte (Ostermayr, zitiert in Höfig 1973: 143): eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen, die durch die Handlung nur marginal gerechtfertigt waren. Steiner bringt es für die Heimatfilme der 1950er Jahre auf folgende Formel: »Landschaft als Kulisse für nichtssagende Handlungen, Garnierung mit Schlagern, die eigens für den Film komponiert wurden, dazu einige Komiker, die die Handlung umrahmen, und ein ›altbewährter‹ Regisseur, der dies alles in Szene setzt.« (Steiner 1987: 57) Doch Ostermayr kann den Urtypus des Heimatgenres nicht für sich allein beanspruchen. Bereits mit dem Aufkommen des Kinos als Massenkultur in der Weimarer Republik verhießen Arnold Fancks Bergfilme wie DER HEILIGE BERG (1926) und DIE WEIßE HÖLLE VON PIZ PALÜ (1929) das Potential der Heimat-Ikonographie (vgl. Ludewig 2016a). Die Werke von Leni Riefenstahl (z.B. DAS BLAUE LICHT von 1932) und Luis Trenker (z.B. DER VERLORENE SOHN von 1934) trugen das Ihre zur Popularität des Genres bei, das nun zunehmend auch für nationalsozialistische Zwecke instrumentalisiert wurde, z.B. in Carl Froelichs HEIMAT von 1938 (vgl. Ludewig 2016b). Die während des Dritten Reiches produzierten Heimatfilme veranschaulichen, warum viele Nationalsozialisten den Film im Allgemeinen und das Genre des Heimatfilms im Besonderen als wichtiges Instrument zur Verbreitung ihrer Ideologie und als Mittel zur Gleichschaltung eines Volkes betrachteten. Die meisten Heimatfilme der 1930er und 1940er Jahre wurden nach den Prinzipien der Tradition des Bildungsromans strukturiert. Erfolgreiche Integration in die Gesellschaft wird normalerweise nach einer Reise, die vom Pfad der Tugend und der sozialen Akzeptanz wegführt, erreicht. Die Rückkehr in den sicheren Hafen einer geordneten, da chauvinistischen und nationalistischen, Volksgemeinschaft stellt das Ideal zwischen 1933 und 1945 dar. Im Kontext der Nachkriegsjahre zeigte sich eine erstaunliche Kontinuität. Die ideologisch aufgeladene Botschaft sollte insbesondere für Men-

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schen aus dem Sudetenland, Oberschlesien oder Ostpreußen nach der Vertreibung einen Neuanfang erleichtern. In der Nachkriegszeit konnte das altbewährte Heimatgenre nun Millionen von Menschen, unter ihnen Flüchtlinge, Rückkehrer und Vertriebene, die Notwendigkeit einer positiven Identifikation mit der neu geschaffenen Bundesrepublik Deutschland bewusst vermitteln, in der Nationsbildung und soziale Homogenisierung von zentraler Bedeutung waren. In ähnlicher Weise wurde in den Nachkriegsjahren die Idealisierung der von den Nationalsozialisten ausgebeuteten Verbindung zwischen Blut und Boden angepasst, um die Bande zu betonen, die zwischen Völkern verschiedener Regionen und Menschen verschiedener Generationen existierten und so die Errichtung eines friedlichen Systems zu unterstützen. In dieser Zeit wurden eine weniger offen ausschließende und eliminierte Lesart von Heimat und Volk favorisiert sowie antisemitische und homophobe Tendenzen nur latent aufgezeigt, um so die Unterstützung großer Teile der deutschsprachigen Bevölkerung für die hauptsächlich eskapistischen Bildschirmnarrative sicherzustellen. Sowohl die ländliche Heimat in Heimatfilmen als auch ihr städtisches Gegenstück im Trümmerfilm wurden als Orte der nationalen Seelensuche genutzt. Zur Zeit des »Wirtschaftswunders«, als es noch viele physische und psychische Lücken und Narben gab und erst langsam neue materielle Wirklichkeiten geschaffen wurden, boten Heimatfilme eine willkommene Projektionsfläche und Imaginationsvorlage. Der schnelle Niedergang des Trümmerfilms im Gegensatz zur Popularität der zuckersüßen Heimatgeschichten in Dorfgemeinschaften zeugt von der damaligen psychischen Verfassung vieler Deutscher, die Eskapismusangebote dankbar annahmen. In den 1950er Jahren sorgte die Vorherrschaft eines zunehmend massenproduzierten, versöhnlich-stimmenden Heimatgenres somit für überraschende Kontinuitäten. Peter Ostermayr rettete seine Erfolgsformel für das Heimatfilmgenre über Jahrzehnte und Regimewechsel bis 1958 hinweg. Beginnend 1910 mit den ersten stillen Schwarz-Weiß-Adaptionen von Ganghofers Hochland-Umgebung, setzte er dann seine Karriere mit Remakes fort, zuerst mit der neuen Soundtechnologie »als unabhängiger UFA-Produzent« während der NS-Zeit und dann im Breitwand- und Farbformat der 1950er Jahre. Das sogenannte »Ganghofer-Schema« (Steiner Daviau 2001) sollte Teil der Symbolsprache der Heimatfilme werden, die auch sein Kollege Robert Erwin Konrad Lüthge zu bedienen wusste. Lüthge, ein erfahrener UFAFilmemacher, legte ebenfalls von 1919 bis 1958 als Drehbuchautor und Produzent erfolgreiche Melodramen und Heimatfilme vor. Und auch er bekannte sich offen zu einer verfeinerten Rezeptur mit wechselnden Anteilen immer gleicher Ingredienzien: eine gute Mischung aus Liebe, Erotik, Konflikt, Happy End und Humor. Lüthge behauptete, ein gelungener Film könne aus diesen Zutaten wie ein guter Cocktail gemixt werden und sah in der Wiederholung kein Problem: »Der Mai ist im Grunde in jedem Jahr gleich.« (so Lüthge im SPIEGEL 1952: 33) Mit seinem Remake von GRÜN IST DIE HEIDE aus dem Jahre 1951 wurde er zu einem der Spitzenverdiener Deutschlands. Seine Produktionsfirma perfektionierte sein Verständnis für die An-

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sprüche der Zuhörer und lieferte, was erwünscht war: narrative Elemente aus häuslichen Melodramen, die traditionelle Lebensstile und patriarchalische Haushalte propagierten und so insbesondere für das weibliche Publikum emotionale Ankerpunkte boten, während das männliche Publikum sich in der Rolle des Naturburschen und umschwärmten Helden gefiel. Mit der Existenz dieses Blueprints oder Schnittmusters waren Filme, die nach GRÜN IST DIE HEIDE produziert wurden, hauptsächlich Versuche, diesem Erfolgsschema nachzueifern. Eine ähnliche Lesart des Heimatfilms der 1950er Jahre kommt von Kritikern, wenn auch mit einer starken Brandmarkung der Qualität der Filme. Konstruiert, selektiv, reduzierend, sentimental und repetitiv (vgl. Rippey et al. 1996: 137) waren wiederholt Urteile mit Blick auf Aspekte, die in etwa 300 Heimatfilmen in der Zeit von 1950 bis 1960 »in endlosen Variationen wiederholt wurden« (ebd.). Diese Filme dienten dem allgemeinen Eskapismus, den das Publikum mehrheitlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Ost- wie Westdeutschland suchte. Dies führte aber auch dazu, dass das Genre von vielen Kritikern gemieden wurde, die beklagten: »Der bundesdeutsche Gegenwartsfilm vermeidet nicht nur eine sachliche Darstellung der eigenen sozialen und politischen Realität, er meidet offenbar auch die Erinnerung daran [...]. Der bundesdeutsche Gegenwartsfilm huldigt einem rigorosen Eskapismus.« (Hack 1975: 344) Produktionsdruck, insbesondere in der frühen Mangelwirtschaft der 1950er Jahre, führte gelegentlich nicht nur zum Wiederauftauchen von Handlungselementen, sondern auch zum Recycling von Klanglandschaften, Kulissen und Kostümen. Solche Methoden machten kommerziellen Sinn, da Genrefilme es den Studios erlaubten, ihre Produkte effizient und schnell zu konzipieren, zu produzieren, zu vermarkten und zu vertreiben (vgl. Pramaggiore/Wallis 2006: 360f.), doch das Publikum wandte sich nun vermehrt Neuem zu.

D IE Z ÄSUR Ende der 1950er Jahre setzte mit dem wachsenden Wohlstand und der Entdeckung ferner Reiseziele eine Übersättigung mit den altbekannten Kulissen und Narrativen ein. Das Heimatfilmgenre drohte in Vergessenheit zu geraten, wenn es nicht mit der Zeit und dem neuen Geschmack ginge. Trotz oder gerade wegen der extremen Popularität der Heimatfilme der frühen 1950er Jahre nach der Standardformel – »einfache Inhalte, schöne Landschaft, die glückliche Liebesbeziehung, Konzentration der Interessen auf den privaten Bereich, […] Darstellung der Landschaftsverwurzelung des Menschen durch Trachten und leicht verständliche Bräuche« (Steiner 1987: 46; vgl. Höfig 1973: 104) – erlosch die Anziehungskraft der Filme, zumal die Heimatfilme der fünfziger Jahre, ungeachtet einiger Anpassungen und Transforma-

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tionen, in den Augen vieler Kritiker nicht in der Lage waren, das Stigma des Nationalchauvinismus sowie der Ideologie des Blutes und des Bodens und der überbordenden Emotionalisierung (Kaes 1989: 15) zu überwinden. Viele Heimatfilme, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland produziert wurden, waren in der Tat Remakes von Filmen aus der Hitlerzeit, die der teils vertriebenen, teils verarmten und oft traumatisierten Bevölkerung in Mitteleuropa helfen sollten, indem sie ihnen vertraute Kulissen mit heilen Welten und naheliegenden Idealen lieferten. Für viele Deutsche bedeutete der Alltag in den Nachkriegsjahren eine Erfahrung des Verlusts und ein damit einhergehendes Vakuum, das mit nostalgischen Erinnerungen gefüllt werden sollte (ebd.: 166). Als die Lebensstandards auf dem Höhepunkt des »Wirtschaftswunders« in Westdeutschland rasant stiegen, schienen die Versprechungen und Ablenkungen der Heimatfilme jedoch zunehmend überflüssig. Die Popularität des Genres erreichte ein Allzeittief. Obwohl die Anzahl der ab den 1960er Jahren produzierten Heimatfilme aufgrund der nachlassenden Nachfrage stark abnahm, hat das Genre durch die Übernahme und Adaption von Elementen aus anderen Quellen überlebt, so dass Heimatfilme eine Form künstlerischen Engagements und Bestandteil des politischen Diskurses geblieben sind. Über Themen wie Gemeinschaft, Geschichte, Geschlechterrollen und Konsum (Rippey et al. 1996: 137) haben sich Heimatfilme weiterhin mit ideologischen Botschaften auseinandergesetzt, die mit den wirtschaftlichen und politischen Agenden in West- und Ostdeutschland verknüpft waren. Was jetzt erprobt wurde, war ein kreativerer Umgang mit dem Genre, z.B. durch die Integration von Aspekten der westdeutschen Reisewelle. Dies vollzog sich zum einen in einem Wechsel der Örtlichkeit, weg von der deutschen und hin zu einer europäischen bis kosmopolitischen Heimat, wie etwa in den aufkommenden Tourismusfilmen, z.B. Helmut Käutners KÄPT´N BAY-BAY (1953), Hans Deppes MANDOLINEN UND MONDSCHEIN (1959), Paul Martins PETERSBURGER NÄCHTE (1958), O SOLE MIO (1960) und RAMONA (1961) bis hin zu Tourismus-Fernsehserien wie DAS TRAUMSCHIFF (seit 1981). Zum anderen wurde diese Erneuerung aber auch in einer Abkehr von der monogamen Kleinfamilie gesucht, wie in den Heimat-Sexfilmen gezeigt wurde, z.B. in Franz Antels 00 SEX AM WOLFGANGSEE (1966), Hans Albins PUDELNACKT IN OBERBAYERN (1968) und Franz Marischkas LIEBESGRÜßE AUS DER LEDERHOS’N (1973). Auch die Welle der kritischen Heimatfilme oder Anti-Heimatfilme, die in den späten 1960er und 1970er Jahren produziert wurde, stellt eine weitere radikale Erweiterung des Genres dar. Anti-Heimatfilme hauchten dem Genre neues Leben ein und zeigten innovative Wege auf, die vorherrschende Kultur in der westdeutschen Gesellschaft zu erneuern. Diese Rebellion gegen einen als lähmend empfundenen status quo im Westen wurde im OBERHAUSENER MANIFEST (1962) prägnant artikuliert und bereitete so den Auftritt des »Neuen Deutschen Films« vor. In ihrem Bestreben, sich von dem altmodischen Heimatkonzept und den NS-Konnotationen

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zu distanzieren, wandten sich Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff den Volksstücken von Dramatikern der Weimarer Republik wie Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth sowie Brechtschen Verfremdungstechniken zu. Ihre Filme über die Heimat kritisierten die vorfaschistische und später krypto-faschistische Ideologie und Sprache, so z.B. Fassbinders KATZELMACHER (1969) und PIONIERE IN INGOLSTADT (1970) sowie Schlöndorffs DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON KOMBACH (1971) und DEUTSCHLAND IM HERBST (1978). Dies brachte Fassbinder und Schlöndorff internationalen Ruhm als prominente Auteurs und gab den deutschen Cineasten die Hoffnung auf eine neue kulturelle Blütezeit. Große Teile des nationalen Publikums fühlten sich jedoch von den intellektuell anspruchsvollen Beiträgen des Neuen Deutschen Films vor den Kopf gestoßen. Sie konnten sich eher mit den in Edgar Reitzs HEIMAT-Reihe geäußerten ambivalenten Darstellungen von Heimat und Geschichte identifizieren, insbesondere in HEIMAT – EINE DEUTSCHE CHRONIK (1984) und DIE ZWEITE HEIMAT – CHRONIK EINER JUGEND (1992). Vertreter verschiedener Generationen bekamen in der Trilogie mit der Mutter Maria und ihrem Sohn starke Persönlichkeiten und komplexe Identifikationsangebote präsentiert. Reitz’ Leistung ist eine nicht unkritische, aber versöhnliche Auslotung des Heimatdiskurses, was auch als Voraussetzung für die (historische) Rehabilitierung des Begriffs und den Beginn einer überwiegend positiven Wiederentdeckung der Heimat verstanden wurde (vgl. Ludewig 2016c). Diese ambivalente Auseinandersetzung mit Heimat haben Stefan Ruzowitzkys DIE SIEBTELBAUERN (1998), Didi Danquarts VIEHJUD LEVI (1999), Hans Steinbichlers HIERANKL (2003), Michael Hanekes DAS WEIßE BAND – EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE (2009) und Ludwig Wüst in seiner Heimatfilm-Trilogie DAS HAUS MEINES VATERS (2013), ABSCHIED (2014) und HEIMATFILM (2016) erfolgreich fortgesetzt (vgl. Ludewig 2019a). Während Reitz und Haneke auch international ein großes Publikum erreichen konnten, begeisterte sich die nationale Öffentlichkeit im Medium Fernsehen insbesondere für Serienformate mit Heimatcharakter. Zum einen sind hier Produktionen wie DIE SCHWARZWALDKLINIK (ZDF, 1984-1988), FORSTHAUS FALKENAU (ZDF, 1989-2013), SCHLOßHOTEL ORTH (ZDF/ORF, 1996-2005) und LENA LORENZ (ZDF/ORF, seit 2015) zu nennen. Zum anderen vollzog sich in diesem Rahmen zudem die Verlagerung des Heimatfilmschauplatzes in urbane und suburbane Lebensräume, wie z.B. in der LINDENSTRAßE (WDR, 1985-2020) und ebenso in TATORT-Beiträgen (ARD, ORF 2 und SFR 1, seit 1970), in denen die verschiedensten Kieze und Nachbarschaften in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz inszeniert werden (vgl. Ludewig 2019b). In den meisten Beiträgen geht es zwar weniger um Naturgewalten, doch weiterhin um geschlossene Gemeinschaften, deren innerer Frieden wiederhergestellt werden muss.

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Die Wiederentdeckung ›der‹ Heimat war auch nach 1989 ein Leitmotiv, das sich in einer Vielzahl von Ostalgie- und Westalgiefilmen widerspiegelte, die unverwechselbare Merkmale des Heimatgenres tragen. Nach der Wende von 1989 reagierten Regisseure ähnlich auf den gesellschaftlichen Wandel wie ihre Kollegen nach den Staatsgründungen von 1949: mit Filmen, die Kontinuität und Harmonie vermitteln sollten. Leander Haußmanns SONNENALLEE (1999) und Wolfgang Beckers GOODBYE, LENIN! (2003) erzählen von Kindheitsträumen, der ersten großen Liebe und Freundschaften, die gegen alle Herausforderungen bestehen und so ein Leben in Einklang mit seinem sozialen Umfeld garantieren, egal, was die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind. In Westalgie-Filmen, wie Oskar Roehlers DIE UNBERÜHRBARE (2000), Leander Haußmanns HERR LEHMANN (2003) und Hans Weingartners DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (2004) werden die Lebenswirklichkeiten von Menschen distinktiver sozialer Milieus aus der alten Bundesrepublik in den Fokus genommen und deren soziale Brisanz aufgezeigt, die Teil des Heimatempfindens waren. Mit der Vereinigung Deutschlands und der fortschreitenden europäischen Integration wurden auch Fragen der nationalen und kulturellen Identität Deutschlands, des Widerspruchs zwischen ökonomischer und militärischer Macht (vgl. Byg 1995: 46) wieder thematisiert. So ist es nicht verwunderlich, dass Regisseure sich gleichfalls über das Heimatfilmgenre, das den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert hatte, diesem Problemkomplex annäherten, und so das Genre wieder überarbeitet und reformiert wurde. Und auch hier sind oft die gleichen Regisseure am Werk gewesen. Die Problematisierung und Verbreitung von Heimatkonzepten im heutigen Deutschland in Bezug auf (trans-)nationale und (trans-)kulturelle Zugehörigkeitskonzepte hat z.B. Edgar Reitz in seinen jüngsten HEIMAT-Folgen aufgegriffen, insbesondere in HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITENWENDE (2003) und DIE ANDERE HEIMAT – CHRONIK EINER SEHNSUCHT (2013). Aber auch die nächsten Generationen von Filmschaffenden beteiligten sich am Diskurs. In der deutschen Kunst und Kultur ist mit ihnen ein neues Selbstvertrauen in der Verwendung der Begriffe »Heimat« und »Heimatfilme« zutage getreten. Folgegeneration von Filmemachern aus Bayern wie Norddeutschland, mit und ohne Migrationshintergrund, haben gezeigt, dass die Probleme, die andere Regisseure mit dem Genre hatten, überwunden werden können. Die Genrebezeichnung »Heimatfilm der neuen Art« reklamierte explizit und nicht ohne Stolz z.B. Fatih Akin für SOLINO (2002) und SOULKITCHEN (2009) und auch Marcus H. Rosenmüller begrüßte die Genrezuschreibung für sein Gesamtwerk (vgl. Ludewig 2017: 159ff.). Die Aussagen dieser Erfolgsregisseure, die in ihren Arbeiten kaum unterschiedlicher sein könnten, stehen selbstbewusst für eine neue Ära im Heimatfilm-Genre. Neben

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dem Glück, das in der Familie und im Freundeskreis gefunden wird, zeichnet diese Filme eine starke Ortsbindung aus, die sowohl in der Dramaturgie der Handlung als auch ikonographisch ganz klar betont wird. Ähnliches gilt für die Darstellung von Heimat in Serien wie den Eifelkrimis MORD MIT AUSSICHT (WDR, 2007-2014), dem bayrischen Pendant DIE ROSENHEIM-COPS (ZDF, 2002-2019) und selbst Kultserien wie den Episoden von DER TATORTREINIGER (NDR, 2011-2018). Allen diesen Serien ist gemein, dass sie oft unverhohlen mit leicht variiertem Anlass eine Liebeserklärung an die jeweilige Region und ihre Einheimischen bieten. Hier werden Heimatzuschreibungen immer wieder auch mit Landschaftstotalen und Postkarten ähnlichen Stillleben sowie mit Dialektsprache im Gegensatz zum Standarddeutsch verbunden. Sowohl der Wunsch nach Heimaterzählungen als auch die Qualitäten des Heimatgenres im Allgemeinen reagieren ungebrochen auch im 21. Jahrhundert auf ein Bedürfnis nach geographischer wie ideologischer Verortung. In einer sich rasch wandelnden, zunehmend globalisierten und in jüngster Zeit verstärkt terrorisierten Welt hat die Sehnsucht nach Vertrautem und Beständigkeit zugenommen. DER SPIEGEL diagnostizierte polemisch: »Wir wollen das Bekannte« – und zwar mit der Begründung: »Interessant ist immer nur die Variation von etwas Bekanntem, und das Spiel mit der Aktualität macht den Reiz des Bekannten im Neuen aus.« (Matt 2007: 170) Die Erzählungen von Heimat reagieren, folgt man dem Regisseur Edgar Reitz, auf diesen Seelenwunsch: »Wenn die Welt ohne Grenzen ist und Orte willkürlich werden, dann ist Heimat kein Ausdruck der Zeit mehr. Der Film ist die einzige Kunstform, die das Flüchtigen der Zeit verhindern kann. Nur das Kino kann die Zeit aufhalten, indem es von ihr erzählt. Film kann so selbst zu einer geistigen Heimat werden.« (Reitz in Kuipers 2005: 16)

Wenn man sich mit Kino-, Fernseh- und Netflixprogrammen befasst, kann man nicht umhin, die scheinbar ewige Wiederkehr desselben zu bemerken: Filme, die mit der klaren Aussicht auf Fortsetzung veröffentlicht wurden. Die Flut der Fortsetzungen von HARRY POTTER, dem FLUCH DER KARIBIK oder JAMES BOND sowie insbesondere auch die Serienhaftigkeit der Marvel-Superhelden-Filme zeigt deutlich, dass das Publikum Variationen des Vertrauten genießt. In der Gesellschaft von Protagonisten mit Wiedererkennungswert fühlt man sich wohl, und das gleiche Prinzip gilt für Genres; eine Variation des Bekannten ist die bevorzugte Diät, die mit aktuellen Referenzen und einigen Wendungen versehen die allgemeinen Erwartungen der Zuschauer nicht untergräbt, sondern erfüllt. Die meisten Genres, wie die kanonischen Erzählungen, haben starke und charakteristische emotionale Effekte (vgl. Grodal 1997: 161). Sie werden benutzt, um Illusionen von einer ungebrochenen Tradition in Bezug auf ästhetische Vorlieben, kulturelle Sensibilität und soziale Mentalitäten zu erzeugen (vgl. Hake 2002: 105). In der Art, wie sie die Psyche des

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Betrachters beeinflussen, vermitteln Genres selbst ein Gefühl von Heimat. So beschreibt Elisabeth Bronfen die Funktion des Kulturrepertoires an Bildern als Schutzschild: »Wie jede andere Bibliothek bietet uns das Geschichten- und Bildrepertoire des Kinos letztlich vielleicht gerade eine so verläßliche Heimat, weil es das eigene Scheitern mit inszeniert. Der Pakt, auf den wir uns einlassen, wenn wir uns über die Schwelle in diese virtuelle Heimat begeben, bleibt nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Versprechen eines provisorischen Glücks.« (Bronfen 1999: 38)

Zu einem großen Teil funktionieren Heimatfilme nach diesem Prinzip – sie entzünden im Publikum auf zwei Arten ein Heimatgefühl, einerseits als Genrefilme und andererseits als Filme, die sich mit Heimat an sich beschäftigen. Als Individuen, die innerhalb einer nationalen Tradition kulturell vorbereitet wurden und deren Geist von Kindheitserzählungen, frühen Bilderbüchern, ersten Filmerlebnissen und anderen kulturellen Produkten geprägt wurde, schafft die Erkennung von narrativen Mustern, Werten und gemeinsamen Bildern unweigerlich einen Sinn für Vertrautheit. Teleologische Erzählungen, die einen universellen Glauben an lösbare Probleme, Happy Ends, logische Progressionen und klare Unterscheidungen – wie sie in vielen Heimatfilmen reproduziert werden – aufrechterhalten, werden oft favorisiert.

Z USAMMENFASSUNG :

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Während der letzten 125 Jahre hat das Genre zahlreiche Verschiebungen in Motiven und Paradigmen erlebt. Immer neue Variationen des Heimat-Themas wurden ausprobiert und zeitweise mit anderen Genre-Charakteristika verbunden. So lässt sich das Heimatfilmgenre eher nach gemeinsamen ästhetischen Codes und Handlungsmotiven beschreiben, mit denen zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedliche Agenden verfolgt wurden. Soziohistorische Konflikte sind dementsprechend ästhetisch transformiert und in allgemein verständliche Bilder und Mythen übersetzt worden. Das Genre spricht den menschlichen Hauptwunsch nach Glück und Identifikation mit der natürlichen und sozialen Umgebung an, indem es Antworten anbietet, die beim Erreichen oder Definieren dieses identitätsgebenden Konstrukts helfen können. Sonach reagieren Heimatfilme meist auf eine tiefe menschliche Suche oder Verunsicherung, besonders in Zeiten von wachsender sozialer Mobilität und Migrationserfahrung. Sie liefern Antworten auf die Frage nach dem wer, wo und wie man glücklich sein kann und sprechen somit eine Vielzahl von Menschen an. Ihre anthropologische Hilfestellung macht das Genre für viele zeit- und grenzenlos.

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Während viele Stränge des breiten Heimatgenres in scheinbar inkompatible und nichtsynchrone Teile gespalten sind (wie aus der Koexistenz von Heimat-Western, Heimat-Sexfilmen und preisgekrönten »Problemfilmen«, um nur einige zu nennen, hervorgeht), haben sie nicht ihre Fähigkeit verloren, Emotionen zu wecken und den Betrachter in eine imaginierte Gemeinschaft zu integrieren. Das bleibt ein verbindendes Element mit immensem politischem Potenzial, welches den Heimatfilm nicht zuletzt auch Demagogen und Populisten immer wieder sehr schmackhaft gemacht hat. Eine in sich geschlossene Definition eines Genres kann also nicht geliefert werden – im Gegenteil, jedes Genre ist eine sich ständig entwickelnde Form, nicht das dauerhafte Produkt eines einzigartigen Ursprungs, sondern das temporäre Nebenprodukt eines fortlaufenden Prozesses (vgl. Altmann 1999: 54). Notorisch schwierig zu definieren, sind Genres immer im Entstehen und Werden, wobei jeder Film, der sich einem bestimmten Genre verschreibt, notwendigerweise dazu beiträgt, es weiter zu schreiben und zu entwickeln: Das wichtigste Kriterium für die Bewertung eines Genre-Films ist schließlich, wie viel Originalität er in die Formel einbringt, ohne die Konventionen völlig aufzugeben (vgl. Pramaggiore/Wallis 2006: 361). So konnte diese Bestandsaufnahme als Beweis für die Vielfalt und Anpassungsfähigkeit, die Heterogenität und die fortlaufende Entwicklung des Heimatfilmgenres dienen. Filme, die hier unter dem breiten und komplexen Oberbegriff des Heimatfilms als Beispiele aus 125 Jahren subsumiert wurden, zeigen Kontinuitäten wie Brüche. Ihr Wiedererkennungswert erstreckt sich über das Aufgreifen und Transformieren von Komponenten und Werten, die je in neue Kontexte integriert werden. Veränderungen in der Gesellschaft spiegeln sich somit in Veränderungen des Genres wider. 125 Jahre Heimatfilme können uns über die sich wandelnden Sichtweisen auf Familie, Gemeinschaft und Geschichte informieren, denn eine Heimatfilmgeschichte ist, wie Mary-Elizabeth O’Brien festhält, ganz ideal geeignet für die Untersuchung, wie Ideologie und soziale Werte im Bereich der Populärkultur zusammenwirken (O’Brien 2004: 5, vgl. Neale 1980: 63). Filmemacher können Aspekte eines bestimmten Genres nutzen, in dem sie z.B. laut Philips den Traditionen des Genres folgen und so das Publikum beruhigen, oder die Konventionen des Genres aufbrechen und dadurch die Zuschauer herausfordern, schockieren oder (ver-)stören (Phillips 1999: 238). Identifizierbare historische und geografische Kontexte, genretypische Ikonographie sowie Figurenzeichnungen und -konstellationen, einschließlich Landschaft, Architektur, Kleidung, Soundtrack und Mundarten schaffen Heimat. Diese kann man für sich gutheißen und sich mit Aspekten identifizieren, man kann sich aber auch kritisch damit auseinandersetzen, sie zu verändern suchen. Als kreatives Werkzeug dient das Heimatfilmgenre zur Förderung wie Herausforderung für Filmschaffende wie Konsumenten. Die Vielfalt der Angebote ist an sich bereits ein Beweis für die Wandelbarkeit von Heimat in einer pluralistischen Gesellschaft.

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F ILM 00 Sex am Wolfgangsee (1966) (A, R.: Franz Antel) Abschied (2014) (A, R.: Ludwig Wüst) Das blaue Licht (1932) (D, R.: Leni Riefenstahl und Béla Balázs) Das Haus meines Vaters (2013) (A, R.: Ludwig Wüst) Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009) (D/A/F/I, R.: Michael Haneke) Der Förster vom Silberwald (1954) (D, R.: Alfons Stummer) Der heilige Berg (1926) (D, R.: Arnold Fanck) Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach (1971) (D, R.: Volker Schlöndorff) Der verlorene Sohn (1934) (D, R.: Luis Trenker) Deutschland im Herbst (1978) (D, R.: Volker Schlöndorff et al.) Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013) (D/F, R.: Edgar Reitz)

E S HEIMATET

SEHR

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Die blonde Christel (1933) (D, R.: Franz Seitz Sen.) Die fetten Jahre sind vorbei (2004) (D/A, R.: Hans Weingartner) Die Geier-Wally (1921) (D, R: E. A. Dupont) Die Siebtelbauern (1998) (A/D, R.: Stefan Ruzowitzky) Die Unberührbare (2000), (D, R.: Oskar Roehler) Die weiße Hölle von Piz Palü (1929) (D, R.: Arnold Fanck und Georg Wilhelm Pabst) Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend (1992) (D, R.: Edgar Reitz) Solino (2002) (D, R.: Fatih Akin) Good-Bye, Lenin! (2003) (D, R.: Wolfgang Becker) Grün ist die Heide (1951) (D, R.: Hans Deppe) Heimat (1938) (D, R.: Carl Froelich) Heimat – Eine deutsche Chronik (1984) (D, R.: Edgar Reitz) Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende (2003) (D, R.: Edgar Reitz) Heimatfilm (2016) (A, R.: Ludwig Wüst) Heimatliche Scholle (1910) (D, R: o.A.) Heimkehr (1911) (D, R.: o.A.) Herr Lehmann (2003) (D, R.: Leander Haußmann) Hierankl (2003) (D, R.: Hans Steinbichler) Jagdszenen aus Niederbayern (1960) (D, R.: Peter Fleischmann) Käpt’n Bay-Bay (1953) (D, R.: Helmut Käutner) Katzelmacher (1969) (D, R.: Rainer Werner Fassbinder) Lebenszeichen (1969) (D, R.: Werner Herzog) Liebesgrüße aus der Lederhos’n (1973) (A, R.: Franz Marischka) Mandolinen und Mondschein (1959) (D, R.: Hans Deppe) O sole mio (1960) (D, R.: Paul Martin) Petersburger Nächte (1958) (D, R.: Paul Martin) Pioniere in Ingolstadt (1970) (D, R.: Rainer Werner Fassbinder) Pudelnackt in Oberbayern (1968) (D, R.: Hans Albin und Hans Billian) Ramona (1961) (D, R.: Paul Martin) Schwarzwaldmädel (1950) (D, R.: Hans Deppe) Sonnenallee (1999) (D, R.: Leander Haußmann) Soulkitchen (2009) (D, R.: Fatih Akin) Viehjud Levi (1999) (D, R.: Didi Danquart) Wenn die Heimat ruft (1915)

F ERNSEHSERIEN Das Traumschiff (ZDF, seit 1981) Der Tatortreiniger (NDR, 2011-2018)

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Die Rosenheim-Cops (ZDF, 2002-2019) Die Schwarzwaldklinik (ZDF, 1984-1988) Mord mit Aussicht (WDR, 2007-2014) Forsthaus Falkenau (ZDF, 1989-2013) Lena Lorenz (ZDF/ORF, seit 2015) Lindenstraße (WDR, 1985-2020) Schloßhotel Orth (ZDF/ORF, 1996-2005) Tatort (ARD/ORF 2/SFR 1, seit 1970)

There is no Love in the Heart of the City Stadtflucht als Paradigma des kontemporären Zombie-Narrativs J ANWILLEM D UBIL »Man kann die Städte nicht mehr betreten. Alle, die dort waren, sind tot. Die Regierung wollte die Leute in den Städten sammeln, um sie dort zu beschützen. Aber das machte es letzten Endes nur noch leichter für diese Dinger.« ROBERT KIRMAN/TONY MOORE: THE WALKING DEAD #2

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NEUE

W ELT

Es ist eine Frage, die die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder umtreibt, wie kaum eine zweite: Wohin sollen wir gehen, wenn die Zombies kommen? Die Antwort, die Filme, Comics, Romane, Videospiele und mittlerweile auch Sachbuchbestseller (vgl. Brooks 2003) darauf geben, ist dabei stets dieselbe: Hauptsache raus aus der Stadt! Dieser Konsens lässt erkennen, dass die Zombie-Erzählung als intermediales Narrativ operiert, das unabhängig von dem Medium, in dem es sich manifestiert, auf einem uniformen Substrat aufbaut. Initial ist hier stets ein apokalyptisches Ereignis in Form einer hochaggressiven Seuche, die ihre Opfer in untote kannibalische Monstren transmutiert (vgl. Munz/Hudea/Imad/Smith 2009: 134). In ihrem Eintreten obligatorisch, präsentiert sich diese Katastrophe bezüglich ihrer Konsequenzen gleichsam ausgesprochen variabel – abhängig davon, in welchem Umfeld sie sich vollzieht. Im urbanen Raum ist der Advent des Untoten stets gleichbedeutend mit einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, der die Gefahr potenziert: Führerlos gewordene, selbstständig agierende Fahrzeuge und Maschinen gehören ebenso zum festen Motivkanon, wie eine Gewalt, die von Plünderern und

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Soziopathen, »die in dieser endzeitlichen Extremsituation all das ausleben, was seit jeher in ihnen schlummerte« (Mimh 2004: 181), ausgeübt wird. Letztlich ist in den Städten »die Antwort der Menschen auf die Untoten […] nicht Zivilisation, sondern Barbarei« (Seeßlen/Jung 2006: 435). Entsprechend avanciert das Urbane zum zentralen Lebensraum des Zombies (vgl. Round 2014: 132), dessen Architektur eine erneute Regulation des Zustands unterbindet: Die labyrinthische Struktur der Stadt hält die Untoten förmlich gefangen, so dass sie selbst Jahre, nachdem die letzten Einwohner geflohen sind, noch neue Opfer suchend in den Häuserschluchten umher irren. Eingekeilt unter Kraftfahrtzeugen oder eingeschlossen in dunklen Gassen, verfallen sie bisweilen in einem katatonischen Zustand; im unüberschaubaren Chaos einer postapokalyptischen Metropole zur unsichtbaren Gefahr für diejenigen werdend, die sich aus Unwissenheit, Leichtsinn oder auf der verzweifelten Suche nach Nahrung doch noch einmal in die Städte wagen. Die Metropole wird dabei zu einem hermetisch abgeschlossen und labyrinthisch strukturierten Gefängnis, in dem die Menschen den Zombies geradezu ausgeliefert sind. Abb. 1.: Ein desorientierend wirkender Kontrast aus Vogel- und Froschperspektiven stilisiert die Großstadt zum lebensfeindlichen Labyrinth ohne erkennbaren Ausweg.

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Exponentiell höhere Überlebenschancen offerieren hingen die ruralen Gebiete, deren Einwohnern es in der Regel gelingt, sich der Zombies zunächst zu erwehren. Durch die geringere Besiedlung kann sich die Epidemie hier nur langsam ausbreiten; entsprechend sind die Untoten nicht in der Lage, in kurzer Zeit quantitativ stark zuzunehmen und bleiben als vereinzelte Gruppen eine Gefahr, die sich wieder eindämmen lässt. Bedingend wirken sich zudem die landschaftlichen Strukturen mit vergleichsweise vielen Feld- und Wiesenflächen, aber wenigen Bauwerken aus. Dies ermöglicht der Bevölkerung, Zombies bereits von weitem zu identifizieren und entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dem Zombie-Narrativ ist somit eine Faustformel immanent, nach der die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Menschen diametral zu der Bevölkerungsdichte seines Umfelds sinkt. Daraus resultiert eine spezifische Semantik urbaner und ruraler Räume, in der die ländlichen Gebiete nicht als einzige weiterhin ein ›gutes‹ Leben offerieren, sondern vielmehr den singulären Raum bilden, in dem ein Leben überhaupt noch möglich ist. Erzählungen von Untoten sind daher auch Erzählungen der Post-Suburbanisierung, in denen das Anzweifeln der Zukunftsfähigkeit der Anti-Moderne, das andere Narrative vornehmlich praktizieren, konsequent in ihr Gegenteil verkehrt wird.

E IN LANGER W EG Die Ursprünge des Zombies liegen gleichsam noch im Ruralen, sein Ausgangspunkt findet sich in westafrikanischen Voodoo-Kulten, die zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert entstanden (vgl. Dendle 2007: 46). Durch den kolonialen Sklavenhandel in die Welt exportiert, bildeten diese im Kontakt mit westlichen Religionen neue Formen aus (vgl. Chesi 2003: 226), zu denen auch ein »Synkretismus aus archaischen, westafrikanischen und katholischen Glaubensvorstellungen« (Lademann-Priemer 2011: 73) zählte, der sich in der haitianischen Kultur etablierte (vgl. Schlang 2009: 161). Hier interpretierte man die Figur als Verstorbenen, der mittels schwarzer Magie in einen »lebenden Leichnam« (Lademann-Priemer 2011: 73) verwandelt wurde, um niedere Arbeiten zu verrichten oder unliebsamen Mitmenschen zu schaden. Der spekulative Reisebericht THE MAGIC ISLAND (1929, William B. Seabrook) und der erfolgreiche Film WHITE ZOMBIE (USA 1932, Victor Halperlin) popularisierten diesen Typus auch in Amerika (vgl. Platts 2013: 549) und bildeten die Grundlage für eine substanzielle Neuinterpretation, die die Figur in den auslaufenden 1960er Jahren erfahren sollte. THE NIGHT OF THE LIVING DEAD (USA 1968, George A. Romero) begründete schließlich das Zombie-Narrativ im eigentlichen Sinne (vgl. Vossen 2004: 22f.), gilt seither als »locus classicus« (Adkins 2007: 119) des Genres und etablierte die

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bis heute gültigen Grundzüge der Figur (vgl. Hardy 1993: 198). Sowohl der Advent des Zombies als Folge eines katastrophalen Ereignisses als auch sein epidemischkannibalischer Charakter, dessen Biss den Menschen nun ebenfalls zum Untoten transmutieren lässt, nehmen hier ihren Ursprung. Im Film reisen die Geschwister Barbara und Johnny ins ländliche Pennsylvania, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Als sich Untote aus ihren Särgen erheben, infizieren sie Johnny, während seiner Schwester die Flucht gelingt. Gemeinsam mit dem Afroamerikaner Ben, den Teenagern Tom und Judy, dem Ehepaar Harry und Helen sowie deren Tochter Karen, die von einem Zombie gebissen wurde, verbarrikadiert sie sich in einem verlassenen Farmhaus. Als die Teenager bei einem misslungenen Fluchtversuch sterben und Karen ihren Verletzungen erliegt, eskalieren die Konflikte unter den Überlebenden: Harry attackiert Ben, der in Notwehr auf ihn schießt, Karen vollzieht ihre Metamorphose zum Zombie und infiziert ihre Eltern. Als die Fenster des Hauses dem Druck der Untoten, unter denen sich nun auch Johnny befindet, nachgeben, stirbt auch Barbara, während es Ben gelingt, sich in den Keller zu retten. Am Morgen neutralisiert eine bewaffnete Bürgerwehr die Zombies mit gezielten Kopfschüssen. Als Ben das Farmhaus verlässt, wird er erschossen, seine Leiche an einem Fleischerhaken davongeschleppt und mit den Körpern der Untoten verbrannt. Das Ende des Films lässt dabei offen, ob Ben akzidentell mit einem Zombie verwechselt oder Opfer eines rassistischen Lynchmobs wird – die Bürgerwehr ist ein Zusammenschluss weißer Männer, der »nur auf einen Vorwand zum Morden gewartet zu haben scheint« (Seeßlen/Jung 2006: 434). Evident ist gleichsam, dass der in einer »dokumentarisch anmutenden Ästhetik« (Mimh 2004: 177) inszenierte Tod des Protagonisten auf kontemporäres Bildmaterial von urbanen Rassenunruhen, exzessiver Polizeigewalt und der Ermordung Martin Luther Kings rekurriert (vgl. Dendle 2007: 50) und entsprechende Assoziationen bereits bei der zeitgenössischen Rezeption evozierte. Hätte es THE NIGHT OF THE LIVING DEAD folglich bereits zu satirischer Schärfe gereicht, die Narration im städtischen Raum zu verorten und so die dort vorherrschenden Zustände überspitzt zu explizieren, erwies sich der letztlich gewählte Ansatz als noch wesentlich visionärer. Dass der Untote als Bruder, Tochter oder Ehemann aus der eigenen Mitte kam (vgl. Seeßlen/Jung 2006: 432f.) refigurierte ihn als »politische Metapher auf das krisengeschüttelte Amerika« (Mimh 2004: 176), wie auch die kontinuierliche Dezimierung der Überlebenden die USA in letzter Konsequenz als »ein sich selbst vernichtendes System« (Stresau 1987: 197) versinnbildlichte. Diesen Subtext eben nicht innerhalb der Metropolen, in deren prekären Vierteln die soziale Spaltung in Form von Slum- und Studentenaufständen längst unübersehbar geworden waren, sondern vor ruraler Folie zu konstruieren, intensivierte seine Aussage: Im vermeintlichen Herzen des Landes verortet, verdeutlichte der Advent der Zombies, dass die

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Selbstzersetzung der Vereinigten Staaten nicht mehr einzig an den Rändern der Gesellschaft stattfand, sondern bereits ihr Innerstes – das rurale Hinterland – erreicht hatte. Bei THE NIGHT OF THE LIVING DEAD handelt es sich folglich um einen Film, der »die amerikanische Provinz verdammt« (Seeßlen/Jung 2006: 308) und entsprechend einen Rekurs auf ein gutes Landleben schuldig bleibt. Mehr noch: Mit ihrem »unerbittlichen Nihilismus« (Mimh 2004: 176) und hermetischen Pessimismus markierte die Geburtsstunde des Narrativs bereits dessen Finalzustand – diesem »radikalsten ›Ende‹-Film« (Seeßlen/Jung 2006: 433) gab es nichts mehr hinzuzufügen. Ohne einen Ort, an den es sich noch zu fliehen lohnte, fehlte der Zombie-Erzählung jedoch das Initial der Bewegung, das für die Ereignisstruktur jedweder populären Dramaturgie obligatorisch ist. Um das Genre überhaupt erweitern zu können, war es folglich unabdingbar, die Kritik an der Provinz abzuschwächen. Synchron wurde eine Aufwertung der ruralen Bevölkerung vorgenommen, deren Kompetenz, sich gegen die Untoten zu verteidigen, seitdem vornehmlich positiv konnotiert ist und die Ausbildung des Stadtflucht-Paradigmas befördert hat.

D EM F LÜSTERN

FOLGT DER

S CHREI

Das Sequel DAWN OF THE DEAD (USA 1977, George A. Romero) expliziert daher im Anschluss primär den Aspekt, der in THE NIGHT OF THE LIVING DEAD lediglich angedeutet wird, und fokussiert den urbanen Ausnahmezustand: Da die Städte von Zombies förmlich überrannt werden und selbst das Militär ihnen keinen Einhalt zu gebieten vermag, sind die Menschen gezwungen, diese Gebiete aufzugeben (vgl. Stresau 1987: 199). Die postapokalyptische, von Untoten überfüllte Stadt wird zum »sterbenden Körper« stilisiert, durch dessen Adern, die von verlassenen Fahrzeugen verstopft sind, kein Blut mehr fließen kann (Round 2014: 132). Sie repräsentiert eine Gesellschaft, die mit ihrem »unausweichlichen Untergang« (ebd.) konfrontiert ist. DAWN OF THE DEAD folgt nun vier Überlebenden, die auf ihrer Flucht Schutz in einem opulenten Einkaufszentrum finden, indem es ihnen gelingt, die darin eingeschlossenen Zombies zu eliminieren – eine Lesart des Films als Metapher auf eine »sich selbst verschlingende Konsumgesellschaft« (Mihm 2004: 178) hält sich bis heute standhaft. Als die Fenster und Türen dem zunehmenden Druck der Untoten nachgeben, ist die zahlenmäßig inzwischen halbierte Gruppe aber gezwungen, einen auf dem Dach abgestellten Helikopter zu besteigen und der Stadt in Hoffnung auf »ein anderes Leben jenseits des Konsums« (ebd.: 180) endgültig den Rücken zu kehren.

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Der dritte Teil der Reihe, DAY OF THE DEAD (USA 1985, George A. Romero), 1 spielt anschließend in einem subterranen Militärkomplex, in dem Forschergruppen nach einem Mittel suchen, die Zombies zu zivilisieren und die Gesellschaftsordnung wiederherzustellen. Als ihr Konflikt mit den Wachsoldaten, die ein gewaltsames Vorgehen gegen die Untoten präferieren, eskaliert, wird das Areal überrannt. Einzig der Wissenschaftlerin Sarah gelingt gemeinsam mit einem Hubschrauberpiloten und einem Techniker die Flucht von der Basis. Wenn die Überlebenden am Ende »in eine mehr als ungewisse Zukunft auf eine einsame Insel« entkommen (Seeßlen/Jung 2006: 437), symbolisiert diese weniger ein Idyll als vielmehr den final noch möglichen Lebensraum. Synchron klingt in der Flucht ein Ausweg aus dem »ewigen Kreislauf der Gewalt« an, der die Epidemie als »kathartische Notwendigkeit im alttestamentarischen Sinn einer Arche Noah« in Form einer Gelegenheit, »sämtliche Brücken abzubrechen und ein völlig neues Wertesystem zu etablieren« interpretiert (Mimh 2004: 181). Die »blutigen, ironisch überspitzten Exzesse« des Zombie-Narrativs sind in der Folge stets auch »Zeichen einer Reinigung, ohne die der Neubeginn nicht möglich ist« (ebd.: 182). Rückblickend wird deutlich, wie erschöpfend die drei Filme das Narrativ ins Negativ wie ins Positiv durchdekliniert hatten: So offensiv Produktionen wie 28 DAYS LATER (GB 2002, Danny Boyle) oder RESIDENT EVIL (USA/Deutschland 2002, Paul W.S. Anderson) zu Beginn des neuen Jahrtausend proklamierten, Physiognomie und Allüre des Untoten zu aktualisieren (vgl. Munz/Hudea/Imad/ Smith 2009: 134f.), so deutlich blieben sie inhaltlich in den tradierten Mustern verhaftet (vgl. Seeßlen/Jung 2006: 916). Selbst parodistische Zugänge – etwa ZOMBIELAND (USA 2009, Ruben Fleischer) oder JUAN DE LOS MUERTOS (Cuba/Spanien 2011, Alejandro Brugués) – behielten die kulturkritische Dimension des klassischen Narrativs bei (vgl. Backe/Aarseth 2013: 6), in der das Motiv der Stadtflucht ihren Ursprung nahm.2

1

Die späteren Produktionen Romeros – LAND OF THE DEAD (USA/CAN/F 2005),

DIARY OF THE DEAD (USA 2007) und SURVIVAL OF THE DEAD (USA/CAN 2009) – sind hinsichtlich der hier untersuchten Fragestellung zu vernachlässigen, da sie den Themenkanon ihrer Vorgänger lediglich variieren und für die weitere Entwicklung des Genres überwiegend insignifikant blieben. 2

Entsprechend gilt es, die singuläre Ausnahme nicht zu übergehen: In SHAUN OF THE

DEAD (GB 2004, Edgar Wright) bricht eine Epidemie im Norden Londons aus, die von dem antriebslosen Elektrowarenverkäufer Shaun aber erst Tage später bemerkt wird. Angesichts seiner tristen Nachbarschaft, die sich ausschließlich aus gebeutelten Malochern und apathischen Stammgästen des lokalen Pubs zusammenzusetzen scheint, war er zuvor schlicht nicht in der Lage, irgendeine Veränderung festzustellen (vgl. Hornaday 2004: 1).

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E IN NEUER A NFANG Wo ein Paradigma keine Extension mehr erfährt, gewinnen die Konkretisierungen des Tradierten an Gewicht. Aufgrund seines Status als erstem seriell-fortlaufenden Zombie-Narrativ (vgl. Keetley 2014: 5) gilt es diesbezüglich besonders den Comic THE WALKING DEAD (Robert Kirkmann/Tony Moore)3 zu exponieren, der nominell zwar noch überdeutlich auf den »locus classicus« referiert, diegetisch aber bereits signifikant über ihn hinausgeht. Da die im Oktober 2003 lancierte (vgl. Osterried 2013: 101) und nach insgesamt 193 Ausgaben, die jeweils im monatlichen Rhythmus erschienen, im Juli 2019 eingestellte Serie, anders als ihre Archegeten, nicht mehr auf ein potentielles Ende hin konzipiert war (vgl. Keetley 2014: 6), sondern als infinit fortsetzbare Langzeitstudie angelegt wurde, wies sie nicht nur das Potential auf, Aspekte, die bisher filmisch-narrativ lediglich angerissen wurden, in extenso zu deklinieren, sondern unterlag vielmehr einem Zwang zur Ausführlichkeit als Voraussetzung, innerhalb der Limitierungen des narrativen Paradigmas überhaupt beständig neue Episoden generieren zu können. Bereits der Auftakt der Serie, in deren Zentrum der ehemalige Polizisten Rick Grimes steht, der im ruralen Georgia als Kopf einer Gruppe Überlebender versucht, sich langfristig mit den Gefahren einer postapokalyptischen Welt zu arrangieren (vgl. Round 2014: 127), avanciert unter diesen Vorzeichen zur bis dato intensivsten Auseinandersetzung des Narrativs mit der Stadtflucht, die gleichsam im Jahr 2010 noch übertroffen wurde, als THE WALKING DEAD eine Adaption als TV-Serie erfuhr. DAYS GONE BY (USA 2010, Frank Darabont) und GUTS (USA 2010, Michelle MacLaren), die ersten der bisher 147 Episoden,4 erzählen über 110 Minuten das

Da England – so eine Kernaussage des Films – bereits in seinem Normalzustand wirkt, als würde es ausschließlich von Untoten bevölkert (vgl. Lane 2004: 159), stellen die Briten auch als Zombies kaum eine größere Gefahr dar als in ihrer menschlichen Gestalt. Folglich besteht für Shaun auch gar keine Notwendigkeit, aus der Stadt zu fliehen: Er verbarrikadiert sich in seiner Stammkneipe und wartet, bis die Regierung der Lage wieder Herr geworden ist. 3

Moore wurde mit Ausgabe #7 von Charlie Adlard, der THE WALKING DEAD bis zum Ende der Serie betreute, als Zeichner der Serie abgelöst.

4

Bisher wurden, Stand Oktober 2020, zehn Staffeln produziert, ein elfter Episodensatz wurde bereits annonciert. Parallel wird seit 2015 der Ableger FEAR THE WALKING

DEAD (USA 2015) ausgestrahlt, der den Ausbruch der Epidemie und seine unmittelbaren Folgen, die in der Mutterserie ausgespart werden, in den Fokus stellt. Das Spin-Off umfasst derzeit 69 Episoden in fünf Staffeln, deren Fortsetzung ebenfalls bekannt gegeben

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ausführlichste und drastischste Beispiel einer Stadtflucht als Entkommen aus der urbanen Todesfalle. DAYS GONE BY orientiert sich zunächst eng an THE WALKING DEAD #1-2 (vgl. Osterried 2013: 101): Durch einen Unfall ins Koma gefallen, erwacht Grimes in einem suburbanen Krankenhaus und stellt fest, dass sein Heimatort inzwischen nahezu gänzlich von Untoten bevölkert wird. Auf der Suche nach seiner Familie sattelt er ein Pferd und reitet in die nahegelegene Großstadt Atlanta, in der er ein Auffanglager für Überlebende vermutet. Abb. 2.: Der Ritt ins Urbane verspricht, dem Urenkel des Westerners ganz neue Grenzen aufzuzeigen.

THE WALKING DEAD Dieses Bild, das als Werbeträger oder Covermotiv der DVD-Auswertung längst zu einer Ikone der Serie avanciert ist, komprimiert die differenten Phänomene der urbanen postapokalyptischen Szenerie in beispielloser Form: Gerahmt von den völlig verstopften, aus der Stadt führenden, Straßen zu seiner Linken und einem entgleisten, bereits halb von den Wäldern verschlungenen Personenzug auf der Rechten, reitet Grimes als fernes Echo des frühzeitlichen Cowboys, der anders als im Spätwestern nicht von der Moderne verdrängt wird, sondern seine Position vielmehr von ihr zurückerobert, über den mehrspurigen Highway. Während die

wurde. Zudem ist mit THE WALKING DEAD: WORLD BEYOND (USA 2020) eine zehnteilige Miniserie angekündigt, die zehn Jahre nach dem Advent der Untoten terminiert ist.

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überfüllte Ausfahrt noch ein vertrautes Bild ist, das erst durch die Abwesenheit jeglicher Führer der Fahrzeuge eine unheimliche Konnotation erhält, wirkt der ungewohnte Kontrast der fünf komplett freien Spuren, die in die Stadt führen, bereits auf Anhieb gespenstisch und kündet von den tiefgreifenden Umwälzungen, die sich hier vollzogen haben. Erst in Atlanta offenbart sich Grimes dann auch das ganze Ausmaß der Epidemie: Die Städte sind zu Ballungszentren der Zombies avanciert (vgl. Round 2014: 132), die zunächst das Pferd verspeisen, bevor sie Grimes attackieren und zur Flucht zwingen. Mit Hilfe von Glenn Rhee, einem Überlebenden, der sich auf der Suche nach Nahrung in der Stadt befindet, gelingt es ihm zu entkommen – im Comic reicht es dafür aus, Grimes in eine sichere Gasse zu leiten und ihm einen aus Atlanta führenden Schleichweg aufzuzeigen. Die Adaption, die dem Ausgangsmaterial gegenüber multiple dramaturgische Variationen vornimmt (vgl. Hofmann 2011: 76) und ihm auf diese Weise »neue Handlungsebenen« eröffnet (Osterried 2013: 101), verlangt ihren Protagonisten als Reaktion auf die medienspezifischen Differenzen von Comic und Fernsehen weitaus extremere Anstrengungen ab:5 In GUTS flüchtet sich Grimes zunächst in einen verlassenen Panzer, aus dem ihn Rhee per Funk dann in ein leerstehendes Gebäude manövriert, in dem er mit einer dreiköpfigen Gruppe nach Vorräten sucht. Grimes unbedarftes Betreten der Stadt hat die urbanen Untoten hier gleichsam derart in Aufruhr versetzt, dass die Straßen nun unpassierbar geworden sind. Den Vorgaben des Narrativs (vgl. Mimh 2004: 180f.) entsprechend, eskalieren in dieser Krisensituation interne Konflikte: Der cholerische Redneck Merle Dixon gerät mit der übrigen Gruppe in Streit, woraufhin er von Grimes überwältigt und, mit Handschellen an ein Rohr gefesselt, letztlich zurückgelassen wird. Um einen Fluchtwagen erreichen zu können, weiden Grimes und Rhee singuläre Zombies aus und behängen sich mit ihren Gedärmen. Auf diese Weise ihren eigenen Geruch überdeckend und die schlurfenden Bewegungen der Untoten kopierend, bleiben sie von diesen vorerst unbehelligt. Als das in Form eines plötzlichen Regenschauers 5

Der Comic setzt in Bezug auf die »Herstellung des narrativen Raums« (Eder 2009: 179) eine »implizite Einbeziehung des Lesers« (Wendt 2011: 12) voraus, von dem erwartet wird, dass er »die losen Enden der Handlung über den nicht-bebilderten Zwischenraum […] hinweg miteinander verknüpft« (ebd.). Comics erfordern daher »wesentlich mehr Aktivität und Energieaufwand […], als […] das Fernsehen, in dem die Information aktiv geliefert wird« (Dittmar 2011: 20). Entsprechend wirkt ihre Darstellung auf den Leser intensiver als die einer audiovisuellen Serie, der der Zuschauer »passiv ausgeliefert« (Plein 2012: 95) ist. Um die Intensität der Vorlage dennoch zu erreichen, praktizieren Adaptionen verstärkt das Ausschmücken und Verschärfen der darin angelegten Konflikte, wie DAYS GONE BY und GUTS exemplarisch illustrieren.

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eintretende retardierende Moment ihre Tarnung zu liquidieren droht, bleibt den beiden nur noch der Einsatz roher Gewalt: Mit einer Axt schlägt Grimes eine regelrechte Schneise durch die letzten Meter der Zombie-Horde, die ihn und Rhee von dem rettenden Fahrzeug trennt. Nachdem dieses in letzter Sekunde bestiegen werden konnte, gelingt es ihnen und dem Rest der Gruppe – Dixon ausgenommen – Atlanta endlich zu verlassen. Diese Stadtflucht nimmt als Initial der Fernsehserie die folgende Hinwendung zu einem postapokalyptisch-archaischen Lebensstil vorweg: Erst als Grimes, ehemals ein Vertreter von Recht und Ordnung, ein präzivilisatorisches Ethos adaptiert, das skrupellose Gewalt als einzig probates Mittel gegen die Zombies proklamiert (vgl. Keetley 2014: 18) und einst geltende Gesetze durch das Recht des Stärkeren substituiert,6 können er und seine Gruppe der urbanen Gefangenschaft entkommen.

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Da die Abkehr von der modernen Gesellschaft für ein Überleben in der neuen Welt obligatorisch ist (vgl. Kempner 2012: 153), müssen Zusammenschlüsse, die als Reaktion auf die Epidemie entstehen, dem barbarischen Impetus der neuen Weltordnung mit entsprechend archaischen Modellen Rechnung tragen. Wo dies nicht geschieht, wo die tradierten Konzepte in ruralen Gebieten lediglich reproduziert werden, erweist sich die Moderne als Travestie, die das gute Leben schlimmstenfalls als notdürftige Tarnung für moralische Degeneration und charakterliche Schwäche instrumentalisiert. Unter den Orten, in die es Grimes und seine Gruppe im Laufe der Serie verschlägt, exemplifiziert dies besonders die suburbane Siedlung Woodbury, 7 in der hohe Mauern und Zäune es den Einwohnern scheinbar erlauben, ihr Leben fortzusetzen, als sei die Katastrophe niemals eingetreten. Unter der Oberfläche erweist sich der vermeintliche Alltag aber als »pervertiertes Faksimile von Normalität« (Round 2014: 133): Der Kopf der Gemeinde, Philip »the Governor« Blake, sichert den relativen Wohlstand Woodburys, indem er andere Überlebende ermordet und bestiehlt. Parallel experimentiert er heimlich an den Bewohnern des Ortes, um ein

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Dies zeigt besonders der Konflikt mit Dixon, der ohne Nahrung oder die Möglichkeit, sich zu befreien, in dem leerstehenden Gebäude zurückgelassen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint Rick als Richter und Henker in einer Person, der letztlich ein Todesurteil über seinen Kontrahenten verhängt.

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Etabliert wird der Ort in der Episode WALK WITH ME (USA 2012, Guy Ferland [Staffel 3, Episode 3]).

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Heilmittel für seine infizierte Tochter zu finden, die im Haus der Familie angekettet als Zombie dahinvegetiert. Abb. 3: Frieden schaffen mit Waffen: Die trügerische Normalität innerhalb der Mauern Woodburys wird mit exzessiv-präventiver Gewaltanwendung erkauft.

THE WALKING DEAD Ein anderes Beispiel ist die Musterstadt Alexandria,8 die als militärisches Notfalllager konzipiert wurde, sich langfristig autark zu versorgen zu können und aufgrund ihrer geografisch vorteilhaften Lage nur vereinzelt von Zombies erreicht wird. Während die moderne Zivilisation innerhalb der Stadtmauern tatsächlich fortzubestehen vermag, sind die Einwohner des Ortes als Kehrseite ihrer Abgeschiedenheit selbst Jahre nach dem Eintritt der Katastrophe physisch wie psychisch noch völlig unvorbereitet auf die Gefahren der neuen Welt. Alexandria wird nicht als Arche der modernen Gesellschaft inszeniert, sondern als naives Relikt, das eigentlich längst der Expansion der Untoten oder den Aggressionen der Plünderer zum Opfern hätte fallen müssen.

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Etabliert in THE DISTANCE (USA 2015, Larysa Kondracki [Staffel 5, Episode 11]).

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Abb. 4.: Die Überschaubarkeit und relative Sicherheit der ruralen Idylle spiegelt sich in beinahe geometrisch komponierten Einstellungen und Filmbauten.

THE WALKING DEAD Eine gelingende Gemeinschaft scheint hingegen dort möglich, wo rurale Abgeschiedenheit und vorzeitliche Autarkie, in Form von Land- und Viehwirtschaft, aufeinandertreffen. Zu diesen Orten zählt zunächst die Farm des pensionierten Veterinärs Hershel Greene,9 der aufgrund seiner medizinischen wie agrarökonomischen Kompetenz zu einem substantiellen Mitglied der Gruppe Grimes avanciert. Obgleich er diesem verschweigt, dass seine Scheune untote Verwandte und Freunde beherbergt, auf deren wundersame Heilung Greene insgeheim hofft (vgl. ebd.), bleiben der Tierarzt sowie seine älteste Tochter Maggie durchweg positiv konnotiert und als Exponenten einer resoluten Landbevölkerung figuriert, die sich als Antagonismus zu den Bewohnern Alexandrias in der postsuburbanen Welt zu behaupten weiß.

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Etabliert in BLOODLETTING (USA 2011, Ernest Dickerson [Staffel 2, Episode 2]).

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Abb. 5: Zwischen ländlichem Idyll und »American Gothic«: Die Landbevölkerung verbirgt ihre Abgründe zwar nur notdürftig, weiß ihren Lebensraum aber resolut zu verteidigen.

THE WALKING DEAD Als Respons auf die obligatorische Abkehr von der Moderne sind es gleichsam die in der präapokalyptischen Welt signifikant negativ besetzten Orte, die sich nach Eintritt der Katastrophe als besonders zukunftsfähig erweisen. In dieser Hinsicht hervorzuheben ist vor allem die »West Georgia Correctional Facility«, ein abgelegenes Gefängnis,10 das Grimes Gruppe in der dritten und vierten Staffel Zuflucht bietet: Einmal von eingeschlossenen Zombies befreit, bieten Zäune und Mauern, die einst den Entzug von Freiheit symbolisierten, Schutz vor einem erneuten Eindringen der Untoten (vgl. ebd.), während die zwischen ihnen liegenden Rasenflächen nun Ackerbau und Viehzucht ermöglichen. Auch die Innenräume erfahren eine symptomatische Umdeutung: Ehemals als Nivellierung der Individualität konzipiert, werden die großen hellen Räume von den Überlebenden nun vornehmlich als gemeinschaftsstiftend empfunden (vgl. ebd.). 10 Etabliert in BESIDE THE DYING FIRE (USA 2012, Ernest Dickerson [Staffel 2, Episode 13]).

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Abb. 6: Die größtmögliche Umdeutung in WALKING DEAD: Von Wärtern und Insassen befreit, geht von der Strafanstalt bisweilen gar ein himmlischer Glanz aus. Dass selbst ein Leben im Einklang mit der Natur hier wieder möglich erscheint, stilisiert das ehemalige Gefängnis tendenziell zu einem neuen Garten Eden – auch weil die Bedrohung dieses Paradises stets evident ist.

THE WALKING DEAD Eine solche Darstellung von Autarkie tendiert bisweilen gar zur Idylle, schreibt ihr gleichsam aber stets eine subkutane Ambivalenz ein: Die konstante Präsenz von Zombies und vagabundierenden Plünderern konstituiert eine anhaltende Bedrohung (vgl. Keetley 2014: 5), in der eine friedliche Landbevölkerung nicht mehr existieren kann. Grimes Gruppe muss stets bereit sein, ihren Lebensraum gewaltsam zu verteidigen und schult bereits Kinder im Umgang mit Stich- und Schusswaffen (vgl. ebd.: 10).

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Der anhaltende Erfolg von THE WALKING DEAD führte nicht zuletzt dazu, dass amerikanische Fernsehsender ein gesteigertes Interesse an Stoffen aus dem ZombieGenre entwickelten (vgl. Szanter/Richards 2017: 14). In diesem Zuge erfuhr auch

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der Comic IZOMBIE (Chris Roberson/Michael Allred), der zwischen Mai 2010 und August 2012 in 28 Heften veröffentlicht wurde, eine TV-Adaption (vgl. ebd.). Die gleichnamige Fernsehserie (2015-2019) erwies sich nicht nur als ihrer Vorlage gegenüber langlebiger,11 sondern ergänzte auch dessen Konzept über das Verhältnis zwischen dem Untoten und seiner Lebenswelt in exponierenswertem Maße. Im Zentrum des Comics steht Gwen Dylan, die sich äußerlich nur durch ihre auffallend helle Haut und die angesichts ihrer Jugend irritierenden weiß-blauen Haare von den Menschen in ihrem Umfeld abhebt. Aufgrund einer selektiven Amnesie entziehen sich die Umstände, die sie zu einer Untoten werden ließen, ihrer Kenntnis; um ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren, ist sie gleichsam gezwungen, monatlich je ein Gehirn zu verspeisen. Während dieses Vorgangs transferieren sich Erinnerungen des Opfers auf die aus naheliegenden Gründen auf einem Friedhof arbeitende Dylan und leiten sie auf diese Weise, dem Verstorbenen seine letzten Wünsche zu erfüllen. Dass es dem Zombie dabei gelingt, seine eigentliche Gestalt konsequent vor der Außenwelt zu verbergen, ist maßgeblich auf das hier präsentierte – zwischen rural und suburban changierende – Milieu im Umland von Eugene/Oregon zurückzuführen: Obgleich sich Dylan abseits des Friedhofs und der Wälder in einem vorstädtisch anmutenden Raum bewegt, wird dessen Bevölkerungsdichte als so gering, die Straßen als so ausgestorben präsentiert, dass Zeichner Michael Allred letztere mit einer wahren Armada wohlbekannter bis äußerst abwegiger Monster, die signifikant von der Genrekultur der 1950er und 1960er Jahre inspiriert sind, bevölkern kann, ohne dass ihre Präsenz zu einer Entdeckung durch die Menschen führen würde. Die Fernsehvariante entlehnt dem Comic kaum mehr als die Physiognomie der Protagonistin und das Konzept des Gedächtnistransfers, der durch den Verzehr fremder Gehirne initiiert wird. Gerade in der sehr freien Adaption, die dem visuellen Stil der Vorlage aber in Form einer animierten Titelsequenz und entsprechend stilisierter Überblendungen demonstrativ ihren Tribut erweist, erlangt die Serie gleichsam eine Autonomie über ihr Ausgangsmaterial, die einen genuinen Blickwinkel auf die Korrelation zwischen den Untoten und ihrem Umfeld offeriert. Als Ursprung der Epidemie gilt hier eine fatale Reaktion der Designerdroge »Utopium« mit einem neu lancierten Energy-Drink, die auf einer Feier vor der Küste Seattles zahlreiche Opfer fordert. Auch die Medizinstudentin Olivia Moore wird infiziert und sieht sich in der Folge gezwungen, eine Anstellung in der Gerichtsmedizin anzunehmen, um ihren Bedarf an frischen Gehirnen decken zu können (vgl. Dutch 2017: 168f.). Da es sich bei ihren Spendern vornehmlich um Mordopfer handelt, nutzt sie die neu gewonnenen Erinnerungen zur Aufklärung dieser Verbrechen. 11 Die Serie umfasst 71 Episoden in fünf Staffeln.

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Im Genrezusammenhang liegt das Originäre dieser postmodern-ironischen Krimi-Travestie in ihrer Annahme, die Untoten wären mittels der Anonymität und ausgeprägten Infrastruktur der Großstadt in der Lage, sich mit den Herausforderungen ihrer Existenz so weit zu arrangieren, dass sie von den Lebenden kaum mehr zu unterscheiden sind. Der Vertrieb der Gehirne instrumentalisiert Feinkostläden ebenso wie Beerdigungsinstitute, während spezielle Kosmetiker das sich erhellende Hautbild der Infizierten wieder nachdunkeln. Obgleich diese Strukturen lediglich den besser verdienenden Zombies offenstehen, offeriert die Stadt auch den Mittellosen Untoten Gelegenheit, ihren Hunger zu stillen: Unter den Drogenabhängigen und Obdachlosen der Metropole fallen sie äußerlich nicht einmal mehr auf, gleichzeitig finden sie hier Gehirne, deren vormalige Besitzer im Regelfall niemand vermisst. Der einleitend gegebene Ratschlag behält gleichsam auch unter diesen Vorzeichen seine Gültigkeit: Wer dem allwöchentlichen Morden und Mutieren entgehen möchte, tut nach wie vor gut daran, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen.

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Wie ich zur Expertin fürs Landleben wurde – und was ich dabei lernte A LINA H ERBING

Ein halbes Jahr bevor mein Roman erscheint, sitze ich mit meiner Verlegerin und den sechs Mitarbeiterinnen einer Presse- und Veranstaltungsagentur an einem langen Tisch in einem Hamburger Büro. Die Sonne flutet durch die großen Fenster. Jemand hat eine Karaffe mit Wasser in die Mitte gestellt, in der Zitronenscheiben und Minzblätter schwimmen. Es ist Sommer, es ist warm und alle sind sehr euphorisch. Ich freue mich, aber nicht zu sehr. Ich bin realistisch. Ich weiß, dass das Buch ein Debüt ist und in einem relativ kleinen Verlag erscheinen wird, also mache ich mir keine großen Hoffnungen auf besonders viel Aufmerksamkeit. Dass sich so viele Leute mit meinem Buch beschäftigen, kommt mir etwas übertrieben vor. Nach ein bisschen Smalltalk, ersten Leseeindrücken und jeder Menge Komplimente soll ich etwas über mich erzählen und davon, wie ich auf die Idee zu dem Roman gekommen bin. »Ich bin in Lübeck geboren«, sage ich, »und nach der Wende mit meiner Familie in den Osten gezogen, kurz hinter die Grenze in ein winziges Dorf, in dem die meisten Häuser zu DDR-Zeiten eingerissen worden waren, weil es im Grenzgebiet lag. Es gab nur drei bewohnte Häuser, als wir dort ankamen. Ein paar kamen noch dazu, aber mehr als 30 Einwohner wurden es nie. Jetzt sind es seit ein paar Jahren nur noch 16. Aber darum geht es in NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN eigentlich gar nicht, darüber will ich erst in einem der nächsten Romane schreiben.« Ich wollte mit dem Landleben lange nichts mehr zutun haben. Auf dem Dorf aufgewachsen zu sein, fand ich ziemlich uncool. Ich war viel zu selten im Kino gewesen und wir bekamen nur vier Fernsehsender rein, wenn der Empfang gut war: fünf mit Rauschen. Außerdem musste ich mir diesen einen Fernseher, den wir besaßen,

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mit meiner Mutter und meinen drei Geschwistern teilen. Dazu kam, dass die Zimmerantenne sofort versteckt wurde, wenn einer von uns Kindern etwas ungezogenes angestellt hatte. Die Gleichaltrigen, mit denen ich zutun hatte, beschränkten sich lange auf die wenigen Nachbarskinder, die mein Dorf zu bieten hatte, und die Klassenkamerad/innen der fünf Kilometer entfernten Dorfschule. Die meiste Zeit verbrachten wir sowieso draußen, im Wald, im Stroh, auf den Feldern oder bei den Tieren. Da war das mit dem Fernsehen auch nicht so schlimm. Als ich als Einzige aus meiner Klasse auf das 30 Kilometer entfernte Gymnasium wechselte, fand ich mich in einem ganz neuen sozialen Gefüge wieder. Je kleiner und abgelegener der Ort, aus dem man kam, so schien es, desto geringer war das soziale Kapital. Zu den Freundinnen aus der Grundschule, die in meinem und den umliegenden Dörfern lebten, verlor ich auch mehr und mehr den Kontakt. Es gab niemanden, mit dem ich am Nachmittag Zeit verbringen und mich dann am kommenden Tag in der Schule darüber austauschen hätte können. Ich hatte keine Ahnung von angesagten Klamotten, Cocktailbars und US-Highschools und war unter anderem wegen dieser fehlenden Skills viel zu schüchtern, um mit Menschen zu sprechen, die kluge Dinge zu all diesen Themen sagen konnten. Ich konnte Ziegen melken und einen Bussard von einer Rohrweihe unterscheiden, aber darum ging es auf dem Gymnasium und auch während meines Germanistikstudiums nie, weder in den Hörsälen noch auf Partys. Auch die Kurzgeschichten, mit denen ich mich irgendwann am Literaturinstitut in Hildesheim bewarb, erzählten nicht vom Landleben. Mein erstes Semester dort war ziemlich anstrengend. Ich hatte drei Seminare belegt, in denen ich jede Woche Schreibaufgaben abzugeben hatte. Nur die besten wurden ausgewählt und vorgelesen. Der Druck war ziemlich hoch, besonders kreativ zu sein und sich Dinge auszudenken, die sich sonst niemand ausdenken konnte. Die anderen schrieben von den glamourösen Premierenpartys ihrer Eltern, MDMATrips auf Berliner Dachterrassen oder erotischen Abenteuern auf australischen Bananenplantagen. An irgendeinem, verzweifelten Nachmittag verhalf der blinkende Cursor in einer leeren Word-Datei meiner Dorfvergangenheit zu neuer Attraktivität. Mit mir 23 Einwohner auf diesem Quadratkilometer, 300 Kühe, darunter Kälber, Stärken und ein Bulle, Hunde und Katzen auf sechs von neun Höfen, Hühner auf drei, Pferde auf zwei, Schafe und Ziegen auf einem, Gänse wahrscheinlich schon geschlachtet. Wenn es öffentliche Verkehrsmittel gäbe, wäre ich nicht mehr hier.

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Zu meiner eigenen Überraschung werden meine »Dorf-Texte« mit großer Begeisterung aufgenommen. Ich schreibe meine erste Kurzgeschichte, die in MecklenburgVorpommern spielt. Auf einmal fallen mir all die Dinge wieder ein, die ich damals gehasst und jahrelang verdrängt habe, aber auch das, was ich immer für völlig normal und langweilig hielt, erscheint mir plötzlich wie ein Schatz, den ich nur noch ausgraben muss. Also fange ich an zu buddeln. Von all dem erzähle ich natürlich nichts an diesem Konferenztisch in Hamburg. Alles nicht so wichtig, denke ich. Mehr als ein, zwei Rezensionen wird es eh nicht geben. »Die meisten Romane, die ich kannte und die auf dem Land spielten, waren mir viel zu romantisch und verklärt«, sage ich stattdessen. »Sie schienen mir eher aus einer städtischen Perspektive erzählt. Meine Erfahrungen habe ich da nie wiedergefunden. Nirgendwo habe ich von zerfetzten Adlern und Kirschlikörkotze gelesen. Von der Landluft kann man auch Ausschläge bekommen, wenn sie voll ist mit Dünger. Was ist mit all den Selbstmorden, dem Alkoholkonsum und den Geschlechterrollen?« Davon wollte ich schreiben, was mir aber selbst erst aufgefallen ist, als ich schon fast fertig war. Ein halbes Jahr später stehe ich bei zwei Grad auf einem Feld und meine Schuhe sinken ein in eine Mischung aus Lehm und Schnee. Ich spüre meine Füße leider noch und versuche, meine Zehen zu bewegen, damit das auch so bleibt. Hinter mir dreht sich ein Windrad, vor mir stehen eine Kamera, ein Kameramann und eine Redakteurin, die mir Fragen stellt. »Sie zeichnen in Ihrem Roman ja ein sehr düsteres Bild vom Landleben. Warum wollten Sie mit ihrer Dorfvergangenheit abrechnen? Ist das Leben auf dem Land wirklich so schlimm?« Mit vor Kälte zitternder Stimme beteure ich, dass der Roman keine Abrechnung ist, dass ich damit gar kein umfassendes Bild vom Landleben geben wollte, dass es lediglich eine Ergänzung ist, ein Ausschnitt und das aus der Perspektive einer unglücklichen Frau. »Gleich haben Sie es geschafft«, sagt die Redakteurin und tatsächlich kann ich meine Schuhe drei Fragen später aus dem Feld ziehen und zum warmen Auto stapfen. Wir fahren noch ein bisschen durch die Gegend auf der Suche nach Kulissen, in denen ich herumstehen kann. »Hier sieht es ja gar nicht so schlimm aus«, höre ich vorwurfsvoll vom Vordersitz. »Ich will eine richtige Bruchbude. Die Häuser sind mir hier alle zu neu und sauber.« Ich fühle mich ein wenig schlecht, weil ich dem Fernsehteam nicht die gewünschte Abgewracktheit bieten kann. Fast neidvoll blicken sie auf die restau-

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rierten Reetdachhäuser, die mit ihren Erwartungen brechen. »Also so schlecht kann’s denen hier ja nich gehen. Das sind ja richtige Paläste.« Im alten Konsum ist jetzt eine Versicherung mit modernen Schiebetüren. Die Bushaltestellenhäuschen wurden erst vor wenigen Jahren aus Backstein gemauert. Nur in einem Dorf finden wir noch eins aus Beton. Auch darum habe ich den Roman geschrieben, weil eine zweistündige Autofahrt nicht reicht, um sich einen Eindruck vom Leben auf dem Dorf machen zu können. Nach meinem ersten Drehtermin habe ich eine Blasenentzündung, die ich den ganzen Januar nicht mehr los werden soll, was mitunter daran liegt, dass auch die anderen Dreharbeiten bei eisigen Temperaturen draußen stattfinden, auf einem Bauernhof bei Berlin und in einem Kälberstall in Mecklenburg, eine Zeitungsredakteurin fährt mit mir bei Blitzeis in mein Heimatdorf, wir können nicht aussteigen, weil die Straße von einer Eisschicht bedeckt ist. Alle wollen mich in der ländlichen Kulisse, am besten mit Kühen im Hintergrund oder zerfallenen Häusern. Outdoor-Klamotten bräuchte ich, denke ich. Einen wind- und wetterabweisenden Wintermantel und wasserfeste Schneestiefel. Als ich selbst noch auf dem Land gelebt habe, kam mir solche Kleidung noch vollkommen sinnlos vor. Warum sollte man so viel Geld ausgeben für Anziehsachen, die sofort kaputt sind, wenn man mal am Zaun hängen bleibt, die Pferde reinbeißen oder man sich beim Ofenheizen Löcher hineinbrennt? Das ist doch nur was für Stadtmenschen, die sofort einen Schnupfen kriegen, wenn sie in einen unverhofften Regenschauer geraten, habe ich immer gedacht, aber plötzlich bin ich mir dieser Einschätzung nicht mehr so sicher. Bin ich genau so ein Stadtmensch geworden, ohne es zu merken? Hätte ich mir schon längst eine Jack-Wolfskin-Jacke kaufen sollen, um für Fernsehdrehs im Winter gerüstet zu sein? Was habe ich mit dem Landleben zu tun, denke ich? Wie man sieht, habe ich keine Ahnung davon, wie man sich draußen aufhält ohne zu frieren. In Berlin husche ich bei solchen Temperaturen nur von meiner Wohnung in die U-Bahn und von dort in das nächste Café. Wirklich warme Sachen brauche ich dafür nicht. Seit über zehn Jahren habe ich nicht mehr auf dem Land gelebt. Ich kenne mich mit Literatur und der deutschen Sprache aus. Aber davon will niemand etwas wissen. Ich komme mir wie eine Hochstaplerin vor. Ich habe ein Buch geschrieben, das auf dem Land spielt, obwohl ich überhaupt keine Ahnung vom Landleben habe. Nach dem Abitur bin ich dort weggezogen. Seitdem besuche ich meine Mutter zwar noch ein paar Mal im Jahr, aber ein Teil der Dorfgemeinschaft war ich eigentlich nie und bin es auch heute nicht. Trotzdem wird mir immer wieder gesagt, dass man beim Lesen wirklich spüre, dass ich wisse, wovon ich schreibe. Die Kuhfladen, die Fliegenfänger, das abstürzende Internet.

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Zum Glück wird es bald wärmer und meine Lesungen finden sowieso weitestgehend drinnen statt. Ich kuriere meine Blasenentzündung aus und lese überall, dass ich einen Anti-Landlust-Roman geschrieben habe. Im April habe ich eine Lesung in einem Dorfgemeinschaftshaus in einem der Orte, dessen Namen ich auch für ein Dorf in meinem Roman geliehen habe, organisiert von dem ansässigen Kulturverein. Das Haus der Freiwilligen Feuerwehr neben dem Sportplatz ist schon eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn voller Leute. Die Hälfte kenne ich von früher, wenigstens vom Sehen, sie begrüßen mich etwas schüchtern, meine Musik-Lehrerin, eine ehemalige Klassenkameradin, die Mutter einer guten Freundin mit den Enkelinnen. Nach der Lesung werden vergleichsweise wenig Fragen gestellt, aber ein Schattiner ist gekommen, als Vertretung für all die Schattiner, die an dem Abend keine Zeit oder keine Lust hatten, vorbei zu kommen. Sie haben ihn mit dem Auftrag geschickt, sich die mal anzusehen, die da ihren Dorfnamen einfach so verwendet hat in einem Buch, ohne zu fragen. Alina Herbing, der Name hätte da niemandem etwas gesagt. Und Schattin sei sowieso vollkommen anders als in dem Roman dargestellt. Niemand hätte sich wiedergefunden. Schattin sei ein Vorzeigedorf des Zusammenwachsens von Ost und West. Auch er sei aus dem Westen gekommen, es gäbe eine Kunstgalerie und ein Café in einer alten Scheune, das schon zwei Mal im Fernsehen gewesen sei. Ich entgegne ihm etwas von literarischer Freiheit und davon, dass ich nur wenige Kilometer von Schattin entfernt aufgewachsen bin. Ich fühle mich als wäre ich der kulturellen Aneignung angeklagt, als müsste ich eine Erlaubnis vorlegen, dass ich das Recht habe, eine Geschichte zu erzählen, die auf dem Land spielt, sich realer Dorfnamen bedient, die Orte aber fiktiv gestaltet. Wie die Schattiner es gefunden hätten, wenn sie sich in dem Roman wiedergefunden hätten, frage ich, bekomme aber keine Antwort. Die Bücher sind sofort ausverkauft und das Signieren dauert eine Stunde, weil mir alle ihre Geschichten erzählen wollen, wie sie aufs Land gekommen sind, warum ihre Töchter es da nicht mehr ausgehalten haben, dass sie in der Dorfkirche Konzerte organisieren, um Geld für die Flüchtlingshilfe zu sammeln. Manche beteuern, dass es bei ihnen ganz bestimmt nicht so schlimm ist, wie in meinem Roman. Andere sagen, dass es noch viel schlimmer sei als in meinem Roman. Die letzten in der Schlange haben leere Bierflaschen in der Hand und glasige Augen. Lallend erzählen sie mir, dass sie sehr stolz seien, dass ihr Dorf in einem Roman vorkommt, und dann eilt auch noch ein Journalist in den Raum. Er musste nebenan auf dem Platz Fußball spielen, konnte deshalb nicht an der Lesung teilnehmen, den Roman habe er auch noch nicht gelesen, aber vielleicht könne ich ihm ja erzählen, worum es gehe, weil der Artikel schon am nächsten Tag erscheinen solle.

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Ich fahre weiter auf die Insel Rügen. Der Organisator der Lesung holt mich aus Stralsund ab. Er betreut Wohn- und Arbeitsprojekte für Menschen mit Behinderung. Ein paar wohnen auch bei ihm auf dem Hof. Sie backen gerade Flammkuchen für die Lesung, mit seiner Frau und den Kindern. Der Wagen läuft elektronisch, wir fahren an Bio-Läden und Waldkindergärten vorbei. »Es gibt hier viele, die aus dem Westen und aus den Städten hergezogen sind und alles mögliche aufgebaut haben. Hier muss man nicht auf sein Bio-Brot verzichten«, erklärt er mir. »Und Kultur wollen wir eben auch mehr haben.« Die Lesung findet in einem ehemaligen Schweinestall statt, der heute ein lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum ist, inmitten von Wiesen und Feldern. Bei der Diskussion im Anschluss stellt sich heraus, dass das Publikum nur aus Zugezogenen besteht, was alle bedauern, aber die alteingesessene Landbevölkerung sei nur schwer zu erreichen. Die Nacht verbringe ich in einem Zirkuswagen neben einem wärmenden Ofen, der mich an meine Kindheit erinnert. Eine Lesung in Ostfriesland wird wieder abgesagt, mit der Begründung, dass man mit zu viel Gegenwind der Landfrauen rechne. Die seien dort sehr stolz und könnten sich von dem Roman verletzt fühlen. Ein großer privater Fernsehsender möchte kurz vor der Bundestagswahl einen Moderator vorbei schicken, der bei mir in Berlin übernachten soll, um sich mit mir über das Landleben zu unterhalten und das alles mit seinem Smartphone filmen will. Nachdem der Protest gegen den Journalismus immer größer werde, wolle man sich wieder mehr auf die Menschen aus der Provinz konzentrieren. Aus diversen Gründen sage ich nicht zu. Im Mai bin ich in Bielefeld. Ein Bauer ist gekommen, der zum ersten Mal bei einer Lesung ist. Er erzählt davon, dass er sich schlecht fühlt, wenn die Spaziergänger aus der Stadt seinem Trecker ausweichen müssen, wenn er die Luft zum Stinken bringt beim Düngen. Er berichtet davon, dass er Drohnen einsetzt, um die Rehkitze im Weidegras zu finden. »Am besten sollen die Bauern still und leise und möglichst billig ökologische Landwirtschaft betreiben«, sagt er, »aber das geht nicht immer.« Er möchte Verständnis, auch für die unangenehmen Dinge. Eine junge Frau aus Vorpommern erzählt, dass sie vor allem wegen der politischen Einstellung vieler Dorfbewohner weggegangen ist aus ihrer Heimat, wegen des Alkoholkonsums in Verbindung mit hartnäckiger Fremdenfeindlichkeit. Ab und zu fährt sie zurück und diskutiert, nur um zu merken, dass alles immer noch so ist wie früher und sich niemand dort belehren lässt. All die, die das nicht aushalten, gehen weg. Das erzählt sie mir aber erst nach der Lesung, weil sich der Großteil des

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Publikums darüber einig war, dass die in meinem Roman geschilderten Ereignisse völlig übertrieben seien. Ich fahre weiter an den Niederrhein. Vor meinem Hotelzimmerfenster fahren die Schiffe brummend und hupend vorbei, so laut, als wäre ich in einem Motel an einer polnischen Autobahn. Die Lesung ist in der guten Stube eines Milchviehbetriebs. Während das Publikum langsam eintrudelt und sich mit Weißwein versorgt, schlendere ich rüber zu den Ställen, in denen die Kühe ihre Silage fressen. Der Bauer kommt über die Wiese. Den Hof habe er und seine Frau übernommen vor 25 Jahren von einem andern Paar. Von seinen Kindern ist niemand dabei, der den Betrieb übernehmen will, aber das wäre nicht so schlimm, da wird sich schon jemand finden. Erstmal machen sie noch ein bisschen weiter. »Hier könnte Ihr Roman auf jeden Fall nicht spielen«, sagt er noch. »Unsere Felder sind viel kleiner, da braucht man keinen halben Tag für und Proviant muss man auch nicht mitnehmen.« Nach den Lesungen beantworte ich Fragen auf der Bühne, zwischen den Lesungen beantworte ich Fragen in Rundfunkstudios oder per Mail im ICE. »Sehen Sie noch eine Chance fürs Landleben?« »Was muss sich verändern, damit die Dörfer noch eine Chance haben?« »Sind das die Abgehängten, die Sie da in ihrem Roman beschreiben?« »Ist es auf dem Land wirklich so schlimm?« Klärung erhoffe ich mir von einer Tagung zur Förderung demokratischer Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern, bei der ich als Rahmenprogramm aus meinem Roman lesen soll. Veranstaltungsort ist ein riesiges Resort nahe der Autobahn. Mehrere Tausend Betten verteilt auf ein Hotel und unzählige Ferienhäuser. In den Dörfern, durch die mich der Shuttle-Service fährt, gibt es noch ein Golfhotel mit entsprechenden Anlagen. »Das ist hier der größte Arbeitgeber der Region«, erzählt mir mein Chauffeur. Normalerweise sei er für den Rasen zuständig, aber heute müsse er mal als Fahrer einspringen, weil sein Kollege krank geworden sei. Während Familien in ihren Flip-Flops zu den Pools schlendern, diskutiere ich im oberen Stockwerk über politisches Engagement auf den Dörfern. Ich höre von fremdenfeindlich motivierten Übergriffen, Freizeitangeboten für Kinder und Erhebungen über AfD-Wähler/innen. Anstatt Antworten zu bekommen, merke ich schnell, dass die Teilnehmer/innen sich Antworten von mir erhoffen. »Wir haben oft das Gefühl, dass wir nicht richtig an die Leute rankommen, dass das Bedürfnis, sich politisch zu äußern, geschweige denn sich zu engagieren, gar nicht da ist. Haben Sie da eine Idee, wie man an die Leute auf den Dörfern rankommt?« Natürlich habe ich noch nie versucht, irgend-

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jemanden auf dem Land zu motivieren, sich politisch zu engagieren, habe aber selbstverständlich auch gemerkt, dass es teilweise essentiell ist für ein friedliches Zusammenleben auf dem Land, dass man die politische Einstellung der Mitmenschen ignoriert und nur mit denen darüber spricht, bei denen man sich sicher ist, dass sie die eigenen Wertvorstellungen teilen. Sobald man auf ein Thema trifft, bei dem man nicht einer Meinung ist, achtet man darauf, es nie wieder anzusprechen. Im Nettetal lese ich in der Scheune eines Kinderbauernhofs. Das Publikum sitzt schon auf den Strohballen, als mir die Bäuerin noch schnell die Ställe zeigen will. Schafe stehen auf ihrer Weide im weniger werdenden Tageslicht. Die Hängebauchschweine sind kaum noch zu erkennen in der Dämmerung. Die Hühner schlafen auf einem Rundballen neben dem Kälberstall, zwei alte Ponys strecken ihre Schnauzen durch das Gatter und ein alter Pfau hat es sich auf dem Dach gemütlich gemacht. »Mit Kindergeburtstagen lässt sich mittlerweile besser Geld verdienen als mit Milch«, erklärt mir die Bäuerin. Ich bedanke mich für die Gastfreundschaft, streiche dem Pony über die Nase, dann gehe ich zurück in die Scheune und steige auf meine Bühne. Mittlerweile lese ich auf meinen langen Zugfahrten zwischen den Lesungen Essays über die gesellschaftliche Bedeutung des ländlichen Raums, verstehe immer besser, warum mein Roman so polarisiert, warum es eigentlich immer lange Diskussionen gibt im Anschluss an meine Lesungen, worin die Brisanz liegt, über das Land zu schreiben, warum es ein Tabu ist, das Landleben zu kritisieren. Immer wieder muss ich an eine meiner ersten Lesungen denken, im Lübecker Buddenbrookhaus. Sogar die noch herangetragenen Stühle an den Seiten waren voll besetzt und während des Publikumsgesprächs am Ende erhob sich von einem dieser Plätze am Rand eine Frau um die 60. Sichtlich erregt erzählte sie, sie besäße ein Haus auf dem Land, lebe da schon seit zehn Jahren, alles dort sei wunderbar und sie hätte noch nie Erfahrungen gemacht, die mit den in meinem Roman geschilderten Ereignissen vergleichbar wären. »Ich verstehe nicht, warum man so über das Land schreiben muss«, sagte sie. »So ist das Leben da nicht. Ich genieße es jeden Tag, mit dem Gezwitscher der Vögel aufzuwachen.« Sie klang, als hätte ich sie mit meinem Roman persönlich beleidigt. Ihre Wangen waren so rot wie ihre schräg geschnittene Leinentunika aus kontrolliert biologischem Anbau. »Das verstehe ich einfach nicht«, sagte sie noch mit einer Stimme, als stünde sie kurz vor einem Tränenausbruch. Dann rauschte sie aus dem Raum. Seit anderthalb Jahren fahre ich jetzt schon durch Deutschland und Österreich und spreche angeregt durch meinen Roman über das Leben auf dem Land und in der

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Stadt. Das hatte ich nicht vor und so auch nicht erwartet, als ich meinen Roman schrieb. Ich hatte mich zwar ein bisschen mit Landwirtschaft beschäftigt und mit erneuerbaren Energien. Ich habe mich mit Bauern, Bürgermeistern und Dorfbewohnern unterhalten, mir Dokumentationen und YouTube-Videos angesehen, das meiste aber aus eigenen Erfahrungen und Erinnerungen geschöpft. Ich habe jede Menge Belletristik gelesen, in der dörfliche Strukturen eine Rolle spielen, habe mich aber wenig mit den dazugehörigen medialen Zuschreibungen und Marketingkonzepten auseinandergesetzt. Die aufkommenden Label für mein Buch, »DorfRoman«, »Heimat-Roman«, »Provinz-Roman«, »Anti-Landlust-Roman«, haben mich von Anfang an geärgert. Habe ich das Pendant »Stadt-Roman« oder »Großstadt-Roman« doch bisher eher selten gehört. Gebe ich Dorf-Roman bei Google ein, erhalte ich über 9 Millionen Treffer, bei Heimat-Roman sind es 6,5 Millionen Ergebnisse und mit dem Begriff ProvinzRoman immerhin noch 2,5 Millionen. Gebe ich hingegen das Wort GroßstadtRoman ein, findet Google nur noch 500.000 Einträge und schlägt mir als Alternative sofort Gesellschaftsroman vor. Die Begriffe Heimat, Dorf und Provinz werden meiner Erfahrung nach übrigens immer wieder viel zu lapidar fast synonym gebraucht. Sicherlich ist Google nicht das Maß aller Dinge und auch sind diese hauptsächlich von Marketingabteilungen und Rezensent/innen geprägten Schlagworte nicht überzubewerten; und trotzdem prägen sie den öffentlichen Diskurs über Literatur und markieren, ähnlich wie das geschlechtsspezifische Pendant Frauen-Literatur, ein spezielles, von der Literatur-Literatur abweichendes Phänomen, etwas Fernes, Fremdes, aus städtischer Bildungsbürgertum-Perspektive, die nun mal prägend ist für solche Diskurse. Ganz am Anfang, als ich die ersten Texte meines Romans geschrieben habe und irgendwann Namen für die Dörfer brauchte, in denen es spielen sollte, war mir ziemlich schnell klar, dass ich reale Dorfnamen nehmen wollte. Wenn der Roman in Berlin gespielt hätte, dachte ich damals, hätte ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, ob ich der Stadt einen fiktiven Namen geben sollte. Einen vergleichbaren Wert wollte ich den Orten in meinem Roman auch zukommen lassen. Die Selbstverständlichkeit, die Berlin für 3,7 Millionen Einwohner/innen besitzt, hat Thandorf nun mal für 189 Menschen, aber das heißt nicht, dass es sich als Name für einen literarischen Schauplatz disqualifiziert. Trotz aller Ambivalenz bin ich froh, dass sich so viele Menschen von der Marketingstrategie und von meinem Roman angesprochen gefühlt haben und somit mit mir und untereinander ins Gespräch gekommen sind.

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Nach all den Höfen, die ich besucht habe, all den Menschen, denen ich auf meiner Lesereise begegnet bin, bin ich davon überzeugt, dass das Landleben so vielseitig ist, dass sich nur wenig allgemeine Aussagen darüber treffen lassen, dass all die traditionellen Lebenskonzepte in den Dörfern durchsetzt sind von innovativen Projekten und Ideen, das Land anders zu nutzen als bisher. Aber das ist auch nicht überall so und fährt man nur ein paar Kilometer weiter, sieht es wieder ganz anders aus.

Projektionen

Konkurrierende Ländlichkeiten Idealisierende und problematisierende Ländlichkeitskonstruktionen zwischen diskursiver Stabilisierung und Dynamisierung M ARCUS H EINZ , J ENS R EDA

Die Entwicklung ›des‹ ländlichen Raumes scheint am Scheideweg zu stehen. Während mediale Repräsentationen über das entschleunigte, friedvolle Leben auf dem Land und die (Rück-)Besinnung zur Natur boomen sowie nahezu jeder Kiosk ein eigenes Zeitschriftenregal für sogenannte Landmagazine bereitstellt (vgl. u.a. Baumann 2018: 9ff.), steht der ländliche Raum als Lebens- und Wirtschaftsraum gleichzeitig zur Disposition. Geschlossene Schulen und Dorfläden oder ein ausgedünnter ÖPNV bei steigenden Mobilitätsanforderungen für die lokale Bevölkerung sind in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands längst keine Seltenheit mehr (vgl. Neu 2014: 117). Zudem werden die steigende Lebenserwartung und die sinkende Fertilität vielfach als Basis für sich selbstverstärkende Effekte wie Abwanderung, allen voran junger Menschen, oder steigende kommunale Schuldenlasten adressiert und dabei als spezifisch ländliche Probleme gerahmt (vgl. u.a. Steinführer 2015). Wenngleich soziodemographische wie infrastrukturelle Wandlungsprozesse regional in unterschiedlicher Intensität ablaufen, hat sich eine Sichtweise etabliert, in der der ländliche Raum als »Verlierer des demographischen Wandels« (Beetz 2007: 224) dasteht, für den sich keine finanziellen Investitionen im Streben nach gleichwertigen Lebensbedingungen mehr lohnen. Ein jüngeres Beispiel hierfür ist die Studie des Leibniz-Institutes für Wirtschaftsforschung, in der auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Daten empfohlen wird, ländliche Gebiete, allen voran in Ostdeutschland, aufzugeben und sich förderpolitisch auf urbane Wachstumskerne zu konzentrieren (vgl. IWH 2019). Dieser dystopischen Perspektive stehen zahlreiche förderpolitische Projekte und Maßnahmen entgegen, die die Vitalität des ländlichen Raumes als Lebens- und Wirtschaftsraum betonen und sich für neuartige Ansätze

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der ländlichen Entwicklungspolitik aussprechen. Exemplarisch kann hier das Aktionsbündnis LEBEN AUF DEM LAND angeführt werden, das sich 2018 aus Vertreter/innen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) sowie weiterer (wirtschafts-)politischer Institutionen konstituierte. Dieses verfolgt das Ziel, den ländlichen Raum durch innovative Projekte und in Kooperation mit regionalen Akteur/ innen zu stärken (vgl. BMEL 2019a). Dabei wird ein durchaus optimistisches und positiv gewendetes Bild gezeichnet. So heißt es etwa: »Der ländliche Raum ist unser Motor, er steckt voller Innovation und Dynamik« (ebd.: o. S.). Hervorgehoben wird hierbei insbesondere das aktivierende Potenzial, das den spezifischen Akteur/innen im Ländlichen zukommt: »Die Akteure vor Ort sind es, die sowohl auf eigene Initiativen wie auch auf Programme und Maßnahmen der Länder zugreifen und so die Entwicklung vor Ort vorantreiben.« (BMEL 2019b: o. S.) Aus dieser Gegenüberstellung von Positiv- und Negativnarrativen wird schnell deutlich, dass der ländliche Raum als »Projektionsfeld[] für sehr unterschiedliche Erwartungen und Konflikte in der Gesellschaft« (Beetz 2010: 126) fungiert. Vor diesem Hintergrund kann nicht von dem ländlichen Raum gesprochen werden. Vielmehr ist von einer Pluralität ländlicher Räume auszugehen, die sich entlang der Beziehungsgefüge einer Vielzahl struktureller Merkmale sowie gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse konstituiert (vgl. u.a. Bell 2007; siehe hierzu auch Heinz 2018). Lokale Akteur/innen, die zunehmend in ländliche Entwicklungsprozesse eingebunden werden, können dabei als Agenten des Ruralen gefasst werden. Sie sind in vielfältiger Weise an der »(symbolische[n] und materielle[n]) Konstruktion ihrer als ›ländlich‹ erfassten und spezifisch gedeuteten Lebenswelt« (Heinz 2018: 349) beteiligt. Es stellt sich jedoch die Frage, wie sie mit den vielfältigen Ländlichkeitskonstruktionen umgehen und in welcher Weise sie an ihrer (Re-)Produktion mitwirken. Die Beziehungsgefüge zwischen raumbezogenen Deutungsmustern und subjektiven Sichtweisen von Personen wurden bereits intensiv in der Soziologie wie der Humangeographie diskutiert (vgl. u.a. Miggelbrink/Meyer 2015; Wacquant 2007). Einen wesentlichen Beitrag leisteten dabei Arbeiten aus der Peripherisierungsforschung, die aufzeigen, wie sich territoriale Stigmatisierungen in die lebensweltlichen Sinnstrukturen von lokalen Akteur/innen einschreiben und damit die Art und Weise beeinflussen, wie sie ihre soziale (Um-)Welt wahrnehmen und in dieser handeln (vgl. u.a. Bürk 2013; Lang 2013; Meyer/Miggelbrink/Schwarzenberg 2016; Wiest 2016). Studien, die sich mit den subjektiven Sichtweisen und Wahrnehmungen lokaler Akteur/innen in ländlichen Räumen befasst haben, schließen größtenteils an diesen Forschungsstrang an. Dabei konnten sie zunächst die Ambiguität der Umgangsweisen mit soziodemographischen und infrastrukturellen Veränderungen herausstellen

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und aufzeigen, dass die lokale Bevölkerung nicht nur passiv von Veränderungen betroffen ist, sondern aktiv in die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse eingreift (vgl. u.a. Steinführer/Küpper/Tautz 2014). In der Folge rückten die subjektiven Wahrnehmungen und Handlungslogiken der lokalen Entscheidungsträger/innen sowie der engagierten Bevölkerung vermehrt in den Fokus. Hierbei wurde einerseits deutlich, dass gesellschaftspolitische Zuschreibungen, wie die entwicklungsprägende Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen, sich nicht unvermittelt auf der subjektiven Ebene entfalten, sondern vielmehr in die lokal verankerten Lebenswelten und damit verbundene Handlungslogiken eingebettet werden (vgl. Schwarzenberg/Miggelbrink/Meyer 2017). Das bietet zugleich auch die – immer wieder realisierte – Möglichkeit, diese symbolischen Zuschreibungen kreativ zu erweitern bzw. umzudeuten (vgl. Ehret/Reda 2018). Andererseits wurde die aktive Rolle der Akteur/innen in der Hervorbringung und Reproduktion gesellschaftlicher Deutungsmuster unterstrichen. Sie zeigt sich bspw. in eigenlogisch hervorgebrachten Semantisierungen der lokalen Lebensverhältnisse, die wiederum die Grundlage von Handlungsoptionen bilden und sich somit auch auf die gegenwärtige wie zukünftige Gestaltung des je eigenen Umfelds auswirken (vgl. Hefner/ Redepenning/Dudek 2018). Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Pluralität von Ländlichkeitskonstruktionen bleibt bisher jedoch unklar, wie genau die an der Gestaltung der lokalen Lebensverhältnisse beteiligten Akteur/innen mit der Vielfalt von Deutungsangeboten des Ländlichen umgehen. Der vorliegende Beitrag geht dieser Frage nach. Hierzu wird zunächst ein theoretisch-konzeptioneller Rahmen skizziert, der sich vor allem auf diskurstheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Raum und Subjekt stützt. Darauf aufbauend wird ein kurzer Überblick über gesellschaftlich dominante Deutungsmuster des Ländlichen gegeben, die sich als Problematisierungen auf der einen und Idealisierungen auf der anderen Seite fassen lassen. In der daran anschließenden Analyse werden die subjektiven Umgangsweisen mit diesen Deutungsmustern anhand zweier Fallbeispiele aus der ländlichen Entwicklung aufgezeigt. Das abschließende Fazit fasst die zentralen Aspekte der Analyse zusammen und zeigt Herausforderungen für die weiterführende Auseinandersetzung mit diskursiven Ländlichkeitskonstruktionen auf.

D ISKURSIVE R AUMPRODUKTIONEN Eine Auseinandersetzung mit den eingangs skizzierten Beobachtungen kann am Begriff des Raumes ansetzen. Ländliche Räume lassen sich, ebenso wie städtische, als gesellschaftliche Konstruktionen begreifen und erforschen. So fokussieren beispielsweise Löw (2001) und Werlen (1997) das »soziale Gemachtsein von

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Räumen« (Döring 2010: 97), wobei sie ein grundlegend konstruktivistisches Raumverständnis zum Ausdruck bringen. In dieser Perspektive, die vielfach in soziologischen wie auch humangeographischen Arbeiten rezipiert wurde (vgl. u.a. Lange 2015; Marxhausen 2010; Schlottmann 2005), avancieren Räume zu einer wesentlichen Dimension des Sozialen. Hieran anknüpfende raumbezogene Forschungen interessieren sich folglich dafür, »wie Raum […] hergestellt und mit welchen Bedeutungen er versehen wird, aber auch dafür, welche strukturierenden Wirkungen vorgängige Räumlichkeit […] hat.« (Kajetzke/Schroer 2010: 193) Eine so gelagerte Interessensbekundung zeigt, dass Räume nicht (nur) als statisch und stabil, sondern (ebenso) als veränderbar und dynamisch verstanden werden müssen. Um gesellschaftliche Phänomene und Konfliktfelder zu analysieren, lohnt es sich deswegen auch, nach der Produktion der jeweils spezifischen gesellschaftlichen Räumlichkeiten sowie Raumordnungen zu fragen. Der Konstitution und der Durchsetzung bestimmter (räumlicher) Wirklichkeiten kann analytisch unterschiedlich nachgegangen werden. Dabei betont Christmann (2016: 7), »dass Raumvorstellungen und geplante Raumgestaltungen in hohem Maße kommunikativ verhandelt werden, und zwar vielfach in breiten Öffentlichkeiten.« Vor diesem Hintergrund stellen diskurstheoretische Perspektiven einen fruchtbaren Zugang dar. Auch bezogen auf die soziale Produktion von Räumen bringen Diskurse Bedeutungszusammenhänge hervor und bieten Akteur/innen damit ein »Interpretationsrepertoire« (Knoblauch 2017: 263) der sozialen Welt an. Prozesse der Bedeutungshervorbringung und -zuschreibung sind dabei stets als Aushandlungen zu fassen, die von einer Vielzahl von Akteur/innen betrieben werden. Die Wirkung raumbezogener Bedeutungszusammenhänge lässt sich deswegen nicht allgemein und abschließend bestimmen, sondern muss entlang ihrer diskursiven Verflechtungen analytisch rekonstruiert werden (vgl. Mattissek 2007: 42). In den diskurstheoretischen Auseinandersetzungen mit diesen Prozessen sozialer Wirklichkeitsproduktion wurde der analytische Fokus vielfach auf sprachliche Repräsentationen gelegt (vgl. Quadflieg 2013). Der Annahme folgend, dass sich in diesen Repräsentationen Wissen vermittelt und somit Bedeutung konstituiert, lässt sich Sprache als ein »grundlegendes Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit« (Glasze/Mattissek 2009: 26) beschreiben. Sprachliche Bedeutungszuschreibungen ermöglichen in dieser Lesart immer unterschiedliche Interpretationen. Sie verweisen als diskursive Strukturprinzipien auf die historische Kontingenz und subjektive Wahrnehmung gesellschaftlicher Wissensformationen (vgl. Quadflieg 2013: 98ff.). Folgerichtig haben diskurstheoretische Arbeiten nicht zum Ziel, einheitliche Prinzipien der Strukturierung gesellschaftlicher Wissensformationen und darin hervorgebrachter Raumproduktionen zu belegen, sondern hinterfragen diese als »machtgeladene soziale Konstruktionen […], die mit spezifischen Trennungen, Ein- und Aus-

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schlüssen, Marginalisierungen und Essentialisierungen [einhergehen].« (Glasze/ Mattissek 2009: 27) In diesem Zusammenhang werden Fragen nach der Handlungsmacht von Subjekten und Akteur/innen sowie deren Verhältnis zu den diskursiven Mechanismen der Bedeutungskonstitution relevant. Wenngleich diskurstheoretische Perspektiven die Idee eines autonomen Subjektes ablehnen (vgl. u.a. Keller 2011: 210f.), lassen sich jedoch unterschiedliche Ansichten darüber identifizieren, welchen Einfluss Subjekte auf die diskursive Herstellung der sozialen Wirklichkeit haben. Im Unterschied zu eher handlungsorientierten Ansätzen, die »Subjekte als diskurspraktizierende AneignerInnen von Sprache begreifen« (Ehret/Reda 2018: 75), geht es aus poststrukturalistischer Perspektive um die »diskursive Hervorbringung und Dezentrierung des Subjektes« (ebd.). Subjektivität wird so zu einem Effekt des Diskurses. Die wissenssoziologische Diskusanalyse (WDA) wiederum verbindet die durch Foucault (u.a. 1981, 1991) geprägte Perspektive mit den Arbeiten von Berger/ Luckmann (2001). Dabei kommt sozialen Akteur/innen und ihren Handlungen eine deutlich stärkere konstitutive Rolle für die (diskursive) Konstruktion der Gesellschaft zu. So werden Diskurse als Strukturen gedeutet, »welche die symbolische Praxis von Akteuren [anleiten], von diesen allerdings auch beeinflusst […] und strategisch eingesetzt werden können.« (Glasze/Mattisek 2009: 32). Die Dimension menschlichen Handelns, die in poststrukturalistischen ebenso wie in systemtheoretischen Diskurstheorien verhältnismäßig abstrakt bleibt, wird demnach stärker berücksichtigt (vgl. Christmann 2016: 16). Foucaults grundlegende Position einer historischen sowie kontingenten Hervorbringung und Wandelbarkeit gesellschaftlicher Strukturen – inklusive der jeweiligen Subjektpositionen – ist hierbei durchaus »kompatibel mit der soziologischen Grundannahme der sozialen Prägung oder Formung des Handelns und der Individuen« (Keller 2011: 215). Die WDA erlaubt somit Anschlüsse an den methodologischen Kontext der interpretativen und qualitativen Sozialforschung (vgl. Keller 2016: 58). Dies ist auch als Reaktion auf die – auch aus poststrukturalistischer Perspektive vermerkte – problematische »methodologische Vagheit« (Tijé-Dra 2018: 76) in Foucaults Ausführungen zu verstehen. Aus diesen diskurstheoretischen Überlegungen lässt sich schlussfolgern, dass auch mit Bezug auf (ländliche) Räume Akteur/innen nicht einfach beliebig handeln respektive kommunizieren, sondern an den jeweiligen kulturellen Kontext gebunden sind. Im Sinne eines konstruktivistischen Raumverständnisses zeigt sich demnach, »dass die Merkmale von [ländlichen] Räumen nicht in erster Linie diesen selbst ›anhaften‹, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Reproduktionsprozesse sind« (Beetz 2013: 58). Woraus sich dann weiterhin die sozialwissenschaftliche Aufgabe ableiten lässt, die »Bedeutungszuschreibungen, Sinnmuster und Wahrnehmungskategorien zu rekonstruieren, die in Bezug auf [ländliche Räume] im gesellschaftlichen Wissenshaushalt kursieren« (Karstein/Hanfland

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2018: 275). Räume stellen dabei ein besonders interessantes Phänomen dar, weil die zu untersuchenden diskursiven Aushandlungs- und sozialen Produktionsprozesse Naturalisierungen raumbezogener Deutungsmuster beinhalten. Sie verdecken anhand von alltäglichen Essentialisierungen oder medialen Normalisierungen (vgl. Miggelbrink/Meyer 2015) ihr eigenes soziohistorisches Gemachtsein (vgl. Arber 2007). Die im Alltag auftretenden Raumbilder (Ipsen 1997) und Bedeutungszuschreibungen für ländliche Räume erweisen sich dabei als äußerst stabile gesellschaftliche Tradierungen. Spricht man demnach von der Produktion von Raum, ist es hilfreich, sich (einige) Raumvorstellungen als verhältnismäßig stabile soziale Konstruktionen vorzustellen (vgl. Schroer 2008: 137). Bedeutungszuschreibungen sind dabei nicht einfach nur Randerscheinungen der Raumproduktion, sondern integraler Bestandteil dieser. Dies meint dann auch, dass räumliche Semantiken nicht ausschließlich als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen von Interesse sind, denn die Produktion ›neuer‹ Räume kann ebenso auf einer vorgelagerten Veränderung der Semantik basieren (vgl. Hefner/Redepenning/Dudek 2018). Analytisch aufschlussreich sind daher, in erneuter Anlehnung an Foucault (2005), Widerstände gegen etablierte Raumdeutungen. Die hier kurz angeschnittenen diskurstheoretischen Ansätze betonen deswegen übereinstimmend Möglichkeiten der Veränderung und des sozialen Wandels. Während aus poststrukturalistischer Perspektive von einer »reproduktiven Unbestimmtheit« (Ehret/Reda 2018: 77) diskursiver Bedeutungsproduktionen ausgegangen wird, welche Subjekten eine subversive Handlungsmacht zuschreibt und sie in ein interdependentes, jedoch nicht deterministisches Verhältnis zu Diskursen setzt, heben wissenssoziologische Perspektiven die »kreative Ausführung« (Keller 2011: 209) diskursiver Wissensformationen durch soziale Akteur/innen hervor und folgen damit stärker handlungstheoretischen Prämissen. Auch mit diesen wird ein besonderes Augenmerk auf die Umbrüche und die Problematisierungen diskursiver Deutungsmuster gelegt, wobei sich besonders die Konfliktlinien zwischen Diskursen als soziologisch interessant erweisen (vgl. Keller 2007). Diskursive Auseinandersetzungen können dabei als Konflikte um Deutungsmacht rekonstruiert werden (vgl. Keller 2011: 208). Bezogen auf gesellschaftliche Räume und Raumordnungen werden demnach Vorstellungen von Räumen relevant, »die der dominierenden Wirklichkeit etwas entgegensetzen.« (Kajetzke/Schroer 2010: 197) Räumliche Alternativen konstituieren und etablieren sich dabei unter anderem über die Stabilisierung von Gegendiskursen. Werden diese im lokalen Kontext wichtig, schaffen sie »lokal gebundene Interpretationsangebote« (Hefner 2019: 110), die das oben angesprochene Interpretationsrepertoire erweitern. So entsteht eine Konkurrenzsituation, die sowohl »die Spuren sozialer Widersprüche sowie die Umkämpftheit des Sozialen (wieder) sichtbar [macht]« (Tijé-Dra 2018: 72) und dabei Chancen auf Bedeutungsverschiebungen beinhaltet.

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Das erkenntnistheoretische Interesse des vorliegenden Beitrags liegt nun genau in diesen Deutungskämpfen, die sich im Wechselspiel aus diskursiven Stabilisierungen und Dynamisierungen von raumbezogenen Bedeutungszuschreibungen entfalten. Dabei stehen Akteur/innen im Mittelpunkt, die aktiv an der Gestaltung ländlicher Räume arbeiten. Aufgrund dieser Fokussierung auf handelnde Personen, folgen wir der durch die WDA vorgelegten Analyserichtung. Angeleitet werden die Überlegungen aber weniger durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den diskurstheoretischen Differenzen, als vielmehr durch eine empirisch zu beobachtende Vielfalt von Bedeutungszuschreibungen an ›den‹ ländlichen Raum im Feld der ländlichen Entwicklung.

D ISKURSIVE L ÄNDLICHKEITSKONSTRUKTIONEN Das Ländliche wird in einer Vielzahl teilweise sich widersprechender diskursiver Formationen adressiert und mit Bedeutung aufgeladen. Sehr deutlich tritt dies an den von Short (1991) nachgezeichneten Ländlichkeitskonstruktionen einer positiv konnotierten ländlichen Idylle sowie einer negativ konnotierten Anti-Idylle hervor, die sich beide von einem jeweils komplementär städtischen Außen absetzen. Im Kontext aktueller Diskussionen um die Entwicklung und Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume in Deutschland lassen sich hingegen verschiedene Bedeutungsmuster des Ländlichen identifizieren, die sich zwischen einer Problematisierung auf der einen und einer Idealisierung auf der anderen Seite aufspannen. Im Folgenden werden diese Bedeutungsmuster nachgezeichnet und zum Ausgangspunkt der anschließenden Analyse gemacht. Problematisierungen des Ländlichen Zunächst sollen problematisierende Bedeutungsmuster im Zentrum stehen. Dabei lässt sich zum einen erkennen, dass die Thematisierung ländlicher Räume verschiedene Konjunkturen durchläuft. Diese sind, je nach soziohistorischem Kontext, an unterschiedliche diskursive Zusammenhänge gebunden. Die diskursive Konstruktion ländlicher Räume findet unter anderem mit Bezug zu Modernisierungs-, Urbanisierungs- sowie Demographisierungsdiskursen statt. Zum anderen wird am Gegenstand offensichtlich, dass trotz der aktuellen sozialwissenschaftlichen Betonung der empirischen Pluralität ländlicher Räume, wie sie unter Bezugnahme auf komplexe gesellschaftliche Raumverhältnisse zu beobachten ist, gesellschaftliche Debatten einer vereinfachenden bzw. komplexitätsreduzierenden Logik folgen (vgl. Redepenning 2019). Dabei werden dynamisierte Raumkonstruktionsprozesse sowie daraus folgende räumliche Diversifizierungen unterbelichtet, spezifische Entwick-

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lungen, die tradierte Raumbilder reproduzieren, hingegen betont. Verdichtete Zuschreibungen wie Landflucht oder sterbende Dörfer, die medial durch die politikberatende Wissenschaft sowie politische Akteur/innen verbreitet werden, operieren mit bestimmten, oftmals negativen Raumdeutungen, ohne diese zu hinterfragen. Ganze Regionen werden so folgenreich als Problemregionen identifiziert (vgl. Reichert-Schick 2013: 33). Dabei scheint sich die Sichtweise etabliert zu haben, dass strukturschwache ländliche Regionen fast zwangsläufig als Verlierer zu verstehen sind. Es lohnt sich demnach die Frage zu stellen, was diese Zuschreibungen zum Ausdruck bringen und in welchen Kontexten sie entstanden sind. Die umfangreichsten Einblicke hierzu liefern die Arbeiten von Beetz (2007, 2013, 2016) und Steinführer (2015, 2017). In gegenwärtigen medialen Berichten ist vielfach vom Phänomen der Landflucht zu lesen (vgl. Steinführer 2015: 5; Vogelgesang et al. 2018: 16). Die Ursprünge der Debatte um dieses Thema reichen jedoch bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die Metapher der Landflucht ist dabei ein gutes Beispiel und zugleich vielsagender Ausgangspunkt für die Analyse problematisierender Konstruktionen ländlicher Räume. Zunächst »diente der Begriff als Drohgebärde agrarischer Interessensgruppen« (Beetz 2013: 49), wobei die Abwanderung der Landbevölkerung unter anderem in einem antimodernistischen Duktus kritisiert wurde (vgl. Steinführer 2015: 5). Nachfolgend finden sich laut Beetz (2013: 49f.) dominanter werdende Positionen, die Migrationsbewegungen vom Land in die Stadt als Teil eines positiv bewerteten Modernisierungsprozesses auffassen. Die Widersprüchlichkeit der Bedeutungszuschreibungen zwischen »Zerstörung essentialistischer Traditionen« (ebd.: 51) und einem Verständnis als »gesetzmäßiger Modernisierungsverlauf« (ebd.) wurde dabei zunehmend zugunsten des letzteren verlagert, ohne dass die Betonung von Traditionen verloren ging. Neben der politischen sowie ideologischen Anschlussfähigkeit solcher Diskurse ist vor allem auffällig, dass ein spezifischer Blick auf das Land zum Ausdruck gebracht wird, der durch die Perspektiven einer industrialisierten bzw. einer sich immer weiter industrialisierenden Gesellschaft geprägt ist (vgl. Beetz 2007: 223).1 Beetz sieht in dem sich veränderten Verhältnis von urbanen und ruralen Räumen die Grundlage für Metaphern wie Landflucht oder Quellregionen (ebd.). Diese verschleiern gesellschaftliche Raumverhältnisse zugunsten einer fortlaufenden Dichotomisierung der Stadt-Land-

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Auffällig sind dabei Parallelen zur soziologischen Begriffsbildung. Laschewski et al. (2019: 6) halten eine frühzeitige Verwechslung von Idealtypen und Realtypen fest. Schon seit Beginn der soziologischen Bearbeitung »erscheint [das Dorf] somit notwendigerweise als traditionell und rückständig. Der Gegendiskurs idealisiert dagegen die dörfliche Gemeinschaft als Zentrum einer vermeintlich ursprünglichen Lebensweise« (ebd.).

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Beziehung. Dabei kann das Verhältnis von ländlichen und städtischen Räumen zwar unterschiedlich bewertet werden (ebd.: 224), wie beispielsweise an den erwähnten differenten Bezugnahmen auf die Modernisierung zu erkennen ist, jedoch zeigt die Kontextualisierung ebenso deutlich, dass die diskursiven Zusammenhänge nicht primär beschreibend, sondern vor allem normativ operieren: »›Landflucht‹ war niemals ein neutraler Begriff« (Steinführer 2015: 5). Es handelt sich um eine Wertung gesellschaftlicher Prozesse bzw. sozialräumlicher Veränderungen, mittels derer ländliche Räume als Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung konzipiert werden. Neben dieser normativen Dimension, prozessualisierten die Diskurse zunehmend technokratische Zuschreibungen. Dabei wird die Modernisierung als »die Gegenmaßnahme der Landflucht« (Beetz 2013: 51f.) dargestellt. Eine eher technokratische Schwerpunktlegung entfaltet ihre Wirkmächtigkeit auch, weil sie nach 1945 anschlussfähig blieb. Wissenschaftlich diskutierte Lösungsvorschläge stoßen dabei zunehmend auf politische Resonanz. Es wird zum Ziel »[d]ie Abwanderung vor allem durch die Modernisierung des Landes, d.h. die Verbesserung der Infrastruktur und der industriell-gewerblichen Wirtschaftsansiedlung abzuschwächen.« (Ebd.: 52) Die hierbei entworfenen Raumbilder basieren, wie Ipsen (1997) zeigt, vornehmlich auf einer Vorstellung der Modernisierung ländlicher Räume durch ihre Industrialisierung und vermitteln den »pathetischen Glauben an ein Entwicklungskonzept« (ebd.: 37). Das Land wird dabei zwar als potentiell zukunftsfähiger, aber eben zu entwickelnder bzw. rückständiger Raum aufgefasst. Somit wird eine Defizitperspektive zum Ausdruck gebracht, die in der Lage ist, das Land als eine Art sozialräumliche Restkategorie erscheinen zu lassen (vgl. Penke 2012). In Einklang mit einem Urbanisierungsdiskurs, der lebensweltlich-verkürzt auf eine zunehmende Bedeutung städtischer Strukturen und Orientierungen verweist (vgl. Vogelpohl 2011), lassen sich so noch-nicht-städtische Räume kontrastieren. Wenngleich also Modernisierungs- und Urbanisierungsdiskurse im Detail durchaus unterschiedliche Ländlichkeitskonstruktionen beinhalten, führen diese dennoch zu einer »Simplifizierung komplexer Stadt-Land-Beziehungen« (Beetz 2013: 53). Dabei geraten die zunehmend diverser werdenden Mobilitätsbeziehungen aus dem Blick (vgl. Beetz 2004). Denn auch wenn die Abwanderung aus der Landwirtschaft schon ab den 1950er Jahren eher als Notwendigkeit und weniger als Landflucht gesehen wurde (vgl. Beetz 2013: 53), führt dies nicht zu einer diskursiven Entproblematisierung ländlicher Räume. Die mit Landflucht assoziierte Entwicklung wird vielmehr als Selbstverständlichkeit gesehen und an weitere Dimensionen geknüpft (vgl. Beetz 2016: 115). Ab den 1970er Jahren stehen deswegen Semantiken wie Schrumpfungen und Entleerungsgebiete auf der Tagesordnung (vgl. Steinführer 2015: 4), welche deutliche Raumbezüge aufweisen. Die Betonung der Abwanderung aus ländlichen Räumen erfährt somit eine erneute Konjunktur (vgl. Beetz 2016: 115).

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In diesem Zusammenhang hebt Steinführer (2015: 5f.) den Übergang von der Landflucht zur Bevölkerungsimplosion für die diskursive Konstruktion ländlicher Räume hervor. Beetz (2013: 53f.) fasst diese Entwicklung als Demographisierung ländlicher Räume zusammen. Dabei sticht erneut die (scheinbare) Faktizität sowie Essentialität der hiermit verbundenen Bedeutungszuschreibungen heraus. Der Demographisierungsdiskurs entwickelt sich im Wechselspiel mit dem Modernisierungsdiskurs. Plausibilität erhalten solche diskursiven Koalitionen durch die einsetzenden starken demographischen Bezugnahmen der Sozialwissenschaften (vgl. ebd.: 54f.). Die daraus folgende Perspektive auf die Entwicklung ländlicher Räume basiert auf einer angenommenen Quantifizierbarkeit der Bevölkerungsentwicklung, die Planungssicherheit suggeriert. Eine reflexive Rekonstruktion der begrifflichen Konstruktionsleistungen spielt jedoch weiterhin kaum eine Rolle (vgl. Steinführer 2015: 6). Aus sozialkonstruktivistischer sowie diskurstheoretischer Perspektive ist das Problem offensichtlich: Da trotz Zweifel an der empirischen Basis demographischer Prognosen Szenarien sich entleerender Räume gezeichnet werden (vgl. Beetz 2016: 115), fungiert der Diskurs nicht als Beschreibung einer faktischen räumlichen Entwicklung. Im Ergebnis steht also kein besseres Verständnis sozialräumlicher Gegebenheiten, sondern eine Problematisierung dieser. Eine sich daraus ergebende weitere Stabilisierung pessimistischer Zukunftsszenarien bietet die Chance, ein Eigenleben zu entwickeln und führt in der Konsequenz zu nachhaltig wirkenden räumlichen Stigmatisierungen (vgl. Miggelbrink/Meyer 2015). Bourdieu beschreibt deswegen das Zusammenspiel von subjektiven Orientierungen lokaler Bevölkerungsgruppen und massenmedial verbreiteten objektiven Entwicklungen als selffulfilling-prophecy, denn »[d]ie Prognose, diese rationale Form der Prophetie« führt dazu, »dass sich die Zukunft, die sie vorhersagt, auch tatsächlich erfüllt.« (Bourdieu 2008: 234f., Hervorh. im Original) Für ländliche Räume und die dort verortete Bevölkerung werden so Krisenszenarien gezeichnet, die erneut ihr ›soziales Gemachtsein‹ verdecken und quasi-naturgesetzliche Abläufe suggerieren. Dabei wird die »begrenzte Vorhersagekraft demographischer Projektionen« (Steinführer 2015: 9) nicht beachtet. Bertachtet man jedoch demographische Prognosen unter Berücksichtigung ihrer sozialen Konstruktion, wird deutlich, dass ihr Wirkungsbereich Raumdeutungen beinhaltet, die im besonderen Maße auf ländliche Räume übertragen werden. Der Begriff der Schrumpfung wurde insofern eine adäquate Beschreibung für die Entwicklung ländlicher Räume. Insgesamt handelt es sich somit um eine symbolische Abwertung (vgl. Steinführer 2015: 6). Dieses Erbe der diskursiven Raumkonstruktion ist in der seit den 2000er Jahren erneut geführten demographischen Debatte ebenfalls zu erkennen (vgl. Beetz 2013: 55). Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf peripheren ländlichen Regionen (vgl. Steinführer 2015: 4). Die anhaltende hegemoniale Demographisierung ländli-

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cher Räume zeigt sich in der Persistenz sterbender Dörfer und Gemeinden. Neben dem Wegzug junger Bevölkerungsgruppen und einer zu geringen Geburtenrate wird vor allem die Vergreisung und Mortalität der verbleibenden Menschen problematisiert. Aus dieser Perspektive erscheint es dann auch plausibel, strukturschwachen Dörfern eine »palliativ-medizinische Behandlung« (empirica ag 2016: 47)2 zukommen zu lassen. Es kommt so weiterhin eine existenzbedrohende Zwangsläufigkeit der Entwicklung ländlicher Siedlungen aufgrund demographischer Prognosen zum Ausdruck. Steinführer (2017) betont, dass die Zuschreibung sterbende Dörfer ebenso wie jene der Landflucht somit einer fehlgeleiteten Schwerpunktlegung folgt. Dörfer sterben im Regelfall nicht aufgrund des Ablebens oder Abwanderns der Einwohner/innen, sondern weil wirtschaftliche Interessen oder sicherheitspolitische Maßnahmen durchgesetzt werden. Außerdem sind es Gebiets- und Verwaltungsreformen, die dazu führen, dass Dörfer als Verwaltungseinheiten verschwinden (vgl. ebd.). Genau hierauf verweisen aber die Bezeichnungen sterbende Dörfer und Landflucht nur sehr bedingt. Die Problematisierung des Ländlichen funktioniert insofern auf Grundlage unkritischer sowie einseitiger Übernahmen von Begriffen, die aus spezifischen (historischen) Kontexten stammen, aber nicht auf diese verweisen. Indem kontinuierlich Möglichkeiten der Entwicklung herausgehoben, andere jedoch ausgeblendet werden, wird nicht zuletzt die »Offenheit gesellschaftlicher Entwicklungen […] ignoriert« (Beetz 2013: 56). Daraus lässt sich ableiten, dass Schrumpfungen nicht mit dem Sterben von Dörfern gleichgesetzt werden sollten (vgl. Steinführer 2015: 9), denn in sogenannten sterbenden Gemeinden verbleiben Akteur/ innen, die nicht abwandern wollen oder können (vgl. Land/Willisch 2006: 63). Darüber hinaus werden Prozesse der Schrumpfung hauptsächlich negativ beurteilt, lediglich untergeordnet werden Möglichkeiten der Gestaltung debattiert (vgl. Steinführer 2015: 10). Die Defizitperspektive neigt somit auch dazu, Akteur/innen zu verbergen, die lokal an der Entwicklung und Gestaltung ländlicher Räume arbeiten (vgl. Heinz 2018). Aus dem Blick gerät damit auch das Verhältnis von diskursiv erzeugten und vermittelten Konstruktionen des Ländlichen und lokalen Ländlich2

Bei der hier zitierten Studie mit dem Titel SCHWARMVERHALTEN IN SACHSEN – EINE UNTERSUCHUNG ZU UMFANG, URSACHE, NACHHALTIGKEIT UND FOLGEN DER NEUEN WANDERUNGSMUSTER handelt es sich um eine Auftragsarbeit der empirica ag. Auftraggeber hierfür waren die Sächsische Aufbaubank, der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Sachsen und der Verband sächsischer Wohnungsgenossenschaften. Dabei werden bestimmte Prognosen betont, andere jedoch ausgeblendet. »Neuere Analysen über langfristige Wanderungsmuster in ausgewählten Dörfern legen ebenfalls keinen allgemeinen Trend der Abwanderung aus ländlichen Regionen nahe, sondern stellen eine weiterhin hohe Attraktivität des Lebens auf dem Lande und eine geringe Wegzugsneigung heraus.« (Beetz 2016: 113)

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keitskonstruktionen sowie Handlungsmotivationen (vgl. Jetzkowitz 2019: 48). Alternative bzw. neue Deutungsmöglichkeiten für ländliche Räume müssen sich dementsprechend mit vorhandenen Problematisierungen auseinandersetzen. Neben diesen gilt es aber auch die Tradierungen des Landes als Projektionsfläche für einen authentischen, naturnahen und entschleunigten Lebensstil zu verstehen. Auf Grund des benötigten doppelten Zugriffs halten auch Nell und Weiland (2014) treffend wie pointiert fest: das Dorf boomt, die Dörfer sterben. Idealisierungen des Ländlichen Auch Idealisierungen des Ländlichen können als ein zentraler Aspekt raumbezogener Imaginationen in westlichen Gesellschaften verstanden werden. Ihre Konstitution und Ausformungen sind bereits vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Analysen und Beschreibungen verschiedener Disziplinen geworden (vgl. bspw. für die Geographie u.a. Halfacree 1995; für die Kulturwissenschaften u.a. Williams 1973; für die Soziologie u.a. Brüggemann/Riehle 1986). Im deutschsprachigen Raum ist die Auseinandersetzung mit idealisierten Bildern des Ländlichen vor allem durch literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven geprägt (vgl. u.a. Ananka/ Marszalek 2018; Hämmerling 1981; Marszalek/Nell/Weiland 2018). Entsprechend häufig stehen damit auch literarische oder filmische Werke im Fokus der Diskussion; und zwar insofern sie kulturell tradierte Erzähl- und Deutungsmuster des Ländlichen sowohl prägen als auch zum Ausdruck bringen. Annäherungen an Konstruktionen idealisierter Ländlichkeit abseits dieser Pfade wurden hierzulande vergleichsweise selten vorgenommen (vgl. u.a. Dünckmann 2010, 2019; Redepenning 2009). Die wohl differenzierteste Arbeit hierzu legt Baumann (2016, 2018) vor. In seiner diskurstheoretischen Betrachtung des Ländlichen diskutiert er verschiedene gesellschaftliche Phänomene der (Spät)Moderne, in denen sich das ländliche Idyll in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt. Gerahmt wird dies von einer Skizze der historischen Beständigkeit sowie den Bedeutungsverschiebungen idyllischer Ländlichkeit, die die sozialen Wirklichkeiten von der griechischen Antike bis in die heutige Zeit durchziehen. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive lässt sich dabei nachvollziehen, wie bestimmte Aspekte einer idealisierten Ländlichkeit von jeweils zeitgenössischen Gesellschaften immer wieder neu angeeignet werden. Zum einen werden zentrale Motive wie das der Naturnähe oder jenes der Ruhe und Geborgenheit fernab städtischer Hektik und Unüberschaubarkeit aufgegriffen und im Kontext des jeweilig vorherrschenden Zeitgeistes aktualisiert. So kommt bspw. dem Bild des Hirten inmitten seiner friedliebenden Herde sowie umgeben von Bäumen und Wiesen bereits in der griechischen und römischen Antike eine Vermittlungsfunktion des abgeschiedenen und sinnlichen Landlebens zu, welches im Zeitalter der Renais-

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sance aufgenommen und um weitere Sehnsuchtsmotive wie dem singender Nymphen ergänzt wurde (vgl. Baumann 2018: 71ff.). Zum anderen fungieren die Repräsentationen einer idyllischen Ländlichkeit nicht allein als gedankliche Sehnsuchtsorte, sondern werden fortwährend in Praxiskontexte eingebettet und damit in den Sichtweisen und Handlungen von Akteur/innen wirksam. So prägte das Bild einer ländlichen Idylle bereits früh konkrete politische Ideen und planerisches Handeln, wie etwa das städtebauliche Modell der Gartenstadt oder die sozialen Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen (vgl. ebd.: 95ff.). Auch sie lassen sich als Absatzbewegungen gegen die fortlaufende Industrialisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche verstehen, welche vornehmlich im Städtischen verortet werden (vgl. u.a. Williams 1973). Dabei schwingt in dieser oppositionellen Positionierung zum Städtischen eine Verklärung der komplexen Sozialstrukturen ländlicher Räume mit, die letztlich in der Vereinfachung und Romantisierung des ländlichen Lebens mündet (vgl. ebd.). Konstruktionen idyllischer Ländlichkeit wirken somit ebenfalls komplexitätsreduzierend, verlaufen komplementär zu vorherrschenden Imaginationen des Städtischen und können dabei als spezifische Ausdrücke der sozialen Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse gelesen werden. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass das Idyllische keineswegs einen statischen Topos darstellt, sondern vielmehr als eine »spezielle, idealisierte Konfiguration des Ländlichen« (Baumann 2016: 251) gefasst werden muss, die sich kontextuell ausgestaltet und verändert. Dies ist auch anhand derjenigen gesellschaftlichen Phänomene zu beobachten, die exemplarisch für eine (spät)moderne Idealisierung des Ländlichen stehen, welche unter dem Schlagwort ›Neue Ländlichkeit‹ diskutiert wird (vgl. u.a. Neu 2016). So macht Baumann (2016: 256f.) am Phänomen des urban gardening deutlich, wie durch vermeintlich ländliche Praktiken des Gärtnerns in der Stadt eine räumliche Entgrenzung des ländlichen Idylls vorgenommen wird. Die Vielzahl der Projekte und Formen städtischen Gärtnerns eint dabei ihre Orientierung an idealisierten Vorstellungen eines naturnahen, sinnlichen und gemeinschaftlichen (Land-) Lebens, durch welche ein alternatives Bild von Urbanität entworfen und in Teilen bewusst gegen eine vorherrschende neoliberale Ordnung ins Feld geführt wird. Das wohl prominenteste Beispiel einer idealisierten Ländlichkeit ist jedoch die Vielzahl von Landmagazinen, die sich seit Jahren einer ungebrochenen Beliebtheit erfreuen. Mit den aufgegriffenen Thematiken sowie den damit verbundenen sprachlichen und visuellen Darstellungen erzeugen die Magazine eine Romantisierung eines als ländlich verstandenen Lebensstils, an der sich die Leser/innen orientieren und ihre eigene Landlust ausleben können (vgl. Baumann 2018: 139ff.). Dies geschieht einerseits durch die Rezeptionspraktiken der Leser/innen, die sich vielfach Zeit für die Magazinlektüre nehmen, es sich bequem machen und im Lesen der alltäglichen Hektik ihrer Lebenswelten entfliehen (vgl. ebd.: 165ff.). Andererseits findet eine

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Idyllisierung des Ländlichen auch mittels der in den Magazinen illustrierten Praktiken statt, die vornehmlich Tätigkeiten wie das Gärtnern, das Kochen oder das Handwerken aufgreifen und damit auf sinnliche und ästhetisierende Aspekte des Lebens fokussieren (vgl. ebd.: 144ff.). Dass die Realisierung der illustrierten Praktiken auch zu Konflikten führen kann, macht Rössel (2014) in ihrer Studie über die Raumproduktionen von Zugezogenen in der Uckermark deutlich. Sie zeigt, wie idealisierte Vorstellungen des Landlebens durch zugezogene Städter/innen in die Dörfer getragen und dort zum Leitbild der alltäglichen Lebensgestaltung gemacht werden. Diese Vorstellungen des guten ländlichen Lebens sind dabei sehr stark mit privaten Lebensbereichen wie dem eigenen Haus und Garten verknüpft und damit vor allem auf die individuelle Lebensführung gerichtet. Sie geraten jedoch auch in Konflikt mit Ländlichkeitskonstruktionen von Alteingesessenen, die das Land bspw. als Wirtschaftsraum begreifen und entsprechend agieren (vgl. ebd.: 193ff.). Dabei zieht die Privatisierung der idyllischen Ländlichkeit auch eine gesellschaftliche bzw. politische Problematik nach sich. So sieht Neu im Rückzug des Idylls ins Private »die Gefahr, dass der allmähliche Abbau von Infrastrukturen, die schleichende Akzeptanz von Versorgungsengpässen oder die Abwertung des öffentlichen Raums zu regionalen und kulturellen Eigenheiten umgedeutet werden.« (Neu 2016: 7) Und zwar mit der spezifischen Folge, dass »[d]ie soziale Frage nach Gleichheit und Zusammenhalt […] auf der Suche nach dem ›guten Leben‹ emotional individualisiert« (ebd.) und angesichts dessen das normativ wirkende Prinzip der gleichwertigen Lebensverhältnisse vernachlässigt wird. Deutungsmuster dieser Art finden sich aktuell insbesondere in Diskursformationen, in denen Fragen der ländlichen Entwicklung verhandelt werden. Dabei werden demographische und sozioökonomische Prozesse in ländlichen Räumen in der oben beschriebenen Weise als essentielle Bedrohungen für die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume konstruiert und zur Legitimationsgrundlage für neue Entwicklungspfade und Förderansätze gemacht (vgl. u.a. Reda 2016; Christmann 2019). In diesem Zusammenhang wird auch der Ruf nach lokalen Akteur/innen, deren Wissens- und Erfahrungsschatz es für erfolgreiche ländliche Entwicklungsprozesse brauche, merklich lauter. So heißt es bspw. im »Bundesprogramm Ländliche Entwicklung«, welches seit 2015 unterschiedliche ländliche Förderansätze bündelt: »[Wir wollen] die wertvollen Erfahrungen von Akteuren, Vereinen und Initiativen aufnehmen, die aktiv den Herausforderungen vor Ort begegnen. Das Wissen und das Engagement der Menschen in Dörfern und Kleinstädten sind ein Schatz, den es zu heben gilt« (BMEL 2018: 7). Die lokalen Akteur/innen erfahren in diesem Kontext in zweifacher Weise eine idealisierte Bedeutungszuschreibung. Zum einen wird das Bild einer dörflichen Gemeinschaft zunehmend romantisiert und dem Engagement von Bürger/innen, als

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vermeintlich tradiertes Element des Ländlichen, eine Stabilisierungsfunktion für das immer brüchiger werdende Sozial(staats)gefüge zugeschrieben (vgl. Neu 2016: 8). Zum anderen werden lokale Akteur/innen vermehrt als »Pioniere des Wandels« (Oswalt/Scurrell 2013: 37) stilisiert, deren Engagement ein Funke für eine neu zu entfachende ländliche Vitalität sein kann (vgl. ebd.). Denn »[j]enseits der dominanten Rückständigkeitsperspektive galt und gilt das Dorf unterschiedlichen sozialen Gruppen immer wieder als Ort des Sich-Ausprobierens und besonderer experimenteller Freiräume« (Laschewski et al. 2019: 36), in dem sich die Sehnsüchte nach dem guten Leben manifestieren. Vor diesem Hintergrund erscheinen »die ländlichen Räume [als] Experimentierfeld für unser Leben, Lernen, Arbeiten und Zusammenleben von morgen.« (BMEL 2018: 3)

E MPIRISCHE R EKONSTRUKTIONEN L ÄNDLICHKEITEN

KONKURRIERENDER

Die Frage nach dem Verhältnis von diesen diskursiv tradierten Konstruktionen des Ländlichen und dem kommunikativen Handeln lokaler Akteur/innen in ländlichen Räumen entfaltet erst in der empirischen Betrachtung ihre volle Komplexität. Dabei werden Stabilisierungen von hegemonialen gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen ebenso wie hiervon abweichende Dynamisierungen sichtbar. Um eine Annäherung an diese Prozesse zu ermöglichen, werden nachfolgend zwei Beispiele aus der Feldforschung besprochen. Beide Fälle beziehen sich auf Akteur/innen, die in lokalen Kontexten in der ländlichen Entwicklung aktiv sind. Die Rekonstruktion basiert auf den Prinzipien der qualitativen Sozialforschung (vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 11ff.) und orientiert sich an einer ethnographischen Diskursanalyse (vgl. Christmann 2017: 363ff.). Das Ziel ist es, den Spuren diskursiver Ländlichkeitskonstruktionen im alltäglichen Handeln nachzugehen und den Umgang der Akteur/innen mit diesen aufzuzeigen.

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Fallbeispiel 1 Im Mittelpunkt stehen zunächst zwei Gründer/innen einer Zuzugsinitiative in einer peripheren ländlichen Region in Sachsen.3 Diese möchten Zuzugswilligen und Rückkehrer/innen einen Anlaufpunkt für Beratungen geben. Neben dem daraus entstehenden individuellen Kontakt organisieren sie auch Veranstaltungen, sowohl in größeren Städten wie auch vor Ort in der Region. Ein Element ihrer Arbeit ist außerdem die Präsentation der eigenen Initiative, um dieser zunehmend Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es finden sich online und offline zahlreiche Artikel, welche über das Projekt berichten. Teilweise wurden diese durch die Gründer/innen erstellt. Neben diesem Material wurden im Rahmen mehrerer Feldaufenthalte im Herbst 2018 Feldbeobachtungen angefertigt und Mitglieder eines aus der Initiative entstandenen Netzwerkes sowie die Gründer/innen der Initiative interviewt. Zentrale Themenkomplexe des folgend zitierten Interviews waren die bereits stattgefundene Entwicklung des Projektes, Erfahrungen mit Förderungen sowie zukünftige Pläne. Auffällig ist, dass sich im gesamten Material immer wieder Bezugnahmen auf dominante Deutungsmuster ländlicher Räume zeigen. Eine intensive Auseinandersetzung mit diesen verdeutlicht sich bereits in der Namensgebung des Projektes, welche am Begriff der Raumpioniere orientiert ist und dabei in Konkurrenz zu negativen Deutungen des Ländlichen gesetzt wird: »Das ist ein sehr attraktiver Begriff, der den Schlamassel umdreht sozusagen, also dieses negative Bild ändert, in Wagemut und Abenteuer und das ist mir sehr sympathisch gewesen.« Lohnenswert ist eine solche begriffliche Rahmung, weil diese in der Kommunikation strategisch eingesetzt werden kann, wie die Gründer/innen im Verlauf des Interviews erklären. Herausgehoben wird so die Betonung einer aktiven Verwirklichung eigener Ideen, also das Handlungspotential von Akteur/innen im Rahmen von Raumproduktionen, welches auch die Überwindung etwaiger (ländlicher) Probleme ermöglicht. Ländliche Räume werden somit als anzueignende Möglichkeitsräume konzipiert. Eine solche Deutung speist sich aus mehreren Dimensionen. Zunächst ist hierfür die individuelle Erfahrung ausschlaggebend, welche als gelungener, aber spezifischer Zuzug dargestellt wird. Den Ausgangspunkt bildet die Überzeugung »auf dem Land leben zu wollen«. Neben der Möglichkeit, ein eigenes Haus zu erwerben, wird auch die Chance zur beruflichen Verwirklichung positiv eingeschätzt. Die Zeit

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Das empirische Material stammt aus einem Forschungsprojekt zu konkurrierenden Ländlichkeiten am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Die interviewten Gründer/innen und weitere Akteur/innen, auf die in den Interviews verwiesen wurde, sind für die Darstellung anonymisiert. Gleiches gilt für erwähnte Orte. Die Namen von größeren Agglomerationen wurden beibehalten.

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des Zuzugs wird darüber hinaus durch einen wiederkehrenden Wechsel zwischen dem ländlichen Raum und einer Metropole gerahmt. Sukzessive entwickelt sich im Anschluss hieran eine Öffnung zur ländlichen Region, »wir haben zugesehen, dass man uns hier kennenlernt und haben auch immer unsere Nasen überall gezeigt«. So deutet sich eine später noch genauer herauszuarbeitende räumliche Relation zwischen dem eigenen Haus bzw. Raum, der Region und benachbarten Städten sowie Metropolen an. Für die Akteur/innen »passte das alles gut zusammen, der Mensch, das Land, die Arbeit.« Neben dieser persönlich-biografischen Dimension sind es aber insbesondere gesellschaftlich verhandelte Deutungen des Ländlichen, die zur Konzeptionierung des Projektes führen: C: Und ich bin halt meinem Bauchgefühl immer gefolgt und so war das dann auch mit der Gründung des Projektes, also Auslöser für ein erstes Konzept war ein Artikel den mir [Akteur/in 1] zusandte, darüber dass es jetzt im Prinzip hip ist sich mit dem Landleben zu beschäftigen das war 2015 also das es irgendwie so Zeitungen gibt wie Escape und Flow und wo eben D:

⎣ Landlust

C: Und dass das eben besonders in so hippen Vierteln hip ist und das hat mich dazu inspiriert eben das Konzept zu schreiben auch eben aus dieser Erfahrung heraus hier gibt es günstige Häuser in den Städten sind Leute die darauf warten

In der Interviewpassage wird die Beschäftigung mit Ländlichkeit als gesellschaftlich relevant konturiert. Zum Ausdruck kommt ein Bewusstsein für ein wachsendes medial vermitteltes Interesse an positiv-idealisierenden Deutungen ländlicher Räume. Gezeigt wird auch, wo die raumbezogenen Imaginationen verhandelt werden. Zunächst wird die Vielzahl der Landmagazine erwähnt, welche, wie zuvor ausgeführt, Ländlichkeit auf einer sinnlich-ästhetischen Ebene darstellen. Im Anschluss hieran wird durch die Interviewten betont, dass ein besonderes Interesse an diesen spezifischen Deutungsangeboten in urbanen Zentren besteht. Es wird somit erstens ein Diskurs angesprochen, der an die Überlegungen zur ›Neuen Ländlichkeit‹ anschließt, und zweitens eine Zielgruppe für den Zuzug räumlich eingeordnet. Auch dieses Verhältnis von Diskurs und räumlicher Einordnung stabilisiert die Relation zwischen ländlichen und städtischen Räumen, welche sich mit der persönlichen Erfahrung überschneidet. Das Zusammentreffen der Dimensionen motiviert dabei zur Projektgründung. Die direkte Ansprache von potentiell Zuziehenden erfolgt dann in Anknüpfung an idealisierte Ländlichkeitskonstruktionen, wie die Präsentation des eigenen Vorhabens auf der Homepage zeigt. Lesende werden hierbei persönlich adressiert: »Träumst Du auch von einem Leben auf dem Land? Wo Du morgens eine Runde durch den Garten drehst? Wo alles überschaubar ist? Wo Du Platz hast für Deine Ideen? Wo Kinder einfach frei herumlaufen können?

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Wo ein nachbarschaftliches Verhältnis wichtig ist? Wo Du dem Sternenhimmel ganz nah bist und Deine Füße auf echter Erde stehen?« Zu erkennen sind stabilisierte Deutungsmuster des Ländlichen, wie etwa Naturverbundenheit, Gemeinschaft, Authentizität oder Sicherheit. Hinzukommen jedoch Überlegungen zur Selbstverwirklichung. Diese werden basierend auf der Verortung des Interesses – in »hippen Vierteln« – und einer hieraus abgeleiteten (kreativen) Zielgruppe anschlussfähig. Somit ist eine konkurrierende Deutung zu einer Problematisierung des Ländlichen zu erkennen. Bevor diese jedoch konkretisiert wird, zeigen die Interviewten, dass die vorgeschlagenen Deutungen nicht allgemein gültig sind. Es handelt sich um spezifische Konstruktionen. Denn bei der Suche nach Unterstützung für das Projekt stoßen die Initiator/innen auch auf Widerstände und Probleme. Die Ländlichkeitskonstruktion, getragen von tradierten Idealisierungen und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, wird von einigen Akteur/innen, auch potentiellen Förderern, verstanden: »Auf der Ebene ist das schon eher viel mehr verstanden worden halt, was wir hier eigentlich treiben«, während andere, vor allem lokale Ansprechpartner/innen, die Deutungen nicht immer nachvollziehen: »Aber hier sind wir halt nur die, die schon immer irgendwie da waren, das wird total unterschätzt halt«, wobei die Interviewten sich gegenseitig zustimmen: »genau die verstehen diese Ebene nicht, auf der wir kommunizieren« und der Argumentation somit Nachdruck verleihen. Dem hierbei konturierten Problem des Miss- oder Nichtverstehens wird mit aktiver kommunikativer Arbeit begegnet. Diese führt zu einer Repräsentation von Deutungsmacht, da über die positive mediale Darstellung des eigenen Projektes die Diskursposition gestärkt wird. Hervorteten somit divergierende Ländlichkeitskonstruktionen, wobei die Resonanz der eigenen Deutungen ein wesentlicher Punkt ist, um diese gegenüber anderen Deutungen zu vertreten: »Wenn wir so einen Termin damit haben, nehmen wir immer den Zeitungsstapel mit, dann begreifen sie es ein bisschen besser, was für Wirkungen das hat.« Neben der Möglichkeit, Ländlichkeitskonstruktionen in der Einwerbung von Förderungen einzusetzen, entsteht dann gleichzeitig auch eine erhöhte Aufmerksamkeit bei der potentiellen Zielgruppe. Betrachtet man also Konflikte um Deutungsmacht, zeigt sich auch eine Aufmerksamkeitsökonomie: »Das ist aber jetzt mittlerweile auch ganz oft so, dass Leute die uns ansprechen sagen, ich hab da und da was gelesen oder gehört und ich hab ja auch schon vorher von euch da was gelesen und gehört und klar die wiederholten Treffer, die führen dazu, dass die Leute dann irgendwann ihren Hintern hoch kriegen und sich melden.« Eine solche Stabilisierung ist auch wichtig, weil die eigene Position zwar bestimmte Ländlichkeitsdeutungen bereithält, es jedoch weitere engagierte Akteur/ innen gibt, die ähnliche oder abweichende Deutungen diskursiv hervorbringen. Auch diese arbeiten an einer Dynamisierung von Raumdeutungen. Für die Akteur/ innen entstehen dabei Möglichkeiten zur Kooperation, die im vorliegenden Beispiel

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anhand des gegründeten Netzwerkes umgesetzt werden. Ebenso können jedoch Konkurrenzsituationen entstehen, die vor allem im Kontext von begrenzten Fördermitteln problematisch werden, »weil auch die Fördermitteltöpfe nicht so riesig sind, also am Ende hast du da bloß noch die Hälfte und es war eh schon nicht viel.« Was sich hierbei verdeutlicht, ist eine Differenzierungslogik der Akteur/ innen, die an die jeweils eigene Position im Feld gebunden ist. Reflexive Unterscheidungen der Akteur/innen zeigen demnach auch die Pluralität des Ländlichen, da Ländlichkeitskonstruktionen Bestandteile kommunikativer Raumkonstruktionsprozesse sind. Möchte man diese erforschen, lohnt es sich also, den hervorgebrachten Logiken der Differenzierungen weiter zu folgen. Neben der Vielzahl von Akteur/innen werden vor allem daraus abgeleitete räumliche Relationen betont. Zum einen ist hier das bereits angesprochene Verhältnis vom eigenen Haus bzw. Raum zur Region und schließlich zur Stadt oder Metropole zu erwähnen. Dieses negiert zwar nicht die Unterscheidung von Stadt und Land, ordnet das Verhältnis aber nicht zugunsten einer zweigliedrigen Trennung. In der kommunikativen Raumkonstruktion findet eine Erweiterung des Bezugsrahmens statt, die eine Verbindung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilräumen betont, welche als erreichbar konzipiert werden. Eine solche Position erfordert aber das Hervorbringen von Ländlichkeitskonstruktionen, die im Kontrast zur tradierten Stadt-Land-Dichotomie stehen, sowie die kontinuierliche diskursive Stabilisierung dieser: »Du brauchst halt Zeit und man kann nicht davon ausgehen, dass das an anderen Orten genauso zündet, wie es jetzt hier gezündet hat.« Die Erwähnung anderer Orte zeigt dabei eine weitere Dimension der Differenzierung. Denn es geht den interviewten Akteur/innen nicht um eine allgemeine Deutung des ländlichen Raumes, sondern um die Möglichkeit der jeweils spezifischen Konstruktion unterschiedlicher ländlicher Räume, welche sie an unterschiedliche Akteur/ innen binden. Auch die bereits erwähnte Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Projekten passt zu einer solchen Interpretation, da sich aus dieser eine Wettbewerbslogik ableiten lässt: »Durch unsere Arbeit ist es einfach auch klar geworden, es wird irgendwo Gewinner und Verlierer geben und es wird Gewinner und Verlierer aus den unterschiedlichsten Gründen heraus geben, man kann da auch nicht pauschalisieren.« In einer solchen Argumentation, die vor allem zum Abschluss des Interviews hervorgebracht wird, zeigt sich dann auch eine weitere Bezugnahme zu Problematisierungen des Ländlichen. Aufgrund der differenzierten räumlichen Bezüge, die die eigene Ländlichkeitskonstruktion durchziehen, wird aber die Essentialität der Problematisierung angezweifelt. Die Akteur/innen betonen die Vielzahl ländlicher Räume und bringen diese in Einklang mit idealisierenden Zuschreibungen. Diese können strategisch in der kommunikativen Raumkonstruktion eingesetzt werden, weil sie anschlussfähig sind. Insgesamt sind die hier vorgestellten Perspektiven daher als Absatzbewegung von einer als ›Common Sense‹ verstandenen

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problematisierenden Deutung ländlicher Räume zu interpretieren. Dabei wird auch nachvollziehbar, welche Ländlichkeitskonstruktion zunächst als »Schlamassel« bezeichnet wurde: »Aber dieses aussterbende Dörfer, das ist auch so in den Köpfen drin, also zum Beispiel ruft jemand an hier […] der eben gedacht hat, hier stehen schon halbe Dörfer leer also das ist in diesen ganzen Prognosen, die gemacht werden, wird das übertragen, genau also das ist schon irgendwie ein Allgemeinplatz oder so was, gehört zum Selbstbild.« Das Fallbeispiel ermöglicht die Rekonstruktion der diskursiven Deutungsarbeit lokaler Akteur/innen. Diese übernehmen gesellschaftliche Konstruktionen des Ländlichen, wie die Nutzung tradierter Idealisierungen zeigt, ergänzen diese jedoch auch durch weitere Bedeutungsdimensionen. Das ländliche Idyll wird dabei zu einem Raum, den es durch die Arbeit und das Engagement lokaler Akteur/innen erst noch zu realisieren gilt. Basierend auf der aktiven Arbeit an kommunikativen Raumkonstruktion erfolgt dann eine räumliche Differenzierung. Diese führt zu einer Verschiebung der Stadt-Land-Dichotomie sowie zu einem Nebeneinander vieler ländlicher Räume. Zu erkennen ist somit eine Dynamisierung der Raumdeutungen. Die Vielzahl der Räume wird an unterschiedliche Akteur/innen gebunden, die diese (kommunikativ) hervorbringen. Eine solche Perspektive leitet dann die Reflexion der Problematisierung des Ländlichen an. Dieser wird widersprochen, weil sich unterschiedliche Gegenbewegungen finden lassen. Die Betonung von Möglichkeiten der Gestaltung führt somit zu einer De-Problematisierung, wobei die Akteur/innen sich diese selbst zur Aufgabe machen. Fallbeispiel 2 Weitere Dynamiken im Umgang mit den vielfältigen Deutungsangeboten des Ländlichen lassen sich im Kontext eines selbstorganisierten Workshops von Bewohner/ innen eines kleinen altmärkischen Dorfes feststellen. Im Spätsommer 2018 fanden sich hier zehn Personen in einem ehemaligen Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr zusammen, um sich über die aktuellen Entwicklungen im Dorf auszutauschen und der Frage nachzugehen, wie das zukünftige Leben im Dorf gestaltet werden kann. Die folgenden Beschreibungen entstammen dabei Feldnotizen, die im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung erhoben wurden.4 Die Organisation des Workshops wurde von einem kleinen Kreis von Dorfbewohner/innen übernommen, die aktiv in die lokale Umsetzung eines bundesfinan-

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Sie sind Teil eines Forschungsprojektes zu zivilgesellschaftlichem Engagement in ländlichen Räumen am Geographischen Institut der Universität Kiel, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - DU 415/6-1.

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zierten Projektes involviert waren, welches die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und Gestaltung des Dorflebens durch engagierte Bewohner/innen verfolgte und bisher vornehmlich in einem benachbarten Dorf stattfand. Mit dem Workshop sollten nun auch Impulse aus dem Förderprojekt in das eigene Dorf getragen und die lokale Bevölkerung zur aktiven Mitgestaltung des Dorflebens motiviert werden. Entsprechend wurde die Moderation der Veranstaltung auch durch am Projekt beteiligte Personen übernommen und zu Beginn des Workshops über die bisherigen Aktivitäten informiert. Im Anschluss daran gab es eine Vorstellungsrunde, bei der sich alle Anwesenden vorstellten und ihre Erwartungen an den Workshop formulierten. Dabei wurde schnell deutlich, dass viele der Dorfbewohner/innen sich schon länger Gedanken um die Entwicklung des Dorfes sowie des öffentlichen Lebens im Ort machen. So wurde immer wieder auf die aktuelle Situation des Ortes Bezug genommen und darauf verwiesen, dass es vor Ort kaum Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten für jüngere Personen gebe, weshalb für sie eigentlich nur der Wegzug in größere Städte oder aber lange Fahrtwege zur Option ständen. Entsprechend sei auch die Bewohner/innenstruktur des Dorfes vor allem durch ältere Personen geprägt, die zukünftig stärker auf die Unterstützung durch Familienangehörige und Nachbar/innen angewiesen sein würden. In diesem Zusammenhang wurde auch vermehrt auf die fehlenden sozialen Infrastrukturen im Ort hingewiesen. War die Freiwillige Feuerwehr bis zu ihrer Auflösung vor ein paar Jahren noch der prägende Akteur des sozialen und kulturellen Lebens im Ort, so finde aktuell kaum noch öffentliches Leben statt. Dies hänge auch wesentlich damit zusammen, dass es keine öffentlichen Treffpunkte mehr gebe, an denen sich die Bewohner/innen ungezwungen im Alltag versammeln und austauschen könnten. Das ehemalige Gerätehaus der Feuerwehr stelle zwar einen geeigneten Ort für solche Zwecke dar, könne aufgrund der Eigentumsverhältnisse jedoch nicht einfach so genutzt werden. Zudem gebe es Gerüchte, dass das Gebäude vor dem Verkauf stehe und damit endgültig der kollektiven Nutzung entzogen werde. In diesen Beschreibungen der aktuellen Lebenssituation im Dorf sind vor allem Anschlüsse an problematisierende Diskursformationen des Ländlichen zu erkennen. So verweisen die Darstellungen über die Abwanderung jüngerer Menschen sowie eine zunehmende Alterung der verbleibenden Dorfbewohner/innen auf Elemente des Demographisierungsdiskurses und verknüpfen diese mit den eigenen lokalen Erfahrungen. Abwanderung stellt sich dabei nicht vorrangig als subjektive Entscheidung, sondern vielmehr als logische Konsequenz der lokal gegebenen Strukturen dar. In diesem Zusammenhang erscheinen die mangelnde infrastrukturelle Ausstattung des Ortes sowie der Wegfall soziokultureller Angebote sowohl als eine Ursache als auch ein Effekt der skizzierten demographischen Entwicklungen. Gleichzeitig werden sie als Ausgangspunkt gesetzt, um Fragen nach den Handlungsmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung zu diskutieren. So stellt eine Person in

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der Vorstellungsrunde auch klar, dass die Erfahrung zeige, »wenn wir nichts machen, ein anderer kommt auch nicht und macht das für uns.« In dieser Aussage zeigt sich die Ambivalenz diskursiver Ländlichkeitskonstruktionen, welche einerseits den Rahmen für die Beschreibung negativer lokaler Entwicklungen bereitstellen, andererseits jedoch auch den Handlungsraum öffnen, in dem die Dorfbewohner/innen im Anschluss an idealisierende Deutungsmuster des Ländlichen als Triebfedern der lokalen Lebensverhältnisse und des Wandels auftreten können. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Ambivalenz des Ländlichen hier auf eine kommunikative Gleichzeitigkeit problematisierender wie idealisierender Diskursformationen angewiesen ist, die aufeinander verweisen und sich stabilisieren, wenngleich das Bestreben der lokalen Bevölkerung auf die Veränderung der aktuellen Lage abzielt. Dieses Bestreben tritt auch im weiteren Verlauf des Workshops deutlich hervor. So leitet die Moderation nach der Vorstellungsrunde zum ersten Tagesordnungspunkt des Workshops über, der sich mit der Frage beschäftigt, wie die Bewohner/ innen ihr Dorf in fünf Jahren sehen, soweit sich ihr lokales Engagement vollends gelohnt habe. In einem offenen Gesprächskreis werden folgend Visionen gesammelt, die diese Frage adressieren. Die zur Sprache gebrachten Zukunftsvisionen überschneiden sich dabei vielfach und zielen vor allem auf ein sozial und ökologisch nachhaltiges Dorfleben ab. So wird mehrfach der Wunsch nach einem grüneren Dorf geäußert, welches von den Bewohner/innen nicht mehr nur als individueller Schlafort, sondern als kollektiver Lebensraum verstanden wird. Entsprechend solle es auch materielle Plätze im Dorf geben, an denen das öffentliche (Aus-)Leben einer Dorfgemeinschaft wieder möglich werde, bspw. in einem Dorfgemeinschaftshaus oder auf einem attraktiv gestalteten Dorfplatz. Auffällig ist, dass viele der Anwesenden zur Beschreibung dieser Visionen immer wieder das Bild einer dörflich-bäuerlichen Idylle bemühen. So entwirft eine Person beispielsweise folgendes Bild des Dorfplatzes: »Ich sehe uns unter den Bäumen auf dem Dorfplatz sitzen und den Kindern beim Spielen zuschauen, die Hühner laufen frei über die Straße.« Eine andere pflichtet ihr bei: »So wie wir es schon mal hatten, vor Jahren, als ihr noch klein wart.« In diesen Aussagen wird deutlich, wie ein idyllisches Deutungsmuster des Ländlichen adaptiert und mit den subjektiven Erinnerungen verwoben wird. Dabei werden einzelne Elemente einer idealisierten Ländlichkeit, wie freilaufende Hühner, in der lebensweltlichen Struktur des Dorfes verortet und als romantisierende Semantik eines konkreten dörflichen Lebens hervorgebracht. Diese Romantisierung nimmt dabei eine Komplexitätsreduktion der eigenen Geschichte auf die idyllischen Momente des dörflichen Lebens vor und kann somit als Gegenentwurf zur vorangegangen problematisierten Ist-Situation fungieren. Indem hier eine in der Vergangenheit verortete Imagination des Dorflebens als Zukunftsvision und Sehnsuchts-

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bild artikuliert wird, werden zudem unterschiedliche zeitliche Dimensionen miteinander verflochten, die sich als zeitliche Dynamisierung diskursiver Deutungsmuster des Idylls verstehen lassen. Dabei wird das Bild des dörflichen Idylls jedoch nicht einfach aus der Vergangenheit in die Zukunft projiziert, sondern sequenziell mit der Zielstellung eines ökologisch und sozial nachhaltigen Dorflebens verknüpft und damit in einen gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Die narrative Verflechtung des Vergangenen und des Zukünftigen umspannt dabei die Beschreibungen des Gegenwärtigen und entwirft so ein diskursives Gegenbild, das sich erst in der Bezugnahme auf das problematisierte und zu verändernde Jetzt konstituieren und entfalten kann. Ausgehend von diesen Zukunftsvisionen werden im letzten Teil des Workshops Projektideen gesammelt, die zur Realisierung der Visionen beitragen können. Entsprechend der vorangegangen Imaginationen werden hier vor allem Ideen angeführt, die sich im Bereich sozialer Infrastrukturen verorten lassen. So wird neben dem Vorschlag, Patenschaften für das Anlegen und die Pflege öffentlicher Grünanlagen zu vergeben, auch der Wunsch geäußert, mehr öffentliche Bänke im Dorf aufzustellen. Um darüber hinaus Orte der Begegnung zu schaffen, wird ebenso die Einführung fester Termine für Aktivitäten im öffentlichen Raum diskutiert. Nach der Sammlung der Ideen wird abschließend besprochen, wie deren Umsetzung sinnvoll angegangen werden könne. Schnell wird sich darauf verständigt, die Ergebnisse des Workshops zunächst den anderen Dorfbewohner/innen vorzustellen, die nicht an diesem teilgenommen haben und damit eine breitere Basis und Akzeptanz für die Projekte zu schaffen. Es findet sich eine kleine Gruppe von Personen, die die Organisation eines weiteren Treffens übernehmen kann, bevor der Workshopabend in informellen Gesprächen vor und im Gerätehaus ausklingt. In diesem letzten Abschnitt deutet sich unter anderem an, wie diskursive Deutungsmuster eine handlungsleitende Wirkung entfalten können. So manifestieren sich zum einen die in den Zukunftsvisionen hervorgebrachten Deutungsmuster einer idyllischen Ländlichkeit in den artikulierten Projektideen, die bspw. in der Begrünung des Dorfes und der Vitalisierung des gemeinschaftlichen Lebens auf die praktische Umsetzung eines ländlichen Sehnsuchtsbildes verweisen. Zum anderen kann die Idee, die Workshopergebnisse anderen Dorfbewohner/innen vorzustellen, als Versuch gelesen werden, lokal einen diskursiven Gegenentwurf zu problematisierenden Ländlichkeitskonstruktionen zu etablieren und damit den angestrebten Wandel im Dorf zu initiieren.

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F AZIT Die hier vorgestellten Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt in der lebensweltlichen Kontrastierung ländlicher Räume. Es lässt sich beobachten, dass das Land sowohl positiv (anhand von Idealisierungen) wie auch negativ (getragen von Problematisierungen) konnotiert wird. Um solche Deutungen und daraus folgende Konsequenzen zu verstehen, wird vorgeschlagen, mithilfe eines konstruktivistischen Raumverständnisses nach den sozialen Konstruktionsprozessen von Räumen zu fragen. Dabei rückt die sprachlich-kommunikative Dimension der Raumkonstruktion in den Fokus und es wird ersichtlich, dass Bedeutungszuschreibungen für ländliche Räume in unterschiedliche Diskurse eingebettet sind, welche sich retrospektiv rekonstruieren lassen. Eine diskurssensible sowie konstruktivistische Perspektive legt außerdem nahe, dass hierbei raumbezogene Stabilisierungen und Dynamisierungen auftreten, die durch das kommunikative Handeln von Akteur/ innen vollzogen werden. Das hierüber in den Blick kommende Spannungsfeld der gesellschaftlichen Raumproduktionen bildet letztendlich die Grundlage für die Pluralität ländlicher Räume. Sowohl Problematisierungen als auch Idealisierungen des Ländlichen stellen in dieser Perspektive Deutungsangebote im gesellschaftlichen Wissenshausalt dar. In welcher Form diese wahrgenommen, bestätigt oder bearbeitet werden, ist dann eine empirisch zu beantwortende Frage. Anhand der Fallbeispiele wurde eine Annäherung an diese Frage vorgelegt, wobei die gezielte Auswahl der Fälle es ermöglichte, unterschiedliche Aspekte nachzuzeichnen. Das erste Fallbeispiel verdeutlicht, wie verschiedene Bedeutungszuschreibungen des Ländlichen diskursiv hervorgebracht und strategisch zueinander positioniert werden. Zunächst wird durch die Akteur/innen anhand von tradierten Idealisierungen das ländliche Idyll als ein herzustellender Nahraum konzipiert. Die Betonung der Möglichkeiten der Raumproduktion erweitert dabei tradierte Konzepte des Ländlichen. Hierbei stellt sich durchaus die Frage, ob die Idealisierungen lediglich ergänzt oder neuverhandelt werden. Zum anderen rücken aber auch Diskursorte selbst in den Fokus. Die Kennzeichnung dieser durch die Akteur/ innen verweist auf eine mehrdimensionale Ordnung des Sozialraumes, die durch individuelle Erfahrungen gestützt wird. Durch die Relation verschiedener gesellschaftlicher Räume wird dabei die Dichotomie von städtischen und ländlichen Räumen bearbeitet. Diese dynamische Aushandlung des Verhältnisses von Stadt und Land führt dann zu einer Konfrontation mit den tradierten Problematisierungen des Ländlichen. Das zweite Fallbeispiel öffnet hingegen den Blick für eine zeitliche Strukturierung diskursiver Ländlichkeitskonstruktionen. Hierbei werden idealisierte Deutungsmuster einer dörflichen Lebenswelt in subjektive Erinnerungen eingeflochten und in Kontrast zu einer problematisierten Gegenwart gesetzt, wodurch eine oppositionelle Ordnung ländlicher Bedeutungszuschreibungen entsteht. Diese

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wird jedoch zugleich genutzt, um ein Raumbild der Zukunft zu projizieren, welches zwar an tradierte Idealsierungen anknüpft, diese jedoch auch mit Bezug auf einen gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurs aktualisiert. Es kommt insofern zu einer dynamischen Aushandlung von Ländlichkeitskonstruktionen, die auch auf eine zeitliche Strukturierung ihrer diskursiven Ordnungen verweist. Insgesamt lassen sich somit vielfältige Umgangsweisen lokaler Akteur/innen mit den diskursiven Konstruktionen des Ländlichen feststellen. Ein Verständnis dieser scheint insbesondere im Kontext ländlicher Entwicklungsprozesse relevant, werden doch zunehmend Bewohner/innen ländlicher Räume adressiert, sich mit den Entwicklungen ihrer Orte und Regionen auseinanderzusetzen und sich aktiv in deren zukünftige Gestaltung einzubringen. Eine analytische Fokussierung auf die Hervorbringung von und den Umgang mit diskursiven Ländlichkeitskonstruktionen durch die kommunikative Arbeit lokaler Akteur/innen steht weiterführend jedoch vor der Herausforderung, die leiblichen und materiellen Dimensionen sozialer Wirklichkeitsproduktion einzubeziehen, deren Bedeutungen für die Konstitution des Ländlichen im Kontext von more-than-representational ruralities diskutiert werden (vgl. u.a. Maclaren 2019). So schlägt bspw. Carolan (2008) vor, Bedeutungszuschreibungen des Ländlichen als performative Beziehungsgefüge des verkörperten Subjektes zum Raum zu verstehen, wobei die räumliche Situiertheit des Körpers in seiner konkreten materiellen Umwelt wesentlichen Einfluss darauf hat, wie das Ländliche erfahren wird und welche Bedeutungen ihm zugeschrieben werden. In dieser Perspektive rücken nicht nur Fragen der Materialität und der Affektivität des Ländlichen in den Vordergrund, wie sie bspw. Halfacree (2012) diskutiert, sondern es gilt ebenso, die Situiertheit von Interviews und Beobachtungen stärker zu reflektieren und für die Analyse diskursiver Ländlichkeitskonstruktionen fruchtbar zu machen. So ist beispielsweise im Rahmen der diesem Beitrag zugrundeliegenden Feldforschung aufgefallen, dass Interviewte häufig ein idyllisch anmutendes Setting für das Interview herrichteten, das spezifische Verhältnis dieses Settings zu den im Gespräch hervorgebrachten Deutungsmustern des Ländlichen bleibt bisher jedoch unklar. Es kann gleichermaßen als Schaubild projizierter Bilder auf den konkreten Raum dienen, bei der performativen Verkörperung ländlicher Lebensstile helfen und/oder als Ausdruck der antizipierten Erwartungen des Gegenübers verstanden werden. Entsprechend gilt es für diskurstheoretische Perspektiven, die die Pluralität und Komplexität von Ländlichkeitskonstruktionen betonen, den konzeptionellen Rahmen um nicht-repräsentationale Aspekte zu erweitern und für die empirische Forschung zugänglich zu machen.

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»Ich glaube, wir müßten anders leben. Ganz anders.« (Literarische) Imaginationen eines ›anderen‹ Lebens auf dem Land in der Künstlerkolonie Drispeth (DDR) J OHANNA S TEINER »man muß nicht in Ländern, nur stets auf dem Land sein« SARAH KIRSCH/ ALLERLEI-RAUH

D IE K ÜNSTLERKOLONIE D RISPETH Die mecklenburgischen Dörfer Drispeth, Neu Meteln und Wendisch-Rambow, allesamt nordwestlich des Schweriner Sees gelegen, scheinen auf den ersten Blick nicht sonderlich aufsehenerregend. Die ländliche Gegend zeichnet sich seit jeher aus durch ihre Moorlandschaft, intensiv betriebene Landwirtschaft und das nahegelegene Vogelschutzgebiet der Dambecker Seen. Interessanterweise zog dieser Landstrich in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nicht nur Fischadler und Schildrohrsänger an, sondern auch ungewöhnlich viele Schriftsteller. Zwischen 1965 und Anfang der 1980er Jahre siedelte sich dort eine Autorenansammlung an, die heute als Künstlerkolonie Drispeth bezeichnet wird. Aus Rostock, Schwerin und Berlin kamen in der Reihenfolge ihrer Ansiedlung • der Naturfotograf sowie Sachbuch- und Kinderbuchautor Wolf Spillner, • der griechische Übersetzer und Autor Thomas Nicolaou und seine Frau Carola,

die ebenfalls literarische Ambitionen hatte, • der Schweriner Schriftsteller Claus B. Schröder, • der Kinderbuchautor und Lyriker Werner Lindemann,

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• der 1973 von der BRD in die DDR übergesiedelte Autor und Literaturwissen-

schaftler Joachim Seyppel, • die Autorin Christa Wolf und ihr Mann, der Verleger Gerhard Wolf, die wohl

prominentesten Bewohner, • die junge Autorin Helga Schubert und ihr Mann, der Psychologe und Maler

Johannes Helm, • sowie zum Schluss die Publizistin Daniela Dahn und ihr Mann, der Autor

Joochen Laabs. Die Schriftsteller befanden sich in guter Nachbarschaft. Auch bildende Künstler verschlug es in die Gegend. So gehört der Schweriner Amateurmaler Detlef Kempgens neben seinem Freund und Arbeitskollegen im Schweriner Plattenbaukombinat Wolf Spillner zu den Ersten in der Gegend. Er baute sich mit der Hilfe Spillners eine alte Mühle nahe Dambeck zu Wohnung und Atelier aus. Der Dresdner Maler Willy Günther fand Anfang der 1970er Jahre in Drispeth eine dauerhafte Bleibe. Die Autoren und Maler kauften in der einsamen Gegend alte Bauernhäuser und steckten viel Zeit, Geld und Arbeit in ihre Renovierung. Viele von ihnen – etwa die Wolfs und das Ehepaar Schubert/Helm – behielten ihre Stadtwohnungen bei, verbrachten aber viele Monate im Jahr auf dem Land; andere – wie die Nicolaous und Werner Lindemann – ließen sich ganz dort nieder. Was suchten die Autoren auf dem Land, was es in der Stadt nicht gab? Und wurden sie fündig? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

E INE D ATSCHE

AUF DEM

L AND

Zu jener Zeit war es nicht nur in der DDR durchaus üblich, sich als Freischaffender einen Zweitwohnsitz auf dem Land zu nehmen. Joachim Seyppel hält in seinem autobiographischen Bericht ICH BIN EIN KAPUTTER TYP von 1982 hierzu fest: »Jeder, der auf sich hält, hat seine Datsche. Im Westen hat man so was fürs Weekend. Russifizierung gegen Amerikanisierung nicht zuletzt auf dem Gebiet dessen, was man einst Laube, Schrebergarten, Stadtrandhäuschen, Wassergrundstück nannte und noch nennt. Wer sich’s leisten kann, Zeit hat, freiberuflich wirkt, zieht gern in Richtung Ostsee, ohne dabei seine Stadtwohnung aufzugeben. Kaum ein Schriftsteller, der nicht irgendwo auf dem Land solch ein Domizil besitzt. Unsere Zuflucht heißt D. Fred Wander sagte damals: ›Raus aus Berlin! Das ist das einzig Vernünftige, was du machen kannst!‹ Weg also von Cliquen, dem Betrieb, kulturellem Inzest. […] Die Tendenz weist aufs Eigenheim, wenn nicht sogar aufs Private, die Idylle, den Eskapismus.« (Seyppel 1982: 87)

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Der Rückzug der Autoren aufs Land hatte zunächst naheliegende Gründe: Sie wollten dem Stadttrubel entfliehen und in Ruhe und Abgeschiedenheit ungestört arbeiten und sich erholen. Auf dem Dorf hatte man üblicherweise kein Telefon, die Straßen waren schlecht, im Winter manchmal unbefahrbar; von Drispeth aus fuhr ein Bus zur nächsten Kleinstadt dreimal täglich. Wer unerreichbar sein wollte, der war es hier. Für den ersten ›Siedler‹ Wolf Spillner war es diese Abgeschiedenheit, die ihn anzog. Spillner, ursprünglich Journalist, war nach einer Haftstrafe wegen Verstoßes gegen das Außenhandelsmonopol als Betonfacharbeiter auf dem Bau gelandet (vgl. Schattinger 2016: 14). Seine Leidenschaft galt jedoch der Fotografie und Ornithologie. Er hatte sich 1969 mit seinem Sachbuch DER WALD DER GROSSEN VÖGEL einen Namen als Vogelkundler gemacht. Auf Empfehlung des Schweriner Bezirksnaturschutzbeauftragten fuhr er in die Gegend rund um die Dambecker Seen, um seltene Vögel zu beobachten und zu fotografieren. Er war begeistert von den Bedingungen, die er dort vorfand: »Ja, hier war eine erstaunliche Fülle von Wasservögeln auf engem Raum beieinander – es mußte eine Ideallandschaft für sie sein. Dabei war diese Landschaft nicht etwa entlegen. Einen Kilometer weiter führte die Fernverkehrsstraße von Schwerin nach Wismar, und Traktoren arbeiten auf den umliegenden Ackerflächen. Ein Paradies der wilden Gänse inmitten intensiver Landwirtschaft […]. Der Sumpfsee unter dem Wind war keine abgekapselte Oase, sondern stand durch seine Bewohner in vielfältiger Beziehung zur umgebenden Landschaft.« (Spillner 1971: 8f.)

Die Dambecker Seen wurden zum Hauptgegenstand seines zweiten Buches, das 1971 unter dem Titel LAND UNTER DEM WIND erschien. Spillner blieb der Landschaft verhaftet. Er verbrachte zunächst die Wochenenden in der Mühle seines Freundes Kempgens und suchte sich schließlich eine Bleibe im nahegelegenen Wendisch-Rambow. Der Anfang der sogenannten Künstlerkolonie Drispeth war gemacht. Dass ihm in den folgenden Jahren zahlreiche weitere Autoren und bildende Künstler folgten, hat nichts mit der Einzigartigkeit der Landschaft zu tun. Wäre es den Autoren nur um Ruhe und Abgeschiedenheit gegangen, dann hätte sich jeder sein eigenes Dorf suchen können. Stattdessen entwickelte sich im Nordwesten Mecklenburgs eine wahre »Dichter-Dichte« (Martin 2009: 30) – eine Formulierung des Autors Joachim Walther – auf engem Raum. Was also machte diesen Ort so besonders?

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E INE G EMEINSCHAFT

UNTER

G LEICHGESINNTEN

Wahrscheinlich war es in erster Linie die Aussicht, ungestört unter Freunden zu sein, die auf die Autoren attraktiv wirkte. Viele der Autoren waren bereits bevor sie aufs mecklenburgische Land zogen gut miteinander bekannt. Andere kannten sich zumindest vom Schriftstellerverband, oder weil man demselben Verlag angehörte. Sie zogen ihren Freunden oder Bekannten nach. So überzeugte Wolf Spillner seinen Freund und ehemaligen Redaktionskollegen bei der Norddeutschen Zeitung, Claus B. Schröder, von der Gegend. Er bezog Anfang der 1970er Jahre ein Haus in der Nähe der Mühle von Detlef Kempgens. Der griechische Autor und Übersetzer Thomas Nicolaou und seine Frau Carola folgten kurz darauf eher zufällig durch die Vermittlung von Kempgens’ Mutter und bezogen ein großes Bauernhaus, das abseits vom Dorfkern in Drispeth-Ausbau gelegen war. Nicolaou, ein wahrer Netzwerker im Kulturbetrieb der DDR, sah es gern, dass sich mehr und mehr namhafte Kollegen in der Umgebung niederlassen wollten und suchte aktiv für sie nach zum Verkauf stehenden Häusern. Er war es, der Werner Lindemann, Joachim Seyppel und das Ehepaar Wolf, das er in Kleinmachnow bei Maxie und Fred Wander kennengelernt hatte, nach Drispeth und Umgebung holte. Christa und Gerhard Wolf wiederum waren gut bekannt mit dem Ehepaar Schubert/Helm und seit Jahren eng befreundet mit Daniela Dahn und Joochen Laabs. Beide Paare suchten sich eine Bleibe in der Nähe, nachdem sie die Wolfs in ihrem Büdnerhaus in Neu Meteln besucht hatten. Die Gegend wurde dank ihrer prominenten Bewohner bald zum Treffpunkt für Kunst- und Kulturschaffende aus der gesamten DDR und darüber hinaus. So waren die Autoren Joachim Walther, Volker Braun sowie Gerti und Reiner Tetzner, der Reclam-Verleger Hans Marquard, die Fotografin Helga Paris, der Dramaturg und Verleger Walter Janka samt Frau, der Übersetzerin Charlotte Janka, sowie der Maler Carlfriedrich Claus regelmäßige Gäste im Ort. Besonders oft und gern kamen Sarah Kirsch mit ihrem Sohn Moritz sowie Maxie und Fred Wander zu Besuch. Auch sie suchten Häuser in der Gegend, doch es kam anders. Sarah Kirsch reiste 1977 in die BRD aus, Maxie Wander verstarb im selben Jahr an Krebs. In der ländlichen Abgeschiedenheit gerannen die vereinzelten Beziehungen zwischen den Autoren und Autorenpaaren zu größeren Freundeskreisen, wenngleich man nicht mit jedem gleich gut auskam und einige nie zueinander fanden. Dennoch, wer sich vorher nicht oder nur entfernt kannte, lernte sich hier auch privat kennen. Gelegenheiten dazu gab es genug.

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I M R AUSCH DER F ESTE Wenn man nicht gerade an der Schreibmaschine saß oder im Garten arbeitete, wurde, so lässt sich wohl sagen, kräftig gefeiert. Die Autoren luden einander zu Oster- und Pfingstfesten ein und verbrachten nicht selten Silvester und Geburtstage gemeinsam in größeren Gruppen. Stand kein Geburtstag oder Feiertag an, wurden Vorwände erfunden, um ein Festgelage zu rechtfertigen. Auf Christa Wolf geht beispielsweise das »Fest der Rose« (Dahn 2012: 281) zurück, zu dem die Wolfs Schriftstellerkollegen aus der Umgebung einluden, wenn im Garten die ersten Blumen blühten. Christa Wolf beschreibt das gesellige Treiben in der Künstlerkolonie in ihrem Roman SOMMERSTÜCK, erschienen 1989, als geradezu rauschhaft. Hier erinnert die Protagonistin Ellen, die der Autorin selbst nachempfunden ist, ihre Künstlerfreunde an jene unvergesslichen Feiern: »Zuerst war es Zufall, wißt ihr es noch, daß immer ein Fest daraus wurde, wenn wir uns trafen. […] Wir Stadtmenschen, wir strikten Arbeitsmenschen hatten ja keine Ahnung gehabt, was Feste sind, ein Versäumnis, das wir aufholen mußten. Später, das ist schon wahr, gerieten wir in den Sog eines Wirbels, eine Art Festessucht kam auf: Tages- und Nachtfeste, Feste zu dritt und Feste zu zwangzig, Feste unter freiem Himmel, Feste in Wohnstuben, Küchenfeste, Scheunenfeste. Feste mit den verschiedensten Speisen. Wein war immer da, manchmal dazu nur Brot und Käse, manchmal gegrilltes Fleisch, Fischsuppe, Pizza, sogar große Braten. Die Kuchen nicht zu vergessen, die Frauen begannen, in Kuchen zu wetteifern. Es gab Feste mit Musik und Tanz, Feste, bei denen gesungen, Feste, bei denen geschwiegen, Feste, bei denen geredet wurde. Feste zum Streiten und Feste zum Versöhnen. Spiel-Feste. Wir lehrten uns, den Rausch zu lieben.« (Wolf 2001 [1989]: 63)

Ein besonders beliebter Treffpunkt für geselliges Beisammensein war die Mühle von Detlef Kempgens. Sie galt als der Mittelpunkt der Künstlerkolonie. Hier traf man sich gern spontan, trank und aß gemeinsam und führte angeregte Gespräche mit seinen schreibenden und malenden Nachbarn (vgl. Lindemann 2003). Doch die Mühle bot auch Raum für groß angelegte Festivitäten mit Tanz und Musik. Mitte der 1970er Jahre versammelten sich hier die Autoren, Maler und Intellektuellen aus der Umgebung, um einem mit dem Ehepaar Lindemann befreundeten bekannten ungarischen Musiker zu lauschen. Werner Lindemann verarbeitet dieses Ereignis in seinem autobiographisch geprägten Buch AUS DEM DRISPETHER BAUERNHAUS: »Ein milder Abend. Ernö hat die Geige unterm Arm. Wie ein wandernder Spielmann zieht der Geiger mit uns am Koppelzaun entlang hinüber zur Dambecker Mühle. Dort haben sich viele Gäste versammelt: Architekten, Grafiker, Maler, Schriftsteller, Ärzte, der Pastor aus

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Meteln. Die Frauen und Männer liegen im Grase. Farbtupfen zwischen den Erwachsenen: Kinder. Ernö steht breitbeinig unter einer Jungpappel, spielt: Bach, Händel, Vivaldi, Bartók. Langsam sinkt die Sonne. Dämmerung umschleicht die Flügel der Holländer Mühle. Limonade sprudelt. Tee dampft. Rotwein funkelt im Glase. Ernö geigt, bis die ersten Sterne am Himmel aufleuchten. War das schön! Wundervoll! Einmalig!« (Lindemann 1981: 49)

In der ländlichen, abgekapselten Intellektuellengemeinschaft – Dorfbewohner wurden so gut wie nie eingeladen – waren die Autoren weniger isoliert voneinander als in der Stadt. Das Landleben weckte in ihnen eine Leichtigkeit und Freude, die sie in ihrem Stadtalltag, in dem vieles auf Arbeit und das Erfüllen von Pflichtveranstaltungen hinauslief, nicht kannten. Es wäre jedoch falsch, das ländliche Dasein der Autoren auf puren Hedonismus zu reduzieren; es hatte durchaus auch politische Implikationen.

P OLITISCHER R ÜCKZUG In seinem Buch SCHLESISCHER BAHNHOF beschreibt Joachim Seyppel das Dorfleben rückblickend als eine Art linkes Experiment: »Sie [die Autoren; J.S.] suchten keine romantische Idylle, keinen weltabgewandten VoltaireGarten, eher eine Art ›Utopie‹, realer als alle realsozialistischen Utopien zusammengebündelt.« (Seyppel 1998: 182)

Seyppel wiederholte diese Einschätzung in einem Radiointerview von 2003 und erklärte, ihm und seinen Autorenfreunden auf dem Lande habe viel daran gelegen, »die herrschende Einheitspartei links zu überholen« (Lindemann 2003). Wie ernst Joachim Seyppel diese Aussage tatsächlich gemeint hat, muss ungeklärt bleiben. Sie scheint reichlich übertrieben, handelte es sich bei der Künstlerkolonie doch nicht um eine von der DDR-Realität losgelöste Enklave. Es stimmt allerdings, dass der Großteil der Autoren grundsätzlich sozialistisch, der Staatsführung gegenüber aber kritisch eingestellt war und sich wesentliche Verbesserungen im Land wünschte. Außerdem gab die räumliche Distanz zu den gesellschafts- und kulturpolitischen Machtstrukturen der Partei und des Schriftstellerverbandes in Berlin den Autoren zumindest einen gefühlten Freiraum, der sie durchatmen ließ und ihnen Raum für kritische Überlegungen bot. So berichtet

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Daniela Dahn, dass der Umzug aufs Land für sie und ihren Mann kein Rückzug in die totale Einsamkeit bedeutete, sondern eher ein Hinziehen in ein Umfeld, in dem man sich gegenseitig bestärkte (vgl. ebd.). Viele der Autoren genossen die Gemeinschaft unter politisch gleichgesinnten Intellektuellen. Dass die Hoffnungen, die die Autoren an ihre mecklenburgischen Bauernhäuser knüpften, direkt mit den politischen Entwicklungen im Land zusammenhingen, zeigt das Beispiel des Ehepaars Wolf. Das Paar suchte zunächst nur eine Sommerfrische für sich, ihre Freunde und Familie. Christa Wolf berichtet in den ersten Neu Metelner Sommern häufig in Briefen an Freunde vom neuen Landleben. In vergnügtem Ton schreibt sie im August 1975 an Anna Seghers: »Wir leben also auf dem Lande, es ist ulkig und ganz schön. Andauernd, auch nachts, hört man, wie im Vorgarten die Äpfel von den Bäumen fallen. Dann wieder rücken auf einen Hieb 18 Mähdrescher an und mähen an einem Tag die Riesengetreidefelder um unser kleines Dorf ab. Ganz in der Nähe ist eine Mühle, da wohnt ein jüngerer Mann, der ist Maurer und läßt sich in jedem Jahr drei Sommermonate beurlauben, um zu malen. Überall in der Umgebung haben sich schon ›Künstler‹ niedergelassen, es gibt ein reges geselliges Leben […]. Es ist wahr, man lebt ein bißchen außerhalb der Welt. Andererseits lernt man schnell neue Menschen kennen; wie sie leben, was sie denken. Auf dem Lande, scheint mir, sind die Leute zufriedener als in der Stadt.« (Wolf/Seghers 2003: 38f.)

Durch ihren zeitweiligen Rückzug aufs Land gerieten neue Dinge ins Blickfeld der Wolfs: die Natur vor der eigenen Haustür, die Nähe zur Landwirtschaft, die Dorfbevölkerung, die zufriedener und nahbarer schien als die Stadtmenschen, ein ungezwungenes Beisammensein in künstlerischer Gemeinschaft – eine gänzlich andere Lebensweise schien hier möglich. Den Vergleich zwischen den zwei Lebensweisen in der Berliner Stadtwohnung und dem Sommerdomizil in Mecklenburg lässt Christa Wolf auch ihre Protagonistin Ellen in SOMMERSTÜCK ziehen. Als diese eines Morgens aus einem Alptraum, in dem sie, in die Enge getrieben, von Schaufelrädern zerquetscht zu werden drohte, erwacht, sagt diese zu ihrem Mann: »Ich glaube, wir müßten anders leben. Ganz anders.« (Wolf 2001 [1989]: 28) Mit den Ereignissen ab Mitte der 1970er Jahre wurde das Bauernhaus zur Arche. Enttäuscht und ohnmächtig zog sich das Ehepaar nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 und der darauf folgenden Verschärfung der Kulturpolitik zurück. Äußerlich sichtbar wurde dies an ihrer Flucht ins Bauernhaus. Während viele Künstler und Intellektuelle das Land verließen, verbrachten sie große Teile des Jahres auf dem Land. In Neu Meteln fanden sie die Ruhe, die Sinnhaftigkeit ihres kulturpolitischen Engagements zu überdenken und eine neue Einstellung zu den Dingen zu entwickeln. Ihre Gedanken hierzu führt Christa Wolf in ihrem Eintrag vom 27. September 1981 in EIN TAG IM JAHR aus. Hier überlegt sie:

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»[…] ob ich mit Recht sage: Wenn wir dies nicht gehabt hätten, hätten wir es in der DDR nicht ausgehalten (aber auch dann: Was wäre die Alternative gewesen!). Alles das, was man ›Landleben‹ nennt: Die Jahreszeiten neu kennenlernen. Die Veränderung der Landschaft, ihrer Farbschattierungen, an denen ich mich nicht satt sehen kann; einzelne genau beobachtete Pflanzen im Wechsel der Jahreszeiten (meine beiden Eichen, die ich ganz persönlich nehme, oder den Apfelbaum vor dem Fenster, an dem ich mit meiner Maschine sitze). Die Wetter und Unwetter, die einen direkt betreffen, die Winde, die man auf der Haut spürt, die verschiedenen Arten von Luft. Materialien, zu denen man allmählich eine Beziehung bekommt: Rohr, Stein, Holz, Sand, Erde. Die mit nichts zu vergleichende Freude, wenn ein Baum, ein Strauch wächst, die man selber gepflanzt hat. Das Interesse daran, daß Landschaft erhalten bleibt, nicht zerstört wird. Die Nähe zu der Erzeugung der Nahrungsmittel. Ob die schwere Technik nicht mit der Zeit den Boden kaputtmacht, ob nicht vieles durch Nachlässigkeit vergeudet und vernichtet wird. Alles in allem habe ich hier ganz anders als in Berlin jenes Gefühl von Lebensfülle. Merkwürdigerweise gehört das alte Haus dazu, ohne daß ich mich als sein ›Eigentümer‹ fühlen würde, und vor allem gehört dieses Netz von Menschen dazu, das sich von Jahr zu Jahr enger knüpft und in das wir einbezogen werden, mehr als wir es ursprünglich wollten. Menschen aus Schichten, an die wir in Berlin niemals so eng herankommen würden. Also ist, was ursprünglich als Rückzugs-Asyl angesehen wurde, wo man vor den destruktiven Anforderungen DER STADT geborgen, auch versteckt sein würde und zur Ruhe käme, nun doch zu einer Bewegung auf eine andere Lebensweise hin geworden, etwas Neues, das, vor allem mir, meine Sinne und Sinnlichkeit wieder erschließt. Eine erstaunliche Erfahrung.« (Wolf 2003: 297f., Hervorhebung im Original)

Das Landleben entwickelte sich für die Wolfs von der ulkigen Sommer-Idylle hin zur einzigen Möglichkeit, in der DDR nach 1976 ein annähernd selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die Abwendung vom nun als unsinnige Pflicht empfundenen partei- und kulturpolitischen Engagement in der Hauptstadt und die Hinwendung zum Privaten und Alltäglichen im Bauernhaus wird von Christa Wolf als heilsam beschrieben. Dies ist zugleich verbunden mit einem neu gewonnenen Blick auf bisher vermeintlich Unbeachtetes; dabei zeigen die Naturschilderungen sowie die daraus erwachsende Sorge um den Erhalt von Landschaft und die Erzeugung von Nahrung zugleich auch ein ökologisches Bewusstsein an, das zumindest implizit der herrschenden sozialistischen Doktrin, die auch ganz real eine Maschinisierung und Technisierung des Landwirtschaftlichen verfolgte, entgegen steht. Umso schlimmer war es, als das geliebte Büdnerhaus, das Christa Wolf in einem Brief an Charlotte Wolff rückblickend als ihre »eigentliche Heimat« (Wolf/Wolff 2004: 14) beschreibt, im Juli 1983 bis auf die Grundmauern niederbrannte. Das Feuer griff auch auf das Haus von Schubert/Helms über, die schräg gegenüber wohnten. Während letztere ihr Haus noch im selben Jahr wieder aufbau-

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ten, saß der Schock bei den Wolfs tief. Der Brand bedeutete für sie das Ende einer Ära. So schreibt Christa Wolf resigniert am 11. Juni 1985 Gerti Tetzner: »So wird es nicht wieder. Auch mit Sarah [Kirsch; J.S.], die wir im Mai sahen, redeten wir über die ersten Sommer da – jede von uns bewahrt das wie eine Erinnerungsinsel, die Leuchtkraft läßt nicht nach.« (Wolf 2016: 488, Hervorhebung im Original). Das Ehepaar suchte sich eine neue Familienburg im gut sechzig Kilometer entfernten Woserin.

I M V ISIER

DER

S TAATSSICHERHEIT

Das Ministerium für Staatssicherheit vermutete, dass sich in der ländlichen Peripherie eine oppositionelle Intellektuellengruppe formierte. Im November 1975 leitete sie den Operativen Vorgang »Siedlung« ein und nutzte verschiedene Strategien, um die Autorenansammlung zu überwachen und auf ihre Auflösung hin zu wirken (vgl. BStU, BV Schwerin AOP 1162/82). So wurde beispielsweise versucht, einen Inoffizielle Mitarbeiter, getarnt als ratsuchender Nachwuchsautor, in der Gruppe zu platzieren. Er mietete sich in einer Wohnung in der Nähe ein und wandte sich an Joachim Seyppel, Werner Lindemann, Thomas Nicolaou und Gerhard Wolf mit der Bitte, seine Texte zu lesen und zu beurteilen, um so Stück für Stück ihr Vertrauen zu gewinnen. Dies scheiterte am Misstrauen der Autoren. Sie durchschauten schnell, dass der junge Autor, der in den Akten als IM »Alfred« geführt wurde, unlautere Absichten hatte (vgl. ebd.: 127ff.). Zudem wurden Inoffizielle Mitarbeiter innerhalb der Gruppe aktiviert. Einige der Autoren waren bereits Jahre zuvor, also unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Künstlerkolonie, von der Staatssicherheit angeworben worden und waren mehr oder minder aktiv. Sie haben auch über die Ereignisse in der Künstlerkolonie Bericht erstattet. Besonders detailliert tat dies Thomas Nicolaou alias IM »Anton«. Er berichtete speziell über seine Gespräche mit Christa und Gerhard Wolf, mit denen er zu jener Zeit eng befreundet war. Seine Spitzeltätigkeit wurde 1990 vom Journalisten Jürgen Serke öffentlich gemacht (vgl. Serke 1990: 6). Die Staatssicherheit hat die Künstlerkolonie, wie jede informelle Gruppierung von Intellektuellen, als potenziell gefährlich eingeschätzt. Man versuchte mit allen Mitteln, diese Gruppen »am Wirksamwerden zu hindern, zu entlarven und solche Gruppierungen zu zersetzen und zu zerschlagen« (BStU, MfS BdL /Dok. 5698: 135), weil sie als Keimzellen des Widerstandes angesehen wurden. Bei der Künstlerkolonie Drispeth kam hinzu, dass sie auf dem Land weit weg war von Parteistrukturen und Kontrollinstanzen wie etwa dem Schriftstellerverband. Außerdem hatten sich dort Autoren zusammengefunden, die wegen ihres negativen Standpunktes zur Kunst- und Kulturpolitik der DDR schon vorher unter

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operativer Kontrolle gestanden hatten, wie die Wolfs und Joachim Seyppel, oder als politisch labil galten, wie Claus B. Schröder (vgl. BStU, BV Schwerin AOP 1162/82: 8). Dem Staat gefährlich war die Gruppe indes nicht. Es scheint, dass es bei der Künstlerkolonie weniger um eine subversive Untergrundtätigkeit ging, als darum, im Privaten Lebens- und Schaffensräume auszuloten, die in der DDR nicht mehr ohne Weiteres zu finden waren. Viele der Autoren, wenn auch nicht alle, haben sich von ihren kulturpolitischen Aufgaben gelöst und offizielle Veranstaltungen, wie die Treffen des Schriftstellerverbands, gemieden. Lieber widmeten sie sich auf dem Land einfachen, alltäglichen Angelegenheiten, wie dem Umbau ihrer Häuser, Gartenarbeiten, geselligen Zusammenkünften. In gewisser Weise kann man diese Verweigerung und Umorientierung schon als eine Art politischen Akt auffassen, da in der DDR Autoren dezidiert dazu angehalten waren, sich in den Dienst der Partei bzw. des gesellschaftlichen Aufbaus zu stellen.

E INE

GESCHEITERTE

H OFFNUNG ?

Heute weiß man also, dass die Autoren auch in der ländlichen Abgeschiedenheit vor der DDR-Realität nicht gefeit waren. Die Staatssicherheit wusste zu jeder Zeit ihre Spitzel unter den Autoren. Auch das Ende der Künstlerkolonie, das sich mit ersten Meinungsverschiedenheiten und persönlichen Zwists in den 1980er Jahren bereits ankündigte und spätestens mit den politischen Ereignissen 1989 eingeläutet wurde, stellt die von den Autoren gewünschte Gemeinschaft unter Gleichgesinnten in Frage. Dass sich die Künstlerkolonie auflöste, lag vor allem an den unterschiedlichen Auffassungen die Wende betreffend. Plötzlich zeigte sich, dass man sich in seiner Einstellung zum Sozialismus gar nicht so einig war. Während sich etwa Wolf Spillner, Werner Lindemann, die Wolfs und Daniela Dahn einen Neuanfang unter sozialistischen Vorzeichen, eine andere, bessere DDR wünschten, begrüßten Helga Schubert, Claus B. Schröder und Joachim Seyppel die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorbehaltlos. Die Autoren zerstritten sich darüber und redeten teilweise Jahre nicht miteinander. Auch die Aufdeckung diverser Spitzeltätigkeiten trug ihren Teil zum Zerbrechen der Freundschaften bei. Viele zogen weg, die Nicolaous gingen 1992 nach Griechenland, Werner Lindemann verstarb bereits 1993. Sollte man die Hoffnungen, die die Autoren mit dem Landleben verbanden, nun als gescheitert erklären? Nicht unbedingt. Es stimmt, im Nachhinein stellten die Autoren fest, dass ihre Vorstellungen vom ungezwungenen Leben unter Gleichgesinnten Illusionen waren. Doch liegt die Vermutung nahe, dass es für viele der Autoren wohltuende, sie stärkende Illusionen waren. In der kulturpolitisch ange-

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spannten Lage nach der Biermann-Ausbürgerung fanden die Autoren hier eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und ihre Prioritäten zu überdenken. Viele von ihnen gelangten auf dem Land zur Einsicht, dass ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten in der DDR beschränkt und ihre Hoffnungen auf einen demokratischen Arbeiter- und Bauernstaat enttäuscht waren, und wandten sich dem Privaten und Alltäglichen zu. In dieser gänzlich anderen Lebensweise, die geprägt war von Gemeinschaft, einfachen Haushalts- und Gartentätigkeiten und der Nähe zur Natur, fanden viele Halt in dieser schwierigen Zeit. Das ›gute Leben auf dem Land‹ bedeutete für sie, ein ›anderes‹ Leben zu etablieren als das, was sie bis dahin in der Stadt geführt hatten. Die Künstlerkolonie Drispeth ist ein Beispiel dafür, welche Wege kritischloyale Autoren in der DDR beschritten haben, um einen Grund fürs Bleiben zu finden. Ellen, die Protagonistin aus Christa Wolfs SOMMERSTÜCK, formuliert diese Hoffnung wie folgt: »Gab es das also doch, wonach wir instinktiv gesucht hatten, als die falschen Wahlmöglichkeiten uns in die Zwickmühle trieben: eine dritte Sache? Zwischen Schwarz und Weiß. Recht und Unrecht. Freund und Feind – einfach leben?« (Wolf 2001 [1989]: 77)

Mit Blick auf die Intellektuellengemeinschaft in der Künstlerkolonie Drispeth könnte man sagen: für eine gewisse Zeit, ja.

L ITERATUR »OV Siedlung«, in: BStU, BV Schwerin AOP 1162/82. »Referat des Genossen Minister auf der Dienstkonferenz vom 13.7.1972, in: BStU, MfS BdL /Dok. 5698. Dahn, Daniela (2012): »Gegen die Vergeblichkeit anreden oder: Es sollte nicht sein, es war zu schön«, in: Argonautenschiff 21, S. 280-282. Kirsch, Sarah (1988): Allerlei-Rauh. Eine Chronik, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt. Lindemann, Gitta (2003): »›Wir sind keine Inselmenschen.‹ Die Drispether Künstlerkolonie«, gesendet am 4./12.10.2003 im NDR RadioMV (Kunstkaten). Martin, Marko (2009): »Bei Matti und Lucinde auf dem Lande«, in: Die Welt vom 11.07.2009, S. 30. Schattinger, Bernd (2016): »Ein Rebell mit stillen Bildern. Der Schriftsteller und Naturfotograf Wolf Spillner wird heute 80«, in: Schweriner Volkszeitung vom 30.5.2016, S. 14. Serke, Jürgen (1990): »Der Schrei des Henkers und der Schrei des Opfers«, in: Die Welt vom 24.04.1990, S. 6.

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Seyppel, Joachim (1982): Ich bin ein kaputter Typ. Bericht über Autoren in der DDR, Wiesbaden/München: Limes. Seyppel, Joachim (1998): Schlesischer Bahnhof. Erinnerungen, München: Herbig. Spillner, Wolfs (1969): Der Wald der großen Vögel, Berlin: Deutscher Landwirtschaftsverlag. Spillner, Wolf (1971): Land unter dem Wind. Lebensbilder vom Dambecker See, Berlin: Deutscher Landwirtschaftsverlag. Wolf, Christa (2003): Ein Tag im Jahr. 1960-2000, München: Luchterhand. Wolf, Christa (2016): Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten, Briefe 19522011, hg. v. Sabine Wolf, Berlin: Suhrkamp. Wolf, Christa/Seghers, Anna (2003): Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays, hg. v. Angela Drescher, Berlin: Aufbau. Wolf, Christa/Wolff, Charlotte (2004): Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe, München: Luchterhand. Wolf, Christa (2001): Sommerstück [1989], in: Dies., Werke 10. Sommerstück, Was bleibt, hg. v. Sonja Hilzinger, München: Luchterhand, S. 7-219.

Júzcar Auswirkung medialer Impulse auf ein Dorf und seine Entwicklung G REGOR A RNOLD , J ULIA VAN L ESSEN

E INLEITUNG Unsere Lebenswelt erfährt durch die stetig fortschreitende, umfassende Mediatisierung und Technisierung tiefgreifende Veränderungen. Dabei wird die Unterscheidung verschiedener Wirklichkeiten für Individuen deutlich komplexer oder ist kaum noch möglich: »The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it«, schreibt Weiser (1991: 94) in seinem wegweisenden Aufsatz THE COMPUTER FOR THE 21ST CENTURY. Es stellt sich daran anknüpfend die Frage, wie mit dieser veränderten Lebenswelt umgegangen werden kann und welche Möglichkeiten es gibt, medial auf alltägliche Prozesse einzuwirken. Anhand der Entwicklung des spanischen Dorfes Júzcar lassen sich die Chancen medialer Einflüsse sehr eindrücklich zeigen. Der im andalusischen Hinterland gelegene Ort war jahrzehntelang ein eher unspektakulärer Etappenabschnitt auf der Straße der weißen Dörfer (Ruta de los Pueblos Blancos). Den entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des Ortes brachte die Auswahl zum »Schlumpfdorf« durch den Konzern Sony. Júzcar durchläuft seit der Nominierung 2011 einen medial induzierten Transformationsprozess. Um einen Werbespot für den Film DIE SCHLÜMPFE IN 3D (2011) zu drehen, ließ der Sony-Konzern sämtliche Häuser des Dorfes blau streichen. Nach dem Dreh sollten die Gebäude wieder – wie in dieser andalusischen Region üblich – weiß gestrichen werden (Pueblos Blancos). Allerdings beschlossen die Dorfbewohner in einer Abstimmung, dass das Dorf blau bleiben sollte und vermarkten ihr blaues Dorf seitdem touristisch. Die Menschen haben sich an der fiktionalen Erzählung über die Schlümpfe orientiert und dadurch für sich neues Selbstbewusstsein und für ihr Dorf neue Perspektiven entwickelt. Es

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wird deutlich, dass sich Fiktion und Alltagsleben an diesem Ort durchdringen und miteinander verbunden haben. Dies erzeugte allerdings auch Konflikte: Durch die unstrukturierte und informelle Vorgehensweise der Dorfbewohner bei der Vermarktung des Dorfes kam es zu Urheberrechtsverletzungen, die einer juristischen Klärung bedurften. Die Urheberrechte an den Schlümpfen liegen bei einem belgischen Unternehmen. Nach der Beilegung des Streites durfte Júzcar nicht mehr als Schlumpfdorf bezeichnet werden, und die Schlumpfzeichnungen, die die Häuser schmückten, sollten entfernt werden. Nur durch den Einsatz einiger Schlüsselpersonen konnte das Dorf neue Perspektiven für den Erhalt und die Erweiterung des Tourismus entwickeln, welche seit Frühjahr 2017 umgesetzt werden. Im Folgenden wird gezeigt, dass mediale Einflussnahme ein maßgeblicher Impuls für die Entwicklung des Dorfes Júzcar in den vergangenen acht Jahren ist. Dazu sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Welche konkreten Formen und Gestalten sind aus der medialen Einflussnahme hervorgegangen? Wie wirken sich die medialen Imaginationen auf die Gestaltung und Planung in dem Dorf aus?

M EDIEN

UND

O RT

Medien und die räumliche Struktur von Orten stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Couldry und McCarthy (2004) prägten diesbezüglich den Begriff »MediaSpace«; sie verstehen darunter eine gegenseitige Beeinflussung und Bedingtheit: »MediaSpace is a dialectical concept, encompassing both the kinds of space created by media, and the effects that existing spatial arrangements have on media forms as they materialize in everyday life« (ebd.: 1f.). Es steht außer Frage, dass Medien ein entscheidender Faktor bei der Gestaltung des Alltagslebens und damit bei der Herstellung von Räumen sind. Das hält Mediengeographen dazu an, zum einen die Geographie der Medien(-produzenten) und zum anderen die Dekonstruktion medieninterner imaginierter Geographien zu untersuchen, die sich in den vielseitigen Landschafts- und Stadtbildern aufzeigen lassen (Döring/Thielmann 2009: 46ff.). Diese Forschungen beziehen sich meist auf die Ebene der Medien und deren geographischen Gehalt, der sich in der medialen Konstruktion von Orten und Räumen sowie deren ständigen Transformationen innerhalb wie außerhalb der Medien widerspiegelt (Escher 2006; Escher/Zimmermann 2004; Lukinbeal/Zimmermann 2006; Lukinbeal/Sharp 2014). Es kann also Zimmermann (2009: 295) zugestimmt werden: »Visuelle Repräsentationen steuern zweifelsfrei die Wahrnehmung von Fakt und Fiktion und erschweren eindeutige Unterscheidungen, lösen diese bisweilen auf und lassen Differenzen verschwimmen. […] Medien erschaffen auf diese Weise auch Räume der Vorstellung, die Schritt für Schritt alltagsweltliche Bedeutung erlangen« – und Alltagswelten transformieren.

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Ein weiteres Forschungsfeld, das die angesprochenen Dynamiken von Medien bzw. vor allem von Spielfilm, Ort und Gesellschaft in anschaulicher Weise thematisiert, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Filmtouristen, mit dem touristischen Potenzial von Drehorten oder anderen Orten des Filmtourismus (Beeton 2005; Steinecke 2016). Hierbei besprechen empirische Untersuchungen die Motivation von Filmfans, Drehorte zu besuchen, die Bedeutungen und Effekte ihrer Verhaltensweisen sowie diese Tourismusform im Allgemeinen. Auch werden die besonderen touristischen Angebote, die von bestimmten Filmen ausgehen, betrachtet (Escher/Riempp/Wüst 2008; Escher/Sommerlad/Karner 2017; Zimmermann/ Reeves 2009). Weiter fragen Filmtourismusstudien, inwiefern Interessengruppen und Destinationsmanagements Drehorte vermarkten (Beeton 2006, 2010). Die genannten Untersuchungen untermauern, dass aufgrund der Vielzahl fiktionaler und virtueller Einflüsse eine Unterscheidung verschiedener Wirklichkeiten stetig komplexer wird und sich fiktionale Erzählungen in lebensweltliche Orte einschreiben, sodass diese sich für Individuen kaum noch differenzieren lassen und ineinander verschmelzen. Pointiert und auf die vorliegende Thematik zugeschnitten drücken diese Entwicklungen Escher und Zimmermann (2001: 228) wie folgt aus: »Spielfilme [haben] einen nicht unerheblichen Teil unserer Umwelt- und Wirklichkeitsprägung übernommen«. Demnach wird der Filmfan an einem besuchten Ort die filmische Welt (vor)finden, die er dort sucht. Es bleibt jedoch offen, was die Bewohner dieser Orte in ihrem Alltag sehen. Wird für sie der Ort, an dem sie leben, zu einem filmischen Ort? So kritisieren auch Kaun und Fast (2014: 6) in ihrem interdisziplinären Research Report MEDIATIZATION OF CULTURE AND EVERYDAY LIFE , dass die Wechselwirkungen von Medien, Kultur und Alltagsleben kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfährt. Demnach befassen sich nur wenige Studien mit den Effekten der Mediatisierung auf dieser Ebene (Encheva/Driessens/Verstraeten 2013; Hepp 2013; Hjarvard/Petersen 2013). Rückt man den lebensweltlichen Ort ins Zentrum der Betrachtung, darf »Ort« nicht ausschließlich als Entität verstanden werden, sondern muss als etwas Entstehendes gesehen werden, wie es zum Beispiel Cresswell (2015) beschreibt. Orte sind demnach nicht nur als ein durch Koordinaten bestimmter Platz auf der Erdoberfläche (location) zu verstehen, sondern sie verfügen über bestimmte physische Materialitäten, Funktionen (locale) und Bedeutungen (sense of place). Die Betrachtung dieser drei Ebenen von Ort ermöglichen eine Untersuchung, die nicht nur das Materielle in den Blick nimmt, sondern auch die individuellen Bedeutungen, die der jeweilige Ort für seine Bewohner und andere Akteure hat. In Cresswells Verständnis wird ein Ort erst durch den Sense of Place zum Ort. Es bedarf also einer Wechselwirkung von Location und Menschen, damit ein Sense of Place entstehen kann.

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M ETHODIK Der empirischen Untersuchung des spanischen Dorfs Júzcar liegt eine qualitative Herangehensweise zugrunde. Im Zuge des ersten Feldaufenthaltes in Júzcar im Frühling 2017 lag der methodische Schwerpunkt auf der Exploration und Beobachtung des Forschungsfeldes. Im Dorf wurden erste Kontakte hergestellt und Eindrücke durch Fotografien und Kartenskizzen dokumentiert. Um die Strukturen der Veränderung des Dorfes systematisch empirisch zu erfassen, folgte ein zweiter Forschungsaufenthalt im Juli 2017. Dabei wurde der Ort hinsichtlich der materiellen Veränderung vollständig kartiert, es wurde eine Fotodokumentation angelegt und es wurden qualitative Interviews geführt. Danach folgten zwei kurze Aufenthalte im März und September 2018. Neben einzelnen, problemzentrierten Interviews mit zentralen Akteuren des Dorfes lag der Fokus hierbei auf einer weiterführenden Dokumentation der fortschreitenden Veränderung des Dorfes und auf einer Nachverdichtung der empirischen Daten. Insgesamt wurden 17 qualitative Interviews mit zwölf (Schlüssel-)Personen geführt (vgl. Tabelle 1). Ihre Aussagen geben einen detaillierten Einblick in die verschiedenen Ebenen der Transformation des Dorfes. Tabelle 1: Qualitative Interviews in Júzcar.

Eigene Darstellung

Die Interviews wurden im Hinblick auf die Codes, die sich als grundlegend gezeigt haben, transkribiert und im Sinne des offenen Kodierens (vgl. Strauss/Corbin 1996: 44ff.) gesichtet. Die Auszüge aus den Daten wurden sinngemäß, an den Gesprächs-

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kontexten orientiert, vom Spanischen sowie Englischen ins Deutsche übersetzt. Daher sind in den späteren Ausführungen alle Interviewaussagen paraphrasiert und mit entsprechenden Bezeichnungen der Interviewpartner (IP) und Timecodes angegeben. Sofern keine Timecodes angegeben sind, wurden keine Audiomitschnitte getätigt, sondern Protokolle angefertigt. Im Kontext theoretischer Überlegungen der Translationsforschung ist den Verfassern bewusst, dass eine Übersetzung immer auch eine Interpretation durch den Übersetzer meint (vgl. u.a. Boos 2013: 106).

E NTWICKLUNG J ÚZCAR

UND

T RANSFORMATION DES D ORFES

Touristische Anfänge – Informationstafeln Die Júzcareños blicken auf eine lange Geschichte zurück, aus der sie sich in ihrer Identitätskonstruktion bedienen und die eine feste kollektive Identität vermittelt. Júzcar muss als ein historisch gewachsenes, traditionelles weißes Dorf (Pueblo Blanco) bezeichnet werden. Der Friedhof und die angrenzende Kirche Santa Catalina werden auf das 16. Jahrhundert datiert. Die heutige Kirche wurde überprägt und mehrfach restauriert. Dennoch steht sie bis heute als Beispiel dafür, dass die Geschichte des Dorfes auf die islamische Blütezeit Südspaniens zurückgeht: Júzcar, wie Sáez (2012: 104) schreibt, »is a village dating from Pre-Islamic period, when the Moors arrived by mule or on foot«. Im historischen Kontext ist auch eine Blech- und Dosenfabrik zu erwähnen, die Antigua Real Fábrica de Hoja de Lata de San Miguel de Júzcar (vgl. Sierra de Cózar/Sierra Velasco 2013), welche unter König Philip V. im Jahr 1726 errichtet wurde und unter anderem für die Ausstattung und Rüstung seiner Armee fungierte. Bereits 1777 wurde diese Fabrik aufgegeben, wobei immer noch einige Ruinen vorzufinden sind (ausführlich bei Sáez 2012). Heute haben sich die Anwohner den modernen Lebensumständen und Arbeitswelten angepasst. Es sind in Júzcar 292 Einwohner (Stand Juli 2017) gemeldet, allerdings wohnen nicht alle dauerhaft vor Ort. Viele Menschen sind abgewandert und wohnen nur noch saisonal bzw. an den Wochenenden in Júzcar. Zurzeit leben in den 194 Häusern etwa 120 Personen ständig (IP 1, 05:45). Der große Unterschied zwischen gemeldeten Einwohnern und tatsächlichen Bewohnern begann mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine intensive Auswanderung von Arbeitskräften nach West- und Mitteleuropa (Gastarbeiterwanderung nach Deutschland, Frankreich, Belgien, in die Niederlande und die Schweiz). Diese Auswanderung spiegelt vor allem die Zeiten schlechter Beschäftigung vor Ort wider, die auch Júzcar trafen. Zusätzlich wanderten seit den 1980er-Jahren Menschen im Zuge der

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damaligen Binnenwanderung verstärkt in die boomenden Zentren Barcelona, Madrid, Valencia, Sevilla oder Málaga (Land-Stadt-Wanderung) sowie in die Ortschaften und Städte der touristisch geprägten Mittelmeerküste (Inland-KüstenWanderung) ab (vgl. Breuer 2008: 4ff.). Júzcar wurde in den späten 1990er-Jahren Station des Rundreisetourismus durch Andalusien. Seitdem konnten Touristen auf gekachelten Tafeln die Geschichte des Dorfes nachlesen und sich über die historisch gewachsene kulturelle Identität der Bewohner informieren (vgl. Abb. 1). Abb.1: Informationstafeln.

Eigene Aufnahmen (März 2017)

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Diese Tafeln sind ebenso in anderen weißen Dörfern der Sierra de Grazalema und Serranía de Ronda zu finden, sie stellen demnach kein touristisches Alleinstellungsmerkmal dar. Tourismus war in Form des sogenannten Tourismo Rural in Júzcar präsent. »Tourismo Rural« bezeichnet eine besondere Form des Tourismus in peripheren Regionen, der den Anspruch hat, die häufig von Abwanderung betroffenen Regionen wiederzubeleben. Tourismus nahm in Júzcar zu dieser Zeit jedoch keinen relevanten Teil der Wirtschaft ein und hob sich keineswegs von den umliegenden weißen Dörfern ab. Vor 2011 kamen ca. 300 Touristen jährlich in den Ort (IP 1, 06:12). Die Besucher konzentrierten sich vorwiegend auf den Herbst, auf die Zeit der Kastanien- und Pilzernte, für die diese Region in Spanien bekannt ist. Schlumpfdorf Diese Situation hat sich inzwischen geändert, denn das andalusische Dorf Júzcar durchläuft seit 2011 einen Wandlungsprozess. Zu dieser Zeit suchte Sony, ein multinationaler Konzern, einen Ort, um einen Werbespot für den Kinofilm DIE SCHLÜMPFE IN 3D zu drehen, um die Schlümpfe medienwirksam zu inszenieren und weltweit zu vermarkten. Die Eigenschaften des Dorfes und die Bereitschaft der Anwohner überzeugten Sony: Wo leben die Schlümpfe? In Pilzen! In Júzcar werden jedes Jahr im November die Pilz-Tage gefeiert. Das war die erste Eigenschaft, mit dem man sich dem Profil Sonys annäherte. Auch die Größe, die Lage in den Bergen und die Landschaft mit dem umliegenden Wald passten zum angedachten Schlumpfdorf, berichtet der Tourismusbeauftragte des Dorfes (IP 1, 00:49). Sony nominierte 2011 also Júzcar und strich alle Häuser inklusive Kirche, Gemeindeund Rathaus blau und drehte dort den Werbefilm, um seine Marketingkampagne zu starten. Am 23. Juli 2013 hat Sony Pictures entschieden, in Júzcar ebenfalls den zweiten Kinofilm erstmalig zu präsentieren (IP 1, 12:05). Die dritte Weltpremiere in dem kleinen Dorf folgte im Dezember 2016 (IP 1, 12:15). Auf Sonys Anfrage hin musste jeder Hausbesitzer ein Dokument unterzeichnen, mit dem er das Anstreichen seines Hauses erlaubte. Nur ein Anwohner verweigerte diese Unterschrift, sein Haus ist bis heute weiß (IP 3, 5:46). Inzwischen gibt es außerdem Neubauten, die farblich (noch) nicht angepasst sind. IP 11 erklärt, dass sie sich dem Mehrheitswillen anschloss. Es wird deutlich, dass sie durchaus einen Gemeinschaftsdruck in dieser Frage wahrnahm. Sie mochte nicht diejenige Person sein, die Nein sagte. Allerdings findet sie das Dorf in blau auch schöner, die kräftige Farbe gefällt ihr (IP 11, 05:33). Nach den Dreharbeiten sollten die Gebäude – wie mit Sony vereinbart und für diese Region üblich – wieder weiß gestrichen werden. Die Dorfbewohner beschlossen jedoch in einer Abstimmung, dass die Häuser blau bleiben sollen, weil sie ihr Dorf touristisch vermarkten wollten. Júzcar wurde fortan als »primero pueblo pitufo del mundo« bezeichnet (vgl. Abb. 2).

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Abb. 2: Offizielle touristische Vermarktung Júzcars als Schlumpfdorf.

Eigene Aufnahmen (Juli 2017)

Seitdem verfügt das ursprünglich weiße Dorf als einziges blaues Dorf über ein Alleinstellungsmerkmal in der Region – und über internationale Bekanntheit. Es kommen im Jahr mehr als 80.000 Touristen in den kleinen Ort – fast 300 pro Tag: Seit der Umgestaltung zum Schlumpfdorf bis zum Stichtag 28. Februar 2017 wurden 335.942 Besucher gezählt, allein an einem einzigen Informationspunkt. Deshalb kann man sicher sagen, dass es insgesamt vom 16. Juni 2011 bis heute [17.03.2017] weit mehr als 400.000 Besuche waren, bestätigt der Tourismusbeauftragte (IP 1, 07:42).

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Als durch den Werbespot und die Premiere des Filmes plötzlich das ganze Jahr über große Touristenmengen nach Júzcar strömten, konnte so schnell kein entsprechendes Angebot aufgestellt werden. Es gab weder einen touristischen Plan noch verfügte die örtliche Gastronomie über die Möglichkeit, solche Touristenzahlen zu bewirten. Des Weiteren gab es kaum Parkplätze und keinerlei touristische Infrastruktur, kein Management, und es gab lediglich einen Beherbergungsbetrieb, das Hotel »Bandolero«, das seit 2004 von einem Amerikaner und seiner Frau betrieben wird (IP 1, 48:43). Der Ort verfügte zudem nur über ein Geschäft (»El Casarón«), welches Laden und Taverne war. Dieses betrieb der ehemalige Bürgermeister. Inzwischen betreibt er nur noch den Laden, die Taverne hat ein junger Mann aus Madrid übernommen (IP 4, 49:05; IP 1, 49:05). Mittlerweile hat sich das touristische Angebot deutlich erweitert. Der Tourismusbeauftragte erläutert, dass 2012 entschieden wurde, dass im Dorf, um dem Boom an filminteressierten Touristen gerecht zu werden, unbedingt ein Destinationsmanagement etabliert werden muss (IP 1, 04:26). Daraufhin wurden Schilder für Parkplätze angebracht, Leerstände wurden wieder nutzbar gemacht und neue (touristische) Geschäfte, Gastronomie und Beherbergungsbetriebe wurden eröffnet. Es existieren nun vier Gastronomie-, fünf Einzelhandels- und elf Beherbergungsbetriebe. Júzcar hat somit eine deutliche Aufwertung durch Wiedernutzbarmachung von Leerstand erfahren sowie eine enorme Steigerung des touristischen Angebots erreicht. Im Zuge der Transformation des Ortes lassen sich drei Ausformungen explizit voneinander unterscheiden. Zunächst fällt der blaue Anstrich der Häuser ins Auge. Dieser wurde von Sony initiiert, finanziert und in Auftrag gegeben. Die Mitarbeiterin des Bürgermeisters (IP 2, 15:42) erläutert, dass es für die Dorfbewohner besonders attraktiv war, ihre Häuser umstreichen zu lassen, da alle Kosten (Fassadenarbeiten, Farbe, Arbeitsstunden etc.) von Sony übernommen wurden – und zwar für den ersten Anstrich im September 2011 sowie für einen zweiten Anstrich. Eine zweite Form der materiellen Umgestaltung wurde von den kommunalen Politikern, Angestellten und der Regierung der Provinz Málaga eingeleitet. Zentrale Figuren sind der ehemalige Bürgermeister (IP 3) sowie der Tourismusbeauftragte des Dorfes (IP 1). Mit steigender touristischer Bekanntheit musste – wie bereits erläutert – eine touristische Infrastruktur geschaffen werden. Dazu zählen eine neue touristische Karte des Ortes, Hinweisschilder, öffentliche Toiletten und überdimensionale Schlumpffiguren an drei zentralen öffentlichen Plätzen, die gerne als Fotomotiv verwendet werden (vgl. Abb. 2). Neben diesen offiziellen Eingriffen in die Gestaltung des Dorfes haben die Bewohner selbst informelle Veränderungen am Ortsbild vorgenommen. Besonders auffällig sind private Fassadenbemalungen einiger Wohnhäuser mit Pilz- oder Schlumpfmotiven.

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Abb. 3: Informelle Vermarktungsideen der Dorfbewohner in Júzcar.

Eigene Aufnahmen (Juli 2017)

Außerdem hängen häufig kleine Schlumpffiguren an Balkonen, Blumentöpfe vor den Häusern sind mit Schlümpfen oder Pilzen verziert, an Autos befinden sich Schlumpfaufkleber etc. (vgl. Abb. 3). Das alles spiegelt die große Begeisterung und auch eine gewisse Identifikation mit Júzcar als Schlumpfdorf. Gerade die informellen Veränderungen des Dorfes sind ein wichtiger Schritt für seine Entwicklung,

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denn dadurch wird deutlich, dass die Bewohner die Initiative ergriffen haben und die Idee des Schlumpfdorfes, die von Sony initiiert wurde, zu ihrer eigenen Idee gemacht haben. Sie entwickeln eigene Vermarktungsideen und setzen damit wirtschaftliches Potenzial frei. Die Menschen in Júzcar passten ihre kreativen Geschäftsideen an die Figuren, Bilder, Symbole und eigenen Vorstellungen der Schlümpfe an, führt IP 2 (16:48) weiter aus. Sie haben es selbst in die Hand genommen und haben Aktivitäten und Angebote entwickelt. Vor allem an den Wochenenden, wenn Touristen und Familien mit Kindern den Ort besuchen, gab es diverse Angebote (IP 1, 12:52): Gesichter werden blau geschminkt, Schlumpfmaniküre wird angeboten, der Blaue Markt (Mercado Azul) mit Fliegenpilz-Tapas aus Tomaten und Käse findet statt, es gibt eine Schlumpfhüpfburg sowie die Möglichkeit, selbstgenähte Schlumpfmützen zu personalisieren (vgl. Abb. 3). Überall werden Merchandise-Produkte und Souvenirs verkauft, und sogar Schlumpfhochzeiten haben bereits stattgefunden. Allerdings treten gerade durch informell genutzte Symbole und Zeichen Schwierigkeiten in Bezug auf das Copyright auf (IP 2, 18:04). Nach der rechtlichen Klärung mussten große Teile der Fassadenbemalungen überstrichen werden. Es dürfen keine Symbole angebracht werden, die urheberrechtlich geschützt sind. Das Copyright für die Geschichte und Schlumpffiguren von 1958 liegt bis heute bei einem belgischen Familienunternehmen. Problematisch ist dabei, dass den Dorfbewohnern und auch den Kommunalpolitikern das touristische, wirtschaftliche und juristische Know-how und Managementwissen fehlte, um die Vermarktung des Dorfes professionell zu gestalten. Dies erläutert die Mitarbeiterin des Bürgermeisters, eine zugezogene englische Juristin, die eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Dorfes der letzten Jahre spielt, ausführlich (IP 2, 16:08). Sie geht davon aus, dass ein Dorf wie Júzcar ohne klare Anweisungen und ohne Tourismustraining keine multinationale Marke sein kann, um weltweit das gewünschte Image zu repräsentieren. Der Effekt der materiellen Veränderungen, der sehr schnell spürbar war, ist die Steigerung der Bekanntheit. IP 5 (06:20) erklärt, dass heutzutage jeder Spanier die Schlümpfe mit dem Namen Júzcar verbindet und das Dorf viel Aufmerksamkeit erlangt hat, wohingegen er vor 2011 erklären musste, wo der Ort überhaupt liegt. Die Bekanntheit zeigt sich auch in den Erwähnungen des Dorfes in Reiseblogs, Zeitungs- und Zeitschriftbeiträgen, Tourismusmagazinen, wie IP 5 hinzufügt (Hahn 2016; siehe auch die Berichte bei ZEIT ONLINE; SPIEGEL ONLINE; MERIAN; BILD; BUNTE sowie in einer Vielzahl spanischer Zeitungen). Die Berichterstattung durch nationale wie international bekannte Print- und Onlinemedien nimmt als Rückkopplungseffekt wiederum Einfluss auf die touristische und wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes (dazu genauer Arnold/van Lessen 2018).

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Die notwendige Auseinandersetzung mit dem Copyright erfolgte erst deutlich später. Júzcar stand in Kontakt mit den belgischen Urhebern und verhandelte seit Ende 2016 über die zukünftige Ausrichtung des Dorfes. Gestritten wurde über die Namensgebung »Erstes Schlumpfdorf der Welt«, über die allgemeine rechtliche Lage sowie über die vielen Wandmalereien und Schlumpffiguren, die in Júzcar informell angebracht sind. Aus Perspektive der Dorfbewohner erläutert IP 9 (03:07), dass die Anwohner kaum Informationen über die Vereinbarungen der Kommunalpolitiker mit Sony oder den Urhebern erhalten haben und darüber hinaus viele Anwohner die rechtliche Lage nur wenig interessiert. Aufgrund fehlender Informationen hatten sie auch keine Möglichkeiten, sich an die vertraglichen Regelungen zu halten. In dem Rechtsstreit und den unterschiedlichen Herangehensweisen wird die Diskrepanz der verschiedenen Ebenen sichtbar. Für die Anwohner ist die lebensweltliche Distanz zu den gewählten Vertretern wie dem Bürgermeister bereits zu groß; die Eingriffe des globalen Medienunternehmens oder des Urheberrechteinhabers aus Belgien liegen deutlich außerhalb ihrer Gedankenwelt. Die beschriebene Dynamik im Dorf Júzcar begann durch das Eingreifen des Medienkonzerns Sony, der Weltkonzern hat einen Anstoß zum Umdenken gegeben und dadurch neue Aktivitäten induziert, obwohl er sich frühzeitig aus dem Transformationsprozess zurückgezogen hat. Zurückgeblieben sind urheberrechtliche Streitigkeiten, die in den letzten Jahren zwischen den beteiligten Akteuren geklärt werden konnten und woraus sich als Resultat eine Neukonstruktion des Images von Júzcar ableitet: das Aldea Azul, das Blaue Dorf. Die mit diesem neuen Image zusammenhängenden Entwicklungen bauen jedoch in weiten Teilen auf der dargelegten Schlumpfgeschichte des Dorfes auf. Aldea Azul, das blaue Dorf Seit der Klärung der Urheberrechtsproblematik wurde eine neue und weiträumigere Inwertsetzung des touristischen Potenzials umgesetzt. Der Bezug zu den Schlümpfen rückt dabei in den Hintergrund. Darüber hinaus stellte die Provinz Málaga für die geplanten Projekte und für den angestrebten Imagewandel 300.000 Euro bereit, im Rahmen des »Plan de Dinamización Turística del Municipio de Júzcar 20162020« (Diputación de Málaga 2016). Am 12. September 2016 haben die Kommunalpolitiker Júzcars und die Regierung der Provinz Málaga ein Projekt entwickelt, einen Tourismusplan, dessen erstes Ziel es ist, die Marke Júzcar auszubauen (IP 3, 37:04; IP 17, 21:09; IP 1, 1:03:42). Erste Schritte sind bereits unternommen. Hierbei liegt ein Schwerpunkt auf der Verbesserung und dem Ausbau der touristischen Infrastruktur. Parkplätze, Spielplätze für Kinder, verbreiterte Gehwege und neue Beschilderungen zur Ausweisung touristischer Highlights sind realisiert worden. Des Weiteren sind in den Plänen drei besondere Potenziale aufgeführt. Zunächst

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sollen die Region und der umliegende Naturraum vermarktet werden. Einhergehend soll das Naturerlebnis mit sportlichen Aktivitäten in Form von Canyoning und neuen Wanderrouten verknüpft werden. In den wirtschaftlichen Plänen der kommunalen Akteure werden demgemäß erstens die traditionellen Qualitäten des Ortes und der Region herausgestellt. Sie nehmen Bezug auf lokale und regionale Merkmale, wie z.B. die Kastanienernte oder das Pilzsammeln, welche für die Region typisch und von großer Bedeutung sind. Zweitens wurden an zentralen Stellen im Dorf Boulderwände, ein Hochseilgarten und als besondere Attraktion eine Seilrutsche (Zipline) installiert, die es den Touristen ermöglicht, über das blaue Dorf hinweg zu fliegen (vgl. Abb. 4). Hierbei handelt es sich um eine in zwei Abschnitte aufgeteilte, insgesamt ca. 310 Meter lange Attraktion, welche am 18. Mai 2018 eröffnet wurde. Aufgrund dieser fast dreißig Sekunden andauernden Adrenalinfahrt kommen nun wieder neue Touristen ins Dorf, sie suchen das einmalige Erlebnis. Auch die anderen Sport- und Erlebnisangebote werden umfassend genutzt, erklärt der Tourismusbeauftragte des Dorfes (IP 1) überzeugt. Abb. 4: Sport- und Erlebnistourismus in Júzcar.

Eigene Aufnahmen (September 2018)

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Neben diesen neuen Sport- und Erlebniselementen wurde drittens ein interaktiver Dorfrundgang angelegt, welcher die materiellen Infrastrukturen des Dorfes mit virtuellen Aspekten im Internet verknüpft. Zentral bei diesem Rundgang ist die Animation der Touristen. Diese können über QR-Codes, die neben künstlerischen Graffitis an den Fassaden der Häuser angebracht sind, das Dorf im Internet kennen lernen (vgl. Abb. 5). Die Touristen werden über ihre mobilen Endgeräte (Smartphones, Tablets) auf eine neu entwickelte Homepage geleitet, auf welcher sie vor Ort Quizfragen zur Geschichte des Dorfes beantworten können. Hierbei spielen die Schlümpfe keine Rolle mehr, einzig der Bezug zu Technisierung und Mediatisierung bleibt bzw. wird sogar intensiviert. Genau diese Entwicklung macht das Dorf einmalig, so der ehemalige Bürgermeister des Ortes (IP 3). Abb. 5: Virtualität und Mediatisierung in Júzcar.

Eigene Aufnahmen (September 2018)

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Júzcar erhält durch die erläuterten neuen Potenziale und Qualitäten eine mehrfache touristische Weiterentwicklung und auch durch den Ausbau der Mediatisierung stärkt das Blaue Dorf sein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den umliegenden weißen Dörfern: Nicht nur, weil die blaue Farbe konstant thematisiert wird und von Bedeutung bleibt, sondern auch weil sich das Dorf durch die Graffitis und neuen digitalen Angebote abhebt und modern und zeitgemäß präsentiert. Júzcar bleibt einmalig, einerseits durch die Schwerpunktsetzung im Sport- und Erlebnistourismus und andererseits durch das Erleben des Dorfes als mediatisierte Welt.

F AZIT Entscheidend für die jüngere Entwicklung des Dorfes Júzcar seit 2011 war der Impuls von außen. Die Schlumpfgeschichte wurde zunächst von den Dorfbewohnern adaptiert und sich zu eigen gemacht. Dies zeigt sich besonders in den zahlreichen informellen Aktionen und Verkaufsstrategien der Dorfbewohner, die letztlich zum Urheberrechtsstreit führten. Trotz der rechtlichen Schwierigkeiten, die mit der inoffiziellen Vermarktung als Schlumpfdorf verbunden waren, konnten die Dorfbewohner ein neues Selbstbewusstsein entwickeln und die Zukunft ihres Dorfes mitgestalten. Diese Entwicklungsschritte erläutert auch der ehemalige Bürgermeister: »Vor den Schlumpffilmen war Júzcar ein Dorf mit deprimierten Einwohnern und die Einwohnerzahl war aufgrund von Abwanderung und Überalterung rückläufig. Dass das Dorf blau gestrichen wurde, der Werbefilm gerade hier gedreht und auch die Kinofilme hier erstmalig präsentiert wurden, gab dem Dorf einen neuen Ruf. Das Dorf ist jetzt weltbekannt, überall wird über Schlumpfhausen in Andalusien berichtet. Jetzt ist es ein Dorf mit Perspektive, es ist ein Dorf, in dem man sein und leben möchte oder sein eigenes Geschäft eröffnen kann. Júzcar ist ein Dorf mit neuer Fröhlichkeit!« (IP 3, 04:13)

In der Aussage wird nicht nur ein gewisser Stolz deutlich, sondern es wird auch die Überzeugung der Bewohner verständlich. Die Veränderungen brachten eine große emotionale Bedeutung und neue Konzeption des Ortes mit sich. Die Anwohner nehmen ihr Dorf nun als einen Ort mit Zukunft wahr, vorher kannte keiner dieses Dorf und jetzt hat sich Júzcar durch seine Alleinstellungsmerkmale weltweit einen neuen Namen gemacht und durch diese Umdeutungen wieder eine Funktion bekommen. Der blaue Anstrich ist sicherlich die konkreteste und augenscheinlichste Form, die durch die Einflussnahme des globalen Medienkonzerns Sony entstanden ist. Außerdem haben Berichte von Print- und Onlinemedien die Bekanntheit des Dorfes gesteigert. Die Farbe hat letztlich eine Dynamik in Gang gesetzt, die dazu geführt hat, dass Júzcar sich neu erfunden hat, zunächst als »Erstes Schlumpfdorf

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der Welt« und danach, aufgrund der Urheberrechtsproblematik, als Blaues Dorf, das auf den vorhergegangenen medialen Inszenierungen aufbaut, an diese anknüpft und sie in eine neue Qualität überführt. Das Dorf nutzt den filmtouristischen Anstoß (Arnold/van Lessen 2018), um weitere Tourismusformen zu etablieren, wobei die Finanzierung durch das Dinamizador-Projekt der Provinz Málaga eine wichtige Rolle spielt. Hierbei ist die angestrebte Mischung aus traditionellen Angeboten (Kastanienernte und Pilzsuche), Sport- und Erlebnistourismus (Canyoning, Wandern, Kletterwände, Zipline) und die Entwicklung der medialen Tourismuslandschaft (Quiz) von besonderer Relevanz. Dem ehemals weißen Dorf Júzcar ist es gelungen, einen Impuls von außen aufzunehmen, zu etwas eigenen zu machen und daraus neue Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Der Wandel wurde zwar von dem Medienunternehmen Sony angestoßen, allerdings haben die Dorfbewohner von Beginn an über diese Entwicklungen mitentschieden (demokratische Abstimmung) und die damit verbundenen touristischen Möglichkeiten und Qualitäten ihres Dorfes aktiv eingeleitet und selbst in die Hand genommen. Diese Umdeutung durch die Bewohner selbst ist letztlich maßgeblich für die Zukunft des Dorfes.

L ITERATUR Arnold, Gregor/van Lessen, Julia (2018): »Júzcar – ein ›pueblo blanco‹ macht blau. Medieninduzierte Produktion von Tourismusräumen am Beispiel eines andalusischen Dorfes«, in: ZfTW – Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 10 (1), S. 97-119. Beeton, Sue (2005): Film-induced Tourism, Clevedon/Buffalo/Toronto: Channel View Publication. Beeton, Sue (2006): »Understanding film-induced tourism«, in: Tourism Analysis 11 (3), S. 181-188. Beeton, Sue (2010): »The Advance of Film Tourism. Tourism and Hospitality«, in: Planning & Development 7 (1), S. 1-6. Boos, Tobias (2013): Ethnische Sphären. Über die emotionale Konstruktion von Gemeinschaft bei syrisch- und libanesischstämmigen Argentiniern, Bielefeld: transcript. Breuer, Toni (2008): Iberische Halbinsel. Spanien, Portugal. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik, Darmstadt: wbg Academic. Couldry, Nick/McCarthy, Anne (2004): »Orientations: Mapping MediaSpace«, in: Nick Couldry/Anne McCarthy (Hg.), MediaSpace: Place, Scale and Culture in a Media Age, London/New York: Routledge, S. 1-18. Cresswell, Tim (22015): Place. An Introduction, Malden/Oxford: Wiley Blackwell.

J ÚZCAR –

MEDIALE I MPULSE UND

D ORFENTWICKLUNG

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| GREGOR A RNOLD, J ULIA VAN L ESSEN

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F ILM Die Schlümpfe in 3D (USA 2011, R: Raja Gosnell)

Der Bauernhof als Idyll Imaginationen und Realitäten im Kontext von sozialen Angeboten für alte Menschen auf landwirtschaftlichen Betrieben C LAUDIA B USCH , A NTJE R ÖMHILD »Von zu Hause [hatten wir] etwas Landwirtschaft. […] Und deswegen habe ich schon manches mitgekriegt. […] Ich war auch nie für Landwirtschaft. […] Aber Spaß an Blumen und so hatte ich schon immer.« SENIORIN, 88 JAHRE

Soziale Dienstleistungsangebote auf landwirtschaftlichen Betrieben sind im Zunehmen begriffen. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden verschiedene Organisationen und Projekte, mit denen die Verbreitung dieser Angebote – oft subsummiert unter den Oberbegriffen »Soziale Landwirtschaft«, »Green Care«, »Farming for Health« oder »Care Farming« – gefördert werden soll. In der Außendarstellung dieser Organisationen wird der landwirtschaftliche Betrieb oft als ein Ort präsentiert, der therapeutische respektive Wohlfühleffekte wie von selbst erzeugt. Hier werden scheinbar Aspekte von Garten-, Tier- oder Arbeitstherapie in einen jahreszeitlichen Rhythmus vereint, während ein familiäres Netzwerk mit flachen Hierarchien jede und jeden mit individuellen Fähigkeiten integriert. Es ist zu hinterfragen, welche Vorstellungen von Landwirtschaft und Ländlichkeit dabei als latente Leitbilder fungieren. Im Rahmen des Forschungsvorhabens LEBENSABEND IM DORF. SENIORENANGEBOTE AUF LANDWIRTSCHAFTLICHEN BETRIEBEN (VivAge, 2016-2019) wurden inhaltsanalytische Auswertungen verschiedener Publikationen und Websites von Dachorganisationen in sechs europäischen Ländern (Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweiz, Österreich, Italien) vorgenommen und in den Kontext der Idyllisierung des Ländlichen gestellt. Diesen

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Analysen werden im Folgenden Aussagen aus Interviews gegenübergestellt, die mit Landwirten und Landwirtinnen sowie Senioren und Seniorinnen auf Höfen mit einem sozialen Angebot für alte Menschen geführt wurden.

S OZIALE A NGEBOTE

IN DER

L ANDWIRTSCHAFT

Innerhalb der letzten zehn Jahre gab es eine deutliche Zunahme von sozialen Angeboten auf landwirtschaftlichen Betrieben in Europa. De Krom/Dessein (2013) erklären dies mit strukturellen und konzeptionellen Veränderungen sowohl in der Agrarwirtschaft als auch in Pflege- und Gesundheitssystemen. Dabei schreiben sie der von Wilson (2007) dargestellten Transformation einer ursprünglich für die Primärproduktion – also die Herstellung von Rohstoffen zur Nahrungsversorgung – zuständigen Landwirtschaft zu einer multifunktional ausgerichteten Branche im Postproduktivismus eine wesentliche Rolle zu. Demnach fungiert Landwirtschaft heutzutage multifunktional unter Einbeziehung verschiedener Dienstleistungen, zu denen zum Beispiel soziale Angebote zu zählen sind. Gleichzeitig ist im Hinblick auf Wohlfahrtskonzepte ein Wandel zu verzeichnen, indem konservative Modelle – denen zufolge Familienmitglieder für die gegenseitige Sorge zuständig sind und dabei vom Staat unterstützt werden – in einer zunehmenden Zahl an Ländern und vor allem im Wertesystem der Gesellschaften durch Fürsorgekonzepte abgelöst werden, welche die Verantwortung des Staates für das Individuum betonen. Auch Pflege soll sich demzufolge an individuellen Bedürfnissen ausrichten (vgl. Deutscher Bundestag 2016, Amann/Kolland 2014, Kammer et al. 2012), womit die Entwicklung neuer Märkte für Dienstleistungsangebote einhergeht. Im Vergleich der von VivAge untersuchten Länder ist diese Entwicklung am weitesten in den Niederlanden fortgeschritten, wo annähernd 1.000 landwirtschaftliche Betriebe soziale Angebote bereitstellen. Diese werden, wie auch in Österreich, zertifiziert, wobei die Zahl im letztgenannten Land noch im zweistelligen Bereich liegt. In beiden Ländern gibt verschiedene Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten – auch im akademischen Bereich (Hassink et al. 2018, Haubenhofer 2015). Italien unterstützt soziale Angebote auf landwirtschaftlichen Betrieben durch ein nationales Gesetz, das diese definiert und teilweise bereits in die provinziale Rahmen- und Fördergesetzgebung überführt wurde (Dell’Olio et al. 2017). In Norwegen schließen Kommunen als Träger der Fürsorgepflicht Verträge mit landwirtschaftlichen Betrieben, die eine soziale Dienstleistung anbieten. Hier sind ebenfalls etwa 1.000 Höfe verzeichnet, wobei allerdings pädagogische Angebote mitgezählt werden (Ihlebæk et al. 2016). In der Schweiz werden Höfe mit sozialen Angeboten auf etwa 500 geschätzt, wobei vorrangig Einzelpersonen in die Familienpflege aufgenommen werden (Bombach et al. 2015). Auch für Deutschland liegen keine genauen

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Zahlen vor. Neben den institutionalisierten »Grünen Werkstätten« für Menschen mit Behinderungen sind soziale Angebote auf Bauernhöfen hier als Pionierleistungen mit oft unsicheren Finanzierungsoptionen einzuordnen. Zunehmend werden diese Bereiche jedoch von den Landwirtschaftskammern durch Beratungsangebote unterstützt und finden Eingang in politische Diskussionen (vgl. Rose 2015). In allen genannten Ländern finden sich Dachverbände oder Netzwerkorganisationen, die Wissen und Informationen zu sozialen Dienstleistungen auf Höfen bündeln. 1 Insbesondere in den Publikationen der Dachverbände und Netzwerkorganisationen wird die Vorzüglichkeit des landwirtschaftlichen Settings gepriesen, dem eine per se therapeutische Wirkung zugeschrieben wird. Erste wissenschaftliche Veröffentlichungen nähern sich der Frage an, worin diese Wirksamkeit bestehen könnte: Steigen et al. (2015) führen die therapeutischen Wirkungen einer landwirtschaftlichen Umgebung auf die folgenden vier Aspekte zurück: i) ein nicht künstlich hergestellter Raum mit einer unterstützenden natürlichen Umgebung; ii) die Erfahrung sinnvoller, tagesstrukturierender und individueller Aktivitäten; iii) die soziale Gemeinschaft und iv) der Kontakt mit Tieren und Pflanzen. Leck et al. (2015) sehen darüber hinaus besonders positive Wirkungen durch flache hierarchische Strukturen und wertschätzende soziale Beziehungen. Sempik et al. (2010) führen positive Effekte auf die Biophilia-Hypothese von Wilson (1984) zurück. Demnach verschafft die Interaktion mit Tieren und Pflanzen Gefühle von Sicherheit, Entspannung und Befriedigung, weil der Mensch sich in seiner evolutionären Entwicklung an diese gewöhnt hat und ihr Fehlen zu gesundheitlichen Problemen fühlt. Als weitere Theoretiker werden Kaplan/Kaplan (1989) genannt, nach denen der Mensch, ebenfalls evolutionär bedingt, die Entspannung in der Natur zur Regeneration von geistigen Anstrengungen braucht (Wood 2016).

1

Folgende Organisationen (Stand 12.09.2018) sind hier zu nennen: Deutschland: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Soziale Landwirtschaft (www.soziale-landwirtschaft.de); Italien: Forum Nazionale Agricoltura Sociale (www.forumagricolturasociale.it) und Rete delle fattorie sociali (www.fattoriesociali.it) sowie zusätzlich in Südtirol Südtiroler Bäuerinnenorganisation

(www.bauerinnen.it/soziale-landwirtschaft);

Niederlande:

Federatie

Landbouw en Zorg (www.zorgboeren.nl); Norwegen: Inn på tunet Norge SA (www.innpatunet.no); Österreich: Green Care Österreich (www.greencare-oe.at); Schweiz: Verein Carefarming Schweiz (www.carefarming.ch) sowie Green Care - Plattform für Akteure und Nutzende im Bereich Umwelt und Gesundheit (www.greencare.ch).

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I MAGINATIONEN : D IE B ETONUNG

DES I DYLLS

Es sind Zweifel berechtigt, ob die zuvor genannten Effekte wirklich in Zusammenhang mit einer l an d w i rt s ch a ft l i ch en Nutzung zu bringen sind (vgl. EdmundRehwinkel-Stiftung 2015). Landwirtschaft arbeitet vielfach mit großen, nicht geräuscharmen Maschinen und wird nicht umsonst mit Arbeitskleidung wie Gummistiefeln in Verbindung gebracht, weil die haptische Berührung tierischer Ausscheidungen fast unumgänglich und gleichzeitig ein Anziehungspunkt für Fliegen und andere Insekten ist.2 Arbeitsflächen wie Siloplatten sind meist asphaltiert, um die Abläufe zu erleichtern. Und die entspannende Wirkung dieser nicht immer natürlich wirkenden Umgebung schwindet möglicherweise auch im Zusammenhang mit der jeweiligen Wetterlage. Abb. 1: Facetten der Landwirtschaft.

C. Busch (2. v. l.), Pixabay

Das Idyll ist durch eine Begrenzung in Raum und Zeit gekennzeichnet. Es kreiert eine überschaubare Situation, die als Gegenentwurf zu den komplexen Anforderungen der Gegenwart gesehen werden kann. Schon in seiner Wortherkunft weist es auf seinen imaginären Charakter hin, da es als Diminutiv des griechischen »eidos« überliefert ist. Ein »Bildchen« also, eine in Ruhe und im begrenzten Rahmen festgehaltene Aktivität ohne Chronologie, aber mit Vergangenheitsbezug. In seiner literarischen Nähe zum Bukolismus, dem »Hirtengedicht«, wird es in einen ländlichen Kontext gestellt (Gerstner/Riedel 2018); einem Umfeld, das jedoch eine vom Menschen gezähmte, zumindest für diesen nicht bedrohliche Natur zeigt. Idylle wird über Bilder hergestellt und betont Werte, die in der jeweiligen Gegenwart verlorenzugehen scheinen. Das idyllische Bild gewährt durch seine Überschaubarkeit Halt in einer als undurchsichtig oder mit Informationen überfluteten Zeit. In seiner Analyse aktueller und historischer Zeitschriften rund um das Landleben beschreibt Schmitt (2018), dass idyllische Bilder oft durch subjektive Leseanleitungen hergestellt werden, die eine ebenfalls subjektive Darstellung meist einer Kindheitserinnerung beinhalten. Sie werden detailreich durch das Hervorheben haptischer Erfah-

2

Die literarische Verarbeitung landwirtschaftlicher Wirklichkeit auf einem Milchviehbetrieb findet sich beispielsweise – wenn auch besonders düster geschildert – in Alina Herbings Roman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017)

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rungen geschmückt, wobei traditionelle Handwerkstechniken und regionale Zusammenhänge betont werden. Idylle hat dabei stets einen Inselcharakter, in dem ein Stück Harmonie inmitten einer als bedrohlichen empfunden Welt gezeichnet wird. Oft wird im Idyll neben der natürlichen Umgebung das soziale Miteinander hervorgehoben, sei es durch eine Familienszene oder die Darstellung einer Gruppe mit familiärem Charakter: Berührung, VertrautAbb. 2: Projektflyer. heit, Zugehörigkeit, Schutz. Die Attribute des ländlichen Idylls finden sich in vielen medialen Darstellungen der zuvor genannten Dachorganisationen zu sozialen Dienstleistungen auf landwirtschaftlichen Betrieben wieder. Beispielhaft möge der Flyer eines Projekts in einem deutschen Bundesland dienen, das Beratungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Landwirte und Landwirtinnen in der Betreuung Demenzkranker bietet. Schon das für den Titel gewählte Bild (siehe Abb. 2) inkludiert viele der zuvor beschriebenen Merkmale: Durch die Darstellung des Beerenlesens fügt es sich in einen jahreszeitlichen Rhythmus ein und betont gleichzeitig sowohl eine haptische Tätigkeit als auch traditionelle, manuelle Techniken – wozu zusätzlich der im Hintergrund abgebildete Laubrechen dient. Obwohl die Zeit des Beerenerntens eigentlich früher im Jahr verortet ist, legen die im Foto fallenden Schatten und die rötlich verfärbten Gräser oder Blätter am unteren Bildrand eine Kompetenzzentrum Demenz SchleswigAssoziation mit »Spätsommer« oder Holstein (2018) »Herbst« nah. Der Höhepunkt des Jahres ist überschritten. Auch die Dame im Bild weist durch Alter und Kleidung auf eine Zeit hin, der etwas Vergangenes anhaftet. Sie – so könnte man vermuten – kennt die hier dargestellte Tätigkeit wohl schon aus ihrer Kindheit. Weitere Elemente des Idylls sehen wir auf den in der Innenseite des Flyers verwendeten Bildern (siehe Abb. 3). Hier werden neben der Betonung des Haptischen, des Handwerks und des jahreszeitlichen Rhythmus durch die Abbildung der Tiere Elemente des Sozialen eingebracht: Kein Tier ist alleine, immer gibt es physische Nähe zu einem anderen Lebewesen. Damit wird ein Eindruck von Geborgenheit vermittelt – besonders das Küken in menschlicher Hand symbolisiert diesen

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Aspekt. Es gibt in diesem harmonischen und familiären Beieinander keine Hast und keine Hektik Die Bilder zeigen Momente der Ruhe, auch die Arbeit (Schubkarren) steht still. Abb. 3: Projektflyer Bilder Innenseite.

Kompetenzzentrum Demenz Schleswig-Holstein (2018)

Mit ähnlichen Bildern arbeiten andere Dachorganisationen in ihrer Darstellung von sozialen Angeboten für alte Menschen auf landwirtschaftlichen Betrieben. Handwerkliche Tätigkeiten werden besonders betont und durch die räumliche Nähe von Menschen oder Menschen mit Tieren Eindrücke von Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit vermittelt. Neben den Bildern erwecken verschiedene Textbausteine aus den Flyern, Broschüren und Webseiten der Dachorganisationen idyllische Bilder des landwirtschaftlichen Seins, die auf ihre Realitätstauglichkeit zu überprüfen sind. Die quantitative Inhaltsanalyse von Dokumenten und Webseiten zeigte auf, dass vorrangig Aspekte der Beziehung zu anderen Menschen sowie die Wertschätzung des Individuums als besondere Qualitätsattribute dieser Angebote hervorgehoben werden.3 Im deutschsprachigen Raum wird viel mit Begriffen des Lexemverbands »Familie« gearbeitet. Auch Worte wie »nachbarschaftlich«, »Gemeinschaft« oder »Nähe« evozieren Vorstellungen, sozial eingebettet zu sein. Der fürsorgliche Umgang mit den Menschen und der inklusive Charakter der Angebote werden stets hervorgehoben. Menschliche Beziehungen werden also als wichtigstes Merkmal sozialer Angebote auf Bauernhöfen genannt. Diese stehen eigentlich in keinem Zusammenhang zu einem landwirtschaftlichen Ambiente – es sei denn, man legt die Hypothese zugrunde, dass in der Landwirtschaft tätige Personen grundsätzlich sozialer und fürsorglicher sind als andere.

3

Die Texte wurden in ihren jeweiligen Sprachgruppen analysiert, für die zusammenfassende Darstellung werden hier die deutschen Übersetzungen gewählt.

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Die Umgebung eines solches Angebots wird in erster Linie mit Begriffen beschrieben, welche die »Natur« oder die (Kultur-)»Landschaft« zum Thema haben. Ökologie und Biodiversität stehen dabei mehr im Vordergrund als die Nutzbarmachung durch Landwirtschaft. Ackerbauliche Verfahren oder ein Einsatz von Maschinen sind in den Dokumenten so gut wie nicht aufzufinden. Ähnlich verhält es sich mit Begriffen rund um das »Tier«, die meist allgemein und weniger spezifisch auf eine Art bezogen vorzufinden sind. Das »Nutztier« wird in wenigen Dokumenten erwähnt; auch typische Arten wie Kühe – oft ein Attribut bildlicher Darstellungen von Landwirtschaft –, Schafe oder Ziegen nur in einem der insgesamt 25 analysierten Texte, andere Arten wie Schweine oder Hühner gar nicht. Als weitere Vorzüglichkeit der Angebote – neben dem familiären und inklusiven Miteinander – wird die Einbindung in einen lebendigen Alltag genannt, wobei die Rhythmik der Abläufe, nicht zuletzt durch die jahreszeitlichen Einflüsse, hervorgehoben wird.

R EALITÄTEN : D IE B EDEUTUNG

DES

S OZIALEN

Im Forschungsprojekt VivAge wurden 2016 und 2017 auf acht Bauernhöfen, die soziale Angebote für Seniorinnen und Senioren vorhalten, Interviews und Teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Auf fünf dieser Höfe gab es Wohnangebote, darunter zwei ambulant betreute Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige, bei der ein Pflegedienst ständig vor Ort ist. Ein dritter Betrieb vermietete Wohnungen mit zusätzlichen Service-Angeboten wie Mittagessen oder Fahrdiensten und ergänzte dies durch soziale Aktivitäten. Auch hier waren viele Senioren mit Pflegebedarf zu finden, der in diesem Fall durch mobile Dienste wahrgenommen wurde. Die zwei verbleibenden Höfe mit Wohnangebot vermieteten jeweils ein oder zwei komplette Wohnhäuser an selbstorganisierte Hausgemeinschaften, deren Mitglieder das Pensionsalter erreicht hatten. Die anderen drei Betriebe, die analysiert wurden, hatten jeweils ein stundenweises Angebot wie Gartentherapie, Mittagessen oder Hofführungen, in letzterem Fall speziell für an Demenz erkrankte Personen. Insgesamt wurden auf den Höfen sieben Landwirte und Landwirtinnen, eine Therapeutin, eine Präsenzkraft aus dem Pflegedienst sowie 23 Seniorinnen und Senioren zu ihren Erfahrungen und Eindrücken befragt. In Bezug auf die Etablierung auf einem landwirtschaftlichen Betrieb wurde deutlich, dass dieses Ambiente nicht per se zu einer erhöhten Lebensqualität beiträgt. Die Bedürfnisse der alten Menschen waren so unterschiedlich wie ihre Persönlichkeiten, die durch unterschiedliche Lebensläufe und damit verbundene Einflüsse wie Bildungsgrad, Berufserfahrung und sozialer Status geprägt waren. Für manche stand im Vordergrund, den »Ruhestand« zu genießen, ohne in irgend-

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einer Form zu Aktivitäten verpflichtet zu sein. Andere suchten nach Möglichkeiten, sich einzubringen und ihr Wissen weiterzugeben. Einige liebten die ruhige Lage, abseits vom Trubel urbaner Zentren, andere vermissten kulturelle Angebote und die Möglichkeit, per ÖPNV jederzeit mobil zu sein. Aus der Sicht der Klientel wurden die Angebote besonders hoch bewertet, die individuelle Wahlmöglichkeiten der Alltagsgestaltung ließen. Wie verschiedenen diese wahrgenommen wurden, zeigen zwei Zitate aus Interviews, die auf demselben Hof aufgenommen wurden. »Normaler Wochentag, da ist Fernsehen gucken. Wenn ich dann auf Toilette muss, gehe ich auf Toilette. Jede anderthalb Stunde, zwei Stunden gehe ich […] eine rauchen. Ja und das war es dann.« (S-15) »Erwin kommt, der macht mit uns Musik. Morgen spielen wir wieder Mensch-ärgere-dichnicht. Dann KOCHEN wir. Und dann turnen wir am Donnerstag mit Rosi. Jeden Tag was anderes.« (S-17)

Im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung wurde deutlich, wie sehr ein erster Impuls dazu verlockt, den Erstzitierten zu mehr Aktivität zu bewegen. Erst der distanzierte Blick der Analyse erklärte, dass sich gerade dieser Hof durch die individuelle Wertschätzung der Bewohnerinnen und Bewohner auszeichnete – und dies eben auch bedeutet, einen (alten) Menschen in seinen Gewohnheiten zu respektieren. Generell beeinflussten soziale Beziehungen und die Art und Weise, wie sie gestaltet wurden, das Wohlbefinden der Seniorinnen und Senioren wesentlich stärker als das landwirtschaftliche Ambiente. Relevant hierfür war vorrangig, »dass man das Gefühl hat, man wird [...] gesehen« (S-6) und »eine Gemeinschaft zu haben« (S-3). Auf die konkrete Frage nach der Bedeutung der Ansiedlung auf einem Bauernhof, bezeichneten viele Befragte dies zwar als positiv – im Detail wurde jedoch deutlich, dass es vorrangig Attribute wie Tiere, Garten- und Zierpflanzen waren, die sie als wohltuend empfanden. Ob es sich bei erstgenannten um Haus- oder Nutztiere handelte war nicht relevant. Die Einstellung zur Landwirtschaft selbst änderte sich nicht durch die Gestaltung des Lebensabends auf einem Bauernhof. Während eine Seniorin zum Beispiel äußerte, dass sie »jetzt unbedingt auf einem Hof wohnen will, das ist nicht der Fall« (S-4), sagte eine andere, dass sie ohne Landwirtschaft »nicht so drauf eingegangen [wäre]. Das ist grad das, was ich lebendig finde« (S-12). Seniorinnen und Senioren, die praktische Erfahrung mit der Landwirtschaft hatten, assoziierten mit diesem Begriff oftmals Gerüche und Schmutz. Einige von ihnen hatten in ihrer Jugend bewusst einen Beruf erlernt, der von Landwirtschaft fortführte. Andere, die zuvor in einem urbanen (und insbesondere auch akademischen) Umfeld lebten, erzählten, dass ihre idyllischen Vorstellungen der

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Wirklichkeit nicht standhielten. Ihre Wertschätzung landwirtschaftlicher Arbeit stieg jedoch durch die Konfrontation. Die Möglichkeiten der Seniorinnen und Senioren, sich mit Tätigkeiten in das landwirtschaftliche Geschehen einzubringen, waren sehr unterschiedlich. Vielfach wurden Tierbegegnungen geschätzt – die meisten waren allerdings mit einem beobachtenden Status sehr zufrieden. Darüber hinaus war ein Interesse am ehesten an gärtnerischen Tätigkeiten festzustellen, wobei die Pflege von Blumen mehr im Vordergrund stand als die Ernte von Gemüse. Einzelne Seniorinnen und Senioren, die gerne mehr Tätigkeiten übernommen hätten, wurden durch körperliche Leiden gebremst. Im hohen Alter können Wege schnell lang werden und die Belastbarkeit der Gelenke oder der Wirbelsäule ist oft eingeschränkt. Das Ausrutschrisiko an verdreckten Stellen und eine dunkle Jahreszeit können die Bewegungsmöglichkeiten für hochaltrige Menschen, deren Sinne nachlassen und die Stürze schlechter abfangen können, deutlich einschränken. Bei der Teilnehmenden Beobachtung fiel zudem auf, dass trotz entsprechender und glaubhafter Willensbekundungen verantwortlicher Personen eben nicht alle alten Menschen in Tätigkeiten einbezogen waren, sondern ihnen Aufgaben manchmal – weil es dann schneller ging – entzogen wurden. Eine praktische Einbeziehung ergab sich am ehesten im hauswirtschaftlichen Bereich wie durch Kartoffel- oder Äpfelschälen. Das Häusliche, das Innere, gewinnt aufgrund seiner Überschaubarkeit – das zeigt auch die Forschung (Naegle 2015; Backes 2014) – immer mehr Dominanz im Leben eines hochaltrigen Menschen. Auf dem im Forschungsprojekt besuchten Höfen mit Wohnangebot verbrachten die meisten Seniorinnen und Senioren im vierten Lebensalter ihre Zeit – auch bei schönem Wetter – überwiegend drinnen. Die Dominanz der Bedeutung sozialer Beziehungen gegenüber dem landwirtschaftlichen Ambiente zeigt sich besonders deutlich im Vergleich von zwei Höfen, die ein ähnliches Konzept mit der Vermietung von Wohnraum an eine jeweils selbstorganisierte Hausgemeinschaft haben. Für beide landwirtschaftliche Betriebe wurde in der Teilnehmenden Beobachtung protokolliert, dass sie ein einladendes Ambiente durch kleinräumige und natürliche Gestaltungselemente, die Architektur und die landschaftliche Lage boten. Auf beiden Betrieben hatten die Senioren und Seniorinnen mit dem Einzug in die Hausgemeinschaft das Recht (nicht die Pflicht!) erworben, sich in die landwirtschaftlichen Tätigkeiten einzubringen, was – je nach Motivation und körperlicher Verfassung – unterschiedlich gehandhabt wurde. Im Vergleich wurde jedoch besonders deutlich, dass das Wohlbefinden der Klientel weniger vom Ambiente und den Partizipationsmöglichkeiten als vielmehr von den in den Landwirtschaftsfamilien vermittelten Wertschätzungen abhing, die in den Interviews klar hervortraten. Von der landwirtschaftlichen Seite wurde auf dem einen Betrieb beispielsweise geäußert, dass einst die Hoffnung bestanden hätte, dass die Senioren und Seniorinnen – die ja »den wirtschaftlichen Aspekt nicht mehr

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berücksichtigen müssen« (D) – sich mit ihren Möglichkeiten für das »Hofprojekt« einsetzen würden. Tatsächlich aber, so wurde statuiert, »[tragen sie] NICHT viel wirklich dazu bei [.], denn sie sind ja inzwischen auch ganz schön alt und gebrechlich geworden.« (Ebd.) Auch aus anderen Interviewabschnitten wurde das Empfinden deutlich, dass die Seniorinnen und Senioren häufiger als Störfaktor in Bezug auf die landwirtschaftliche Tätigkeit gesehen wurden. Dies spürten die alten Menschen, wie sich an der folgenden Äußerung zeigt: »Ich würde mir wünschen, dass ich mehr vom Hof wüsste, mehr Kontakte hätte. […] Und die kriegt man dann eben nicht […], weil die genug zu tun haben. Die brauchen uns ja nicht« (S-12). Auf dem anderen Betrieb – gleiches Konzept, vergleichbares Ambiente – gab es deutlich andere Grundhaltungen. Hier wurde geschätzt, dass die alten Bewohnerinnen und Bewohner ihre Lebenserfahrung und die Außenperspektive auf den Hof einbringen können. Dafür müsse man sich, so der Landwirt, »einlassen können auf Gespräche und kritische Fragen« (B). Entsprechend haben Seniorinnen und Senioren hier ein anderes Gefühl, sehen sich »nah an die [Landwirte und Landwirtinnen] gerückt« (S-4) und genießen den Eindruck, »dass [ich] irgendwas noch machen kann« (S-5). Positiv – und hier wiederum durch die Ansiedlung auf einem landwirtschaftlichen Betrieb gestärkt – wirkte sich aus, wenn die Seniorinnen und Senioren den Eindruck hatten, an einem realen Alltag teilzuhaben. Die Forschungsliteratur zeigt, dass dieser in stationären Einrichtungen kaum künstlich ersetzt werden kann. Es ist ein Unterschied, ob es jeden Tag pünktlich um 12 Uhr Mittagessen gibt oder dieses sich etwas verzögert, weil der Paketbote gerade klingelt oder eine Kuh kalbt. So entsteht zugleich eine Vielfalt informeller Kontakte, die den Eindruck verstärken, Teil einer Gemeinschaft zu sein und nicht außerhalb von ihr zu stehen (Baumgärtner et al. 2013, Catell et al. 2008). Ein landwirtschaftlicher (Familien-)Betrieb, auf dem verschiedene Generationen leben und Saison- und Hilfskräfte, Auszubildende und Praktikanten zu finden sind, bietet viele Chancen für solche Kontakte (Leck et al. 2015).

I DYLL

IST

T ÄUSCHUNG

UND

C HANCE

Bei der Einordnung der Ergebnisse ist zu bedenken, dass das Klientel der Seniorinnen und Senioren sich von vornherein von anderen Nutzergruppen sozialer Angebote auf Bauernhöfen – zum Beispiel Rehabilitanden, psychisch Kranken oder Menschen mit Behinderungen – unterscheidet. Dass landwirtschaftliche Praktiken als sinnvolle Tätigkeit empfunden werden können, soll hier außer Frage gestellt bleiben. Dennoch gilt es zu überlegen, inwieweit die positive Zeichnung des Idylls zu einer kritiklosen Befürwortung von sozialen Dienstleistungen für alte Menschen auf Bauernhöfen führt (vgl. Cloke/Milbourne 1992). Im Umgang mit vulnerablen

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oder besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen ist es in der Geschichte immer wieder zu Missbrauch gekommen – auch bei ursprünglich besten Absichten, wie es beispielsweise bei der Reformpädagogik der Fall Odenwaldschule demonstriert. Die Versprechungen der familiären Einbettung und liebevollen Zuwendung gilt es also in jedem Fall zu prüfen. Das Leben auf einem landwirtschaftlichen Betrieb – und sei er noch so schön gelegen, ökologisch ausgerichtet und auf Tierwohl bedacht – schützt weder vor schädlichen Ausprägungen menschlichen Umgangs noch macht es seine Bewohnerinnen und Bewohner zu besseren Menschen. Es gibt ausreichend Berichte, die das Gegenteil belegen und darauf hinweisen, dass in der gar nicht so guten alten Zeit und inmitten der viel gepriesenen Großfamilie manches im Argen lag (Limbrunner/van Elsen 2013; Thieme 2008; Wimschneider 1990). Es gibt Elemente des landwirtschaftlichen Seins, die sozialen Angeboten für alte Menschen eine besondere Qualität verschaffen. Sie sind jedoch immer nur Zusatz und können zudem in einem anderen Ambiente als auf dem Bauernhof ebenfalls hergestellt werden. Unabdingbare Grundvoraussetzung für hohe Qualität ist die Gestaltung sozialer Beziehungen und der damit verbundenen Kommunikation – beides in engem Zusammenhang mit der oft latenten Wertschätzung des Gegenübers. Ist dieser Grund geschaffen, können weitere Aspekte die Qualität steigern, wie beispielsweise eine Umgebung mit Naturelementen und damit ein bewusst jahreszeitlicher Rhythmus, der Kontakt mit Tieren oder die Teilhabe an einem lebendigen Alltag. Auch diese Attribute sind jenseits des Bauernhofes möglich, wenngleich dieser sich hierfür gut eignen mag – insbesondere bei einer historisch weiter zurückreichenden Verwurzelung, die sich auch in baulichen Strukturen und Gestaltungselementen der Hofstelle zeigt. Mit »Landwirtschaft« im Angebotstitel zu werben, obwohl doch andere Attribute gemeint sind, mag irreführend sein. Gleichzeitig – das verdeutlichten die mit den Landwirtinnen und Landwirten geführten Interviews – ist die idyllische Vorstellung vom »Guten Leben auf dem Land« nicht zuletzt ein Motor, der es ihnen als Pionierinnen und Pionieren ermöglichte, ihre Angebote aufzubauen. Überzeugt von einer Idee, die ebenfalls vom Image der ländlichen Idylle beeinflusst war, wurden sie aktiv; trotz negativer Prognosen aus ihrem persönlichen Umfeld und trotz des oft unsicheren Umgangs von Behörden mit innovativen Konzepten. Die (unbewusst) vorgenommene Beschwörung des ländlichen Idylls sichert den Projekten ein mediales Interesse, das wiederum zu ihrem Gelingen beiträgt. Gerade die Wohnprojekte auf Bauernhöfen waren und sind gerne das Ziel von Fernsehteams, deren Aufmerksamkeit durch das landwirtschaftliche Ambiente gewonnen wurde. Mediale Aufmerksamkeit befürwortet Unterstützungsmöglichkeiten, sei es in der lokalen Politik, der Bewerbung für Stiftungsgelder oder der Teilnahme an Wettbewerben. Und mit der Aufmerksamkeit wird wiederum die Nachahmung befördert.

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Das Ausmalen des Idylls ist also nicht einfach Täuschung. Es zeigt vielmehr, welche Verluste in der gegenwärtigen Gesellschaft befürchtet werden und kann – gerade durch die mediale Überhöhung – dazu beitragen, neue Entwicklungen zu schaffen, die diesen Verlusten entgegensteuern (vgl. Schmitt 2018). In der praktischen Umsetzung sollte jedoch bewusst und stets selbstreflektiert der Gefahr entgegengetreten werden, schwarze Flecken im idyllischen Bild zu übersehen.

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Anreiz und Anspruch Ländliches in der Lebensmittelbranche – ein Streifzug durch die Praxis regionaler Vermarktung H EIKE Z ELLER

E INLADUNG Ich nehme Sie mit zum Einkaufen. Nicht zum Bummeln oder Shoppen, sondern stellen Sie sich vor, wir sind auf der Suche nach regionalen Lebensmitteln. Wir wohnen in einer Stadt, und da wir nicht extra mit dem Auto irgendwohin außerhalb fahren wollen, machen wir uns dort auf die Suche, wo wir auch sonst einkaufen und leben. Mit aufmerksamem Blick gehen wir los und beobachten, wie unser Interesse an regionalen Lebensmitteln geweckt wird. Dabei leitet uns die Vermutung, dass Lebensmittel dann regional wirken, wenn sie ›ländlich‹ aussehen – d.h. bestimmten Vorstellungen entsprechen – oder mit dem Land in Verbindung gebracht werden. Zunächst sehen wir uns an, wie Supermärkte regionale Waren verkaufen und wie Restaurants Ländliches gestalten (Ladenbau). Alsdann betrachten wir einige Produkte (Verpackung) und schauen, wie regionale Lebensmittel in Zeitungen und auf Flugblättern beworben werden (Werbung). Nach dieser Umschau in Supermarkt und Gastronomie resümieren wir unsere Beobachtungen (Zusammenfassung). Es stellt sich dabei die Frage, welche Folgen die beobachtete Inszenierung des Ländlichen, also diese spezielle Ästhetik der Lebensmittelbranche, haben kann.

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B EOBACHTUNGEN : L ÄNDLICHES G ASTRONOMIE

IN

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UND

Wir nehmen für unsere Beobachtungen zunächst Supermärkte mit Vollsortiment1 in den Blick, schauen uns dann die Regionalität von Discountern an und schließlich, wie auch in der Gastronomie das Ländliche inszeniert und verwendet wird Es wird viel diskutiert, was »regionale Lebensmittel« sind. Diese Diskussion zeigt, dass sich der Sachverhalt einer einfachen Definition entzieht. Verführerisch ist es da, die Regionalität an einer bestimmten Anzahl Kilometer fest zu machen – sprich: »Alles im Umkreis von 5/20/50/ Abb. 1: Maibaum mit Tafeln, auf 100/… Kilometern ist regional!« – oder an denen Direktlieferanten des Super- politischen Grenzen – sprich: »Alles, was marktes mit ihrer Entfernung zum aus Deutschland/Niedersachsen/… kommt, Markt dargestellt werden. ist regional!«. Aber welche Kilometergrenze setzen wir, wenn der Ostfriesin schon der Hering aus dem Nachbardorf nicht mehr regional ist, der Apfel aus dem Alten Land bei Hamburg aber schon? Oder wenn sie Käse aus Groningen als benachbart empfindet, Harzkäse aus Hannover aber nicht? Regionalität ist relativ, sie hat immer mit Beziehungen und Verhältnissen zu tun, in vielerlei Hinsicht. Es ist einer der spannenden Aspekte regionaler Lebensmittel und ihrer Vermarktung, dass sie einzigartig, kleinteilig und vielfältig sind; und sich dementsprechend nur schwer ›skalieren‹ lassen. Was wiederum dem wirtschaftlichen Grundsatz der Rationalisierung widerspricht und an alle Beteiligten besondere Herausforderungen stellt. Heike Zeller, 2016

1

»Vollsortimenter« sind in Deutschland zum Beispiel Rewe, Edeka oder Real. Sie sind sozusagen die Mittelklasse des Lebensmitteleinzelhandels, kurz »LEH« genannt. Preislich darunter liegen in der Regel Discounter wie Aldi, Lidl und Norma; darüber in der Regel Feinkostgeschäfte, Fachhändler, Wochenmärkte und so weiter.

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Ladenbau Wie wir den Supermarkt betreten, sehen wir uns zunächst das Angebot an Aktionsartikeln im Windfang eines Vollsortimenters an: Abb. 2: Windfang eines Supermarktes.

Heike Zeller, 2018

Auf der prominenten Verkaufsfläche sind Wildvogelfutter und Pflanzen platziert. Uns fällt auf, dass die Paletten mit Vogelfutter aussehen, als wären sie mit der Rinde eines Nadelbaums ummantelt – der umfassende Karton ist entsprechend bedruckt. Die Töpfe mit Heidekraut stehen auf einem Regal, das an einen einachsigen Wagen aus der Zeit vor der Motorisierung erinnert: Zwei eisenbeschlagene Räder sind links und rechts angebracht; die Regalböden bestehen aus abgenutzten Holzplanken. Wir notieren: Holz-Optik, Holz, alte Gerätschaften, Patina. In der Obst- und Gemüseabteilung des gleichen Ladens begegnet uns dies hier: Abb. 3: Eingangsbereich eines Supermarktes.

Heike Zeller, 2018

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Ein hölzerner, gehauener Wassertrog sticht uns ins Auge. Wir hören das Wasser aus der betagten Schwengelpumpe in die verzinkte Gießkanne plätschern. Um den Brunnen herum sind Holzkisten und Regalböden aus rohem Holz drapiert, teilweise abgestützt durch ungeschälte Äste. Den Hintergrund für das Arrangement bildet eine Wand, die mit Altholz-Paneelen versehen und mit Maiskolben, Ästen und nostalgischen Gerätschaften verziert ist. Wir notieren: Pflanzliche Dekorationen, alte Gerätschaften, Holz, unbehandeltes Holz, Altholz. In einem anderen Markt stehen wir vor diesem Regal: Abb. 4: Regionalregal eines Supermarktes.

Heike Zeller, 2018

Das Regal ähnelt zwar den anderen Regalen im Markt, unterscheidet sich von ihnen aber hinsichtlich einiger Aspekte: Es ist aus Holz oder Holzfurnier; die meisten Regalböden sind geschwungen und tragen immer wieder gelbe, hervor ragende Plastikschildchen – bedruckt mit »Regional« und einem stilisierten Traktor. An einer Stirnseite ist ein Kühlschrank integriert. Das Regal ist dekoriert mit Buchstaben, Tierfiguren und organischen Materialien, die nicht zum Verkauf bestimmt sind. Es wird gekrönt von einem hölzernen Wegweiser, dessen Schilder auf Lebensmittelhersteller verweisen. Wir notieren: Holz-Optik, runde Formen, besondere Kennzeichnungen, organische Dekorationen, geografische Hinweise. Wir stellen also fest, dass in Läden der Kategorie Vollsortiment bereits im Ladenaufbau die Wahrnehmung von Regionalität spezifisch hergestellt wird. Wie sieht es jedoch in Discountern aus? Dort entdecken wir zum Beispiel dieses Regal:

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Abb. 5: Regionale Waren in einem Schweizer Supermarkt.

Heike Zeller, 2017

Neben dem Preis, der Grammatur und den Warenwirtschaftssystemzahlen wird bei jedem Produkt auch ein Bild des jeweiligen Erzeugers gezeigt. Links daneben steht sein Name, die Firma sowie deren Standort. Darunter wird das Produkt benannt und hinsichtlich seiner besonderen Eigenschaften beschrieben. Das gesamte Etikett macht den Eindruck eines Holzschildes. Alle Waren in diesem Regalabschnitt tragen einen quadratischen Aufkleber in Korb-Optik, auf denen der geografische Umriss des Landes zu sehen ist und die Aufschrift »klein aber fein«, wobei der i-Punkt herzförmig ist. Wir notieren: Bilder, Personen, Geschichten, geografische Hinweise, Holz-Optik, Korb-Optik. Und schließlich entdecken wir auf einer Messe diese Theke:

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Abb. 6: Kühltheke eines Händlers beim Salon de l’agriculture Paris 2017.

Heike Zeller, 2017

In dieser Aktionstheke liegen bunt vermischt verschiedene Milcherzeugnisse und Schaleneier. Die Theke ist außen mit einem karierten Muster versehen und innen mit einem grünen Rasenteppich ausgekleidet. Sie ist mit Körben aus Metall und Holz dekoriert, die gefüllt sind mit Heu und Waren. Kleine Nationalflaggen stecken in manchen Produkten oder kleine Täfelchen in Schiefer-Optik mit Handschrift versehen. Manche der Waren werden auf Schieferplatten, Holzbrettern oder Schilfmatten präsentiert. Ein Heubündel, eine Kuh und ein Küken aus Porzellan sowie Kunstlaub komplettieren die Dekoration.2 Wir notieren: Dekorationen aus organischen Materialien, Tiere, alte Gerätschaften, Handschrift, schwarzer Untergrund, geografische Hinweise, Karomuster.

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Die hier gezeigte Theke steht im Gegensatz zu vielen Schaufenstern französischer Lebensmittelhändler, in denen ganze Schlachtkörper präsentiert werden und selbst zum Kaufanreiz werden – in Frankreich würde dem ganzen Torso einer Pute, teilweise noch gefiedert, kein Keramikgeflügel in erklärender, dekorierender oder aufwertender Absicht beigefügt. Interessanterweise sind im Gegensatz dazu in Deutschland Radieschen ohne Laub schwer verkäuflich.

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Als zwei letzte Beispiele für Innenausstattungen, die Ländlichkeit ausdrücken, sehen wir uns in der Gastronomie um. Abb. 7: Einrichtung einer Gastronomiekette.

Heike Zeller, 2018

In diesem Restaurant fallen zunächst die Baumstämme auf: wenig bearbeitete, noch mit Rinde bestückte Birken.3 Auf jedem Tisch werden die Saucen und ein Blumentopf von einem halbierten ausgehöhlten Stück Birkenstamm gefasst. Überall im Raum sind Blumentöpfe angebracht, teilweise hängen sie unter der Decke. Die Wände sind mit unbehandeltem Holz verkleidet, angeordnet wie eine Art Zaun aus unterschiedlich langen Holzbrettern. Einige der Wandlampen sind hölzerne Vogelhäuschen. Die Platzsets sind aus grauem Filz. Wir notieren: unbehandeltes Holz, Dekorationen aus Pflanzen und Holz, Filz. Zum Abschluss schauen wir uns noch den Stand einer Imbisskette auf einer Messe an:

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Unbehandelter Birkenzweige bedient sich auch das Unternehmen Livello, das in Firmen Automaten-Kühlschränke mit »frischen und gesunden« Convenience-Artikeln aufstellt und regelmäßig befüllt. Die Kühlschränke sind in Holzoptik gehalten und ihr Griff ist ein unbehandelter Birkenzweig.

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Abb. 8: Stand einer Imbisskette beim Salon de l’agriculture Paris.

Heike Zeller, 2017

Auf dem offen gehaltenen Stand befinden sich mit grünem Rasenteppich belegte runde Terrassen, die durch einen hölzerenen Zaun und durch Gestecke aus Getreide, das dort wie auf einem Acker steht, begrenzt sind. Großformatige, ausgeleuchtete Bilder von Tieren und Landschaften finden sich auf dem ganzen Stand. Neben diesem ›analogen Erleben‹ von Ländlichkeit wird angeboten, sich mittels Virtuelle-Realität-Brillen in ein ländliches Umfeld zu versetzen. Wir notieren: Holz, Tiere, pflanzliche Dekorationen, Kunstrasen, Bilder. Als Fazit aus unseren Betrachtungen der Läden stellen wir fest, dass deren Gestaltung drei grundlegenden Linien folgt: • • •

Es werden natürliche, organische Materialien verwendet (z.B. Holz) oder Materialien, die solche imitieren (z.B. Plastik-Rasen). Es tauchen altmodische, nostalgische Elemente auf (z.B. Gerätschaften). Das Design ist oft lebendig und kleinteilig (z.B. Bilder, Muster).

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Verpackungen Vor unserem inneren Auge stehen wir nun vor einem Kühlregal und greifen nach einem der in Deutschland einheimischen Produkte: Milch. Im Folgenden sehen wir uns bei drei Molkereien genauer an, wie sie die Vorderseite ihrer frischen Trinkmilch gestalten. Abb. 9 bis 11: Milchpackungen Allgäuer Hof-Milch GmbH, Schwarzwaldmilch GmbH, Hemme GmbH & Co. KG.

Heike Zeller, 2018

Bei dieser Verpackung der Allgäuer Hof-Milch GmbH fällt uns zunächst das poppige Design mit knalligen Farben – weiß, blau, pink – und zeitgeistiger Typografie auf.4 Dann sehen wir, dass die helleren Hintergründe aus lauter Kühen wie derjenigen im Logo zusammengesetzt sind. Der blaue Hintergrund bildet am oberen Rand die Silhouette einer Bergkette. Am unteren Rand hebt sich wie bei einem FilmNegativ eine Wiese in Weiß ab. Beschreibungen der Produkteigenschaften komplettieren die Vorderseite der Milchtüte: rechts senkrecht der Spruch »Alles Gute kommt von oben« und drei Siegel, oben links das der touristischen Destination All-

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Solch schmale, hohe, etwas krakelige Schriften werden in den letzten Jahren oft im Zusammenhang mit Lebensmitteln verwendet. Siehe zum Beispiel die Schrift »Gut für dich. Und deine Region« der REWE oder die Produktbezeichnungen der Kette »Dean & David« sowohl online als auch in den Läden; oder schließlich auch das Logo des vor allem Suppen herstellenden Labels Little Lunch.

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gäu, unten links das EU-Siegel »garantiert traditionelle Spezialität«, unten rechts das Bayerische Biosiegel. Die Schwarzwaldmilch GmbH nennt ihr Produkt zwar ebenfalls »Bio« und »Heumilch« wie im ersten Beispiel, und druckt dies auch groß auf einem kräftig hellgrünen Grund. Doch bleibt der Rest des Kartons farblich gedämpft in Packpapier-Optik. Das untere Drittel der Tüte wird von einer Rötelzeichnung dominiert, die vordergründig eine Kuh beim Grasen zeigt, dahinter einen einzelnen, etwas schiefen Rundballen und ganz hinten einen Mischwald. Oben in der Mitte befindet sich das Firmenlogo, das sowohl namentlich als auch mit dem Bollenhut auf den Schwarzwald als Herkunftsort der Milch verweist. Unten befindet sich links wieder das EU-Siegel »garantiert traditionelle Spezialität« und rechts das Siegel des ökologischen Anbauverbands Bioland. Bei der Verpackung der Hemme GmbH & Co. KG handelt es sich um einen Plastikbeutel, der vornehmlich in den Farben Weiß, Blau und Grün gehalten ist. Oben zeigt das ovale Logo den Firmennamen und eine karikierte Kuh, die Klee im Maul hat und mutmaßlich auf einer Blumenwiese steht. Darunter wird die Herstellung der Milch spezifiziert (»tagesfrische« etc.). In roter Schreibschrift wird auf den Produktionsort »Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin« hingewiesen; links und rechts befinden sich weitere geografische Hinweise in Form von Logos von Brandenburg und der Uckermark. Den unteren Bereich des Beutels nimmt das Bild eines Feldwegs ein, der zwischen blumigen Wiesen und Wäldern verläuft und im Horizont verschwindet. Unser Fazit zu den Milchverpackungen: Bei allen verweist das Design mitsamt seinen verschiedenen grafischen und visuellen Elementen auf: • • •

Frische und andere Produktqualitäten (Farben, Siegel, Texte) Kühe und Landschaft (Logos, Bilder) Herkunftsregion (Namen, Siegel, Texte).

Darüber hinaus fällt bei diesen Beispielen auf, dass keine Personen abgebildet und alle Landschaften menschenleer sind.5

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Im Gegensatz dazu gibt es viele regionale Produkte, auf deren Verpackung die Erzeuger abgebildet sind – siehe zum Beispiel die Eierschachteln der Vermarktungsgesellschaft Unser Land. Ähnlich wird es auch von der Initiative Bio mit Gesicht betrieben: Eine auf dem Produkt aufgedruckte Nummer kann auf deren Website eingegeben werden und führt zu Bildern und Informationen über den Erzeuger.

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Werbung Nun werfen wir einen Blick auf eine Anzeige und zwei Flugblätter und fragen uns, womit dort versucht wird, den Verkauf zu steigern. Abb. 12: Anzeige eines Händlers in der Regionalzeitung.

Heike Zeller, 2016

Dies ist eine Anzeige, deren linke Hälfte nahezu vollständig von einem Bild eingenommen wird, auf dem vier Erwachsene und fünf Kinder zu sehen sind, die allesamt Tracht tragen und lachen. Im Hintergrund ist eine hügelige, ländliche Landschaft mit verstreuten Bauernhöfen angedeutet. Im Vordergrund befinden sich Gräser vor der Linse der Kamera. Die Stimmung wirkt heiter und lebendig. Ein gelber Einklinker zeigt das Logo und das Regionaldesign der für die Molkerei werbenden Handelsfirma – und stellt zugleich mit »Das Beste aus deiner Region« einen direkten und persönlichen Kundenbezug her. Diese regionale und persönliche Nähe wird dadurch verstärkt, dass die abgebildeten Menschen einen Namen bekommen. Das Zitat im Kasten lautet »Uns liegt es am Herzen [sic!] bestmögliche Heumilchprodukte herzustellen, die Landwirte fair zu bezahlen und so schonend wie möglich mit der Natur umzugehen.« Damit wird das Konzept der Nachhaltigkeit emotionalisiert und in den Mittelpunkt gestellt; der Text appelliert an Herz und Verstand der Verbraucher. Unterschrieben ist er mit »Familie Nussbaumer und Familie Haug«. Der rechte Teil der Anzeige hat einen Holzhintergrund und es sind zwei Logos – Allgäu und Allgäuer Hof-Milch –, das REWE-Regionaldesign und einige Produkte der Molkerei abgebildet sowie Produktspezifikationen und Preise. Unser zweites Werbebeispiel sieht so aus:

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Abb. 13: Flugblatt eines Händlers als Zeitungsbeigabe.

Heike Zeller, 2017

Auf einem quadratischen Flugblatt ist ein sonniges Alpenpanorama mit höheren Bergen im Hintergrund und Almen im Vordergrund zu sehen. Links unten und rechts oben ist die Fotografie eingefasst von einem wehenden Stoff mit bayerischen weiß-blauen Rauten. Rechts unten ist groß das staatliche Siegel »Geprüfte Qualität Bayern« zu sehen. Die Überschrift bringt das Bundesland mit Heimat und Qualität in Verbindung. Links oben befindet sich das Logo des werbenden Handelsunternehmens und darunter, wie in einem Fotoalbum, drei weiß umrahmte Bilder von Familien, die allesamt in einer Gärtnerei aufgenommen und mit Namen und Wohnort bezeichnet sind. Der Text erklärt, für was »Geprüfte Qualität Bayern« steht. Zu guter letzt betrachten wir noch das Titelblatt einer im Format Din A6 gestalteten Broschüre der Molkerei Berchtesgadener Land:

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Abb. 14: Broschüre einer Molkerei.

Heike Zeller, 2016

Den Hauptteil der Seite nimmt das Bild eines Landwirts in traditioneller Arbeitskleidung ein, der mit einem Büschel Gras an einer aufgestellten Sense entlangfährt. Sein rechter Unterarm und seine kräftigen Hände sind Mittelpunkt der Szene. Der Mann wirkt ernst und konzentriert bei der Sache. Er steht in einer buckeligen, im Hintergrund bewaldeten Landschaft unter einem hohen und bewölkten Himmel. Oben und unten wird das Bild begrenzt von erst dünnen weißen, dann tannengrünen Balken. Die grünen Flächen haben die Struktur von Filz; unten rechts sind ein Metallknopf und eine rote Eichelstickerei zu sehen, wie sie auch bei Trachtenkleidung verwendet werden. Überschrieben ist die Seite mit »Milchecho«, wobei das »echo« in Schreibschrift gehalten ist. In der Fotografie sind Stichpunkte zur Milchherkunft und -qualität, zur genossenschaftlichen Organisation der Molkerei und zum Milchpreis aufgeführt, die sich in verkürzter Form im gelben Siegel darunter wiederfinden.

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Als Fazit zu den Werbemitteln halten wir fest, dass vor allem • • •

Personen und Landschaften im Vordergrund stehen, die von typischen Materialien (Holz, Trachtenstoffe) eingerahmt werden.

Z USAMMENFASSUNG : W IE

ETWAS ALS › LÄNDLICH ‹

GESTALTET WIRD Wenn wir auf die drei betrachteten Kategorien Ladenbau, Verpackungen und Werbung blicken, sehen wir bestimmte Elemente immer wieder. Es wird durch bestimmte Materialien sowie Bild- und Textinhalte versucht, einen Eindruck von Natürlichkeit, Persönlichkeit, Tradition, Details, Region zu erzeugen. Die Elemente sind nicht trennscharf, sondern miteinander verwoben und verstärken sich gegenseitig. Als natürlich erscheint etwas vor allem dann, wenn es aus organischen oder wenig verarbeiteten Materialien besteht beziehungsweise so aussieht. Ebenso, wenn etwas lebendig wirkt, bunt ist, wenn Pflanzen, Tiere, Landschaften oder auch Menschen auftauchen. Alles soll so wirken, als könnte es gerade von draußen geholt worden sein. Die drei abgebildeten Werbemittel zeigen jeweils tatsächlich beteiligte Personen: Im ersten Beispiel die Familien der beiden Molkerei-Gründer, im zweiten die drei Gärtner-Familien, im dritten einen Milchlieferanten. Ähnlich wie einst Claus Hipp stellen sie sich selbst vor die Kamera, keine Models, sondern teilweise von Arbeit gezeichnete, »echte« Charaktere. Sie stellen damit eine Beziehung von Mensch zu Mensch, von Erzeuger zu Käufer her – und schaffen damit Nähe. Eine solche Nähe besteht zugleich auch, so die Bilder, zur Natur; die persönlich in Erscheinung tretenden Erzeuger bürgen quasi mit ihrer eigenen Person (und Familie) für einen nachhaltigen Umgang mit der regionalen Umgebung. Tradition kommt dann ins Spiel, wenn Tracht getragen wird, wenn althergebrachte, möglicherweise nicht mehr verwendete Gerätschaften zur Dekoration dienen, wenn Schilder (wie) von Hand geschrieben sind und wenn keine neuwertigen Dinge dargestellt werden, sondern gebrauchte oder gebraucht aussehende Geschichten transportieren. Wie schon die Abbildung von Personen, so lassen auch Bezüge auf Tradition heutzutage verbreitete maschinelle Herstellungstechniken aus dem Blick verschwinden.

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Wie gezeigt wurde, fußt die in der Werbung eingesetzte Ästhetik von Ländlichkeit auch auf Details – es wird beispielsweise kein einfarbiger Hintergrund verwendet, sondern ein karierter oder in Korboptik gehaltener; Trachtenknopf und Stickerei versetzen in eine bäuerliche Welt. Auch wird Kleinteiligkeit teilweise ausdrücklich angesprochen: »klein und fein« fungiert als Gegenentwurf zu großen und unüberschaubaren Strukturen. Regionalität wird Globalität entgegengesetzt. Dies zeigt sich auch deutlich beim Regionalbezug der Produkte. Schon durch ihre Namen verankern sich viele Firmen an einem Ort. Landschaftsbilder zeigen den Kontext, in dem das entsprechende Produkt entstand. Oft wird auch Dialekt verwendet oder vor Ort typische Produktbezeichnungen, um die regionale Verwurzelung – und wieder: Kleinteiligkeit – zu unterstreichen. »Region« und »Land« sind eng miteinander verbunden. Diese Elemente und Inszenierungen hängen fast schon selbstverständlich mit Ländlichem zusammen, denn sie können auf Seiten der Verbraucher auf bereits bekannte Bilderwelten und eingeübte Sichtweisen aufbauen. Um diese eingeschliffenen Sichtweisen stärker bewusst zu machen, hilft vielleicht ein Kontrast: Wie würde es beispielsweise auf uns wirken, wenn glitzernde Materialien auftauchen, moderne Technik betont, ein cleanes Design verwendet oder internationale Piktogramme eingesetzt würden? Würden wir das noch spontan zusammen bringen mit Ländlichkeit oder Regionalität? Wohl eher nicht. Dementsprechend geht es mit Hilfe der hier eingesetzten ›ländlichen‹ Gestaltungsweisen vor allem auch darum, den Verbrauchern die Unternehmen und ihre Produkte im wahrsten Sinne des Wortes nahe zu bringen. Es soll ein persönlicher Bezug entstehen, der die Lücke zwischen Produzenten und Konsumenten entweder tatsächlich – in Form von Direktvermarktung, in der sich Erzeuger und Verbraucher wortwörtlich begegnen – oder zumindest emotional schließt. Viele Ottonormalbürger haben wenig bis gar nichts mit Entstehung, Verarbeitung und Handel ihrer Nahrung zu tun und wissen auch wenig darüber. Manche bemerken und bedauern ihren Informations- und Bezugsmangel und sind daher empfänglich für Angebote, sich ein Bild zu machen von der Herkunft ihres Essens – gerade in Zeiten einer erhöhten gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für Ökologie. Da aber auch die Lebensmittelbranche ein stark ausdifferenzierter, komplexer Teil der Gesellschaft ist und kaum jemand die Zeit und Muße hat, sich wirklich en detail zu informieren, sind andere Mechanismen der Komplexitätsreduktion vonnöten.6 Die Frage beim Einkaufen – »Welches Produkt soll ich kaufen? Ich habe doch keine Ahnung, was dahintersteckt.« – wird durch ländlich wirkende, regionale Lebensmittel beantwortet; und zwar durch nahe gelegte Antworten wie: »Nimm 6

Niklas Luhmann nennt Komplexitätsreduktion »jenen Vorgang der Vermittlung zwischen Komplexität der Welt und Aktualität des Erlebens« (Luhmann 2002: 21).

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das, was aus Deiner Nachbarschaft kommt«. Oder durch: »Schau, die Leute da kennst Du doch aus der Zeitung/vom Schulfest/…, denen kannst du vertrauen.« Oder durch: »Das da, das sieht aus wie früher, das mochte ich immer und die wissen noch, wie es geht.« Oder durch: »Das sieht schön einfach aus, nicht so industriell, sondern natürlich.« Wenn wir davon sprechen, den Verbrauchern Nähe und Bezug zu ihrem Essen zu geben, hat das also nicht nur mit dem insgesamten Auseinandertreten von Produktion und Konsumtion zu tun, sondern auch mit den Beziehungen zwischen konkreten Firmen und Menschen. Besteht eine solche Beziehung, kann sie zur Entscheidungsgrundlage werden, wenn jemand dem deutschen Lebensmittelmarkt mit seiner äußerst großen Auswahl an Verkaufsstellen, Marken und Produkten gegenübersteht.7 Die eingesetzten Bilder des Ländlichen übernehmen hier eben jene Funktion: Das Landleben birgt für viele Menschen die Verheißung eines Horts, wo ›das Leben (und auch: das Essen) noch in Ordnung ist‹. Ein beschauliches Leben, das in einer womöglich nie so dagewesenen guten alten Zeit stehengeblieben ist.8 Das Land als ein ›entschleunigter‹ Gegenentwurf zum hektischen, unübersichtlichen (städtischen) Alltag9 – was es an Wochenenden und in Urlauben insbesondere für viele Deutsche ja auch ist.10 Als ›ländlich‹ wahrgenommene Lebensmittel knüpfen

7

Vorreiter eines solchen ›regionalen oder ländlichen Mechanismus der Komplexitätsreduktion‹ ist meines Erachtens nach der Markt für Bio-/Öko-Lebensmittel. Das Label »biologisch/ökologisch erzeugt« erlaubt sozusagen auf einen Blick, auch einem unbekannten Produkt bestimmte Qualitäten zuzuschreiben und zu vertrauen. Interessanterweise erinnert Regionalität auch in ihrer Ästhetik an Bio/Öko – und wird teilweise automatisch dafür gehalten oder zum »neuen Bio« erklärt.

8

Entsprechend lässt sich auch immer wieder beobachten, dass Menschen, die ländliche Gebiete nur aus ihrer Freizeit kennen, teilweise empfindlich darauf reagieren, wenn sich dort etwas verändert; und sich dann wiederum Landbewohner, die eben nicht jenem idealisierenden Blick folgen, sich von ›den Städtern‹ bevormundet fühlen.

9

Hartmut Rosa (z.B. 2009) ist durch seine zeitsoziologischen Schriften und die Konjunktur des Begriffs der Entschleunigung in vielen Kontexten, auch in denen der Ernährung und Ökologie, ein beliebter Gesprächspartner.

10 Habermas schrieb (1958) einen interessanten Text darüber, welche verschiedenen Funktionen die Freizeit gegenüber der Arbeit, mit der sie in Wechselwirkung steht, nach der ersten Industrialisierung innehat: Sie kann dabei eine suspensive Funktion – was sich entweder in selbstbestimmter Quasiarbeit (z.B. Schwarzarbeit) oder identifizierender Sinnerfüllung (z.B. Ehrenamt) zeigt – oder eine kompensatorische Funktion – ganzheitliche Beschäftigungen wie z.B. Do it yourself – ausüben.

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an die Land-Sehnsucht an, können eine kleine Auszeit unter der Woche sein, ein Stück heile Welt zum Einverleiben, quasi ›Landleben to go‹. Nähe, Bezug wie Beziehung und Sehnsüchte geben etwas zu reinen Informationen hinzu. Sie sind emotionale Komponenten und funktionieren schneller, tiefer und unbewusster als rationale Argumente für oder gegen ein Produkt. Wenn Menschen fühlen, erleben sie selber etwas, unmittelbar. Es ist echt. Und diese Echtheit – oft bezeichnet als Authentizität – scheint das zu sein, was vor allem aus Sicht des Marketings über allem steht; erst recht in Lebenswelten, die immer virtueller, also mittelbarer werden. Interessanterweise helfen gerade die äußerst virtuellen Sozialen Medien dabei, Echtheit zu vermitteln.11 Dort erzählen beispielsweise Erzeuger direkt, zeigen das Leben auf dem Hof ›hinter den Kulissen‹ und lassen die Follower an Ereignissen wie Lämmergeburten oder Ernten teilhaben. Sehe ich regelmäßig Bauer X und sein Wirtschaften in meiner Timeline oder sehe ich bei einer Fahrt übers Land, wie Bauer Y seine Kuh auf der Weide streichelt, werde ich mich der Lebensmittelproduktion näher fühlen und im Kühlregal ziemlich sicher und recht unabhängig vom Preis zur Milch von Bauer X oder Y greifen. Aber eben nur, wenn mir der Zusammenhang von Kuh, Bauer und Milchtüte klar wird. Genau das ist die Aufgabe bei der Vermarktung ländlicher Produkte – und ihr wichtigstes und sensibelstes Werkzeug ist die Echtheit.

S CHLUSSGEDANKE : V ON A NREIZ

ZU

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Die Ländlichkeit und Regionalität von Lebensmitteln wird maßgeblich durch Sehnsüchte und persönliche Bezüge geprägt. Wie alle Darstellungen von etwas, so sind auch diese notwendig Vereinfachungen oder Stilisierungen von Realität. In der Werbung spitzt sich das zu: Ein Plakat oder ein Werbespot muss in aller verfügbaren Prägnanz die ganze Welt des Beworbenen transportieren und seinen Kauf herbeiführen. Da werden schnell die vermuteten Wünsche der Verbraucher zu Vätern des Gezeigten. Nur, was geschieht mit den medialen Zuspitzungen, wenn immer weniger Menschen eine eigene Anschauung vom Land jenseits seiner Freizeitnutzung haben, immer weniger einen eigenen Bezug zur Herstellung von Lebensmitteln haben und damit immer weniger Abbilder mit Erleben abgleichen können? Dann prägen

11 Das sei derzeit auch in China zu beobachten, erklärte mir ein dort tätiger Handelsmanager. Junge Chinesen aus der Mittelschicht googelten bei Importware deren Hersteller mit Firmensitz und verantwortlichen Personen, um Werbeversprechen zu überprüfen. Sie seien auf der Suche nach authentischen Waren und von Abweichungen irritiert.

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(Werbe-)Bilder und Geschichten in hohem Maße das Wissen von Land, Landwirtschaft und Nahrungsproduktion. Und was ist, wenn romantische Bilder auf journalistische Berichte über derzeitige technisierte Landwirtschaft treffen? Dann passt es überhaupt nicht zusammen. Und es folgt das, was ich seit Jahren beobachte: Aus dem, was als Kaufanreiz dient, wird ein Anspruch.12 Landwirte, Hersteller, Händler und Gastronomen sollen an ländlicher Beschaulichkeit einlösen, was die Werbung verspricht.13 Zur Illustration dieser Entwicklung ein sehr grober historischer Dreischritt mittels Werbefilmen der 1950er, 1990er und 2019. •

Kennen Sie die Bärenmarke-Werbung aus den 1950ern? Der etwas tapsige Bärenmarke-Teddy lebt da zum Beispiel in einer Almhütte mit seinen Kühen zusammen und präsentiert eine niedliche Idylle. Die frisch gemolkene Milch verwandelt er wie von Zauberhand in eine Dose Kondensmilch, was der Sprecher aus dem Off kommentiert mit: »Bärenmarke. Die vertraute, gute Dosenmilch.« Aber auch: Die Milchkannen im Clip entsprechen der damaligen Herstellungspraxis.14

12 Ein Bewusstsein dafür dringt mittlerweile auch in die Diskussionen der Lebensmittelbranche ein und schlägt sich auch publizistisch nieder. Vergleiche zum Beispiel den Beitrag von Hendrik Haase anlässlich der DLG-Wintertagung 2019 AUSSICHT: WAS PASSIERT WENN DEN

ERNÄHRUNG ZUM LIFESTYLE WIRD... (Haase 2019) oder VOM LAND IN

MUND – WARUM SICH DIE NAHRUNGSINDUSTRIE NEU ERFINDEN MUSS von Jan

Grossarth (2016). Siehe auch das Buch von Andreas Möller: ZWISCHEN BULLERBÜ UND TIERFABRIK – WARUM WIR EINEN ANDEREN BLICK AUF DIE LANDWIRTSCHAFT BRAUCHEN (2018).

13 Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf Baudrillards Simulacrum. Denn in der Tat ist es mitunter so, dass Bilder von Landwirtschaft das Abgebildete erst hervorbringen: Eine Landwirtin, die Programme für Schulklassen auf ihrem Hof anbietet, erzählte mir, ihr Mann ziehe extra Latzhosen für die Kinder an, da sie ihm sonst nicht glaubten, er sei Bauer. 14 Interessant ist auch der Bärenmarke-Clip KLEINER BÄR AUF GROSSER FAHRT von 1957, in dem der Teddy mit Rucksack und blumengekränzten Wanderstab an seiner Hütte startet, zu jazziger Schnulze durch Wiesen mit Milchkühen läuft, in einem BärenmarkeMilchwagen mitfährt in die Stadt, dort quasi auf PR-Tour groß empfangen wird in einem Geschäft, das Bärenmarke führt und schließlich wieder zur Heimreise vom Milchauto abgeholt wird. Das Ganze sehr sonnig und mit vielen hingerissenen Damen mit Kopftuch (Land) oder in Handschuhen (Stadt), artig Küsschen-gebenden Mädchen und feschen Herren in Tracht oder Anzug. Nichtsdestotrotz wird die Geschichte der Dosenmilch von

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Mitte der 1990er dann die Landliebe(!)-Werbung, die dann auch im Jahr 2015 wieder aufgegriffen wurde. Sie zeigt eine junge Frau, die in einer durch warmes Licht weichgezeichneten Küche steht, eine Schüssel im Arm hält und darin liebevoll mit einem Holzlöffel Joghurt anrührt. Landliebe-Joghurts wurden in den 1990ern sicherlich anders hergestellt. Anfang 2019 dann der Werbespot ORGANIC FOOD FOR ALL für die BioEigenmarke Naturgut des Discounters Penny. Dort begleitet das Publikum die Sängerin Nena auf ihrem Weg durch eine allerorten blühende Stadt mit goldenen, von Hand bearbeiteten Getreidefeldern, Kürbishäusern, Schwärmen von Schmetterlingen und Bienen, Urban Gardening sowie vielen glücklichen Menschen. Der Spot ist klar als Utopie angelegt, legt aber auch konkret nahe, Karotten auf der Dachterrasse selbst anzubauen.

Häufig entfernt sich Werbung für Lebensmittel vom tatsächlichen Vorgehen 15 und führt bei Verbrauchern zu Ansprüchen, wie eine in ihren Augen gute Produktion aussehen soll.16 Und Verbrauchern ist die Herkunft ihrer Lebensmittel wichtig und soll so aussehen wie in der Werbung.17 Das wirkt zurück auf die vorgelagerten Bereiche sowie auf Politik und Gesellschaft. Die Wirkmächtigkeit von Bildern wird mittlerweile nicht mehr nur in akademischen Zirkeln diskutiert, sondern auch die Lebensmittelbranche spürt Ansprüche und Skepsis der Verbraucher immer stärker; sei es zum Beispiel in Form großer Demonstrationen wie der parallel zur Internationalen Grünen Woche in Berlin stattfindenden WIR HABEN ES SATT oder durch handfeste Gesetzesänderungen wie derjenigen im Zuge des bayerischen Volksbegehrens RETTET DIE BIENEN. Irgendwie haben sich da die Allgemeinheit und die sich, wie alles andere auch, verändernde und modernisierende Landwirtschaft aus den Augen verloren.

Kuh bis Laden erzählt, Land und Stadt thematisiert und durch den Teddy personalisiert wie emotionalisiert. Die Handschrift ist zwar kitschig, der Inhalt aber zeitgemäß! 15 Selbst das israelische Laborfleisch-Startup Aleph Farms bemüht für seinen Außenauftritt ländliche Szenen. 16 Die medialen Debatten darüber, ob Deutschland oder ›die Welt‹ durch regionale oder durch handwerkliche oder durch ökologische/biologische Produktion zu ernähren wären, seien hier nur erwähnt. Siehe dazu zum Beispiel Wolf (2017) oder Kongresse wie zur jährlichen Messe Biofach in Nürnberg. 17 Wobei bei weitem nicht alle ihrem Wunsch Taten folgen lassen, sprich zum Beispiel die Lücke zwischen Bio-Befürwortern und Bio-Käufern beträchtlich ist. »Der Bioanteil am gesamten Lebensmittelmarkt hat zwar zugenommen, betrug im Jahr 2016 aber lediglich 5%.« (Umweltbundesamt 2018)

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Es wird sich zeigen, ob oder wie mehr Ehrlichkeit möglich ist: Werden sich die Vorstellungen der Verbraucher durch mehr Kontakt mit moderner Produktion in deren Richtung verändern? Oder passt sich die Produktion den Wünschen an, wird wieder handwerklicher produziert – entgegen der allgemein fortschreitenden Technisierung? Oder geht die Schere zwischen SOLL und IST weiter auf? Und das auf allen Seiten: Kleine Hersteller produzieren neben ihrer eigenen Marke auch für Discounter; Bio-Verarbeiter beziehen ihre Rohware aus fernen Ländern; große Händler treten als Wochenmarkt von nebenan auf; Verbraucher sprechen von Hofläden und bestellen auf Amazon Fresh. Ich schreibe diesen Aufsatz nicht händisch, sondern auf einem Rechner, und versende ihn per Mail. Kann ich da von einer Landwirtin verlangen, ihre Kuh von Hand in einen Blechkübel zu melken? Dürfte ich eine solche Szenerie verwenden oder müsste ich eigentlich den Melkroboter zeigen, um für die Produkte einer Molkerei zu werben? Wie kann ich etwas konkret zeigen, auch emotional erlebbar machen, ohne zu arg zu beschönigen oder gar zu lügen? Als Beraterin für regionale Vermarktungsstrategien habe ich täglich damit zu tun, auf welche Art und Weise sich Lebensmittel-Betriebe mit ihren Produkten und Dienstleistungen präsentieren. Letztlich müssen PR und Marketing ›funktionieren‹, sprich: bei der Zielgruppe ankommen, für Umsatz sorgen und damit die Existenz von Unternehmen und Familien sichern. Und das ist eben immer auch eine gesamtgesellschaftlich relevante Gratwanderung zwischen Wissen, Vorstellungen, Ansprüchen, Wünschen, Skepsis und Verhalten – auf allen Stufen der Wertschöpfungskette.

L ITERATUR Grossarth, Jan (2016): Vom Land in den Mund – Warum sich die Nahrungsindustrie neu erfinden muss, Haar: Nagel und Kimche. Haase, Hendrik (2019): »Aussicht: Was passiert wenn Ernährung zum Lifestyle wird...«, online: http://hendrikhaase.com/blog/2019/2/5/food-als-lifestyle (28.04.2020). Habermas, Jürgen (1958): »Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit«, in: Gerhard Funke (Hg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn: H. Bouvier, S. 219-231. Luhmann, Niklas (2002): Vertrauen, Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl., Stuttgart: UTB. Möller, Andreas (2018): Zwischen Bullerbü und Tierfabrik – Warum wir einen anderen Blick auf die Landwirtschaft brauchen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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Rosa, Hartmut (2009): »Kritik der Zeitverhältnisse. Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik«, in: Rahel Jaeggi/Thilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 23-54. Umweltbundesamt (2018): »Marktdaten: Bereich Ernährung«, online: https://www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/konsumprodukte/gruene-produkte-marktzahlen/marktdaten-bereich-ernaehrung (13.2.2019). Wolf, Nadja (2017): »Kann Biolandbau die Menschheit ernähren?«, in: Spiegel Online vom 14.11.2017, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kannoekologische-landwirtschaft-die-menschheit-ernaehren-a-1177968.html (16.03.2020).

Das gute Leben auf dem Land – oder in der Stadt? Raumsemantiken im Kontext von Urbanität, Ruralität und Rurbanität M ARC R EDEPENNING

D AS S TÄDTISCHE K ONSTANTE

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ALS KULTURELLE

Die wertende Unterscheidung von gut und schlecht kennt eine klare Präferenzcodierung (Luhmann 1997: 111). Damit erfüllt sie eine Schematisierungsfunktion, schließlich weiß man halbwegs genau, was gut oder schlecht ist und kann sich in praktischer Hinsicht daran orientieren. Diese zunächst nichträumlichen Codierungen können durch einen Raumbezug erweitert werden, um zu eruieren, wo das ›Gute‹ bzw. das ›Schlechte‹ zu finden ist. Diese Codierung ist auch der raumbezogenen Unterscheidung von Stadt und Land eingeschrieben – wo man also ›gut‹ und wo man eher ›schlecht‹ lebt. Dabei ist eine räumliche Gewissheit entstanden, die die kollektiven alltagsweltlichen Vorstellungen zum Städtischen wie Ländlichen prägt und durchaus als kulturelle Konstante bezeichnet werden kann. Sie besteht darin, dass das gute Leben in der Moderne insgesamt eher auf dem Land stattfindet, während die Stadt jene verräumlichte Stelle markiert, an der die negativen Begleiterscheinungen von Kapitalismus und Industrialismus ihre sichtbarsten (und damit auch: leichter erfassbaren) Manifestationen erfuhren: Man denke nur daran, wie die Stadt der Industriemoderne nicht selten, wenngleich nicht ausschließlich, als Ort des Verbrechens und Lasters, der Unsicherheit und der mangelnden Tugend wahrgenommen und gerahmt wurde (Redepenning/Hefner 2018). Der ›Moloch Großstadt‹ ist – literarisch und filmisch vielfach bebildert und in Szene gesetzt – zum nahezu selbstverständlichen

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Schlagwort geworden, das politische, wissenschaftliche, alltagsweltliche und massenmediale Diskurse durchzieht (Zimmermann/Reulecke 1999) und kulturelle Wahrnehmungen wie gesellschaftliche Ängste zum Ausdruck bringt. Und nicht zuletzt motiviert dieses Bild der Großstadt, das zeigt sich etwa an den verschiedenen Lebensreformbewegungen, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in Abgrenzung zur Großstadt formieren, spezifische Handlungsweisen und Lebensstile (Hengartner 1999). Die damit ex negativo gebildeten und verbundenen Imaginationen und Projektionen des Ländlichen sind – wiewohl kulturhistorisch auf einer weiter zurückreichenden Traditionslinie des Idyllischen fußend – als latente Geographien in ihren gesellschaftlichen Verfestigungen Erbe einer etablierten Großstadtfeindlichkeit (Bergmann 1970). Sie wurzeln, mit Blick auf die Disziplin der Geographie, tief im sog. kulturökologischen Paradigma (Barnes 2003; Redepenning 2007); und ihre Wirksamkeit dauert bis in die 1970er Jahre an, wie Hengartner (1999) für die Volkskunde bzw. Europäische Ethnologie zeigt: Die Stadt vereinzele den Menschen, entreiße ihn einem an gegenseitiger Kenntnis und Unterstützung orientierten Gemeinschaftsleben und entfremde ihn von der Natur – und damit auch, anthropologisch gewendet, von seiner eigenen Natur (Bausinger 1978). Wer also ein gutes Leben leben – oder sich zumindest vorstellen – will, der muss (imaginativ) zurück aufs Land und findet es eben nicht in der Stadt. Heutzutage wird die erkennbare Renaissance dieser Gewissheit auch (und durchaus kritisch) unter dem Stichwort der Neuen Ländlichkeit diskutiert (vgl. Hahne 2011, Redepenning 2013). In diesem Beitrag sollen – quasi als Kontrapunkt zu dieser vermeintlichen Gewissheit – zwei knappe Frage eruiert werden: Findet man das gute Leben auf dem Land heute nicht vielleicht doch eher in der Stadt? Und wenn ja, in welchen räumlichen und sozialen Formen, die auf die Verwobenheit von Stadt und Land abzielen, macht sich das bemerkbar? Um diese Fragen zur gesellschaftlichen Relevanz des guten Lebens auf dem Land (oder in der Stadt) möglichst umfassend und facettenreich zu beantworten, hilft eine ›Verdopplung des Blicks‹. Stadt und Land sind aus zweifacher Perspektive zu betrachten, nämlich einerseits als eine manifeste Geographie: ausgedrückt in einer spezifischen Anordnung von materiellen Elementen wie der gebauten Umwelt oder der Dichte an Menschen mit ihren Körpern. Die jeweilige Anordnung können wir dann aufgrund von Schwellenwerten als städtisch oder ländlich bezeichnen. Andererseits existiert daneben immer auch eine latente Geographie – ausgedrückt in den subjektiven, aber vor allem auch kollektiven Vorstellungen, was das Städtische oder Ländliche je ausmacht bzw. ausmachen soll (siehe bereits oben). Solche latenten Geographien werden nachfolgend mit dem Konzept der raumbezogenen Semantiken sichtbar und bearbeitbar gemacht.

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Nach einer Erörterung der Unterscheidung von manifesten und latenten Geographien soll geschaut werden, was ›gutes Leben auf dem Land‹ und was ›gutes Leben in der Stadt‹ kennzeichnet. Das zentrale Interesse dieses Beitrags ist es zu eruieren, ob und wie Elemente eines ›guten Leben auf dem Land‹ heute in Städten wiederzufinden sind bzw. wie stark Stadt und Land eigentlich verwoben sind – sowohl als latente wie manifeste Geographien. Diskutiert wird dieses Interesse am Beispiel des Urbanen Gartenbaus, einem in der jüngeren Vergangenheit wieder zunehmend populären Phänomen. Mit ihm ist oft eine spezifische Lebenshaltung verbunden, die einen neuen Blick auf das Urbane erzeugt (Müller 2011).

M ANIFESTE UND LATENTE G EOGRAPHIEN DER S TADT -L AND -U NTERSCHEIDUNG Die oben aufgeführte Gegenüberstellung von Stadt und Land im Sinne latenter Geographien findet keine eindeutige Entsprechung in einer manifesten Geographie – in der es gerade vielfältige Übergänge zwischen Stadt und Land gibt. Die gerne gemachte deutliche Trennung zwischen Stadt und Land ist geradezu unangemessen für die Vielzahl von Klein- und Mittelstädten,1 die ja wesentlich die räumliche Struktur der Bundesrepublik markieren – gut 58% der Menschen in Deutschland lebten 2017 in einem dieser beiden ›intermediären‹ Städtetypen (BBSR 2017). Tabelle 1: manifeste Geographien des Städtischen und Ländlichen als Klassifikationsphänomen. Stadt- bzw. Gemeindetyp Großstadt Mittelstadt größere Kleinstadt kleine Kleinstadt Landgemeinde

Fläche in % 3,8 15,8 18,1 27,3 35,0

Einwohner in % 31,8 28,7 15,7 13,5 10,5

BBSR (2017) und eigene Berechnungen

Es sind ja gerade diese Städte, die das Zwischenfeld der polar gebauten Unterscheidung von Städtisch und Ländlich bespielen und umso mehr verdeutlichen, wie wichtig die gelebte Mischung von Stadt und Land als eine körperlich erfahrbare und

1

Als kleine Kleinstadt gelten Orte von 5.000 bis unter 10.000 Einwohner, als größere Kleinstadt von 10.000 bis unter 20.000 Einwohner, als Mittelstadt von 20.000 bis unter 100.000 Einwohner.

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durch Handlungen und Kommunikationen gestaltbare manifeste Geographie ist. Genau an solchen Orten kollabiert die Gegenüberstellung des ›guten Lebens auf dem Land‹ und des ›schlechten Lebens in der Stadt‹. Latente und manifeste Geographien sind zwar, so das hier gemachte Argument, in analytischer Hinsicht strikt auseinander zu halten, gleichwohl bedarf es einer Untersuchung beider, um die Komplexität gesellschaftlicher Raumverhältnisse, wie sie sich eben auch im Verhältnis von Stadt und Land ausdrückt, fassbar zu machen. Worin liegt der Unterschied zwischen manifesten und latenten Geographien? Unter Geographie bzw. Geographien soll nicht die Wissenschaft der Geographie als ein Wissen produzierendes System verstanden werden. Vielmehr ist die räumliche Anordnung von ausgewählten Objekten und deren Attributen an einem Ort gemeint; also ein Ensemble, das in seinem spezifischen Anordnungsgefüge geradezu die besondere Qualität des Ortes (seine local distinctiveness, vgl. Clifford/King 1993) hervorbringt. Eine Geographie des Ländlichen umfasst somit ein Ensemblebündel, das zwar innere Unterschiede kennt, aber dennoch hinreichend Ähnlichkeiten aufweist, um einer Klasse zugehörig sein zu können (z.B.: lockere Bebauung, geringe Versiegelung der Flächen etc.). Und dieses Ensemblebündel kann demzufolge von einer Geographie des Städtischen als eine wiederum besondere, aber eben auch andere Klasse unterschieden werden. Der Begriff der manifesten Geographie bezeichnet die sichtbare und mit klassischen geographischen Techniken kartier- und erfassbare Geographie eines Ortes (vgl. Redepenning 2018). Sie zeigt sich u.a. in der Form von Gebäuden, von Flächennutzungen und von demographischen Strukturen; letztere insofern, dass diese durch die Erfassung von Körpern und ihrer Attribute erstellt werden können. Manifeste Geographien vertrauen also auf die verlässliche Erfassung und In-BeziehungsSetzung von materiellen und überwiegend statischen Elementen (›Lagerungsqualität‹), aus denen man Stadt und Land morphologisch differenzieren kann. Ihre Besonderheit und wohl auch Stärke liegt darin, dass sie materielle Körper anhand von kulturell anerkannten Klassifizierungsalgorithmen zu städtischen oder ländlichen Formen zurechnen kann (ab einer bestimmten absoluten Einwohnerzahl oder bestimmten Bevölkerungsdichtewerten handelt es sich um ›Stadt‹, darunter um ›Land‹).2 Solche manifesten Geographien haben schon allein deswegen ihre Be-

2

Diese Tatsache macht allerdings auch den besonderen ›Reiz‹ der Untersuchung von Klein- und Mittelstädten aus, weil sie die Unterscheidung von Stadt und Land permanent unterhöhlen und destabilisieren (siehe oben). Vgl. in Bezug auf Kleinstädte: Hannemann (2002), Zimmermann (2003), Steinführer (2016), Baum (2020); in Bezug auf Mittelstädte: Schmidt-Lauber (2010).

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rechtigung, weil sie aufgrund der Objektivierung des Mess- und Zählbaren besondere Aufmerksamkeit und Unumstößlichkeit erlangen. Diesen quasi ›klassischen‹ Blick ergänzend lässt sich neben einer manifesten Geographie auch von einer latenten Geographie des Stadt-Land-Verhältnisses sprechen.3 Latente Geographie reflektieren die Grenzen der Fokussierung auf materielle Geographien, eben weil durch letztere allein nicht die komplexe Räumlichkeit von Stadt und Land in Gänze erklärt werden kann. Sie verweisen zunächst darauf, dass sich die Räumlichkeit soziokultureller und kommunikationsbezogener Prozesse nicht vollumfänglich in den Blick nehmen lässt, wenn die Vorstellungen, Imaginationen oder Bedeutungszuweisungen über und an Orte bei einer wissenschaftlichen Analyse ausgeblendet werden und unberücksichtigt bleiben. Es ist, und das zeigt eine lange Forschung im Schnittfeld von Geographie und Psychologie, unbestritten, dass diese wahrgenommenen und kommunizierten Informationen die Einstellung von Menschen zu Orten und ihr Handeln in diesen Orten beeinflussen (Lynch 2001, Downs/Stea 1982). Zentrale Elemente der Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Geographien sind in der nachfolgenden Abbildung noch einmal paraphrasierend aufgeführt: Tabelle 2: Unterschiede manifester wie latenter Geographien. Manifeste Geographien Räumliche Anordnung materieller Objekte Sichtbare Geographie des Ortes Messbar und zählbar Abbildend und nachzeichnend

Latente Geographien Räumlichkeit des Soziokulturellen in Kommunikation Raumgebundene Vorstellungen, Imaginationen und Bedeutungszuweisungen Qualitativ erfassbare Informationen, Kommunikationen und Einstellungen Potenzial für die Veränderung materieller Geographien

Eigener Entwurf

Die gerade diskutierten latenten Geographien sind letztlich das Ergebnis der Wirksamkeit von raumbezogenen Semantiken (oder Raumsemantiken) über bestimmte Räume und Orte sowie andere raumbezogene Ordnungskategorien (wie eben Stadt

3

In Redepenning (2018) habe ich diese Form des Stadt-Land-Verhältnisses noch unter dem Adjektiv ›versteckt‹ abgehandelt, um besser an die entsprechende Wortwahl in der Wissenschaftsgeschichte der Geographie anschließen zu können. Sie erscheint mir hier aber nicht zielführend zu sein.

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und Land). Raumbezogene Semantiken bezeichnen einen allgemein verfügbaren kulturellen Vorrat an diskursiven (bildlichen, narrativen, argumentativen etc.) Mitteln, um Raum kommunikativ zu ordnen.

L ATENTE G EOGRAPHIEN ALS E RGEBNIS S EMANTIKEN

RAUMBEZOGENER

Was aber sind raumbezogene Semantiken und welche Rolle kommt ihnen zum Verständnis von Raum im Allgemeinen sowie von Stadt und Land im Besonderen zu? Raumbezogene Semantiken finden ihren Ausdruck in den verschiedensten medialen Formen, in Texten und Dokumenten, Bildern und Filmen, politischen Pamphleten und wissenschaftlichen Analysen etc. – und werden dadurch nicht nur ins kollektive Gedächtnis aufgenommen und verinnerlicht, sondern auch beständig verfügbar gehalten und anwendbar gemacht (Hefner/Redepenning/Dudek 2018). Sie teilen uns mit, wie zwei zentrale gesellschaftlichen Raumverhältnisse, nämlich Stadt und Land, zu kalibrieren sind, so dass »man relativ situationsunabhängig eine Ahnung und Vorstellung von den Inhalten« (Redepenning/Wilhelm 2014: 319f.) der Orte bzw. Raumkategorien hat. Über Kommunikation binden sie bestimmte Eigenschaften an Räume oder materielle Objekte und lassen so einen Raum der Kommunikation (Redepenning 2006) entstehen. Als solche sind sie gewissermaßen ›Leistungsangebote‹, erarbeitet von spezifischen individuellen und kollektiven Akteuren, um dann für mehr oder minder spezifizierte Auditorien die Erwartungshaltungen an Orte und Regionen zu steuern und Ortszukünfte vorzubereiten (vgl. auch Healey 2004: 43). Insofern können raumbezogene Semantiken unseren alltäglichen Handlungen praktische Gewissheit und Orientierung geben – und somit eben auch manifeste Geographien verändern. Abb. 1: raumbezogene Semantiken.

Eigener Entwurf

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Raumbezogene Semantiken haben in der hier vorgeschlagenen Verwendung insgesamt fünf Potenziale, die in concreto je unterschiedlich genutzt werden können: 1.) Sie rahmen, prägen und formen unsere Einstellungen und Erwartungen bestimmten Orten gegenüber. Dabei können sie sowohl gemachte und gelebte Erfahrungen vor Ort kondensiert wiedergeben. Darüber hinaus können sie aber auch gerade dazu anregen, Orte überhaupt erst zu erkunden und somit das Leben in manifesten Geographien anleiten (siehe Potenzial 3). 2.) Durch die in ihnen erstellte Semantisierung von manifesten Geographien geben sie den sie nutzenden sozialen Systemen Orientierung. Das geschieht oft in einem zweiseitigen Komplex. Einerseits reduzieren sie unweigerlich die Komplexität von Räumen und Orten, indem sie spezifische Aspekte von deren Mannigfaltigkeit auswählen. Andererseits konkretisieren sie räumliche Teilaspekte, indem sie spezifische Bedeutungen an diese geben. 3.) Dieser letzte Aspekt sorgt dafür, dass sie nicht einfach nur folgenlose Kommunikationen sind. Als einflussreiche Vorstellungen spannen sie einen Rahmen auf, der auch Handlungsanweisungen, Leitbilder und Ziele zur Verwirklichung in der Zukunft formulieren kann. Sie sind keine Abbilder, sondern kreative Konstruktionen, mit denen an der Umgestaltung alter oder der Erschaffung neuer manifester Geographien und damit auch an der Entwicklung von Ortszukünften gearbeitet werden kann. 4.) Raumbezogene Semantiken sind von ihren Inhalten her zahlreich und flexibel. Insofern verwundert es nicht, dass es recht unterschiedliche Semantiken für ein gleiches Objekt einer manifesten Geographie gibt: Ihr Variantenreichtum ist das Ergebnis der Semantisierungsbemühungen unterschiedlicher sozialer Systeme über die gleichen manifesten Geographien. 5.) Schließlich beinhalten Raumsemantiken nicht selten eine moralische Geographie. Sie codieren ihre kommunikativ erzeugten Räume häufig im Schema von gut/schlecht, von besser/schlechter oder mit mehr oder weniger Achtung (und im Extremfall auch Ächtung) gegenüber anderen Räumen. Sie bauen damit Rangordnungen über Räume, die auf eine entsprechende Anerkennung und Wertschätzung dieser verweisen. In den nachfolgenden Abschnitten wird kurz auf Raumsemantiken des ›guten Lebens‹ auf dem Land und in der Stadt eingegangen. Dabei liegt der Fokus insbesondere auf den Potenzialen 3, 4 und 5 (also: Leitbilder für Ortszukünfte, Wandelbarkeit und Temporalisierung/moralische Codierung) von Raumsemantiken.

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Das gute Leben auf dem Land Das gute Leben auf dem Land, wohlgemerkt als kollektiv wirkende Raumsemantik, wird als idyllische Ländlichkeit gerahmt (Baumann 2018). In dieser Raumsemantik zeigt sich u.a. eine rückwärtsgewandte Glorifizierung von Handwerklichkeit, von ›nahen‹ und nicht technologisch mediatisierten (quasi: organischen) Mensch-NaturVerhältnissen, die im Einklang mit Verlauf und Wiederkehr der Jahreszeiten stehen bzw. sich nach diesen richten – ein Motiv, das übrigens auch in entsprechenden Hochglanzmagazinen mit Blick auf Jahreszeiten und Saisonalität aufgenommen wird (ebd.: 139ff.). Sie hebt dabei auch die Übersichtlichkeit, Einfachheit und Ruhe, die man im Ländlichen vermeintlich findet, hervor und bildet sie zugleich zum Idealbild heraus, das in sozialer Dimension seine Entsprechung in der räumlich gedachten »Gemeinschaft« findet. Denn gerade diese Vorstellung der (ländlichen) Gemeinschaft baut auf der Gleichsetzung physisch-räumlicher Nähe mit moralischer Nähe auf (vgl. Bauman 2009: 142) 4 In dieser Kombination gestaltet sich das Ländliche (mit seinem überhöhten Ideal des Naturnahen) durchaus als Möglichkeitsraum, der funktional als Prozess eines Zu-Sich-Selbst-Findens des Menschen vorgestellt und aufgefasst werden kann. Das gute Leben auf dem Land schafft somit Distanz zur Stadt oder zu dem,

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Dieser Raumsemantik steht diametral die Rahmung des Ländlichen als Ort der Dystopie und als zu vermeidender Ort gegenüber: Das Ländliche markiert und imaginiert dabei eine Stelle, an der das gute Leben insofern absent ist, als dass es keinen Hintergrund darstellt, überhaupt ein gutes Leben ins Auge fassen und leben zu können. Das Ländliche wird hierbei als ein Raum gedacht und vorgestellt, in dem und durch den Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung – verstanden als Grundlagen des guten Lebens und des Wohlbefindens – ihre ›Verunmöglichung‹ erfahren. Das mag daran liegen, dass soziale Kontrolle und mehrheitsgesellschaftliche Vorgaben persönliche Freiheitsgrade einschränken; oder dass die technisch- und sozialinfrastrukturellen Voraussetzungen, kombiniert mit eingeschränkten Arbeitsmärkten, hier limitierend wirken. Hinzu kommt, dass die ökologischen Verhältnisse im Ländlichen (z.B.: industrialisierte Landwirtschaft mit korrespondierenden Schadstoffeinträgen und Emissionen sowie ästhetische ›Herausforderungen‹ großflächiger Infrastrukturen der Ver- und Entsorgung etc.) keineswegs als ›gut‹ wahrgenommen werden; eine Perspektive, die gerade auch in Zeiten einer sich verschärfenden Klimakrise und Klimadiskussion vermehrt gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommt.

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was die Raumsemantik der Stadt – nicht zuletzt auch als zentralem Ort und Symbol der Moderne – so hergibt (Hahn 2004: 59). Die »wahrhaft organische Zeit des idyllischen Lebens wird hier«, so schreibt Michail Bachtin mit Blick auf den Chronotopos der Idylle, wie er in literarischen Texten zum Ausdruck gebracht wird und doch auch die allgemeinen Vorstellungswelten prägt, »der hastigen und zerstückelten Zeit des Stadtlebens oder gar der historischen Zeit gegenübergestellt« (Bachtin 2008: 164). Es ist in dieser Diskussion insgesamt auffallend, dass die Wissenschaft quasi eine deskriptiv-registrierende Funktion einnimmt, die die im Alltag wirksame Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land auf- und nachzeichnet. Was jedoch fehlt, ist ein normativ-proponierendes Nachdenken über das gute Leben auf dem Land – wie das gute Leben dort eben sein sollte. In jüngeren Debatten hat sich zwar Mark Shucksmith (2018) der Herausforderung angenommen – und doch ›nur‹ in Übernahme von Gedanken Ash Amins (2006), auf die gleich eingegangen wird. Es bleibt festzuhalten: Die Frage nach dem guten Leben auf dem Land harrt einer tieferen Auseinandersetzung (vgl. dazu Rössel 2014 mit der klaren Ansage, auf normative Überlegungen zum guten Leben verzichten zu wollen). Das gute Leben in der Stadt Demgegenüber kann das auch normativ durchzogene wissenschaftliche Nachdenken zum guten Leben in der Stadt auf recht konsolidierte Beiträge blicken. Der gute urbane Ort hat offen und durchlässig für seine Nutzung durch alle sozialen Gruppen, die ihn beleben und der ihnen Herberge bietet, zu sein (Pow 2009: 94). Für Iris Marion Young (2011) kann dieses gute Leben nur dann gegeben sein, wenn Unterschiede und Unterschiedliches (als normative Betonung von difference) gegeben sind. Thomas Sieverts spricht in seinem Buch zur Zwischenstadt (Sieverts 2008: 32ff.) von fünf Dimensionen, die historisch und mit Blick auf die ›alte‹ und ›europäische‹ Stadt deren ›gute‹ Seiten markieren – auch wenn sie den je vorherrschenden gesellschaftlichen Raumverhältnissen und Entwicklungen immer wieder angepasst werden sollten: 1.) Urbanität (als eine kosmopolitische und tolerante Haltung der Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt), 2.) Zentralität (als mehrfacher Bedeutungsüberschuss der Stadt in ihr Umland, sei es kulturell, ökonomisch oder sozial), 3.) Dichte (die sowohl baulich wie mit Blick auf die Häufigkeit sozialer Kontakte definiert werden kann), 4.) Mischung (quasi als Komplement zur Dichte, nun aber auf die Variation und Unterschiedlichkeit der Elemente abzielend: die Stadt vereint unterschiedliche Nutzungen und Funktionen in oft räumlicher Nähe) und 5.) Ökologie (d.h.: ein Verständnis dafür, dass sich abiotische und biotische Umwelt bzw. Natur und Stadt nicht ausschließen, aber neue Formen zu finden

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sind, wie Kultur und Natur in der Stadt ressourcensparend zusammengeführt werden können). Was insbesondere mit dem fünften Punkt bei Sieverts angedeutet ist, dass sich nämlich die Raumsemantiken von Stadt und Land in Mischung befinden und damit neue Konstellationen zwischen Stadt und Land formen, wird auch in den Arbeiten von Ash Amin (2006) zur guten Stadt aufgenommen. Während aber Sieverts auf die Bedeutung von ›Natur‹ und materieller Umwelt rekurriert, thematisiert Amin die soziale und kulturelle Dimension. Amins Ideen zur guten Stadt sind geradezu durchdrungen von Inhalten dessen, was man eigentlich der Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land zuschreibt. Auch bei ihm entsteht – wenngleich er dies nicht direkt anspricht – eine neue Kombinatorik von Stadt und Land, die sich wohl am besten mit dem Begriff der Rurbanität umreißen lässt (Langner/Frölich-Kulik 2018). Nach Amin sind die übergeordneten Ziele des guten Lebens in der Stadt auf eine Steigerung des Wohlbefindens, des Gemeinschaftserlebens und des GlücklichSeins ausgerichtet. Um das zu erreichen, sind vier sogenannte »Register« urbaner Solidarität Schritt für Schritt umsetzen: Reparieren, In-Beziehung-Setzen, Rechte und (Wieder-)Verzauberung bzw. Entzückung. Abb. 2: Aspekte des guten Lebens in der Stadt.

Eigener Entwurf nach Amin (2006)

1.) Reparieren (repair): Nicht nur, wie man gewohnt ist zu denken, die technischen Infrastrukturen und allgemeine technische Verhältnisse, sondern ebenso und insbesondere die sozialen Infrastrukturen und sozialen Verhältnisse (auch kulturelle

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Identitäten) in Städten bedürfen ständiger Reparatur, um für die Stadtgesellschaft nützlich zu bleiben (vgl. Sennett 2012). Aber was soll durch wen und wie repariert werden; wer soll nach welchen Gerechtigkeitsprinzipien von diesen Reparaturen profitieren? Amins Konzeption zielt insgesamt auf eine Kultur der Wertschätzung des Reparierens ab. 2.) In-Beziehung-Setzen (relatedness): Amin betont, dass gutes Leben eine Funktion der Intensität des Erfassens der Verflochtenheit (›Relationalität‹) unseres Lebens sei. Unser Hier-Sein, seine Möglichkeiten und Beschränkungen, wird wesentlich durch das Leben und die Arbeitsbedingungen von Anderen, die woanders leben und arbeiten, bestimmt. Wir stehen mit zahlreichen anderen Orten in einer nur schwer aufzulösenden Beziehung. Das ›Außen‹ ist aufgrund der globalen Vernetzung dann als wichtiger, oft aber auch übersehener Teil des ›Innen‹ zu sehen (Callon/Law 2004) – und entsprechend zu wertschätzen (Amin 2006: 1016). 3.) Rechte (rights): Die in den ersten beiden Punkten angestoßene Debatte um Wertschätzung und Anerkennung müsse, so Amin, in kodifizierte Rechte münden, so dass alle Menschen von den Vorteilen urbanen Lebens profitieren bzw. müssen Gruppen zukünftig geschützt werden, wenn sie aktuell benachteiligt werden und kumuliert die Lasten urbanen Lebens zu tragen haben. Besondere Aufmerksamkeit sei daher auf die Partizipationsmöglichkeiten in urbanen Planungs- und Entwicklungsprozessen zu legen; aktuell bliebe zu häufig die Stimme der Benachteiligten in der Stadtgesellschaft unerhört und unberücksichtigt – und dies strukturell. 4.) Verzauberung und Entzückung (re-enchantment): Ein wesentliches Element in der Wahrnehmung und Erfahrung eines guten Lebens speist sich daraus, dass Menschen fähig sind, sich selbst zu entzücken und zu verzaubern. Dafür bedarf es im städtischen Kontext angemessener räumlicher Rahmungen, die geschaffen oder aufrecht erhalten werden müssen, etwa durch die Förderung von kleinräumig organisierten Vereinigungen und Vereinen sowie der gemeinschaftlichen Nutzung des Öffentlichen Raumes (quasi als ›nachbarschaftliche‹ Grundhaltung). Als Beispiele hierfür nennt Amin Trödelmärkte, Klubs, Vereine, Büchereien etc. Der Kern der Forderung nach Entzückung durch sich selbst besteht darin, dass diese Räume und Veranstaltungen nicht unter dem Dogma eines profitorientierten, exklusiven Spektakels stehen dürfen (Debord 1978) und Kleinheit sowie Übersichtlichkeit betonen. Man erkennt recht gut, wie in Amins Vorschlägen Elemente der oben knapp beschriebenen Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land zur Neuausrichtung von Städten und zur Gestaltung städtischer Zukünfte genutzt werden: Handwerklichkeit, Zusammenhalt, Sich-Kennen. Das alles wird zwar von Amin in einer neuen Sprache verpackt, aber der Umstand kann nicht davon ablenken, dass mit seinen Vorschlägen eine idyllorientierte Ruralisierung des Urbanen vorangetrieben wird – (zumindest) auf raumsemantischer Ebene.

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RURBANE K ONDITION ALS ZUKÜNFTIGES , ABER SICH AUS DER V ERGANGENHEIT SPEISENDES ( UND GUTES ) L EBEN ? Die dadurch entstehenden rurbanen Strukturen als eine empirisch bestimmbare manifeste Geographie werden von Amin dezidiert als Zukunftsprogramm angesehen, doch kann man heute schon erkennen, wie sie in Städten wirken und wie mit ihnen auch Momente sozialer Innovation einhergehen können.5 Als ein Beispiel für derartige rurbane Strukturen, bei denen die Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land ihre Funktion als ein Leitmotiv für Ortszukünfte ausspielt, soll abschließend auf das Phänomen des Urbanen Gartenbaus am Beispiel der Stadt Bamberg eingegangen werden. An dem Beispiel kann auch gezeigt werden, wie die oben beschriebene Raumsemantik des Ländlichen in der Lage ist, vergessene oder nur rudimentär erhaltene städtebauliche und funktionale Strukturen in Mittelstädten zu revitalisieren. Die aktuell erkennbare Renaissance des Urbanen Gartenbaus verdeutlicht geradezu exemplarisch, wie die Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land in Städten übersetzt und umgesetzt wird (Redepenning 2018). Gerade der Urbane Gartenbau verweist darauf, wie sich vermeintlich klare Grenzen zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen verflüssigen und ›das Dorf in der Stadt‹ zu finden ist (vgl. zu diesem alten Topos nun auch Rossol/Vogelpohl 2019). Der kommerzielle Urbane Gartenbau ist als ein gelebter Ausdruck von Rurbanität zu verstehen und kann in Bamberg bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt werden (Scheinost 2009). Er ist mehr als reines Relikt und markiert mit seinen traditional food networks das materielle und immaterielle Welterbe der Stadt. Zugleich sind in den letzten Jahren alternative Formen des Urbanen Gartenbaus aufgekommen, die gänzlich neue Akteurskonstellationen hervorgebraucht haben (vgl. Keech/Redepenning 2020). So wurde in Bamberg als Teil der übergeordneten lokalen ›Transition‹-Bewegung im Jahr 2016 ein sog. Selbsterntegarten – als Form alternativer Lebensmittelnetzwerke – gegründet. In ihm werden vor allem (lokale) Gemüsesorten von engagierten und hochmotivierten, aber im Gartenbau letztlich ›unerfahrenen‹ Personen angebaut (überdies fast ausschließlich Akademiker). Dazu haben sie die Unterstützung eines kommerziellen Gärtners, der sich – durchaus gegen den Widerstand und die Skepsis aus der eigenen Profession – bereit erklärt hat, ein aktuell brachliegendes Stück Land (mit 1.300m2) dem Selbsterntegarten zu

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Siehe zur politischen Dimension dieser mit dem Ländlichen verknüpften Vorstellungen in der Stadt auch die beiden Publikationen des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: GRÜNBUCH STADTGRÜN (BMUB 2015) sowie WEISSBUCH STADTGRÜN (BMUB 2017).

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verpachten. Ferner übernimmt er die Bewässerung der Felder und gibt den Leuten Hilfestellungen beim Erlernen der Kulturtechnik des Gärtnerns. In Interviews wird deutlich, dass die beteiligten Personen viel Wert auf Prozesse des Lernens, des Teilens von Wissen, des »Überrascht-Werdens« (Serendipität) durch neue Wissensbestände legen und ihre »reparierenden« Kooperationen (vgl. Sennett 2012) ebenso betonen wie die Existenz und Hervorbringung von Gemeinschaftsgütern (sog. Commons). Gleichwohl wurden sie anfangs von den professionellen Bamberger Gärtnern als Verrückte und ›Hippies‹ abgetan, deren Projekt schlicht zum Scheitern verurteilt sei, weil ihnen Professionalität und Ehrgeiz fehle. Es sind gerade diese Akteure, die mit ihren zentralen Orientierungspunkten – offen, zukunftsorientiert, nachhaltig – gar nicht so sehr in voller Absicht, aber letztlich doch inhaltlich erstaunlich übereinstimmend auf die Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land zurückgreifen. Wichtiger als der reine Rückgriff ist aber die Tatsache, dass sie diese Raumsemantik zukunftsorientiert in urbane Kontexte projizieren und anwenden. Sie forcieren den Nutzen handwerklichen Arbeitens (um seiner selbst Willen) in der Stadt. Sie betonen die Notwendigkeit, sich zu entschleunigen und realisieren dies durch die Praxis des Gärtnerns – mit Respekt vor der Eigenzeitlichkeit (vgl. dazu Reheis 2016) und Eigenräumlichkeit der angebauten Sorten. Zugleich entdecken und (er)leben sie das alte Idyll, das auf das harmonische und in sich verbundene Zusammenleben von Mensch und Natur abzielt, in neuer Weise und an neuem Ort, wo man es erst einmal nicht erwartet. Es ist, etwas zugespitzt formuliert, der Ausdruck des Versuchs, ein Leben näher an der Natur und ›dem Land‹ zu führen – jenseits vom Kitsch des sehnsüchtig rückwärtsblickenden Idylls der Neuen Ländlichkeit. So begrenzt und möglicherweise auch transitorisch das Phänomen sein mag: Das Projekt des Selbsterntegartens schafft es, eine neue Anerkennung und Wertschätzung des Urbanen Gartenbaus zu fördern. Möglicherweise findet man darin den Ansatz eines Prototypus oder eines Inkubators für das gute (nun rurbanisierte) Leben in Städten – ein Leben, das wesentlich durch die Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land motiviert ist. Aber diese Raumsemantik wird einer neuen inhaltlichen Deutung unterzogen: Die Bewahrung und behutsame Entwicklung »des Alten« (eben nicht dessen einfacher Erhalt oder seine Kopie!) wird als Schlüsselfaktor zur Gestaltung der Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften betont. Was man an dem knapp geschilderten Beispiel beobachten kann, ist, metaphorisch gesprochen, fast schon eine kleine Apologie der Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land – und zwar nun im Rahmen einer Adaption an die konkreten manifesten Geographien der Stadt. Was genau hat sich an dieser Raumsemantik nun gewandelt? Erstens ist die Richtung ihrer Zeitlichkeit verändert worden: nämlich von der Orientierung an der Vergangenheit zu Vorgaben zur Gestaltung der Zukunft. Die

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Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land ist ja generell in die Vergangenheit gerichtet – und das wird üblicherweise als konservativ oder gar reaktionär kritisiert (grundsätzlich Williams 1973). Umso interessanter wird es sein, zu schauen, welche Konsequenzen es hat, wenn diese raumbezogene Semantik – dann modifiziert – auf die Zukunft hin ausgerichtet wird und welche transformatorischen Fähigkeiten sie aufbauen kann (Levitas 2013, Shucksmith 2018). Zweitens kann die in der Raumsemantik ausgedrückte Handwerklichkeit als eine selbstgenügsame und auf die Wiederentdeckung einer ›tiefen‹ Beziehung zu den Dingen ausgerichteten Einstellung gesehen werden, ohne zugleich den üblichen und erwartbaren Technologieskeptizismus implizieren zu müssen. Das bietet dann Anschlussfähigkeit an Konturen der Postwachstumsdebatte (Kallis 2011, Welzer 2013), an die Diskussion um das Handwerk und das damit verbundene Zusammenspiel von Hand und Kopf bei Sennett (2012) sowie übergeordnet an Diskussionen zur Resymmetrisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur (Latour 1996).

F AZIT : D AS GUTE L EBEN AUF DEM L AND ( NUR NOCH ) IN DER S TADT ? Es wird umso deutlicher, dass sich neue räumliche Gewissheiten zum Verhältnis von Stadt und Land herausbilden und nachhaltig die kulturell so wirksame Trennung von Stadt und Land ablösen. Damit geht auch die Erosion der Gewissheit einher, dass sich das ›gute Leben‹ tatsächlich und in Reinform auf dem Land abspiele: Möglicherweise realisiert und manifestiert sich dieses gute Leben sogar und vor allem auch vermehrt in Städten – wenngleich alles andere als dominant, sondern in Nischen und den mit ihnen verbundenen Keimzellen. Vielleicht mag man formulieren, dass Städte, die die rurbane Kondition stärken, sich eine manifeste Geographie schaffen, die als Voraussetzung zur Realisierung der Register des guten Lebens, von denen Ash Amin spricht, wirken kann. Die eigentliche Stärke jener Städte mit ihren ruralen Oasen und Inseln liegt darin, dass sie es verstanden haben, die einflussreiche Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land in sich aufzunehmen und für sich zu nutzen; und zwar indem sie diese angemessen adaptieren – wohlwissend, dass hier noch viel zu tun ist6 – und damit zugleich in innovativer Weise an den Schnittstellen des Lebens in Stadt und Land arbeiten.

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Ausgeblendet bleiben dabei zumeist die Themen und Probleme sozialer und räumlicher Ungleichheit bzw. sozialer und räumlicher Gerechtigkeit. Vgl. hierzu etwa Redepenning (2013) sowie Redepenning/Singer (2019).

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Unklar bleibt dabei jedoch auch, welche Konsequenzen der Siegeszug der Rurbanität in Städten für ländliche Regionen hat. Denn: So sehr nun in Städten soziale und ökologische Nachhaltigkeit und eine lokal eingebettete Erzeugung von Nahrungsmitteln stattfinden und damit eine neue Beziehung zur Natur einhergeht: So unwahrscheinlich ist es, dass die Erzeugnisse beispielsweise des Urbanen Gartenbaus (in welchen Varianten er auch immer bespielt wird) zur Versorgung von Städten ausreichen – und das noch nicht einmal in Mittelstädten wie Bamberg mit 77.000 Einwohnern. Insofern bleibt das Land als Ort der Agrarproduktion (Opitz et al. 2016) und Standort großflächiger Infrastrukturen eine condition sine qua non auch für das neue gute und rurbane Leben in der Stadt. Die Agrarproduktion auf dem Land markiert – und dies selbst wiederum in polit-ökonomischer Konstanz – die ›unsichtbare‹ (und auch vernachlässigte) Kraft, die das Urbane erst zum Urbanen werden lässt. Aber sie tut dies, indem sie sich mit wachsender Geschwindigkeit in ihren manifesten Geographien von ihrer latenten Geographie der Raumsemantik des guten Lebens auf dem Land entkoppelt – das, so habe ich zu zeigen versucht, seine Blüte umso deutlicher in Städten findet. Wenn sich diese Raumsemantik nun immer deutlicher in den manifesten Geographien der Städte zeigt, dann manifestiert sich ein ungewohnter Blick: dass man in Zukunft das gute Leben auf dem Land eher in der Stadt findet und die gesellschaftliche Relevanz ländlicher Lebenswelten mitsamt ihrer dazugehörigen materiellen Geographien zunehmend erodiert. Das allerdings sind nicht nur gute Aussichten.

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Stadt, Land, Landschaft Ein Essay über Gegenwart und Zukunft ländlicher Räume M ARTA D OEHLER -B EHZADI

Fragt man nach dem ländlichen Raum, erhält man unweigerlich die Gegenfrage: Und was verstehen Sie eigentlich darunter? Auf diese Weise wird nicht selten eine Diskussion beendet, bevor sie richtig begonnen hat. Denn eine Einteilung, mag sie noch so viele Indikatoren berücksichtigen, bleibt unweigerlich redundant. Städtische und ländliche Strukturen überlagen sich: am Stadtrand selbst der größten Städte, in Vororten, siedlungsartigen Beständen oder dem Siedlungsbrei der Speckgürtel. Mehr noch: Das Land wird mehr und mehr urban, die Stadt ›verländlicht‹. Stadt und Land durchdringen und verschränken sich zunehmend ineinander. Eine Definition des ländlichen Raums verhält sich daher wie ein Vexierbild, das umspringt, je nachdem, was man sehen will. Sie ist vor allem davon abhängig, worauf die Aussage zielt. Dieser Artikel zielt auf eine positive Zukunftsbestimmung für ländliche Räume. Thüringen ist ländlich geprägt. Eine dichte Siedlungsstruktur mit aktuell 634 Gemeinden, darunter 118 Städten, ergibt bei etwa 2,14 Mio. Einwohnern eine durchschnittliche Einwohnerzahl von 3.375 pro Gemeinde – und dabei ist die Zahl der Gemeinden durch freiwillige Zusammenschlüsse in den letzten Jahren schon deutlich gesunken. Die Internationale Bauausstellung Thüringen nennt dieses Gefüge StadtLand. Alle drei Kilometer ein Dorf, alle 30 Kilometer eine Stadt, selbst die größten Städte sind nicht wirklich groß – das ist Thüringen. Unzweifelhaft findet man hier auch ›die Stadt‹, zum Beispiel mit Erfurt und seinem wunderbaren historischen Stadtkern sowie den in weiten Teilen bemerkenswert aufgeräumten und städtebaulich intakten Quartieren. Daneben gibt es eine Vielzahl von Mittelstädten, häufig frühere Residenzen jeweils mit Markt, Straßen und Gassen, Schloss, Museum und Theater. Städte voller Eigenschaften. Weimar ist wohl die berühmteste unter ihnen. Und ebenso eindeutig gibt es ›das Land‹ mit zahllosen dörflichen Kernen in einer vielfältigen Landschaft.

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Abb. 1: Die mittelgroße Stadt Eisenach, von der Wartburg überragt, steht beispielhaft für zahlreiche andere historische Residenzen im StadtLand Gefüge Thüringens.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

In einem Thüringer Dorf findet man all die bekannten Requisiten ländlichen Wohnens und Lebens: Schieferdächer, Fachwerkbauten und Geranientöpfe auf Fensterbänken; aber eine Bauersfamilie, die während der Ernte am Feldrain Brotzeit auf einer karierten Tischdecke macht, wird man nicht entdecken. Eher schon die städtischen Ausflügler bei ihrem Picknick. Etwa 800.000 Hektar werden in Thüringen landwirtschaftlich genutzt (Thüringer Landesamt für Statistik 2018), das ist die Hälfte der Landesfläche, aber nur etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft (Thüringer Landesanstalt für Landwirtschaft 2018: 8). Nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land ist die überwältigende Mehrheit der Menschen unabhängig von der agrarischen Produktion, den saisonalen Rhythmen des Wetters oder dem Tageslauf der Tierpflege. Wie die Städter kaufen die Landbewohner im Supermarkt ein und pendeln mit Auto, Bus oder Bahn zur Arbeit, sie fliegen zu ihren Urlaubszielen weltweit und lassen sich online bestellte Waren direkt nach Hause liefern. Das Verschwinden der klassischen industriellen und bäuerlichen Arbeit und mit ihr der traditionellen proletarischen und bäuerlichen Milieus, ihrer gesellschaftlichen Institutionen, Riten und Werte und die neuen Arbeitswelten und Kommunikationsstrukturen lassen den Alltag in Stadt und Land ähnlich werden. Das ist in Thüringen genauso wie in zahlreichen anderen Regionen Deutschlands und Europas.

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Abb. 2: Das Leben im Dorf ist von der agrarischen Produktion weitgehend entkoppelt.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

F ORTSCHRITTLICHE S TADT ,

ZURÜCKGEBLIEBENES

L AND ?

Stadt und Land kommen uns historisch als Gegensatz daher, sie beziehen ihren Charakter aus der Unterschiedlichkeit. Am Ausgang des Mittelalters verlagert sich der Ort des Fortschritts vom ländlich verankerten Feudalsystem in die Städte. Handwerk und frühkapitalistische Produktionsweisen, Handel und kultureller Austausch, Akkumulation von Kapital und Wissen, geistige und physische Mobilität, die auf der Unabhängigkeit vom Grund- und Leibeigentum fußte, brachten die Städte in die Favoritenrolle gesellschaftlicher Entwicklung. Das Land fand sich in einer nachrangigen Position wieder, wirkmächtig charakterisiert durch den ›Idiotismus des Landlebens‹ (Marx/Engels 1848).1 Industrialisierung und Urbanisierung des 19.

1

So heißt es im MANIFEST DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI: »Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grad vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.« (Marx/Engels 1848: 6) Wobei festzuhalten ist, dass Idiotismus im damaligen Sprachverständnis vor allem als ›Beschränktheit‹ zu verstehen und somit nicht gleichbedeutend mit ›Dummheit‹ im heutigen Verständnis ist.

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und 20. Jahrhunderts bescherten den Städten Einwohnerzuwachs und ein rasantes Flächenwachstum, die Moderne äußerte sich in technischen Innovationen, Beschleunigung und künstlerischer Avantgarde, gelebt in städtischen Zentren und Metropolen. Abb. 3: ›Hidden Champion‹ im Thüringer Vogtland: Der Firmensitz der weltweit agierenden Bauerfeind AG.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

Dieser Urbanisierungsschub veränderte freilich nicht nur das Land, sondern auch die Stadt in ihrem Wesen. »Mit dem Aufschwung der Industrie und der Ausdehnung des Marktes wurde die historische Stadt von allen Seiten angegriffen.« (Schmid 2010: 136)2 Die bis dahin ummauerte Stadt sprengte ihre Grenzen und wuchs sich zur Agglomeration aus: »Die Urbanisierung zeigt sich so in ihrer doppelten Bedeutung: einerseits als monströse Ausbreitung urbaner Gebiete, anderseits als ›Eroberung‹ und teilweise Zerstörung der historischen Stadt, die vor dem Kapitalismus existierte.« (Ebd.: 136f.) Christian Schmid erläutert die von Henri Lefebvre dargestellte Phase der Stadtentwicklung mit dessen Begriffen der Implosion und Explosion. »Die Nicht-Stadt und die Anti-Stadt erobern die Stadt.« (Ebd.: 137)

2

Christian Schmid nimmt in seinem Buch STADT, RAUM UND GESELLSCHAFT eine umfassende Rekonstruktion des Werkes LA PRODUCTION DE L’ESPACE von Henri Lefebvre (1974) vor, insofern sind die Zitate stets auch Verweise auf dieses Werk.

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Das in der Profession der Stadtplanung Deutschlands in den letzten Jahren zum Axiom erhobene Erklärungsmodell der Europäischen Stadt schreckt vor diesen Phänomenen zurück und betont Eigenschaften wie den räumlichen Zusammenhang und soziale Nähe sowie funktionale Durchmischung. Ja die Europäische Stadt versteht sich als Statement, wenn nicht Strategie gegen allseits drohende und tatsächlich stattfindende Prozesse der Segregation. Aber sie kann eben nicht alles erklären, weil die Europäische Stadt vernachlässigt, was ihrer Modellhaftigkeit zuwider läuft. Der Schweizer Theoretiker André Corboz fragt ironisch: »Und wie steht es mit unserer Wahrnehmung der ›Peripherie‹? Die Peripherie bringt uns in Rage, weil wir in ihre keine Logik erkennen können. So verwerfen wir sie als visuelles Chaos. Die Peripherie ist eine einzige skandalöse Unordnung, wohingegen die Stadt – die alte Stadt – eine einzige freudige harmonische Einheit ist.« (Corboz 2001: 71)

Und genau das wird zum Webfehler im städtischen Gefüge erklärt: Schrumpfung und Auflockerung, Perforation und disperse, fraktale Siedlungsstrukturen oder Brachen. Das Erklärungsmodell der Europäischen Stadt ist in seinem Wesen nach innen gerichtet und scheut den Blick nach außen; es grenzt sich ab, anstatt sich zu öffnen und Anschluss zu suchen. Für eine Erklärung der Siedlungsstadt des 20. Jahrhunderts hat es ohnehin nie so recht getaugt. So führt für Corboz die »europäische Darstellung der Stadt« zum »pathetischen Anachronismus« (ebd.). Das (städtische) Zentrum wurde aus seiner Entwicklungsgeschichte heraus und bis in die Gegenwart stets mit Größe, Dichte und Bedeutung gleichgesetzt, resultierend aus der Anhäufung von Kapital und Einfluss, also Macht. Daraus erwachsen seine Potenziale für wirtschaftliches Wachstum, gesellschaftlichen Fortschritt und sozialen Zusammenhalt; die LEIPZIG-CHARTA ZUR NACHHALTIGEN EUROPÄISCHEN STADT (BMUB 2007) ist ganz in diesem Sinne verfasst. Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen hat die Prozesse der Machtkonzentration in der Herausbildung von global cities und urban headquarters erforscht (vgl. Sassen 2006). Richard Florida stellt die Bedeutung kreativer Milieus heraus, deren Vertreter sich in größeren, vielfältigen Städten konzentrieren und so aus Diversität Innovation generieren (vgl. Florida 2005). Die in Deutschland von der Empirica AG untersuchte Schwarmstadt soll hier ebenfalls erwähnt werden – als Indiz für das sich selbst verstärkende System Stadt (vgl. Empirica AG 2016). Je größer die Stadt wird, so scheint es, desto virulenter werden ihre spezifischen Talente in weiteres Wachstum umgesetzt. Das Urban Millenium schließlich scheint uns ein letztes Argument für die Überlegenheit der Stadt im globalen Maßstab zu liefern. Immer mehr Menschen leben in den Städten, seit Beginn des Jahrtausends sind es mehr als 50%. Aber das ist nicht ausschließlich der Überlegenheit städtischer Lebensweisen zu verdanken, da der »Umzug der Menschheit«, wie es in der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregie-

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rung nennt (vgl. WBGU 2016), selten freiwillig und selbstbestimmt stattfindet. Vielmehr erscheint er wie eine Völkerwanderung aus prekären Umständen in ländlichen Räumen, nicht mehr auskömmlichen agrarischen Produktionsverhältnissen und spätfeudaler Unterdrückung in die miserablen Verhältnisse von wuchernden städtischen Agglomerationen (die man ihrerseits ebenfalls kaum noch Stadt nennen kann) oder gleich in die gelobten Länder der westlichen Hemisphäre.

S TADT L AND Heute, da Informationen überall verfügbar sind, flacht das Stadt-Land-Gefälle ab. Henri Lefebvre hat die Modernisierung in der Gesellschaft als Prozess einer umfassenden gesellschaftlichen Urbanisierung charakterisiert. Abb. 4: Landwirtschaft im Thüringer Becken.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen »Bald wird es in den sehr weit entwickelten Ländern und Regionen zweifellos keine Bauern mehr geben; sie weichen Städtern, die sich mit perfektionierten Instrumenten und industriellen Techniken der Agrarproduktion annehmen. Die Landwirtschaft gleicht sich der Industrie an und hört allmählich auf, einen distinkten, aufgrund seines technischen Rückstands noch weithin autonomen Sektor der Ökonomie zu bilden. Städte und Agrarstädte treten an die Stelle der Dörfer, und diese werden zu vorsintflutlichem Dasein, zu Folklore und touristischen Attraktionen reduziert.« (Schmid 2010: 127)

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Die moderne und hochgradig technologisierte und digitalisierte Landwirtschaft steht dabei im Gegensatz zu den idealisierten und romantisierten Bildern des Ländlichen. Sie ist längst schon Realität. Wer sich das Ausmaß dieser Entwicklungen nicht vorstellen kann, sei auf Forschungen von Stephan Petermann verwiesen. Er untersuchte die chinesische Countryside, unter anderem berichtet er über selbständige Farmer in Shouguang (vgl. Petermann 2020). Sie wohnen im 15. Stock eines Hochhauses, pendeln täglich zur Arbeit in ihrem Gewächshaus, das sich in 30Minuten-Entfernung in einer riesigen Gewächshauslandschaft befindet, 30 mal so groß wie Manhattan. Hier wird Gemüse für über 60 Millionen Menschen produziert. Nach dem Feierabend nehmen sie an den Community-Angeboten für Freizeit und Erholung teil. Auch jenseits der schieren Dimension, die man außerhalb von China wohl kaum so antreffen wird, bleibt festzuhalten, dass hier die Produktion agrarisch und die Lebensweise städtisch zugleich sind. Abb. 5 u. 6: Shouguang: Arbeiten und Wohnen. Land und Stadt.

Fotos: Stephan Petermann

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Nennen wir in gewohnter Weise die Stadt weiterhin ›Stadt‹ und das Land weiterhin ›Land‹, so unterstellen wir eine Eindeutigkeit, die der Realität immer weniger gerecht werden kann. Wenn Stadt dort ist, wo städtische Ökonomien vorherrschen und die Menschen städtische Gewohnheiten pflegen, dann ist sie überall. André Corboz greift einen mehr als 200 Jahre alten Gedanken von Jean-Jaques Rousseau auf, der sich die Schweiz als eine Stadt erklärte mit Quartieren, von denen einige in den Bergen, andere in den Ebenen liegen. Das ETH Studio Basel stellte vor wenigen Jahren ein alternatives städtebauliches Porträt mit regionalen Charakteren, unter anderem dem ›urbanen Schleier‹, vor. Angelus Eisinger und Michel Schneider untersuchen das hochverstädterte STADTLAND SCHWEIZ, so der Titel ihrer Publikation. Überraschend ist, dass in Deutschland die Verwischungen, Verschiebungen und Überlagerungen zwischen Stadt und Land recht hartnäckig von der Disziplin der Stadtplanung ignoriert werden. Mit dem Begriff StadtLand, den die IBA Thüringen für sich gewählt hat, soll deutlich werden, dass längst etwas Neues mit je spezifischen urbanen und ruralen Eigenschaften entstanden ist, und daraus sehr spezifische Talente und Entwicklungshindernisse erwachsen, die man verantwortungsvoll zu Tage fördern muss. Damit wird von der IBA Thüringen auch eine intendierte Pfadabhängigkeit verlassen, die sich entlang der demografischen Schrumpfung ländlich peripherer Räume nahezu unweigerlich ergibt. Kenneth Anders und Lars Fischer kritisieren »das Bild, das im Demografiediskurs vom Land gemalt wird« als »das von todgeweihten Gegenden.« (Anders/Fischer 2015: 33) Eine solche Perspektive hat unweigerlich die immer weitere Entleerung der Landstriche von Menschen vor Augen und wird keinen Silberstreif am Horizont entdecken. Folglich fällt der morgige Tag schlechter aus als der heutige und übermorgen wird noch einmal schlimmer als morgen. Licht-aus-Strategien sind dann die logische Folge. Ein wahrlich unmöglicher Plot für die dort lebenden Menschen! Die politischen Reaktionen sind inzwischen nicht mehr zu überhören. Die Zukunft der ländlichen Räume, der Provinz, der Peripherie ist zu einem gesellschaftlichen Megathema geworden.

P ROVINZ ALS N ISCHE Auf den ersten Blick scheint alles klar zu sein: Dorf ist da, wo es kleine Siedlungen, weniger und vor allem eine weniger dichte Bebauung gibt, wo die Bäume höher wachsen als die Häuser hoch sind. Wo man ein eigenes Haus, einen Hof und einen Garten hat und auf Feld und Wald blickt, wo man ohne Handtasche spazieren geht. Geht man auf dem Dorf überhaupt spazieren? Wo die Leute ›Du‹ zueinander sagen. Stadt ist im Unterschied dort, wo die Häuser groß sind und ohne Abstand nebeneinander stehen. Wo man die anderen Menschen vor der Haustür nicht kennt. Die

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Schriftstellerin Juli Zeh beschreibt in ihrem Roman UNTERLEUTEN das Dorf aus den verschiedenartigen Perspektiven ihrer Figuren. Es erscheint dabei unter anderem als ein Lebensraum, den man überblicken und verstehen kann (vgl. Zeh 2016: 217). Und an anderer Stelle beschreibt sie den Unterschied zur Stadt aus der gleichen Perspektive: Ihre Protagonistin »freute sich auf Berlin, wo sie sich fortbewegen konnte, ohne zu grüßen; wo immer alles woanders passierte, [...] ohne dass es sie das etwas anging.« (Ebd.: 581) Im Dorf, so zeigt sich hier, geht einen alles an. Unzweifelhaft gibt es Unterschiede zwischen dem Leben im Dorf und in der Großstadt, ja schon im Vergleich der kleineren zur mittleren Stadt. Es gibt Forschungen und Diskurse sowie Tagungen und Publikationen, die jeweils einen weiteren Forschungsbedarf festhalten: Wo ist das Land? Wer lebt dort und warum? Wer bleibt, kommt, pendelt? Wie groß oder klein sind die Aktionsradien – für Kinder und Heranwachsende, für Berufstätige und alte Menschen, wie wird Mobilität organisiert? Wie verheiratet sind Landbewohner, wie eng die Familienbeziehungen und -verflechtungen? Wie fern ist der Staat und wie groß das Selbsthilfepotenzial? Wie viel Sport, Bewegung, Fitness, Yoga gibt es auf dem Land, welche Vereine und wie viel Tratsch? Wo die Empirie endet, suchen wir Aufschluss in der Literatur. Die Bücher von Juli Zeh, Saša Stanišić oder Dörte Hansen finden ein großes Publikum, das voller Erstaunen die Schilderungen aus dem Dorfleben aufsaugt, als wären die Protagonisten nicht ihre Arbeitskollegen an der Uni, Kunden im Supermarkt nebenan oder Dienstleister im Handwerksbetrieb. Ländlichkeit ist ein weithin unentdeckter Kontinent. Wollen wir dem Land Gerechtigkeit widerfahren lassen, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass es schon immer Reformbestrebungen und Gemeinschaftsprojekte gab, die nicht in den Städten angesiedelt waren oder sogar explizit das Landleben gesucht haben. Gesellschaftliche Utopien und städtebauliche Innovationen aus verschiedenen Epochen fanden hier ihren experimentellen Raum: Künstlerkolonien und Landgenossenschaften oder Kibbuzze, die Gartenstadtbewegung oder Broadacre City. Auch heute gilt das Land vielen als Alternative zu beschleunigten, abstrakten Lebensweisen im hochverdichteten städtischen Kontext. Wieder ist das ›Überlaufen‹ angespannter Wohnungsmärkte aus der Stadt in die Umgebung als Muster der Suburbanisierung zu beobachten. Und es mag sein, dass in der Folge der Corona-Pandemie und sonstiger Zumutungen sowie als positives Resultat kollektiver Erfahrungen mit digitaler Kommunikation das dezentrale, aufgelockerte Konzept des Landlebens an Attraktivität gegenüber dem hochverdichtetem Stadtraum gewinnt. Es gibt mehr Platz in Haus und Scheune, es gibt Sicherheit durch Eigentum und Selbstversorgung. Wer weiß schon, was noch kommt!

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Giorgio Agamben denkt über das Aussteigen nach – am Beispiel der Mönchsorden, deren Vertreter eine radikal andere Politik begründeten. Er sagt: »Bemerkenswert daran ist, dass diese Leute nicht auf den Gedanken kamen, den Staat, in dem sie lebten, zu reformieren oder zu verbessern, das heißt die Macht zu ergreifen, um ihn zu verändern. Sie kehrten ihm einfach den Rücken. [...] Ich sehe hier eine gewisse Analogie zur gegenwärtigen Situation. [...] Ich halte die Zeit für gekommen, [...] um unser Denken auf etwas zu richten, was man ›destituierende‹ beziehungsweise ›aufhebende Kraft‹ nennen könnte – das heißt auf eine Kraft, die die Form einer konstituierten Gewalt schlechterdings nicht annehmen kann.« (Agamben 2015).

Er nennt es das Modell eines Auswegs, eine Politik, die auf Flucht und Rückzug gründet. In einer solchen Stimmungslage könnte das Land als Alternative an Bedeutung gewinnen – und zwar für ein freies, naturbezogenes, bezahlbares und selbstbestimmtes Leben mit einem hohen Freiheitsgrad. Und so reicht Berlin mittlerweile bis in die Uckermark und die Leipziger kommen in die Sommerfrische des Schwarzatals. Die meisten Beispiele belegen, dass man beides haben will und, je nach sozialer Lagerung, mitunter auch haben kann: die städtische Wohnung und die Datsche, den Landsitz und die kleine Dependance in der Stadt. Stadt und Land funktionieren zusammen und ergänzen einander – auch wenn es sich in der Bevölkerungsstatistik gar nicht niederschlägt, sondern lediglich in den Konzepten für ein glückliches Leben der Menschen. Das Drinnen der Stadt wird mit dem Draußen ›in der Natur‹ getauscht. Natur (ja, dieser Begriff ist nicht korrekt, aber bleiben wir hier einfach dabei und überlassen die altkluge ›Kulturlandschaft‹ den Wissenschaftlern) ist gleichberechtigt mit dem großartigen Erlebnis von Tieren und Pflanzen, Feld und Wald, Wasser und Wetter. Sinnstiftung, ein glückliches und gesundes Leben haben offenbar immer noch oder wieder verstärkt ihren Ursprung in konkreten Tätigkeiten der Subsistenzwirtschaft. Pflanzen und Ernten, Hegen und Pflegen, Bauen und Umbauen, Kochen und Backen – man muss nur einmal die Rubriken der Zeitschrift LANDLUST durchschauen und kann jenseits allen intellektuellen Naserümpfens konstatieren: Irgendetwas macht daran glücklich.

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Abb. 7: Die Thüringer Landschaft und Siedlungsstruktur verspricht Rückbindung an ein naturnahes Leben.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

Das Ländliche bezieht in dieser Hinsicht seine Überzeugungskraft aus der Konkretheit der Tätigkeiten, aus der ›Dinglichkeit der Dinge‹, der erfahrbaren eigenen Körperlichkeit, der Sinnstiftung, die in den Tätigkeiten unmittelbar begründet ist. Das ist der Grund, warum es immer wieder Menschen aufs Land zieht. Im Übrigen muss man das Dorf nicht nur als notwendiges Übel im Sinne eines engen und kontrollierten Sozialraums auffassen. Zum Land in seiner Lebenswirklichkeit gehört auch die Wahrnehmung beeindruckend tatkräftiger sozialer Gruppen, die Kreativität von alten und neuen Gemeinschaften sowie die Überzeugungskraft von Persönlichkeiten. Der Nachbarschaft kann man im Positiven wie Negativen nicht entrinnen. Das sorgt auf dem Dorf (!), nicht in der Stadt (!) dafür, dass sich Menschen unterschiedlicher Milieus und Lebensstile begegnen. Während man die Integrationskraft der Städte preist, verstellen Vorurteile den Blick auf Nähe, Verwandtschaft und Bekanntschaft sowie auf die Selbsthilfe, die aus dem gemeinsamen Schicksal erwächst. Integration aus sicherem Abstand und in der Anonymität gelingt nur in der Stadt. Auf dem Land muss man mit den Nachbarn reden – egal welche Partei sie gewählt haben.

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H EIMAT

ALS

A UFGABE

Seit mehreren Jahren schaffen die sogenannten Raumpioniere ein gesellschaftliches Grundrauschen für diese neue Hinwendung zum Land. In ihren Landprojekten finden Städter Freiheit und persönliche Entfaltungschancen und zeigen den Weg zur Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und Solidarität. Aus gelingenden Begegnungen entstehen lokale und regionale Mehrwerte, Infrastrukturen werden erhalten und wiederbelebt und es gibt neuartige (Rück-)Vernetzungen mit der Stadt, zum Beispiel in Form solidarischer Landwirtschaften oder bei kulturellen Projekten. Aber auch die neuen Rechten drängen in diese Ländlichkeit. Sie begeben sich in ein Vakuum, das neoliberale Zentralisierungstendenzen privater und öffentlicher Strukturen auf dem Land hinterlassen und fühlen sich in ihren ideologischen Vorurteilen bestätigt. Der Architekturtheoretiker Stephan Trüby arbeitet seit geraumer Zeit dazu. Er schreibt: »Voller Abscheu gegenüber urbanen Lebensweisen suchen viele NPD-Kader, aber auch führende Köpfe der AfD ihr Heil auf dem Land.« (Trüby 2016). Die Zusammenhänge von rechten Ideologien und rechten Wahlerfolgen sowie Ländlichkeit bleiben dennoch uneindeutig.3 Wahrscheinlich versammelt sich unter dem so häufig ins Feld geführten Argument vom Abgehängtsein beides: soziale Differenzierung und räumliche Parameter. Die einen sind Herr über ihre eigenen Lebensgeschicke. Den anderen ging es früher besser und sie hatten ihr Leben im Griff und nun treibt sie die Sorge um, Arbeit und Wohnung zu verlieren, dass die Vorsorge im Alter und bei Krankheit nicht ausreicht und es den Kindern nicht besser gehen wird. Und Angst macht böse. Die auf dem Land fühlen sich doppelt betroffen, denn der Rückbau der Infrastrukturen ist dort innerhalb weniger Jahre vonstatten gegangen. Keine schöne Lebenserfahrung, wenn erst die jungen Leute wegziehen, dann Schule, Bahnhof und Bäckerladen zumachen und zu guter Letzt auch noch der Geldautomat abmontiert wird. So wird das ›abgehängte Land‹ zum Erklärungsmodell, fast zu einem Mythos, das bzw. der sich im Osten Deutschlands noch einmal durch die nunmehr lautstark artikulierten Spätfolgen der Wiedervereinigung verfestigt.

3

Nachzulesen in einer Empirischen Studie von Forschern des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft an der FSU Jena, die die Wahlergebnisse der AfD in der Thüringer Kreistagswahl 2019 untersucht haben (vgl. Richter/Salheiser/Quent 2019). Siehe darüber hinaus auch im Kontext der Bundestagswahl 2017 die ausdifferenzierende Untersuchung von Deppisch/Klärner/Osigus (2019), die sich mit der Vorstellung eines ländlichen ›Abgehängtseins‹ als Erklärungsansatz für politische Einstellungen und Wahlverhalten auseinandersetzt.

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Es verläuft eine subtile Abgrenzung der etablierten, sprachfähigen – urbanen – Mittelschichten von oben nach unten: »gegen das Provinzielle und Traditionsbewusste, gegen den ungesunden Lebensstil und mangelnde Bildungsbereitschaft« (Reckwitz 2020: 118). Mit Begriffen wie Heimat, Bindung oder Identität kann die liberale gesellschaftliche Großerzählung der letzten Jahrzehnte nichts anfangen. Irgendwo röhrt da schließlich immer noch ein Hirsch an der Wohnzimmerwand! Aber da hilft alles nichts: wenn sich Angst, Wut, Aggression öffentlich äußern und massiv aus dem Land heraus und über das Argument ›Land‹ artikuliert werden, ist es an den politischen Parteien und anderen gesellschaftlichen Kräften, nun auch eine Aussage zu Tradition und Regionalität zu treffen und die Organisation der Gesellschaft im Raum zu überprüfen. Dass es ein abschüssiges Terrain, ein rutschiges Gelände nach rechts unten ist, sollte sie nicht davon abhalten. Gerade darum muss man ja weltoffene Konzepte und zugleich lebenspraktische Antworten finden. Kenneth Anders und Lars Fischer veröffentlichen ihre Beobachtungen und Folgerungen regelmäßig in Thesenform. In ihren THESEN ZUR LANDSCHAFTSKOMMUNIKATION – 2019 nehmen sie diese politische Problemlage auf und schreiben unter anderem: »1. Die gesellschaftlichen Kommunikationen sind heute aufgrund der stetig nachlassenden Ressourcenbindungen in den Arbeits- und Alltagswelten und infolge der globalisierten Medien kaum noch oder nur temporär an den eigenen Raum gebunden. Es entsteht also eine Kluft zwischen den Diskursen und der persönlichen Raumerfahrung. 2. Durch diese Kluft erleben immer mehr Menschen ihre Welt im Modus anhaltender Verunsicherung und Einflusslosigkeit. Für die Demokratien ist es folglich existenziell, raumbezogene Diskurse zu entwickeln und mit ihnen kommunikative Wechselwirkungen zwischen dem eigenen Leben und den globalen Ereignissen zu stiften.« (Anders/Fischer 2019)

H EIMATKUNDE S CHWARZATAL Betrachten wir das Land, reicht es nicht, Häuser, Siedlungen und Menschen zu betrachten, man muss auch in die Fläche schauen. Für das Schwarzatal hat die IBA Thüringen gemeinsam mit zahlreichen Experten und vier Landschaftsarchitekturbüros den Versuch unternommen, eine Beschreibung und Interpretation der Region zu bearbeiten, wenn man so will: eine Landkarte der Beziehungen der Menschen zu ihrer Welt. Seit vielen Jahren stehen im Schwarzatal die Verlusterfahrungen der demografischen Schrumpfung, der infrastrukturellen Ausdünnung, der Bedeutungsverluste einer ganzen Region im Mittelpunkt des Eigenbildes. Wenn die regionalen Akteure hingegen ein ›resilientes Schwarzatal‹ anstreben, dann muss in diesem Raum nicht alles immer mehr werden und schneller gehen, wachsen und sich ausbreiten. Im Gegenteil: Mit einem Perspektivwechsel könnte man vermeintliche

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Schwächen als Stärken, Reize, Attribute und Talente gerade dieser Region betrachten. Dann würde Leerstand zum LeerGut, periphere Lage ist gleichbedeutend mit Abgeschiedenheit und Ruhe, Schrumpfung würde Freiräume eröffnen. Mit der Erfahrung von wenigen Wochen Corona-bedingter Ausnahmezustände treten diese Überlegungen viel näher an die Menschen heran. Sicherheit bekommt plötzlich einen logischen Zusammenhang mit lockeren, wenig verdichteten Lebensweisen, Resilienz, die Widerstandsfähigkeit in Krisen, könnte auf dem Land ausgeprägter sein. Das Land ist schon immer ohne die Stadt ausgekommen – umgekehrt trifft dieser Satz nicht zu. Was heißt hier gutes Leben? Für diejenigen die dort leben und immer da waren? Und für diejenigen, die auf Zeit kommen, zum Beispiel aus den Nachbarstädten oder den größeren, entlegenen Zentren in die Sommerfrische. Die Landschaft spielt für alle Mitwirkenden am Schwarzatal-Prozess eine entscheidende Rolle, hier liegen ihre Gemeinsamkeiten. Menschen, Strukturen und Themen sind über die Landschaft erklärbar. Sie sind der Grund für gerade diese Ausprägung von Siedlungsund Infrastrukturen. Den Menschen in der Region ist völlig klar, dass sie diesen Landschaftsraum des Schwarzatals gemeinsam haben, jenseits der kleinteiligen Gemeindegrenzen und kommunalen Eifersüchteleien. Dieser besonders schöne Teil des Thüringer Walds ist ihnen Heimat, sie verstehen genau diese Landschaft als Verortung ihres gemeinschaftlichen Selbstbildes, als Klarnamen für Glück und Gemeinsamkeit. Abb. 8: Schloss und Ort Schwarzburg im Schwarzatal.

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

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Und schlussendlich ist dieser geteilte Raum auch der Austragungsort für Projekte. Das sind zum Teil ganz einfache und naheliegende Verbesserungsvorschläge, wie zum Beispiel Sichtschneisen im Wald zu schlagen, um das Schloss auf den Wanderwegen wieder visuell einzubeziehen. Oder man fasst größere strategische Vorhaben der Walderneuerung in Zeiten des Klimawandels ins Auge, in Reaktion auf die seit mehreren Jahren andauernde Dürre und den Schädlingsbefall. Im Schloss Schwarzburg entsteht ein Denkort der Demokratie, der durch zahlreiche andere, von der Zivilgesellschaft getragene Demokratieorte in der sehr ländlichen Region ergänzt wird. Die historische Sommerfrische-Tradition wird in gemeinsamen Anstrengungen wiederbelebt und die ersten städtischen Besucher lassen sich in einst leerstehenden, nun gemeinschaftlich genutzten Sommerfrischehäusern nieder. Ein Sondervermögen für eine gemeinnützige Bodennutzung ist gegründet. Der ›Tag der Sommerfrische‹ etabliert sich immer stärker als ein regionales Festival, bei dem die Leerstände geöffnet und inszeniert werden. Je mehr Besucher ins Tal kommen, umso deutlicher werden die inhaltlichen Bezüge zu regionalem Essen und Trinken und den dafür erforderlichen Infrastrukturen. In Rottenbach hat eine eigens gegründete Genossenschaft im Bahnhofsgebäude einen Laden mit Bistro eingerichtet. Das einzige Versorgungsangebot in dieser Ortslage versorgt die Fahrgäste, die vom Bahn in den Bus umsteigen, die Bewohner von Rottenbach und die Wanderurlauber im Thüringer Wald.

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ALS

P ROJEKT

Interessant ist, dass sich heute immer mehr Menschen freiwillig einer gelebten Verantwortung für das Klima, für Ressourcen, Ernährungsgrundlagen, Energiequellen, den Wasserhaushalt und anderes mehr stellen – nicht zuletzt in den Städten, gar Großstädten. In einer immer komplexer und abstrakter werdenden Arbeits- und Lebenswelt verfolgt man auch dort Praktiken, die nicht selten aus einem landwirtschaftlichen oder gärtnerischen Kontext kommen wie zum Beispiel das urban gardening, water farming, do it yourself oder die ›Essbare Stadt‹. Biologische Vielfalt ist in den Städten vor der Haustür zu finden, in den Gärten und auf den Brachflächen; und dies in weit höherem Maße als in der hochproduktiven Landwirtschaft außerhalb der Siedlungsflächen. Im Kern geht es darum, dass die Voraussetzungen für eine nachhaltige Lebensweise in den individuellen Wertesystemen vieler Menschen einen immer wichtigeren Platz erobern. Sicherheit, Gesundheit, Freizügigkeit und Kontrolle der eigenen Lebensumstände werden in einer Ära der Sinnstiftung und Selbstverwirklichung neben oder jenseits materieller Wertesysteme für viele Menschen zentral. Immer mehr Menschen fragen: Was wollen denn Feld und Wald, Bäume und Tiere? Dies ganz im Sinne von Bruno Latour und seinem Parlament der

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Dinge, der mit diesem Ansatz das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Natur und Kultur aufgibt, dessen strikte Trennung er ohnehin als Ergebnis des denkenden Ordnens der Moderne betrachtet. Er führt diese im Begriff ›Welt‹ zusammen. In den angespannten städtischen Zentren lautet bislang das Credo Nachverdichtung, nicht zuletzt, um dem Wohnungsmangel zu begegnen. Für Corona-bedingte Ausnahmezustände und die Stadt in Zeiten des Klimawandels wird freilich überdeutlich, in welchem Maß die Freiräume massiv an Bedeutung gewinnen müssen. Temperatursenken, Frischluftschneisen, Wasserreservoirs – das alles wird man in die gebauten städtischen Zusammenhänge einschreiben und sie gleichzeitig als demokratische, weil unkommerzielle Räume der Stadt nutzen. Frei- und Grünräume sowie die Landschaft sind großartige Refugien des Öffentlichen. Der Fachdiskurs der letzten Jahre belegt eine wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber den städtischen Freiräumen. Nicht nur klassische Gärten und Parks gehören dazu, sondern ebenso die vernutzten und verschmutzten Bahngelände, Hafengebiete, Industrie- und Militärbrachen, die Organisation der stadttechnischen Medien, die Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen, alte Wasserläufe, neue Rückhaltebecken... Die Stadt als Landschaft, das Grün als Infrastruktur. Es gibt Hunderte Beispiele bewusster und guter Gestaltung für Freiräume in den Städten. Ganz im Gegensatz zur Landschaftsgestaltung außerhalb der Städte. Dort passiere Landschaft einfach, so sagt es Maria Lezzi, Direktorin des Schweizer Bundesamts für Raumentwicklung.4 Weder verstehen wir als Gesellschaft so richtig und vollständig, was da wie und warum geschieht, zum Beispiel in der Landwirtschaft, noch bekümmern uns jenseits von Sonntagsreden die gewaltigen Flächenverbrauche von Infrastrukturinvestitionen oder Gewerbeagglomerationen. Dieser Realität stehen wirkmächtige, idealisierte Vorstellungsbilder eines mehr oder weniger romantischen Landschaftsbegriffs gegenüber. Die agrarische, gewerbliche, energetische Landnutzung und ihre zum Teil beträchtlichen Dimensionen werden darin eingebaut und sicher auch in gewisser Weise psychologisch ausgeblendet. Sieht man einmal von Windkraftgegnern und Gerichtsverfahren gegen Stromtrassen ab, fallen die neuen Landschaftselemente überwiegend aus der kollektiven Wahrnehmung heraus, weil sie trotz ihrer Größe keine faktische Bedeutung im Alltagsleben haben. Es entsteht die paradoxe Situation, dass sie trotz ihrer räumlichen Ausmaße und sozioökonomischen Relevanz gesellschaftlich ›unsichtbar‹ sind. Auf der anderen

4

Auf die Frage, welche Akteure in der Schweiz die Landschaft machten, antwortet sie: »Ihre Frage suggeriert, dass Landschaft aktiv ›gemacht‹ wird, aber das ist nicht der Fall: Landschaft ›passiert‹ einfach, sie verändert sich als Summe von Einzelentscheidungen und Interessen von Privaten und Gemeinden. Das Resultat ist dann für alle überraschend.« (Lezzi/Kurath/Voser 2014: 57)

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Seite werden immer mehr Flächen der Produktion entzogen und bspw. zu Schutzgebieten erklärt und in Reservate verwandelt (Denkmalschutz, Natur- und Landschaftsschutz, Welterbe, Biosphärenreservate, Nationalparks...). Währenddessen wird die ›Restlandschaft‹ immer eindimensionaler und nahezu rabiat für Verkehrstrassen, Energie-Infrastrukturen, Wohnbauerweiterungsland oder landwirtschaftliche Mono-Produktion ausgenutzt. Die IBA hat 2016 eine Studie zur Mitte von Thüringen beauftragt und die Landschaftsarchitekten haben in wenigen Wochen ihr Raumbild, ihre Rauminterpretation vorgestellt. Die Autoren der Studie empfinden diese Landschaft als selbstverständlich, schön, hochproduktiv. Sie ist zu 87 Prozent hocheffizient genutzt (vgl. IBA Thüringen et al. 2016: 5). Um sich mit dieser Landschaft auseinanderzusetzen, fordern sie nichts weniger als eine gemeinschaftliche ›Unternehmung‹. Sie suchen »Landschaftsunternehmer mit Verantwortung, die aus MonoLÄNDERN ein nachhaltiges MultiLAND machen« (ebd.). Dabei ist auch zu fragen: »Kann das SehnsuchtsLAND das ProduktionsLAND befördern? Können beispielsweise neue dezentrale Abwasserlandschaften schöne, multifunktionale Dorfränder entstehen lassen? Wie könnte Bodenerosionsschutz das SehnsuchtsLAND und die Artenvielfalt zugleich befördern? Der Gestaltungsspielraum in der Mitte Thüringen liegt darin, die segregierten Interessen zu kombinieren und vernetzte Lösungen zu finden.« (Ebd.: 55)

Abb. 9: Vorschlag für ein Multiland.

Stein+Schultz, Station C23, rabe landschaftsarchitekten, im Auftrag der IBA Thüringen

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Ehrlich gesagt, verfügen wir nicht so recht über alternative und überzeugende Vorstellungsbilder für ein Multiland der Zukunft. Noch weniger haben wir ein ausgearbeitetes Instrumentarium, die jeweiligen Binnenlogiken zu verschmelzen. Die Landschaftsarchitekten sind als Disziplin in einer ganz neuen Weise und in einem Maßstab gefordert, der kaum historische Vorbilder hat. In Kannawurf, einem kleinen Dorf im fruchtbaren Thüringer Becken, wird auf Anregung der IBA Thüringen Landwirtschaft als Landschaft angesehen. Die Projektakteure überlegen gemeinsam, wie eine intensiv genutzte Fläche von etwa 1.500 Hektar zu einer ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen, gestalterisch aufgewerteten Kulturlandschaft werden kann. Die Kritiker der modernen EffizienzLandwirtschaft haben eingesehen, dass eine Veränderung ohne Landwirte nicht möglich sein wird; die beteiligten Landwirte haben verstanden, dass ihre Probleme wie Dürre, Bodenerosion, explodierende Bodenpreise und Pachten oder fehlende regionale Absatzmärkte aufgegriffen und ernsthaft bearbeitet werden und nicht etwa in realitätsfernen manieristischen Gestaltungsüberlegungen münden. Die Beteiligten stehen noch mitten in einem Prozess mit offenem Ausgang. Wir werden sehen, ob im Rahmen der IBA im nördlichen Thüringen eine neue Landschaftstypologie des 21. Jahrhunderts experimentiert werden kann.

IBA

ALS

T ROUBLESHOOTER

Wir bewegen uns in einem gesellschaftlichen Kontext voller Veränderungen. Die Routinen in unserem Gebiet der Stadt-, Raum- und Landschaftsentwicklung – von Rechtssetzung bis zur Förderung, in Planung und Bau sowie in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit und bei der Beteiligung von Bürgern – funktionieren nicht mehr in der bekannten Weise. Eine IBA kommt da gerade recht, ist sie doch ein offiziell verliehener ›Ausnahmezustand auf Zeit‹. IBA Projekte sind Störungen im System, mit ihren neuen Ansätzen bringen sie die Routinen durcheinander. Die IBA insgesamt sollte dann zum ›Troubleshooter‹ werden und Lösungen erarbeiten, die den aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen besser gerecht werden als die bisherigen Vorgehensweisen. Werden diese dann in neue und bessere Routinen umgesetzt, war eine IBA erfolgreich. Die IBA Thüringen arbeitet dabei mit der Methode von ›Akupunkturen‹, das heißt punktuellen Eingriffen, die über ihre Standorte hinaus eine Vorbildwirkung entfalten und zum Nachahmen anregen sollen. Leerstand gibt es in allen Gebäudetypen und Siedlungskategorien von Thüringen. Eines seiner prominentesten Beispiele findet sich in Apolda mit dem im Jahr 1994 aus seiner industriellen Nutzung gefallenen Eiermannbau. Hier entwickelt die IBA Thüringen einen Modellfall für die Aktivierung von Leerstand. ›Leer‹ und

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›gut‹ verbindet sich für die IBA Thüringen zum ›LeerGut‹. Der Eiermannbau, ein herausragendes Denkmal der Industriemoderne, vom namhaften deutschen Architekten Egon Eiermann 1938 umgebaut und erweitert, wird als Open Factory für kreative und produktive Nutzungen entwickelt und soll städtebauliche und strukturpolitische Impulse ausstrahlen – dies im Kontext der kleinen Mittelstadt Apolda, genau zwischen den städtischen Zentren Thüringens, Erfurt, Weimar und Jena, gelegen. Die IBA versteht sich hier als ›Placemaker‹ in der Provinz. Der Erfolg des Vorhabens soll den Beweis für die Funktionsfähigkeit eines dezentralen Siedlungssystems – eben für StadtLand – antreten. Beispielgebend soll auch der Prozess sein. Umdenken, umnutzen und erst dann umbauen ist der Dreisprung, den die IBA Thüringen verfolgt. Die eigene Geschäftsstelle wurde kostensparend nach dem Prinzip Haus-im-Haus mit kleinen Gewächshäusern auf der Fabriketage errichtet. Die Standortentwicklung umfasst ein zwei Hektar großes Grundstück. Einst als Betriebsstandort voll genutzt, ist es mittlerweile zu einem beeindruckend dichten Wald herangewachsen. Obwohl gewerblich gewidmet, sollte man hier nicht von einer schnellen baulichen Inanspruchnahme ausgehen – zu viele leerstehende Gebäude und Gewerbebrachen stehen in Apolda zur Umnutzung an. So wendet sich der Blick auf die große biologische Vielfalt und die Zufallsästhetik dieser Ruderallandschaft. Ein Bioimker hat hier seine Bienenstöcke, ein Versuchsgarten für Faserund Färberpflanzen soll in diesem Sommer zum ersten Mal ausprobiert werden. Dazwischen zelten immer wieder Hausgäste, die das ›Hotel Egon‹ besuchen. In studentischen Entwürfen der Bauhaus-Universität aus dem Jahr 2020 finden sich viele Interpretationen zum Umgang mit dieser neuen Landschaftstypologie: Eine Art Zauberwald mit versteckten Kunstwerken, Verarbeitungsanlagen für die hier gewonnenen Produkte oder die Gewinnung erneuerbarer Energien – vieles ist möglich. Die Industriebrache wird zu einem zeitgenössischen Park. Abb. 10 u. 11: Beobachtung und Entwicklung der Biodiversität des Geländes: OBSERVATORIUM DER VIELFALT (l.) von Ines Wassermann u. Benjamin Schatz sowie TERRAIN ROUGE (r.) von Theda Vetter u. Marie Scheidmann.

Bauhaus-Universität Weimar, Professur Landschaftsarchitektur und -planung

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Abb. 12 u. 13: Brachen werden zu Anbauflächen: PRODUKTIV-HUB von Mariana Caetano u. Yinuo Meng entwirft einen grünen Korridor.

Bauhaus-Universität Weimar, Professur Landschaftsarchitektur und -planung

Der gestalterisch anspruchsvolle Neubau der Tank- und Rastanlage Leubinger Fürstenhügel an der Bundesautobahn A 71, realisiert von der Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH (DEGES) und Shell Deutschland Oil GmbH, ist in mehrfacher Hinsicht hervorhebenswert. Dass der Planung und Gestaltung ein Realisierungswettbewerb vorausging, ist für diese Bauaufgabe in Deutschland nicht gängige Praxis, dass Architekten, Landschaftsarchitekten und Kommunikationsdesig-

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ner zusammenarbeiten, ebenso wenig. Von der Raststätte schmiegt sich eine Wegeverbindung in die Topografie der Landschaft hin zu einer Landschaftsterrasse und zum markanten frühbronzezeitlichen Grabhügel, einem der bedeutendsten Bodendenkmale Thüringens. Die Besucher erhalten Aufschluss in einer in die Raststätte integrierten Ausstellung sowie entlang des mit Informationen angereicherten ›Zeitreisewegs‹. Der überregionale Unstrutradweg ist in kurzer Distanz zu erreichen. Ein Stopp an der Autobahn wird sich also in Zukunft aus unterschiedlichen Gründen lohnen. Am Leubinger Fürstenhügel kann man Sprit und Strom tanken, den Fürstenhügel als Gegenstand archäologischer Forschung besichtigen, vor allem aber einen zeitgenössisch gestalteten Landschaftsraum der Mobilitätskultur erschließen. Abb. 14: Landschaft als Baustelle: Tank- und Rastanlage Leubinger Fürstenhügel – ein Beitrag zur Landschaftsgestaltung und Mobilitätskultur

Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen

Den strategischen Schlussstein für die IBA Thüringen bildet die Holzbaukultur. In der Wertschöpfungskette Wald-Holz-Bau kommen Stadt und Land thematisch, ökologisch und ökonomisch zusammen; das Anliegen zum klimabewussten Bauen trifft auf reichhaltig vorhandene regionale Ressourcen. Vor dem Eiermannbau Apolda ist mit dem Timber Prototype House bereits ein beispielgebender Holzbau entstanden, der das traditionelle Baumaterial mit modernsten computergestützten Entwurfs- und Baumethoden verarbeitet hat. In Ergänzung dazu steht der sogenannte Sch(l)afstall in Bedheim für einen raffinierten Selbstbau aus Holz im dörflichen Kontext. Das Architekturbüro Gründer Kirfel hat ihren Neubau mit zahlreichen Helfern selbst errichtet, so wie man auf dem Land eben baut. Am Thüringer Meer schließlich soll durch den Landessportbund ein Um- und Neubau ihres Jugendzentrums ebenfalls in Holzbauweise stattfinden.

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Abb. 15 u. 16: Zeitgenössisches Bauen in Holz: oben: Achim Menges, Oliver Bucklin, Oliver Krieg, Victor Rodriguez (Universität Stuttgart), Hans Drexler, Maria Deilmann, Geronimo Bujny, Anna Bulavintseva (Jade Hochschule Oldenburg); unten: Bedheim, Sch(l)afstall von Studio Gründer Kirfel, Förderverein Schloss Bedheim e.V.

Fotos: Thomas Müller, IBA Thüringen

An diesen Orten entsteht eine regionale Baukultur ›Made in Thüringen‹. Sie ist konkret, sie gewinnt aus der reichen, historisch aufgeladenen Kulturlandschaft Thüringens ihre Anregungen und übersetzt die aktuellen Herausforderungen in neuartige StadtLand-Beziehungen. Die typische Thüringer Kleinteiligkeit ist eine große Inspiration, legt sie doch nahe, Landschaft und Bebauungsstrukturen stets im Zusammenhang zu sehen und zu entwickeln – sowohl in innerstädtischen Wachs-

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tums- und Verdichtungsprozessen als auch bei neuen Landschaftsinterpretationen in den ländlich geprägten Räumen. Landwirtschaft und Forst werden dabei mit ihren Akteuren eine zentrale Rolle spielen. In beiden Sektoren wird man womöglich, wenn auch in unterschiedlicher Weise – unter dem Aspekt von Klimawandel und, wie wir seit dem Corona-Ausbruch wissen, bislang wenig resilienten globalisierten Wirtschaftsbeziehungen –, stärker zu kleinräumigen regionalen wirtschaftlichen Verflechtungen zurückkommen müssen. Regionale Wertschöpfungsketten für Produkte der Landwirtschaft und die Holzbaukultur sind dafür strategische Ansätze. Das geht weit über die Gestaltungsmöglichkeiten einer IBA hinaus. Ein verstärktes regionales Bewusstsein und eine sichtbare und konsequent moderne Baukultur des Eigenen, die anschlussfähig und weltoffen ist, werden jedoch die Überzeugungskraft und Akzeptanz dieser Wandlungsprozesse stärken.

F AZIT Ob nun im überschaubaren Thüringer Raum oder im globalen Maßstab, wir erfahren, dass das immer weitere Wachstum in städtischen Zentren und die immer weitere Entleerung der Peripherie nicht nur städtebauliche und infrastrukturell nachteilige Konsequenzen haben und volkswirtschaftlich unvernünftig sind, sondern auch schwerwiegende mentale und politische Folgen zeitigen. Die Corona-Krise hat mindestens angedeutet, dass dies nicht sehr resilient ist. Selbst wenn alle Aufgaben des Wohnens und Arbeitens, der Bildung, Erholung sowie der öffentlichen und privaten Dienste in den städtischen Zentren so wunderbar vergnüglich und effizient gelöst werden könnten (sie können es nicht!), dann dürften sie es nicht: Um des ländlichen Raumes willen. Stadt und Land sind nicht gleich, aber das Leben in Stadt und Land wird ähnlicher. Neben den vielgepriesenen und gut untersuchten urbanen Milieus bietet das Landleben spezifische Vorzüge. Für ein Gesellschaftsmodell von Glück und Gerechtigkeit ist freilich zu beachten, dass Territorien nicht gleich sind und sich Regionen zum Teil gravierend unterscheiden. Selbstverständlich braucht man das Internet an jeder Milchkanne und die immer weitere, nach Effizienzkriterien organisierte Zentralisierung öffentlicher und privater Dienste und Leistungen muss dringend verändert werden. Andererseits sind Infrastrukturen teuer und ob sich die Angebotsvielfalt tatsächlich beim Nutzer, Kunden, Fahrgast usw. durchsetzen wird, weiß man nicht genau. Die ländlichen Räume müssen vielmehr mit ihren spezifischen Vorteilen offensiv vermittelt und entwickelt werden. Hier bricht sich mit der Landschaftsgestaltung ein zutiefst politisches Projekt Bahn, es ist nötiger denn je. Aus der Landschaft kann man Sinnstiftung beziehen, sie wird zur Gemeinschaftsaufgabe, die über die Grenzen der jewei-

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ligen Kommunen hinausreicht. Landschaftsumbau gestattet gleichermaßen eine neue Quelle der Wertschöpfung – wir sehen es bei Wald und Holz und einer Wertschöpfungskette bis zum Bauen und einer neuen regionalen Baukultur. Unser Lebensstandard in diesem Teil der entwickelten Welt ist seit Jahrzehnten durch ein vernutzendes Verhältnis zur Natur gekennzeichnet, auch wenn das in beträchtlichem Maße in andere Teile der Welt verschoben und verdrängt wird. Immer mehr Menschen verstehen, dass die technische und ökonomische Akzeleration als Modus der Moderne zu viele Ressourcen verbraucht, zu viele Schäden hervorruft, zu hohe gesellschaftliche Folgekosten hat. Wenn Klimawandel, Flüchtlingskrise und Covid-19-Pandemie zusammenfallen, ist kaum weiter zu verdrängen, dass wir uns in einer grundsätzlich anderen Art und Weise zur Welt verhalten müssen – politisch, sozial-kulturell, ökonomisch und ökologisch. Vielleicht ist dieser Zeitpunkt eines aufgezwungenen kollektiven Shutdowns der Corona-Pandemie der historische Moment, in dem wir beginnen, nicht nur individuell umzudenken, nicht nur das Heil in der kleinen Landflucht zu suchen, sondern einen anderen gesellschaftlichen Stoffwechsel zu schaffen. In einem sich verändernden Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Sourcen und Ressourcen wird die Landschaft zum Bindeglied. Das muss durch eine Landschaftserneuerung im großen Stil unter Beweis gestellt werden. Im Forst sind die drängenden Probleme nicht zu übersehen und zu tagesaktuellen Aufgaben herangereift. In der Landwirtschaft hat immerhin eine Diskussion begonnen, wie diese nachhaltig im wahrsten Sinne des Wortes werden kann. Sie wird nicht mehr verstummen. Für all das brauchen wir eine Zieldefinition und öffentliche Kommunikation, die den ländlichen Räumen und ihren kleineren und größeren Siedlungen eine Perspektive zuerkennt. Einige Ansätze hierfür wurden in diesem Artikel umrissen, einige Projekte sind im IBA StadtLand Thüringen zu besichtigen. Sie müssen eingebettet werden in eine umfassende kulturelle Auseinandersetzung: Wie erweise ich den Menschen in Stadt und Land Respekt? Wie erweise ich der Landschaft Respekt?

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Autorinnen und Autoren

Arnold, Gregor, 1984 in Mainz geboren, studierte Geographie mit den Nebenfächern Soziologie, Politikwissenschaft und Anglistik und schloss das Studium mit einer Diplomarbeit über transnationale Migrationsprozesse und multilokale Dimensionen von Zuhause am Beispiel europäischer Transmigranten in Marrakesch, Marokko ab. Er ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Aktuell promoviert er über den strategischen und stadtplanerischen Umgang mit innerstädtischen Leerständen in deutschen Großstädten und Metropolregionen. Inhaltliche Schwerpunkte seiner Forschungen sind Migration, die Entstehung globaler Diasporagemeinschaften sowie Mediengeographie, Sozial- und Kulturgeographie, Stadtplanung, Stadtentwicklung und kritische Kartographie. Braun, Peter, Dr. phil. habil., ist Germanist und Medienwissenschaftler und leitet seit 2010 das Schreibzentrum an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena. Promotion (1996) an der Universität Hamburg; Habilitation (2003) an der Universität Konstanz. Neben einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Schreibforschung liegen seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte auf den Verbindungen zwischen Literatur und Ethnologie sowie den Beziehungen der Literatur zu anderen Medien. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich intensiv mit den Arbeiten von Leonore Mau und Hubert Fichte und mit jenen von Ilse Schneider-Lengyel. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Formen dokumentarischen Erzählens und der Creative Nonfiction. In den letzten Jahren edierte er die Briefe von Hubert Fichte an Leonore Mau unter dem Titel ICH BEIßE DICH ZUM ABSCHIED GANZ ZART (Frankfurt a.M. 2016), gab Bücher zu Wolfang Hilbig und Franz Fühmann heraus – HILBIGS BILDER (mit S. Pabst, Göttingen 2013) und INS INNERE (mit M. Straub, Göttingen 2016) – und legte das Arbeitsbuch OBJEKTBIOGRAPHIE (Weimar 2015) vor. Zuletzt erschien ILSE SCHNEIDER-LENGYEL: FOTOGRAFIN, ETHNOLOGIN, DICHTERIN. EIN PORTRÄT (Göttingen 2019).

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Busch, Claudia, Diplom-Agraringenieurin, arbeitet seit vielen Jahren in der sozialwissenschaftlichen Forschung (Universität Kassel, HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen) sowie in Praxisprojekten (u.a. Wettbewerb »Kerniges Dorf!«) zu Themen dörflicher Entwicklung und der Kombination von Landwirtschaft und sozialer Arbeit. Carstensen, Thorsten, Ph.D., Associate Professor of German an der Indiana University – Purdue University Indianapolis; seit Sommer 2020 auch Visiting Fellow am Duitsland Instituut bij de Universiteit van Amsterdam. Publikationen: ROMANISCHES ERZÄHLEN. PETER HANDKE UND DIE EPISCHE TRADITION (2013) sowie als Herausgeber DIE TÄGLICHE SCHRIFT. PETER HANDKE ALS LESER (2019), DAS ABENTEUER DES GEWÖHNLICHEN. ALLTAG IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR DER MODERNE (2018, mit M. Pirholt) und DIE LITERATUR DER LEBENSREFORM. KULTURKRITIK UND AUFBRUCHSTIMMUNG UM 1900 (2016, mit M. Schmid). Außerdem Aufsätze zu Architekturdiskursen in der Literatur, zum österreichischen Roman und zum amerikanischen Kino. Doehler-Behzadi, Marta, Dr., Stadtplanerin; Studium und Forschungsstudium an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, 1986 Promotion; Tätigkeiten im Büro des Chefarchitekten der Stadt Leipzig; seit 1993 gemeinsam mit Iris Reuther Leitung des Büros für urbane Projekte; seit 1994 Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, seit 2005 Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste; von 2007 bis 2014 Leitung des Referats Baukultur und Städtebaulicher Denkmalschutz im Bundesbauministerium; seit 2014 Geschäftsführerin der Internationalen Bauausstellung Thüringen. Dubil, Janwillem, Studium der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, der Älteren deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft und der Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Doktorand der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich mit dem Promotionsvorhaben »Theorie und Praxis der Comicverfilmung«. Publikation diverser Aufsätze, zuletzt: »What’s so funny about Love, Peace and the American Way? Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur Superman«, in: Pädagogische und didaktische Schriften, Band 15. Hacker, Katharina, geboren 1967 in Frankfurt am Main. Studium der Philosophie, Geschichte und Judaistik an der Universität Freiburg. 1990 Wechsel an die Hebräische Universität Jerusalem. Lebt und arbeitet seit 1996 als freie Autorin in Berlin. 1997 debütierte sie mit TEL AVIV. EINE STADTERZÄHLUNG im Suhrkamp Verlag. Für den Roman DIE HABENICHTSE erhielt sie 2006 den Deutschen Buchpreis. Des

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Weiteren erschienen u.a.: ALIX, ANTON UND DIE ANDEREN (2009), DIE ERDBEEREN VON ANTONS MUTTER (2010), EINE DORFGESCHICHTE (2011) und SKIP (2016). Hahne, Ulf, Universitätsprof., Dr. Diplom-Volkswirt. Langjährige Forschung und Beratungstätigkeit in Wirtschaftsförderung und Regionalentwicklung. 1999 Professur für Nachhaltige Regionalentwicklung an der Universität Kassel, Umbenennung 2005 in Ökonomie der Stadt- und Regionalentwicklung. Zahlreiche Ehrenämter, u.a. Redakteur für Ländliche Regionalentwicklung des jährlichen erscheinenden Kritischen Agrarberichts. Heinz, Marcus, 2007-2015 Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und der Waseda University Tokyo. Seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Kultursoziologie des Instituts für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Das Promotionsprojekt beschäftigt sich anhand eines raumsoziologischen Schwerpunktes mit der Konstruktion konkurrierender Ländlichkeiten. Das primäre Untersuchungsgebiet bilden die neuen Bundesländer. Publikationen u.a.: »LOKALE AGENTEN DES RURALEN IN DER SPÄTEN MODERNE. ÜBERLEGUNGEN ZUR SOZIALEN KONSTRUKTION LÄNDLICHER RÄUME« (in: Marszalek/Nell/Weiland (Hg.): ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT, Bielefeld 2018). Herbing, Alina, geboren 1984 in Lübeck, aufgewachsen in MecklenburgVorpommern, lebt in Berlin und Köln. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Greifswald, Neuere deutschsprachige Literatur in Berlin sowie Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Literarisches Schreiben in Hildesheim und war Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA TRISTE. Für ihren Debüt-Roman NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017) erhielt sie unter anderem den Friedrich-HölderlinFörderpreis der Stadt Bad Homburg. Sie unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln. Hißnauer, Christian, Dr. phil., seit 2017 Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Soziologie, Theater- und Filmwissenschaft in Mainz. 2004-2016 wiss. Mitarbeiter an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Fernsehgeschichte, Theorie, Geschichte und Ästhetik dokumentarischer und hybrider Formen in Film und Fernsehen, audiovisuelle Erinnerungs-/Geschichtskulturen, Serien- und Serialitätsforschung, Dorf- und Landleben intermedial. Publikationen u.a.: FERNSEHDOKUMENTARISMUS. THEORETISCHE NÄHERUNGEN, PRAGMATISCHE ABGRENZUNGEN, BEGRIFFLICHE KLÄRUNGEN, Konstanz 2011; FÖDERALISMUS IN SERIE. DIE EINHEIT DER ARD-REIHE TATORT IM HISTORISCHEN VERLAUF (gem. mit C. Stockinger und S. Scherer), Paderborn 2014; PERSONEN BESCHREIBEN, LEBEN ERZÄHLEN. DIE FERN-

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GEORG STEFAN TROLLER UND HANS-DIETER GRABE, Wiesbaden 2017; PROVINZ ERZÄHLEN. WIE DIE UCKERMARK ZU EINEM RAUM DES GUTEN LEBENS WIRD (gem. mit C. Stockinger), Bielefeld 2021. SEHPORTRÄTS VON

Kasper, Norman, PD Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2011 Promotion mit einer Arbeit zum frühen Ludwig Tieck; 2019 Habilitation mit einer Arbeit zu Ernst Jünger. Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Theorie in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Visualität und Medialität in Aufklärung und Romantik, Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung im Vergleich, Literatur und Vorgeschichte. Publikationen u.a.: PRAXIS UND DISKURS DER ROMANTIK 1800-1900 (hrsg. gem. mit J. Strobel, Paderborn 2016); ASOZIALITÄT UND AURA. WOLFGANG HILBIG UND DIE ROMANTIK, (hrsg. gem. mit G. Theile, München 2017); EPISTEME DES »UR« BEI ERNST JÜNGER. PALÄONTOLOGIE UND VORGESCHICHTE, Berlin/New York 2020. Knode, Felix, Studium der Germanistik und Linguistik in Potsdam, 2016-2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz und Resilienz als Parameter anthropogenen Handelns in der Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen, seit Januar 2020 Stipendiat der Stiftung Bildung und Wissenschaft. Publikationen unter anderem zur literarischen Idyllik, Friedrich Heinrich Jacobi und der Literatur und Musik von AntiAtomkraft-Widerstandsbewegungen. Kreis, Joachim, Diplom-Politologe. Langjährige empirische Sozialforschung in verschiedenen universitären und außeruniversitären Projekten, zzt. im ThünenInstitut für Ländliche Räume. Einige Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter im praktischen Politikbetrieb. Krings, Marcel, PD Dr., Akademischer Oberrat am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, Studium der Germanistik und Romanistik in Heidelberg und Paris, Promotion zum Dr. phil. und zum Docteur ès Lettres. Publikationen u.a.: SELBSTENTWÜRFE. ZUR POETIK DES ICH BEI VALÉRY, RILKE, CELAN UND BECKETT, Tübingen 2005; (Hg.) DEUTSCH-FRANZÖSISCHE LITERATURBEZIEHUNGEN, Würzburg 2007; (Hg.) PHONO-GRAPHIEN. AKUSTISCHE WAHRNEHMUNG IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR VON 1800 BIS ZUR GEGENWART, Würzburg 2011; DER SCHÖNE SCHEIN. ZUR KRITIK DER LITERATURSPRACHE IN GOETHES ›LEHRJAHREN‹, FLAUBERTS ›EDUCATION SENTIMENTALE‹ UND KAFKAS ›VERSCHOLLENEM‹, Tübingen 2016; FRANZ KAFKA: DER LANDARZT-ZYKLUS. FREIHEIT – LITERATUR – JUDENTUM, Heidelberg 2017; FRANZ KAFKA: ›BESCHREIBUNG EINES KAMPFES‹ UND ›BETRACHTUNG‹. FRÜHWERK – FREIHEIT – LITERATUR, Heidelberg 2018. Zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur des 17.-20. Jahrhunderts.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Ludewig, Alexandra, Dr. phil., Professorin für Germanistik und Institutsleiterin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der University of Western Australia. Studium der Germanistik und Anglistik in Aachen, Johannesburg, München und Brisbane. Promotionen zum PhD und zum Dr. phil. an der LMU München und der University of Queensland. Habilitation zur Geschichte des deutschen Heimatfilmes. Publikationen u.a.: SCREENING NOSTALGIA. 100 YEARS OF GERMAN HEIMAT FILM (2011), ZWISCHEN KORALLENRIFF UND STACHELDRAHT. INTERNIERT AUF ROTTNEST ISLAND 1914-15 (2015), BORN GERMAN. RE-BORN IN WESTERN AUSTRALIA (2016). Maier, Andreas, geboren 1967 in Bad Nauheim, Studium der Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main. Seit 2005 Mitglied des PENZentrums Deutschland und seit 2015 Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, u.a. Aspekte-Literaturpreis (2001), Clemens-Brentano-Preis (2003), Wilhelm Raabe-Literaturpreis (2010). Buchpublikationen u.a.: WÄLDCHESTAG (2000), KIRILLOW (2005), SANSSOUCI (2009). Seit 2010 Veröffentlichung des autobiografischen Großprojekts ORTSUMGEHUNG, davon bisher erschienen: DAS ZIMMER (2010), DAS HAUS (2011), DIE STRASSE (2013), DER ORT (2015), DER KREIS (2016), DIE UNIVERSITÄT (2018), DIE FAMILIE (2019). Moser, Natalie, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam; seit Wintersemester 2019 Vertretung der Professur für Neuere deutsche Literatur/19.-21. Jahrhundert am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Publikationen: DIE ERZÄHLUNG ALS BILD DER ZEIT. WILHELM RAABES NARRATIV INSZENIERTE BILDDISKURSE (2015) sowie Aufsätze u.a. zu den Forschungsschwerpunkten Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, RealismusTheorien, literarische Zeit- und Ende-Reflexionen. Nell, Werner, Prof. Dr., geboren in St. Goar am Rhein, 1998-2019 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). John-G.-Diefenbaker Award des Canada Councils of the Arts 2017; Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Publikationen u.a.: ATLAS DER FIKTIVEN ORTE (2012); IMAGINÄRE DÖRFER (2014, hrsg. gem. mit M. Weiland); VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ? (2015, hrsg. gem. mit C. Gansel); ÜBER LAND (2017, hrsg. gem. mit M. Marszałek u. M. Weiland), DORF. EIN INTERDISZIPLINÄRES HANDBUCH (2019, hrsg. gem. mit M. Weiland).

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| GUTES L EBEN AUF DEM LAND?

Nesselhauf, Jonas, Dr. phil., Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Kunstgeschichte, Promotion mit einer komparatistischen Thematologie der Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Von 2016 bis 2018 Post-Doc an der Universität Vechta in den Fächern Kulturwissenschaften und Germanistik. Derzeit Juniorprofessor für »Europäische Medienkomparatistik« in der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität des Saarlandes. Publikationen u.a.: FERNSEHSERIEN – GESCHICHTE, THEORIE, NARRATION (2016, gem. mit M. Schleich); DER EWIGE ALBTRAUM. ZUR FIGUR DES KRIEGSHEIMKEHRERS IN DER LITERATUR DES 20. UND 21. JAHRHUNDERTS (2017). Nolde, Hendrik, Studium der Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Marburg und Bonn. Seit 2018 Doktorand am Graduiertenkolleg ›Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung‹ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dissertationsprojekt: Poetik des globalen Dorfes: Transnationale Erzählliteratur vom ländlichen Raum als Reflexionsmedium der Globalisierung. Piatti, Barbara, Dr. phil., ist Germanistin. Nach Stationen u.a. an der Stanford University, an der Karls-Universität in Prag, als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und als Forschungsgruppenleiterin an der ETH Zürich (»Ein literarischer Atlas Europas«) hat sie 2014 ihre eigene Firma gegründet. Zu ihren Spezialgebieten gehört die Literaturgeographie. Ausgewählte Publikationen: DIE GEOGRAPHIE DER LITERATUR. SCHAUPLÄTZE, HANDLUNGSRÄUME, RAUMPHANTASIEN (2008); VIERWALDSTÄTTERSEE & GOTTHARD. WIE DU DIESE LANDSCHAFT NOCH NIE GESEHEN HAST (2016). www.barbara-piatti.ch. Reda, Jens, Studium der Geographie sowie der Stadt- und Regionalentwicklung in Kiel. Seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-geförderten Projekt »Engagement und Alltag. Eine Analyse zivilgesellschaftlicher Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen aus praktikentheoretischer Perspektive« am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ländliche Entwicklung und zivilgesellschaftliches Engagement. Konzeptionell beschäftigt er sich v.a. mit diskurs- und praxistheoretischen Ansätzen in der Humangeographie. Publikationen u.a.: »ZIVILGESELLSCHAFTLICHES ENGAGEMENT IN LÄNDLICHEN RÄUMEN. KRITISCHE PERSPEKTIVEN AUF EINE SOZIALE PRAXIS« (in Mießner/Naumann (Hg.): KRITISCHE GEOGRAPHIEN LÄNDLICHER ENTWICKLUNG, Münster 2019)

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Redepenning, Marc, Prof. Dr., 2000-2007 wiss. Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Länderkunde und am Institut für Geographie in Leipzig, von 2007 bis 2011 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Lehrstuhlvertretungen in Jena und Mainz; seit 2012 Professor für Kulturgeographie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit Schwerpunkten im Bereich der Sozial- und Bevölkerungsgeographie. Publikationen u.a.: WOZU RAUM? SYSTEMTHEORIE, CRITICAL GEOPOLITICS UND RAUMBEZOGENE SEMANTIKEN, Leipzig 2006; FIGUREN DES LÄNDLICHEN. EIN BEITRAG ZU EINER SOZIALGEOGRAPHIE DER GRENZZIEHUNGEN UND UNTERSCHEIDUNGEN, Habilitationsschrift, Jena 2010; BIERKELLER UND BRAUEREIEN IM BAMBERGER LAND. EINE SOZIAL- UND KULTURGEOGRAPHISCHE UNTERSUCHUNG ZUR KULTURELLEN BEDEUTSAMKEIT, ZU REGIONALITÄT UND NETZWERKEN, Bamberg 2016. Römhild, Antje, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, war an verschiedenen interdisziplinären Projekten zur Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen und sozialen Dienstleistungen für ältere Menschen (FH Erfurt, HAWK Hildesheim/ Holzminden/Göttingen) beteiligt. Rosenthal, Caroline, Prof. Dr. phil., ist Amerikanistin an der Friedrich-SchillerUniversität, Jena. Promotion (2001) und Habilitation (2007) an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der transatlantischen Romantik und der Aktualisierung romantischer Ideen, der vergleichenden Analyse literarischer und kultureller Natur- und Raumkonzeptionen sowie der Darstellung von und Reflexion auf Formen kultureller Mobilität und Konzeptionen des Anthropozäns in der nordamerikanischen Literatur und Kultur. Dazu legte sie mehrere Buchpublikationen vor – u.a.: ANGLOPHONE LITERATURE AND CULTURE IN THE ANTHROPOCENE (hg. gem. mit G. Comos, 2019), GAINED GROUND: PERSPECTIVES ON CANADIAN AND COMPARATIVE NORTH AMERICAN STUDIES (hg. gem. mit E. Gruber, 2018) sowie NEW YORK AND TORONTO NOVELS AFTER POSTMODERNISM: EXPLORATIONS OF THE URBAN (2011) und SCHWELLENTEXTE DER WELTLITERATUR (hg. gem. mit R. Nischik, 2002). Sie ist Mitglied des Graduiertenkollegs Modell Romantik. Neben diversen anderen Ämtern war sie u.a. Präsidentin der Gesellschaft für KanadaStudien und ist aktuell Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung für KanadaStudien. Schneider, Ulrike, Dr. phil., seit 2010 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft/Germanistik an der Universität Potsdam Schwerpunkt deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte. Publikationen: JEAN AMÉRY UND FRED WANDER. ERINNERUNG UND POETOLOGIE IN DER DEUTSCHDEUTSCHEN NACHKRIEGSZEIT (2012); Mitherausgeberin mehrerer Sammelbände sowie Aufsätze zur Nachkriegs- und Holocaustliteratur, deutsch-jüdischen Literatur und zu Zeitzeugenschaft und Erinnerungskulturen.

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Schubenz, Klara, Dr. phil., Studium der Germanistik, Philosophie und Komparatistik in Tübingen und New Haven. 2013-2016 Kollegiatin im Graduiertenkolleg ›Das Reale in der Kultur der Moderne‹ an der Universität Konstanz, 2016-2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz, seit 2020 Mitarbeiterin der Klassik Stiftung Weimar. Publikationen u.a.: DER WALD IN DER LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS. GESCHICHTE EINER ROMANTISCH-REALISTISCHEN RESSOURCE (Göttingen, 2020). Steiner, Johanna, Studium der Germanistik in Leipzig und Leiden/Niederlande. 2014-2015 Junior Fellow für Schweizerdeutsche Literatur an der Queen Mary University of London, danach Mitarbeit am ersten Band der Uwe JohnsonWerkausgabe MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB an der Universität Rostock. Seit 2017 promoviert sie dort im Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft über die Künstlerkolonie Drispeth als sozialen, künstlerischen und politischen Raum in der DDR. Stockinger, Claudia, Prof. Dr. phil., seit 2017 Professorin für Neuere deutsche Literatur (19.-21. Jahrhundert) an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2002-2017 Professorin für Neuere deutsche Literatur- und Mediengeschichte an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts; Literatur und Literaturbetrieb der Gegenwart; das Verhältnis von Literatur und Religion; Ästhetik und Praxis populärer Serialität; Literatur- und Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts; Dorfgeschichte; Medizin und Zeitlichkeit; Theorien der Kanonbildung; Polemiologie. Publikationen u.a.: DAS DRAMATISCHE WERK FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉS. EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES ROMANTISCHEN DRAMAS, Tübingen 2000; DAS 19. JAHRHUNDERT. ZEITALTER DES REALISMUS, Berlin 2010; FÖDERALISMUS IN SERIE. DIE EINHEIT DER ARD-REIHE TATORT IM HISTORISCHEN VERLAUF (gem. mit C. Hißnauer und S. Scherer), Paderborn 2014; AN DEN URSPRÜNGEN POPULÄRER SERIALITÄT: DAS FAMILIENBLATT DIE GARTENLAUBE, Göttingen 2018; PROVINZ ERZÄHLEN. WIE DIE UCKERMARK ZU EINEM RAUM DES GUTEN LEBENS WIRD (gem. mit C. Hißnauer), Bielefeld 2021. Streifeneder, Thomas, PD Dr. phil., Wirtschaftsgeograph, leitet das Institut für Regionalentwicklung an der privaten Forschungseinrichtung Eurac Research in Bozen (www.eurac.edu). Beschäftigte sich im Rahmen der Promotion und Habilitation an der LMU München mit den agrarischen und sozioökonomischen Transformationen im ländlichen Raum und den Alpen. Publizierte wissenschaftliche Artikel u.a. zu den Themen Berglandwirtschaft und Agrarstrukturwandel in den Alpen, Agrotourismus und Makroregion Alpen.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Thaler, Jürgen, Dr. phil., geboren 1968, seit 1999 leitender Archivar, seit 2018 Leiter des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek. Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. 1995/96 Junior Fellow am Institut für Kulturforschung Wien, 1996/97 Doktoratsstipendiat an der Freien Universität Berlin, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 1997/98 Stipendiat am Franz Rosenzweig-Forschungszentrum der Hebrew University of Jerusalem. 2001 Promotion an der FU Berlin mit der Arbeit DRAMATISCHE SEELEN. TRAGÖDIENTHEORIEN IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT (erschienen bei Aisthesis 2001), 2001/02 Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar an der UB Wien. Publikationen und Editionen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Archivtheorie und Geistesgeschichte, Kurator von Ausstellungen und Veranstaltungsreihen. Herausgeber des JAHRBUCHS DES FRANZ-MICHAEL-FELDER-ARCHIVS. van Lessen, Julia, geb. Rössel, 1983 in Koblenz geboren, Studium für Lehramt mit den Fächern Geographie und Germanistik. Promotion zum Dr. phil. mit der Arbeit AUF DER SUCHE NACH DEM GUTEN LEBEN. RAUMPRODUKTIONEN DURCH ZUGEZOGENE IN DER UCKERMARK (2014). Seit 2011 wiss. Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsinteressen: Sozialgeographie, Rural Geography, Produktion von Raum, Medien und Alltagsleben. Weiland, Marc, Dr. phil., geboren 1984 in Lutherstadt Eisleben. 2014-2019 wiss. Koordinator des Forschungsprojekts EXPERIMENTIERFELD DORF an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2019 wiss. Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, der Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart sowie literarischer und medialer Ländlichkeiten. Publikationen u.a.: IMAGINÄRE DÖRFER (2014, gem. mit W. Nell), ÜBER LAND (2017, hrsg. gem. mit M. Marszałek u. W. Nell), TOPOGRAFISCHE LEERSTELLEN (2018, hrsg. gem. mit M. Ehrler), DORF. EIN INTERDISZIPLINÄRES HANDBUCH (2019, hrsg. gem. mit W. Nell), KLEINSTADTLITERATUR (2020, hrsg. gem. mit W. Nell). Zeller, Heike, ist geboren und aufgewachsen im Allgäu, bildete sich in Tübingen, Ravensburg, München und Stirling, U.K. zur Diplom-Betriebswirtin (BA) und zur Diplom-Soziologin (uinv.), war Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und arbeitete unter anderem beim Bayerischen Rundfunk, in der soziologischen Lehre und Forschung (zu moderner Komplexität und Berglandwirtschaft), in einem EU-Projekt, bei einem Lebensmitteleinzelhandelskonzern und als Sennerin. Mittlerweile ist die geprüfte Käse-Sommelière mit AHEU – REGIONALE VERMARKTUNGSSTRATEGIEN selbständig und bloggt auf www.aheu.blog.

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)

Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4

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