Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? 351511064X, 9783515110648

Die Endlichkeit der Rohstoffe und die Verletzlichkeit unserer Umwelt waren und sind Herausforderungen, auf die jede Gene

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German Pages 274 [282] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart:
Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? – Zur Einführung
Überlegungen zur Nutzung materieller Ressourcen in der Geschichte:
Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit?
TEIL 1: UMWELT: WALD UND HOLZ ALS RESSOURCE
Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit? Ansätze zu Ressourcenschutz
und Ressourcenregeneration im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen
Schleswig-Holstein
Korreferat zum Beitrag von Oliver Auge „Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?“
Von Waldglashütten, Teeröfen und anderen Formen traditioneller
Holznutzung. Brandenburg-preußische Staatswirtschaft im Spannungsfeld
von Nachhaltigkeitsdenken und Ressourcenbegrenzung, Landesausbau
und Peuplierungspolitik vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert
Korreferat zu Matthias Asche „Von Waldglashütten, Teeröfen und anderen Formen traditioneller Holznutzung“
TEIL 2: BERGBAU UND RESSOURCENNUTZUNG
Umweltfaktoren im kolonialen Bergbau Hispanoamerikas
Korreferat zum Beitrag von Renate Pieper „Umweltfaktoren im kolonialen Bergbau Hispanoamerikas“
Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische
Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982
Korreferat zum Beitrag von Ole Sparenberg „Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982“
TEIL 3: UMWELT UND NACHHALTIGKEIT
Eine Tragödie der Allmende? Die Bodenseefischerei 1350–1900
Ökonomie, Ökologie oder Ideologie? Motivationen für das Recycling
von Altpapier im 20. Jahrhundert
Korreferat zum Beitrag von Heike Weber „Ökonomie, Ökologie oder Ideologie? Motivationen für das Recycling von Altpapier im 20. Jahrhundert“
TEIL 4: INDUSTRIE UND UMWELT
Industrialisierung als Umwelt-Integration. Konzeptionelle Überlegungen zur ökologischen Basis moderner Industrieunternehmen
Korreferat zum Beitrag von Mathias Mutz „Industrialisierung als Umwelt-Integration“
Ökologische Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung
in der Tschechoslowakei 1948 bis 1989
Korreferat zum Beitrag von Jana Geršlová „Ökologische Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklungin der Tschechoslowakei 1948 bis 1989“
„Leck im Raumschiff Erde“. Die Entdeckung des Ozonlochs und die
Reaktion westdeutscher Chemieunternehmen auf Forderungen
nach einem FCKW-Verbot (1974–1995)
Korreferat zum Beitrag von Christian Marx „Leck im Raumschiff Erde“
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit?
 351511064X, 9783515110648

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Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.) Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet

band 233

Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.)

Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? Erträge der 25. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozialund Wirtschaftsgeschichte vom 3. bis 6. April 2013 in Salzburg

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Umschlagabbildung: Claudia Fährenkemper, Schaufelradbagger 258 I, Garzweiler 1991 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11064-8 (Print) ISBN 978-3-515-11067-9 (E-Book)

INHALT Vorwort....................................................................................................................9 Günther Schulz / Reinhold Reith Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? – Zur Einführung ............................................ 11 Reinhold Reith Überlegungen zur Nutzung materieller Ressourcen in der Geschichte: Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? .........................................................................17 TEIL 1: WALD UND HOLZ ALS RESSOURCE Oliver Auge Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit? Ansätze zu Ressourcenschutz und Ressourcenregeneration im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schleswig-Holstein ...............................................................................................31 Winfried Freitag Korreferat zu Oliver Auge ....................................................................................53 Matthias Asche Von Waldglashütten, Teeröfen und anderen Formen traditioneller Holznutzung. Brandenburg-preußische Staatswirtschaft im Spannungsfeld von Nachhaltigkeitsdenken und Ressourcenbegrenzung, Landesausbau und Peuplierungspolitik vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert .......................59 Roman Sandgruber Korreferat zu Matthias Asche ...............................................................................77 TEIL 2: BERGBAU UND RESSOURCENNUTZUNG Renate Pieper Umweltfaktoren im kolonialen Bergbau Hispanoamerikas ..................................89 Helmut Lackner Korreferat zu Renate Pieper ................................................................................103

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Inhalt

Ole Sparenberg Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982....................109 Lars Bluma Korreferat zu Ole Sparenberg .............................................................................125 TEIL 3: UMWELT UND NACHHALTIGKEIT Michael Zeheter Eine Tragödie der Allmende? Die Bodenseefischerei 1350–1900......................133 Heike Weber Ökonomie, Ökologie oder Ideologie? Motivationen für das Recycling von Altpapier im 20. Jahrhundert........................................................................153 Georg Stöger Korreferat zu Heike Weber .................................................................................181 TEIL 4: INDUSTRIE UND UMWELT Mathias Mutz Industrialisierung als Umwelt-Integration. Konzeptionelle Überlegungen zur ökologischen Basis moderner Industrieunternehmen .........................................................................................191 Franz-Josef Brüggemeier Korreferat zu Mathias Mutz ................................................................................215 Jana Geršlová Ökologische Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung in der Tschechoslowakei 1948 bis 1989 .............................................................219 Christoph Boyer Korreferat zu Jana Geršlová ...............................................................................233 Christian Marx „Leck im Raumschiff Erde“. Die Entdeckung des Ozonlochs und die Reaktion westdeutscher Chemieunternehmen auf Forderungen nach einem FCKW-Verbot (1974–1995) ............................................................241

Inhalt

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Michael Toyka-Seid Korreferat zu Christian Marx .............................................................................267 Autorinnen und Autoren .....................................................................................273

VORWORT Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) hatte ihre Mitglieder und alle interessierten Kolleginnen und Kollegen zu ihrer 25. Arbeitstagung vom 3. bis 6. April 2013 nach Salzburg eingeladen. Die Tagung stand unter der Thematik „Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit?“ Neben den Vorträgen, Korreferaten und Diskussionen umfasste sie auch eine Poster-Session – betreut von Herrn Prof. Dr. Jörg Baten und Herrn Prof. Dr. Gerhard Fouquet, denen dafür ein herzliches Dankeschön gilt –, bei der zahlreiche junge Forscherinnen und Forscher ihre Projekte vorstellten. Ferner wurde im Rahmen der Tagung der Friedrich Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für eine herausragende wirtschaftshistorische Dissertation verliehen. Den Preis erhielt Herr Dr. Tobias Alexander Jopp (Universität Hohenheim, jetzt Regensburg) für seine Arbeit „Insurance, Fund Size, and Concentration – Prussian Miners. Knappschaften in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries and Their Quest for Optimal Scale“. Die Studie wurde von Prof. Dr. Jochen Streb (Mannheim) betreut. Sie verbindet hohen methodisch-theoretischen Anspruch mit profunder Quellenauswertung und untersucht die Konstruktion und Entwicklung der Knappschaften von 1861 bis 1920, insbesondere Fragen der optimalen Betriebsgröße, des Risikomanagements und der Überalterung und leistet damit einen Beitrag auch zur heutigen Diskussion über unsere Sozialversicherung, für die die Knappschaft ein Modell war. Die Salzburger Tagung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt, die auch einen Zuschuss zum Druck des vorliegenden Bandes gab, ferner von der Universität Salzburg und dem Land Salzburg. Die Poster-Session wurde von der Winkel-Stiftung gefördert. Für die Unterstützung herzlichen Dank. Die Organisation der Tagung vor Ort lag in den Händen von Herrn Prof. Dr. Reinhold Reith und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ihnen allen, insbesondere aber Frau Marianne Jagerhofer, sei abschließend ein herzlicher Dank für die effiziente Organisation gesagt, den reibungslosen Ablauf und die angenehme Tagungsatmosphäre sowie die engagierte gute Zusammenarbeit. Für die Vorbereitung der Drucklegung dieses Tagungsbandes gilt mein Dank Herrn Dr. Thomas Urban, Frau Dr. Regine Jägers und Frau Dr. Tanja Junggeburth. Günther Schulz Bonn, im Januar 2015

WIRTSCHAFT UND UMWELT VOM SPÄTMITTELALTER BIS ZUR GEGENWART: AUF DEM WEG ZU NACHHALTIGKEIT? – ZUR EINFÜHRUNG Günther Schulz, Bonn / Reinhold Reith, Salzburg Mit der gewählten Thematik knüpft die Tagung an die jüngeren Forschungsarbeiten zur Frage der historischen Interaktion von Mensch und Umwelt mit dem Ziel an, die spezifische Position der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in diesem Feld zu diskutieren und zu weiterer historischer Forschung anzuregen. Vor dem Hintergrund der mit zunehmender Intensität geführten aktuellen Debatte um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen vermag eine historisierende Perspektive der Diskussion neue Sichtweisen und Impulse zu vermitteln. Lassen sich historische Etappen eines gesellschaftlichen Wandels identifizieren, der vor allem die westlichen Gesellschaften auf den „Weg zu mehr Nachhaltigkeit“ führte? Mit welchen Konzepten reagierten etwa die chemische Industrie und Automobilwirtschaft auf die zunehmenden gesellschaftlichen Forderungen nach verstärkter Berücksichtigung des Umweltschutzes? Waren Altpapier-Recycling und die Abkehr von der Wegwerfgesellschaft nur Errungenschaften der Umweltbewegung der 1970er Jahre, oder hatten sie längere Wurzeln? Inwiefern lassen sich derartige Wandlungsprozesse in nationalstaatlicher oder europäischer Perspektive überhaupt noch angemessen beschreiben? Ist angesichts der globalen wirtschaftlichen Verflechtung nicht ein umfassender Blick auf den „Blue Planet“ gefordert? Mit solchen Fragen greift die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eine Thematik wieder auf, die sie bereits 1981 bei einer Tagung in Freiburg im Breisgau behandelt hatte.1 Anknüpfend an ihre langjährige Tradition sucht sie auch jetzt die Themen nicht nur zeitgeschichtlich zu beantworten, sondern „Wirtschaft und Umwelt“ in übergreifender, vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichender Perspektive in den Blick zu nehmen. Die Resonanz auf den Call for Papers war groß und zeigt, dass die Thematik in der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung viel Aufmerksamkeit findet. Mit den im vorliegenden Band abgedruckten beispielhaft auswählenden, theoretisch-systematischen wie empirischen Beiträgen sollen damit zugleich die Spannweite, Vielfalt und Einheit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in inhaltlicher, theoretischer, methodischer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht demonstriert werden.2 Das Angebot an Beiträgen legte die Gliede1 2

Hermann Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14.–20. Jahrhundert). Bericht der 9. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (30.3.–1.4.1981). Wiesbaden 1982. Luisa Pichler: Tagungsbericht „Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? 25. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirt-

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Günther Schulz / Reinhold Reith

rung in thematische Sektionen nahe, sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht. Zum Abdruck im vorliegenden Band wurden die Referate und Korreferate überarbeitet, teilweise erweitert sowie mit Fußnoten versehen. Im Einleitungsbeitrag lotet Reinhold Reith (Salzburg) die potentiellen Schnittmengen zwischen der historischen Umweltforschung und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus – er sieht sie vor allem im Umgang mit den materiellen Ressourcen. In der Diskussion um Nachhaltigkeit seien Ansätze und Perspektiven entwickelt worden, die auch für eine historische Betrachtung tragfähig seien. Die Thematik Nachhaltigkeit sei allerdings bisher überwiegend nur mit Blick auf Wald und Holz thematisiert worden, deshalb seien in einer längeren und breiteren Perspektive der Umgang mit naturalen Ressourcen und insbesondere die Strategien der Ressourcennutzung in den Blick zu nehmen. Demgemäß ist die erste Sektion dem Thema „Wald und Holz als Ressource“ gewidmet. Die Beschäftigung damit reicht in die Anfänge der Umweltgeschichte zurück, erfolgt aber auch gegenwärtig intensiv, wobei empirische Studien frühere pauschale Einschätzungen mehr und mehr auflösen. Es sind überwiegend regionale Studien, die zu einem neuen Forschungsstand geführt haben. Oliver Auge (Kiel) behandelt im ersten Beitrag für das Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins Strategien des frühneuzeitlichen Ressourcenschutzes, die nach Phasen der Übernutzung ab der Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzten. Einen umsichtigen bis nachhaltigen Umgang mit Wald und Holz habe es allerdings nur dort gegeben, wo sich dieser als wirtschaftlich zwingend erwies. Winfried Freitag (München) mahnt in seinem Kommentar einen strengeren Umgang mit dem Begriff Nachhaltigkeit an und schlägt vor, über das Holz hinaus den Fokus auf die Stellung des Waldes im gesellschaftlichen Stoffwechsel überhaupt zu richten. Freitag sieht die historischen Gebiete des heutigen Schleswig-Holsteins jedenfalls nicht auf dem Weg „zur“, sondern „weg von der Nachhaltigkeit“. Für Matthias Asche (Tübingen) bildet das Fehlen einschlägiger Arbeiten zur preußischen Entwicklung und Sicht auf die kameralistischen und spezifisch forstlichen Diskurse um Nachhaltigkeit und Ressourcenknappheit in der borussischen Historiographie den Ansatzpunkt für eine regionale Fallstudie zur Mark Brandenburg. Hier wurde der nachhaltige Umgang mit der Ressource Wald dem Landesausbau untergeordnet. Eine Professionalisierung der Forstwirtschaft entwickelte sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Roman Sandgruber (Linz) greift den Standarddiskurs der Wirtschaftspolitik des 18. Jahrhunderts – die „Holznot“ – auf: Es sei schwer zu entscheiden, was an den Klagen über den Holzmangel real, prophylaktisch oder auch nur inszeniert war. Der Holzbedarf sei allerdings sehr ungleich verteilt und die Ansprüche an den Wald seien vielfältig und widersprüchlich gewesen. Für Österreich skizziert er mehrere Strategien zur Überwindung der Holzknappheit, die von der Steigerung der Holzproduktion durch rationelle Waldbewirtschaftung über Sparstrategien, Optimierung des Wirkungsgrades der Feuerung bis zu Verlagerungs- und Substitutionsstrategien reichten. schaftsgeschichte, 3.4.2013–6.4.2013, Salzburg, http://www.gswg.net/images/downloads/ tagungsbericht_25._arbeitstagung.pdf.

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Auch der zweite Block mit dem Titel „Bergbau und Ressourcennutzung“ ist zeitlich übergreifend angelegt: Renate Pieper (Graz) behandelt den kolonialen Bergbau in Hispanoamerika – besonders die Reviere Potosí in Hochperu/Bolivien und Guanajuato in Neuspanien/Mexiko. Sie vertritt die These, dass der Bergbau in Hispanoamerika (mit Blick auf Holz und Wasser) ressourcensparender betrieben wurde als in den europäischen Montanregionen. Allerdings hätten spezifische Verfahren erhebliche Gesundheitsbelastungen der Arbeiter mit sich gebracht. Helmut Lackner (Wien) unterstützt die globale Erweiterung der Montangeschichte und plädiert in seinem Kommentar dafür, die Unterschiedlichkeit der Lagerstätten im Auge zu behalten und bei der Abschätzung der Umweltauswirkungen (z. B. beim Quecksilber) jeweils auch die globalen Vernetzungen zu berücksichtigen. Aus dieser Perspektive seien die Auswirkungen der hispanoamerikanischen Silbergewinnung auf Mensch und Umwelt gravierender einzuschätzen. Ole Sparenberg (Saarbrücken) greift das Thema des Tiefseebergbaus auf. Das Jahrzehnt von 1972 bis 1982 gilt als Höhepunkt des wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Interesses an den Manganknollen, die am pazifischen Tiefseeboden abgebaut werden sollten, auch mit dem Argument, dadurch die Umweltauswirkungen des konventionellen Bergbaus zu verringern. Sparenberg erörtert Motive und Erwartungen, Eigentums- und Nutzungsrechte am Tiefseeboden und ökologische Aspekte, zumal der Tiefseebergbau der erste großflächige Eingriff in das Ökosystem der Tiefsee gewesen sei und das Projekt just zu der Zeit entstand, als die Frage nach den Umweltauswirkungen in den westlichen Gesellschaften verstärkt gestellt wurde. Nach der Einschätzung von Lars Bluma (Bochum) waren Realisierung und Regulierung des Tiefseebergbaus zumindest bis in die 1980er Jahre nicht nur eine Frage ökonomischer Rationalität, sondern wurden auch von visionären Hoffnungen im Übergang von technokratischer Hochmoderne zur Postmoderne maßgeblich angetrieben. In wissenschaftlicher und technischer Hinsicht sei der Tiefseebergbau spätestens seit den 1980er Jahren keine Utopie, sondern konkret möglich gewesen. Bluma resümiert, dass es nicht zu einer Förderung der Meeresschätze gekommen sei, liege nicht an ökologischen Bedenken, sondern am institutionellen Rahmen (internationale Seerechtskonferenzen) sowie an der Entwicklung der Metallpreise (für Nickel und Kobalt). Im folgenden Block „Umwelt und Nachhaltigkeit“ stellt Michael Zeheter (Trier) am Beispiel der Bodenseefischerei von 1350 bis 1900 Garrett Hardins These von der „Tragödie der Allmende“ auf den Prüfstand. Trotz gemeinschaftlicher Nutzung sei es im Untersuchungszeitraum nicht zu einer Krise (Überfischung) gekommen. Eine Tragödie der Allmende konnte vermieden werden, obwohl die Voraussetzungen für ein solches Szenario durchaus gegeben waren. Zeheter betont die Bedeutung der Zünfte und der Fischerordnungen für die „commons“ in institutioneller Hinsicht. Heike Weber (Wuppertal) behandelt in ihrem Beitrag zum Altpapierrecycling in Deutschland den schmalen Grat zwischen nachhaltigem Wirtschaften und ideologischer Mobilisierung: Die wirtschaftliche Rolle des Papierrecyclings in den Haushalten sei bis in die 1980er Jahre gering gewesen, sie korrespondiere dennoch mit einer ideologischen Mobilisierung durch Topoi wie der der „Waldrettung“ und

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des „geschlossenen Kreislaufs“. Georg Stöger (Salzburg) schlägt in seinem Kommentar vor, den Fokus auf die Mikroebene bzw. die Akteure des Recyclings zu legen und dafür lebensgeschichtliche Quellen nutzbar zu machen. Im letzten Block wird das Verhältnis von „Industrie und Umwelt“ thematisiert: Mathias Mutz (Aachen) plädiert für eine Sichtweise der Industrialisierung als Umweltintegration am Beispiel der Papierindustrie, einer Branche, die durch den Zugriff auf Wasser und Holz stark in naturale Zusammenhänge integriert war und ist. Raumerschließung, Technisierung, Ressourcenmanagement und Wissensproduktion stehen in dieser Hinsicht für die Herausforderungen und Strategien unternehmerischer Umweltnutzung. Er plädiert schließlich dafür, Umwelt als Basis und zugleich als Objekt der Industrialisierung in den Blick zu nehmen. Franz-Josef Brüggemeier (Freiburg) schließt sich dem Plädoyer der Integration von Umwelt in die Industrialisierungsgeschichte an und stellt die Frage, inwieweit die Beobachtungen zur Papierindustrie auf andere Branchen übertragen werden könnten, die z. B. deutlich weniger von naturalen Faktoren abhingen, denn die Papierindustrie verkörpere tatsächlich einen traditionellen Umgang mit naturalen Faktoren. Jana Geršlová (Ostrava) behandelt die ökologischen Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung in der Tschechoslowakei 1948 bis 1989, wo die wirtschaftliche Entwicklung vor allem von der Schwerindustrie geprägt war. Eine ökologische Wende, d. h. die Berücksichtigung des Umweltschutzes, erfolgte frühestens ab den 1970er Jahren, denn bis dahin stand das Wachstum ohne Rücksicht auf Umweltauswirkungen im Vordergrund. Erste Umweltschutzmaßnahmen habe es erst infolge internationaler Zusammenarbeit und durch außenpolitischen Druck gegeben. Christoph Boyer (Salzburg) plädiert in seinem Kommentar für eine Sichtweise, nicht allein das „System“ verantwortlich zu sehen, sondern auch die Gesellschaft – mit Blick auf Wachstum und Wohlstand – einzubeziehen. In den 1970er Jahren sei keine Verbesserung der Umweltpolitik der Tschechoslowakei eingetreten, sondern man habe weiterhin auf „Wachstum um jeden Preis“ gesetzt, und auch der „Konsumsozialismus“ habe dem Raubbau an der Natur Vorschub geleistet. Christian Marx (Trier/Tübingen) macht schließlich die „Entdeckung des Ozonlochs“ zum Thema und fragt nach der Reaktion westdeutscher Chemieunternehmen auf Forderungen nach einem FCKW-Verbot (1974–1995). Produktion und Produkte der chemischen Industrie waren bereits im Fokus der Umweltbewegung, als mit den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) ein weiteres zentrales Produktfeld in die Schlagzeilen geriet, das für den Abbau der schützenden Ozonschicht in der Stratosphäre verantwortlich gemacht wurde. Marx fragt anhand eines spezifisch unternehmensgeschichtlichen Zugangs – bezogen auf die Hoechst AG – nach Handlungs- und Entscheidungsspielräumen sowie den Lobbying-Strategien und gibt Einblick in unternehmensspezifische Wandlungsprozesse der Chemieindustrie vor dem Hintergrund eines zunehmenden Bewusstseins für umweltpolitische Fragen in den 1970er und 1980er Jahren. Hoechst konnte sich offenbar nicht darauf einstellen, denn neue Institutionen und die internationale Dimension der FCKWProblematik erschwerten eine erfolgreiche Lobbyarbeit. Erst Mitte der 1980er Jahre setzte ein fundamentaler Lernprozess ein und bewirkte eine langfristige Kursänderung. Michael Toyka-Seid (Darmstadt) betont, dass gegenüber der abstrakt blei-

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benden Atomkraft das „Ozonloch“ eine geradezu idealtypisch greifbare Bedrohung war bzw. ist. Zu den Stärken der Chemiebranche habe in Deutschland seit jeher eine auf gemeinsames Handeln ausgerichtete Strategie gehört. Der für die bundesrepublikanische Nachkriegszeit typische Versuch eines korporativen Konfliktaustrags sei jedoch misslungen. Der Industrie sei es einerseits nicht gelungen, sich auf die neuen Organisationen und Institutionen einzustellen, andererseits hätten Bilder wie das „Leck im Raumschiff Erde“ und der beschädigte „Blaue Planet“ zu einer Emotionalisierung und Globalisierung der Debatte geführt. An die Vorträge und Kommentare schlossen sich intensive, oft kontroverse, immer aber anregende Diskussionen an. Es wurde deutlich, dass die Herausforderung von „Nachhaltigkeit“ in durchaus unterschiedliche Kontexte bzw. Zielvorstellungen eingebettet war und ist – oft in Nützlichkeitserwägungen mangels Alternativen, gelegentlich in den Versuch zu prozeduraler Optimierung, schließlich – vornehmlich in jüngerer Zeit – in massenwirksame politische Vorstellungen. Es gab und gibt wohl auch keinen Königsweg zur Durchsetzung nachhaltigen Wirtschaftens. Die im vorliegenden Band erörterten Zugänge bieten vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Forschungen und zeigen, dass mit diesem Begriff ein tragfähiger analytischer Ansatz für regionale und Branchenstudien ebenso wie für die Untersuchung einzelner Unternehmen und politischer Kontexte durch die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte zur Verfügung steht.

ÜBERLEGUNGEN ZUR NUTZUNG MATERIELLER RESSOURCEN IN DER GESCHICHTE: AUF DEM WEG ZU NACHHALTIGKEIT? Reinhold Reith, Salzburg Der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind umwelthistorische Themen nicht fremd. Bereits 1981 hatte die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Freiburg im Breisgau auf ihrer Arbeitstagung das Thema „Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung“ behandelt. Ausgangspunkt war die Umweltverschmutzung. Die „Gegenwartsprobleme“ – so Hermann Kellenbenz – könnten „neue Einblicke in die Vergangenheit eröffnen“, und er wies auf die historische Dimension der Thematik hin. Die Tagung nahm zahlreiche, unterschiedliche Regionen in den Blick, widmete sich auch Themen wie Naturschutz und Forstwirtschaft im NS-Staat und diskutierte historisch-geographische Perspektiven.1 1981 avancierte das so genannte Waldsterben – als Katastrophenszenario erstmals 1979 prognostiziert – zum Umweltproblem Nr. 1: Der Wald war der Kristallisationspunkt für eine grundsätzliche Umweltdebatte („Stirbt der Wald – so stirbt der Mensch“), hier wurden Gefahren der unsichtbaren Luftverschmutzung sichtbar. Der Wald galt als Verkörperung der Natur schlechthin.2 Die Freiburger Tagung nahm nicht nur die aktuelle Umweltdebatte auf, sondern auch erste Ansätze einer historischen Umweltforschung. Diese hatte sich seit den 1970er Jahren – zaghaft – entwickelt und verfolgte zunächst einen „umwelthygienischen“ Zugang, der weitgehend auf die Zeitgeschichte beschränkt blieb und an Umweltproblemen wie Verschmutzung etc. interessiert war. 1981 widmete sich auch die Technikgeschichtliche Jahrestagung des Vereins Deutscher Ingenieure dem Thema „Umwelt“, und Ulrich Troitzsch betonte, dass die historische Umweltforschung einen „wenn auch sicherlich bescheidenen Beitrag zur Einschätzung und Lösung aktueller Probleme leisten“ könne und hielt die historische Dimension für umso notwendiger, als der überwiegende Teil der ökologisch orientierten Literatur eine ausgesprochene Ahistorizität aufweise.3 Auch die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte griff 1991 das Thema „Industrie und Umwelt“ auf. Ulrich Wengen1 2 3

Hermann Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14.–20. Jahrhundert). Wiesbaden 1982. Roland Schäfer/Birgit Metzger: Was macht eigentlich das Waldsterben, in: Patrick Masius/Ole Sparenberg/Jana Sprenger (Hg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen 2009, S. 201–227, besonders 201, 218. Ulrich Troitzsch: Historische Umweltforschung: Einleitende Bemerkungen über Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Technikgeschichte 48 (1981), S. 177–190. Das Themenheft enthielt Beiträge von Ulf Dirlmeier (Umweltprobleme in deutschen Städten des Spätmittelalters), Günter Bayerl (Vorindustrielle Gewerbe und Umweltbelastung), Ilja Mieck (Luftverun-

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roth z. B. betonte die explosionsartig zunehmende Umweltverschmutzung im Zuge der Industriellen Revolution. Zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg habe man die Überwindung der Umweltprobleme mit industriellem Fortschrittsoptimismus verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe mit dem wachsenden Unbehagen eine neue Phase eingesetzt. Die Destabilisierung des Ökosystems habe ein „Ende des Vertrauens“ gebracht und die – radioaktive Strahlung habe Symbolcharakter erlangt.4 Seit der Freiburger Tagung – also in den letzten 30 Jahren – hat sich die Forschungslandschaft erheblich verändert: Die Umweltgeschichte ist mittlerweile ein weites Feld und hat – besonders im letzten Jahrzehnt – in der Geschichtswissenschaft Akzeptanz erlangt. Optimisten sehen die Umweltgeschichte sogar auf dem Weg ins Zentrum der Geschichtswissenschaft.5 Wolfgang Siemann und Nils Freytag postulieren Umwelt als geschichtswissenschaftliche Grundkategorie. Durch Verflechtung mit Politik, Wirtschaft und Kultur sei Umwelt eine Zentralachse historischer Sachverhalte.6 Die Ansätze der Umweltgeschichte reichen von der Religions- und Frömmigkeitsgeschichte, der Wissens- und Erfahrungsgeschichte bis zu kulturgeschichtlichen Ansätzen. In diesen Kontext gehören thematisch auch die Beschäftigung mit Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen, aber auch mit technischen Desastern sowie die historische Klimaforschung, die mittlerweile durch die Impact-Forschung ergänzt wird. Daher ist es 30 Jahre nach der Freiburger Tagung sinnvoll, erneut nach der Beziehung zwischen der Umweltgeschichte und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu fragen. Dieses Verhältnis wird vor allem in der historischen Praxis gelebt, einerseits, indem viele umwelthistorische Arbeiten – schon aufgrund der Ausbildung der Autorinnen und Autoren – sozial- und wirtschaftshistorische Zusammenhänge in die Argumentation einbeziehen, andererseits, indem die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte umwelthistorische Themen berücksichtigt. Die Beziehungen zwischen diesen Feldern wurden methodisch-konzeptionell jedoch kaum intensiv diskutiert. Im Folgenden seien deshalb drei Punkte hervorgehoben: 1. das Verhältnis von Umweltgeschichte und Wirtschaftswissenschaften bzw. Wirtschaftsgeschichte, 2. das Konzept der Nachhaltigkeit und der Stoffströme im Kontext des Themas der historischen Ressourcennutzung und 3. abschließend die Frage nach den langen historischen Linien.

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reinigung und Immissionsschutz in Frankreich und Preußen zur Zeit der frühen Industrialisierung) und Friedrich Huchting (Abfallwirtschaft im Dritten Reich). Vgl. Ulrich Wengenroth: Das Verhältnis von Industrie und Umwelt seit der Industrialisierung, in: Hans Pohl (Hg.): Industrie und Umwelt. Stuttgart 1993, S. 25–44. Nils Freytag: Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 383–407, hier 406. Wolfram Siemann/Nils Freytag: Umwelt – eine geschichtswissenschaftliche Kategorie, in: Wolfram Siemann (Hg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven. München 2003, S. 7– 20, hier 13.

Überlegungen zur Nutzung materieller Ressourcen in der Geschichte

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1. Einerseits weisen einige Zugänge der Umweltgeschichte methodisch und gegenständlich kaum Berührungspunkte zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf, andererseits gibt es große Schnittmengen, die es auszuloten gilt, z. B. das Thema „Ressourcen“, das in allen Sektionen und Beiträgen eine zentrale Rolle spielt: Nun war mit unserer Tagung keine Doppelung oder Nachlese des Deutschen Historikertages beabsichtigt, der in Mainz den Ressourcenbegriff in seiner ganzen Bandbreite zu behandeln hatte. Mit dem Fokus auf „Nachhaltigkeit“ ist in einer zeitlich übergreifenden Perspektive vor allem der Umgang mit materiellen bzw. naturalen Ressourcen angesprochen. Doch welche Rolle haben Themen wie Umwelt, Natur und Ressourcen bisher in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gespielt? Man wird sicher sagen können, dass diese Themen implizit – z. B. in der Agrargeschichte – immer behandelt worden sind, aber es geht heute darum, diese explizit zum Thema zu machen. Darin liegt auch eine gewisse Herausforderung für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die Wirtschaftstheorie – zumindest der Mainstream – bot für ein solches Vorhaben allerdings zunächst kaum Hilfestellungen. Bis in die 1970er Jahre zeigte die volkswirtschaftliche Theorie kaum Interesse an den naturalen Ressourcen. Der Ökonom Bruno S. Frey ging davon aus, das Desinteresse resultiere daraus, dass die Umwelt der wirtschaftlichen Tätigkeit bis dahin keine nennenswerten Beschränkungen auferlegt habe.7 Das lässt sich auch über die Dogmengeschichte nachvollziehen: Die „Theorie der freien Güter“ können wir über ein Jahrhundert hinweg von Friedrich Benedikt Wilhelm von Hermann über Wilhelm Roscher und Gustav Schmollers Grundriß verfolgen.8 Werner Sombart sah die Grenzen des Wachstums in der Vergangenheit; erst der moderne Kapitalismus des 19. Jahrhunderts sollte sie sprengen! Der Wiener Nationalökonom Eugen Schwiedland meinte, die Bedeutung der Umwelt nehme „fortschreitend ab“: „die äußere Welt selbst wird mehr und mehr von Begabung, Arbeitskraft, sittlichem Willen und wirtschaftlichen Zielen […] beeinflusst.“ Der Mensch werde zum „Mitschöpfer der Welt“.9 Tatsächlich ist der Mensch heute ein „Systemfaktor von planetarischer Bedeutung“, und das System Erde wird zunehmend verändert. Das zwingt die Menschheit dazu, ihr Verhältnis zu den Lebensgrundlagen neu zu überdenken,10 daher nimmt die Bedeutung der Umwelt eher zu. Die „Theorie der freien Güter“ war prägend – und der Produktionsfaktor Boden bzw. naturale Ressourcen trat in der Nationalökonomie bzw. in der Wirtschaftstheorie gegenüber den Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in den Hintergrund. Auch für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte blieb dies offenbar nicht ohne Kon7 8 9 10

Bruno S. Frey: Umweltökonomie. 3. Aufl., Göttingen 1992. Reinhold Reith: Naturale Ressourcen: Was hat die Wirtschaftsgeschichte mit der Umweltgeschichte zu tun? in: Stefan Karner (Hg.): Wirtschaft – Geschichte – Politik. Festschrift für Gerald Schöpfer. Graz 2012, S. 241–256. Eugen Schwiedland: Die Volkswirtschaft unter dem Einfluss der Umwelt. 4. Aufl., Stuttgart 1922, S. 38, 40. Armin Grunwald/Jürgen Klopfmüller: Nachhaltigkeit. Frankfurt a. M./New York 2006, S. 42.

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sequenzen. Ein Blick in die Lehrbücher der 1970er Jahre zeigt als Aspekte und Gegenstände der Theoriebildung Konjunktur, Wachstum, Industrialisierung, Markt, Raumwirtschaft, Geld, Produktion und andere. Begriffe wie Ressourcen, Umwelt und Natur – selbst Rohstoffe – sind auch in Stichwortverzeichnissen nicht zu finden.11 Natürliche Grenzen des Wachstums wurden in der Wirtschaftstheorie bis in die 1960er Jahre kaum thematisiert. Einen frühen Ansatz formulierte 1966 Kenneth Boulding. Mit der Metapher „Raumschiff Erde“ polemisierte er gegen die Vorstellung, die Menschheit lebe in einem „offenen System“, und er prognostizierte, sie könne nur überleben, wenn sie die Rohstoffe nicht weiter verschwenderisch ausbeute und die Abfälle nicht dauernd zunähmen.12 Nicolas Georgescue-Roegen postulierte 1971, die verfügbare Energie nehme durch Abbau und Verwendung der nicht-erneuerbaren Ressourcen ab. In der Ökonomik entstehe zwar der Eindruck, der ökonomische Prozess sei eine kreisförmige und völlig in sich ruhende Angelegenheit, doch die Materie/Energie trete in einem Zustand niederer Entropie in den ökonomischen Prozess ein und verlasse ihn in einem Zustand höherer Entropie bzw. Unordnung. Der stets erneute Griff des Menschen nach den Schätzen der Natur vollziehe sich nicht abseits der Geschichte. Die langfristige Konsequenz sei das Versiegen der natürlichen Ressourcen. Der entropische Charakter des ökonomischen Prozesses, die Knappheit niedriger Entropie in der Umwelt, führe auch dazu, dass der Mensch sich bemühe, sie besser zu nutzen und Energieeffizienz und -produktivität zu steigern. Dennoch seien die Bodenschätze in kaum fasslichem Maße angezapft worden. Die Verwendung des terrestrischen Vorrats niedriger Entropie sei die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit.13 Ende der 1960er und 70er Jahre wurden negative Folgen des „technischen Fortschritts“ sichtbar, und die Wahrnehmung der natürlichen Umwelt änderte sich. Hier seien nur Stichworte genannt: Luftschadstoffe, Gewässerverschmutzung, Ressourcen- und Senkenproblematik, und nicht zuletzt die Diskussion über die Grenzen des

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Wolfgang Zorn: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Probleme und Methoden. 2. erw. Aufl., München 1974. Zorn griff jedoch frühzeitig diese Thematik auf und betonte, dass das „Zusammenspiel von Natur und Kultur, von Natur und Geist in der Vergangenheit der Menschheit das eigentliche weite Thema der Wirtschaftsund Sozialgeschichte ist“. Ders.: Ansätze und Erscheinungsformen des Umweltschutzes aus sozial- und wirtschaftshistorischer Sicht, in: Jürgen Schneider (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Bd. IV. Stuttgart 1978, S. 707–723, hier 707. Frey: Umweltökonomie (wie Anm. 7), S. 15 ff.; Kenneth E. Boulding: The Economics of the Coming Spaceship Earth, in: Henry Jarret (Hg.): Environmental Quality in a Growing Economy. Baltimore 1966, S. 3–14. Nicolas Georgescue-Roegen: The Entropy Law and the Economic Process. Cambridge, MA 1971. Ende der 1970er Jahre wurde der Entropie-Begriff (der später zur Grundlage der ökologischen Ökonomie wurde) in Samuelsons Economics aufgegriffen, doch dies war nur ein kurzes Intermezzo. Vgl. Walter Scherrer: Umweltthemen im Ökonomie-Einführungslehrbuch. Ein Rückblick, in: Sylvia Hahn/Reinhold Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte: Arbeitsfelder – Forschungsansätze – Perspektiven. München/Wien 2001, S. 205–228, hier 226 f.

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Wachstums.14 Patrick Kupper hat diesen Prozess als „1970er Diagnose“ bezeichnet.15 Seit den 1960er Jahren mehrten sich die Hinweise auf die Begrenztheit der globalen Naturressourcen und der Verarbeitungskapazitäten der Ökosysteme.16 So zeigt z. B. der akkumulierte Verbrauch bei Metallen (bzw. Erzen) oder Kohle, dass diese Ressourcen seit 1950 stärker beansprucht worden sind als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.17 Für Christian Pfister stellen die 1950er Jahre daher eine Zäsur dar und bilden den Übergang zum typischen Stoffwechsel der Industriegesellschaften mit hohem Verbrauchsniveau, materialintensivem Lebensstil, hohem Anteil an nichtregenerierbaren Ressourcen sowie einem geringen Wiederverwertungspotential.18 In der neoklassischen Wirtschaftstheorie hatte man den Faktor Natur weitgehend ausgeblendet oder er wurde zumindest nicht seinen Knappheiten entsprechend behandelt. Neuere Zugänge ergaben sich nun durch Kritik des Mainstream bzw. auch durch Kritik an der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.19 Parallel zur Entwicklung der Umweltgeschichte haben sich in der Wirtschaftstheorie die so genannten heterodoxen Ansätze – von der Ressourcenökonomie bis zur ökologischen Ökonomie – etabliert. Auch sie bieten einen – zu diskutierenden – Zugang zu historischen Fragestellungen der Wirtschaftsgeschichte. 2. Im Zuge dieser Entwicklung wurde schließlich „Nachhaltigkeit“ zum Schlüsselbegriff: Die Herausbildung der Umweltpolitik bzw. von Umwelt als eigenem Politikfeld bildet schließlich auch den Hintergrund für „Nachhaltigkeit“. Nachdem in den 1970er Jahren „Recycling“ als strategische Vision große Bedeutung erlangte, wurde – trotz positiver Effekte – bald deutlich, dass die Probleme des „spaceship earth“

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Dennis L. Meadow u. a.: Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972; Patrick Kupper: „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004, S. 98–111. Patrick Kupper: Die „1970er Diagnose“: Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348. Grunwald/Klopfmüller: Nachhaltigkeit (wie Anm. 10), S. 73. Günter B. L. Fettweis: Urproduktion mineralischer Rohstoffe und Zivilisation – geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Probleme, in: Josef Zeman (Hg.): Energievorräte und mineralische Rohstoffe: Wie lange noch? Wien 1998, S. 7–46. Christian Pfister (Hg.): Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft. Bern u. a. 1996; Ders.: The „1950 s Syndrome“ and the Transition from a Slow-Going to a Rapid Loss of Global Sustainability, in: Frank Uekötter (Hg.): The Turning Points of Environmental History. Pittsburgh 2010, S. 90–118. Einen Überblick zur Entwicklung der Stoffströme in Industriegesellschaften geben Albert Adriaanse u. a.: Stoffströme: Die materielle Basis von Industriegesellschaften. Berlin/Basel/Boston 1998. Frey: Umweltökonomie (wie Anm. 7), S. 14 ff., 22 ff.

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mit dem „perpetuum mobile“ Kreislaufwirtschaft nicht, oder zumindest nicht allein zu lösen waren.20 Seit dem Brundtland-Bericht von 1987 ist der Begriff Nachhaltigkeit „en vogue“, und man versteht darunter einen Umgang der Menschen mit natürlichen Ressourcen, der den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. 1992 schrieb die UNO „sustainable development“ bzw. nachhaltige Entwicklung als gesellschaftliches Leitbild in der Agenda 21 fest. Doch die Konzepte, wie Nachhaltigkeit zu erreichen sei, sind vielfältig. Sie reichen von der Kritik des Wachstumsparadigmas und von der Umwelt- und Ressourcenökonomie bis zur ökologischen Ökonomie. Dabei wird Nachhaltigkeit als das Ende eines Prozesses verstanden, einer nachhaltigen Entwicklung („sustainable development“). Nachhaltigkeit ist also ein politisches, ein normatives Leitbild, bei dem es in ethischer Hinsicht um die Verantwortung für zukünftige Generationen und Verteilungsgerechtigkeit unter den Lebenden geht.21 Mit der Frage der Verteilung knapper Ressourcen befinden wir uns wiederum im Kernbereich der Volkswirtschaftslehre und damit auch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ist „Nachhaltigkeit“ auch ein wissenschaftlicher Terminus? Taugt er trotz seiner Beliebtheit und den damit verbundenen vagen Vorstellungen als Fokus, als analytische Kategorie unserer Tagung? Für Joachim Radkau macht gerade der politische Kern des Begriffs „Nachhaltigkeit“ seine Eignung als Kristallisationspunkt einer Umweltgeschichte aus: Er sei im Übrigen kein unschuldiger Begriff, sondern ein Begriff der Macht, der natürlich in seinen Kontexten dechiffriert werden müsse.22 Der amerikanische Umwelthistoriker Donald Worster hat Vorbehalte gegen das „Schlagwort“ geltend gemacht: Es zwinge uns eine ökonomisch definierte Sprache und Weltsicht auf. Das Gedankengut der Nachhaltigkeit, das „Verfahren des sicheren Optimismus“, beruhe auf einer traditionellen Weltsicht des progressiven, profanen Materialismus. Er präferiere ein Umweltbewusstsein, das sich mehr mit den ethischen und ästhetischen Fragen der Erde beschäftige als mit Ressourcen und Wirtschaftsbeziehungen.23 Worster berührt damit jedoch nur eine Spielart des Begriffs: Wenngleich Vorbehalte gegen bestimmte Begrifflichkeiten durchaus nachvollziehbar sind, kommen wir doch nicht umhin, die physische Dimension der Wirtschaft und des Sozialen zu fokussieren. Werfen wir aber noch einen kurzen Blick in die Begriffsgeschichte: Hier ist Nachhaltigkeit unlösbar mit der Zentralressource Holz verbunden. Begriffsgeschichtliche Studien sehen seine historischen Wurzeln in der europäischen Forst20 21 22 23

Reinhold Reith: Recycling – Stoffströme in der Geschichte, in: Hahn/Reith (Hg.): UmweltGeschichte (wie Anm. 13), S. 99–120, besonders 115 ff. Grunwald/Klopfmüller: Nachhaltigkeit (wie Anm. 10), S. 7. Joachim Radkau: „Nachhaltigkeit“ als Wort der Macht. Reflexionen zum methodischen Wert eines umweltpolitischen Schlüsselbegriffes, in: François Duceppe-Lamarre/Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, S. 131–136. Donald Worster: Auf schwankendem Boden. Zum Begriffswirrwarr um „nachhaltige Entwicklung“, in: Wolfgang Sachs (Hg.): Der Planet als Patient. Über die Widersprüche globaler Umweltpolitik. Berlin u. a. 1994, S. 93–112.

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wirtschaft der Frühen Neuzeit bzw. in den Wald- und Forstordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts.24 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts forderte der sächsische Oberberghauptmann Hannß Carl von Carlowitz in „Sylvicultura oeconomica“ (1713), dass „man mit dem Holtz pfleglich umgehe“, denn auch der „lieben Posterität“, den Nachkommen, stehe die Nutzung zu, und er forderte „eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung“. Wilhelm Gottfried Moser modifizierte in „Grundsätze der Forst-Oeconomie“ (1757) „nachhaltend“ schließlich zu „nachhaltig“.25 Seit dem 18. Jahrhundert galt Nachhaltigkeit als Leitziel aufgeklärter Waldwirtschaft, wobei sie zunächst auf die Holzerträge im Sinne „rationeller Bewirtschaftung“ zielte. Neuere Studien haben die so genannte. „Schlagwirtschaft“ problematisiert und verschiedene Spielarten von Nachhaltigkeit eruiert.26 Für die Frühe Neuzeit ist das Konzept Nachhaltigkeit über den Blick auf den Wald hinaus bisher kaum thematisiert worden. Die Frage „Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit?“ führt zu der allgemeineren Frage, wie die Menschen in der Geschichte mit den naturalen Ressourcen umgingen. Dazu gab es in den 1980er Jahren in der historischen Umweltforschung noch sehr spekulative Positionen: Während die einen die Ressourcenverschwendung als altbekanntes Phänomen abtaten, das die historische Entwicklung immer schon begleitet habe, betonten andere die völlig neue und bedrohliche Dimension des Zugriffs auf die Ressourcen in der Gegenwart. Manche gingen dabei von einem harmonischen Verhältnis unserer Vorgänger zur Natur bzw. von einem nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen in der Vergangenheit aus. Beide Positionen beruhten wesentlich auf Vorannahmen, die Empirie war noch wenig entwickelt.27 Mittlerweile liegen zahlreiche Forschungsergebnisse vor, die es zu bilanzieren lohnt. Gerade das Thema Wald und Holz ist ein „Dauerbrenner“ der Umweltgeschichte, und es wird nach wie vor intensiv gehegt: Die klassische Position, die besonders vom Nationalökonomen Werner Sombart vertreten wurde, nach der die bäuerliche Bevölkerung den Wald durch Raubbau zugrunde gerichtet und schließlich die Forstwirtschaft den Wald gerettet habe, findet heute nur noch in der Forstwissenschaft Anklang. In der neueren historischen Forschung scheint es keineswegs ausgemacht, wer den Wald schädigt und wer ihn rettet. Die „Schlagwirtschaft“ hat sich mittlerweile als ein recht krudes Konzept herausgestellt, das dem Aufbau von instabilen Waldformationen und Monokulturen Vorschub geleistet hat. Hinge24 25 26

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Nicole C. Karafyllis: „Nur soviel Holz einschlagen, wie nachwächst“. Die Nachhaltigkeitsidee und das Gesicht des deutschen Waldes im Wechselspiel zwischen Forstwissenschaft und Nationalökonomie, in: Technikgeschichte 69 (2002), S. 247–273. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München 2010, S. 111–123; Richard Hölzl: Historicizing Sustainability: German Scientific Forestry in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Science as Culture 19 (2010,) S. 431–460. Hier seien lediglich zwei Studien herausgegriffen: Martin Stuber: Wälder für Generationen. Konzeptionen der Nachhaltigkeit im Kanton Bern (1750–1880). Köln u. a. 2008; Richard Hölzl: Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760– 1860. Frankfurt a. M./New York 2010. Vgl. Joachim Radkau: Was ist Umweltgeschichte? in: Werner Abelshauser (Hg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive. Göttingen 1994, S. 11–28.

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gen haben neuere Studien auf Nachhaltigkeit „avant la lettre“ hingewiesen, auch auf bäuerliche Bestrebungen eines pfleglichen Umgangs mit Wald und Flur. Nachhaltigkeit gibt es also nicht erst mit dem Auftauchen des Begriffs. Eine längere Perspektive lohnt sich, und sie muss über die Begriffsgeschichte hinausgehen.28 Auch die Tragödie der Allmende („tragedy of the commons“), die Garret Hardin 1968 verkündete, steht damit – aus der historischen Perspektive – wieder zur Diskussion.29 Er ging davon aus, Eigennutz führe zur Übernutzung von Gemeingütern. Diese Diskussion ist durch die Arbeiten über die „commons“ wieder belebt worden, für die Elinor Ostrom 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt.30 In der Diskussion um Nachhaltigkeit wurden zahlreiche Begriffe und Ansätze entwickelt, die auch für die historische Analyse fruchtbar gemacht werden können. Sie stammen vor allem aus der Ressourcenökonomie bis hin zur ökologischen Ökonomie. Damit wäre ein Input benannt, der aus der Wirtschaftstheorie und der Wirtschaftsgeschichte in die Umweltgeschichte eingehen könnte: Nachhaltigkeit berührt zunächst einmal die physische bzw. stoffliche Dimension der Wirtschaft, denn am Anfang wirtschaftlicher Prozesse steht die Entnahme natürlicher Materialien aus der Umwelt. Nahezu alle Produkte und Dienstleistungen entstehen durch die Umwandlung natürlicher Ressourcen. Sie werden in die Produktion einbezogen, genutzt, und schließlich gelangen sie wieder zurück in die Umwelt. Zur Analyse des gegenwärtigen Ausmaßes und der Probleme des Zugriffs auf die naturalen Ressourcen wurden mehrere Forschungskonzepte entwickelt. Mit Konzepten wie „Gateways“ (Cronon), „ökologischer Fußabdruck“ (Rees) oder „Metabolismus“ (Boyden, Fischer-Kowalski) wird versucht, die Folgen der Nutzung von Ressourcen zu bilanzieren.31 Sie verfolgen die Stoffströme auf dem Weg von der Natur in die Wirtschaft und wieder zurück. Auch das Konzept „Stoffströme“ stammt nicht aus den historischen Disziplinen. Es dient vielmehr in der volkswirtschaftlichen Materialflussrechnung dazu, physische Ströme natürlicher Ressourcen zu verfolgen, gewissermaßen als Ergänzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.32 Dabei geht es um den Umfang der Nutzung und die Belastung der Umwelt, besonders durch die „ökologischen Rucksäcke“ – das sind z. B. die Aufbereitungsabfälle (taubes Gestein, Schlacken 28

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Vgl. Reinhold Reith: The Forest as a Topic of Environmental History, in: Martin Knoll/Ders. (Hg.): An Environmental History of the Early Modern Period – Experiments and Perspectives. Wien/Berlin 2013, S. 33–36; Richard Hölzl: Ecology, Religion, Human Retreat, and Global Imagination: Some Research Perspectives on the History of Woodlands in Early Modern Central Europe, in: Ebd, S. 37–44. Oliver Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248. Elinor Ostrom: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990 (deutsch: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Tübingen 1999); Martina de Moor/Leigh Shaw-Taylor/Paul Warde (Hg.): The Management of Common Land in North West Europe, c. 1500–1850. Turnhout 2013. Dazu ausführlich der Beitrag von Michael Zeheter in diesem Band. Christian Becker: Die Mensch-Umwelt-Beziehung in den Wirtschaftswissenschaften, in: Thomas Knopf (Hg.): Umweltverhalten in Geschichte und Gegenwart. Vergleichende Ansätze. Tübingen 2008, S. 212–227, hier 216–220. Adriaanse u. a.: Stoffströme (wie Anm. 18).

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Abraum) und verlagerten Massen (Versatz, Ausbaggerung). Das Konzept zielt letztlich auf die Erfassung des globalen Materialaufwands (GMA). Dieser setzt sich zusammen aus dem direkten Materialinput (Metalle, Rundholz, Getreide etc.) und den ökologischen Rucksäcken, und er bezeichnet die jährlich für eine Volkswirtschaft der Umwelt im In- oder Ausland entnommenen Primärmaterialien. „Der GMA ist damit der beste Schätzwert für die Größenordnung der potentiellen Umweltbelastungen durch Entnahme und Nutzung von natürlichen und stofflichen Ressourcen.“33 Zur Analyse der Materialintensität der Volkswirtschaften ist der GMA ein guter Indikator für das Verhältnis von wirtschaftlichen Aktivitäten und Nutzung materieller Ressourcen, wenngleich bestimmte Ressourcen (Wasser und Luft) bisher nicht zureichend erfasst werden konnten. Qualitative Aspekte können berücksichtigt werden, da die Materialflüsse nach ihrem Schadens- oder Mobilisierungspotential klassifiziert werden. Die hier angesprochenen Konzepte sind durchaus auch geeignet zur Klärung der Frage nach dem Ausmaß und der Entwicklung der Ressourcenverwendung in der Geschichte. Ansätze dazu gibt es in der Wirtschaftsgeschichte durchaus: Franz Irsigler stellte 1991 ein Modell zur Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt analog den Thünenschen Ringen vor. Städte bündeln naturale Ressourcen und Energie und sind auch „Senken“.34 Richard C. Hoffmann plädiert daher in seiner Studie zu „Environmental Impacts of Medieval European Cities“ für eine Übersetzung der Forschungsergebnisse aus der Wirtschaftsgeschichte und der historischen Geographie in „ecological terms“.35 Die Annäherung an die Stadt durch den Stoffwechsel mit der Natur ist sicher einer der wichtigen Ansatzpunkte.36 3. Die Tagung hat einen anspruchsvollen Untertitel formuliert: Wie sieht es mit der langen historischen Linie aus? „Nachhaltigkeit“ wurde bisher meist nur mit Blick auf den Wald thematisiert. Doch auch andere Ressourcen sind nun ebenfalls systematisch einzubeziehen. Die Beanspruchung von Ressourcen sowie das räumliche und landschaftsverändernde Ausgreifen des Bergbaus hat schon im 15. und 16. Jahrhundert Diskussionen von Humanisten – wie Paulus Niavis – provoziert, ob der Mensch in den Leib der Mutter Erde eingreifen dürfe.37 Die kontroverse Diskussion um den Tiefseebergbau lässt in ähnlicher, wenngleich säkularer Perspektive die 33 34 35 36 37

Ebd., S. 23. Franz Irsigler: Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 42 (1991), S. 308–318. Richard C. Hoffmann: Footprint Metaphor and Metabolic Realities. Environmental Impacts of Medieval European Cities, in: Paolo Squatriti (Hg.): Natures Past. The Environment and Human History. Michigan 2007, S. 288–325. Verena Winiwarter/Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln 2007, S. 177– 206; Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2011, S. 123–134. Horst Bredekamp: Der Mensch als Mörder der Natur. Das „Iudicium Iovis“ von Paul Niavis und die Leibmetaphorik, in: Heimo Reinitzer (Hg.): All Geschöpf ist Zung’ und Mund. Beiträge aus dem Grenzbereich von Naturkunde und Theologie. Hamburg 1984, S. 261–283.

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Ozeane als „Projektionsflächen für die Ängste und Hoffnungen der Menschen“ aufscheinen.38 Umweltschäden durch den Abbau von Quecksilber in der Frühen Neuzeit haben bereits zu Beginn der 1980er Jahre Interesse gefunden.39 Mit Blick auf das Industriezeitalter standen mehr die Immissionen durch die „Rauchplage“ und den „Hüttenrauch“ im Zentrum umweltgeschichtlicher Aufmerksamkeit. Die Ende der 1920er Jahre einsetzende Diskussion um „Bruchbau kontra Vollversatz“ im Steinkohlenbergbau zeigt, dass man die Folgen des Bruchbaus (die durch den Kohlenabbau entstandenen Hohlräume werden nicht mehr durch Versatz geschlossen) unterschätzte, wenn nicht sogar einkalkulierte: Nach 1935 ging man im Ruhrgebiet in größerem Ausmaß zum Bruchbau über, und bis Kriegsende nahm er noch zu. Die Diskussion wurde angesichts von Senkungsschäden nach 1945 intensiv aufgenommen, doch ein Umdenken setzte erst in den 1950er Jahren ein.40 Die Landschaftsveränderung durch den Bergbau wurde in wirtschafts- und umweltgeschichtlicher Perspektive vor allem mit Blick auf den Tagebau und insbesondere auf den Braunkohlentagebau fokussiert.41 Der Übergang zum Tieftagebau führte z.B. im Rheinland zu neuen Risikopotentialen und entsprechenden Debatten.42 In der DDR erlebte die Braunkohle in den 1980er Jahren mit der Abkehr vom Erdöl eine Renaissance, und die DDR war mit jährlich ca. 300 Mio. Tonnen weltweit der größte Produzent. Die Förderbrückentechnologie erschwerte allerdings Wiederurbarmachung und Rekultivierung und führte zu den charakteristischen „Mondlandschaften“, die gemeinsam mit den Fördergeräten ein problematisches industriearchäologisches Vermächtnis sind.43 Wie der rauchende Schlot und die Fördergerüste sind die gigantischen Förderbrücken44 und Schaufelradbagger „Wahrzeichen“ und Metapher dieses landschaftsverändernden Zugriffs, wie er z. B. in der Serie „Fördergeräte im Braunkohlentagebau“ von Claudia Fährenkemper (1988–1993) zum Ausdruck kommt (vgl. Umschlagbild). 38 39 40 41 42

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Vgl. Lars Bluma in seinem Kommentar zum Beitrag von Ole Sparenberg in diesem Band. Herfried Valentinitsch: Das landesfürstliche Quecksilberbergwerk Idria 1575–1659. Graz 1981; Ders.: Idria und Fragen der Umweltgestaltung, in: Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (wie Anm. 1), S. 57–72. Evelyn Kroker: Bruchbau kontra Vollversatz. Mechanisierung, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit im Ruhrbergbau zwischen 1930 und 1950, in: Der Anschnitt 42 (1990), S. 191– 203. Vgl. den Überblick bei Helmut Lackner: „Es ist die Bestimmung der Menschen, dass sie die Berge durchwühlen“ – Bergbau und Umwelt, in: Hahn/Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte (wie Anm. 13), S. 77–98. Johann Paul: Die nordrhein-westfälische Braunkohlenpolitik und der Übergang zum Tieftagebau in den 1950er Jahren, in: Geschichte im Westen 12 (1997), S. 61–78; Ders.: Risikodebatten über den Tieftagebau im rheinischen Braunkohlenrevier seit den 1950er Jahren, in: Technikgeschichte 65 (1998), S. 141–161. Rolf Toyka u. a. (Hg.): Bitterfeld – Braunkohlebrachen. Probleme, Chancen, Visionen. München 1993; Torsten Meyer: Der Senftenberger See oder das Ende der „Mondlandschaft“?, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), S. 113–142; Markus Schwarzer: Von Mondlandschaften zur Vision eines neuen Seenlandes. Die Diskussion über die Gestaltung von Tagebaubrachen in Ostdeutschland. Wiesbaden 2014. Günter Bayerl: Die Niederlausitzer Brücke. Die Abraumförderbrücke F 60 als Wahrzeichen einer Tagebauregion, in: Blätter für Technikgeschichte 63 (2001), S. 33–59.

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Die Frage nach Zäsuren, z. B. durch den Wandel der energetischen Basis der Industriegesellschaften und den Übergang zur Nutzung fossilen, nicht regenerierbaren Materials, zählt zu den frühen Themen der Umweltgeschichte (und selbstredend auch der Wirtschafts- und Technikgeschichte): Christian Pfister hat mit dem „1950er Syndrom“ dagegen gehalten, dass erst der Übergang vom Zeitalter der Kohle ins Zeitalter der Kohlenwasserstoffe die „entscheidende Bruchstelle im Mensch-Umwelt-Verhalten“ sei. Er spricht von einer Fundamentalzäsur nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Lebensweise sei bis in die 1950er Jahre vom Paradigma der Sparsamkeit und von der hergebrachten „Recycling-Mentalität“ geleitet worden.45 Der Begriff „Recycling-Mentalität“ ist wiederum ein geeigneter Ansatzpunkt, um nicht nur nach dem gesellschaftlichen Leitbild „Nachhaltigkeit“ zu fragen, sondern auch nach den Praktiken (und vielleicht auch Mentalitäten), nach der „prozeduralen Nachhaltigkeit“. Damit ist gemeint, dass nachhaltige Entwicklung nicht „von oben“, durch politische Ziele und gesellschaftliche Steuerung, erreicht werde, sondern über lebensnahe Prozesse der Selbstorganisation und umsichtige Lebenseinstellungen der Individuen.46 Zu den „Lebenseinstellungen“ gibt es in historischer Dimension bisher nur einige Bausteine: Richards hat z. B. darauf hingewiesen, dass die Produktivität der frühmodernen Welt eng mit bisher nicht bekannten und genutzten Ressourcen zusammenhänge. Angesichts ihrer unterschiedlichen Verfügbarkeit zeichnet er unterschiedliche Erfahrungen nach: Siedler konnten mitunter annehmen, die Ressourcen seien unerschöpflich, sie brachten jedoch durchaus Knappheitserfahrungen mit, die zu nachhaltigem Ressourcenmanagement führen konnten.47 Gerade in einer langen historischen Perspektive fällt auf, dass sich die Faktorkonstellationen völlig verändert haben: Pfister betont den Preisverfall der naturalen Ressourcen seit den 1950er Jahren – und umgekehrt verdichtet sich das Bild, dass in Spätmittelalter und Früher Neuzeit die Kosten für naturale Ressourcen hoch, für Arbeit dagegen vergleichsweise niedrig waren. Was bedeutet dies für den Umgang mit naturalen Ressourcen? Wir stoßen auf Strategien wie Recycling, Verlängerung der Nutzungsdauer, second hand markets, Substitution (und Flächengewinn). Über solche Strategien (Effizienz- und Konsistenzstrategien) wird in der aktuellen Diskussion gestritten, allerdings ohne Kenntnis der historischen Dimension. Hier stellt sich die Kernfrage, wie unsere Ergebnisse zur historischen Dimension der Themen Ressourcen und Nachhaltigkeit in ihren sozial- und wirtschaftshistorischen Kontexten in die aktuelle Debatte eingebracht werden könnten, in der aus unserer Sicht eher unsystematisch irgendwelche historischen Argumente in den Raum geworfen werden, die man mit Blick auf die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse wesentlich schärfen könnte. Auch hier liegt eine der zukünftigen Aufgaben für die Sozial-, Wirtschafts- und Umweltgeschichte, damit die aktuellen Debatten mehr historische Tiefenschärfe gewinnen. 45 46 47

Pfister (Hg.): Das 1950er Syndrom (wie Anm. 18); Ders.: The „1950 s Syndrome“ (wie Anm. 18). Grunwald/Klopfmüller: Nachhaltigkeit (wie Anm. 10), S. 39 ff. John F. Richards: The Unending Frontier. An Environmental History of the Early Modern World. Berkely u. a. 2003.

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Nachhaltigkeit ist jedenfalls eine Thematik mit probater Schnittmenge zwischen der Umweltgeschichte und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die stärkere Betonung des Produktionsfaktors naturale Ressourcen, der lange im Schatten der Faktoren Arbeit und Kapital segelte, bedeutet eine Erweiterung der Wirtschaftsgeschichte. Es wird daher auch darauf ankommen, mit Blick auf neuere Ansätze aus der Ressourcenökonomie und der Umweltökonomie eine historische Dimension zu gewinnen. Gerade eine lange historische Perspektive kann den Wandel der Ressourcennutzung verdeutlichen. Die anhaltende Diskussion über „Nachhaltigkeit“ und „dauerhafte Entwicklung“ ist auch für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eine Herausforderung, und sie bietet zugleich die Chance, sich intensiver mit den naturalen Ressourcen zu beschäftigen.

TEIL 1: UMWELT: WALD UND HOLZ ALS RESSOURCE

AUF DEM WEG ZUR NACHHALTIGKEIT? Ansätze zu Ressourcenschutz und Ressourcenregeneration im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schleswig-Holstein* Oliver Auge, Kiel In Schleswig-Holstein gibt es drei große, eiszeitlich bedingte Landschaftsformationen: Von West nach Ost sind das die an der Nordseeküste gelegene, erdgeschichtlich betrachtet jüngste Zone, die so genannte Marsch, darauf folgend, am ältesten, als Mittelrücken die so genannte Geest und schließlich das östliche Hügelland. Diese drei Landschaftszonen verfügen über verschiedene Böden, deren Beschaffenheit wiederum eine je unterschiedliche Waldvegetation ermöglicht: Im Hügelland ist der Buchenwald die dominante Vegetationsform, wohingegen auf der Geest Eichenmischwald und in der Marsch ein Wald vornehmlich aus Eschen, Erlen und Ulmen zu vermuten sind. Dennoch wird für sie alle mit guten Gründen von einer dichten Bewaldung in frühgeschichtlicher bis hochmittelalterlicher Zeit ausgegangen.1 Nicht von ungefähr führte Adam von Bremen (vermutlich vor 1050– 1081/1085) in seinem Tatenbericht der Hamburger Bischöfe die Bezeichnung Holsten auf die Wälder der von ihnen besiedelten Gebiete zurück.2 Noch um 1460 erzählte man sich von der an der Nordseeküste gelegenen Landschaft Dithmarschen, sie sei so dicht bewaldet, dass ein Eichhörnchen von ihrem Mittelpunkt in Meldorf bis an die Landesgrenze von Baum zu Baum springen konnte, ohne den Boden zu *

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Im Folgenden ist im Sinne einer didaktischen Reduktion von „Schleswig-Holstein“ in seinen heutigen Bundeslandgrenzen samt dem heute dänischen Sønderjylland die Rede, wiewohl es in dem Zeitraum, der hier in den Blick genommen ist, diese politische Einheit so natürlich nicht gab, sondern derselbe Raum vielmehr stark durch herrschaftliche Partikularismen gekennzeichnet war. Einen Überblick über die tatsächlichen Gegebenheiten in der historischen Vergangenheit gewähren: Jürgen H. Ibs/Eckart Dege/Henning Unverhau (Hg.): Historischer Atlas Schleswig-Holstein. Vom Mittelalter bis 1867. Neumünster 2004, S. 154–157 (Politische Gliederung am Ende des 13. Jhs./1544/1622/um 1730). Dazu und zum Folgenden Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: Waldverlust und Waldaufbau in Schleswig-Holstein vom Mittelalter bis 1914, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Ders. (Hg.): Dünger und Dynamit. Beiträge zur Umweltgeschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks. Neumünster 1999, S. 41–64, hier 43–48. Bernhard Schmeidler (Hg.): Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum (MGH SS 7; MGH SS rer. Ger. 2). Hannover und Leipzig 1917, S. 72: „[…] Secundi Holcetae, dictia silvis, quas accolunt […].“ Bezüglich Jütlands einschließlich Schleswigs schildert er hingegen eine karge Landschaft. Ebd., S. 227: „Ager ibi sterilis; preter loca flumini propinqua omnia fere desertum videntur; terra salsuginis et vestae solitudinis. Porro cum omnis tractus Germaniae profundis horreat saltibus, sola est Iudland ceteris horridior.“

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berühren.3 Zum Ende des 16. Jahrhunderts pries der bekannte Humanist Heinrich Rantzau in seiner Landesbeschreibung den üppigen Holzbestand Holsteins und leitete die Benennung „Holsten“ im Rückgriff auf Adam von Bremen wiederum von der Umschreibung für „die im Holz und zwischen Wäldern Ansässigen“4 her. Zahlreiche wald- und rodungstypische Orts- oder Flurnamen, die in SchleswigHolstein vorkommen, oder etliche Funde von alten Wurzelstöcken und Baumstämmen in Mooren heute waldarmer Gegenden stützen auf ihre Weise die These vom einstmaligen Waldreichtum der Region.5 Immerhin noch 20 bis 25 Prozent der Gesamtfläche des heutigen Schleswig-Holsteins sollen zu jener Zeit, Schätzungen zufolge, mit Wald bedeckt gewesen sein. Im 18. Jahrhundert seien es dann angeblich nur noch sage und schreibe fünf Prozent gewesen.6 Zum Vergleich: Für Deutschland in seinen heutigen Grenzen wird zeitgleich von einer Waldfläche in einer Größenordnung von 30 Prozent ausgegangen.7 Solche Schätzungen sind zweifellos aufgrund des mangelhaften Datenmaterials stets problematisch und entbehren nicht 3

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„Dat Land was do as van Allers her voller Buschen, Holtungen unne Brocken, dat noch ao. 1400 en Ekerken (Eichhörnchen) by Meldorp an bet Osten an des Landes Grenzpalen op odeö (eitel, lauter) Bömen springen können, un de Erde nich beröhren dörfen.“ Zitiert nach Friedrich Christoph Dahlmann: Neocorus, der Dithmersche, in: Kieler Blätter 5 (1818), S. 181–252, hier 203; Walter Hase: Abriß der Wald- und Forstgeschichte Schleswig-Holsteins im letzten Jahrtausend, in: Schriften des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schleswig-Holstein 53 (1983), S. 83–124, hier 83. – Auch im 16. Jahrhundert soll die Dithmarscher Heide noch ein zusammenhängendes Waldgebiet gewesen sein. August Christian Heinrich Niemann: Forststatistik der dänischen Staaten. Mit drei Schautafeln. Altona 1809, S. 198. Heinrich Rantzau: Cimbricae Chersonesi … Descriptio Nova / Neue Beschreibung der Kimbrischen Halbinsel, übersetzt von Hans Braunschweig, in: Marion Bejschowetz-Iserhoht (Bearb.): Heinrich Rantzau (1526–1598). Statthalter in Schleswig und Holstein. Ein Humanist beschreibt sein Land. Eine Ausstellung im Landesarchiv Schleswig-Holstein. Schleswig 1999, S. 95–161 (Latein), 198–301 (Deutsch) (i. F. abgekürzt Rantzau: Landesbeschreibung), S. 98/201: „[…] Weil das Gebiet so voll üppiger Wälder ist […]“; S. 99/203: „Die Bewohner der höher gelegenen und daher trockeneren Landstriche heißen heute Holsten, d. h. die im Holz und zwischen Wäldern Ansässigen […]. Einige allerdings wollen wissen, Hol-Stein sei nach Holz und Stein, oder aber nach der großen Anzahl der Wälder Holtstedt, Stätte der Gehölze, benannt.“ Zu den Flurnamen Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 46 f. Nach Bo Fritzbøger: Danske skove 1500–1800. En landskabshistorisk undersøgelse. Odense 1992, S. 73 f.; zu den Moorfunden schon Niemann: Forststatistik (wie Anm. 3), S. 196. Die Zahlen nennt – ohne Problematisierung – Thomas Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Leben und Arbeiten in Schleswig-Holstein vor 1800. Kiel 2009, S. 202, 204, 364. Vgl. obendrein zur vermutlichen historischen Verbreitung des Waldes für den Bereich Schleswigs Friedrich Mager: Entwicklungsgeschichte der Kulturlandschaft auf der Geest und im östlichen Hügelland des Herzogtums Schleswig bis zur Verkoppelungszeit. Breslau 1930, S. 44–149 und im Anhang die Karte der mittelalterlichen Waldverbreitung im Herzogtum Schleswig; Hubertus Neuschäffer: Die Waldnutzung in der Geschichte SchleswigHolsteins, in: Schleswig-Holstein 6 (1985), S. 8–12; Ders.: Geschichte von Wald und Forst in Schleswig-Holstein und der alte Rendsburger Wald mit dem Forstamt Barlohe. Rendsburg 1986, S. 16. Hans-Rudolf Bork (Hg.): Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa. Wirkung des Menschen auf Landschaften. Stuttgart 1998, S. 161; Bernd Fuhrmann: Holzversorgung, Waldentwicklung, Umweltveränderungen und wirtschaftliche Tendenzen in Spätmittelalter und beginnender Neu-

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einer gewissen Fehlerquote. Sie geben jedoch sicher eine verlässliche Tendenz wieder, zumal es uns nicht um genaue Zahlen, sondern nur um eine grobe Einordnung der Phänomene und Verhältnisse gehen kann. Nachfolgende Aufforstungsbemühungen konnten den Waldbestand Schleswig-Holsteins zwar bis heute wieder auf einen Anteil von zehn Prozent an der Gesamtfläche des Bundeslandes anheben, dennoch ist Schleswig-Holstein weiterhin die mit Abstand waldärmste Region Deutschlands, während Hessen und Rheinland-Pfalz mit einem Waldanteil von 42 Prozent die Spitzenplätze einnehmen.8 Allein diese Schätzungen und die hinter ihnen stehenden Größenordnungen lassen es sinnvoll erscheinen, das grundsätzlich an der „Wiege der Umweltgeschichte in Deutschland“9 stehende Thema der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Holznot und daraus etwaig erwachsender Nachhaltigkeitsstrategien gerade am Beispiel Schleswig-Holsteins tiefergehend zu untersuchen. Inwieweit dabei die im wissenschaftlichen Diskurs der so genannten Holznotkontroverse begegnende Einschätzung der Holznotklage als bloße rhetorische Figur verfängt, um ordnungs- und machtpolitische Interessen und Ziele durchzusetzen, ist eine auch in diesem Falle diskussionswürdige Frage. Bekanntlich hat Joachim Radkau diese Debatte vor dem Hintergrund, dass der „Mythos“ der Holznot ein „lange selten hinterfragte[r] Gemeinplatz in der Forst- und Umweltgeschichte“ war,10 mit gutem Grund angestoßen.11 Man sollte sich demnach nicht von vornherein unkritisch allein von den mehr oder minder faktengesättigten historischen Verhältnissen in Schleswig-Holstein täuschen lassen und die auch hier begegnende „Holznotklage“ ganz und gar für bare Münze nehmen. Dies gilt vor allem für die Frühe Neuzeit. Schließlich spricht die noch zu erörternde Tatsache der ab einem gewissen Zeitpunkt unbestreitbar großen Armut an eigenem Wald und Holz bei gleichzeitigem mehr oder minder reibungslosem Funktionieren der Wirtschafts- und Lebensabläufe dafür, dass sich hier, im Raum Schleswig-Holsteins, eine vormoderne Gesellschaft etabliert hatte, die nicht auf Dauer, aber immerhin über längere Zeiträume hinweg aus dieser großen Not eine Tugend zu machen verstand und sich eine Subsistenzwirtschaft auf der Basis anderer Rohstoffe als Holz bzw. durch Holzimporte und Holzeinsparungen

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zeit, in: VSWG 100 (2013), S. 311–327, hier 326, auch für Frankreich und im krassen Unterschied zu den heutigen Niederlanden, Belgien (Flandern) und England. Die Zahlenwerte liefert http://www.sdw.de/waldwissen/wald-in-deutschland/waldanteil (Stand: 15. März 2013, 10:08 Uhr). – Andere Zahlenwerte, die aber die gleiche Tendenz vorgeben, nennt Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 41. So Nils Freytag: Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland, in: HZ 283 (2006), S. 383–407, hier 388. Zitat aus Bernd-Stefan Grewe: „Man sollte sehen und weinen!“ Holznotalarm und Waldzerstörung vor der Industrialisierung, in: Frank Uekötter/Jan Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Öko-Alarme. Stuttgart 2004, S. 24–40, hier 34 f. Siehe die Diskussionsbeiträge von Joachim Radkau: Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisionistische Betrachtungen über die Holznot, in: VSWG 73 (1986), S. 1–37; Ders.: Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: GG 9 (1983), S. 513– 543; Ders./Ingrid Schäfer: Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 149–160 („Das ‚Gespenst der Holznot‘: Die Holzwirtschaft vor der Katastrophe?“).

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erfolgreich aufbaute. Dieser Sachverhalt relativiert zweifellos die Brisanz der Holznotklage, wie sie vor allem auch in der nachfolgenden regionalhistorischen Literatur angestimmt wurde und nach wie vor wird.12 Umgekehrt brachte auch die Heranziehung anderer Rohstoffe ihre Probleme mit sich, so dass in jedem Fall eine differenzierte, über Monokausalitäten hinausweisende Sicht der Dinge angemessen erscheint. Vor kurzem hat Uwe Eduard Schmidt eine solche am Beispiel des Saarlandes, des Rheingebietes und der Eifel mit guten Gründen eingefordert.13 I. Im März 1846 erschien in den Itzehoer Nachrichten ein Aufruf zur Gründung einer „Landesbaumschule“ in Hanerau (Holstein). Darin beklagte der Verfasser Wilhelm Mannhardt die generelle Holzarmut im Land und beschrieb die dramatischen Folgen der großflächigen Entwaldung: „Die traurigen Folgen der Verwüstung sind: ein sauer gewordenes Erdreich, eine verminderte Tier- und Pflanzenwelt! […] Durchreisende Ornithologen sprechen ihre Verwunderung aus, über die gegenwärtige Armuth unseres Landes an Vögeln. Wir aber wissen: beim Fällen der letzten Dorfeichen verscheuchten wir aus unserer Nähe auch die letzten Waldsingvögel […]. Jeder Reisende weiß es, wie das mittlere Schleswig-Holstein öder und häßlicher ist, als die berüchtigte Lüneburger Heide. […] Lasset uns in diesem Jahr einen Grund legen zu einem nützlichen Betrieb der Forstwirtschaft durch Anlegung einer Baumschule, welche sei die Mutter künftiger Pflanzungen in Schleswig-Holstein auf daß auch unsere Nachkommen die Bäume schauen und das Jahr 1846 segnen mögen.“14 Wenn Nachhaltigkeit, wie gemeinhin üblich geworden, als eine Strategie definiert wird, mittels derer die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zur eigenen Bedürfnisbefriedigung in Gefahr zu bringen – also auch als Nutzung regenerierbarer lebender Ressourcen in einem Maße, dass die Bestände natürlich nachwachsen können –,15 dann ist der zitierte Aufruf durch seinen Verweis auf eine „nützliche“ Forstwirtschaft und die folgende(n) Generation(en) spürbar vom Gedanken der Nachhaltigkeit geleitet, ohne dass der Begriff hier direkt erwähnt wird. Dabei erfolgte der Aufruf als deut12 13 14 15

Siehe etwa Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1) oder Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), passim. Uwe Eduard Schmidt: Der Wald in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Das Problem der Ressourcenknappheit dargestellt am Beispiel der Waldressourcenknappheit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Eine historisch-politische Analyse. Saarbrücken 2002. Walter Hase/Gerd Hartwig Peters: Die Mannhardtsche Landesbaumschule in Hanerau (1846– 1867), in: Rendsburger Jahrbuch 33 (1983), S. 155–168, hier 158; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 100. Vgl. zum Terminus Reinhold Reith: Art. Nachhaltigkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit 8. Stuttgart/Weimar 2008, S. 1009–1012, hier 1009; Konrad Ott: Läßt sich das Nachhaltigkeitskonzept auf Wissen anwenden?, in: Christoph Hubig (Hg.): Unterwegs zur Wissensgesellschaft. Grundlagen – Trends – Probleme. Berlin 2000, S. 299–313, hier 301; Oliver Auge: „Nachhaltigkeit“ als historisches Thema – eine Hinführung, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 32 (2014), S. 45–53.

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lich erkennbarer Bestandteil der zeitgenössischen Holznotdebatte16 sicher nicht von ungefähr und keineswegs im Widerspruch zum eben Gesagten gerade in Hanerau. Denn hier wie überhaupt im Umland des Eiderkanals war während der Zeit seiner Errichtung zwischen 1777 und 1784 ein wahrer Raubbau am Waldbestand begonnen worden. Dieser setzte sich auch in der Folgezeit ungebremst fort, da sich das gefällte Holz auf dem neuen Wasserweg zwischen Nord- und Ostsee bestens abtransportieren und exportieren ließ.17 So war der Waldbestand des Gutes Hanerau zwischen 1777 und 1802 nachweislich von 4.700 Hektar auf 698 Hektar zusammengeschrumpft.18 Allerdings hatte dieser Raubbau an der Ressource Holz in Schleswig-Holstein nicht erst zum Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt, sondern besaß hier tendenziell, wie andernorts auch, eine weitaus längere, bis ins Mittelalter zurück reichende Geschichte.19 Im Mittelalter war Holz bekanntermaßen ein überaus gefragtes Gut, das

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Zum Begriff siehe auch Reinhold Reith: Umweltgeschichte der frühen Neuzeit. München 2011, S. 104. – Siehe als zeitgenössische Beispiele der Holznotklage in Schleswig-Holstein etwa C. P. Laurop: Freimüthige Gedanken über den Holzmangel, vorzüglich über den Brennholzmangel in den Herzogthümern Schleswig und Holstein und die Mittel, ihm abzuhelfen. Altona 1798; Niemann: Forststatistik (wie Anm. 3), S. 201 und bes. 204 f. mit dem Hinweis auf eine im Altonaischen Naturalmanach erschienene Persiflage über die zweibeinigen Holzwürmer (= Menschen als Waldschädlinge). Vgl. dazu jetzt auch Lisa Kragh: „Zweibeinigte Holzwürmer?“ Die Bauern und der Waldrückgang in Schleswig-Holstein in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 139 (2014), S. 23–48. Vgl. dazu allgemein Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 47: „Das Holz kam in aller Regel auf dem Wasser zu den Nutzern, da der Transport auf der Achse wesentlich teurer war.“ Alexander Wagner: Die Holzungen und Moore Schleswig-Holsteins. Hannover 1875, S. 22; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 88. Das Holz war u. a. für drei Schleusen benötigt worden. Siehe dazu allgemein Werner Rösener: Der Wald als Wirtschaftsfaktor und Konfliktfeld in der Gesellschaft des Hoch- und Spätmittelalters, in: ZAA 55 (2007), S. 14–31; Armin Gerstenbauer: Die Stellung des Waldes in der deutschen Kulturlandschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Josef Semmler (Hg.): Der Wald in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1991, S. 16–27 mit dem Hinweis auf S. 24, dass im Spätmittelalter eher das Waldgewerbe für eine Zurückdrängung der Wälder gesorgt habe, wohingegen im Hochmittelalter die Agrarintensivierung dafür verantwortlich gewesen sei. – Siehe zum Folgenden für Schleswig-Holstein Niemann: Forststatistik (wie Anm. 3), S. 195–210, der bereits die verschiedenen Aspekte nennt, die auch in der nachfolgenden Literatur vorkommen; Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 201 ff., 333. – Wie ebd., S. 201 f., für die Verhältnisse in SchleswigHolstein kurz erwähnt, wird ganz allgemein davon ausgegangen, dass die mittelalterliche Rodungsphase den Waldbestand auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Ausmaßes reduzierte und dass die im 14./15. Jahrhundert folgende Wüstungsphase zu einer gewissen Regeneration desselben führte. Vgl. dazu Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 45. – Die Einzelursachen für Schleswig-Holstein behandelt übersichtlich und ausführlich Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 48–60: Rodung, Bedarf an Brenn- und Bauholz, Waldmast, Landesausbau, städtischer Holzbedarf, gewerblicher Bedarf, Holzexport sowie Einzelereignisse wie große Waldbrände. In dieser Ausführlichkeit müssen sie hier nicht nochmals vorgestellt werden.

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gerne ge- und verkauft wurde20 und um dessen Nutzung man sich auch heftig stritt.21 Nicht von ungefähr gehörte zur Unterstützung der gedeihlichen Entwicklung einer Stadtgründung oder Klosterstiftung auch das Privileg des freien Holzhiebs zum Eigenverbrauch, das der Stadtherr seiner Siedlung bzw. der Stifter seinem Kloster erteilte.22 Insbesondere während der Frühen Neuzeit nahm dann allem Anschein nach der Holzkonsum massiv zu. Zu den frühneuzeitlichen Großverbrauchern von Holz zählte u. a. das Militär: Die dänische Flotte benötigte zum Schiffbau große Mengen an Holz, ebenso das Landheer, um seine Bastionen zu errichten. In beiden Fällen handelte es sich übrigens vornehmlich um Holz aus dem schwer bzw. nur langwierig regenerationsfähigen Hochwald. Auch der frühneuzeitliche Deichbau verschlang zusammen mit der parallel verlaufenden Anlage von Koogen, Schleusen 20

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Z. B. Volquart Pauls (Hg.): Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden [i. F. abgek. SHRU], Bd. 4: 1341–1375. Neumünster/Hamburg 1924, Nr. 1185, S. 740 f. (1366 Nov. 1): Die Brüder Eckhard und Johann von Crumsee an den Rat von Lübeck während der nächsten acht Jahre; Nr. 1272, S. 780 (1368 Juli 19): Junker Otto an das Kloster Uetersen; Werner Carstens (Hg.): SHRU 6. Neumünster 1971, Nr. 274, S. 191 (= Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde [Hg.]: Urkundenbuch der Stadt Lübeck [i. F. abgek. UBStL], Bd. 4: Urkunden bis 1370. Lübeck 1873, Nr. 361, S. 393) (1379 Sept. 28): Ritter Detlev von Rastorf an den Rat von Lübeck; Nr. 300, S. 211 (= UBStL 4, Nr.371, S. 407) (1380 März 21): Tidemann Vorrat an Hinrich Kerstens und Heyneke Meestermanne; Nr. 306, S. 214 (= UBStL 4, Nr. 374, S. 409) (1380 April 8): Vicke von Krummsee an den Lübecker Ratsherrn Segebode Crispin; Nr. 316, S. 218 (= UBStL 4, Nr. 375, S. 410) (1380 Mai 5): Detlev von Krummsee an denselben; Nr. 399, S. 267 (= UBStL 4, Nr. 399, S. 438) (1382 Jan. 3): Die Brüder Eckard und Henneke von Krummsee an den Lübecker Ratsherrn Johann Schepenstede; Nr. 581, S. 394 f. (= UBStL 4, Nr. 456, S. 503) (1385 Mai 9): Zahlungsbestätigung seitens des Rats und der Vögte von Oldesloe an den Lübecker Rat für verkauftes Böttcherholz; Nr. 958, S. 677 (= UBStL 4, Nr. 541, S. 596) (1391 Juni 24): Der Knappe Detlev Gronouwe mit Zustimmung seines Bruders Hinrich an den Lübecker Bürger Henning Rene gen. Stonehauer; Nr. 964, S. 683 (= UBStL 4, Nr. 544, S. 600) (1391 Juli 25): Die Knappen Bertold und Hermann von Daldorpe an den Lübecker Rat usw. Z. B. Paul Hasse (Hg.): SHRU 3. Neumünster/Hamburg 1896, Nr. 64, S. 35 (1301): Durch Graf Johann zwischen dem Kloster Reinfeld und den Einwohnern des Ortes Zarpen herbeigeführter Vergleich, wonach die Dorfbewohner künftig den bisher frei betriebenen Holzhieb und den Holzverkauf auf Klage der Mönche hin auf ihren Eigenbedarf einschränken und für den Bedarf an Bauholz die Einwilligung des Abtes einholen müssen. – SHRU 6 (wie Anm. 20), Nr. 266 f., S. 182–185 (1379 Mai 31/Aug. 14): Schiedsspruch des Hamburger Domherrn Hartwig van der Sulten und des Ratsherrn Heino von dem Berge über den Wald Hasselbrook bei Hamm; Nr. 816, S. 577 f. (1389 Mai 21): Vergleich des Klosters Bordesholm mit den Kirchengeschworenen von Nortorf wegen des Waldes und Ackers Kyfrode beim Kloster; Nr. 1135, S. 807 (1394 Juni 24): Annahme des Schiedsspruchs des Hamburger Rats bezüglich der Scheide der Hölzungen von Hirschenfelde und Farmsen durch die Brüder und Knappen Marquard und Emeke Struus. – Siehe dazu allgemein Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 45: „Durch die Frühe Neuzeit zieht sich der Streit um den Wald bzw. seine Nutzung.“ Z. B. Paul Hasse (Hg.): SHRU 1. Neumünster/Hamburg 1886, Nr. 329, S. 150 (1216): Graf Albrecht für Hamburg; Nr. 425, S. 195 (1224 Dez. 24): ebenso; Ders. (Hg.): SHRU 2: 1250– 1300. Neumünster/Hamburg 1888, Nr. Nr. 216, S. 93 (1260): Die Grafen Johann und Gerhard für Segeberg; Nr. 421, S. 175 (1271 Mai 5): Graf Gerhard für Krempe; Nr. 672, S. 268 f. (1285 Febr. 10): Heinrich von Barmstedt für das Kloster Uetersen.

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und Sielen in der Marsch Unmengen an Holz. Hinzu kamen als traditionelle Großverbraucher das Handwerk und die vorindustrielle Güterproduktion (Salz, Glas, Ziegel, Holzkohle), welche das Holz als Werkstoff und zur Gewinnung von Wärmeenergie, also im größten Stil als Brennholz verbrauchten.23 Ein Übriges taten die privaten Haushalte der seit dem Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert offenbar nur langsam wachsenden Bevölkerung,24 der Holzexport, die angestammte Waldweide25 und die verschiedenen Waldgewerbe wie etwa die Herstellung des Gerbstoffs Lohe aus Baumrinde, sowie, nicht zu vergessen, die Ausbreitung der Gutswirtschaft mit den damit verbundenen großflächigen Rodungen. Letzteres hing damit zusammen, dass die adeligen Güter mit dem Erlass eines landesherrlichen Privilegs vom 6. Mai 1524 frei von jeder herrschaftlichen Forstaufsicht waren und so mit ihrem Holzbestand nach eigenem Gutdünken verfahren konnten.26 Besonders als die adeligen Güter Anfang des 17. Jahrhunderts zur Milchwirtschaft, der so genannten Holländerei, übergingen, wurden die im Adelsbesitz befindlichen Gehölze massiv gerodet, um Weideland zu gewinnen.27 Im Zuge der Bauernbefreiung bzw. der damit in Zusammenhang stehenden Ablösung der Forst- und Weidegerechtigkeiten machte man schließlich weitere Parzellen des „Restwaldes“ im größeren Umfang zu Ackerland,28 wodurch abermals viel Wald verloren ging. II. Die Folge der so in aller gebotenen Kürze umschriebenen Übernutzung der Wälder war ein augenscheinlich immer größerer Holzmangel, der im waldärmeren Westen des Landes offenbar bereits im 15. Jahrhundert, in der Mitte und im Osten dann im 17. Jahrhundert deutlich spürbar wurde.29 Neben den erwähnten Konflikten um Holznutzungsrechte werden Quellen wie ein für das Jahr 1378 zu Schwabstedt und Umgebung belegter Holzpfennig, der von Bauern für Holznutzungsrechte verlangt 23

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Siehe zu den Großverbrauchern von Holz in der Frühen Neuzeit allgemein Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 49–51; Radkau/Schäfer: Holz (wie Anm. 11), S. 91–129. – Für Schleswig-Holstein vgl. die Auflistung bei Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 87–90 oder Neuschäffer: Waldnutzung (wie Anm. 6), S. 9–12. Ibs/Dege/Unverhau: Historischer Atlas (wie Anm. *), S. 27. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 87 f. sieht in der Waldweide mit ihren langwierigen Folgen eine Hauptursache für den Rückgang des Waldes. – Vgl. dazu Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 52 f. Friedrich Christoph Jensen/Dietrich Hermann Hegewisch (Hg.): Privilegien der SchleswigHolsteinischen Ritterschaft von den in der Privilegienlade befindlichen Originalen genau abgeschrieben und mit denselben verglichen. Kiel 1797, Nr. 23; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 86. Vgl. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 88, 94. – Zu den Auswirkungen der Holländerei auf den Waldbestand siehe auch Johann Balthasar Dantzmann: Bericht von den Holländereyen in den Herzogthümern Schleswig und Holstein. Glückstadt 1755, S. 5. Für den landesherrlichen Bereich war hierbei das Patent über die Ablösung der Forst- und Weideberechtigungen vom 15. Juni 1785 von zentraler Bedeutung: LAS Abt. 401 Kgl. VO, Nr. 1785 15.6. Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 203.

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wurde,30 die vor 1568 erfolgte vollständige Ablösung der bisher üblichen Holzabgaben an das Amt Tondern durch Leistungen in Torf oder Geld31 oder die strikten Verbote des in Schleswig-Holstein weit verbreiteten illegalen Holzschlags, die zum 16. Jahrhundert für das Amt Segeberg oder die Insel Fehmarn überliefert sind,32 als Belege für die akute und immer stärker um sich greifende Holznot herangezogen. Ohne die Richtigkeit dieses Schlusses im Grundsatz in Frage stellen zu wollen, kann man freilich im Einzelfall diesen Maßnahmen bis zu einem gewissen Grad, wie eingangs angedeutet, auch noch andersgeartete ordnungspolitische Ziele unterstellen. Im Regelfall kreisten diese um die von Peter Blickle bereits 1986 gestellte zentrale Frage: Wem gehört der Wald?33 Die Umstellung der bisherigen Holzabgaben auf Torf und/oder Geld in Tondern hingegen kann auch als Modernisierung begriffen werden. Nichtsdestoweniger zog der Raubbau an der Ressource Holz unbestritten regionalspezifische34 Probleme für Ökologie und Ökonomie nach sich: Das durch ungebremste Abholzung entstandene Heideland litt teilweise unter dem nun ungehinderten Sandtreiben, und Bodenerosion wurde zum verbreiteten Phänomen. Andernorts versäuerten die Böden wegen des steigenden Grundwasserspiegels.35 Für die Ackerflächen fehlte es dagegen bisweilen an hinreichender Nährstoffzufuhr, weil das sonst hierfür verwendete Stroh oder der Mist ersatzweise als Brennstoffe eingesetzt werden mussten und damit als Düngemittel wegfielen.36 Die auf Baumfrüchte (Eicheln, Kastanien, Bucheckern) angewiesene Schweinemast, einst einer der ertragreichsten Sektoren der holsteinischen Agrarwirtschaft,37 verlor ab dem 17. Jahr30 31 32

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SHRU 6 (wie Anm. 20), Nr. 179, S. 117 (1378 März 26). Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 187; Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 203. Max Schönwandt: Die Familie der Kirchspielvögte von Würtzen zu Nortorf, in: Rendsburger Jahrbuch 34 (1984), S. 61–72, hier 66; Johann Eike Benesch: Das Bordesholmische Brücheregister von 1619/20, in: Jahrbuch Bordesholm 6 (2004), S. 117–133, hier 128; Hans Wilhelm Schwarz: Aus dem Brücheregister der Hanerauer Amtsrechnung 1619, in: Rendsburger Jahrbuch 53 (2003), S. 209 (Holzdiebstahl); Ders.: Aus dem Brücheregister der Hanerauer Amtsrechnung 1622, in: Rendsburger Jahrbuch 55 (2005), S. 87, 96 (Vergehen gegen die Obrigkeit 1 u. 2). Peter Blickle: Wem gehörte der Wald? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungs- und Eigentumsansprüche, in: ZWLG 45 (1986), S. 167–178. Im Alpenraum sahen diese zum Vergleich verständlicherweise anders, aber mit ähnlich gravierenden Folgen aus. Siehe dazu Roman Sandgruber: Ökologische Krisen der Vergangenheit und ihre Bewältigung. Beispiele aus Österreich, in: Heinz Löffler/Erich W. Streissler (Hg.): Sozialpolitik und Ökologieprobleme der Zukunft. Festsymposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften anläßlich ihres 150jährigen Jubiläums. Wien 1999, S. 365–394, hier 369. Dazu und zum Folgenden Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 334, 363. Vgl. dazu auch Brar C. Roeloffs: Borgsum und Witsum um 1800. Ein Beitrag zur Geschichte einer Dorfschaft auf Westerlandföhr, in: Jahrbuch Nordfriesland 20 (1984), S. 77–109, hier 88. Siehe etwa die entsprechende Passage in der von Heinrich Rantzau verfassten Landesbeschreibung von 1597: Rantzau: Landesbeschreibung (wie Anm. 4), S. 98/201: „Weil das Gebiet so voll üppiger Wälder ist, darf es niemanden wundern, daß einzelne Edelleute in einem einzigen Jahr allein aus der Schweinemast 4.000 Joachimstaler eingenommen haben. […] Die hervorragendsten Wälder allerdings, in denen bis zu 20.000 Schweine fett werden, gehören den Landesfürsten. Im Jahre 1590 wurden, wie mir bekannt ist, im Rendsburger Wald 14.000, im Segeber-

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hundert merklich an Bedeutung,38 von der gewerblichen Waldnebennutzung für Produkte wie Pech, Teer, Holzkohle oder durch die Zeidlerei ganz zu schweigen.39 Stellenweise mussten Glashütten stillgelegt werden, weil es am nötigen Holz zur Glasherstellung fehlte, und 1695 wurde die Anlage neuer Glashütten wegen des zu erwartenden großen Holzverbrauchs zeitweilig ganz untersagt.40 III. Es klang bereits bei der erwähnten Ablösung von Holzabgaben durch solche in Torf und Geld oder bei der Verwendung von Stroh und Tierkot als Brennstoff an, dass man weniger aus Einsicht denn aus purer Not heraus zur Reaktion und Gegensteuerung gezwungen war.41 Hatte man bereits um das Jahr 1600 vereinzelt Steinkohle aus England herbeigeschafft,42 begann man gegen Mitte des 18. Jahrhunderts damit, verstärkt Holz aus Norwegen, Pommern und anderen Regionen des Ostseeraums zu importieren.43 Vor allem aber gewann in der Frühen Neuzeit Torf als Brennstoff für die privaten Haushalte und die Wirtschaft in dem Maße an Bedeutung, wie das Holz knapp und knapper wurde.44 Wohl nicht zufällig ist daher auch erstmalig von Torfstechen und Torfhandel genau in den Dorfordnungen aus der Zeit zwischen 1540 und 1652 die Rede, die für Ansiedlungen auf der holzarmen Geest galten.45 In manchen Gegenden, etwa auf Stapelholm oder im Amt Tondern, wurde

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ger und in den angrenzenden Wäldern mehr als 19.000, in den Abteien Bordesholm 10.000, Reinfeld 8.000, Ahrensbök 4.000, in Trittau und Reinbek 8.000 Schweine gemästet. Die Wälder des Herzogtums Schleswig, ganz Jütlands und alle, die sich in Adelsbesitz befinden, lasse ich jetzt beiseite, obwohl auch sie ganz beträchtliche Einnahmen erbringen. Einen Hinweis kann ich allerdings nicht unterdrücken, nämlich daß in den Wäldern, die zum Schloß Gottorf gehören, bei durchschnittlichem Ertrag an Eicheln und Bucheckern etwa 30.000 Schweine fettgemacht werden können.“ – Siehe dazu kurz gefasst auch Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 52. Niemann: Forststatistik (wie Anm. 3), S. 199 f. Vgl. zur Waldnebennutzung die weiterführenden Hinweise bei Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 109. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 87 f., 90; Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 203, 363. So auch das Ergebnis der Untersuchung in etwa zeitgleicher Verhältnisse im Kanton Bern bei Martin Stuber: Wälder für Generationen. Konzeptionen der Nachhaltigkeit im Kanton Bern (1750–1880). Köln/Weimar/Wien 2008. Ludwig Andresen: Einfuhr von Steinkohle 1616, in: Die Heimat 15 (1930), S. 19 mit der Nachricht, dass 1616 auf Tönninger und Ripener Schiffen Steinkohle aus Sunderland und Newcastle nach Schleswig-Holstein transportiert worden sei. Wilhelm Rust: Das Flensburger Bauhandwerk von 1388 bis 1966: Ein Beitrag zur Baugeschichte der Stadt. Flensburg 1967, S. 189 f. Vgl. auch Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 333. Im Mittelalter spielte Torf eher für die Salzgewinnung eine Rolle. Vgl. dazu und zur Torfgewinnung insgesamt Jan Carstensen: Torfgewinnung. Geschichte und Bedeutung in SchleswigHolstein. Osnabrück 1985, S. 20–42. Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 235 (mit Anm. 321) nach Martin Rheinheimer: Die Dorfordnungen im Herzogtum Schleswig. Stuttgart 1999, Bd. 1, S. 149 ff.,

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die Torfgewinnung bald zu einem der wichtigsten Erwerbszweige.46 Der Bedarf an Torf und damit auch sein Preis stiegen zunächst langsam und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer schneller an, als offenkundig immer mehr Betriebe dazu übergingen, ihn als industriellen Brennstoff zu verwenden. Hierzu zählten etwa die Glashütten in Ostholstein, die Saline in Oldesloe, die Brauereien und Brennereien in Flensburg, die Kalkwerke in Segeberg oder die Ziegeleien bei Apenrade.47 Allerdings führte der vermehrte Torfabbau zur Absenkung der Bodenoberfläche, was nicht grundsätzlich problematisch war, es aber gerade in Küstennähe notwendig machte, die Deiche zu erhöhen. 1634 wurde die Insel Alt-Nordstrand von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht, bei der ihr größter Teil im Meer versank und 70 Prozent ihrer Bevölkerung ertranken. Man vermutet, dass auch unsachgemäßer Torfabbau in Deichnähe zu ihrem Untergang beigetragen hat.48 Parallel dazu bemühte man sich um eine Einschränkung von Holzexporten. Zwischen 1550 und 1721 kamen solche Verbote, Nutz- und Brennholz, Rinde oder Holzkohle ins Ausland zu liefern, in einiger Häufigkeit vor.49 Schon 1506 war in Rendsburg an der Eider die Holzausfuhr auf drei Schiffsladungen pro Jahr und Bürger beschränkt worden.50 Obendrein wurde 1554 und 1557 im königlichen Anteil von Schleswig und Holstein – freilich weitgehend wirkungslos – der Bau von reinen Bohlenhäusern, d. h. massiven Holzhäusern, verboten, um Bauholz einzusparen. Stattdessen sollten Häuser aus Ziegeln oder zumindest mit Steinunterbauten errichtet werden.51

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Bd. 2, Nr. 2 § 17 (Abild 1649), Nr. 3 § 6 (Achtrup 1633), Nr. 7 § 15 (Agerskov 1592), Nr. 111 § 10 (Großenwiehe 1623), Nr. 119 § 9 (Harreby 1601), Nr. 131 § 1 (Høgsbro 1568), Nr. 143 § 9 (Humptrup 1624), Nr. 145 §§ 2, 4, 10 (Immenstedt 1625), Nr. 171 § 4 (Leck 1540), Nr. 182 § 6 (Mildstedt 1571), Nr. 210 §§ 3, 6 (Nørre Vollum 1623), Nr. 224 § 6 (Ostenfeld 1625), Nr. 231 § 7 (Ottersbø 1619), Nr. 237 §§ 12, 14 (Ravstedt 1593), Nr. 270 § 2 (Sønder Vollum 1623), Nr. 297 § 4 (Terring 1619), Nr. 298 § 5 (Tielen 1593), Nr. 305 § 2 (Toghale 1652). – Siehe dazu auch Ders.: Umweltzerstörung und dörfliche Rechtssetzung im Herzogtum Schleswig (1500– 1800), in: Jakubowski-Tiessen/Lorenzen-Schmidt (Hg.): Dünger und Dynamit (wie Anm. 1), S. 81–92, zum Torfabbau speziell S. 86 f. Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 363. Ebd., S. 364. Zur Insel siehe Manfred Jakubowski-Tiessen: Art. Nordstrand, in: Klaus-Joachim LorenzenSchmidt/Ortwin Pelc (Hg.): Schleswig-Holstein-Lexikon. Neumünster 2000, S. 386. – Zur vermutlichen Rolle des Torfabbaus beim Untergang vgl. den Kurzbericht unter http://www.lustauf-nordstrand.de/?p=9031 (Stand: 15. März 2013, 11:50 Uhr). Dazu und zum Folgenden Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 60 f.; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 89, 108 (für die Kremper- und Wilstermarsch, 1550–1575). LAS Abt. 7, Nr. 4127 (Protokoll einer Ratssitzung am 9. März 1626, welches auch auf das Privileg von 1506 Bezug nimmt); vgl. Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 205. R. Meiborg: Das Bauernhaus im Herzogthum Schleswig und das Leben des schleswigschen Bauernstandes im 16., 17. und 18. Jahrhundert, übers. von Richard Haupt. Kiel 1896, S. 188; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 90, 109; zum Bauholzverbrauch vgl. auch Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 195 f.

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IV. Die skizzierten Maßnahmen und Vorgänge kreierten, wie eingangs angedeutet, in Schleswig-Holstein eine Gesellschaft, die zumindest eine Zeitlang erfolgreich ohne eigenes Holz auskommen und wirtschaften konnte. Allerdings griff man nicht allein verstärkt auf Ersatzbrennstoffe zurück oder versuchte, den Verbrauch durch Einschränkungen und Verbote zu drosseln, um den scheinbar massiv um sich greifenden Holzmangel auszugleichen. Zudem bemühte man sich früh, zumindest punktuell, die vorhandenen Waldreste zu schützen und obendrein für eine Waldregeneration zu sorgen: punktuell vor allem deswegen, weil die entsprechenden, seit 1671 erlassenen landesherrlichen – d. h. königlichen und/oder herzoglichen – Ordnungen, wie erwähnt, nur für die Städte, Ämter und Domänen der Landesherren, nicht aber für die großen Adelsgüter Geltung besaßen;52 punktuell aber auch, weil bei der qualitativen und quantitativen Umsetzung dieser Vorschriften Norm und Wirklichkeit, wie aus anderen Zusammenhängen ebenfalls bekannt, auseinanderklaffen konnten. Aus ihrem Erlass ist jedenfalls keineswegs zu folgern, dass sie stets vollständig um- bzw. auf Dauer durchgesetzt wurden. Das erschließt sich allein aus den zahlreichen Belegen für Verstöße gegen die Verordnungen, die eigens verfolgt wurden, die jedoch gewiss nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Delikte widerspiegeln.53 Auch wurde in den Verordnungen selbst die Wirkungslosigkeit bisheriger Erlasse angesprochen, wie z. B. in der Königlichen Verordnung vom 1. September 1680.54 So hätte die haargenaue Realisierung der darin teilweise vorgeschriebenen, gleich näher zu betrachtenden automatischen Waldregeneration auch in Schleswig-Holstein Waldbestände sichtbaren Ausmaßes schaffen müssen. Die Realität sah freilich ganz anders aus. Dies gilt es bei der Interpretation der Ordnungen stets zu berücksichtigen. Allerdings kommt es im Folgenden nicht so sehr auf die Frage der Realisierung als vielmehr auf die Konzeption und die dahinter stehenden Absichten an. In der Glücksburger Hochfürstlichen Holzverordnung von 1681 wurde etwa festgelegt, dass man zur Holzkohleherstellung „kein anderes als untaugbares, insbesonderheit aber weiches Holz von ellern, imgl[eichen] alte und ausgegangene hohle Eich-Bäume, Äste und dergl.“ verwenden und die Kohlemeiler so anlegen solle, „allwo sie denen Hölzungen keinen Schaden thun können“55. 14 Jahre später drohte die Fürstlich Schleswig-Holsteinische Holzordnung „unabdingliche“ Strafen an, wenn man „Eichen, Büchen oder andere fruchtbahre Bäume“ beschädige oder beim Heideabbrennen das Feuer so lege, dass es auf Torfmoore oder Holzungen übergreife. Des Weiteren verbot sie u. a. die Haltung von Ziegen bei und in Gehölzen und wies an, dass beim Fällen „die Capital-Bäume verschonet und auch 52

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Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 61; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 97. – Die erste Holzordnung für den königlichen Anteil an den Herzogtümern Schleswig und Holstein wurde am 1. September 1671 erlassen und im Jahr 1680 erneuert: LAS Abt. 401 Kgl. Vo., Nr. 1680 1.9. Vgl. dazu etwa LAS Abt. 65.1, Nr. 1201. LAS Abt. 401 Kgl. Vo., Nr. 1680 1.9. Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 188, nach LAS Abt. 400.5, Nr. 606.

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kein fruchttragender Baum […] ausgewiesen werde“ und dass man zur Gewinnung von Buschwerk für die Zäune dort Holz haue, „wo es der Holtzung […] zum wenigsten schädlich“ sei.56 Die hinter solchen und ähnlichen Bestimmungen stehenden Motive sind für andere Regionen, etwa von Peter Blickle, Winfried Freitag, Paul Warde oder Martin Stuber,57 schon bestens untersucht und ergründet worden: Es ging dabei eben nicht nur um den Schutz des Waldes und der Ressource Holz – und dies natürlich erst recht nicht in unserem heutigen ökologischen als vielmehr im ökonomischen Sinne58, sondern auch und nicht zuletzt um die Kontrolle und die Durchsetzung herrschafts- und ordnungspolitischer Ziele sowie herrschaftlicher Jagdinteressen.59 Faktisch trugen diese Ordnungen – auch wenn sie nur punktuell umgesetzt wurden – allerdings zu einer gewissen Sicherung des Waldbestandes bei, zumal ab der Mitte des 16. Jahrhunderts mit den so genannten Holzvögten oder Waldmeistern ein eigenes, wenn auch schlecht bezahltes Personal geschaffen wurde, um den Forst zu schützen und den Holzeinschlag wahrzunehmen.60 Die Ordnungen sicherten – zumindest normativ – den Bestand vor allem dann, wenn sie, wie die 1728 vom Eutiner Fürstbischof Adolf Friedrich erlassene Waldordnung, nicht nur eine strikte Grenzziehung zwischen Wald und Ackerflur durch die Anlage von Steinzäunen oder so genannte Knicks festlegten (zeitlich parallele Fälle hierfür finden sich im nahen Angeln61), sondern auch das Prinzip automati56 57

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LAS Abt. 7, Nr. 3026. Dazu und zum Folgenden Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 250 f. Blickle: Wem gehörte der Wald? (wie Anm. 33); Winfried Freitag, Landbevölkerung, Forstpersonal und „gute Waldordnung“ in der „Bayrischen Vorstordnung“ von 1568, in: ZAA 55 (2007), S. 32–57; Paul Warde: Ecology, Economy and State Formation in Early Modern Germany. Cambridge 2006; Stuber: Wälder für Generationen (wie Anm. 41). Siehe z. B. die Formulierung in der Holzordnung von 1655: „Eftersom den daglig erfarenhed udviser, at skoufvene i vore lande Fyn oh Laaland saaledis formindskis, at det er at befrygte, at hverken til ildebrand elle bygnyning i frembtiden fornødenhed skal findes […]“ („Weil die tägliche Erfahrung zeigt, dass die Wälder in unseren Landen Fünen und Lolland derart vermindert sind, dass zu befürchten ist, dass zukünftig weder Feuer- noch Bauholz ausreichend vorhanden sein wird“), nach Vilhelm Adolf Secher (Hg.): Corpus Constitutionum Daniae, Bd. 6. Kopenhagen 1918, S. 260, Nr. 205. Siehe dazu auch Karl Hasel: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis. Hamburg 1985, S. 115 f.; Kurt Mantel: Forstgeschichte des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Forstordnungen und Noe Meurers. Hamburg/Berlin 1980; Ders.: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Hannover 1990, S. 61 ff., 84 f.; Blickle: Wem gehörte der Wald? (wie Anm. 33), S. 169 f. – Zur Rolle der Jagd vgl. Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit. Darmstadt 2004, S. 215–224; Martin Knoll: Umwelt – Herrschaft – Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert. St. Katharinen 2004, S. 2–4 u. Kap. V; Ders.: Dominanz als Postulat. Höfische Jagd. Natur und Gesellschaft im „Absolutismus“, in: François Duceppe-Lamarre/Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, S. 73–91. – Zu Schleswig-Holstein siehe die kurzen Bemerkungen bei Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 87, 94 bzw. Riis: Wirtschaftsund Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 202. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 94; Mager: Entwicklungsgeschichte (wie Anm. 6), S. 238–245. Hans Jessen: Die Bewaldung in Angeln im Jahre 1730, in: Jahrbuch des Angler Heimatvereins 52 (1988), S. 48–58.

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scher Waldregeneration verfochten: Nach diesem Grundsatz sollte jeder Hauswirt jährlich vier junge Bäume pflanzen. Ledige junge Männer durften zudem nur dann heiraten, wenn sie zuvor zehn Bäume gepflanzt hatten.62 Die Königliche Jagd- und Forstverordnung vom 24. April 1737 griff diese Idee auf und schrieb für jedes Brautpaar die Pflanzung von zehn Eichen oder 15 Buchen vor, die es dann „3 Jahre lang nach der Anpflanzung im Wachsthum zu erhalten, oder ins dritte Blatt zu bringen“63 galt. Die daraus hervorgehenden Bestände wurden als Braut- oder Bräutigamskoppeln bezeichnet.64 Für Fünen und Lolland, wo damals der Kriegsschiffbau einen enormen Holzverbrauch erzeugte, war im Jahr 1655 die Verordnung erlassen worden, dass mit jedem gefällten Baum gleich wieder ein neuer zu pflanzen sei.65 Im Jahr 1805 wurde diese Bestimmung auf ganz Dänemark ausgeweitet.66 Die Königliche Holzordnung für die Herzogtümer von 1671 hatte ebenfalls die jährliche Saat und Pflanzung von Eichen und Buchen auf leeren Plätzen vorgesehen.67 Nach heutigem Kenntnisstand ist ein solches Regenerationsprinzip in diesem Raum erstmalig in der Stapelholmer Konstitution vom 27. Januar 1623 geregelt, die für die gleichnamige Landschaft galt und dazu anhielt, für jeden gefällten Baum gleich wieder eine Anzahl Eichen oder Buchen neu zu pflanzen.68 Inwieweit und mit welchem Erfolg dies alles in die Tat umgesetzt wurde, entzieht sich unserer genauen Kenntnis. Die Bedeutung der Maßnahmen wird in der Forschung jedenfalls – und gewiss zu Recht – relativiert.69 Im Übrigen spiegeln vor allem die späteren Verordnungen passagenweise Nachhaltigkeitsdenken in Reinform wider. So heißt es etwa in der Forstordnung vom 24. April 1737 zur Begründung: „Und Wir dann die Beförderung dieses heilsamen Wercks aus Landes-Väter62

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LAS Abt. 260, Nr. 611; Otto Jarchow: Waldsterben im Eutinischen vor 250 Jahren, in: Jahrbuch für Heimatkunde Eutin 17 (1983), S. 33 ff., hier 34; Neuschäffer: Waldnutzung (wie Anm. 6), S. 9–12; Ders.: Geschichte von Wald und Forst (wie Anm. 6), S. 16, 24 f.; Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 364. Friderich Detlef Carl von Cronhelm (Hg.): Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum, oder allerhöchst-autorisirte Sammlung der in dem Herzogthum Holstein königl. Antheils, samt incorporirten Landen wie auch der Herrschaft Pinneberg, Stadt Altona und Graffschafft Rantzau, in Krafft eines beständigen Gesetzen ergangenen Constitutionen, Edicten, Mandaten, Decreten, Resolutionen, Privilegien, Concessionen, und anderen Verfügungen, Bd. 1. Enthaltend die generale auf das ganze Herzogthum Holstein, königlichen Antheils, und übrige Lande, oder dennoch auf ein beträchtliches Theil davon, sich erstreckende Verordnungen und Verfügungen. Altona 1749, S. 1245–1287; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 97. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 97. Um diese Zeit ging man auch dazu über, das schneller wachsende Nadelholz statt der angestammten Eiche oder Buche anzupflanzen. – Ein Foto einer sog. Bräutigamskoppel liefert Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 62. Secher: Corpus (wie Anm. 58), S. 260; vgl. dazu Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 204. Auch zum Folgenden. Zur Holzordnung von 1805 vgl. Thorkild Kjærgaard: Den danske Revolution 1500–1800. En økohistorisk tolkning. Kopenhagen 1991, S. 122. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 110. Cai Lorenz von Brockdorff (Hg.): Corpus statutorum Slesvicensium, Bd. 1. Kiel 1794, S. 653 f.; Dieter Stegmann: Die Stapelholmer Konstitution von 1623. Zugleich ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Schleswig-Holsteins. Kiel 1967, S. 89 f.; Niemann: Forststatistik (wie Anm. 3), S. 259; Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 97. Lorenzen-Schmidt: Waldverlust (wie Anm. 1), S. 61 f.

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licher Vorsorge um destomehr in allergnädigste Erwegung gezogen, als daran zugleich dem allgemeinen Wesen und der Nachwelt höchsten gelegen.“70 Und in einem Patent vom 15. Juni 1785 ist davon die Rede, dass „die Erfahrung gelehrt hat, daß Unsere, auf Erhaltung der Eigenthums-Hölzungen für die Nachkommenschaft gerichtete landesväterliche Absicht nicht erreicht wird […]“71. Abb. 1: Eichen aus dem Sonderskoven auf Alsen, die laut Auskunft von Adj.-Prof. Dr. Hans Schultz-Hansen, Landesarchiv Apenrade (Dk), um 1770 von Brautpaaren gepflanzt wurden

. Quelle: Institut für Sonderjysk Lokalhistorie, Aabenraa (Fotograf Flemming Nissen).

In den 1780er Jahren begann man zudem mit systematischen Aufforstungen auf Gut Salzau bei Preetz, auf der wegen der englischen Konkurrenz aufgegebenen Schäferei Halloh bei Neumünster sowie im Umland von Rendsburg, wobei die Wälder wiederum in Parzellen eingeteilt und mit Knicks umzäunt und die Bauern bezüglich ihrer bisherigen Waldnutzungsrechte abgefunden wurden.72 Die auf den Chef der 70 71 72

Cronhelm: Corpus (wie Anm. 63), S. 1245. LAS Abt. 401 Kgl. Vo., Nr. 1785 15.6. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 94, 111 (bei der Aufforstung kam Nadelholz zum Einsatz); Neuschäffer: Waldnutzung (wie Anm. 6), S. 12; Riis: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 364. – Zu Halloh siehe LAS Abt. 105, Nr. 451–1.

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dänischen Forstverwaltung, Daniel von Warnstedt, zurückgehende Forst- und Jagdverordnung vom 2. Juli 1784 hob zeitgleich für Schleswig-Holstein die bisherige Einheit von Land- und Forstwirtschaft auf,73 nachdem bereits 1778 innerhalb der Rentekammer die Jagd- von der Forstverwaltung ansatzweise separiert worden war. Letztere wurde unter dem Begriff des „Forstkontors“ zur selbständigen Abteilung gemacht.74 Allerdings blieben 1784 Forst- und Jagdwesen immer noch administrativ eng verbunden: So unterstand der Oberförster nach wie vor sinnfällig dem Jägermeister, und Holzvögte konnten zugleich für Holz- und Jagdsachen zuständig sein.75 Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld dieser Vorgänge wurde auf Anordnung des Präsidenten der Kopenhagener Rentekammer, Graf Christian Detlev Friedrich von Reventlows, am 1. August 1785 die Königlich Dänische Forstlehranstalt zu Kiel gegründet.76 Ab 1792 begann man schließlich damit, die landesherrlichen Waldungen planmäßig zu vermessen, um auf diese Weise endlich eine genaue Bestandsübersicht zu erhalten.77 Erst seitdem verfügt man über wirklich gesicherte Daten bezüglich des Waldbestands in Schleswig-Holstein. All diese Maßnahmen waren ihrerseits Teil der vielfältigen Bemühungen um eine Intensivierung und Reform des gesamten Agrar- und Wirtschaftsbereichs, die damals im Dänischen Gesamtstaat im Geiste der Aufklärung mit dem Ziel des so genannten „Staatswohlstandes“ erfolgten.78 Nicht von ungefähr wurde der Kieler Professor für Kameralistik und dänische Etatsrat, Christian August Heinrich Niemann, der erste Direktor der besagten Forstlehranstalt. 1788 gründete er bei Kiel die so genannte Kieler Forstbaumschule. War es Aufgabe der Lehranstalt, das angehende Forstpersonal adäquat auszubilden, so sollte die Forstbaumschule „zur Beförderung und Verbreitung nutzbarer Holzpflanzen in den Forsten des Landes“ dienen und die Setzlinge für die umfänglichen Aufforstungspläne bereitstellen.79 V. Indes waren die Aufforstungsmaßnahmen des ausgehenden 18. Jahrhunderts keineswegs die ersten in Schleswig-Holstein, von denen man Kenntnis hat. Vielmehr 73 74 75 76

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Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 98; Neuschäffer: Geschichte (wie Anm. 6), S. 24; Ders.: Waldnutzung (wie Anm. 6), S. 8. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 111. LAS Abt. 401 Kgl. Vo., Nr. 1784 Juli 02. Walter Hase: Die Forstlehranstalt zu Kiel – die Forstbaumschule – das Düsternbrooker Gehölz. Vor 200 Jahren wurde die Forstlehranstalt gegründet, in: Forstarchiv 56 (1985), S. 259–265; Martin Nickol: Art. Forstbaumschule, in: Doris Tillmann/Johannes Rosenplänter (Hg.): KielLexikon. Neumünster 2011, S. 101 f. Auch zum Folgenden. Hase: Abriß (wie Anm. 3), S. 99. Siehe dazu allgemein Franklin Kopitzsch: Schleswig-Holstein im Gesamtstaat 1721–1830. Absolutismus, Aufklärung und Reform, in: Ulrich Lange (Hg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl., Neumünster 2003, S. 281–332, hier 288–293 (kurze Erwähnung der Forstbaumschule auf S. 290). Vgl. dazu auch Neuschäffer: Geschichte (wie Anm. 6), S. 17 f., 24.

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sorgte der königliche Statthalter und bekannte Humanist Heinrich Rantzau bereits ausgangs des 16. Jahrhunderts für die Einrichtung einer Baumschule bei Winseldorf und Lägerdorf in der Nähe von Itzehoe, von der Reste noch im Jahr 1809 existent gewesen sein sollen.80 Über den Kurfürsten von Brandenburg soll er sich zu diesem Zweck Sämereien für Nadelgehölz besorgt haben, weswegen er als Pionier bei der Anpflanzung von Tannen und Kiefern außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets im Bereich Schleswig-Holsteins gilt.81 Bemerkenswert ist, dass Heinrich Rantzau die besagte Baumschule auf der so genannten Rantzauschen Tafel abbilden ließ: Auf der nach 1591 gemalten Tafel, in deren Zentrum sich ein Stammbaum der Rantzaus vor dem Hintergrund einer stark verzerrten Karte SchleswigHolsteins sowie Jütlands, Fünens und Schonens befindet, sind bedeutende Taten und Monumente der Rantzaus, insbesondere natürlich diejenigen Heinrichs, dargestellt.82 Abb. 2 und 3: Rantzautafel auf Krengerup (Fünen) in der Gesamtansicht und das darauf befindliche Detail der Baumschule, die Heinrich Rantzau anlegen ließ

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Mantel: Forstgeschichte (wie Anm. 59), S. 688 f. – Im Jahr 1809 waren angeblich noch AltFichten aus der Pflanzung vorhanden. Ebd., S. 688 f. Karl-Ernst Behre: Landschaftsgeschichte Norddeutschlands. Neumünster 2008, S. 210. Siehe dazu insgesamt Oliver Auge: Adlige Selbstdarstellung und Legitimation um 1600. Die sog. Rantzausche Tafel auf Krengerup (Fünen), in: Nordelbingen 80 (2011), S. 35–55.

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Quelle: Heino von Rantzau, Ahrensburg.

Die Baumschule ist dabei links unten deutlich zu sehen und zum besseren Verständnis noch mit folgender, im Original lateinischen Beischrift versehen: „Baumschule Heinrich Rantzaus“. Eine steinerne Säule83 vor der Baumschule nennt eigens nochmals ihren Initiator. Oberhalb der Baumschule steht auf Latein geschrieben: „Im Jahre des Herrn 1580 pflanzte Heinrich Rantzau diese Eichen, Tannen und Birken. Das Pflanzungsjahr und den Anfang hieß er hinzuschreiben, damit die Nachwelt ihr Alter bestimmen könne. Welches er bis in alle Ewigkeit der ewigen Gottheit empfiehlt.“84 Es spricht für den großen Stellenwert, den Heinrich Rantzau seiner Baumschule selbst beimaß, und für eine wohl nicht nur ökonomische Motivation dazu, wenn er sie so prominent auf diesem beachtlichen Denkmal adeliger Selbstdarstellung und Repräsentation um das Jahr 1600 platzieren ließ. Der zitierte Wortlaut des Beitextes spiegelt jedenfalls in gewisser Weise die Existenz von Nachhaltigkeitsdenken wider, lange bevor Hans Carl von Carlowitz 1713 den Begriff im forstwirtschaftlichen Sinne in die Welt setzte.85 Das Beispiel Rantzaus spricht damit dafür, dass Nachhaltigkeit, ohne dass das theoretisch-forst83 84

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Sie ist wohl mit dem Gedenkstein identisch, der vor Ort tatsächlich an die Pflanzung Rantzaus erinnert: Mantel: Forstgeschichte (wie Anm. 59), S. 689. Auge: Adelige Selbstdarstellung (wie Anm. 82), S. 43: „Anno D(omi)ni 1580 Hen(ricus) Ran(zouius) has querqus, abietes et petulas plantauit et initiu(m) sationis adscribi jiussit, ut ear(um) aetatem exploraret posteritas. Qua in omnia orbis saecula aternae divinitati commendat.“ Vgl. zur Rolle von Carlowitz’ und seinem Werk „Sylvicultura oeconomica“ von 1713 Reith: Art. Nachhaltigkeit (wie Anm. 15), S. 1010; Ders.: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 135. – Vgl. dazu auch Auge: „Nachhaltigkeit“ als historisches Thema (wie Anm. 15), S. 47.

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wirtschaftliche Konzept davon bereits existierte, als Wirtschaftsprinzip schon für die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit den zeitgemäßen Abstrichen existierte. Bernd Herrmann hielt eine solche, auf Nachhaltigkeit beruhende Praxis in seiner Zusammenfassung der 2012 auf dem 49. Deutschen Historikertag in Mainz durchgeführten Sektion „Nachhaltigkeit im Energieverbrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit? Interdisziplinäre Zugänge zu einem aktuellen Thema“ sinngemäß sogar für lebensnotwendig.86 VI. Herrmanns Hypothese lässt sich an einem weiteren, diesmal spätmittelalterlichen Beispiel für den Bereich Schleswig-Holstein nochmals gut belegen. So hat Arne Paysen in seiner bislang ungedruckten Kieler archäologischen Dissertation mit dem Titel „Nachhaltige Energiewirtschaft? Brenn- und Kohlholznutzung in SchleswigHolstein in Mittelalter und früher Neuzeit“ einleuchtend zeigen können, dass das in Ostholstein nahe Lübeck gelegene Kartäuserkloster Ahrensbök „eine gewinnorientierte, jedoch nachhaltig organisierte Niederwaldwirtschaft verordnete und darauf bedacht war, die Nutzungsmöglichkeiten der Wälder zu erhalten, auch wenn die Nutzung der Schläge in die Hände der Bauern gelegt war“87. Seine Aussage fußt auf der anthrakologischen Untersuchung von Meilerstellen, die auf dem ehemaligen Klosterbesitz ergraben wurden, sowie auf der akribischen Auswertung des erhaltenen Zins- bzw. Köhlereiregisters des Klosters aus der Zeit um 1500.88 Die Befunde beider Quellenarten stimmen auffällig überein und geben einen „klösterlich geregelte(n) Großbetrieb zur Holzkohleherstellung“89 zu erkennen, wobei Bauern der klösterlichen Grundherrschaft für die eigentliche Köhlerei verantwortlich waren. Die rund 100 Jahre abdeckende schriftliche Überlieferung führt vor Augen, dass es sich um ein professionalisiertes Köhlereihandwerk im landwirtschaftlichen Kontext handelte, das weit über den Eigenbedarf hinaus wahrscheinlich für Lübeck als Hauptabsatzmarkt produzierte. Denn gewisse Familiennamen begegnen im Zu86

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Bernd Herrmann: Kritisches Nachwort eines Umwelthistorikers, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 32 (2014), S. 109–120, hier 116–119. – Die Sektionsbeiträge sind insgesamt in diesem Band des Jahrbuchs für Regionalgeschichte veröffentlicht. – In diese Richtung geht z. B. auch David Petry: Zwischen Ausrottung und Nachhaltigkeit: Das Mensch-Natur-Verhältnis im Spiegel fränkischer Dorfordnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts, in: JfL 71 (2011), S. 113–129, hier 121: „Zwar wird Carlowitz‘ Werk mitunter als die Geburtsstunde der Nachhaltigkeit gesehen, doch das postulierte Grundprinzip, nicht mehr Holz zu schlagen, als nachwachsen kann, ist freilich schon älter und selbstverständlich auch in anderen Kulturkreisen zu finden […].“ Arne Paysen: Nachhaltige Energiewirtschaft? Brenn- und Kohlholznutzung in Schleswig-Holstein in Mittelalter und Früher Neuzeit. Diss., Kiel 2009, S. 222. Die Arbeit ist online abrufbar unter http://macau.uni-kiel.de/receive/dissertation_diss_00006895 [Stand: 24.4.2014]. Siehe auch Ders.: Die Waldwirtschaft des Klosters Ahrensbök als Beispiel für eine nachhaltige Ressourcennutzung, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 32 (2014), S. 73–86. Paysen: Nachhaltige Energiewirtschaft (wie Anm. 87), S. 207–222, 313–332. – Das Zinsregister samt Köhlereiregister liegt ediert vor: Wolfgang Prange (Hg.): SHRU 10. Neumünster 1989, S. 171–383, davon speziell das Köhlereiregister auf S. 368–377. Paysen: Nachhaltige Energiewirtschaft (wie Anm. 87), S. 218.

Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?

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sammenhang mit der Köhlereitätigkeit immer wieder; auch nutzten einzelne Bauern mehrere Holzschläge parallel zur gleichen Zeit. Zudem wird erwähnt, welcher Klosterangehörige welchem Bauern ein Waldstück zur befristeten Nutzung verpachtet hat, wobei im Regelfall der Flurname, die ungefähre Lage des Waldstücks einschließlich der entsprechenden Schlaggrenzen, die Nutzungszeit, der Pachtpreis und die Zahlungsbedingungen genannt sind. Mehrere genau bezeichnete Schläge kommen im Rahmen der fast hundertjährigen Dokumentation mehrfach hintereinander in dem Verzeichnis vor, und die Nutzungszeiträume sowie das Datum der Schlagvergabe sind ebenfalls verzeichnet. Daher kann für die Waldstücke eine festgeschriebene Regenerationsphase von elf bis 20 Jahren bis zur Neuvergabe zur Holzkohlegewinnung errechnet werden, was einer für Niederwald aus Erlen und Hainbuchen günstigen Umtriebszeit entspricht. Außerdem deuten datierte Genehmigungen für die Schlagführung darauf hin, dass man damit bis zum Herbst wartete, um die Vegetationsperiode voll auszunützen. Paysen kommt daher zu dem einleuchtenden Schluss, „dass durch das Kloster selbst die Rahmenbedingungen für eine maximal produktive Niederwaldwirtschaft geschaffen wurden. Die dem Kloster untertänigen Bauern besorgten die Arbeit des Kohlebrennens, oftmals in einem Umfang, der weit über das Nebengewerbe hinausgegangen sein dürfte. Das Kloster selbst sorgte durch die umsichtige Vergabe von Nutzungsrechten und Einhaltung von Umtriebszeiten dafür, dass ein nachhaltiges Nutzungskonzept aufrecht erhalten wurde.“90 VII. Wie Paysens Dissertation darüber hinaus vermittelt, können die Ergebnisse zum Kloster Ahrensbök und seiner „nachhaltigen“ Waldwirtschaft natürlich keineswegs verallgemeinert werden. Zwar wurde, wie weitere anthrakologische Untersuchungen zeigen, Eichenholz im Bereich Schleswig-Holsteins damals grundsätzlich nicht als Brenn- und Kohlholz verwendet, da sich hierfür wegen ihres geringeren Nutzholzwerts in erster Linie Hainbuche, Buche, Birke, Erle und Hasel eigneten. Darin offenbarte sich wiederum eine gezielte Holzauswahl als „erste[r] Schritt zu einer angepassten oder in Ansätzen nachhaltig gedachten Waldwirtschaft“91. Allerdings begegnen parallel dazu und mit voranschreitender Zeit in größerem Umfang Wirtschaftsweisen, die erkennbar wenig Rücksicht auf den Fortbestand des Waldes nahmen. Dies gilt insbesondere für protoindustrielle Einrichtungen wie Eisen- oder Glashütten.92 Die Nutzung von Wäldern und Forsten war im Schleswig-Holstein des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in ihren Auswirkungen mithin großen regionalen (und vor allem zeitlich bedingten) Unterschieden unterworfen. Ein ausgesprochen umsichtiger Umgang mit der Ressource Holz begegnet offenbar dort, wo der direkte ökonomische Nutzen der Wirtschaftstreibenden, wie im Fall des Klosters Ah90 91 92

Ebd., S. 219. So ebd., S. 262 f. Ebd., S. 257–268 (Zusammenfassende Rückschlüsse).

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Oliver Auge

rensbök, einen solchen bei langfristigem Wirtschaften auf derselben Fläche zwangsläufig erforderlich machte.93 Vergleichbare Befunde konnte David Petry 2011 (2012) für den Raum Franken anhand einer detaillierten Untersuchung von Dorfordnungen beibringen. Er verwendet hierfür ausdrücklich und einleuchtend den Begriff der Nachhaltigkeit sowohl im engeren forstwirtschaftlichen als auch in einem weiteren, umweltspezifischen Sinn.94 Auch Peter Blickle hat Ähnliches angesichts der damals alltäglichen Erfahrung von Ressourcenknappheit für den Bereich Südwestdeutschlands konstatiert.95 Der deutsche „Spezialfall“ des ab einem gewissen Zeitpunkt extrem waldarmen Schleswig-Holstein bestätigt das nochmals eindrücklich auf empirische Weise. Ein interdisziplinäres, an der Kieler Christian-Albrechts-Universität angesiedeltes Forschungsunternehmen, an dem die Ur- und Frühgeschichte/Mittelalterarchäologie (Ulrich Müller), Archäobotanik/Paläoökologie (Oliver Nelle) und Regionalgeschichte (Oliver Auge) beteiligt sein werden, will es sich zum Ziel machen, nach weiteren Belegen für ein derart umsichtiges Haushalten mit naturalen Ressourcen in Schleswig-Holstein während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu fahnden. Bei dieser Spurensuche geht es natürlich nicht darum, in naiver Weise eine lineare Entwicklung des Nachhaltigkeitsdenkens vom Mittelalter zur Neuzeit und Moderne zu konstruieren. Vielmehr soll das Verbundprojekt auf diesem empirischen Weg nach möglichen, oft verkannten Wurzeln und Ursprüngen des Nachhaltigkeitsdenkens fahnden, wie es sich dann im forstwissenschaftlichen Diskurs ab ca. 1800 ausformuliert wiederfindet, und dabei vor allem, soweit möglich, die mittelalterlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Bedingungen späterer Zeiten aufzuzeigen.96 Nicht zuletzt soll so ein Beitrag zu der nach wie vor mehr als berechtigten Frage geleistet werden, ob und in welchem Zuschnitt sich der Begriff und die Vorstellung von Nachhaltigkeit überhaupt zur kritischen Analyse historischer Verhältnisse eig93 94 95

96

Ebd., S. 267. Petry: Zwischen Ausrottung und Nachhaltigkeit (wie Anm. 86). Petry bezieht den schonenden Umgang mit der Tierwelt in seinen Nachhaltigkeitsbegriff mit ein. Blickle: Wem gehörte der Wald? (wie Anm. 33), S. 175 f. – Siehe dazu Reith: Umweltgeschichte (wie Anm. 16), S. 47. – In eine ähnliche Richtung weisend, allerdings stärker auf die (noch nicht zufriedenstellend beantwortete) Frage fokussiert, ob landesherrliche Forstverwaltungen besser als die ländlichen Gemeinden der Vormoderne befähigt waren, mit der Ressource Holz bzw. Wald umsichtig/nachhaltig umzugehen: Wolfgang Wüst: Nachhaltige Landespolitik? Fürstenherrschaft und Umwelt in der Vormoderne, in: ZBLG 70 (2007), S. 85–108 bzw. Peter Kissling: Policey der Nachhaltigkeit. Die Politik entdeckt die knappen Ressourcen, in: Peter Blickle/ Peter Kissling/Heinrich Richard Schmidt (Hg.): Die ‚gute‘ Policey in der frühen Neuzeit. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland. Frankfurt a. M. 2003, S. 515–547. Siehe dazu etwa schon Ernst Schubert: Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander. Darmstadt 2002, S. 60: „Der heute weit verbreitete Altersklassenwald geht zwar auf den ‚Försterwald‘ zurück, wie er seit dem Entstehen einer Forstwissenschaft um 1800 (auch den Gedanken der ‚Nachhaltigkeitkeit‘ enthaltend) zur wirtschaftlichen Optimierung der Erträge entworfen wurde, aber er hat seine spätmittelalterlichen Vorläufer […] in Gestalt der Mittelwaldwirtschaft. Diese Form des Waldbaus erzeugte bei festgelegten Umtriebszeiten Bau- und Brennholz auf derselben Fläche. (Auch die im 18. Jahrhundert entstehende Forstwissenschaft teilte die Unart so vieler neu entwickelter Fachdisziplinen, ihre weitgehend empirisch arbeitenden Vorgänger nicht zu kennen oder nicht zu nennen.)“

Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?

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nen oder nicht.97 Soll man ihn, wenn überhaupt, allein im forstwirtschaftlichen Sinne verwenden oder ist es erlaubt, ihn in einem weiteren (umwelt-) ethischen Verständnis anzuwenden? Hier wurde der Terminus, wie in vorausgehenden historischen Untersuchungen bewährt98, ganz bewusst offen verwendet, um ein möglichst breites Befundspektrum zu erlangen – auch auf die Gefahr hin, sich so dem stets im Raume stehenden Vorwurf definitorischer Beliebigkeit auszusetzen.99 Mit dieser gewissen Denkfreiheit freilich lassen sich, wie dieser Beitrag zeigte, jedenfalls deutlich Phänomene einfangen und zum Zwecke des Vergleichs subsummieren, die sich in späteren Zeiten eben unter dem Schlagwort der Nachhaltigkeit vereint finden. Doch wie dem auch sei: Den Raubbau am Rohstoff Holz und das weitgehende Verschwinden des Waldes aus Schleswig-Holstein konnten diese frühen Ansätze für Ressourcenschutz und -regeneration – unabhängig davon, ob sie bereits, mit jeweils noch genauer zu hinterfragenden Auswirkungen, belegt sind oder sich künftig noch belegen lassen100 – aber bekanntlich nicht verhindern.

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Siehe dazu Auge: „Nachhaltigkeit“ als historisches Thema (wie Anm. 15). Vgl. dazu nochmals Petry: Zwischen Ausrottung und Nachhaltigkeit (wie Anm. 86). Herrmann: Kritisches Nachwort (wie Anm. 86), S. 109–115. Weitere Hinweise bietet z. B. die Bungsberger Waldwirtschaft des Benediktinerklosters Cismar in Ostholstein bis etwa 1460. Siehe dazu künftig den betreffenden Artikel in Oliver Auge/Katja Hillebrand (Hg.): Klosterbuch für Schleswig-Holstein und Hamburg. Regensburg 2015 [im Druck]. Ebenso weiß man vom Zisterzienserkloster Reinfeld, dass es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts das Amt eines Waldmeisters zum Schutz der klösterlichen Wälder unterhielt, um so die problemlose Versorgung mit Bau- und Brennholz zu gewährleisten. Siehe dazu Harm von Seggern: Energiewirtschaft als Problem einer regionalen Hansegeschichte, in: Oliver Auge (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012. Frankfurt a. M. u. a. 2014, S. 85–102, hier 94.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON OLIVER AUGE „Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?“ Winfried Freitag, München „[F]ür Unübersichtlichkeit ist gesorgt“ – so die trockene Feststellung von Verena Winiwarter zu den zahllosen Definitionen, die es von Nachhaltigkeit gibt.1 Von anderer Seite wurde vermerkt, Nachhaltigkeit sei ein „Wieselwort“, ein Ei, dem man nicht ansehe, dass „es von einem Wiesel leer gesaugt worden ist“. Als sinnentleerte, „gefällige Hülle […] ohne Substanz“ biete es allerdings den Vorteil, „auf breite Akzeptanz zu stoßen“2. Kein Wunder, dass es unter Historikern erhebliche Zweifel daran gibt, ob das Wort als wissenschaftlicher Terminus noch zu gebrauchen ist.3 Oliver Auge trägt mit seinem Aufsatz „Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?“ wenig dazu bei, diese Zweifel zu zerstreuen, denn er stützt sich weder auf eine schlüssige Definition noch verwendet er das Wort in konsistenter Weise. An manchen Stellen lehnt sich Auge an den forstwissenschaftlichen Terminus „Nachhaltigkeit“ an, etwa dort, wo er von der Baumschule berichtet, die Heinrich Rantzau Ende des 16. Jahrhunderts gründete. Rantzau soll sich dazu Sämereien für Nadelhölzer besorgt und Tannen und Kiefern außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes angepflanzt haben (S. 46). Dass er das getan hat und seine Baumschule zusammen mit seinem Stammbaum auf einer repräsentativen Tafel abbilden ließ, spiegele, so Auge, „die Existenz von Nachhaltigkeitsdenken wider, lange bevor Hans Carl von Carlowitz 1713 den Begriff im forstwirtschaftlichen Sinn in die Welt setzte“4 (S. 47). Als nachhaltig charakterisiert Auge auch die vom Kartäuser1

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Verena Winiwarter/Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln 2007, S. 306. – Zu den unzähligen Definitionen von Nachhaltigkeit vgl. Jörg Tremmel: Nachhaltigkeit als politische und analytische Kategorie. Der deutsche Diskurs um nachhaltige Entwicklung im Spiegel der Interessen der Akteure. München 2003. Elmar Altvater: Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Diskussion. Oder das Wieselwort „Sustainability“ (unveröffentlichter Vortrag). Berlin 1998, S. 1. Zitiert nach Johannes Dingler: Postmoderne und Nachhaltigkeit. Eine diskurstheoretische Analyse der sozialen Konstruktionen von nachhaltiger Entwicklung. München 2003, S. 199. Vgl. etwa Reinhold Reith: Art. Nachhaltigkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8. Stuttgart 2008, Sp. 1009–1012, hier 1011: „Durch seine Vieldeutigkeit in den aktuellen Diskussionen eignet sich N. schwer als analytischer Begriff.“ Siehe auch Joachim Radkau: „Nachhaltigkeit“ als Wort der Macht. Reflexionen zum methodischen Wert eines umweltpolitischen Schlüsselbegriffs, in: François Duceppe-Lamarre/Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, S. 131–136. Bemerkenswert erscheint mir, dass ein Adeliger bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert sein Ansehen durch die Anlage einer Baumschule mehren konnte. Die Agraraufklärung, in der es auch in adeligen Kreisen zum guten Ton gehörte, sich für Landwirtschaft zu interessieren und Naturalien zu sammeln, fällt erst in das 18. Jahrhundert.

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kloster Ahrensbök in der Zeit um 1500 organisierte Niederwaldwirtschaft und Holzkohlenproduktion (S. 48 ff.). Das Kloster teilte dazu den Wald in Schläge ein und verpachtete diese in Abständen von elf bis 20 Jahren zur Köhlerei an Bauern. Schlageinteilung und feste Umtriebszeiten5 gehören zu den Mitteln, mit deren Hilfe im 19. Jahrhundert nachhaltige Forstwirtschaft generell eingeführt wurde. Eine zweite Variante, in der das Wort bei Auge begegnet, ist „Nachhaltigkeitsdenken in Reinform“. Auge meint, ein solches spiegele sich in seinen Quellen wider und führt dazu zwei Beispiele an: die „dem allgemeinen Wesen und der Nachwelt“ geltende „Landes-Väterliche Vorsorge“ und die „auf Erhaltung der EigenthumsHölzungen für die Nachkommenschaft gerichtete landesväterliche Absicht“ (S. 43 f.). Die erste Formulierung findet sich in einer Forstordnung von 1737 und die zweite in einem Patent aus dem Jahr 1785. Diese „reine“ Nachhaltigkeit hebt den ethischen Aspekt, die Rücksichtnahme auf künftige Generationen, hervor und ist nicht unbedingt an bestimmte waldbauliche Methoden gekoppelt.6 Der Begriff wird hier also in einem weiteren Sinne als im rein forstlichen verwendet. Auge gibt auch eine Begriffsbestimmung von Nachhaltigkeit. Doch diese ist eher verwirrend. Denn er definiert „Nachhaltigkeit, wie gemeinhin üblich geworden, als eine Strategie […], innerhalb derer die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zur eigenen Bedürfnisbefriedigung in Gefahr zu bringen“ (S. 34). Dazu ist zu sagen: Entwicklung soll oder kann nachhaltig sein, aber Nachhaltigkeit ist keine Entwicklung. Sie als solche zu definieren, ist keineswegs „gemeinhin üblich“! Zwischen beidem, Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung, ist klar zu unterscheiden. Nachhaltig ist eine Ressourcennutzung, die diese nicht aufbraucht oder zerstört, sondern in ihrer Produktivität erhält und damit die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befrieden, nicht gefährdet.7 Nachhaltige Entwicklung hingegen ist eine politische Kompromissformel und ein Postulat. Der entsprechende Satz im Brundland-Bericht, dem Umweltbericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1987, lautet: „Humanity has the ability to make development sustainable – to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“8 Es wird also behauptet, die Menschheit sei in der Lage, die Voraussetzungen für eine sowohl dauerhafte als auch im eben definierten Sinne nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Ob das möglich ist oder ob dauerhafte Entwicklung bzw. anhaltendes Wachstum nicht trotz aller umwelttechnischen Fort-

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Umtriebszeit: die geplante Wachstumsdauer eines Waldes bzw. der Zeitraum von Bestandsbegründung bis zur Endnutzung durch Holzernte. Man wird sich allerdings fragen dürfen, ob die Absicht frühmoderner Landesherren, den Wald zu schützen und für die Nachkommen zu erhalten, tatsächlich ein reines oder nicht ein mit machtpolitischen und fiskalischen Interessen durchmischtes Motiv war. Vgl. etwa Reith: Art. Nachhaltigkeit (wie Anm. 3), Sp. 1009; Gerhard Weiß: Die Rolle von Interessen in der Durchsetzung der „nachhaltigen Forstwirtschaft“, in: Ernst Bruckmüller/Verena Winiwarter: Umweltgeschichte. Zum historischen Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Wien 2000, S. 69–85, hier 70. Zitiert nach Winiwarter/Knoll: Umweltgeschichte (wie Anm. 1), S. 305.

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schritte letztlich zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit führt, ist jedoch nach wie vor Gegenstand heftiger Debatten.9 Völlig losgelöst vom Ressourcenschutz und zum Wieselwort verkommen ist eine weitere Variante, in der sich Auge des Wortes bedient. Torf, so berichtet er, habe in der Frühen Neuzeit in Schleswig-Holstein in weiten Bereichen das Holz ersetzt, und es sei „eine Subsistenzwirtschaft“ entstanden, die auf anderen Rohstoffen sowie auf Holzimporten und -einsparungen beruhte. Trotz großer Armut an eigenem Wald sei es nicht zu schwereren ökonomischen Rückschlägen gekommen. Wirtschafts- und Lebensabläufe hätten über längere Zeiträume hinweg mehr oder minder reibungslos weiter funktioniert. Diesen „Sachverhalt“ charakterisiert Auge als „nachhaltig“ (S. 33, 37–40). Er tut dies ungeachtet der Holzimporte und der Tatsache, dass Torf ein nicht erneuerbarer, ein fossiler Brennstoff ist, und ungeachtet der schweren ökologischen Folgen des Torfabbaus, die er ein paar Seiten später hervorhebt (S. 40). Angesichts eines solchen Umgangs mit dem Wort ist es nicht verwunderlich, dass am Ende seines Beitrags auch Auge daran zweifelt, „ob […] sich der Begriff und die Vorstellung von Nachhaltigkeit überhaupt zur kritischen Analyse historischer Verhältnisse eignen“ (S. 50). Abschließend zu einem Aspekt, der, wie ich meine, bei Auge zu kurz kommt, nämlich zum Kontext, in den die Waldentwicklung Schleswig-Holsteins einzuordnen ist. Angesprochen ist damit der tief greifende Wandel, der durch die Fixierung vieler Forscher auf Holz und Holznot10 vielfach noch in den Hintergrund gedrängt und nicht hinreichend beachtet wird: Die Stellung des Waldes im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur hat sich im 19. Jahrhundert in Deutschland von Grund auf verändert. Bis zur Industrialisierung und massenhaften Erschließung fossiler Energiequellen war es zwar der Wald, der mit seinem Holz und seiner Holzkohle die benötigte Wärmeenergie lieferte. Aber er hat darüber hinaus viel mehr geleistet: Sein Laub und Waldgras, seine Eicheln und sonstigen Waldfrüchte waren als Futter für das Vieh unentbehrlich. Waldstreu trug zur Düngung der Äcker und damit zur Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel bei. Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb es gängige Praxis, Waldstücke niederzubrennen, um darauf für ein paar Jahre Getreide anzubauen. Der Wald hatte also wesentlichen Anteil an der Produktion der „Treibstoffe“, die sich in tierische und menschliche Arbeitskraft und damit in die in vormoderner Zeit bei weitem wichtigste Antriebsquelle umwandeln ließen. Zudem lieferte der Wald bis zum Aufkommen der chemischen Industrie wichtige Rohstoffe. All das verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung oder hörte völlig auf. Der Wald wurde Produzent von Bau- und Nutzholz, und er wurde von der Forstwirtschaft diesem Zweck entsprechend hergerichtet. Der skizzierte Bedeutungsverlust des Waldes im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur könnte in Schleswig-Holstein früher als im restlichen Deutschland eingesetzt haben. Dafür spricht allein schon die Tatsache, dass im 18. Jahrhundert 9 10

Vgl. hierzu den Überblick bei Dingler: Postmoderne (wie Anm. 2), S. 258–296. Unlängst zu diesem Thema: Ralf Fücks, Intelligent wachsen. Die grüne Revolution. München 2013. Vgl. hierzu Bernd-Stefan Grewe: „Man sollte sehen und weinen!“ Holznotalarm und Waldzerstörung vor der Industrialisierung, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004, S. 24–41, hier 35 f.

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Winfried Freitag

nur mehr fünf Prozent der Gesamtfläche des Landes mit Wald bedeckt waren (bei einem Durchschnittswert von 30 Prozent für ganz Deutschland). Auge stellt denn auch fest, man sei in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert ohne eigenen Wald ausgekommen. Wie weit das gilt, ist er sich allerdings nicht ganz sicher. Denn einmal schränkt er ein: „nicht auf Dauer, aber immerhin über längere Zeiträume hinweg“ (S. 33), dann schwächt er seine Einschränkung mit „zumindest eine Zeitlang“ (S. 41) wieder ab. Dafür, dass Schleswig-Holstein kaum mehr auf eigene Wälder angewiesen war, liefert Auge eine ganze Reihe von Indizien: die Ablösung von Holzabgaben durch Leistungen in Torf und Geld im Amt Tondern bereits vor 1568 (S. 38), Regelungen zum Torfstechen und Torfhandel in Dorfordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts (S. 39), der Rückgang der auf Eichen- und Buchenwälder angewiesenen Schweinemast seit dem 17. Jahrhundert (S. 38 f.), der gleichzeitige Rückgang der Köhlerei, Pechlerei und Zeidlerei (S. 39), vereinzelte Importe von Steinkohle aus England schon um 1600 (ebd.), der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Import von Holz aus Norwegen und dem Ostseeraum (ebd.) sowie die Tatsache, dass im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer mehr Glashütten, Brauereien, Brennereien, Kalkwerke und Ziegeleien auf den Brennstoff Torf umgestellt haben (S. 40). Holz wurde, dafür spricht einiges, als Brennstoff weitgehend verzichtbar. Bedenkt man, dass in vormoderner Zeit ca. 90 Prozent des geernteten Holzes der Energiegewinnung dienten, dann wird deutlich, in welchem Umfang Torfabbau an die Stelle des Waldes treten konnte. Als Bau- und Werkstoff wurde Holz den schrumpfenden Wäldern anscheinend etwas länger entnommen, bis auch hier verstärkte Importe den Bedarf deckten. Was den Wald als Lieferant gewerblicher Rohstoffe wie Harz, Pottasche und Gerbstoff angeht, liegt es nahe, dass diese Produkte ebenfalls aus waldreichen Gegenden importiert wurden. Ob das zutrifft, wäre zu ermitteln. Es bleiben die Bedürfnisse der Landwirtschaft. Waldweide wird von Auge nur am Rande (S. 37), Laubheu und Waldstreu werden von ihm überhaupt nicht erwähnt. War es tatsächlich so, dass die Gutswirtschaften ohne den Transfer von Futter und Dünger aus dem Wald auskamen? Genügten die durch Rodung neu gewonnenen Wiesen (ebd.), um sowohl das Vieh zu weiden als auch hinreichend Heu für die Winterfütterung zu gewinnen? Weniger problematisch erscheint die Düngerversorgung. Denn mit der Umstellung auf Milchwirtschaft und Vermehrung des Viehs fiel auch mehr Dung an. Hier ist es durchaus denkbar, dass auf Plaggen oder Waldstreu verzichtet werden konnte. Aber wie verhielt es sich mit der Landwirtschaft jenseits der großen Adelsgüter? Wie hielten Bauern, Kleinbauern und Häusler ihre Äcker fruchtbar, und wie versorgten sie ihr Vieh? Diese Fragen wären zu klären, um zu erfahren, ob sich die Stellung des Waldes im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur im hohen Norden Deutschlands bereits im 18. Jahrhundert von Grund auf veränderte. Wenn dem so wäre, dann würde Schleswig-Holstein die deutsche Waldgeschichte um ein höchst spannendes und lehrreiches Kapitel bereichern. Unabhängig von dieser Frage lässt sich bereits festhalten: Das Land näherte sich in der Frühen Neuzeit keineswegs einer nachhaltigen Wirtschaft an, sondern wurde mehr und mehr von fossilen Ressourcen und von Importen abhängig. „Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit?“ fragt Auge in seiner

Korreferat zum Beitrag von Oliver Auge

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Überschrift. Die Antwort muss lauten: nicht „Weg zur“, sondern „weg von der Nachhaltigkeit.“

VON WALDGLASHÜTTEN, TEERÖFEN UND ANDEREN FORMEN TRADITIONELLER HOLZNUTZUNG Brandenburg-preußische Staatswirtschaft im Spannungsfeld von Nachhaltigkeitsdenken und Ressourcenbegrenzung, Landesausbau und Peuplierungspolitik vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert Matthias Asche, Tübingen 1. HISTORIOGRAFISCHE VORBEMERKUNGEN Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der borussischen Historiografie, dass die Geschichte des Forstwesens kaum einen Niederschlag in allgemeinen Werken zur Geschichte Brandenburg-Preußens gefunden hat.1 Nun mag man einwenden, dass derartige, vermeintlich randständige Themen zu keiner Zeit den Mainstream der historischen Forschung ausgemacht haben – auch nicht außerhalb der brandenburgpreußischen Historiografie. Dazu kommt die Marginalisierung der Teildisziplin Forstgeschichte innerhalb der akademischen Forstwissenschaft im Allgemeinen und der brandenburgischen Forstgeschichte im Besonderen.2 Und dennoch verwundert der Befund insofern, als gerade die stets selbstbewusst vorgetragene borussische Forschung die Reformtätigkeit der hohenzollernschen Monarchen und deren Leistungen bei Landeskultivation und Binnenkolonisation – namentlich der Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. – als besonders vorbildlich betont hat.3 Je1 2

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Dabei stammt die erste Gesamtdarstellung zur preußischen Forstgeschichte bereits aus den 1830er Jahren. Wilhelm Pfeil: Die Forstgeschichte Preußens bis zum Jahre 1806. Leipzig 1839 [ND Remagen 2009]. Die brandenburgische Forstgeschichtsforschung ist seit jeher aufs Engste mit der 1830 als Höhere Forstlehranstalt gegründeten Institution in Eberswalde verbunden. Schon lange gibt es dort aber keinen Lehrstuhl für Forstgeschichte mehr. Auch in früherer Zeit wurde dort das Fach Forstgeschichte oft von Forstpraktikern unterrichtet. Vgl. den Überblick von Albrecht Milnik: Geschichte der forstlichen Lehre und Forschung in Eberswalde. Eberswalde 1993. Diese eher ungünstigen Rahmenbedingungen hatten gerade in den letzten Jahrzehnten erhebliche Auswirkungen auf die forstgeschichtliche Forschung. Vgl. etwa die Beiträge in den Tagungsbänden Albrecht Milnik (Hg.): Forstgeschichtliches Kolloquium 10. November 2001. Eberswalde 2002; Ders. (Hg.): Zwanzig Jahre forstgeschichtliche Arbeit in Eberswalde. Eberswalde 2008. Hinzuweisen ist hier ausschließlich auf ältere Gesamtüberblicke, die – mit wenigen Ausnahmen – bis heute den Forschungsstand bestimmen. Max Beheim-Schwarzbach: Hohenzollerische Colonisationen. Ein Beitrag zu der Geschichte des preußischen Staates und der Colonisation des östlichen Deutschlands. Leipzig 1874; Rudolf Stadelmann: Preußens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landeskultur, 4 Bde. Leipzig 1878/87 [ND Osnabrück 1965]; Gustav Schmoller: Die ländliche Kolonisation des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Verein für Socialpolitik (Hg.): Zur inneren Kolonisation in Deutschland. Erfahrungen und Vorschläge. Leipzig 1886, S. 1–43 [wiederabgedruckt in: Ders.: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwal-

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Matthias Asche

doch gibt es bis heute kaum einschlägige Arbeiten über die spezifisch preußische Sicht auf die allgemeinen kameralistischen und forstlichen Diskurse um Nachhaltigkeit und Ressourcenknappheit sowie zu den zeitgenössischen Diskursen um ‚Holznot’ und Energiekrise,4 die freilich auch in Preußen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen Niederschlag gefunden hatten.5 Dabei wurden an den beiden brandenburg-preußischen Landesuniversitäten in Halle an der Saale und Frankfurt an der Oder im Jahre 1727 erstmals überhaupt Lehrstühle für Ökonomie, Kameralistik und Policey-Wissenschaft eingerichtet, und in Berlin wurde bereits in den 1770er Jahren, mithin schon zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt, zunächst eine private Forstschule, seit 1814 sogar eine an die Universität Berlin angebundene akademische Forstwissenschaft fest institutionalisiert – Vorläufer der schließlich 1830 als Höhere Forstlehranstalt nach Eberswalde verlegten, seit 2010 den offiziellen Namen tragenden Hochschule für nachhaltige Entwicklung Ebers-

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tungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1898, S. 562–627, sowie in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.): Moderne Preußische Geschichte 1648–1947. Eine Anthologie. Berlin/New York 1981, S. 911–950]. Die Kontroverse um eine vermeintliche ‚Holznot’ ist eine klassische Debatte der Umweltgeschichte. Die erbitterten Positionskämpfe, insbesondere in den 1990er Jahren, können hier nicht referiert werden, finden sich aber pointiert dargestellt bei Winfried Schenk: Holznöte im 18. Jahrhundert? Ein Forschungsbericht zur „Holznotdebatte“ der 1990er Jahre, in: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 157 (2006), S. 377–383. In jüngeren Studien wird versucht, das Problem dieses Ressourcenmangels regional differenziert zu beschreiben, sowohl als diskursives als auch als reales Problem begriffen, mithin zwischen einer prognostizierten, einer faktischen und einer inszenierten Holznot unterschieden; vgl. exemplarisch Bernd-Stefan Grewe: Das Ende der Nachhaltigkeit? Wald und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 61–79; Ders.: „Man sollte sehen und weinen!“ Holznotalarm und Waldzerstörung vor der Industrialisierung, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004, S. 24–41; zudem in gesamteuropäischer Perspektive Paul Warde: Fear of Wood Shortage and the Reality of the Woodland in Europe ca. 1450–1850, in: History Workshop Journal 62 (2006), S. 29–57. Explizit sei verwiesen auf Rolf-Jürgen Gleitsmann: Holzwirtschaft, in: Jürgen Ziechmann (Hg.): Panorama der Fridericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche. Ein Handbuch, Bd. 1. Bremen 1985, S. 489–492; Margrit Grabas: Krisenbewältigung oder Modernisierungsblockade? Die Rolle des Staates bei der Überwindung des „Holzenergiewandels“ zu Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland, in: Erk Volkmar Heyen (Hg.): Öffentliche Verwaltung und Wirtschaftskrise/Administration publique et crise économique. Baden-Baden 1995, S. 43–75; Hartmut Harnisch: Wachstumsprobleme einer absolutistischen Großstadtresidenz. Nahrungsmittelversorgung und Energieprobleme Berlins im 18. Jahrhundert, in: Berliner Geschichte. Dokumente, Beiträge, Informationen 11 (1990), S. 71–78; Ders.: Die Energiekrise des 18. Jahrhunderts als Problem der preußischen Staatswirtschaft. Dargestellt am Beispiel von Berlin und seinem weiteren Umland, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Bd. 1. Stuttgart 1997, S. 489–510; Joachim Volz: Sterbender oder kultureller Wald? Waldnutzung in der Uckermark vor 200 Jahren und heute. Templin 1998.

Von Waldglashütten, Teeröfen und anderen Formen traditioneller Holznutzung

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walde (FH).6 Insgesamt ist die „Entdeckung“ der Nachhaltigkeit in BrandenburgPreußen mit der Person König Friedrichs II. verbunden.7 Möglicherweise hängt der fragmentarische Forschungsstand – wie ja so viele andere Besonderheiten und „blinde Flecken“ in der borussischen Historiografie auch – mit einschlägigen Äußerungen Friedrichs des Großen zusammen, insbesondere seiner Verächtlichmachung des Jagdwesens, das zu seiner Zeit noch eng mit dem Forstwesen verbunden war.8 So schrieb der Monarch in seiner unnachahmlichen Art in einem deftigen Vergleich zwischen Metzgern und Jägern: „Der Fleischer tödtet die Thiere nicht nur zum Vergnügen, sondern nur weil die Gesellschaft ihrer bedarf, der Jäger aber tödtet sie nur zum Vergnügen, und das ist abscheulich. Man muß deßhalb den Jäger noch unter den Fleischer in der bürgerlichen Gesellschaft stellen.“9 Auch die – aus heutiger Sicht freilich völlig unberechtigte – Fundamentalkritik und apodiktischen Aussagen der sich erst am Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich professionalisierenden akademischen Forstwissenschaft am beziehungsweise zum Umgang ihrer Vorgänger mit der Ressource Wald haben zweifellos dazu beigetragen, dass die Vormoderne als eine für die Geschichte des Forstwesens verheerende und verlorene Epoche gedeutet wurde. Dieses eindimensionale Bild einer ausbeuterischen und zerstörerischen Waldnutzung vor 1800 sowie einer daraus erwachsenen ‚Holznot‘ ist gewissermaßen Forschungskonsens seit der Entstehung der Forstgeschichte als Wissenschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts, und wurde praktisch bis in jüngste forstgeschichtliche Studien fortgeschrieben.10 6

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Zur Geschichte dieser Institution vgl. die Jubiläumsschrift Fachhochschule Eberswalde/Verein der Freunde und Förderer der Forstwissenschaftlichen Lehre und Forschung Eberswalde e. V. (Hg.): 175jährige Wiederkehr der Begründung der forstakademischen Ausbildung an der Universität Berlin durch Prof. Dr. phil. h.c. Friedrich Wilhelm Leopold Pfeil, Geheimer Oberforstrat. Eberswalde 1996; Frank Mangelsdorf (Hg.): Hochschule Eberswalde. Einst und Jetzt. Berlin 2012; Jürgen Walther: Die Forstakademie Eberswalde, in: o. A.: Eulen in der Mark. Viadrina, Graues Kloster, Forstakademie Eberswalde, Joachimsthaler Gymnasium. Berlin 2006, S. 8–13; Hans-Alfred Rosenstock: Zur Geschichte der Preußischen Staatsforstverwaltung. Diss. Göttingen 1975, S. 222 ff. Aus neuerer Zeit vgl. ebd., S. 82 ff.; Albrecht Milnik: Der Einfluß König Friedrichs II. auf die Entwicklung der Forstwirtschaft in Preußen, in: Beiträge zur Forstgeschichte 1 (2001), S. 14– 37 [der ergänzte ND dieser Studie von 2012 lag d. Verf. nicht vor]; Mario Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ Forstliche Theorie und Praxis in Brandenburg-Preußen unter Friedrich II. Archivalische Stichproben, in: Frank Göse (Hg.): Friedrich der Große und die Mark Brandenburg. Herrschaftspraxis in der Provinz. Berlin 2012, S. 266–306; Norbert Weber: Friedrich II. und der Wald. Die grüne Passion des Herrschers von Sanssouci, in: Archiv für Forstwesen und Landschaftsökologie 46 (2012), S. 133–139; ganz knapp Stephan Loboda: Friedrich II. und der Wald, in: AFZ, der Wald. Allgemeine Forstzeitschrift für Waldwirtschaft und Umweltvorsorge 9 (2012), S. 44 f. In diesem Sinne vgl. Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), S. 266 ff. Eduard Vehse: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Bd. 4/IV: Geschichte des preußischen Hofs und des Adels und der preußischen Diplomatie. Hamburg 1851, S. 84. Exemplarisch vgl. hier die Passagen in den gängigen forstgeschichtlichen Handbüchern, etwa von Kurt Mantel: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Hannover 1990, passim; vgl. auch Helmut Brandl: Entwicklungen und Tendenzen in der Forstgeschichte seit

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Tatsächlich verbindet sich jedoch gerade mit Friedrich II. die Einrichtung des Forst-Ministeriums als VIII. Departement des General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domainen-Directoriums (Generaldirektorium) im Jahre 1770, womit die ein halbes Jahrhundert zuvor begonnenen, energischen und durchgreifenden Verwaltungsreformen seines Vaters gewissermaßen zu einem Ende geführt wurden.11 Inwiefern an der Person dieses Monarchen ein Paradigmenwechsel in der Forstpolitik – verbunden mit Diskursen um Nachhaltigkeit und Ressourcenknappheit in Brandenburg-Preußen – festgemacht werden kann, steht im Zentrum der folgenden Ausführungen zu Problemen von Holznutzung, Waldgewerbe und Forstwirtschaft in Brandenburg-Preußen. 2. ANFÄNGE VON WALDNUTZUNG UND WALDGEWERBE IM 17. JAHRHUNDERT Wegen der mangelnden Bodenschätze12 hatte der Wald als wirtschaftlich nutzbare Ressource in den hohenzollernschen Territorien bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg stets eine zentrale Rolle gespielt. Die dichten Wälder in der Uckermark, der Neumark und in Teilen der Mittelmark13 bildeten die wichtigsten Energielieferanten für die verschiedenen Waldgewerbe, die bereits von Kurfürst Joachim Friedrich, der wegen seiner zahlreichen wirtschaftspolitischen Initiativen und Maßnahmen in der Forschung manchmal auch der „industrielle Kurfürst“ genannt wird, vor dem Dreißigjährigen Krieg gezielt gefördert wurden.14 Dabei gehörte vor allem das

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Ende des 18. Jahrhunderts. Freiburg 1992, S. 19; Ders.: Forstgeschichtliche Forschung. Eine Quantité negligeable?, in: Forst und Holz 48 (1993), S. 415–419; Ders.: Zur forstgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: News of Forest History 27 (1998), S. 9–29. Zur Entstehung des Forst-Departements vgl. etwa Peter Mainka: Vom Regional- zum Ressortprinzip unter Friedrich II. von Preußen. Die Einrichtung von Fachdepartements beim Generaldirektorium (1740–1786), in: Eberhard Laux/Karl Teppe (Hg.): Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700. Stuttgart 1998, S. 35–64, hier 52 ff.; vgl. auch Rosenstock: Zur Geschichte der Preußischen Staatsforstverwaltung (wie Anm. 6), S. 82 ff. Bei der grundlegenden Umgestaltung des Generaldirektoriums nach der Regierungsübernahme König Friedrich Wilhelms II. wurde das Forst-Departement zunächst für wenige Monate gänzlich aufgelöst, dann aber im Dezember 1786 neuerlich konstituiert und mit dem Oberbau-Departement kombiniert. An erster Stelle unter den seit dem 16. Jahrhundert systematisch erschlossenen und genutzten Rohstoffen ist das Raseneisenerz zu nennen. Einen exzellenten Überblick über die Bodenschätze und deren Verarbeitung in der Mark Brandenburg vermittelt noch immer Hermann Cramer: Beiträge zur Geschichte des Bergbaus in der Provinz Brandenburg, 10 Bde. Halle 1872/89 [ND Potsdam 2011]. Überblicke über die historischen Waldstandorte in Brandenburg vermitteln Frank Felix Glaser/ Ulf Hauke: Historisch alte Waldstandorte und Hudewälder in Deutschland. Ergebnisse bundesweiter Auswertungen. Münster 2004, S. 59 ff.; vgl. auch die instruktive Aufsatzsammlung von Heinz-Dieter Krausch: Beiträge zur Wald-, Forst- und Landschaftsgeschichte Brandenburgs. Remagen 2008. Dieser nennt auch die zahlreichen, teilweise sehr alten Darstellungen zur Geschichte einzelner brandenburgischer Forstbezirke, Jagd- und Waldreviere. Zu Waldnutzung und Waldgewerbe in Brandenburg-Preußen vgl. das Überblickswerk von Friedrich Mager: Der Wald in Altpreußen als Wirtschaftsraum, 2 Bde. Köln/Graz 1960; mit

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Glashüttenwesen zu den ersten staatlicherseits systematisch geförderten Produktionszweigen in den ländlichen Gebieten der Mark Brandenburg.15 Der Waldreichtum erwies sich als bestimmend für die gewerblichen Standorte der seit dem Beginn des 17. bis etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreich gegründeten, aber meist nur temporär bestehenden Siedlungen um die Waldglashütten, die zunächst gewissermaßen mit wirtschaftlicher „Entwicklungshilfe“ von Glasmachersippen aus Hessen und Thüringen eingerichtet wurden. Die ersten angeworbenen Glasmacher kamen jedoch aus Böhmen. Bereits im Jahre 1601 warb Kurfürst Joachim Friedrich Glasarbeiter und Aschenbrenner aus Böhmen an, um den uckermärkischen Hüttenbetrieb Grimnitz anzulegen.16 Im Zusammenhang mit der Errichtung der Glashütte kam es im Jahre 1603 übrigens auch zu der Gründung der nach dem Kurfürsten benannten Stadt Joachimsthal, wo zahlreiche Grimnitzer Glasarbeiter angesiedelt wurden. Ganz überwiegend wurde weißes oder grünes Gebrauchsglas produziert, wohingegen kostbares Rubinglas und Spiegelglas nur in wenigen Hüttenbetrieben mit spezialisierten Fachkräften hergestellt wurde.17 Inwieweit das Glashüttenwesen die Waldkulturen beeinflusste, zeigt beispielsweise die auf halbem Wege zwischen der Mecklenburgischen Seenplatte und Berlin, auf der wüsten Feldmark Dagow gelegene Glashütte Neuglobsow. Dorthin, also zehn Kilometer tiefer in den Wald, musste die im Jahre 1752 konzessionierte Glashütte Altglobsow nach nur 27 Jahren verlegt werden.18 Dort wurden jährlich 600 bis 700 Klafter Kiefern- und Buchenholz verfeuert, was etwa 2.000 bis 2.500 Kubikmetern Holz pro Jahr entspricht (1 Klafter in Preußen = 3,44 Kubikmeter).19 Demgegenüber ging die

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detaillierten Einblicken in die verschiedenen Gewerbezweige, dazu die – nicht nur auf Brandenburg-Preußen beschränkte – Übersicht von Erhard Schuster: Wald und Holz. Daten aus der Geschichte der Nutzung und Bewirtschaftung des Waldes, der Verwendung des Holzes und wichtiger Randgebiete, Bd. 1. 2. Aufl., Remagen 2006; Volz: Sterbender oder kultureller Wald? (wie Anm. 5). Die vorliegenden Studien reichen inhaltlich und methodisch allerdings nicht an moderne Vergleichsstudien zu anderen deutschen Regionen heran. Das maßgebliche Nachschlagewerk zum Glashüttenwesen in der Mark Brandenburg stammt von Gerrit Friese/Karin Friese: Glashütten in Brandenburg. Die Geschichte der Glashütten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert mit einem Katalog ihrer Marken und 16 Farbtafeln. EberswaldeFinow 1992. Zur Glashütte Grimnitz vgl. ebd., S. 14 ff. Nach der Ausholzung der Grimnitzer Forsten wurde die Glashütte 1607 nach Marienwalde in der Neumark verlegt, wo sie ohne Unterbrechung noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Glas produzierte. Vgl. zur Glashütte in Marienwalde ebd., S. 62 f. Hierzu vgl. zuletzt Dedo von Kerssenbrock-Krosigk: Rubinglas des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts. Mainz 2001, S. 38 ff.; Werner Loibl: Friedrich II. von Hessen-Homburg und die Glasproduktion. Bad Homburg 2000, S. 90 ff., 130 ff.; Angelika Pein: Zeittafel zur Geschichte der Glas- und Spiegelproduktion in Neustadt (Dosse). Neustadt an der Dosse 2001; dazu Friese/Friese: Glashütten in Brandenburg (wie Anm. 15), S. 38. Martin Schultze: Die Gründung des Dorfes Altglobsow und die Verlegung der dortigen Glashütte, in: Märkische Heimat 10 (1937), S. 77 ff. Zu den Glashütten in Altglobsow und Neuglobsow vgl. Friese/Friese: Glashütten in Brandenburg (wie Anm. 15), S. 46 f.; zuletzt Karin Prager-Klug: Glück und Glas, wie leicht bricht das … Ein Spaziergang durch Neuglobsow. Wittstock 1999. Nach Heinz-Dieter Krausch: Zur Waldgeschichte des Stechlinsee-Gebietes, in: Ders. (Hg.): Beiträge zur Wald-, Forst- und Landschaftsgeschichte (wie Anm. 13), S. 240–254, hier 252.

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Entstehung der nach der Pächterfamilie benannten uckermärkischen Kolonie Senftenhütte der 1705 errichteten Siedlung bei der Glashütte im Norden der Chorinschen Heide auf einen schweren Sturmschaden zurück. Zur Beseitigung des reichen Windwurfholzes und des verfaulten Lagerholzes, das sich nicht verkaufen ließ, eignete sich ein Glashüttenbetrieb.20 Allerdings wurde bereits 1747 das Eichen- und Buchenholz in der Umgebung Senftenhüttes so knapp, dass auch dieser Hüttenbetrieb tiefer in den Wald verlegt werden musste. 1772 wurde schließlich die Glashütte ganz geschlossen, und die Glasarbeiterfamilien wurden in den neu gegründeten Ort Neuehütte umgesiedelt.21 3. INTENSIVIERUNG DER WALDNUTZUNG NACH DEM ENDE DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES Mit der beständig zunehmenden Intensivierung der Holznutzung seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges22 bis zum beginnenden 19. Jahrhundert war auch ein stärkerer staatlicher Zugriff auf den Wald und die Ressource Holz verbunden – zumindest auf die direkt der kurfürstlichen Verwaltung unterstellten Domänenforsten,23 weniger auf die Kommunalforsten oder die Privatwälder des Adels.24 Abgesehen von dem ohnehin durch die waldreichen Ostseeanrainer – das Russische und das Polnisch-Litauische Reich sowie die skandinavischen und baltischen Lande – we-

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Vergleichszahlen finden sich auch bei Albert Koerth: Holzbedarf und Absatz einer neumärkischen Glashütte um 1750, in: Die Neumark. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Neumark 17 (1940), S. 57 ff. Friese/Friese: Glashütten in Brandenburg (wie Anm. 15), S. 20 ff.; dazu Wolfgang Frenz: Senftenhütte. Eine glasklare Geschichte 1705–2008. Senftenhütte 2008, S. 8 ff. Robert Schmidt: Wie die Kolonie Neuehütte bei Eberswalde gegründet wurde, in: Aus der Heimat. Halbmonatliche Beilage zur Pflege heimatlicher Interessen. Amtliches Organ der Vereinigung Brandenburgischer Museen 1916, S. 1532 f. Zu den Veränderungen der Waldnutzung seit dem Dreißigjährigen Krieg vgl. den einschlägigen Sammelband Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Wald, Krieg und Frieden. Westfälische Wälder im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens. Düsseldorf 1998, darin vor allem die Beiträge von Bernward Selter: Wendezeiten für den Wald? Die Auswirkungen von Kriegsereignissen und Friedensschluß auf Zustand und Nutzung der südwestfälischen Wälder, S. 30–49; Richard Pott/Martin Speier: Der Krieg als landschaftsverändernder Faktor. Die Auswirkungen des 30-jährigen Krieges auf die Wälder im südwestfälischen Bergland. Düsseldorf 1998, S. 50–59. Bezeichnenderweise wurden etwa die Teerschweler nach dem Dreißigjährigen Krieg der unmittelbaren Finanzverwaltung der Domänen unterstellt. Vgl. Pfeil: Die Forstgeschichte Preußens (wie Anm. 1), S. 70 f. Teeröfen mitsamt Inventar wurden fortan nur noch kontrolliert verpachtet. Vgl. Ralf Dietrich: Die Teerschwelerei in Brandenburg am Beispiel Dietrichsofen, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 56 (2005), S. 156–194, hier 175 f. In weiterer Perspektive vgl. Bernd-Stefan Grewe: Der Waldwächterstaat. Preußische Forstpolitik in der Rheinprovinz 1814–1847, in: Landeskundliche Vierteljahrsblätter 41 (1995), S. 105–120. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Takashi Iida: The Practice of Timber-Granting from Lords to Peasants. A forest-historical Perspective of the Gutsherrschaft in Brandenburg-Prussia from 1650 to 1850, in: Agricultural History 87 (2013), S. 502–524.

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gen des durch die Kriegsdichte in Nordosteuropa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts immer extensiver betriebenen Holz- und Teerhandels,25 wurde auch in den hohenzollernschen Ländern selbst immer mehr Holz benötigt. Zu verweisen ist hier – neben dem Aufbau einer Marine für das kurzlebige kurbrandenburgische Kolonialexperiment in der Karibik und an der Guineaküste ausgehend von der zentralen Schiffbaustadt Havelberg26 – auf den ebenfalls mit dem Großen Kurfürsten und dem ersten preußischen König Friedrich I. verbundenen, systematischen Landesausbau, mithin auf die Anfänge einer gelenkten Einwanderungspolitik,27 den Ausbau einer Residenzenlandschaft samt Stadterweiterungen um Berlin und Potsdam28 sowie infrastrukturelle Maßnahmen verschiedener Art, wie den Kanal- und Schleusenbau.29 Insbesondere in der seit Ende des 17. Jahrhunderts durch die neu gegründeten Vorstädte beständig wachsenden Doppelstadt Berlin-Cölln wurden enorme Mengen an Bau- und Brennholz für die (Neu-)Bürger benötigt, zumal bereits um 1700 der Holzbestand aus der Berliner Stadtheide nicht mehr ausreichte.30 Die Nachfrage und damit auch der Holzpreis in den Residenzstädten Berlin und Potsdam war bereits zwischen 1735 und 1785 für einen Haufen Kienenkloben (= ca. 4½ Klafter) um ca. 300 Prozent angestiegen.31 Aber auch der Betrieb der 1763 gegründeten Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) verschlang jährlich 2.250 Klafter Kiefernholz, das zunächst aus dem Köpenicker Forst, nach dessen Erschöpfung 1774 aus Rüdersdorf entnommen wurde, wohingegen erste Experimente mit 25

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Zum Aufstieg des Teerhandels im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges vgl. Sven-Erik Åström: From Tar to Timber. Studies in Northeast European Forest Exploitation and Foreign Trade 1660–1860. Helsinki 1988; zudem Dietrich: Die Teerschwelerei in Brandenburg (wie Anm. 23), S. 174 ff.; für die Zeit vor 1650 vgl. Rolf Gelius: Teer und Pech im Seehandel der Ostseeländer im letzten Jahrhundert der Hanse (1550–1650), in: Hansische Geschichtsblätter 120 (2002), S. 181–203. Hierzu vgl. zuletzt Hans Georg Steltzer: „Mit herrlichen Häfen versehen.“ Brandenburgischpreußische Seefahrt vor dreihundert Jahren. Frankfurt a. M. u. a. 1981. Trotz einiger Siedlungsexperimente seiner Vorgänger leitete erst Kurfürst Friedrich Wilhelm eine systematische Siedlungspolitik in Brandenburg-Preußen unter dem Eindruck der großen Verwüstungen und Entvölkerungen des Dreißigjährigen Krieges ein. Vgl. – neben den Literaturhinweisen in Anm. 3 – Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts. Münster 2006. Wolfgang Ribbe: Berlin als brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Preußens und des Reiches, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1. Berlin/New York 2009, S. 933–1122, mit weiterführender Literatur. Zum Kanal- und Schleusenbau in Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert vgl. zuletzt den Überblick von Hans-Joachim Uhlemann: Berlin und die Märkischen Wasserstraßen. Hamburg 1994. Volz: Sterbender oder kultureller Wald? (wie Anm. 5), S. 16. Gleitsmann: Holzwirtschaft (wie Anm. 5), S. 489. Zur Holzversorgung Berlins vgl. Paul Rehfeld: Die Versorgung der Stadt Berlin mit Brennmaterialien im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Verwaltungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Diss. Berlin 1942; Harnisch: Wachstumsprobleme einer absolutistischen Großstadtresidenz (wie Anm. 5); Ders.: Die Energiekrise des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 5); zu Potsdam vgl. die Hinweise bei Heinz-Dieter Krausch: Aus der Geschichte der Wälder um Potsdam, in: Ders.: Beiträge zur Wald-, Forst- und Landschaftsgeschichte (wie Anm. 13), S. 353–362.

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schlesischer Steinkohle scheiterten.32 König Friedrich II. ließ deshalb schon drei Jahre später die von Kaufleuten betriebene Octroyierte Brennholz-HandlungsCompagnie als königlich privilegierte, von privaten Kaufleuten getragene Holzhandelsgesellschaft ins Leben rufen.33 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde von der Compagnie ausschließlich Holz aus den residenznahen Wäldern entnommen, wodurch – wie auch andernorts beim Stadt- und Residenzenausbau34 – vor allem die Waldkulturen vor den Toren Berlins und Potsdams um die Mitte des 18. Jahrhunderts in besonderer Weise gelichtet und geschädigt wurden. Am Umgang mit dem Wald und am Beispiel der Forstpraxis zeigt sich die auch in anderen Aspekten deutlich an Intensität gewonnene „raumstrukturierende Sogwirkung der Residenz auf die weitere Umgebung der Mark Brandenburg“35. Mit dem minderwertigen Holz der domanialen Forsten, welches sich nicht zum Bauen und Verkaufen eignete, wurden zudem die seit dem späten 17. Jahrhundert beständig vermehrten Teerschwelereien, Kalköfen, Ziegeleien, Köhlereien und Pottaschebrennereien befeuert,36 für deren Produkte (Teer, Pech, Holzkohle, Waid32 33

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Arnulf Siebeneicker: Offizianten und Ouvriers. Sozialgeschichte der Königlichen PorzellanManufaktur und der Königlichen Gesundheitsgeschirr-Manufaktur in Berlin 1763–1880. Berlin/New York 2001, S. 106 f. Zur Entstehung dieser Handelskompanie vgl. Harnisch: Die Energiekrise des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 5), S. 497 ff. Da die Privilegien bereits nach fünf Jahren ausgelaufen waren und nicht mehr verlängert wurden, wurde dem Forst-Departement 1771 auch die Haupt-NutzholzAdministration angegliedert, um „beim Verkauf wenigern Holzes die Etats- und ÜberschußQuanta dennoch zuverlässig zu erfüllen und zugleich die Forsten zu soulagiren, weil sonst viele Districte in wenig Jahren die erforderliche Holzsorten nicht mehr liefern können“. Vgl. Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert 15 (1936), Nr. 149, S. 394–398, hier 394. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Hermann Schorr: Die Hauptnutzholzadministration im friderizianischen Preußen. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Diss. Halle 1956. Neuere Vergleichsstudien zur Holzversorgung in wachsenden Residenzstädten bieten die Beiträge im Sammelband von Wolfram Siemann u. a. (Hg.): Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850). München 2002. Zum Gesamtzusammenhang vgl. die wichtige Studie von Joachim Radkau: Das Rätsel der städtischen Brennholzversorgung im „hölzernen Zeitalter“, in: Dieter Schott (Hg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre/ Energy and the City in Europe. From Pre-Industrial Wood-Shortage to the Oil Crisis of the 1970 s. Beiträge auf der 3. Internationalen Stadtgeschichts-Konferenz in Budapest 1996. Stuttgart 1997, S. 43–75. Wolfgang Neugebauer: Zentralprovinz im Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2001, S. 139. Zu den Teeröfen in der Mark Brandenburg vgl. neuerdings die Studien von Ralf Dietrich: Die Teerschwelerei in Brandenburg (wie Anm. 23); Ders.: Dietrichsofen und die Teerschwelerei in der Menzer Forst, in: Jahrbuch Ostprignitz-Ruppin 15 (2006), S. 106–128; Ders.: Die Waldwirtschaft König Friedrichs II. und die Teerschweler im Menzer Revier, in: Ebd. 17 (2008), S. 133–148. Die bedeutendsten Kalkvorkommen in der Mark Brandenburg lagen bei Rüdersdorf. Vgl. zuletzt den Jubiläumsband Rüdersdorfer Zement GmbH (Hg.): 750 Jahre Kalksteinbergbau in Rüdersdorf. Kalksteingewinnung und -verarbeitung prägen eine Region. Darstellung der Bergbaugeschichte sowie deren Grundlagen, Verflechtungen und Auswirkungen am Standort Rüdersdorf. Geologie, Bergbau, Infrastruktur, Ortsentwicklung, Rohstoffnutzung, Bergbaufol-

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und Pottasche) es – auch außerhalb Brandenburg-Preußens – einen wachsenden Bedarf gab.37 Teerschwelereien und Köhlereien befanden sich meistens in unwegsamen Gebieten – oft tief im Wald, wo mangels Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender Straßen und Flüsse noch keine flächendeckende Abholzung stattfinden konnte, gelegentlich auch in Verbindung mit bestehenden Glashütten. Bezeichnenderweise wurden etwa gleichzeitig mit der Entstehung des Glashüttenbetriebs in Senftenhütte im Jahre 1705 auch ein Teerofen und eine Köhlerei errichtet.38 Anfängliche Transportprobleme wurden wie auch andernorts39 erst durch den Bau von Treidelkanälen zum Holzflößen behoben, die König Friedrich II. oft in Fortführung von älteren Projekten seiner Vorgänger wieder aufgegriffen hatte – neben zahlreichen kleineren Schwemm- und Verbindungskanälen für den Holztransport auch mehrere größere Kanalprojekte.40 Zwischen Elbe und Oder konnten von der forstwissenschaftlichen Forschung über 300 Teeröfen nachgewiesen werden, wobei die höchste Konzentration mit 61 Öfen im großen Waldgebiet der Ruppiner, Strelitzer und Zechlin-Fürstenberger Heide lag.41 Allein im Menzer Forstrevier mit seinem großen Bestand an harz- und kienreichem Kiefernaltholz befanden sich im 18. Jahrhundert sechs Teeröfen.42 Im Revier des Zechliner Heidereiters gab es im Jahre 1664 erst zwei Teeröfen, während sich bis 1717 diese Zahl bereits verdoppelt hatte.43 Waren die Teerbrenner anfangs oft noch hauptberuflich als Bauern tätig, konnten sie nun wegen der gesteigerten Nachfrage ihr Gewerbe zum Hauptberuf

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gelandschaft. Rüdersdorf 2004. Zur Ziegelproduktion in der Mark Brandenburg vgl. zuletzt Uwe Pfullmann: Die Geschichte der Ziegeleien in der Mittelmark, in: Jahresbericht des Historischen Vereins Brandenburg (Havel) 5/6 (1995/97), S. 91–100. Zusammenfassend vgl. Jake V. T. Knoppers/Robert V. V. Nicholls: Der Ostseeraum und der Welthandel mit Pottasche. Die Bedeutung der Pottasche im Rahmen chemischer Technologie 1650–1825, in: Klaus Friedland/Franz Irsigler (Hg.): Seehandel und Wirtschaftswege Nordeuropas im 17. und 18. Jahrhundert. Ostfildern 1981, S. 59–83. Hans Joachim Gaffron: Chorin. Eine Waldgeschichte, 2 Bde. Chorin 2009, S. 47; Dietrich: Die Waldwirtschaft (wie Anm. 36), S. 143. Zusammenfassend vgl. zuletzt Marcus Popplow: Europa auf Achse. Innovationen des Landtransports im Vorfeld der Industrialisierung, in: Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hg.): Transportgeschichte im internationalen Vergleich Europa-China-Naher Osten. Der Europäische Sonderweg. Stuttgart 2004, S. 87–154, hier 131 ff. Hierzu vgl. – neben dem Literaturhinweis in Anm. 29 – zuletzt Hans-Joachim Uhlemann: Zum 300. Geburtstag Friedrichs des Großen. Friedrich der Wasserbauer, in: Navalis. Zeitschrift für Binnenschiffahrt, des Binnenschiffbaues und der Wasserstraßen 9 (2012), S. 30–42; Ders.: Friedrich der Wasserbauer. Zum 300. Geburtstag Friedrichs des Großen, in: Christoph Olig/ Deutsche Wasserhistorische Gesellschaft (Hg.): Zehn Jahre wasserhistorische Forschungen und Berichte, Teilbd. 2. Norderstedt 2012, S. 1–44. Eine Übersicht findet sich bei Alexis Scamoni: Teeröfen als Nachweis eines ursprünglichen Vorkommens der Kiefer, in: Archiv für Forstwesen 4 (1955), S. 170–183. Heinz-Dieter Krausch: Die Menzer Heide. Beiträge zur Geschichte eines märkischen Waldes, in: Ders.: Beiträge zur Wald-, Forst- und Landschaftsgeschichte (wie Anm. 13), S. 95–119 Lieselott Enders: Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Weimar 1992, S. 684, 963. Auch in adligen Herrschaften wurden in großer Zahl Teeröfen angelegt, beispielsweise in der von Trottschen Herrschaft Badingen-Himmelpfort in der Uckermark, wo sich 1711 schon fünf Teeröfen befanden, während diese Zahl bereits 1729 auf sieben Teerschwelereien angewachsen war. Vgl. ebd., S. 451 f.

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machen. Die maßgebliche Voraussetzung für die Teer- und Pechherstellung war die Existenz von alten – und damit stark harzhaltigen – Kiefernstubben. Dieses traditionelle Waldgewerbe verlangte deutlich weniger Waldressourcen als das Glashüttenwesen, gehörte aber ebenfalls zu den holzintensiven Gewerbezweigen: Bei üblicherweise acht bis zehn Bränden pro Jahr verbrauchte ein üblicher Teerofen zwischen 60 und 100 Klafter Holz (ca. 200 bis 350 Kubikmeter Holz), wobei aus einem Klafter Holz rund eine Tonne Teer gewonnen werden konnte.44 Ob und inwieweit die auf älteren Hutungs- oder Gewohnheitsrechten beruhende Waldweide und die damit verbundenen Schäden sich auch in Brandenburg gravierend auf den Waldbestand auswirkten,45 ist aus heutiger Sicht schwer abzuschätzen. Obwohl die Forstbedienten dem bäuerlichen Vieheintrieb in den Wald fast durchweg kritisch gegenüberstanden, hatte die Schweine- und Viehmast mit Eicheln und Bucheckern wegen des hinterlassenen Düngers, des Unterwühlens der Samen und der Schädlingsbekämpfung beim Fressen einerseits durchaus auch positive Auswirkungen für das natürliche Nachwachsen der Wälder.46 Andererseits schädigte die Waldweide offenbar vor allem die Laubbaumkulturen und trug so zu dem für das 18. Jahrhundert zu beobachtenden Prozess des Übergangs von Mischwald- zu Kiefernkulturen bei.47 Die Vorbehalte der Forstbedienten richteten sich jedenfalls gleichermaßen gegen die Waldweide wie auch gegen die willkürliche Bau- und Brennholzentnahme durch die Untertanen sowie gegen die Streuentnahme für die Viehhaltung nach der Einführung der Stallfütterung,48 mithin im Prinzip gegen alle ungeregelten Zugänge von Privatpersonen in den Wald. Dabei erwies sich besonders die immer extensiver betriebene Streuentnahme, also das Sammeln von herabgefallenem Laub und Nadeln im Wald, als hochproblematisch, weil dadurch die Fruchtbarkeit der Böden abnahm und Nährstoffverarmung eintreten konnte.

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Zahlen nach Dietrich: Die Teerschwelerei in Brandenburg (wie Anm. 23), S. 166 ff. Der Teerofen bei Senftenhütte benötigte jährlich allerdings etwa 1.600 Klafter Holz für die Produktion von ca. 1.600 Tonnen Teer. Vgl. Gaffron: Chorin (wie Anm. 38), S. 47. Exemplarisch zum Problemfeld vgl. Walter Elmer: Die Waldweide im Thüringer Wald und im Harz. Ein landwirtschaftliches, forstwirtschaftliches und sozialpolitisches Problem, in: Reimar Gilsenbach/Annegret Nickels (Hg.): Reichtum und Not der Natur. Dresden 1955, S. 125–136. Exemplarisch vgl. Erwin Buchholz/Ferdinand Coninx: Die Schorfheide. 700 Jahre Jagdrevier. Stuttgart 1969, S. 39 ff.; Werner Siebarth: Wälder und Familien rings um den Grimnitzsee, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 27 (1976), S. 113–132, hier 120 ff. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Johanna R. Regnath: Das Schwein im Wald. Vormoderne Schweinehaltung zwischen Herrschaftsstrukturen, ständischer Obrigkeit und Subsistenzökonomie. Ostfildern 2008. Zusammenfassend für Brandenburg und Mecklenburg vgl. Albrecht Milnik: Zur Geschichte der Kiefernwirtschaft in Nordost-Deutschland, in: Ralf Kätzel (Hg.): Die Kiefer im nordostdeutschen Tiefland. Ökologie und Bewirtschaftung. Eberswalde 2007, S. 14–21. Zu den Neuansätzen in der Viehhaltung in Brandenburg-Preußen vgl. Hans-Heinrich Müller: Entwicklungstendenzen der Viehzucht in Brandenburg vor den Agrarreformen von 1807, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966/2, S. 137–189.

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4. VERSTÄRKUNG DES STAATLICHEN ZUGRIFFS AUF DEN WALD IM 18. JAHRHUNDERT Für die Zeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts konnte in einschlägigen Lokalstudien nachgewiesen werden, dass sich die Übernutzung des Waldes noch in Grenzen hielt. Durch die besonders im Norden und Osten der Mark Brandenburg enormen kriegsbedingten Entvölkerungen konnte sich die Waldfläche ein letztes Mal auf natürliche Weise, namentlich durch das Vordringen des Waldes auf im Dreißigjährigen Krieg wüstgefallenen Feldmarken, vergrößern.49 Dies änderte sich nun mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, als der Wald – gewissermaßen „als Garantiefonds für die Deckung der Staatsausgaben“50 – stärker als zuvor in den Blick der sich entfaltenden kameralistischen Staatswirtschaftspolitik geriet. Mit König Friedrich Wilhelm I. setzten jedenfalls die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen Holzverschwendung ein.51 Bezeichnenderweise stammt vom ihm auch die erste ausführliche kurmärkische Forstordnung (1720). Freilich gab es schon vorher für die hohenzollernschen Territorien einzelne Forstgesetze. Die Policey-Gesetzgebung nahm jedoch mit beständig anwachsender Regulierungsdichte in der Frühen Neuzeit kontinuierlich zu.52 Und in einer zweiten (erweiterten) Forstordnung (1739) wurden die Glashüttenbetreiber dazu aufgefordert, als Brennmaterial neben dem Teerschwelerprodukt Holzkohle auch auf Torf zurückzugreifen.53 Aufforstungen in größerem Stil wurden allerdings durch König Friedrich Wilhelm I. noch nicht verfügt. Die Kameralisten hatten zwar die Gefahren des ungeregelten Raubbaus am Wald erkannt und diskutiert. Zudem war auch mit der Umwandlung der älteren Heidereiter- in Oberförsterstellen in den königlichen Forstrevieren (1739) und kurz darauf mit der Gründung des dem Hofjägermeister unterstellten Reitenden Feldjägerkorps (1740) ein erster Professionalisierungsschub dieses oft von ausgedienten Offizieren und Soldaten besetzten Berufsfeldes verbunden.54 Dennoch bestimmten noch lange an49 50 51 52

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Krausch: Zur Waldgeschichte des Stechlinsee-Gebietes (wie Anm. 19), S. 251; Adolf Olberg: Die Entwicklung des Waldzustandes in der Oberförsterei Chorin und die Folgerungen hieraus für die künftige Wirtschaft. Hannover 1933, S. 378. Max Endres: Die Waldbenutzung vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Forstpolitik. Tübingen 1888, S. 136. Eine Überblicksdarstellung findet sich bei Karl Hasel: Zur Geschichte der Forstgesetzgebung in Preußen. Frankfurt a. M. 1974, S. 6 ff. Ein Typologisierungsversuch für diese Quellengattung von Christoph Ernst: Forstgesetze in der Frühen Neuzeit. Zielvorgaben und Normierungsinstrumente für die Waldentwicklung in Kurtrier, dem Kröver Reich und der Hinteren Grafschaft Sponheim (Hunsrück und Eifel), in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000, S. 341–381. Pfeil: Die Forstgeschichte Preußens (wie Anm. 1), S. 134 f. Zu dieser Institution für Anwärter auf den niederen und höheren Forstdienst, die auch eine mehrjährige Jägerausbildung erhielten, vgl. noch immer Otto Heym: Die Geschichte des Reitenden Feldjäger-Corps während der ersten 150 Jahre seines Bestehens. Berlin 1890; zudem aus neuerer Zeit Eberhard Olberg: Auf den Spuren meiner Vorfahren. Von den Anfängen forstlicher Ausbildung unter dem Einfluß der Reitenden Feldjäger-Corps, in: Fachhochschule Eberswalde, Verein der Freunde und Förderer der Forstwissenschaftlichen Lehre und Forschung Eberswalde e. V. (Hg.): 175jährige Wiederkehr (wie Anm. 6), S. 60–77; Albrecht Milnik: Das königlich preußische Reitende Feldjägercorps in Fridericianischer Zeit (1740–1786),

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dere politische Prioritätensetzungen den Umgang mit der Ressource Wald. Schon seit den 1720er Jahren wurden viele der – gewerbebedingt – mit viel Land versehenen Stellen der Teerschweler-, Kalk- und Ziegelbrenner zur intensiveren Nutzung der durch Entholzung freigewordenen Stellen als agrarische Flächen zunächst zu Schäfereien und Vorwerken umgewandelt und schließlich in einem zweiten Schritt systematisch besiedelt. So wurden etwa allein auf Domanialgebiet in der Prignitz, im Ruppiner Land und in der Uckermark 36 aus dem Mittelalter stammende, zuvor nur ungenügend durch Vorwerke und Teeröfen genutzte wüste Feldmarken innerhalb nur weniger Jahre um 1750 wiederbesiedelt. Dazu kamen zahlreiche vormalige Forststücke, welche durch diese Maßnahmen erstmals der dauerhaften landwirtschaftlichen Nutzung übertragen werden konnten.55 In noch höherem Maße fand diese Peuplierungspraxis in verlassenen Glashüttenorten statt, wo oftmals sesshaft gewordene ehemalige Glasarbeiter und andere Niederlassungswillige ganz neue Kolonistendörfer gegründet hatten. Allein zwischen 1713 und 1756 sind in der Kurmark und der Neumark 21 neue Glashütten – meist durch Verlegung älterer Produktionsstätten – entstanden, denen Glasarbeitersiedlungen und manchmal auch kleinere Büdnersiedlungen angeschlossen waren.56 5. NEUANSÄTZE UNTER KÖNIG FRIEDRICH II. Diese Praxis scheint ein Spezifikum Brandenburg-Preußens gewesen zu sein, zumal hier sehr früh und konsequent eine kameralistische Politik des binnenkolonisatorischen Landesausbaus57 verfolgt wurde, die sich mehr noch als mit seinem Vater vor allem mit der Person Friedrichs des Großen verbindet.58 Generell wollte der Monarch „lieber Menschen als überflüssiges Holtz“, wie er 1753 pointiert in einem

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in: Beiträge zur Forstgeschichte 3 (2003), S. 3–23. Zum Gesamtzusammenhang der Professionalisierung der Försterausbildung vgl. Henry E. Lowood: The Calculating Forester. Quantification, Cameral Science, and the Emergence of Scientific Forestry Management in Germany, in: Tore Frängsmyr u. a. (Hg.): The Quantifying Spirit in the Eighteenth Century. Berkeley 1991, S. 315–342. Asche: Neusiedler im verheerten Land (wie Anm. 27), S. 391 ff. Ebd. Eine chronologisch angelegte Liste der neugegründeten Glashütten findet sich bei Friese/ Friese: Glashütten in Brandenburg (wie Anm. 15), S. 86 f. Hans-Christof Kraus: Kriegsfolgenbewältigung und „Peuplierung“ im Denken deutscher Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Matthias Asche u. a. (Hg.): Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Berlin 2008, S. 265–279; Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012; zudem Matthias Asche: [Art.] Peuplierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 9 (2009), Sp. 1042–1045; demnächst die erste Gesamtübersicht über die Peuplierungspolitik in den Territorien des Alten Reiches von Ulrich Niggemann: „Peuplierung“ als merkantilistisches Instrument. Privilegierung von Immigranten und staatlich gelenkte Ansiedlungen, in: Klaus J. Bade/ Jochen Oltmer (Hg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert [erscheint 2015]. Zu den Kolonisationstätigkeiten König Friedrichs II. vgl. neuerdings Stephan Diller: Friedrichs neue Untertanen. Die innere Kolonisation in der Mark Brandenburg im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Bad Freienwalde/Prenzlau 2012.

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Brief dem fürstlich-magdeburgischen Oberforstmeister Ludwig von Aulac schrieb59 und diesen anwies, die Kolonisten auch weiterhin großzügig Bau- und Brennholz aus den Domanialforsten entnehmen zu lassen. Die flächendeckend und gleichermaßen in allen Landesteilen durchgeführte friderizianische Binnenkolonisation seit den 1740er Jahren – von der Moorkolonisation in Ostfriesland über die Oderbruchkolonisation bis zu den Neusiedlungen in Schlesien und der Kolonisation der durch die Polnischen Teilungen seit 1772 angefallenen Provinzen an Weichsel und Warthe – zählte für den zu einer europäischen Großmacht aufgestiegenen brandenburgpreußischen Staat neben den Ergebnissen der Militär- und Verwaltungsreformen zu den wichtigsten stabilisierenden Elementen im Prozess der Gesamtstaatsbildung.60 Sie begründete den Ruf Brandenburg-Preußens als „tolerantes“ Einwanderungsland.61 Die 1747 erlassenen, 1767 nochmals erneuerten Privilegien für Neukolonisten – neben der Befreiung von Militärdiensten, den Steuerfreijahren und Erbpachtverträgen auch weitere finanzielle Anreize, etwa die Überlassung freien Bauholzes – waren überaus erfolgreich und zogen Niederlassungswillige aus vielen Teilen des Heiligen Römischen Reiches an, darunter allein rund ein Viertel aus den benachbarten mecklenburgischen Herzogtümern.62 Und dennoch ist König Friedrich II. ein Bewusstsein für nachhaltige Forstwirtschaft nicht abzusprechen.63 Vielmehr befand er sich in einem Dilemma: Für ihn stand die kameralistische Idee einer autarken inländischen Holzproduktion, mithin die extensive Nutzung von Wald und Holz als zentrale, staatlich kontrollierte Ressource, in einem Widerspruch zu einer – ihm durchaus wohl mindestens in Grundzügen auch wissenschaftlich bekannten – nachhaltigen Forstpolitik. Mehr noch als seine Vorgänger wusste der preußische König – nicht zuletzt durch seine gefürchteten Inspektionsreisen quer durch das Land64 – um die domanialen Forsten, deren Zustand er regelmäßig beklagte und für die er schon sehr früh, nämlich in den 1750er Jahren, im Sinne einer Walderneuerung Schonanlagen für Eichen, Buchen und Kiefern einforderte, so etwa 1757 in einem Schreiben an den mittelmärkischen Oberforstmeister Hans Friedrich von Knobelsdorff: „Wie ein großer Ernst es aber Mir damit ist, daß die Heyden und Forsten nicht mehr so bishero geschehen indistinctamente ausgehauen werden, ohne darauf zu gedenken, daß solche durch Anlegung guter Cämpe und Pflantzung auch Schonung des jungen Holtzes, auch vor 59 60 61 62 63

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Zitat nach Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), S. 277. Zusammenfassend vgl. etwa Wolfgang Neugebauer: Zur Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Thesen zu einem historischen Typus, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 49 (1998), S. 183–195. Programmatisch hier etwa der Sammelband von Birgit Kletzin (Hg.): Fremde in Brandenburg. Von Hugenotten, sozialistischen Vertragsarbeitern und rechtem Feindbild. Münster u. a. 2003. Stadelmann: Preußens Könige, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 14 ff. In diesem Sinne auch ganz explizit Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), passim, hier exemplarisch S. 278: „Allgegenwärtige Forderung nach Holzersparnis als Kennzeichen nachhaltigen Strebens scheint durchgängig typisch für die Regierungszeit Friedrichs II.“ Vinzenz Czech: Friedrich der Große auf Inspektionsreise, in: Göse (Hg.): Friedrich der Große (wie Anm. 7), S. 216–245.

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weiteren Zeiten conserviret werden.“65 Der Monarch erkannte also durchaus die Notwendigkeit der Anlage von separierten Schonungen, von Kulturflächen also, die vor ungeregeltem Haubetrieb (Plenterwirtschaft)66 und Viehverbiss geschützt sein sollten, angesichts befürchteter Holzknappheit als eine Investition in die Zukunft. Konsequenterweise verordnete Friedrich II. im Jahre 1764 schließlich die Einteilung des Waldes in Produktionsflächen mit Schlageinteilung und geregeltem, systematischem Haubetrieb, der auch den Holzpreis stabilisieren sollte.67 Um möglichst schnell einen möglichst hohen Holzertrag zu erzielen, wurden die kahlgeschlagenen Flächen überwiegend mit – im Gegensatz zu Laubbaumkulturen vergleichsweise anspruchslosen und schnell wachsenden – Kiefern und Birken aufgeforstet.68 Diese Maßnahme der Renaturierung vegetationsloser, die umliegenden Kulturflächen zu übersanden drohender Kahlflächen (Sandschollen, Sandschellen)69 begünstigte den Vormarsch der für eine rasche Aufforstungsarbeit notwendigen „Pionierbaumart“ Kiefer, dem „Brotbaum des preußischen Staates“,70 auf Kosten von Buchen- und Eichenbeständen aus den ursprünglichen Mischwäldern. So war beispielsweise bereits um 1800 das Forstrevier Groß Schönebeck fast vollständig in eine Kiefernheide umgewandelt worden71 – freilich mit allen Problemen, die Monokulturen mit sich bringen, wie etwa die stärkere Anfälligkeit für Schädlinge, wie die Forleule (Kieferneule) oder den Kiefernspinner, die besonders am Ende des 18. Jahrhunderts verheerend wüteten.72 Aber auch die traditionelle Viehmast konnte in reinen Kiefernwäldern nicht mehr praktiziert werden. 65 66 67 68 69

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Zitat nach Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), S. 278. Zur Praxis des vormodernen Plenterbetriebs vgl. Jean-Philippe Schütz: Der Plenterwald und weitere Formen strukturierter und gemischter Wälder. Berlin 2001, S. 95 ff. Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), S. 297 f. Zusammenfassend für Brandenburg und Mecklenburg vgl. Milnik: Zur Geschichte der Kiefernwirtschaft (wie Anm. 47). Ders.: Sandschollen. Zerstörte Lebensräume. Eberswalde 2005 [in veränderter Form wiederabgedruckt unter dem Titel: Sandschollen. Zerstörte Lebensräume. Ein Beitrag zur Umweltgeschichte Norddeutschlands, in: Archiv für Forstwesen und Landschaftsökologie 41 (2007), S. 91–96]. Richard B. Hilf: Der Wald in Geschichte und Gegenwart. Potsdam 1938, S. 231. Hierzu vgl. das Abstract einer unpublizierten Dresdner Diplomarbeit von Burkhard Demant: Beitrag zur Geschichte der Oberförsterei Groß Schönebeck/Schorfheide von 1750 bis 1992, in: Erhard Schuster (Hg.): Die Schule der Nachhaltigkeit. Mit Beiträgen zum forstgeschichtlichen Kolloquium am 18. Juli 2002 in Tharandt aus Anlaß des Ausscheidens von Universitätsprofessor Dr. oec. publ. rer. silv. habil. Ernst Ulrich Köpf aus dem aktiven Hochschuldienst sowie einer Übersicht über in Tharandt erstellte forstgeschichtliche Arbeiten der letzten Jahre. Remagen 2004, S. 80 ff. Exemplarisch vgl. Carl Wilhelm Hennert: Über den Raupenfraß und Windbruch in den Königl. Preuß. Forsten von dem Jahre 1791 bis 1794. Leipzig 1798; vgl. dazu auch Bernd Herrmann: Die Entvölkerung der Landschaft. Der Kampf gegen „culturschädliche Thiere“ in Brandenburg im 18. Jahrhundert, in: Günter Bayerl/Torsten Meyer (Hg.): Die Veränderung der Kulturlandschaft. Nutzungen – Sichtweisen – Planungen. Münster u. a. 2003, S. 33–59. Schädlinge wurden freilich aus der Sicht der Forstwirtschaft als Ressourcenkonkurrenten wahrgenommen, so dass sie als Negativ-Terminus konstruiert worden sind. Vgl. Sarah Jansen: „Schädlinge“. Ge-

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Da als Nebeneffekt dieser Verordnung detaillierte Karten über den Zustand der domanialen Forsten entstanden waren,73 setzte dies auch eine Professionalisierung des unter König Friedrich II. nochmals enorm aufgestockten, aber bislang nur rudimentär qualifizierten Forstpersonals voraus, dem der Monarch – wohl wegen schlechter Erfahrungen auf seinen Inspektionsreisen – ohnehin stets misstraute: „Ich weiß es schon, wie die Forst-Bediensteten es machen: an die Wege, wo sie wissen, daß ich durchpassiere, da geben sie sich etwas Mühe und man findet wohl etliche 100 Schritte etwas von Bäumen: dahinter dagegen ist alles leer und kahl und wird nichts getan, das gefällt mir gar nicht, das ist nur für die Augen.“74 Die Anfänge einer regelmäßigen Unterweisung des angehenden Forstpersonals liegen in einer privaten Schule des Botanikers Johann Gottlieb Gleditsch, der auf Anregung des Chefs des Forst-Departements Ludwig Philipp Freiherr vom Hagen als erster seit 1770 in Berlin einige Reitende Feldjäger und andere Forstdienst-Aspiranten in Forstbotanik, Mathematik und Statistik unterrichtet hatte.75 Zu Unterrichtszwecken hatte Gleditsch das zweibändige Handbuch „Systematische Einleitung in die neuere aus ihrem eigenthümlichen physikalisch-oekonomischen Gruenden hergeleitete Forstwissenschaft“ (Berlin 1775) verfasst. Dieses Werk wurde aber offenbar von König Friedrich II. ebenso wenig geschätzt wie die aus der Forstpraxis entstandenen, bezeichnenderweise ungedruckt gebliebenen Manuskripte der zwölfteiligen „Forst-Beschreibungen“ des Finanz-, Kriegs- und Domänenrats Johann Peter Morgenländer aus dem Jahre 1780, welcher den – offenbar sehr schlechten – Waldzustand im brandenburg-preußischen Staat wohl zum Zweck des Nachweises von verkaufsfähigem Holz dokumentiert hatte.76 Zu einer durchgreifenden Verbesse-

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schichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840–1920. Frankfurt a. M./New York 2003; Torsten Meyer: Von der begrenzten zur unbegrenzten Ausrottung. „Schädlinge“ als „natürliches Risiko“ im 18. Jahrhundert, in: Bayerl/Meyer: Die Veränderung der Kulturlandschaft (wie oben), S. 61–73; Ders.: „Alltägliche Extreme“? Agrarische „Schädlinge“ als Ressourcenkonkurrenten im 17. und 18. Jahrhundert, in: Patrick Masius u. a. (Hg.): Katastrophen machen Geschichte. Umweltgeschichtliche Prozesse im Spannungsfeld von Ressourcennutzung und Extremereignis. Göttingen 2010, S. 63–76. Hier ist vor allem auf Friedrich Wilhelm Carl Graf von Schmettau und sein zwischen 1767 und 1787 entstandenes Kartenwerk hinzuweisen. Vgl. neuerdings den Sammelband von Oliver Flint/ Lothar Jordan (Hg.): Friedrich Wilhelm Carl von Schmettau (1743–1806). Pionier der modernen Kartographie, Militärschriftsteller, Gestalter von Parks und Gärten. Frankfurt a. d. O. 2009. Zitat nach Huth: „… denn gegenwärtig siehet es in den hiesigen Heyden etwas lüderlich aus.“ (wie Anm. 7), S. 299. Zur Professionalisierung des Försterberufes vgl. Ders.: Über die Anfänge der forstwissenschaftlichen Lehre in Brandenburg-Preußen. Eine erste Zwischenbilanz, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 61 (2010), S. 107–139; zudem Karl Dickel: Die Anfänge des forstwissenschaftlichen Unterrichts in Preußen, in: Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen 48 (1916), S. 12–30, 49–72, 107–134, 181–204, 225–254, 313–357. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Lowood: The Calculating Forester (wie Anm. 54); exemplarisch Thomas Götz: Der Staat im Wald. Forstpersonal und Forstausbildung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aus umweltgeschichtlicher Perspektive. Das Beispiel des Rheinkreises, in: Christoph Ernst u. a. (Hg.): Tagungen des Arbeitskreises Forstgeschichte in Rheinland-Pfalz 1995 in Verbindung mit dem Sonderforschungsbereich 235, Universität Trier. Trier 1996, S. 36–77. Zu den Problemen bei der Auswertung dieser Quelle vgl. Alexis Scamoni: Waldkundliche Untersuchungen auf grundwassernahen Talsanden. Beschaffung von waldbaulichen Grundlagen,

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rung der Försterausbildung kam es allerdings zu Lebzeiten Friedrichs II. nicht mehr. Erst 1788 wurde das Forstliche Lehrinstitut des Reitenden Feldjägercorps in Berlin eröffnet.77 Der durch die preußische Niederlage von 1806 zeitweise unterbrochene forstwissenschaftliche Unterricht wurde 1814 mit Vorlesungen Georg Ludwig Hartigs an der neu gegründeten Universität Berlin wiederaufgenommen.78 Die Forstabteilung wurde schon sieben Jahre später als eigenständige Forstakademie ausgegliedert und 1830 – als Höhere Forst-Lehranstalt – nach Eberswalde verlegt, wo sie über alle Systembrüche noch bis heute besteht.79 6. ZURÜCKDRÄNGUNG UND NIEDERGANG DES TRADITIONELLEN WALDGEWERBES SEIT DEM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Wald- und Forstnutzung im Laufe des 18. Jahrhunderts immer stärker in die staatliche Wirtschaftspolitik eingebunden wurden. Den Endpunkt bildete gewissermaßen 1770 die Schaffung des Forst-Ministeriums als achtes und letztes Departement innerhalb des Generaldirektoriums. In den zuletzt völlig dem Staatsnutzen unterworfenen domanialen Forsten sorgte fortan insbesondere das vom Forst-Ministerium ausgewählte Forstdienstpersonal dafür, möglichst alle konkurrierenden Waldnutzer, insbesondere die Betreiber von traditionellem Waldgewerbe und Privatpersonen, zu marginalisieren oder gar ganz zu verdrängen, was wegen der Beschneidung von althergebrachten Hutungs- und Gewohnheitsrechten zu zahlreichen Konflikten mit den Untertanen, ja zu regelrechten Kriminalisierungen traditioneller bäuerlicher Waldnutzungsrechte, auch dem Plenterbetrieb, führen konnte.80 Während bis zum Höhepunkt der friderizianischen Bin-

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dargestellt am Waldgebiet zwischen Liebenwalde und Kremmen, Brandenburg. Berlin 1950, S. 18 ff. Zu den Reitenden Feldjägern vgl. die Literaturhinweise in Anm. 54. Hierzu vgl. zuletzt Rüdiger vom Bruch: Forstliche Lehre in der Residenzstadt Berlin. Die Forstakademie an der Universität Berlin 1821 bis 1830, in: Fachhochschule Eberswalde, Verein der Freunde und Förderer der Forstwissenschaftlichen Lehre und Forschung Eberswalde e. V. (Hg.): 175jährige Wiederkehr (wie Anm. 6), S. 9–59 [ohne Anmerkungsapparat]; Ders.: Wissenschaftliches Umfeld oder ausbildungspraktische Umwelt? Zur Standortfrage einer jungen Disziplin am Beispiel der Berliner Forstwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Jürgen Büschenfeld u. a. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen. Bielefeld 2001, S. 38–61; zudem noch immer Karl Dickel: Über die mit der Universität Berlin verbunden gewesene Forstakademie (1821–1830) und den Lehrstuhl für Forstwissenschaft an der Universität Berlin (1830–1848). Berlin 1910. Hierzu vgl. die Literaturhinweise in Anm. 2. Zahlreiche Beispiele für Konflikte zwischen Forstverwaltung und Untertanen, insbesondere um die alten Waldmastberechtigungen, finden sich etwa bei Volz: Sterbender oder kultureller Wald? (wie Anm. 5), S. 18 ff. Zum Gesamtzusammenhang vgl. den Versuch einer Typologisierung solcher Konfliktfelder von Bernd-Stefan Grewe: Streit um den Wald – ein Ressourcenkonflikt? Das Konfliktfeld Wald in der vorindustriellen Zeit (ca. 1500–1850), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), S. 551–566; Stefan von Below/Stefan Breit: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1998; Uwe Eduard Schmidt: Waldfrevel

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nenkolonisationen die erklärten Staatsziele Peuplierung und Landesausbau noch einer nachhaltigen Waldwirtschaft eindeutig untergeordnet waren, wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen für die traditionellen Waldgewerbe gegen Ende des 18. Jahrhunderts sukzessive eingeschränkt.81 Insgesamt ist eine allmähliche Abkehr von den holzintensiven Gewerbezweigen der Waldwirtschaft zugunsten einer geregelten Forstwirtschaft zu beobachten. So war nach einer Kabinettsordre Friedrichs II. seit 1787 die Neuanlage von Waldglashütten nunmehr nur noch unter starken Einschränkungen möglich. Der König verfügte bezüglich der Ausholzung der Forsten, „daß die in Unsern Marken befindlichen Glashütten gänzlich eingehen und dergleichen in noch holtzreichen Provinzien angeleget oder mit Schlesischen Stein Kohlen betrieben werden“82 sollen. Die erste diesbezügliche Verordnung zur Schonung der Forsten durch Verwendung von Steinkohle stammt aus dem Jahre 1776.83 Auch Friedrichs II. Nachfolger, König Friedrich Wilhelm II., sah sich wegen des vermeintlichen Holzmangels in der Umgebung großer brandenburgischer Städte veranlasst, einschneidende Maßnahmen zu ergreifen. Darauf verweist eine Kabinettsordre vom 21. Oktober 1789: „Das Schlesische Glaß soll nicht mehr verboten seyn, sondern gegen leydliche Accise eingeführt werden, und wenn dadurch alle Glaßhütten in der Marck zu Grunde gehen, daran ist nichts gelegen, denn ich habe hier kein Holtz mehr zu Glaßhütten.“84 Aber nicht nur die Waldglashüttenbetreiber, sondern auch die Teerschweler sahen spätestens nach dem Ende der Napoleonischen Kriege – dem letzten Höhepunkt ihres Gewerbes – auch wegen der signifikanten Abnahme der Kiefernaltbestände einer bedrohlichen Existenzgefährdung des gesamten Berufszweiges entgegen. Dazu kam trotz anfänglicher Widerstände85 der Siegeszug des in Preußen vor allem

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contra staatliche Interessen. Die sozialgeschichtliche Bedeutung des Waldes im 18. und 19. Jahrhundert, in: Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.): Der Deutsche Wald. Stuttgart 2001, S. 17–23; Richard Hölzl: Forstwirtschaft und ländliche Bevölkerung. Eine konfliktreiche Beziehung am Übergang zur Moderne, in: Mamoun Fansa/Dirk Vorlauf (Hg.): Holzkultur. Von der Urzeit bis in die Zukunft. Ausstellungskatalog. Oldenburg 2007, S. 65–70; Ders.: Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760–1860. Frankfurt a. M. 2010, S. 67 ff.; Ders.: Forests in Conflict. Rural Populations and the Advent of Modern Forestry in Pre-Industrial Germany (1760–1860), in: Geneviève Massard-Guilbaud/Stephen Mosley (Hg.): Common Ground. Integrating the Social and Environmental in History. Cambridge 2011, S. 198–223. Aus rechtshistorischer Perspektive vgl. Michael Schwarz: Umweltstrafen. Fragen nach den historischen Bewertungskriterien von Umweltdelikten, in: Gerhard Jaritz/Verena Winiwarter (Hg.): Umweltbewältigung. Die historische Perspektive. Bielefeld 1994, S. 77–98; Bernd Marquardt: Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den großen Rodungen des Hochmittelalters bis ins 21. Jahrhundert. Zürich 2003, S. 76 ff. Exemplarisch zur Marginalisierung der Waldglashüttengewerbe vgl. Joachim Radkau/Ingrid Schäfer: Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte. Reinbek 1987, S. 118 ff.; zum Teerschwelergewerbe Dietrich: Die Waldwirtschaft König Friedrichs II. (wie Anm. 38), S. 143. Zitiert nach Friese/Friese: Glashütten in Brandenburg (wie Anm. 15), S. 84. Ediert bei Rosenstock: Zur Geschichte der Preußischen Staatsforstverwaltung (wie Anm. 6), S. 115. Zitiert nach Siebeneicker: Offizianten und Ouvriers (wie Anm. 32), S. 107. Exemplarisch vgl. Uta Betzhold: Zur Rationalität der Verweigerung der Steinkohleförderung in den westlichen preußischen Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Scripta Mercaturae 17 (1983), S. 45–62.

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seit dem Erwerb Ostfrieslands und Schlesiens besonders geförderten Torfs sowie der Braun- und Steinkohle als Brennmaterial86 – und zwar bei gleichzeitigem Ansteigen der Brennholzpreise.87 In der Mark Brandenburg erloschen die letzten Teeröfen um die Mitte des 19. Jahrhundert endgültig, nachdem bereits die Betreiber wegen drohender Verarmung notgedrungen wieder hauptberuflich zu landwirtschaftlichen Tätigkeiten übergegangen waren und nur noch wenige Brände pro Jahr durchführen konnten.88 So wurde auch in Preußen mit der beginnenden Industrialisierung allmählich das Ende des Hölzernen Zeitalters89 eingeleitet, das zudem begleitet war von einem Mentalitätswandel – der romantischen Verklärung des Waldes als schützenswertes nationales Gut.90 86

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Zu den Bemühungen König Friedrichs II. um die Förderung alternativer Energieträger seit den 1770er Jahren vgl. jetzt ausführlich Michael Jan Kendzia: Konstituierung eines industriellen Arbeitsmarktes in Oberschlesien, Diss. Köln 2009, 129 ff.; dazu Gerd Heinrich: Der preußische Spätmerkantilismus und die Manufakturstädte in den mittleren und östlichen Provinzen (1740– 1806), in: Volker Press (Hg.): Städtewesen und Merkantilismus in Mitteleuropa. Köln/Wien 1983, S. 301–322, hier 312; Harnisch: Die Energiekrise des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 5), S. 505. Braunkohle wurde erst seit den späten 1780er Jahren systematisch in der Mark Brandenburg abgebaut. Vgl. zuletzt Ralf-Günter Wedde: Braunkohle. Historischer untertägiger Bergbau, in: Johannes H. Schroeder/Fritz Brose (Hg.): Führer zur Geologie von Berlin und Brandenburg, Nr. 9: Oderbruch – Märkische Schweiz – Östlicher Barnim. Berlin 2003, S. 111–118; Klaus-Dieter Zimmermann: Braunkohle an der Oder. Die Geschichte des märkischen Braunkohlenbergbaus in der Region Frankfurt (Oder) und Brieskow-Finkenheerd. 2. Aufl., Berlin 2009, S. 22 ff.; Erich Lerm: Der Bergbau auf Braunkohle im Gebiet Falkenberg/Hohenfinow, in: Eberswalder Jahrbuch für Heimat-, Kultur- und Naturgeschichte 17 (2009), S. 240–247. Hierzu vgl. Udo Eggert: Die Bewegung der Holzpreise und Tageslohnsätze in den preußischen Staatsforsten 1800–1879, in: Zeitschrift des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus 23 (1883), S. 1–44. Dietrich: Die Teerschwelerei in Brandenburg (wie Anm. 23), S. 186 ff. Nach Werner Sombarts klassischer These, dass ohne die Umstellung der Energieressourcen auf Kohle wegen der zunehmenden Entwaldung ein vorzeitiges Ende des Kapitalismus eingetreten wäre. Vgl. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2. Leipzig 1916 [ND Berlin 1969], S. 1137–1155. Grabas: Krisenbewältigung oder Modernisierungsblockade? (wie Anm. 5), S. 48, 75, sieht in Preußen einen besonders dynamischen Übergang des Energieträgers von Holz auf Steinkohle in den 1840er Jahren. Zur Romantisierung des deutschen Waldes im 19. Jahrhundert vgl. Albrecht Lehmann: Der deutsche Wald, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3. München 2001, S. 187–200; zudem zahlreiche Monographien und Sammelbände in jüngerer Zeit: Ders.: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek 1999; Ders./ Klaus Schriewer (Hg.): Der Wald. Ein deutscher Mythos? Berlin/Hamburg 2000; Michael Flitner (Hg.): Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Frankfurt a. M./New York 2000; Alexander Demandt: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte. Köln u. a. 2002, S. 231 ff.; Ute Jung-Kaiser (Hg.): Der Wald als romantischer Topos. 5. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Bern u. a. 2008; Ann-Katrin Thomm (Red.): Mythos Wald. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung des LWL-Museumsamtes für Westfalen Münster, März 2009 bis Juli 2010. Münster 2009; Viktoria Urmersbach: Im Wald, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes. Berlin 2009, S. 65 ff.; Erhard Schütz: „ln den Wäldern selig verschollen.“ Waldgänger in der deutschen Literatur seit der Romantik. Bremen 2013.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON MATTHIAS ASCHE „Von Waldglashütten, Teeröfen und anderen Formen traditioneller Holznutzung“ Roman Sandgruber, Linz Zu den Standarddiskursen der Wirtschaftspolitik des 18. Jahrhunderts, egal ob in Preußen oder in Österreich, gehörte die Frage der „Holznot“. Es ist schwer zu entscheiden, was an den Klagen über den Holzmangel real, prophylaktisch oder auch nur bloß inszeniert war.1 Eines ist klar: Eine der Zentralressourcen der vorindustriellen Wirtschaft war das Holz. Der Holzbedarf war allerdings sehr ungleich verteilt, und nicht alle Wälder waren für die Nutzung geeignet. Holzüberfluss und Holznot, Urwald und Überschlägerung konnten auf engstem Raum zusammenkommen. DAS HOLZ ALS ZENTRALRESSOURCE DER TRADITIONELLEN GESELLSCHAFT Die Ansprüche an den Wald waren vielfältig und widersprüchlich: Die Bauern strebten nach mehr Ackerland und der Sicherung ihrer Streusammel-, Weide- und Holzbezugsrechte. Die Städter brauchten Brenn- und Nutzholz. Dem Adel und auch dem Landesfürsten war an möglichst großen und geschlossenen Jagdgebieten gelegen. Die Gewerbetreibenden benötigten das Holz zur Energiegewinnung, als Rohstoff und als Baumaterial. Die größten Holzverbraucher waren die Salinen und Eisenhütten. Aber auch andere Bergbau- und Schmelzbetriebe, Glashütten, Brauereien und Ziegelfabriken waren auf Holz angewiesen. Aber immer mehr kristallisierten sich die Hauptstädte mit ihrer rasch wachsenden Einwohnerzahl als die größten Holzverbraucher des Landes heraus. Aus einer Vielzahl von Zeugnissen geht hervor, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Holzklemme verschärfte: Die Anforderungen an die Energieversorgung, die überwiegend auf Holz basierte, erhöhten sich einerseits durch die steigende Bevölkerungszahl und andererseits durch die beginnende Industrialisierung und wachsende Warenproduktion. Eine Analyse dieses vielstimmigen Interessengemenges ist mit den Mitteln der Diskursanalyse nur bedingt möglich. Man gewinnt damit zwar einen Einblick in das Problembewusstsein und in die Fülle der vorgeschlagenen oder auch exekutier1

Winfried Schenk: Holznöte im 18. Jahrhundert? Ein Forschungsbericht zur „Holznotdebatte“ der 1990er Jahre, in: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 157 (2006), S. 377–383.

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ten Lösungswege und Strategien. Doch für eine Abklärung der tatsächlichen Problemlage und der erzielten Ergebnisse sind quantifizierende Methoden notwendig und auch Erfolg versprechend. Österreich im 18. Jahrhundert unterschied sich signifikant von BrandenburgPreußen. Es war aufgrund seiner Waldbestände und Flusssysteme in vorindustrieller Zeit ein mit Energie gut ausgestattetes Land. Einerseits ließ sich das reichlich vorhandene Brennholz auf den Flüssen kostengünstig zu den Verbraucherzentren transportieren, andererseits boten die vielen Wasserläufe für die Mechanisierung eine durchaus günstige Basis. Die industrielle Branchenstruktur Österreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war demnach energieintensiv: Eisenindustrie, Salinen, Glashütten und Metallbearbeitung bestimmten in sehr viel größerem Maße als in anderen europäischen Regionen die Industriestruktur. Der weitaus größte Holzverbraucher war aber auch in Österreich der Hausbrand.2 Österreich hatte viel Wald, aber auch viel mehr Bedarf an Holz, da es dichter besiedelt war. Wien, das um 1750 etwa 175.000 Einwohner zählte, war größer als Berlin mit seinen nicht viel mehr als 100.000 Bewohnern, und es gab in den Alpenländern mit Salzpfannen, Eisenhütten und sonstigen Bergbauen, etwa auf Edelmetalle, Quecksilber oder Arsen, auch sehr viel größere Holzverbraucher als in Brandenburg. Um 1800 war Wien auf 230.000 Einwohner angewachsen, Berlin auf 170.000.3 Für eine grobe Angabe der Größenordnungen, um die es mit Blick auf die Holzwirtschaft gehen kann, wird vom gegenwärtigen Holzvorrat und Holzzuwachs ausgegangen. Das Gebiet der heutigen Republik Österreich ist mit einem Waldanteil von fast 47 Prozent sehr waldreich. Ungefähr 38 Prozent der Bodenfläche Österreichs sind Ertragswald. Der jährliche Holzeinschlag im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schwankt zwischen zehn und 20 Millionen Festmeter. Auch im 18. Jahrhundert wird man nicht mehr, sondern eher weniger Holz produziert haben können. Aus einer Schätzung des jeweils verfügbaren Gesamtpotenzials an Holzzuwachs und dem jeweiligen Bedarf der wichtigsten Holzverbraucher lassen sich die Situation der Holzwirtschaft, mögliche Engpässe und mögliche Lösungsstrategien abschätzen. Für das Gebiet des heutigen Oberösterreich hat dies für die Frühe Neuzeit Karl Duller in einer quantifizierenden Studie abzuklären versucht.4 Dabei ist er von einer Schätzung der Holzproduktion auf der Basis der damaligen Waldflä2 3

4

Bernd-Stefan Grewe: Das Ende der Nachhaltigkeit? Wald und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in: AfS 43 (2003), S. 61–79. Roman Sandgruber: Wirtschaftswachstum, Energie und Verkehr in Österreich 1840–1913, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftliches Wachstum, Energie und Verkehr vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Bericht über die 6. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1975 in Tübingen. Stuttgart 1978, S. 67–93; Ders.: Die Energieversorgung Wiens im 18. und 19. Jahrhundert, in: Andreas Kusternig (Hg.): Bergbau in Niederösterreich. Vorträge u. Diskussionen d. 6. Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Pitten, 1.–3. Juli 1985. Wien 1987, S. 459–490; Ders.: Energiewirtschaft in Österreich, in: Anita Kuisle (Hg.): Kohle und Dampf. Oberösterreichische Landesausstellung Ampflwang 2006. Linz 2006, S. 49–60. Duller, Karl: Holz als zentrale Ressource in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Holznutzung in Oberösterreich. Diplomarbeit Univ. Linz 2009, S. VII, 171.

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che, Baumartenverteilung und Waldbewirtschaftung ausgegangen. Dem stellte er die Verbrauchsentwicklung einzelner Großverbraucher, vor allem der Salinen, der Eisenwirtschaft, der Holzexporte Richtung Wien sowie des Eigenbedarfs der heimischen Bevölkerung und der regionalen Wirtschaft gegenüber. In Oberösterreich schwankt der Holzeinschlag in der Gegenwart bei einer Waldfläche von etwa 500.000 ha zwischen zwei und vier Millionen Festmeter jährlich. Für die Frühe Neuzeit ermittelte er aus den vorhandenen Industrieproduktions- und Bevölkerungsdaten einen Holzverbrauch, der von etwa einer Million Festmeter um 1500 auf über drei Millionen um 1800 angestiegen wäre.5 Weil davon auszugehen ist, dass sowohl die Waldproduktivität als auch die Waldfläche im 18. Jahrhundert geringer waren, vor allem aber die Transportbedingungen nicht den heutigen Möglichkeiten entsprachen, müsste man zumindest im späten 18. Jahrhundert eine deutliche Überbeanspruchung des oberösterreichischen Waldes unterstellen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts errechnete Duller einen Rückgang des oberösterreichischen Holzbedarfs von drei auf zwei Millionen Festmeter im Jahr. LÖSUNGSSTRATEGIEN FÜR DIE HOLZKNAPPHEIT a) Steigerung der Holzproduktion durch rationelle Waldbewirtschaftung Zur Verbesserung der Waldbewirtschaftung und Erhöhung der Holzproduktion wurden zahlreiche forstliche Maßnahmen getroffen. Diese reichten von der Ergänzung der natürlichen Waldbesamung durch Heranziehen in Baumschulen über den Übergang zu Fichtenmonokulturen und die Neupflanzung von Wäldern bis zu besseren Schlägerungstechniken (Kahlschlag oder Plentern/Nieder- oder Hochwaldwirtschaft) und zur Verwendung der weniger Abfälle erzeugenden Sägen statt der Hacken, aber auch bis zur Einschränkung der Waldnutzungsrechte der Untertanen durch ein Verbot der Ziegenhaltung, der Waldstreunutzung und des Holzsammelns. Die Waldweide, die bis ins 18. Jahrhundert – neben der Jagd – im Wald durchweg den Vorrang genossen, wurden in den Augen der Forstherren zu minderwertigen Waldnutzungen. Wegen der Langfristigkeit des Heranwachsens der Wälder war eine Waldbestandsaufnahme z. B. in Form so genannter „Waldbereitungen“ eine wichtige Voraussetzung für eine langfristige Planung. Die Bedeutung, die die Bürokratie dem Holz beimaß, zeigt die Waldbestandsaufnahme der Jahre 1754 bis 1762, die allein für die Steiermark 27 und für Kärnten 29 gedruckte Bände umfasst. Der Höhepunkt der obrigkeitlichen Reglementierung wurde mit der mariatheresianischen Waldordnung von 1767 erreicht, die neben zahlreichen Sparanordnungen und forsttechnischen Bestimmungen bereits auch Substitutionsstrategien mit Hinblick auf die Mineralkohle aufzeigte.

5

Ebd., S. 97 ff.

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Roman Sandgruber

b) Energiesparen durch Konsumverzicht Die Sparstrategien reichten von der Einschränkung der Holzbauweise der Häuser bis zu Verboten, Holzschuhe zu tragen. Auch gewisse aus der bäuerlichen Tradition stammende Bräuche wie das Abbrennen von Johannisfeuern oder das Aufstellen von Maibäumen waren bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verboten worden, um die Waldbestände zu schonen. Man beschäftigte sich mit den kuriosesten Projekten und Vorschlägen. Am bekanntesten war die allerdings nicht durchsetzbare Einführung so genannter Sparsärge durch Kaiser Joseph II. Am 23. August 1784 wurde die Verordnung über die Sparsärge publiziert. Bereits knapp fünf Monate später, am 17. Januar 1785, sah sich der Kaiser aufgrund der Proteste der Bevölkerung gezwungen, sie zu widerrufen.6 Der Aufwand für die Raumheizung war hoch und der Wirkungsgrad niedrig. „Eigener Rauch“, eines der wesentlichsten Kriterien sozialer Stellung, war teuer. Folglich war Konsumverzicht bei der Raumheizung weit verbreitet: Meist war es nicht üblich, mehr als einen Raum zu beheizen. So schlief man in eiskalten Räumen und versammelte sich möglichst nahe am Feuer. c) Energiesparen durch bessere Wirkungsgrade Die Rationalisierungsempfehlungen und Produktivitätsstrategien der Zeit um 1800 reichten von der Konstruktion von Sparherden bis zur Verbesserung der Wirkungsgrade der Hochöfen, von der Verkleinerung der Fenster bis zur besseren Abdichtung der Häuser. Am effektivsten war die Verbesserung der Wirkungsgrade der häuslichen Feuerstellen. Zu Recht war der Sparherd das Lieblingsthema der im 18. Jahrhundert anschwellenden Holzsparliteratur. In den offenen Rauchküchen der Bürger- und Bauernhäuser konnte man besonders große Sparreserven voraussetzen. Die Fülle der Holzsparliteratur, von der bislang etwa 400 Titel ermittelt wurden, konzentrierte sich vor allem auf die Konstruktion energiesparender Sparöfen. Der seit etwa 1790 in Wien forcierte Übergang von offenen Küchenfeuern zu geschlossenen Sparherden war um 1850 weitgehend abgeschlossen, was sowohl zur Schaffung verbesserter Arbeitsbedingungen in den Küchen als auch zur Brennstoffeinsparung wesentlich beitrug. Die Küche war nun nicht mehr die „Schwarze Kuchl“, welche keinem anderen Zweck als dem Kochen dienen konnte, sondern konnte immer mehr auch eine Wohnfunktion übernehmen. Vor allem brauchte man viel weniger Holz und konnte auch Mineralkohle einsetzen. Auf dem Land dauerte der Übergang zwar etwas länger. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren jedoch auch in den Bauernhäusern Rauchküchen und Rauchstuben nur mehr Relikte für die volkskundliche Forschung.7 Die Sparempfehlungen gingen auch dahin, Fensteröffnungen zu verkleinern und besser abzudichten sowie Doppel- oder „Winterfenster“ zu verwenden. 1833 6 7

Unter dem josephinischen „Sparsarg“ versteht man einen wiederverwendbaren Sarg, der nur zum Transport des Leichnams verwendet, aber nicht mit ins Grab versenkt wurde. Vgl. Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 195.

Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

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stellte Franz Pietznigg in Vergleich zu Berlin fest: „In Wien ist das ärmste Haus mit Doppelfenstern (selbst im Sommer) versehen, die ebenso bequem als öconomisch sind, da sie ein Drittel des Holzes zur Heizung überflüssig machen […]. In Berlin fehlt es an drei wichtigen Gegenständen: an Winterfenstern (Doppelfenstern), Hausmeistern und Fiakern.“8 Auch bei der Verkohlung des Holzes zu Holzkohle konnten die Sparbemühungen erfolgreich ansetzen: Die Umstellung von liegenden auf stehende bzw. runde Meiler im frühen 19. Jahrhundert brachte etwa 15 Prozent Holzersparnis.9 Rationalisierungserfolge stellten sich auch in der Industrie ein. Musste bei der Eisenverhüttung im 16. und 17. Jahrhundert noch die etwa zweieinhalbfache Gewichtsmenge des eingesetzten Erzes an Holzkohle aufgewendet werden, so konnte dieser Wert bis 1810 auf rund 110 Prozent und bis 1850 auf 80 bis 90 Prozent reduziert werden. Am Endpunkt der Entwicklung der steirischen Holzkohlenhochöfen um 1880 pendelte sich der Kohlenverbrauch bei rund 66 bis 70 Prozent des Erzeinsatzes ein. d) Verlagerungsstrategien Noch um 1800 bewegten sich die Holzpreise in Österreich zwischen nahezu null in urwaldähnlichen Standorten fern der Ballungsräume und Verkehrswege und geradezu astronomischen Höhen in den Zentren des Verbrauchs. Bis zum Aufkommen der Eisenbahnen war der Wassertransport mittels Trift und Flößerei die einzige Möglichkeit, Holz über weitere Strecken zu einigermaßen konkurrenzfähigen Preisen zu transportieren. Die Holzarbeit und noch viel mehr der Transport und die Errichtung und Instandhaltung der teuren Holzriesen und Holzrechen zum Taltransport und Auffangen der Scheiter, der Kanäle, bisweilen mit teuren Tunneln und Erdarbeiten, und der komplexen Holzaufzüge bot vielen Leuten eine saisonale Beschäftigung. Die Holzknappheit war durch die Schwierigkeit des Holztransportes in jeder Gewerberegion ein alltägliches Problem; es gab den Typus der Dauerklage über Holzmangel. Der schreiende Kontrast zwischen dem langsamen Wachstum der Bäume und dem gewaltigen Anblick der in Salinen oder auf den Wiener Legstätten gelagerten Holzmengen hatte etwas Beeindruckendes und sinnlich leicht Erfassbares. Häufig verlagerte sich der Verbrauch durch die Dezentralisierung oder den Standortwechsel stark wärmeabhängiger Industriezweige und durch das Verbot energieintensiver Branchen (Glas, Eisenindustrie, Metallschmelzen, Salzsiederei, Ziegelwerke etc.) in den urbanen Zentren in die Richtung der noch nicht genutzten 8 9

Ebd.; vgl. Franz Pietznigg: Mittheilungen aus Wien. Zeitgemälde des Neuesten und Wissenswürdigsten aus dem Gebiete der Künste und Wissenschaften. Wien 1833, S. 10 f. Franz Mittermüller: Holzkohle für Innerberg. Zur Brennstoffversorgung eines Reviers vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Diplomarbeit Univ. Graz 1994, S. V, 218; Ders.: Holzkohle für Innerberg. Technische und forstliche Aspekte zur Brennstoffversorgung eines Reviers vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 87 (1996), S. 41–85.

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Roman Sandgruber

Wälder. Die Glashütten wanderten. Wo ein Standortwechsel nicht möglich war, blieb nur der Aufbau sehr weiter und aufwendiger Zubringerstrecken für Holz als Lösung. Der Wassertransport war die einzige Möglichkeit, um Holz über etwas größere Entfernungen kostengünstig transportieren zu können: Die Flusssysteme der Alpen boten für Holztrift und Holzflößerei zwar gute Voraussetzungen; sie machten dennoch sehr teure Wasserbauarbeiten notwendig: die Errichtung von Riesen, der Bau von Schwemmkanälen (oft mit Tunneln, bisweilen sogar mit Holzaufzügen, um Wasserscheiden überwinden zu können), die Errichtung großer Rechen zum Auffangen der Scheiter, und die aufwendige und auf den schnell fließenden Flüssen auch gefährliche Flößerei. Im Salinenbereich war auch die Errichtung langer Soleleitungen eine Alternative.10 Die größte Herausforderung war die Holzversorgung der städtischen Agglomerationen, insbesondere der rasch wachsenden Hauptstadt Wien. Der Brennholzbedarf Wiens war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rasch angestiegen: von 400.000 Festmetern jährlich um 1760 auf ein Maximum von über einer Million Festmeter in den 1780er Jahren. Dies war eine Zunahme, die weit über das Bevölkerungswachstum hinausging. Von da an bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hingegen fiel der Wiener Brennholzverbrauch der Menge nach zuerst auf etwas über 800.000 Festmeter zurück und stieg von den 1830er in die 1840er Jahre nur mehr leicht, obwohl sich die Einwohnerzahl in diesem Zeitraum mehr als verdoppelte. Pro Kopf bedeutete dies eine Reduktion von ca. 4 m3 um 1800 auf etwa 1,9 m3 um 1850, wobei die Verwendung von Mineralkohle auch um die Jahrhundertmitte in Wien noch kaum Bedeutung hatte. Dies mag einerseits als Folge eines durch zunehmende Pauperisierung und relative Preisänderung hervorgerufenen Konsumverzichts zu sehen sein, andererseits auch als Resultat verbesserter Wirkungsgrade der Raumheizungen, Kochstellen und gewerblichen Nutzungen. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reduzierte sich der Wiener Brennholzverbrauch auf ein Drittel der früheren Höhe, pro Kopf auf etwa 0,4 m3 im Jahr. Dies war nun allerdings die Folge der forcierten Umstellung auf Mineralkohle.11 Die Holzversorgung Wiens erfolgte um 1850 zu drei Vierteln auf dem Donauweg (davon etwa 60 Prozent aus Niederösterreich, 25 Prozent aus Oberösterreich und 15 Prozent aus Bayern, Salzburg und Tirol), zu 20 bis 25 Prozent aus dem Wienerwald und zu einem geringen Teil aus dem südlichen Niederösterreich über den Wiener Neustädter Kanal, wobei der Einzugsbereich immer weiter ausgedehnt

10

11

Gabriel Bodi: Die Schwechattrift. 270 Jahre Brennholztransport um Klausen-Leopoldsdorf und zukünftige Nutzungsmöglichkeiten der Klausanlagen. Diplomarbeit Univ. für Bodenkultur Wien 1993; Robert Kinnl: Die Brennholztrift auf der Schwechat von 1667 bis Mitte des 18. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für Wien. Neue Forschungsergebnisse aus der Zeit hölzerner Triftbauwerke als Beitrag zur Forst- und Landesgeschichte des südlichen Wienerwaldes. Wien 2006; Jiří Záloha: Zur Geschichte der Holzausfuhr aus Böhmen nach Österreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 120 (1975), S. 257–269. Sandgruber: Energieversorgung (wie Anm. 3).

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Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

werden musste. Quantifizierende Befunde zu anderen Städten kommen zu ganz ähnlichen Resultaten.12 Tab. 1: Brennstoffverbrauch in Wien 1760–1850 Jahr 1760/70

Holz

Mineralkohle

Holz

Kohle

Pro Kopf

1000 m3

1000 t

109 Kcal

109 Kcal

106 Kcal

477.4

1780/89

1018.1

1800/09

836.6

1790/99 1810/19 1820/29 1830/39 1840/49

916.0 888.7 827.7 857.2 916.1

0.0 0.0 1.0 6.9 3.1 2.6 4.4

18.4

1374.9 2932.2

0.0

7.9

0.0

14,7

2409.5

27.5

10.5

2383.7

10.5

7.5

2638.1 2559.4 2468.7 2638.5

4.0

12.6 17.7 73.7

11.4 8,5 7.0 6.3

Quelle: Roman Sandgruber: Die Energieversorgung Wiens im 18. und 19. Jahrhundert, in: Andreas Kusternig (Hg.): Bergbau in Niederösterreich. Wien 1987, 459–490; Ders., Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 194–199.

e) Substitutionsstrategien Trotz Einsparungsmaßnahmen war um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Grenze im Holzverbrauch erreicht und die Forstwirtschaft durch Überschlägerung in eine spürbare Klemme gekommen. Die Forstverhältnisse Tirols im Vormärz wurden als alarmierend bezeichnet und die zahlreichen Naturkatastrophen der Überschlägerung aufgrund des Eigenbedarfs und der zahlreichen Exporte zugeschrieben. Der Holzbedarf der steirischen Eisenindustrie war von etwa 504.000 Festmeter im Jahre 1833 auf etwa 880.000 Festmeter um 1850 angewachsen. Das entsprach bei nach12

Wolfram Siemann u. a. (Hg.): Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850). München 2002; darin insbesondere: Christoph Sonnlechner/Verena Winiwarter: Räumlich konzentrierter Verbrauch von Holz. Das Beispiel der Saline Hallein und der Stadt Salzburg vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, S. 55–77; Bernhard Löffler: Waldnutzung, Holzversorgung und Parkbau im Passau des 18. Jahrhunderts, S. 9–38; Elisabeth Johann: Die Holzversorgung Klagenfurts im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 79 ff.; Dies.: Das Holz-Zeitalter. Die städtische Holzversorgung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Karl Brunner (Hg.): Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien. Wien/Köln/Weimar 2005, S. 170–179; Christoph Sonnlechner: Bürger und Wald. Überlegungen zur Nutzung von Wiener Bürgerspitalwäldern im Mittelalter, in: Studien zur Wiener Geschichte 66 (2010), S. 223–255; Joachim Radkau: Das Rätsel der städtischen Brennholzversorgung im „hölzernen Zeitalter“, in: Dieter Schott (Hg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre/Energy and the City in Europe. From pre-industrial Wood-Shortage to the Oil Crisis of the 1970 s. Beiträge auf der 3. Internationalen Stadtgeschichts-Konferenz in Budapest 1996. Stuttgart 1997, S. 43–75.

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haltiger Nutzung etwa 300.000 ha Wald oder fast der gesamten damals forsttechnisch nutzbaren Waldfläche der Steiermark.13 Auch in Kärnten war mit dem raschen Wachstum der Eisenindustrie der Holzverbrauch entsprechend angestiegen. Auch in Niederösterreich war im Vormärz die Holznutzung sehr stark angestiegen. Die Einschlagzahlen im Wienerwald waren von 150.000 m3 im Durchschnitt der Jahre 1825–1832 auf ein Maximum von 236.000 m3 1865–1869 hinaufgeschnellt. In Niederösterreich wurden um 1785 etwa 1,5 Millionen Festmeter Holz, um 1830 etwa 2,1 Millionen jährlich produziert. Nach Schätzungen stieg diese Zahl bis in die 1850er Jahre auf etwa 3,3 Millionen Festmeter. Für Oberösterreichs Holzwirtschaft war einerseits der Bedarf des Salzkammerguts, andererseits der Wiener Markt ausschlaggebend, in der Steiermark und in Kärnten war dies die Eisenindustrie, in Tirol die Metallverhüttung, die Haller Saline und anderes. Die im Vormärz sich häufenden Verkarstungen, Überschwemmungen und Lawinenkatastrophen wurden der Übernutzung der Wälder zugeschrieben.14 Die große Welle zum Schutz des Gebirgswaldes im Interesse der Landeskultur kam in Österreich allerdings erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Zu dieser Zeit traten als Folge der großen Kahlschläge erhebliche landeskulturelle Schäden wie katastrophale Murenabgänge und Überschwemmungen auf. SPANNUNGSFELD DER INTERESSEN Der Wald war bereits seit dem Spätmittelalter ins Spannungsfeld zahlreicher konkurrierender Nutzungsinteressen geraten, zwischen landesfürstlicher und adeliger Jagd, bäuerlicher Waldweide, Streugewinnung und Holznutzung, lokaler Brennund Bauholzversorgung, industriellem Bedarf und kommerzieller Verwertung für den Export. Zum Schutz wichtiger Industrien, der Salinen, Eisenwerke und Schmelzhütten waren die Landesfürsten seit dem 16. Jahrhundert dazu übergegangen, Widmungsbezirke zu definieren, Exportverbote für Holz zu verhängen und Preisregelungen einzuführen. Das Argument des Holzmangels konnte dabei sehr leicht auch zur Bekämpfung unliebsamer Konkurrenz eingesetzt werden, und zwar gerade zu einer Zeit, als zünftlerische Restriktionen als solche in Verruf geraten waren. 13 14

Mittermüller: Holzkohle für Innerberg (wie Anm. 9), S. 41 ff. Wolfgang Ingenhaeff/Johann Bair (Hg.): Bergbau und Holz. Schwazer Silber. 4. Internationaler Montanhistorischer Kongress Schwaz 2005, Tagungsband. Innsbruck 2006; darin insbesondere: Ekkehard Westermann: Konflikte und Probleme bei der Holzversorgung von Berg- und Hüttenbetrieben Mittel- und Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit, S. 337–353; Johannes Lang: Wege aus der Energiekrise. Zum Wechselspiel von Brennholzversorgung und Produktionstechnologie an der spätmittelalterlichen Saline Reichenhall, S. 133–159; Karl-Heinz Ludwig: Der Wald im Bergrecht. Ein Quellenproblem, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Unterinntals, S. 161–179; Josefa Walcher: Brandenberger Holz und Holzkohle als Brennstoffgrundlage für die Schmelzhütten und Bergwerke in Rattenberg und Brixlegg im Überblick, S. 301–320.

Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

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Das Argument des Holzmangels wurde aber auch von den Grund- und Landesherren sehr oft zur Durchsetzung von Herrschaftsrechten auf den Forst herangezogen. Die Waldordnungen, für die Forstgeschichte die umfangreichste Quelle für die Wald- und Holznot, konnten dazu dienen, die landesfürstliche Forstherrschaft auch in den Gemeinde- und Privatwaldungen durchzusetzen, einen Hebel zur Vollendung des absoluten Herrschaftsanspruchs zu bilden, den Vorwand für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Monopolen sowie nicht zuletzt zur ungestörten Ausübung des Jagdfiebers abzugeben. Holzmangel bot den Grundherrschaften auch einen Vorwand, den Bauern zumindest die Errichtung der bei der Jagd hinderlichen hölzernen Zäune zu verbieten, womöglich aber den Zugriff auf den Wald komplett zu entziehen. Die forstliche Eigentumsordnung war unklar. Der Landesherr beanspruchte das Obereigentum an den Wäldern und wollte seinen Untertanen nur ein begrenztes Nutzungsrecht zugestehen. Ähnliches suchten auch die weltlichen und geistlichen Grundherren durchzusetzen. Sowohl in den bürgerlichen Städten und Märkten als auch in den Landgemeinden bestand kommunales Eigentum, das aber in der Regel nicht alle Einwohner einer Stadt- oder Landgemeinde einschloss, sondern nur die behausten Bürger und entsprechend berechtigten Bauern. Dies führt bis heute etwa in Tirol zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Agrargemeinschaften, die sich auf alte Rechte berufen, und der Einwohnerschaft der politischen Gemeinden, die derartiges Eigentum als Gemeinschaftsrecht aller Bewohner verstehen. Die Unklarheit der feudalen Eigentumsverhältnisse, die mit „geteiltem Eigentum“ umschrieben werden, bestand in Tirol vor allem im „geteilten Eigentum“ zwischen landesfürstlichem Obereigentum an den Wäldern und bäuerlichem Nutzungseigentum. In Tirol schwebten im Jahr 1847 Eigentumsprozesse zwischen dem Staat und den Gemeinden bezüglich mehr als 200.000 ha Wald. In Salzburg war 1850 eine Fläche von etwa 150.000 ha zwischen Staat und Bauern strittig, in Kärnten gab es 1863 etwa 40.000 ha landesfürstliche Wälder; davon war bei 23.000 ha das Eigentum zwischen Staat und Gemeinden strittig.15 In Tirol sollten mit dem kaiserlichen Forstregulierungspatent vom 6. Februar 1847 erstens die bestehenden privaten Eigentumsrechte an den Tiroler Wäldern festgestellt (Forsteigentumspurifikation), zweitens die zahlreichen Nutzungsrechte (Einforstungsrechte) der Untertanen an den im Obereigentum des Landesfürsten stehenden Wäldern abgelöst (Forstservitutenablösung) und drittens die nicht vorbehaltenen Wälder in Süd- und Osttirol den Nutzungsberechtigten zu ungeteiltem Eigentum zugewiesen werden. Die Überlassung erfolgte aber nicht direkt an die Nutzungsberechtigten, sondern dem Forstregulierungspatent vom 6. Februar 1847 entsprechend an die Gemeinden.16 15 16

Roman Sandgruber, Der historische Hintergrund der so genannten Haller’schen Urkunden in Osttirol. Gutachterliche Stellungnahme, Manuskript. Linz 2012. Wilfried Beimrohr: Die ländliche Gemeinde in Tirol aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde Nord-, Ost- und Südtirols 72 (1908), S. 161–178; Ernst Bruckmüller: Bäuerliche Gemeinde und Agrargemeinschaft, in: Alfred Hoffmann (Hg.): Bauernland Oberösterreich. Entwicklungsgeschichte seiner Land- und Forstwirtschaft. Linz 1974, S. 118–131; Gerald Kohl/Bernd Oberhofer/Peter Pernthaler (Hg.): Die Ag-

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Damals wie heute war der Hinweis auf die Sparnotwendigkeit für viele Zwecke zu gebrauchen. Man benötigte den Holzmangel, um Rechte behaupten zu können. Die Klage über Holzmangel gehört in eine moral economy hinein, in der zumindest der Idee nach ein Anspruch auf Brennstoffversorgung zum Eigenbedarf bestand, der Holzbedarf also Rechte begründete. In einer reinen Marktwirtschaft hat die Klage ihren Sinn verloren. Ökologisch und wirtschaftsethisch aber hat sie ihren Sinn durchaus beibehalten.

rargemeinschaften in Tirol. LexisNexis 2010; Gerald Kohl u. a. (Hg.): Die Agrargemeinschaften in Westösterreich. LexisNexis 2011; Gerald Kohl: Überlegungen zur „Gemeinde“ der Tiroler Forstregulierung, in: Thomas Olechowski u. a. (Hg.): Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag. Wien 2010, S. 201 ff.; Eberhard W. Lang: Die Teilwaldrechte in Tirol. Wien 1978; Martin Schennach: Das Provisorische Gemeindegesetz 1849 und das Reichsgemeindegesetz 1862 als Zäsur? Reflexionen zum österreichischen Gemeindebegriff im 19. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 120 (2012), S. 369–390; Gerhard Siegl: Der „größte Kriminalfall seit 1945“ oder legitime Sicherung der „alten Rechte“. Eine historische Betrachtung der Tiroler Agrargemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung der sogenannten „Gemeindegutsagrargemeinschaften, in: ÖGL 54 (2010), S. 110–121; Ders.: Die Entstehung der Agrargemeinschaften in Tirol unter besonderer Berücksichtigung der Gemeindegutsagrargemeinschaften, in: Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums 6 (2009), S. 218–240.

TEIL 2: BERGBAU UND RESSOURCENNUTZUNG

UMWELTFAKTOREN IM KOLONIALEN BERGBAU HISPANOAMERIKAS Renate Pieper, Graz Im Rahmen der lateinamerikanischen Geschichte sind Fragen der Umweltgeschichte häufig implizit thematisiert worden. Bereits 1972 legte Alfred W. Crosby seinen Überblick über die Auswirkungen des transatlantischen Austauschs von Fauna und Flora seit dem Eintreffen der Europäer und Afrikaner auf dem amerikanischen Kontinent vor. Dieser Studie folgte 1986 eine pointiertere und überarbeitete Neuauflage unter dem Titel Ecological Imperialism. In diesem Buch stufte Crosby den Einfluss der europäischen und afrikanischen Fauna und Flora in Amerika nicht nur als intensiver, sondern auch als schädlicher ein als die Beiträge Amerikas zur Biodiversität der alten Kontinente.1 Ungeachtet dieses wirkmächtigen Erklärungsansatzes von Crosby zur Bedeutung und Beeinflussung der natürlichen Umwelt im südlichen Amerika in einer überregionalen und langfristigen Perspektive, die seither den umwelthistorischen Diskurs bestimmt hat, fehlt eine Auseinandersetzung mit den mittelfristigen externen Effekten menschlichen Wirtschaftens für die Frühe Neuzeit in den Amerikas, wie sie die Umweltgeschichte für Europa vornimmt.2 Neben den langfristigen Veränderungen auf dem amerikanischen Doppelkontinent, die vor allem die landwirtschaftliche Nutzung und das natürliche Habitat betrafen, sollte man diejenigen Umwelteinflüsse berücksichtigen, die mit den gewerblichen Aktivitäten seit dem Eintreffen der Europäer auf dem amerikanischen Kontinent einhergingen. Die Einführung europäischer Gewerbetechniken veränderte nicht nur die Umwelt in Amerika, sondern der Transfer europäischer Gewerbe wurde seinerseits von den Umweltbedingungen in Übersee geprägt und erforderte technische Anpassungsprozesse. Diese Wechselwirkung zwischen gewerblicher Tätigkeit und naturräumlichen Gegebenheiten soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Zu den wichtigsten hispanoamerikanischen Gewerben gehörten der Abbau und die Verhüttung von Silber. Dieser Wirtschaftszweig war bis zum Ende des Ancien Régime sowohl für Amerika als auch für Europa von größter ökonomischer und politischer Bedeutung und prägte den frühen Globalisierungsprozess wesentlich. 1

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Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport (Conn.) 1972; ders.: Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900–1900. Cambridge 1986. Eine kritische Auseinandersetzung mit Crosby zuletzt bei Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. 2. Aufl., München 2012, S. 188–201. Einen guten Überblick bietet Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. München 2011.

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Dies lässt sich bereits daran erkennen, dass die Besteuerung der Silbergewinnung die höchsten Steuereinnahmen der spanischen Krone in Amerika während der Frühen Neuzeit generierte und die amerikanische Edelmetallproduktion die zeitgenössische europäische Erzeugung um ein Vielfaches übertraf.3 Der große Umfang der Silberproduktion in Amerika verursachte nicht nur entsprechende Eingriffe in die Umwelt, sondern die spezifische Ausgestaltung der Silbergewinnung wurde ihrerseits durch die in Übersee gegebenen Umweltfaktoren geprägt. Diese Wechselwirkungen gilt es zu berücksichtigen, denn sie führten dazu, dass der großtechnisch betriebene Silberbergbau in Amerika mit Transferprozessen aus Europa begann, bei denen europäische Technologien verändert wurden, um sie den amerikanischen Umweltbedingungen anzupassen. Erst danach ergänzten die veränderten europäischen Techniken diejenigen der lokalen Bevölkerung oder ersetzten diese teilweise. Nach mehr als einem Jahrhundert begann man damit, die in Amerika weiterentwickelten Technologien wieder nach Europa zu transferieren, wobei sie wiederum an die europäischen Umweltbedingungen angepasst werden mussten. In Hispanoamerika hatten sich die Bedingungen durch den fortgesetzten Bergbau ebenfalls verändert, so dass es auch hier zu neuerlichen Anpassungsprozessen kam. Diese Wechselwirkungen zwischen Silberbergbau und amerikanischer Umwelt sollen im Folgenden analysiert werden. Dabei stehen die Perioden von 1580–1621 und von 1775–1797 im Zentrum der Analyse. In diesen beiden Epochen erreichte die jährliche Silberproduktion mit 9–13 Mio. Pesos (ca. 1–1,4 Mio. Mark Silber) sowie mit 19–29 Mio. Pesos (ca. 2–3 Mio. Mark Silber) jeweils ein Maximum. Während der ersten Periode stellte das Revier von Potosí in Hochperu, im heutigen Bolivien, den überwiegenden Teil der Silberausbeute bereit. Innerhalb der zweiten Epoche lieferten die neuspanischen/ mexikanischen Reviere den größten Teil der Produktion, allerdings verteilte sich der Silberabbau in Neuspanien auf eine Vielzahl von Lagerstätten.4 Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die Silberproduktion in Mitteleuropa ihr erstes Maximum in der Frühen Neuzeit in den 1540–1550er Jahren erzielte, als nach den Schätzungen Soetbeers für „Deutschland und Österreich-Ungarn“ 100.000 kg (ca. 4 Mio. Pesos) gewonnen wurden. Damit hätte die Förderung in Mitteleuropa diejenige Hispanoamerikas um die Mitte des 16. Jahrhunderts noch übertroffen. In der Folgezeit ging die Erzeugung in Mitteleuropa zurück, während sie in Hispanoamerika exponentiell stieg. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sich die gesamte mitteleuropäische Silberproduktion wieder so weit steigern können, dass sie sich

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Herbert S. Klein: The American Finances of the Spanish Empire. Royal Income and Expenditures in Colonial Mexico, Peru, and Bolivia, 1680–1809. Albuquerque 1998. Zusammenstellung bei: Richard Garner: Inside my Desk. Economic History Data Desk, TePaske Page: Gold and Silver Registrations for the Spanish Colonial Viceroyalties and for the Colony of Brazil, 1492–1810; zwei files: Mexico Silver und Peru Silver, http://www.insidemydesk.com/hdd.html [10.1.2014]; Bernd Hausberger: La Nueva España y sus metales preciosos. La industria minera colonial a través de los ‚libros de cargo y data‘ de la Real Hacienda, 1761–1767. Frankfurt a. M. 1997.

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auf 2 Mio. Pesos (ca. 0,2 Mio. Mark Silber) belief und somit ein Zehntel derjenigen Spanischamerikas betrug.5 Um auf lokale Wechselwirkungen zwischen Natur und Bergbau eingehen zu können, werden zwei hispanoamerikanische Reviere exemplarisch herausgegriffen: Potosí, das um 1600 etwa ⅔ des amerikanischen Silbers für den „europäischen Weltmarkt“ lieferte, und Guanajuato in Zentralmexiko, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine herausragende Produktionsstätte war. Zu Vergleichszwecken wird auf die Situation im sächsischen Freiberg im Erzgebirge hingewiesen, das bedeutendste mitteleuropäische Revier im 18. Jahrhundert. Die historische Forschung hat sich ausführlich mit dem hispanoamerikanischen Silberbergbau befasst. So analysierten John J. TePaske und Herbert S. Klein die quantitative Entwicklung des Silberbergbaus anhand des Steueraufkommens.6 Peter Bakewell, Jeffrey Cole und Enrique Tandeter untersuchten die Arbeitsbedingungen, insbesondere die mit’a minera, die Hand- und Spanndienste der lokalen, indigenen Bevölkerung Hochperus.7 Auf die Interaktion mit der natürlichen Umgebung ging keine dieser Studien ein. Einzig Ursula Ewald befasste sich intensiver mit den Umweltbedingungen im Bergbau und hob dabei die schwierigen klimatischen Verhältnisse hervor. Allerdings behandelte Ewald den Salzabbau und nicht die Silbergewinnung.8 Jüngst erschien die Studie von Nicholas A. Robins zum größten Quecksilberbergwerk Perus, Huancavelica, und den dort durch die Quecksilberproduktion verursachten Schäden. Hierbei geht Robins auch auf die ökologischen Auswirkungen des im Verhüttungsprozess der Silbererze eingesetzten Quecksilbers in Potosí ein. 9 So zentral die Analyse der auf die Freisetzung von Quecksilber in Peru und Bolivien zurückgehenden Schäden auch ist, so sehr fehlt eine entsprechende Untersuchung anderer, insbesondere großer mexikanischer Silberproduktionsstätten ebenso wie die Auseinandersetzung mit anderen umweltwirksamen Effekten des großangelegten Edelmetallbergbaus. Diese nimmt auch Kendall W. Brown in seinem Überblick über den lateinamerikanischen Bergbau nur sehr am Rande vor.10 Somit steht eine umfassende Studie zu den ökologischen Auswirkungen und Bedingungen des kolonialen Silberbergbaus und der Verhüttung noch aus, 5 6 7

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Adolf Soetbeer: Edelmetall-Produktion und Wertverhältniss zwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerika’s bis zur Gegenwart. Gotha 1879, S. 107–110; S. 21: gibt für 1540–1550 die durchschnittliche Jahresproduktion Deutschlands mit 40.000 Pfund Feinsilber an. John J. TePaske: A New World of Gold and Silver, hg. v. Kendall W. Brown. Leiden 2010; Klein: American Finances (wie Anm. 3) und Garner: Inside my Desk (wie Anm. 4). Peter J. Bakewell: Miners of the Red Mountain: Indian Labor in Potosí, 1545–1650. Albuquerque 1984; Jeffrey A. Cole: The Potosi Mita 1573–1700. Compulsory Indian Labor in the Andes. Stanford 1985; Enrique Tandeter: Coercion and Market: Silver Mining in Colonial Potosi, 1692–1826. Albuquerque1993. Ursula Ewald: La industria salinera de México, 1560–1994. México 1997. Nicholas A. Robins: Mercury, Mining, and Empire. The Human and Ecological Cost of Colonial Silver Mining in the Andes. Bloomington 2011. Vgl. auch Kendall W. Brown: Workersʼ Health and Colonial Mercury Mining at Huancavelica, Peru, in: The Americas 57 (2001), S. 467–496. Kendall W. Brown: A History of Mining in Latin America: From the Colonial Era to the Present. Albuquerque 2012.

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obwohl dieser Wirtschaftszweig für die imperiale Ökonomie und die entstehende Weltwirtschaft eine zentrale Bedeutung besaß. Diese Forschungslücke kann auch im folgenden Beitrag nicht geschlossen werden, vielmehr sollen einige grundlegende Aspekte erörtert werden, um die umwelthistorische Dimension der Silbererzeugung in Hispanoamerika abzuschätzen. Um sowohl den Einfluss der natürlichen Gegebenheiten auf den Bergbau als auch die Beeinflussung der Ökologie durch den Bergbau zu analysieren, sind zunächst die geographisch-klimatischen Bedingungen der hispanoamerikanischen Reviere herauszuarbeiten. Sodann ist auf die Frage einzugehen, wie die naturräumlichen Gegebenheiten die Beschaffung von Baumaterialien und Betriebsstoffen sowie die Energieversorgung und damit die technische Entwicklung der Silbergewinnung beeinflussten. Der dritte Abschnitt befasst sich mit den externen Effekten des Produktionsprozesses, dem Abraum, den Abwässern und der Abluft. In den einzelnen Abschnitten werden auch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des hispanoamerikanischen und des zentraleuropäischen Bergbaus thematisiert, um die ökologischen Besonderheiten der Edelmetallgewinnung in Spanischamerika während der Frühen Neuzeit herauszuarbeiten. 1. KLIMA, FAUNA UND FLORA Die Lagerstätten der hispanoamerikanischen Silbererze konzentrierten sich, soweit sie in der Kolonialzeit bekannt waren, in Südamerika auf den zentralen Andenraum. Das hochperuanische Revier Potosí wurde seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Zentren. Auf 4.000 m über dem Meeresspiegel gelegen, handelt es sich um ein arides Gebiet mit sehr geringen Niederschlägen (340 mm), die sich zudem auf die Sommermonate November bis März konzentrieren. Die gleichmäßige mittlere Tagestemperatur von 11 °C verdeckt große Schwankungen zwischen Tag und Nacht, die bis zu 20 °C betragen können. Daher kommt es im Winter mitunter zu vergleichsweise strengen Nachtfrösten. Die im hoch andinen Gebiet lebenden kleineren Tiere und der Strauchbewuchs konnten weder die Nahrungsversorgung des seit 1570 stetig wachsenden Bergbaureviers decken, noch ausreichenden Antrieb für die Geräte und hölzernen Maschinen sicherstellen. Einzig das im Andenraum heimische Lama wurde zu Transportzwecken eingesetzt. Der Holzmangel der Region wird durch die nahezu mythische Beschreibung von Potosí zum Zeitpunkt der Registrierung von Edelmetallvorkommen durch die Spanier illustriert, nach der zur damaligen Zeit lediglich zehn bis zwölf Bäume auf der Spitze des Berges standen. Hierbei handelte es sich um die strauch- und baumartigen Rosengewächse (polylepis incana), die zwischen 1–4 Metern Wuchshöhe erreichen können.11 Somit erfolgte der Silberbergbau in Potosí von Beginn an unter äußerst schwierigen Umweltbedingungen. Es mangelte an Wasser, Bau- und Brennholz so11

Pedro Cunill Grau: El paisaje andino: punas, salares y cerros, in: Juan Marchena Fernández (Hg.): Potosí. Plata para Europa. Sevilla 2000, S. 73–104, hier 84. Es handelt sich um die polylepis incana.

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wie Holzkohle für den Betrieb der Minen und Hütten, und zudem fehlte es an Zugtieren und ausreichender Nahrungsversorgung für die wachsende Bevölkerung. Im Vergleich zur Situation in Hochperu stellte sich die Lage in Neuspanien gemäßigter dar. Die bedeutenderen bekannten Lagerstätten befanden sich nördlich von Mexiko-Stadt. Eines der größeren Reviere war dasjenige von Guanajuato, das auf 2.000 m über dem Meeresspiegel in einem vergleichsweise ariden Gebiet mit gemäßigten Niederschlägen (700 mm) liegt, die sich auf die Sommermonate konzentrieren. Die gemäßigte Temperatur von 18 °C ist im jahreszeitlichen Verlauf ziemlich konstant, es gibt im Allgemeinen keine Fröste und nur geringere Temperaturschwankungen im Tagesverlauf. Zwar fehlt unmittelbar vor Ort ausgedehnte Landwirtschaft, aber im nahegelegenen fruchtbaren Bajío wurde seit alters her Mais angebaut, und in den weiter nördlich gelegenen Gebieten entwickelte sich eine umfangreiche Rinderzucht. Allerdings fehlte ausgedehntere Bewaldung. Damit stand der Bergbau sowohl in Süd- als auch in Nordamerika vor fundamental anderen natürlichen Gegebenheiten als in Mitteleuropa. Beispielsweise verfügte das sächsische Freiberg über Ackerbau, Viehzucht und Waldflächen in seinem Umland. Die gemäßigten Niederschläge verteilen sich gleichmäßig über das ganze Jahr. Im Vergleich zu den erwähnten amerikanischen Revieren weist Freiberg mit 7 °C eine sehr niedrige durchschnittliche Jahrestemperatur auf, die den am stärksten ausgeprägten jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt, die aber im Tagesverlauf deutlich geringer sind als in Übersee. Diese zwischen Europa und Amerika stark divergierenden naturräumlichen und klimatischen Verhältnisse beeinflussten die Verwendung europäischer Technologien im amerikanischen Berg- und Hüttenwesen. Die Weiterentwicklung und Anpassung der aus Europa stammenden Verfahren führten in Amerika dann zu Umwelteffekten, die sich von denen in Europa unterschieden. 2. EINFLUSS DER UMWELT AUF DIE EDELMETALLPRODUKTION Die in Amerika und Europa unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Edelmetallbergbau sowie dem dazugehörigen Hüttenwesen betrafen insbesondere den Holzbedarf, die Wasserversorgung sowie die Entwässerung und Bewetterung (Belüftung). Letztere wurden von der Anlage und Planung der Stollen und Schächte beeinflusst. Alexander von Humboldt bemängelte in seinem Bericht über den Bergbau von Neuspanien um 1800 die außerordentlich große Ausdehnung der Stollen. Diese habe gemäß den Angaben der Betreiber der besseren Bewetterung gedient. Humboldt verwies aber darauf, dass dieser Effekt auch durch kleinere und damit kostengünstigere Stollen zu erreichen sei, wenn diese miteinander verbunden würden. Dies würde allerdings eine Gesamtplanung im Revier voraussetzen.12 Da in Hispanoamerika alles von privaten Unternehmern betrieben würde, 12

Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien, 4. Band, Buch IV, Kap. IX. Tübingen 1813, S. 95. Zu Humboldts Einschätzung des Bergbaus in Mexiko: Eduardo Flores Clair/Cuauhtémoc Velasco Ávila: Los pasos de Alejandro de

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fehle die Koordination. Humboldt hob mit dieser kritischen Stellungnahme die Vorteile der fürstlichen Planung und Organisation durch preußische, sächsische oder österreichische Bergbaubeamte im Rahmen des Direktionsprinzips hervor.13 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die mexikanischen Bergwerke bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts noch so ergiebig waren und so gewinnbringend arbeiteten, dass es genügend private Investoren gab und daher eine direkte Intervention der spanischen Krone noch nicht erforderlich war. Erst Ende des 18. Jahrhunderts begannen einzelne Bergwerksbetreiber in Mexiko damit, sich zusammenzuschließen, um Entwässerungsschächte und gemauerte oder in Stein gehauene Kanäle anlegen zu lassen.14 Hölzerne Bewetterungs- oder Entwässerungsmaschinen setzte man hingegen nicht ein. Im Gegenteil, die Nordenflycht-Expedition nach Potosí scheiterte Ende des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen an dem Widerstand der einheimischen Bergleute.15 Die vom schwedischen Baron und Bergwerksfachmann Thaddäus von Nordenflycht vorgeschlagenen hölzernen Pumpen für die Entwässerung und Bewetterung wurden als zu teuer eingestuft, denn schon die Reparaturen seien zu aufwändig, da man nicht über das hierzu nötige Bauholz verfüge. So wurde Wasser weiterhin in Ledersäcken abtransportiert, und Stollen und Schächte waren entsprechend groß dimensioniert, um eine ausreichende Luftzirkulation zu ermöglichen. Der nur sparsame Einsatz von Bauholz machte sich auch bei der Abstützung der Stollen bemerkbar. Im Gegensatz zu mitteleuropäischen Darstellungen fällt in Humboldts Beschreibung des zentralen Stollens der größten Grube im mexikanischen Guanajuato, der Valenciana, auf, dass er sich nur lobend auf das Mauerwerk bezieht.16 Folgt man zeitgenössischen Berichten bzw. Klagen über den Abbau von stützendem, erzhaltigem Gestein in Potosí, galt dies auch in Hochperu.17 Das bedeutet, dass die Art des Gesteins es sowohl in Guanajuato als auch in Potosí ermöglichte, an vielen Stellen auf Mauer- oder Zimmerwerk zu verzichten.18 Die Aussparung silbererzhaltiger Stützmauern in den peruanischen und mexikanischen

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Humboldt por la minería novohispana, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 42 (2005), S. 47–57. Humboldt: Versuch (wie Anm. 12), S. 94. Zur Bedeutung staatlicher Präsenz in den Hispanoamerikanischen Bergbauzentren siehe Renate Pieper: Die Reviere von Hochperu und Neuspanien als Sozialregionen (16.–18. Jahrhundert), in: Angelika Westermann (Hg.): Montanregion als Sozialregion. Zur gesellschaftlichen Dimension von „Region“ in der Montanwirtschaft. Husum 2012, S. 253–266. Die Krone beließ es bei Subventionen: Rafael Dobado/Gustavo A. Marrero: The Role of the Spanish Imperial State in the Mining-led Growth of Bourbon Mexicoʼs Economy, in: Economic History Review 64 (2011), S. 855–884. Humboldt: Versuch (wie Anm. 12), S. 66, 84 f. Marie Helmer: La mission Nordenflycht en Amérique espagnole (1788). Échec d’une technique nouvelle, in: Asclepio 39 (1987), S. 123–143. Humboldt: Versuch (wie Anm. 12), Buch IV, Kap. XI, S. 95; auf S. 101 finden sich mehrere Hinweise zu den Problemen, die der Holzmangel verursacht. Guillermo Mira: Panorama de la organización y las bases de la producción de Plata en Potosí durante el período colonial (1545–1825), in: Fernández (Hg.): Potosí (wie Anm. 11), S. 105– 124, hier 121. Für diesen Hinweis möchte ich mich bei meinem Kommentator Dr. Helmut Lackner vom Technischen Museum Wien bedanken.

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Bergwerken weist zudem darauf hin, dass zumindest bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Kosten für das für die Zimmerung benötigte Holz oder für das ebenfalls Brennstoff benötigende Mauerwerk höher waren als der Gewinn aus dem Abbau der stützenden silberhaltigen Pfeiler. Damit unterschied sich die Situation unter Tage deutlich von der in Europa, denn in Freiberg benutzte man seit dem Mittelalter Holz zur Abstützung der Schächte. Darüber hinaus entwickelte man seit dem 16. Jahrhundert die ersten Pumpen für die Wasserhaltung, die Georg Agricola19 in seinem Werk De re metallica abbildete. Selbst wenn der Einsatz menschlicher Arbeitskräfte, die Wasser in Säcken oder Bottichen abtransportierten und einfache Haspeln einsetzten, auch in Europa noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts üblich war, ging man dort seit Anfang des 18. Jahrhunderts verstärkt zum Einsatz hölzerner Maschinen über, wie nicht zuletzt die in Bolivien vergeblichen Appelle des Thaddäus von Nordenflycht erkennen lassen. Vergleicht man zeitgenössische Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert, so fällt auch hier der Holzmangel in Hispanoamerika auf. In den Abbildungen von Georg Agricola werden zahlreiche hölzerne Geräte gezeigt, bis hin zur hölzernen Leiter.20 In den Kupferstichen von Theodor de Bry21 hingegen mangelt es innerhalb und außerhalb des Berges von Potosí an Wald, Bäumen und Holz. De Bry gab in Frankfurt am Main seit 1590 populäre Reiseberichte neu heraus und versah sie mit gut verkäuflichen Kupferstichen, die zwar viele europäische Elemente enthielten, aber dennoch die aus den Reiseberichten zu entnehmenden außereuropäischen Besonderheiten hervorhoben. Im Falle der Darstellung von Potosí handelte es sich im Text um die Edition und Illustration des Augenzeugenberichts des Jesuiten José de Acosta, der in den 1570er Jahren in Peru und Hochperu tätig war. So wird nicht nur der Baumbewuchs des Reviers von Potosí als spärlich dargestellt, sondern die Leitern sind gemäß der lokalen hochandinen Tradition geflochten, das Gestein wird nicht in hölzernen Kisten über hölzerne Schienen transportiert, sondern in Säcken auf dem Rücken getragen. Einzig Eisenwerkzeuge verweisen eindeutig auf die Aneignung europäischer Technologie. Aber ebenso wie Holz war auch Eisen extrem teuer, da es aus Europa importiert werden musste und eine so hohe Wertschätzung besaß, dass es im Amazonasgebiet als Zahlungsmittel umlief. Gleichwohl konnte an einigen Stellen die europäische Technik mit ihrem massiven Holzeinsatz nicht ersetzt werden, so bei den Pochwerken. Dies zeigt die Gegenüberstellung der Illustration bei Agricola mit einem aktuellen musealen Nachbau in Potosí. Aber auch bei den Pochwerken stand in Potosí Mauerwerk und nicht

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De re metallica libri XII von Georgius Agricola. Basel (Froben) 1561, insbesondere S. 137– 155. Ebd., S. 113, 125, 133, 137–155. Selbst wenn es sich bei diesen Abbildungen nur um allgemeine Veranschaulichungen ohne technische Details handelt, so ist der umfangreiche Einsatz von Holz doch ersichtlich. Theodor De Bry (Witwe und Söhne): Americae nona & postrema pars. Frankfurt (M. Becker) 1602; Library of Congress, The Kraus Collection of Sir Francis Drake, rbdk d031_0468 http:// hdl.loc.gov/loc.rbc/rbdk.d031_0468; image 902 [5.5.2015].

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eine Holzkonstruktion zwischen dem hölzernen Schaufelrad und dem Pochstempel.22 Zum Holzmangel kam insbesondere in Potosí durch die geringen und auf wenige Monate konzentrierten Niederschläge auch noch Wassermangel hinzu. Daher wurden in den 1570er Jahren unter Vizekönig Francisco de Toledo natürliche Wasserbecken zu Stauseen erweitert und vernetzt, um das Wasser über einen großen Aquädukt in die Stadt zu leiten. Wasser wurde zum Antrieb der Pochwerke, aber auch für die Waschvorgänge bei der Verhüttung benötigt. Die Kapazität der Staubecken reichte lediglich für die halbwegs kontinuierliche Versorgung der Pochwerke in den Sommermonaten aus; für den weiteren Antrieb sorgten Rinder. Das Wasser, das zum Antrieb benutzt wurde, leitete man anschließend in Kanälen zu den verschiedenen Schlämmvorrichtungen der Hüttenbetriebe. Als Folge des Wassermangels musste die Edelmetallproduktion in Potosí häufig in den Wintermonaten eingestellt werden.23 Diese extreme Situation konnte in den großen mexikanischen Revieren vermieden werden. Da die Niederschlagsmenge in Guanajuato doppelt so hoch ist wie in Potosí und ein kleiner Fluss durch die Stadt fließt, kam es nicht zu Engpässen bei der Wasserversorgung. Entscheidender war in Mexiko der Brennstoffmangel. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatte man entweder die Verhüttung der indigenen Bevölkerung überlassen, die kleinere Mengen Silber aus dem gemahlenen Gestein in mit Maisbriketts befeuerten Öfen ausschmolz, oder europäische Hüttenbetreiber schmolzen das Metall bisweilen unter Zusatz von aus Europa importiertem Blei aus dem Erz. Als aber nach weniger als zwei Jahrzehnten24 die reichen Erzvorkommen Zentralmexikos erschöpft waren, erwiesen sich insbesondere die europäischen Verfahren, mit denen größere und geringhaltigere Erzmengen ausgebeutet wurden, als zu brennstoffintensiv. Nun adaptierte man 1554 das aus der Goldverhüttung seit der Antike bekannte Amalgamationsverfahren für die Silberverhüttung in Zentralmexiko, und im folgenden Jahr meldete der spanischstämmige Hüttenfachmann Pedro de Medina ein Patent für sechs Jahre an. Das gestampfte silberhaltige Erz wurde unter Zugabe von Kochsalz und geröstetem Pyrit in feuchtem Zustand mit Quecksilber vermengt. Der entscheidende Punkt, der den klimatischen Bedingungen Zentralmexikos Rechnung trug, war, dass die Silbererzmischung nicht wie bisher beim Saigerverfahren mit Blei vermengt und durch starkes Erhitzen verflüssigt wurde, so dass das Silber mit dem Blei eine Legierung einging, sondern dass die Quecksilber-Silbermischung zwei bis drei Monate unter freiem Himmel lagerte und nur von Zeit zu Zeit umgewälzt wurde. Die Sonneneinstrahlung und die durchschnittliche Jahrestemperatur von 18 °C reichten für die Amalgambildung, d. h. Silber-Quecksilberlegierung, aus. Sobald der Amalgamationsprozess beendet war, wurde die Mischung gewaschen, wobei sich das schwere Silberamalgam absetzte. In einem Destillationsprozess wurde dann das Quecksilber vom Silber geschieden, und es gelang dabei, einen Teil des Quecksilbers zurückzugewinnen. Da die Amal22 23 24

Fernández (Hg.): Potosí (wie Anm. 11), S. 95. Grau: Paisaje (wie Anm. 11), S. 91. Die Fugger engagierten sich 1536 in Sultepec; seit 1545 wurden die Vorkommen in Zacatecas und seit 1548 Guanajuato ausgebeutet.

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gamierung unter freiem Himmel in den z. T. riesigen Innenhöfen der Hüttenbetriebe erfolgte, erhielt die Methode den Namen „Patio-Verfahren“. Die Nachteile des Verfahrens bestanden in einer monatelangen Produktionsdauer und damit entsprechend langen Kapitalbindung und in der Abhängigkeit von Quecksilberlieferungen, die aus Almadén in Andalusien und aus Idria in Slowenien nach Mexiko verschifft werden mussten. Diese Nachteile wurden durch den äußerst geringen Brennstoffbedarf des Patio-Verfahrens, das auch Erze mit sehr niedrigen Silberkonzentrationen gewinnbringend verarbeiten konnte, mehr als aufgewogen. Unter dem bereits erwähnten peruanischen Vizekönig Francisco de Toledo wurde das Amalgamationsverfahren in den 1570er Jahren auch in Potosí eingeführt. Gleichzeitig nahm der Vizekönig den Betrieb der Quecksilberminen im peruanischen Bergwerksort Huancavelica in die königliche Verwaltung auf und enteignete die spanischstämmigen Betreiber, um die Versorgung mit dem für das PatioVerfahren so wichtigen Quecksilber abzusichern. In Potosí verkaufte die spanische Kolonialverwaltung das Metall nur an die großen europastämmigen Hüttenbetreiber, daher büßten die indigenen Hüttenbesitzer mit ihren mit getrocknetem Dung betriebenen Schmelzöfen sehr schnell ihre Konkurrenzfähigkeit ein. Wegen der deutlich niedrigeren Tagestemperaturen in Potosí im Vergleich zu denjenigen in Zentralmexiko benötigte das Patio-Verfahren in Hochperu deutlich längere Zeit, d. h. drei bis vier Monate. Daher experimentierte man sehr bald mit der Erhitzung der Silber-Quecksilbermasse in Eisenkesseln. Als die Erzqualität zu Beginn des 17. Jahrhunderts sank, griff man verstärkt auf das vom Priester Alonso Barba 1590 entwickelte und den Verhältnissen von Potosí auf 4.000 m über dem Meeresspiegel angepasste Verfahren zurück, um den Amalgamationsprozess in Kupferkesseln, die ebenfalls erhitzt wurden, zu beschleunigen. Dabei trat nicht nur das Problem auf, dass sich das Silberamalgam teilweise mit dem Kupfer verband, sondern sich außerdem der Brennstoffbedarf erhöhte. Das Verfahren von Barba fand dennoch gute Akzeptanz in Hochperu, da es die Produktionsdauer deutlich verkürzte. Der Erfolg war so groß, dass Barba die Beschreibung seines Verfahrens 1640 in Madrid publizieren ließ.25 Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts fand es auch in Nord- und Mitteleuropa insbesondere beim österreichischen Hüttenfachmann Ignaz von Born26 sowie in der Bergakademie von Freiberg Beachtung, ohne dass es sich hier jedoch als gängiges Verhüttungsverfahren durchsetzte. Dies dürfte zum einen auf die unerwünschte Verbindung der Silbererz-Quecksilbermischung mit den Kupferkesseln zurückzuführen sein und zum anderen auf zu geringe Kostenersparnisse. So war Brennholz in Mitteleuropa zwar ebenfalls knapp, aber wesentlich einfacher zu beschaffen als in Potosí. Auch in Mexiko konnten Mineralogen wie Friedrich Sonnenschmidt, Ludwig Lindner, Juan Garcés y Eguía oder der in Freiberg ausgebildete Fausto de Elhuyar27 keine Verbesserung der Amalgamation mit den von Barba und 25 26

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Álvaro Alonso Barba: Arte de los metales. Madrid 1640. Einen Vergleich der in Guanajuato, Freiberg und durch Ignaz von Born angewandten Verfahren nehmen Humboldt: Versuch (wie Anm. 12), S. 112–120, und Friedrich Traugott Sonnenschmidt: Beschreibung der spanischen Amalgamation oder Verquickung des in den Erzen verborgenen Silbers. Leipzig 1810, vor. María Cristina Torales Pacheco: Apuntes para el estudio de la presencia de la Ilustración ale-

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Born entwickelten Verfahren erzielen, da die Anschaffungskosten der Kupferkessel und die Kosten der Befeuerung die durch die kürzere Kapitalbindung erzielten Einsparungen wieder aufwogen. So war es vor allem der Holzmangel in den spanisch-amerikanischen Bergwerksregionen, der dazu führte, dass dieser über viele Kilometer, große Höhenunterschiede und auf dem Landwege zu beschaffende Betriebsstoff sehr sparsam eingesetzt wurde und zur Entwicklung neuer Verhüttungstechnologien in Hispanoamerika führte. Allerdings bremste der Holzmangel im ausgehenden 18. Jahrhundert in Peru und Bolivien auch die weitergehende Mechanisierung der Bergwerke, insbesondere bei der Entwässerung und Bewetterung. Somit war es Holzmangel und nicht, wie Nordenflycht annahm, die grundsätzliche Ablehnung technischer Neuerungen, der Ende des 18. Jahrhunderts einen deutlichen Anstieg der Silberproduktion im Andenraum verhinderte. 3. EINFLUSS DER EDELMETALLPRODUKTION AUF DIE UMWELT Während die Umweltbedingungen die Techniken der Silberproduktion in Hispanoamerika beeinflussten, so veränderte der Edelmetallbergbau seinerseits die Umwelt. Dabei ergaben sich externe Effekte nicht nur in der unmittelbaren Umgebung der Berg- und Hüttenwerke Amerikas, sondern sie reichten teilweise bis nach Europa. Der Abraum und die durch die Gewinnung in den Lagerstätten hervorgerufenen Veränderungen und Schäden betrafen die Reviere unmittelbar. Der durchschnittliche Silbergehalt der Erze von Guanajuato belief sich auf 3 Promille im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.28 Bei einer Produktion von 500.000 Mark Silber29 (117 Tonnen) pro Jahr entsprach das einer jährlichen Förderung von ca. 40.000 Tonnen Erz, die sich innerhalb von 25 Jahren auf etwa 1 Mio. Tonnen Erz summierten. Hinzu kam ein Vielfaches an taubem Gestein – der Abraum, der am Eingang der Gruben verblieb und hier die lokalen Verhältnisse drastisch veränderte. Zum Vergleich sei auf die Situation im sächsischen Freiberg verwiesen, wo um 1775 etwa 30.000 Mark Silber30 produziert wurden. Da der Silbergehalt des Erzes in Freiberg nur halb so hoch war, fielen ca. 5.000 Tonnen Gestein an, d. h. in 25 Jahren ca. 120.000 Tonnen. Hinzu kam auch in Freiberg eine erhebliche Menge an Abraum. Obwohl die Produktion in Guanajuato im 18. Jahrhundert diejenige von Potosí während seiner Blütezeit um 1600 fast erreichte, wird über Bergschäden durch ein-

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mana en México, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 40 (2003), S. 123–150; Francisco Omar Escamilla González: Luis Fernando Lindner (Schemnitz, ca. 1763–México, 1805): catedrático de química y metalurgia del Real Seminario de México, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 41 (2004), S. 167–197; Juan Garcés y Eguía: Nueva teoría y práctica del beneficio de los metales de oro y plata por fundición y amalgamación. México 1802. Júlio Sánchez Gómez/Renate Pieper: ¿Tras las huellas de un espejismo? La minería en Nueva España y Europa Central en la segunda mitad del siglo XVIII, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 37 (2000), S. 49–72, hier 58. Garner: Inside my Desk (wie Anm. 4), file: Mexico Silver. Soetbeer: Edelmetall-Produktion (wie Anm. 5), S. 110.

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stürzende Gruben seit der Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem aus Potosí berichtet. Da der Silbergehalt der Erze in Potosí seit etwa 1620 deutlich zurückging, trugen die Bergleute die edelmetallhaltigen Stützwände und Pfeiler ab, ohne diese durch Stützmauern oder Zimmerung zu ersetzen. Selbst im 21. Jahrhundert wird Potosí noch bewirtschaftet, und entsprechend kommt es immer wieder zu Meldungen über spektakuläre Bergschäden.31 Ähnliche Entwicklungen sind auch aus europäischen Revieren bekannt. Hingegen verursachten die amerikanischen Bergwerke im Gegensatz zu den europäischen keine Waldschäden, da Brennmaterialien aus Maisabfällen oder Dung gewonnen wurden, nicht aber aus Holz. Abgesehen davon liefen die amerikanischen Verhüttungsprozesse viel energiesparender ab als die europäischen. Dieser ökologische Vorteil wurde allerdings zumindest teilweise durch die Verwendung von Quecksilber statt Blei wieder aufgehoben. Während des absoluten Maximums der amerikanischen Silberproduktion wurden um 1780–1800 pro Jahr etwa 1.200 Tonnen Quecksilber von Almadén in Andalusien über Sevilla nach Amerika exportiert.32 Hinzu kam die Produktion von Huancavelica, die für das ausgehende 18. Jahrhundert höchstens 300 Tonnen im Jahr betragen haben dürfte.33 Somit wären Ende des 18. Jahrhunderts maximal 1.500 Tonnen Quecksilber in allen hispanoamerikanischen Bergwerken eingesetzt worden. Zum Vergleich sei angemerkt, dass Ende des 15. Jahrhunderts, als sich die mitteleuropäische Produktion auf lediglich 10–15 Prozent derjenigen Zentraleuropas im 18. Jahrhundert belief, allein der Rammelsberg 400 Tonnen Blei pro Jahr an die Saigerhütten des Harzes lieferte.34 Hinzu kamen Bleilieferungen aus anderen europäischen Lagerstätten wie aus England, die sich auf alle mitteleuropäischen Lagerstätten verteilten. Daraus ist zu schließen, dass die Bleilieferungen für die europäischen Hüttenwerke um 1800 mengenmäßig weit über den Quecksilberlieferungen für die amerikanischen Hüttenwerke lagen. Die Umweltbelastung durch Quecksilber dürfte aber dennoch höher zu veranschlagen sein, da dieses Metall um ein Vielfaches giftiger ist als Blei, insbesondere, 31 32

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El Día, Potosí, 9.8.2012. Rafael Dobado González: Las minas de Almadén. El monopolio del azogue y la producción de plata en Nueva España en el siglo XVIII, in: Julio Sánchez Gómez/Guillermo Mira Delli-Zotti/ Rafael Dobado: La savia del imperio: tres estudios de economía colonial. Salamanca 1997, S. 403–497, hier 480 f. Robins: Mercury (wie Anm. 9), S. IX, 8, 208; diese Berechnungen beruhen auf der versteuerten Silberproduktion in Potosí. Daher ist ein gewisses Maß an nicht deklariertem Silber und damit möglicherweise höherer Quecksilberverbrauch ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass beim deklarierten Silber auch Teile weiterhin über das indigene Schmelzverfahren gewonnen wurden; um diesen Teil ist der Quecksilberverbrauch zu hoch geschätzt. Möglicherweise gleichen sich beide Fehler aus. Hans-Joachim Kraschewski: Zur Finanzierung des Bergbaus auf Blei am Rammelsberg und dem Oberharz im 16. Jahrhundert am Beispiel Wolfenbütteler Kammerrechnungen. Aus dem Rechnungsbuch des Landesfürsten – „Camer Rechnung Trinitatis 1585 bis wider Trinitatis Anno1586“, in: Braunschweigisches Jahrbuch 70 (1989), S. 61–103; Ekkehard Westermann: Silbererzeugung, Silberhandel und Wechselgeschäft im Thüringer Saigerhandel. Tatsachen und Zusammenhänge, Probleme und Aufgaben der Forschung, in: VSWG 70 (1983), S. 192–214.

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wenn man die unterschiedliche Flüchtigkeit berücksichtigt.35 Bereits beim Abbau des Zinnobers war mit einer Verlustrate von 25 Prozent zu rechnen. Diese Rate belastete vor allem die den Quecksilberdämpfen ausgesetzten Bergarbeiter sowie die unmittelbare Umgebung der Quecksilberbergwerke. Ende des 18. Jahrhunderts wurden für den Seetransport des Quecksilbers von Sevilla zu den amerikanischen Hüttenwerken etwa jährlich 150.000 Ledersäcke bzw. Häute benötigt. Die Verlustrate des Quecksilbers belief sich beim Seetransport von Sevilla nach Lima im Jahre 1802–1803 lediglich auf 0,3 Prozent.36 Die größte Umweltbelastung erfolgte durch die Kontaminierung der Abwässer und der Abluft mit Quecksilber in den Verhüttungsbetrieben. Antonio de Ulloa beschrieb seine Ankunft in Guanajuato Mitte des 18. Jahrhunderts wie folgt: „Bereits vor den Toren der Stadt trifft man auf ein kleines Rinnsal, das die Stadt als glitzerndes Gewässer verlässt. Dieses wird von allerlei Leuten durchsiebt, die Amalgamteilchen waschen, um sich mit dem daraus gewonnenen Silber ein Zubrot zu verschaffen.“37 Auch wenn Mineralogen wie Humboldt die von den Quecksilberdämpfen verursachten Vergiftungen in ihren Darstellungen zu relativieren suchten, so belastete dieses Metall nicht nur die Arbeiter, die das Quecksilber transportierten, umfüllten, auf dem gewaschenen und zerstoßenen Silbererz verteilten und es in regelmäßigen Abständen neu vermischten, sondern auch die Tiere, die bei diesem Prozess eingesetzt wurden. Der größte Teil des Quecksilbers verdampfte bei der Destillation des Silberamalgams, und der übrige Teil gelangte in die Abwässer und schädigte dann die Betreiber der kleinen indigenen Destillationsöfen. So wurden zwischen 1780 und 1800 insgesamt etwa 24.000 Tonnen Quecksilber von Europa nach Amerika exportiert und belasteten auf beiden Seiten des Atlantiks Arbeiter, Luft und Wasser.38 Während der größte Teil des Quecksilbers in den amerikanischen Silber-Hüttenbetrieben freigesetzt wurde, war, wie der Vergleich zwischen Huancavelica und Potosí zeigt, die Kontamination des Bodens in den Quecksilberrevieren größer. Im Falle der Silberbergwerke und -hütten war vor allem die Verunreinigung des Wassers noch im näheren Umland der Reviere spürbar, wohingegen die Luftverschmutzung die unmittelbare Umgebung und vor allem die (indigenen) Arbeiter betraf. Der Abraum veränderte hauptsächlich die lokale Umgebung der Bergwerke, und insbesondere für Potosí gibt es für die Zeit nach dem Produktionsmaximum, mithin nach 1648, Berichte über Bergschäden, d. h. einstürzende Stollen. In einer Hinsicht jedoch waren die amerikanischen Silberbergwerke den europäischen ökologisch überlegen: Sie verbrauchten so gut wie kein Brennholz und kein Blei. 35 36 37 38

Die Verdampfungsenthalpie beträgt bei Quecksilber 0,3 kJ/g und bei Blei Pb 0,8 kJ/g. Tristan Platt: Container Transport: From Skin Bags to Iron Flasks. Changing Technologies of Quicksilver Packaging between Almadén and America, 1788–1848, in: Past and Present 214 (2012), S. 205–253. Antonio de Ulloa: Descripción geográfico-física de una parte de Nueva España, in: Francisco de Solano: Antonio de Ullo y la Nueva España. Mexiko 1979, S. 57. Zu den Folgen des slowenischen Quecksilberbergwerks Idria für Mensch und Umwelt im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Helfried Valentinitsch: Das landesfürstliche Quecksilberbergwerk Idria 1575–1659. Produktion, Technik, rechtliche und soziale Verhältnisse, Betriebsablauf, Quecksilberhandel. Graz 1981.

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4. DER ÖKOLOGISCHE FUSSABDRUCK DES HISPANOAMERIKANISCHEN SILBERBERGBAUS Insgesamt kann man feststellen, dass der koloniale Bergbau mit seinen großen Ausmaßen vor allem die lokalen geographischen Bedingungen in den Quecksilber- und Silberbergwerken sowie in den Hüttenbetrieben veränderte und zum Teil dauerhafte Umweltschäden hinterließ. Der sehr viel kleiner dimensionierte Silberbergbau in Europa rief durch den hohen Energie- und Holzbedarf großräumige Belastungen hervor, die aber nach der Stilllegung der Bergwerke wieder ausgeglichen werden konnten. Die neuartigen Umweltbedingungen, unter denen Silber in Hispanoamerika gewonnen wurde, führten zur Entwicklung neuer Technologien, die nach Europa exportiert wurden, sowie zur Ausschöpfung des technologischen Know-hows der indigenen Bevölkerung und der (süd)europäischen Einwanderer, sowohl in Bezug auf den Bergwerksbetrieb als auch auf die Metallurgie. Die These von Crosby, der vom Ecological Imperialism spricht, greift aber zu kurz, um den ökologischen Fußabdruck des Silberbergbaus zu beschreiben, da er Wechsel- bzw. Rückwirkungen zwischen den Kontinenten sowie Innovationen, die durch die natürliche Umgebung beeinflusst wurden, zu wenig beachtet. Der schwierige Vergleich zwischen den Auswirkungen der großräumigen Entwaldung und kleinräumigen Bleibelastung beim Saigerverfahren auf der europäischen Seite sowie der kleinräumigen Quecksilberkontamination auf der europäischen und amerikanischen Seite könnte vielleicht darauf hinweisen, dass der koloniale Silberbergbau in Hispanoamerika zumindest in Relation zum Produktionsvolumen kurzfristig weniger Umweltschäden hervorrief als der Silberbergbau im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Die langfristige Schädigung der Umwelt in Amerika konnte hingegen bis heute nicht ausgeglichen werden.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON RENATE PIEPER „Umweltfaktoren im kolonialen Bergbau Hispanoamerikas“ Helmut Lackner, Wien KOLONIAL- BZW. GLOBAL- UND WELTGESCHICHTE – UMWELTGESCHICHTE – TECHNIKGESCHICHTE Der Beitrag von Renate Pieper tangiert in unterschiedlicher Intensität diese drei Subdisziplinen der Geschichtswissenschaften. Daher wird einleitend kurz das bisherige Verhältnis dieser Disziplinen zueinander skizziert. Die sich seit den 1980er Jahren formierende Umweltgeschichte, insbesondere die deutschsprachige, und noch mehr die Technikgeschichte bzw. die Geschichte des Bergbaus und der Verhüttung, vor allem die ingenieurwissenschaftliche, von Montanisten geschriebene Montangeschichte, blieb lange Zeit auf Europa bzw. Zentraleuropa fokussiert. Erst die jüngere Kolonial- bzw. Global- und Weltgeschichte hat unseren Horizont erweitert. Die Umweltgeschichte hat diese Herausforderungen früher aufgenommen als die Technik- und Montangeschichte. Renate Pieper beruft sich auf die großen Entwürfe von Jared Daimond und Alfred W. Crosby, den z. B. auch Joachim Radkau in seinem Buch „Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt“ zitiert. Radkau relativiert zuerst die Auswirkungen des Kolonialismus allgemein: „In seiner Wirkung auf die Weltwirtschaft wurde der frühneuzeitliche Kolonialismus oft überschätzt. Die Masse der Menschen und Waren, die von da ab die Weltmeere überquerte, blieb – insgesamt gesehen – bis ins 18. Jahrhundert noch so marginal, daß es fraglich erscheint, ob mit der Entdeckung Amerikas die Wirtschaft tatsächlich globale Dimensionen annahm.“ Es ist zu hinterfragen, ob man das aus einer späteren Perspektive so beurteilen kann. Aber in der Umweltgeschichte, so Radkau, erhält der frühneuzeitliche Kolonialismus „einen neuen Sinn“.1 Mit ihrer Fallstudie zum hispanoamerikanischen Silberbergbau in Bolivien und Mexiko liefert Renate Pieper dafür ein Beispiel, das Kolonial-, Umwelt- und Montangeschichte zueinander in Beziehung setzt. Dabei sind, wie erwähnt, die Beziehungen zwischen der Kolonial- und Umweltgeschichte enger als jene zur Montangeschichte, die sich zudem durch ihren Gegenstandsbereich der Montanistik, der Berg- und Hüttenkunde, dem Allgemeinhistoriker eher verschließt. Dieses Fach soll daher im zweiten Teil des Kommentars im Mittelpunkt stehen. Der jüngst erschienene erste Band der neuen „Geschichte des deutschen Bergbaus“ enthält zumindest ein kleines Kapitel über das mittel- und südamerikanische 1

Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 188.

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Silber als Konkurrenz der europäischen Reviere.2 Den Zeitgenossen war allerdings der globale Blick, wie zahlreiche Publikationen, zum Beispiel jene von Franz Ernst Bruckmann aus dem Jahr 1727 zeigen, offensichtlich eher vertraut als uns heute: „Diese Silber-Bergwercke im Berg Potosi waren lange Zeit die reichsten nicht nur in America, sondern in der gantzen Welt / und das daraus feingemachte Silber wurde vor das beste gehalten.“3 DER SCHWIERIGE ZUGANG ZUR TECHNIKUND MONTANGESCHICHTE Was ist mit dem zentraleuropäischen Silberbergbau, der Erzaufbereitung und der Verhüttung vergleichbar, was war in Hispanoamerika anders? Für die Beurteilung der Silbergewinnung sowohl in Hispanoamerika als auch in Mitteleuropa sind zuerst die Geologie und Mineralogie der Lagerstätten zu berücksichtigen. Die ZinnWolfram und Zinn-Silber-Vorkommen in Potosí durchziehen als Ganglagerstätten den Berg, die im Stollenbergbau erschlossen und abgebaut wurden. Daraus resultieren auch die Vorteile des geringen Holzverbrauches für die Grubenzimmerung. Die zahlreichen zeitgenössischen Gemälde, Stiche und Medaillen, die immer wieder das Bild eines großen kegelförmigen ausgehöhlten Gebirgsstockes bieten, zeigen nicht die Realität, sondern vermitteln den Mythos des „Cerro Rico“ in Potosí. Auch Bruckmann hat 1727 dieses Bild in seine Publikation übernommen. Das erinnert an die gleichartigen Beschreibungen des „in Dampf gehüllten“ Birmingham in vielen England-Reisebeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Holz war in Potosí zweifellos ein Mangelgut und konnte im Untertage-Bergbau und teilweise in der Erzaufbereitung weitgehend vermieden werden. Zur Feinvermahlung der Erze gab es die quimbolete, einen großen halben Mahlstein, der aufrecht stehend leicht bewegt werden konnte. Nachweisbar, und mit der Situation in Europa vergleichbar, sind allerdings Pochwerke für die Erzaufbereitung und aufwändige hölzerne Stirnräder des Vorgeleges für den Antrieb der Blechwalzwerke in der Münze (moneda). Die Erzförderung mittels Haspel und Ledersäcken oder geflochtenen Tragekörben ist auch im zentraleuropäischen Bergbau dieser Zeit bekannt, auch wenn Spurnagelhunte4 zahlreich abgebildet wurden. Bilder und Beschreibungen vermitteln oft eine Projektion in die Zukunft. 2

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Andreas Bingener/Christoph Bartels/Michael Fessner: Die große Zeit des Silbers. Der Bergbau im deutschsprachigen Raum von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Klaus Tenfelde/Stefan Berger/Hans-Christoph Seidel (Hg.): Geschichte des deutschen Bergbaus, Band 1: Der alteuropäische Bergbau. Von den Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Christoph Bartels/Rainer Slotta. Münster 2012, S. 317–452, hier 446–452. Francisco Ernesto Bruckmann: Magnalia dei in locis subterraneis Oder Unterirdische SchatzCammer Aller Königreiche und Länder, in Ausführlicher Beschreibung Aller, mehr als MDC. Bergwercke Durch Alle vier Welt-Theile, […]. Braunschweig 1727, S. 355 f., hier 355, Tab. XIII. Kastenartiger kleiner Wagen (Hunt) mit Rädern und einem Spurnagel, der den Wagen im Spalt

Korreferat zum Beitrag von Renate Pieper

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Ein anderes Mangelgut war Wasser. Die Wasserwirtschaft in diesen Höhen mit der Anlage von Aquädukten, Grabensystemen und Teichen erforderte zweifellos einen besonderen Aufwand, doch sind solche Systeme u. a. auch aus den Revieren in Skandinavien, im Erzgebirge, im Harz, in Ungarn und in Siebenbürgen bekannt. Kein ausschließlich in Potosí auftretendes Phänomen waren die Bergschäden, auch wenn dort der unkontrollierte, nicht mit der straffen Organisation im europäischen Bergbau vergleichbare Abbau der wertvollsten Lagerstättenteile über Jahrhunderte besonders chaotisch den Berg durchlöcherte und seine Oberfläche überformte. So kam es nach langem Raubbau im 17. Jahrhundert zur Bildung großer Pingen,5 z. B. im Kupferbergbau Falun in Schweden und im Zinnbergbau Altenberg im Erzgebirge. Die Pinge in Falun ist bis heute ein Touristenmagnet. Die eigentliche Silbergewinnung, ein Verfahren der Metallurgie, die Scheidung des Silbers aus dem Erz, ist ein komplexes, aber für die Umweltgeschichte zentrales Thema. Es ist zu unterscheiden zwischen dem dafür bis ins frühe 19. Jahrhundert angewandten Seigerhüttenprozess mit Blei in Zentraleuropa, vor allem bei Vorliegen silberhaltiger Kupfererze, und der Amalgamation unter Verwendung von Quecksilber zur Silbergewinnung aus den Zinn- bzw. Bleivererzungen. Die Anwendung des jeweiligen Verfahrens ist offensichtlich nicht nur von der Holznot, vom technischen Wissen und der Organisation vor Ort, sondern auch von der Erzqualität und der Erzzusammensetzung abhängig.6 Nachdem in den ersten Jahrzehnten nach Entdeckung der Lagerstätte trotz des Holzmangels ältere indigene Techniken des direkten Erzschmelzens in kleinen, rund einen Meter hohen Öfen, den huayrachina, Anwendung fanden,7 kam ab den 1570er Jahren das Amalgamationsverfahren zum Einsatz. Aus vielen Gründen, vor allem wegen des erwähnten Holzmangels und der Arbeitsverpflichtung der indigenen Bevölkerung der Region (mita-System), kam es hier zur Adaption des bekannten Verfahrens zur sogenannten kalten Amalgamation unter freiem Himmel, dem patio-Verfahren. Es bedingte einen hohen Quecksilbereinsatz und war arbeitsintensiv. Ganz ohne Wasser für die Amalgambildung und ohne Brennstoff für die Trennung des Quecksilbers vom Silber im Amalgam (durch dessen Verdampfung bei rund 360 oC in Tiegeln) funktionierte es nicht. Voraussetzungen für dieses Verfahren waren die Versorgung mit Quecksilber aus dem spanischen Almadén und zum Teil aus Idria (sowie ab 1563 aus Huancavelica in Peru) und die Zwangsarbeit der indianischen Bevölkerung im mita-System. Das Amalgamationsverfahren war zuvor bereits in Europa vor allem für die Goldgewinnung bekannt, wurde von Vannoccio Biringuccio im Jahr 1540 in seiner

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zwischen den Spurlatten führt, zum Transport des Erzes und Abraumes im neuzeitlichen Bergbau. Keil-, graben- oder trichterförmige Vertiefungen in der Landschaft, die auf Bergbautätigkeiten zurückgehen und durch den Zusammenbruch unterirdischer Grubenbaue entstanden sind. Faustino Malaguti/Joseph Marie Élisabeth Durocher: Ueber das Vorkommen und die Gewinnung des Silbers. Deutsch von Carl Hartmann. Quedlinburg/Leipzig 1851, S. 113–244. Florian Téreygeol/Pablo Cruz: Die Silberbergwerke von Potosí: Das wichtigste Technologiezentrum Südamerikas aus der Sicht der Autoren der Inka und der Spanier, in: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 64 (2012), S. 93–108.

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Pirotechnia beschrieben und kam durch Technologietransfer auf Grund der hier gegebenen Voraussetzungen nach Potosí. Der spanische Kaufmann und Metallurge Bartolomé de Medina (um 1497–1585) hatte das Verfahren von einem Tiroler Montanisten in Italien kennengelernt und 1553 nach Mexiko transferiert. Seit 1572 ersetzte die kalte Amalgamation auch in Potosí die bisherige Verhüttung in den huayrachinas. Erst hierdurch verlor die indigene Bevölkerung ihre bisherige privilegierte Stellung durch die Unterwerfung unter das mita-System. Die Amalgamation schuf die technischen Voraussetzungen für den nun folgenden Aufschwung der hispanoamerikanischen Silbergewinnung im Zeichen des Holzmangels. Allerdings geschah dies unter Aufwendung großer Mengen des in der Gewinnung und in der Anwendung giftigen Quecksilbers, entweder aus Huancavelica oder über den Atlantik aus dem spanischen Almadén. Zweihundert Jahre später publizierte Johann Jacob Ferber die unrealistische Idee, nicht das Quecksilber, sondern „Holz zum Schmelzen aus Europa kommen zu lassen“.8 Als Ferber dies 1787 schrieb, war jedoch die Holznot auch im zentraleuropäischen Montanwesen ein zentrales Thema. Somit kam es nach zwei Jahrhunderten, aus denselben Gründen wie bei der Transferierung des Verfahrens nach Hispanoamerika, zu einem Technologietransfer in die entgegengesetzte Richtung.9 Albaro Alonso Barba (1569–1662) legte 1640 eine ausführliche Beschreibung des patio-Verfahrens in Mexiko und einer Innovation der „heißen“ Amalgamation in Kupferkesseln vor,10 die alsbald in vielen europäischen Sprachen, ab 1670 auch auf Deutsch, erschien. Ignatz von Born11 und Johann Jacob Ferber12 griffen schließlich diese Technologie Ende des 18. Jahrhunderts auf. Sie begründeten ihre Anwendung z. B. im Oberharz, in den Hütten um Freiberg und in Österreich, jetzt jedoch mit großen rotierenden Holzfässern für die Amalgambildung insoweit, „daß die Amalgamation, wenn sie auch sonst keinen Vortheil brächte, bloß in Ansehung des Holzes die wichtigste Verbesserung der Landesoeconomie hervorgebracht habe, die seit undenklicher Zeit in der Oesterreichischen Monarchie geschehen ist“.13 Im mexikanischen Silberbergbau des späten 18. Jahrhunderts verblieb man jedoch beim patio-Verfahren, das allerdings die sechs- bis achtfache Menge an Quecksilber benötigte wie das Verfahren in Freiberg (ein Kilogramm Quecksilber auf ein Kilogramm Silber). Der Versuch einer Modernisierung der Techniken im 8 9

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Johann Jacob Ferber: Nachricht von dem Anquicken der gold- und silberhaltigen Erze, Kupfersteine und Speisen in Ungarn und Böhmen […]. Berlin 1787, S. 67. Lothar Suhling: Von der Alten zur Neuen Welt und zurück. Meilensteine der Vor- und Frühgeschichte der Europäischen Amalgamation nach Ignaz von Born im Überblick, in: Torsten Meyer/Marcus Popplow (Hg.): Technik, Arbeit und Umwelt in der Geschichte. Günter Bayerl zum 60. Geburtstag. Münster/New York 2006, S. 77–94. Albaro Alonso Barba: El arte des los metales […]. Madrid 1640. Ignaz von Born u. a.: Ist es vortheilhafter, die silberhältigen Erze und Schmelzhüttenprodukte anzuquicken, als sie zu schmelzen? Beantwortet von einigen zu Glashütte bey Schemnitz in Niederhungarn im Sommer und Herbst 1786 versammelten Berg- und Schmelzwesensverständigen. Leipzig/Wien 1787. Ferber: Nachricht (wie Anm. 8). Ebd., S. 72.

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Zuge der von 1788 bis 1811 dauernden Expedition unter Leitung des in Freiberg ausgebildeten Fürchtegott Leberecht Nordenflycht scheiterte an den Widerständen vor Ort.14 Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde auch die Quecksilbergewinnung in Huancavelica unrentabel und das hier erzeugte Quecksilber teurer als das aus Almadén importierte. Fazit: Berücksichtigt man die geologischen Bedingungen, scheint der Unterschied zwischen dem hispanoamerikanischen und dem europäischen Silbererzbergbau in technischer Hinsicht nicht allzu groß gewesen zu sein. Das gilt nicht für die Organisation des Bergbaus. Größer sind die Unterschiede in der Erzaufbereitung und der Silbergewinnung mit der Adaption der Amalgamation zum patio-Verfahren in Hispanoamerika und dem Seigerhüttenprozess in Zentraleuropa, bis es im späten 17. Jahrhundert zu Verfahrensinnovationen, zumindest in der Literatur, und im 18. Jahrhundert in Zentraleuropa zur Ablösung des Seigerns durch das Amalgamieren kommt. In beiden Fällen, in Hispanoamerika im 16. Jahrhundert und in Zentraleuropa im späten 18. Jahrhundert, ist der Holzmangel das entscheidende Argument für die Einführung dieses Prozesses. UMWELTGESCHICHTE UND HISPANOAMERIKANISCHER SILBERBERGBAU In der Bewertung der Auswirkungen des hispanoamerikanischen Silberbergbaus auf Mensch und Umwelt in Hispanoamerika und Zentraleuropa kann ich mich den Schlussfolgerungen von Renate Pieper, dass jener trotz seiner weitaus größeren Produktion vor allem das lokale Umfeld veränderte, hingegen der kleiner dimensionierte europäische Silberbergbau großräumige Belastungen hervorrief, nicht anschließen. Ihre These, dass der koloniale Silberbergbau weniger Umweltschäden hervorgerufen habe als der frühneuzeitliche Bergbau in Zentraleuropa, fokussiert zu sehr auf das lokale Umfeld und berücksichtigt nicht die globale Vernetzung eines großtechnischen Systems, für dessen Beschreibung meiner Meinung nach folgende Aspekte zu berücksichtigen sind: – – – –

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Die Gewinnung des Quecksilbers in Huancavelica, Almadén und Idria. Der Transport der großen Mengen flüssigen Quecksilbers in Lederbeuteln und Holzfässern über den Atlantik und der Rücktransport des Silbers.15 Der Silber-Erzbergbau (Gewinnung), die Aufbereitung (Röstung, Zerkleinerung) und die Verhüttung (Amalgamation). Das mita-System der rotierenden Zwangsarbeit der indianischen Bevölkerung für jeweils ein Jahr, das Landwirtschafts-, Dorf- und Familienstrukturen im Umkreis von hunderten Kilometern veränderte. Reneé Gickhorn: Eine deutsche Bergexpedition in Latein-Amerika (1788–1798), in: Technikgeschichte 37 (1970), S. 268–275. Ferber: Nachricht (wie Anm. 8), S. 82: „daß ferner eine Menge Quecksilber jährlich oder wenigstens oft bey dem weiten Transport zu Wasser zu Grunde geht, oder aus den ledernen Beuteln und hölzernen Fässern ausfließt“.

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Das rasche Wachstum der Stadt Potosí mit rd. 150.000 Einwohnern auf 4.000 m Höhe mit allen Problemen der Ver- und Entsorgung. Die Auswirkungen der „einfacheren“ Technik in den Kolonien auf die Rentabilität der aufwändigeren, kapitalintensiveren Gewinnung in Zentraleuropa. Die globalen Auswirkungen des Silberhandels bis Indien und China auf den Welthandel, die Geldwirtschaft, die Volkswirtschaften und die Menschen.

Aus dieser Perspektive sind die globalen Auswirkungen der hispanoamerikanischen Silbergewinnung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert auf Mensch und Umwelt wohl als erheblich gravierender als jene in zentraleuropäischen Montanrevieren seit dem 15. Jahrhundert zu bewerten. In den südamerikanischen Bergbaurevieren sind die Folgen bis heute zu beobachten, wenn etwa der Rio Pilcomayo über Jahrhunderte durch die Quecksilberabfälle aus Potosí vergiftet wurde.16 Das Grubenunglück in der Kupfer- und Goldmine San José in Chile, wo im Jahr 2010 nach einem Bergschlag 33 Bergarbeiter in 700 m Teufe eingeschlossen waren und nach 69 Tagen gerettet wurden, sowie das Aufstellen einer 45 m hohen Statue der Virgen del Socavon, der Schutzpatronin der Minenarbeiter, in den Jahren 2012/13 durch die Bergarbeiter des Zinnbergbaues in Oruro in Bolivien, nordwestlich von Potosí, erinnern zudem an die ständigen Gefahren der Untertage-Arbeit im südamerikanischen Bergbau.

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Carl Cäsar von Leonhard: Geologie oder Naturgeschichte der Erde auf allgemein faßliche Weise abgehandelt. Stuttgart 1840, Band 3, S. 301: „Höchst wichtig ist es, daß bei solchen Processen, Quecksilber erspart werde. Im Verlaufe von zweihundertundsechszig Jahren, von 1570 bis 1830, wurden, nach Registern, in Potosí geführt, über fünfzehn Milliarden Francs Silber vermünzt. Bei Gewinnung dieser Summe verlor man ungefähr zweihundertachtzig Millionen Pfund Quecksilber, welche, wie der Preis gegenwärtig steht, fünfzehnhundert Millionen Francs Werth haben. Diese ungeheure, in Potosí allein verbrauchte, Quecksilber=Masse liegt gegenwärtig im Flußbette des Pilcomayor, in den aller Unrath aus den Silberwerken von Potosí abfließt.“

RESSOURCENVERKNAPPUNG, EIGENTUMSRECHTE UND ÖKOLOGISCHE FOLGEWIRKUNGEN AM BEISPIEL DES TIEFSEEBERGBAUS, CA. 1965–1982 Ole Sparenberg, Saarbrücken 1. EINLEITUNG Das Thema Rohstoffe und Ressourcen allgemein ist in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in den Fokus politischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Diskussionen geraten. Bereits unter dem Eindruck der „ökologischen Revolution“1 um 1970 und der beiden Ölpreisschocks von 1973/79 kam es zu einem verstärkten Nachdenken über Energieträger und andere Ressourcen. Somit stellte auch der Verein für Socialpolitik seine Mannheimer Arbeitstagung 1979 unter das Oberthema Erschöpfbare Ressourcen. Unter den zahlreichen abgedruckten Tagungsbeiträgen finden sich drei, die sich mit dem zu dieser Zeit aktuellen Thema Tiefseebergbau beschäftigen.2 Der Tiefseebergbau befand sich in den 1970er Jahren nicht nur in der Bundesrepublik im Zentrum rohstoffwirtschaftlicher, politischer und völkerrechtlicher Debatten. Dabei ging es um die zukünftige Ressourcenversorgung der Industriestaaten, den globalen Nord-Süd-Konflikt und die Nutzungsrechte über etwa 40 Prozent der Weltoberfläche, nämlich des Tiefseebodens außerhalb nationaler Hoheitsgewässer. Daneben wurde in bis heute zunehmendem Maße die Frage nach der ökologischen Vertretbarkeit von Eingriffen in die Tiefsee gestellt. Unter Tiefseebergbau wird heute wie damals in erster Linie der Abbau sogenannter Manganknollen – kartoffelförmiger, bräunlich-schwarzer mineralischer Objekte von 0,5 bis 25 cm Durchmesser – verstanden. Sie finden sich auf der Oberfläche des Meeresbodens in allen Weltmeeren, jedoch liegen die ausgedehntesten und ökonomisch interessantesten Vorkommen im Pazifischen Ozean, wo der Rohstoff in einem Gebiet zwischen der Clarion- und der Clipperton-Bruchzone – etwa zwischen Hawaii und Mexiko – weite Strecken des Tiefseebodens in etwa 4.000 bis 6.000 m Tiefe bedeckt.3 1 2

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Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011, S. 124 ff. Hans Günther Stalp: Entwicklungen des Meeresbergbaus und die Auswirkungen auf die Rohstoffmärkte, in: Horst Siebert (Hg.): Erschöpfbare Ressourcen. Verhandlungen auf der Arbeitstagung des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften in Mannheim 1979. Berlin 1980, S. 259–276; Wilfried Prewo: Allokationseffekte rechtlich-institutioneller Regelungen der Meeresnutzung, in: Ebd., S. 707–728; Helmut Gröner: Wettbewerbspolitische Aspekte des Meeresbergbaus, in: Ebd., S. 757–768. Geoffrey P. Glasby: Lessons Learned from Deep-Sea Mining, in: Science 289, No. 5479 (28.7.2000), S. 551–553; John L. Mero: The Mineral Resources of the Sea. Amsterdam/London/New York 1965, S. 127–140.

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Manganknollen sind nach ihrem hohen Anteil an Manganverbindungen benannt, allerdings sind sie aus ökonomischer Sicht vor allem durch ihre im Vergleich zu terrestrischen Erzen relativ hohen Konzentrationen von Nickel, Kupfer und Kobalt interessant. Hochindustrialisierte Volkswirtschaften benötigen Kupfer vor allem wegen seiner Eigenschaften als elektrischer Leiter. Sämtliche Elektrogeräte sowie die Einrichtungen zur Bereitstellung und Erzeugung von elektrischem Strom enthalten Kupfer. Nickel und Kobalt werden in erster Linie für hochbelastbare und korrosionsbeständige Stahllegierungen gebraucht.4 Eine Veröffentlichung der Nickelindustrie aus den 1960/70er Jahren enthält Beispiele für die Verwendung von Nickelstählen, die von Atomreaktordruckbehältern über Flugzeugturbinen und -fahrwerke bis zu profaneren Anwendungen wie Lagertanks in Brauereien und Pökelwannen für Wurstfabriken reichen.5 Entdeckt wurden Manganknollen während der ozeanographischen Forschungsfahrt der britischen HMS Challenger (1872–1876).6 Auch die erste deutsche Tiefsee-Expedition mit dem Forschungsschiff Valdivia (1898/99) konnte mit Dredschzügen7 aus mehr als 5 km Wassertiefe „faustgroße, schwarze Manganknollen, die riesigen Brombeeren glichen“ bergen und anschließend wissenschaftlich beschreiben.8 Obwohl schon der Bericht über die Challenger-Expedition eine chemische Analyse der Metallgehalte der Knollen enthielt, galten sie in den folgenden Jahrzehnten dennoch nur als „mineralogische Kuriosität“ und nicht als nutzbare oder abbauwürdige Ressource.9 Dies änderte sich erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Fortschritte in der Unterwassertechnik während des Krieges ebenso wie die Rivalität des Kalten Krieges und die generelle Erfahrung eines raschen technologischen Fortschritts ein neues wissenschaftliches und populärkulturelles Interesse an den Ozeanen entstehen ließen. Vor allem in den 1960er Jahren wurde die Unterwasserwelt als last frontier und inner space vielfach dem outer space, dem Weltraum, gleichgestellt. Beide Räume wurden erst durch sich in diesen Jahren rasant entwickelnde Technologien zugänglich und schienen für die nahe Zukunft fast unendli-

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6 7 8 9

Elisabeth Mann Borgese: The Mines of Neptune. Minerals and Metals from the Sea. New York 1985, S. 87 f. O. A.: Europas erstes Atomhandelsschiff, in: INCO-Nickel. Nickel-Berichte, Nr. 24 (April 1969), S. 1 f.; o. A.: Super VC10 mit hochfesten nickellegierten Stählen, in: INCO-Nickel. Nickel-Berichte, Nr. 25 (Juni 1969), S. 3; o. A.: Altbierbrauerei erweitert Kapazität, in: Ebd., S. 5; o. A.: Leichte Pökelwanne aus nichtrostendem Stahl, in: Ebd., S. 10. John Murray/Alphonse-Francois Renard: Report on Deep-Sea Deposits Based on the Specimens Collected During the Voyage of H. M. S. Challenger in the Years 1872 to 1876. London/ Edinburgh/Dublin 1891, S. 341–378. Bei einer Dredge (oder Dredsche) handelt es sich um ein an einem metallischen Rahmen befestigtes Schleppnetz, das über den Meeresboden gezogen wird, um Muscheln, wissenschaftliche Proben oder Ähnliches vom Meeresboden abzukratzen oder aufzusammeln. Carl Chun: Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der deutschen Tiefsee-Expedition. Jena 1900, S. 151. Rainer Fellerer: Manganknollen, in: Geologisches Jahrbuch D 38 (1980), S. 35–76, hier 39 f.

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che Möglichkeiten hinsichtlich der Erforschung, Nutzung und Besiedelung zu bieten.10 Vor diesem Hintergrund erschien auch die Förderung von Erzen aus 4 bis 6 km Wassertiefe vorstellbar. Anfang der 1950er Jahre schlug der amerikanische Ozeanograph John L. Mero erstmals vor, die Manganknollen wirtschaftlich zu nutzen. Meereskundliche Forschungsfahrten im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1959 erweiterten die Kenntnisse über diese Knollen, und Meros 1965 erschienenes Buch The Mineral Resources of the Sea lenkte schließlich die weltweite Aufmerksamkeit auf diese Ressource.11 Die Zeit von 1972 bis 1982 gilt als Hochzeit des wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Interesses an den Manganknollen, als eine Reihe von staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren – u. a. aus der Bundesrepublik – auf diesem Gebiet aktiv war.12 Den Höhepunkt dieser Aktivitäten bildete die Testförderung im Jahr 1978 durch das von Unternehmen aus den USA, Kanada, der Bundesrepublik und Japan gegründete Konsortium Ocean Management Inc. (OMI), bei der 800 Tonnen Manganknollen aus dem Pazifik gewonnen wurden.13 Aufgrund der Entwicklung auf den Metallmärkten und den institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen nahm man die kommerzielle Förderung dennoch nie auf, und das Interesse an den Manganknollen ging seit Anfang der 1980er Jahre wieder stark zurück. Im Folgenden werden erstens die Motive und Erwartungen dargestellt, die seit Mitte der 1960er Jahre hinter dem ökonomischen und politischen Interesse an dieser ungewöhnlichen Ressource standen. Zweitens wird die Auseinandersetzung um die Eigentums- und Nutzungsrechte am Tiefseeboden nachgezeichnet, zu der es kam, als die Manganknollen zu einer vielversprechenden Ressource avancierten. Drittens wird schließlich die Bedeutung ökologischer Aspekte erörtert, da die bergbauliche Ausbeutung den ersten großflächigen Eingriff in das Ökosystem der Tiefsee dargestellt hätte und das Projekt zu der Zeit entstand, als die Frage nach den Umweltauswirkungen in den westlichen Gesellschaften verstärkt gestellt wurde.

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Helen M. Rozwadowski: Arthur C. Clarke and the Limitations of the Ocean as a Frontier, in: Environmental History 17 (2012), S. 578–602; Dies.: Engineering, Imagination and Industry: Scripps Island and Dreams for Ocean Science in the 1960 s, in: Dies./David K. van Keuren (Hg.): The Machine in Neptune’s Garden. Historical Perspectives on Technology and the Marine Environment. Sagamore Beach, Mass. 2004, S. 315–354; Sven Mesinovic/Daniel Schmiedke: Der Traum von der Besiedelung der Meere, in: Ingeborg Siggelkow (Hg.): Kultur, Gedächtnis, Politik. Berlin 2006, S. 45–53. Fellerer: Manganknollen (wie Anm. 9), S. 41; Geoffrey P. Glasby: Deep Seabed Mining: Past Failures and Future Prospects, in: Marine Georesources and Geotechnology 20 (2002), S. 161– 176, hier 161. Glasby: Lessons (wie Anm. 3), S. 551. John L. Shaw: Nodule Mining – Three Miles Deep, in: Marine Georesources and Geotechnology 11 (1993), S. 181–197; Olga Summerer: Manganknollen-Förderung, in: Bild der Wissenschaft 15 (1978), S. 48–59.

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2. MOTIVE FÜR DEN TIEFSEEBERGBAU NACH MANGANKNOLLEN Die Notwendigkeit oder zumindest Zweckmäßigkeit des Tiefseebergbaus wurde in der zeitgenössischen Literatur mit zwei wesentlichen Vorteilen der Manganknollenvorkommen begründet, die die Förderung besonders wirtschaftlich machen sollten: mit der bevorstehenden Verknappung der bekannten terrestrischen Erzreserven und dem strategischen Argument der höheren Versorgungssicherheit. Die Schwierigkeiten, Manganknollen aus ca. 5 km Tiefe vom Meeresboden aufzusammeln, erschienen zunächst enorm, insbesondere weil damals (und bis heute) keine vergleichbare Nutzung der Tiefsee stattgefunden hatte. Mero verwies aber 1965 – vier Jahre vor der Mondlandung und ganz im Sinne des damaligen Vertrauens in den technischen Fortschritt – darauf, dass die technischen Herausforderungen verglichen mit der bemannten Raumfahrt gering seien.14 Überdies stünden den Schwierigkeiten eine Reihe von Vorteilen gegenüber: Manganknollen lägen auf der Meeresbodenoberfläche, so dass im Unterschied zum konventionellen Bergbau kein Deckgebirge entfernt und keine Bohrungen oder Sprengungen vorgenommen werden müssten. Gerade weil eine völlig neue Fördertechnologie erforderlich sei, könne diese unbelastet von Traditionen von Beginn an auf einen hohen Automatisierungsgrad hin ausgelegt werden. Schließlich könne, da die chemische Zusammensetzung der Manganknollen regional variiere, das Förderschiff leicht räumlich verlegt und damit die Produktion der jeweils aktuellen Nachfragestruktur nach den verschiedenen Metallen angepasst werden.15 Ein populärwissenschaftlicher Artikel von 1973 ging sogar davon aus, dass sich außerirdische Besucher sicher fragen würden, weshalb die Menschen bisher kilometertiefe Stollen mit ungeheurem Aufwand in die Erde getrieben hätten, statt einfach die auf dem Meeresboden lose herumliegenden Erze aufzusammeln.16 Spätestens seit der Veröffentlichung des ersten Berichts Grenzen des Wachstums an den Club of Rome im Jahr 1972 war die Sorge über eine baldige Erschöpfung vieler Rohstoffreserven vor dem Hintergrund des weltweiten Bevölkerungsund Wirtschaftswachstums weit verbreitet.17 Die Suche nach Ressourcen auf die bisher nahezu unberührte Tiefsee auszudehnen, war zwar nicht im Sinne des Club of Rome, aber naheliegend. Die Fürsprecher des Tiefseebergbaus hatten bereits vor 1972 auf gewaltige und quasi unerschöpfliche Metallvorräte in Form der Manganknollen hingewiesen, welche die den terrestrischen Erzvorkommen gesetzten Grenzen aufheben könnten.18 Bereits zuvor, 1968, hatte Mero darauf hingewiesen, dass man die gesamten damals bekannten, abbauwürdigen Kupfervorkommen benöti14 15 16 17 18

Mero: Mineral Resources (wie Anm. 3), S. 274. Ebd., S. 280. Harald Steinert: Metalle aus dem Meer, in: Das Neue Universum 90 (1973), S. 44–54, hier 46 f. Dennis Meadows u. a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Reinbek bei Hamburg 1973. Arvid Pardo: Who Will Control the Seabed?, in: Foreign Affairs 47 (1968), S. 123–137, hier 128. Rückblickend die Bedeutung der Prognosen des Club of Rome betonend: Glasby: Mining (wie Anm. 11), S. 162.

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gen würde, um auf dem afrikanischen Kontinent ein ähnliches Telefonnetz wie in Nordamerika zu installieren.19 Wenn man von einer Fortsetzung des bisherigen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums ausging, schien Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre vieles für die Notwendigkeit des Tiefseebergbaus zu sprechen. Vielleicht noch wichtiger war das strategische Argument der Versorgungssicherheit: Wenn die Industrieländer – und nur sie besaßen die technologischen und finanziellen Möglichkeiten – sich selbst aus internationalen Gewässern mit Rohstoffen versorgen könnten, würden sie die Abhängigkeit von den bisherigen Lieferstaaten zumindest verringern. Ein guter Teil der bekannten terrestrischen Erzvorräte befand sich in unterentwickelten Staaten, deren politische Stabilität in Frage stand. Man befürchtete, dass politisch-wirtschaftliche Systeme entstehen könnten, die dem freien Handel mit Bodenschätzen entgegenstünden. Die Erfahrung des Ölpreisschocks 1973 erhöhte noch einmal das Bewusstsein für die Risiken von Rohstoffkartellen und Lieferausfällen.20 Interessanterweise wies Mero 1965 in seiner grundlegenden Studie über mineralische Ressourcen des Meeres die damals bereits verbreitete Sorge über die Erschöpfung der Rohstoffreserven zurück und betonte vielmehr die Rolle der Technologie für die Entdeckung neuer Vorkommen. Entscheidende Argumente waren für ihn die Kostenvorteile gegenüber dem terrestrischen Bergbau, aber vor allem strategische Erwägungen.21 Es ist eine offene Frage, inwieweit man die Rohstofferschöpfung in den folgenden Jahren in den öffentlichen Diskussionen nur vorschob. Schließlich entsprach diese Begründung zunehmend dem Zeitgeist und war politisch leichter vertretbar, da sie sich nicht gegen die bisherigen Bergbaunationen richtete. 3. EIGENTUMSRECHTE Die Entdeckung einer neuen Ressource wirft immer Fragen nach den Eigentumsrechten auf. Eigentumsrechte sind wichtiger Teil der Institutionen einer Gesellschaft, also der Regeln oder Beschränkungen, die die Interaktionen der Akteure gestalten und die sich über Tausch- und Produktionskosten auf die Leistung einer Wirtschaft auswirken bzw. Anreize für wirtschaftliches Handeln setzen.22 Institutionen können formlos, z. B. Sitten und Konventionen, formgebunden, z. B. Gesetze und Verfassungen, oder auch, wie in diesem Fall, völkerrechtliche Vereinbarungen sein. 19 20

21 22

John L. Mero: Oceanic Mineral Resources, in: Futures. The Journal of Forecasting and Planning 1 (1968), S. 125–141, hier 125 f. Mero: Mineral Resources (wie Anm. 3), S. 5, 274; Pardo: Seabed (wie Anm. 18), S. 128; Wilfried Prewo: Tiefseebergbau: Goldgrube, Weißer Elefant oder Trojanisches Pferd?, in: Die Weltwirtschaft. Halbjahresschrift des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, 1971, 1, S. 183–197, hier 184. Mero: Mineral Resources (wie Anm. 3), S. 4 f., 273, 276 f. Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. Tübingen 1992, S. 3–6.

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Grundsätzlich galt im Seerecht seit der Frühen Neuzeit das mit dem Namen Hugo Grotius verbundene Konzept der Freiheit der Meere. Demnach war das Meer jenseits schmaler Hoheitsgewässer entlang der Küste von in der Regel drei Seemeilen Breite staatsfrei und durfte von jedermann genutzt werden. In dieser Regelung spiegelt sich wider, dass die Hochsee – gerade für die dominierenden europäischen Mächte – vor allem als Verkehrsweg interessant war.23 Abgesehen von der Hochseefischerei, deren Fischbestände lange als unerschöpflich galten,24 gab es keine Ressourcennutzung in diesem Raum und somit auch keine diesbezüglichen rechtlichen Fragen. Mithin waren die Hochsee und damit auch der Tiefseeboden eine globale Allmende. Erst mit dem Interesse an Manganknollen als Ressource wurde das Thema der Nutzungsrechte am Tiefseeboden aktuell. Im Prinzip gab es wie bei jeder Allmende drei Optionen für eine rechtliche Ausgestaltung der Nutzungsrechte: Nach der ersten Option bleiben Zugang und Nutzung für jedermann frei, die zweite sieht vor, dass die Allmende alternativ aufgelöst und das Areal mit seinen Ressourcen privatisiert bzw. nationalisiert, d. h. auf Staaten aufgeteilt werden kann. Bei der dritten Möglichkeit bleibt die Allmende Gemeineigentum, wird aber einem gemeinschaftlichen Regime unterworfen.25 Im Fall des Tiefseebodens setzte sich für die letztgenannte Option der Begriff common heritage of mankind (gemeinsames Erbe der Menschheit) durch. Als John L. Mero 1965 die globale Aufmerksamkeit auf die Manganknollen lenkte, bevorzugte er klar die erste Option, also die Fortführung des rechtlichen Status quo. Für ihn lag gerade ein weiterer Vorteil dieser Ressource darin, dass es sich um „politically-free and royalty-free materials“ handelte.26 Eine Notwendigkeit für eine spezielle Rechtsordnung sah er nicht, da nur wenige Staaten die technologische Kompetenz für den Tiefseebergbau besäßen und somit angesichts des großen Umfangs der Ressource Konflikte unwahrscheinlich seien. Besitzansprüche von Seiten der nächstgelegenen Küstenstaaten oder der UN hielt er für möglich, aber nicht begründbar.27 Letztlich hing die von Mero betonte Bedeutung der Manganknollen für die Versorgungssicherheit der westlichen Industriestaaten von dem freien Zugriff ab. Eine teilweise oder vollständige Nationalisierung des Tiefseebodens, also eine Aufteilung unter den Küstenstaaten, war ebenfalls eine naheliegende Option. Im äußersten Fall einer vollständigen Aufteilung hätten sich die Hoheitsgebiete von gegenüberliegenden Küstenstaaten jeweils in der Mitte des Ozeanes getroffen. Eine solche Lösung hätte in der Konsequenz der rechtlichen Entwicklung seit 1945 gelegen, als erstmals die USA mit der Truman-Deklaration die Ressourcen des Festlandsockels vor ihren Küsten beanspruchten und binnen kurzem viele Staaten die23 24 25 26 27

Yoshifumi Tanaka: The International Law of the Sea. Cambridge u. a. 2012, S. 16 f., 20 f. Callum Roberts: The Unnatural History of the Sea. Washington DC 2007, S. 140–144; W. Jeffrey Bolster: Opportunities in Marine Environmental History, in: Environmental History 11 (2006), S. 567–597, hier 574 f. Vgl. Garret Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science 162, No. 3859 (13.12.1968), S. 1243–1248. Mero: Mineral Resources (wie Anm. 3), S. 275. Ebd., S. 292.

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sem Beispiel folgten.28 Die seeseitige Begrenzung des Festlandsockels wurde zunächst nicht abschließend geklärt, da die technischen Möglichkeiten, Öl- und Gasvorkommen auszubeuten, lange Zeit ohnehin auf relativ geringe Tiefen begrenzt waren. Die erste UN-Seerechtskonferenz 1958 (UNCLOS I) wählte sogar die technische Nutzungsmöglichkeit als eines von mehreren Kriterien für die Ausdehnung des Festlandsockels.29 Demnach wäre es folgerichtig gewesen, die Ansprüche der Küstenstaaten auf den Tiefseeboden auszudehnen, sobald dessen Nutzung technisch möglich war. Eine solche Regelung hätte – sobald die Grenzen einmal festgelegt worden wären – ein hohes Maß an Rechtssicherheit geschaffen, und Bergbauunternehmen hätten über den Abbau von Manganknollen mit der jeweiligen Regierung verhandeln können, wie bisher beim terrestrischen Bergbau. Allerdings hätte eine solche Lösung nur einige wenige Staaten begünstigt, in erster Linie solche mit langen Küstenlinien sowie ehemalige Kolonialmächte, die weltweit viele kleine ozeanische Inseln besitzen.30 Daher lehnte die Mehrheit der Staaten eine solche Regelung ab, darunter die USA, deren Präsident Lyndon B. Johnson 1966 öffentlich klar vor einer „new form of colonial competition“ warnte und forderte, der Meeresboden solle „the legacy of all human beings“ bleiben.31 Dabei dachte Johnson vermutlich an eine möglichst liberale Regelung im Sinne der ersten Option. Tatsächlich entwickelte sich die internationale Diskussion jedoch in Richtung der dritten Möglichkeit, die den Tiefseeboden mit seinen Ressourcen ebenfalls als gemeinsames Erbe der Menschheit verstand, ihn aber unter ein internationales Regime stellen wollte. Diesen Gedanken brachte zuerst der maltesische UN-Botschafter Arvid Pardo32 in die UN-Vollversammlung am 1. November 1967 ein. Angesichts der Gefahr einer staatlichen oder privaten Aneignung, aber auch der nuklearen Militarisierung, forderte Pardo die Verwaltung des Tiefseebodens als common heritage of mankind durch eine zu schaffende internationale Behörde, die etwaige Gewinne aus der Vergabe von Förderlizenzen bevorzugt den Entwicklungsländern zukommen lassen sollte.33 28

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Tanaka: Law (wie Anm. 23), S. 132 f.; Donald Cameron Watt: First Step in the Enclosure of the Oceans: The Origins of Truman’s Proclamation on the Resources of the Continental Shelf, 28 September 1945, in: Marine Policy 3 (1979), S. 211–224. Unter Festlandsockel oder Kontinentalschelf versteht man die untermeerische Fortsetzung eines Kontinents. Die Abgrenzung zum Tiefseeboden ist oft schwierig. Tanaka: Law (wie Anm. 23), S. 132 f. Pardo: Seabed (wie Anm. 18), S. 133 f. Lyndon B. Johnson: Remarks at the Commissioning of the Research Ship Oceanographer, July 13, 1966, in: Public Papers of the Presidents of the United States. Lyndon B. Johnson, 1966 (II). Washington 1967, S. 722–724, hier 724. Arvid Pardo (1914–1999) wurde in Italien geboren und war während des Zweiten Weltkrieges politischer Gefangener in Italien und später Deutschland. Nach dem Krieg hatte er verschiedene Positionen bei der UNO inne, bevor er 1964 UN-Botschafter Maltas wurde. Seit 1972 arbeitete Pardo zu Fragen des Seerechts und des common heritage-Prinzips an Universitäten in den USA; Carl Q. Christol: In Memoriam: Arvid Pardo, in: PS: Political Science and Politics 32 (1999), S. 777 f. United Nations General Assembly, Twenty-Second Session, First Committee, 1515th Meeting,

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Die Bedeutung von Pardos Vorschlag lag darin, dass er als Erster zwei bis dahin getrennte Ansätze zusammenführte: Zum einen hatte man gerade auf der Ebene der UN begonnen, sich ein Bild von der möglichen Rohstoffgewinnung aus der Tiefsee zu machen, zum anderen war in dem kurz zuvor verabschiedeten Weltraumvertrag der Weltraum als aneignungsunfähiger, demilitarisierter Raum definiert worden.34 Der Vorschlag fand breite Zustimmung in den UN und führte schließlich zur Resolution 2749 (XXV) der Vollversammlung vom 17. Dezember 1970, die Pardos Idee aufnahm und die Staatengemeinschaft aufforderte, auf einer internationalen Konferenz ein entsprechendes Regime ins Leben zu rufen.35 Somit wurde der Tiefseebergbau zu einem der Hauptthemen auf der dritten UN-Seerechtskonferenz (UNCLOS III, 1973–1982), einer gemessen an Dauer und Teilnehmerzahl gewaltigen Konferenz, die im Unterschied zu den vorangegangenen Tagungen 1958 und 1960 die große Zahl der kurz zuvor unabhängig gewordenen Staaten miteinschloss. Diese neuen Staaten bekamen hier erstmals die Gelegenheit, ihre Auffassungen und Interessen in die Weiterentwicklung der internationalen Ordnung einzubringen. Der Tiefseebergbau bzw. der Meeresboden außerhalb nationaler Hoheitsgebiete avancierte zum umstrittensten Thema auf der Konferenz, wobei sich drei Interessengruppen gegenüberstanden: Die westlichen Industriestaaten waren an einem möglichst ungehinderten Zugang zu den Ressourcen interessiert, da sie die größten Verbraucher der entsprechenden Metalle waren und über Kapital und Technologie für den Tiefseebergbau verfügten. Entwicklungsländer hingegen, denen diese Möglichkeiten fehlten, wollten nicht vom „gemeinsamen Erbe“ ausgeschlossen werden und forderten, entsprechend Pardos Vorschlag, ein internationales Regime für den Tiefseeboden, in dem sie eine Mehrheit der Stimmen gestellt hätten und über den Transfer von Kapital und Technologie an der Ausbeutung dieser Ressourcen beteiligt gewesen wären. Die dritte Gruppe bildeten Erz exportierende Staaten, überwiegend ebenfalls Entwicklungsländer, deren Deviseneinnahmen in hohem Maße von der Erzausfuhr abhingen, so dass sie schwere Schäden für ihre Volkswirtschaften befürchten mussten, wenn Nickel, Kupfer und Kobalt aus den Manganknollen in bedeutenden Quantitäten auf den Markt kämen. Sie verlangten daher eine Kontingentierung des Tiefseebergbaus durch ein internationales Regime und/oder finanzielle Kompensationen.36 Die Diskussionen um den Tiefseebergbau bildeten somit einen Teil des NordSüd-Konfliktes, da die Gräben quer zu den Frontstellungen des Kalten Krieges verliefen. Dabei nahmen die UdSSR und in ihrem Gefolge die übrigen Ostblockstaaten

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Agenda Item 92: General Debate, 1.11.1967 (www.un.org/Depts/los/convention_agreements/ texts/pardo_ga1967.pdf, Zugriff: 18.3.2014). Wolfgang Graf Vitzthum: Die Bemühungen um ein Regime des Tiefseebodens. Das Schicksal einer Idee, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 38 (1978), S. 745–800, hier 761 f. UN General Assemby Resolution 2749 (XXV), 17 Dec 1970, in: Vaughan Lowe/Stefan Talmon (Hg.): The Legal Order of the Oceans. Basic Documents on Law of the Sea. Oxford/Portland 2009, Dok.-Nr. 17. Danny M. Leipziger/James L. Mudge: Seabed Mineral Resources and the Economic Interests of Developing Countries. Cambridge, Mass. 1976, S. 121 f., 131–141; Pardo: Seabed (wie Anm. 18), S. 136.

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in dieser Frage eine reservierte, taktierende Haltung ein. Zwar ließ sich das common heritage-Prinzip durchaus antikapitalistisch interpretieren, aber die UdSSR waren traditionell skeptisch gegenüber internationalen Organisationen, in denen das sozialistische Lager nur über eine Minderheit der Stimmen verfügt hätte.37 Die Bedeutung der Frage nach der rechtlichen Ordnung für die Tiefsee lag nicht nur in der allgemeinen Erwartung, dass der Nutzung von Manganknollen und später auch anderer Tiefseebodenressourcen in naher Zukunft ein hoher ökonomischer Wert zukommen würde. Darüber hinaus ging es den Staaten darum, einen Präzedenzfall zu vermeiden bzw. einen solchen zu schaffen. Der bundesdeutsche Völkerrechtler Wolfgang Graf Vitzthum sah den Kern des common heritage-Prinzips darin, dass es bestimmte Dinge gäbe, die aufgrund ihrer lebenserhaltenden Bedeutung der gesamten Menschheit gehörten und die somit einer einzelstaatlichen oder privaten Aneignung nicht offenständen. Auch wenn das gültige Völkerrecht dem bisher noch entgegenstand, konnte sich Graf Vitzthum daher – anscheinend eher mit Unbehagen – vorstellen, dass in Konsequenz dieses Ansatzes eines Tages auch die Fischbestände der Hohen See, die Erdölvorkommen des Festlandsockels oder sogar terrestrische Bodenschätze wie Öl- oder Uranvorkommen ebenso wie wichtige Verkehrsverbindungen als lebenswichtiges gemeinsames Erbe einem internationalen Regime unterstellt würden.38 Konkreter als solche sehr weitreichende Fortentwicklungen war im Hinblick auf die Schaffung oder Vermeidung eines Präzedenzfalles die Verbindung des common heritage-Prinzips mit der Forderung nach einer sogenannten Neuen Weltwirtschaftsordnung oder New International Economic Order, die ab Mitte der 1970er Jahre die Auseinandersetzung um die Tiefseeressourcen prägte.39 Ausgehend von der Diagnose, dass die bisherigen Strukturen des Welthandels die – überwiegend Rohstoffe exportierenden – Entwicklungsländer benachteiligten und deren wirtschaftliche Entwicklung sowie Unabhängigkeit verhinderten, schlossen sich diese Staaten 1964 auf dem ersten Treffen der UN Conference on Trade and Development (UNCTAD) zur Gruppe der 77 zusammen. Sie forderten eine Reform der Weltwirtschaftsordnung, die die Stabilisierung der Rohstoffpreise auf den Weltmärkten durch Ausgleichslager, Handelspräferenzen für unterentwickelte Staaten sowie Ausgleichszahlungen an diese vorsehen sollte.40 Für die Vertreter einer solchen Neuen Weltwirtschaftsordnung lag die Bedeutung des Tiefseebergbaus darin, dass es hier noch keine bestehende Rechtsordnung gab und sich somit die Chance bot, gleichsam als Türöffner erstmals ein Regime für zunächst eine Ressource zu errichten, das Elemente der Neuen Weltwirtschaftsordnung wie Ausgleichszahlungen an die von einem Preisverfall betroffenen Staaten oder den Kapital- und Technologietransfer an benachteiligte Staaten enthielt. Umgekehrt war den westlichen Industriestaaten daran gelegen, genau einen solchen Präzedenzfall zu verhindern. 37 38 39 40

Graf Vitzthum: Bemühungen (wie Anm. 34), S. 767. Ebd., S. 747 f. Ebd., S. 752. Sönke Kunkel: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 555–577, hier 555–563.

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Die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung stießen aber auch in Teilen der westlichen Zivilgesellschaften auf Zustimmung.41 Elisabeth Mann Borgese (1918–2002) kam über den Tiefseebergbau in Verbindung mit dieser Idee zum Seerecht – einem Thema, dem sie bis zu ihrem Lebensende treu blieb.42 Für sie bildete Pardos Vorschlag über den Tiefseeboden als gemeinsames Erbe der Menschheit „a ‚Constitution for the Oceans‘ and potentially a model for, or a nucleus of, a Constitution for the World“43. Es schien also für alle Beteiligten weit mehr auf dem Spiel zu stehen als die Abbaurechte für Manganknollen. In den langwierigen Verhandlungen der dritten UN-Seerechtskonferenz konnten die zahlenmäßig überlegenen Entwicklungsländer und Erz exportierenden Staaten schließlich ihre Vorstellungen weitgehend durchsetzen. Somit sah das 1982 verabschiedete Seerechtsübereinkommen/Law of the Sea Convention (SRÜ/LOSC) – neben vielen international unstrittigen Neuerungen in anderen Feldern des Seerechts – die Schaffung einer Internationalen Meeresbodenbehörde vor, die nicht nur den Abbau von Manganknollen regulieren und kontingentieren, sondern auch, erstmalig in der Geschichte internationaler Organisationen, über ein eigenes Bergbauunternehmen verfügen sollte. Das notwendige Kapital und Know-how sollten die Industriestaaten der Behörde zur Verfügung stellen, während private oder staatliche Unternehmen nur unter strikter Aufsicht der Behörde und zugleich in Konkurrenz mit dem behördeneigenen Unternehmen oder in einem Joint Venture mit diesem hätten operieren dürfen. Zugleich sollte die Meeresbodenbehörde den Transfer von Gewinnen aus dem Tiefseebergbau an Entwicklungsländer sicherstellen.44 Das SRÜ von 1982 bildete aber letztlich nur einen Pyrrhussieg für die Entwicklungsländer, da wichtige Industrienationen, darunter die USA und die Bundesrepublik Deutschland, das Abkommen mit Verweis auf die Regelungen bezüglich des Tiefseebergbaus nicht unterzeichneten und es somit auch lange Zeit nicht in Kraft trat.45 Bundesdeutsche Ökonomen kritisierten bereits vor 1982 das sich abzeichnende völkerrechtliche Regime als ein dirigistisches und ineffizientes System, das Privatunternehmen unkalkulierbaren rechtlichen und ökonomischen Risiken aussetze und letztlich nur auf die Durchsetzung der Neuen Weltwirtschaftsordnung abziele, aber die Aufnahme des Tiefseebergbaus verhindern könne, so dass das große Rohstoffpotential der Manganknollen ungenutzt bliebe.46 Rückblickend nannte zumindest ein leitender Angestellter des amerikanisch-kanadisch-deutsch-japanischen OMI-Konsortiums das 1982 beschlossene Tiefseebodenregime als ausschlag41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 566, 573. Radkau: Ära (wie Anm. 1), S. 334–336; Kerstin Holzer: Elisabeth Mann Borgese. Ein Lebensportrait. Berlin 2001, S. 171–202. Mann Borgese: Mines (wie Anm. 4), S. 135 f.; siehe auch Dies.: Das neue Seerecht, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 5/1983, S. 28–38, hier 31. United Nations Convention on the Law of the Sea. Part XI, in: Lowe/Talmon (Hg.): Order (wie Anm. 35), Dok.-Nr. 36. Tanaka: Law (wie Anm. 23), S. 178; Law of the Sea [ohne Verf.], in: Yearbook of the United Nations 1982, S. 178–247, hier 183 f. Prewo: Tiefseebergbau (wie Anm. 20); Ders.: Allokationseffekte (wie Anm. 2), S. 724; Stalp: Entwicklungen (wie Anm. 2), S. 274.

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gebenden Grund für die Entscheidung der Unternehmen, sich aus dem Tiefseebergbau zurückzuziehen.47 Da in der Staatengemeinschaft ein Interesse an einem global anerkannten Seerecht bestand und sowohl Manganknollen als Ressource als auch die Neue Weltwirtschaftsordnung als politisches Leitbild im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre ihre Anziehungskraft verloren hatten, lag es nahe, diese Streitfrage in einem Kompromiss zu beseitigen, damit das SRÜ in Kraft treten könne. Dieser Kompromiss war das Durchführungsübereinkommen von 1994, das wesentliche Elemente des 1982 beschlossenen Regimes für den Tiefseeboden bestehen ließ, aber die von den Industriestaaten kritisierten Punkte entschärfte. Damit traten die meisten der bisher dem SRÜ ferngebliebenen Staaten – darunter Deutschland, aber nicht die USA – der Konvention bei, so dass sie Ende 1994 in Kraft trat.48 4. ÖKOLOGISCHE ASPEKTE DES TIEFSEEBERGBAUS Als in den 1960er/70er Jahren die Förderung von Manganknollen erstmals ernsthaft diskutiert wurde, stellte der Tiefseeboden schon keinen vom Menschen völlig unberührten Raum mehr dar. Abgesehen von Asche und Schlacken, die man von Dampfschiffen aus schon seit über einhundert Jahren über Bord geschaufelt hatte, wurden im 20. Jahrhundert bereits vor den 60er Jahren gezielt Munition und radioaktive Abfälle in der Tiefsee versenkt.49 Der Abbau von Manganknollen hätte dennoch den ersten großflächigen und massiven anthropogenen Eingriff in die Tiefsee dargestellt. Auch weil sich hier am Beispiel eines im hohen Maße dem Betrachter nicht zugänglichen und nicht anschaulichen Raumes die Frage stellt, ob eine „Landschaft“ im weitesten Sinne als schützenswert wahrgenommen wird oder nicht, ist der Tiefseebergbau unter umwelthistorischem Blickwinkel interessant. Zudem begann das Projekt in einer Zeit, als weltweit verstärkt über ökologische Probleme nachgedacht wurde,50 so dass dieser Aspekt beim Tiefseebergbau präsenter war als beim Beginn anderer Formen von Ressourcennutzung in früheren Zeiten. Der Tiefseeboden in 4 bis 6 km Tiefe ist kein lebloser Raum, auch wenn die dortigen Lebewesen sicherlich nicht zur „charismatic megafauna“ zählen, also zu Tieren wie Wale, Robben, Pandabären oder Großkatzen, die den Menschen in besonderer Weise ansprechen und als Symbole für den Naturschutz dienen können.51 47 48 49 50 51

Shaw: Nodule (wie Anm. 13), S. 197. Tanaka: Law (wie Anm. 23), S. 178–182; Satya Nandan: Administering the Mineral Resources of the Deep Seabed, in: David Freestone/Richard Barnes/David M. Ong (Hg.): The Law of the Sea. Progress and Prospects. Oxford u. a. 2006, S. 75–92. Hjalmar Thiel u. a.: Polymetallic Nodule Mining, Waste Disposal, and Species Extinction at the Abyssal Seafloor, in: Marine Georesources and Geotechnology 23 (2005), S. 209–220, hier 209. Radkau: Ära (wie Anm. 1), S. 124–133. Karen Oslund: Protecting Fat Mammals or Carnivorous Humans? Towards an Environmental History of Whales, in: Historical Social Research 29 (2004), S. 63–81, hier 76; Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002, S. 329.

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Vielmehr leben in Nachbarschaft der Manganknollen neben wenigen Fischarten vor allem Wirbellose wie Seegurken, Seeigel, Schwämme und verschiedene Würmer.52 Bei den Eingriffen in die Natur durch den Tiefseebergbau lassen sich verschiedene Effekte unterscheiden: Die meisten der auf und zwischen den Manganknollen siedelnden Organismen würden erstens beim Aufsammeln der Knollen durch den sogenannten Kollektor zerstört. Zweitens würde hierbei eine Sedimentwolke aufgewirbelt werden, die zunächst bodennah schwimmende oder treibende Tiere beeinflussen und sich anschließend auf umliegende Gebiete absetzen und dort Lebewesen bedecken würde. Zusammen mit den Manganknollen würden, drittens, zwangsläufig Knollenabrieb und Sedimentmaterial durch den Rohrstrang zum Förderschiff gepumpt und müssten anschließend wieder ins Meer geleitet werden. Je nach Einleitungstiefe könnte diese Sedimentwolke lichtabhängige Algen und filtrierende Organismen beeinträchtigen. Viertens, schließlich würden – wie bei anderen Arten der Metallgewinnung auch – von der Erzaufbereitung an Bord des Förderschiffs oder an der Küste Effekte auf die Umwelt zu erwarten sein.53 Ökologische Aspekte waren in der Diskussion um den Tiefseebergbau von Beginn an zumindest am Rande präsent. Als ein flankierendes Argument sah bereits Mero 1965 einen weiteren Grund für die Förderung von Manganknollen darin, dass das Bestreben, Landschaften für Siedlungen, Landwirtschaft oder zur Erholung zu erhalten, die Eröffnung neuer Bergwerke an Land erschwere.54 Der Tiefseebergbau könne also dazu beitragen, den Flächenverbrauch des kontinentalen Bergbaus zumindest zu begrenzen. Eine mögliche Schutzwürdigkeit des Tiefseebodens selbst taucht in diesem Gedanken zwar nicht auf, aber die Überlegung ist weniger zynisch als es scheint, da es bei einer ökologischen Betrachtung von verschiedenen Formen des Erzabbaus immer nur um die Wahl des geringeren Übels gehen kann.55 Dem Historiker John R. McNeill dient in seiner Globalgeschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert der Nickelerz-Tagebau in Neukaledonien – eines der weltweit wichtigsten Abbaugebiete – als extremes Beispiel für die massiven ökologischen und sozialen Kosten des Bergbaus.56 Industrienahe oder -freundliche Stimmen äußerten mitunter die Auffassung, dass in der Tiefsee prinzipiell kaum Lebewesen vorhanden und damit auch keine ökologischen Schäden zu erwarten seien.57 Dennoch begleiteten Untersuchungen zu den ökologischen Folgen schon die frühesten Abbautests: So lief parallel zu der 52

53 54 55 56 57

Hjalmar Thiel/Gerd Schriever: Deep-Sea Mining, Environmental Impact and the DISCOL Project, in: Ambio 19 (1990), S. 245–250, hier 248; Anthony F. Amos/Oswald A. Roels: Environmental Aspects of Manganese Nodule Mining, in: Marine Policy 1 (1977), S. 156–163, hier 160. Hjalmar Thiel: Ressourcen der Tiefsee: „Erbschaft“ und Verantwortung der Menschheit, in: Gaia 1 (1992), S. 261–271, hier 263; Thiel/Schriever: Mining (wie Anm. 52), S. 246; Amos/ Roels: Aspects (wie Anm. 52), S. 160. Mero: Mineral Resources (wie Anm. 3), S. 277. Vgl. Amos/Roels: Aspects (wie Anm. 52), S. 163; Mann Borgese: Mines (wie Anm. 4), S. 33. John R. McNeill: Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 46–49. Shaw: Nodule (wie Anm. 13), S. 188; Prewo: Tiefseebergbau (wie Anm. 20), S. 188.

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Testförderung 1978 eine Untersuchung unter dem Namen Deep Ocean Mining Environment Study (DOMES).58 Interessanterweise wurden die Forschungen zu den ökologischen Auswirkungen in den 1980er Jahren fortgesetzt und bildeten in dieser Zeit sogar den Schwerpunkt der bundesdeutschen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Tiefseebergbau. Da sich die beteiligten Wissenschaftler bewusst waren, dass man von den Auswirkungen einer so begrenzten Testförderung, wie sie 1978 stattgefunden hatte, nicht auf den Effekt eines industriellen Abbaus schließen könne, sollte ein Experiment einen großformatigen Eingriff simulieren. Daher startete 1989 mit Unterstützung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie ein langjähriger Großversuch unter der Bezeichnung DISCOL (Disturbance and Re-Colonization Experiment in a Manganese Nodule Area in the South Pacific). Dessen Fragestellung richtete sich vor allem auf die Geschwindigkeit der Wiederbesiedelung des Tiefseebodens nach einer großflächigen Störung. Hierzu wurde eine Art Egge über den Meeresboden gezogen, wodurch auf einer Fläche von etwa 11 km2 die Manganknollen und dortigen Organismen untergepflügt oder von aufgewirbeltem Sediment bedeckt wurden. Anschließend wurde das Gebiet über mehrere Jahre regelmäßig untersucht, um festzustellen, ob und nach wie vielen Jahren eine Wiederbesiedlung durch die ursprüngliche Lebensgemeinschaft stattfinden würde. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das 1991 von Wissenschaftlern aus den USA und der ehemaligen Sowjetunion durchgeführte Benthic Impact Experiment (BIE).59 Da sich aber auch die Ergebnisse solcher Großversuche nicht ohne Weiteres auf den kommerziellen Tiefseebergbau übertragen ließen, forderte der deutsche Ozeanograph Hjalmar Thiel 1992 auch Untersuchungen zu Risikoabschätzungen während der sogenannten kommerziellen Pilotphase. Hierbei handelte es sich um den etwa fünfjährigen Dauertest in einem Maßstab von 10 bis 20 Prozent, der als letzte Stufe dem Beginn des Tiefseebergbaus (Thiel rechnete damit in etwa 15 Jahren, also um 2007) vorangehen würde.60 Soweit ist es jedoch bis heute nicht gekommen. Die Ergebnisse des DISCOL-Versuchs legen nahe, dass die ökologischen Auswirkungen begrenzt wären und zumindest zu keinem Biodiversitätsverlust in der Tiefsee insgesamt führen würden. In dem Testgebiet waren sieben Jahre nach der Störung die meisten Tierarten zurückgekehrt. Zudem war inzwischen bekannt, dass sich weite Strecken des Tiefseebodens ohnehin nicht für einen Abbau eigneten, da dort die Besatzdichte der Manganknollen auf dem Meeresboden oder der Anteil kommerziell interessanter Metalle zu gering oder das Gelände zu uneben für die vorhandene Fördertechnik ist. Der Abbau würde sich daher auf einzelne Felder von jeweils maximal etwa 100 km2 beschränken. Unter Berücksichtigung des Effektes der Sedimentwolke kam eine Forschergruppe 2005 zu der Annahme, dass die ökologischen Auswirkungen lediglich einzelne Felder von unter 200 km2 betreffen

58 59 60

Thiel: Ressourcen (wie Anm. 53), S. 262. Ebd., S. 266 f.; Thiel/Schriever: Mining (wie Anm. 52). Thiel: Ressourcen (wie Anm. 53), S. 268 f.

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würden. Damit wären die Eingriffe noch hinreichend isoliert, um das Aussterben von Tierarten zu verhindern und eine Wiederbesiedlung zu ermöglichen.61 Selbst wenn der Tiefbergbau nicht zu einem Artensterben in der Tiefsee führen würde, würde es sich dennoch um einen massiven Eingriff in ein bisher kaum berührtes Ökosystem handeln. Insofern stellt sich vor dem Hintergrund des verstärkten ökologischen Bewusstseins seit etwa 1970 die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz. Wenn ein Abbau Ende der 1970er/Anfang der 80er Jahre begonnen hätte, hätte sich durchaus ein erhebliches Konfliktpotential mit Umweltschutzgruppen ergeben können. Ein politologischer Artikel von 1980 sah in diesem Zusammenhang Parallelen zwischen dem Walfang und dem Tiefseebergbau. Der Artikel interpretierte die Konfrontation zwischen Greenpeace und japanischen sowie sowjetischen Walfangflotten als neuartigen Typ von internationalem Ressourcenkonflikt zwischen Staaten und einer internationalen Nichtregierungsorganisation, der es nicht um die Nutzung, sondern um den Erhalt der Ressource ging. Ein ähnlicher Konflikt könnte sich dem Artikel zufolge am Tiefseebergbau entzünden. Wie im Fall des Walfangs ließe sich der Tiefseebergbau leicht und medienwirksam mit Schlauchbootaktionen und Ähnlichem behindern, und ebenfalls wären beim Tiefseebergbau nur wenige Staaten beteiligt, während die Weltöffentlichkeit gegen diese Ressourcennutzung hätte mobilisiert werden können. Zu Letzterem wäre es nicht nur aufgrund der ökologischen Implikationen, sondern auch insbesondere dann gekommen, wenn der Tiefseebergbau von wenigen Industrienationen außerhalb einer UN-weiten Regelung und gegen den Willen weiter Teile der Staatengemeinschaft betrieben worden wäre.62 5. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Obwohl das Thema um 1980 noch als hochaktuell galt, ebbte das Interesse an den Manganknollen bald danach stark ab, und bis heute fand keine Förderung im größeren Maßstab statt. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zunächst einmal hatte sich der Abbau als deutlich schwieriger herausgestellt, als Mero es 1965 angenommen hatte. Ein dem bundesdeutschen Tiefseebergbau-Konsortium verbundener Autor fasste 1980 die Schwierigkeiten bildhaft zusammen, indem er schrieb, die Herausforderung bestände darin, „mit einem Zeppelin, der in 5 km Höhe über den Wolken treibt, in stockdunkler Nacht und bei stürmischen Wetter Kartoffeln mit einem langen Ofenrohrrüssel streng entlang den Furchen von Feldern zu ernten, die größenmäßig und landschaftlich etwa den Raum Hannover–Frankfurt–Leipzig umfassen“63. Wie die gelungene Testförderung 1978, bei der allerdings noch viele Probleme auftraten,64 zeigte, ließ sich diese Herausforderung durchaus meistern. Die entscheidenden Gründe lagen dagegen sowohl in dem für Investoren ungünstigen ins61 62 63 64

Thiel u. a.: Nodule (wie Anm. 49), S. 209–220. Robert Mandel: Transnational Resource Conflict: The Politics of Whaling, in: International Studies Quarterly 24 (1980), S. 99–127, hier 123 f. Fellerer: Manganknollen (wie Anm. 9), S. 72. Shaw: Nodule (wie Anm. 13), S. 194–197.

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titutionellen Rahmen, der sich seit Ende der 1970er Jahre abzeichnete und 1982 mit dem SRÜ beschlossen wurde, als auch in der Entwicklung der Metallpreise: Entgegen den Befürchtungen kam es weder zu einer realen Erschöpfung der Vorräte noch zu einer politisch bedingten Gefährdung der Rohstoffversorgung, die Investitionen in den Tiefseebergbau gerechtfertigt hätten.65 Letztlich waren beide Aspekte – institutioneller Rahmen und Metallpreise – bei der Entscheidungsfindung nicht zu trennen und für die Akteure nur in Abhängigkeit voneinander zu bewerten. Fragen nach den ökologischen Auswirkungen wurden bereits früh gestellt, und obwohl sie nicht zur Einstellung des Projektes beitrugen, hätte es bei einem tatsächlichen Beginn des Tiefseebergbaus Potential für Konflikte mit Umweltschützern gegeben. Das Projekt wurde allerdings nie komplett zu den Akten gelegt. Nach 1982 stellten zwar die USA, die Bundesrepublik und Frankreich die Exploration ein, aber Japan, Südkorea, Indien und China starteten eigene Forschungsprogramme, während die Bundesrepublik ab 1989, wie bereits erwähnt, die ökologischen Auswirkungen untersuchte.66 Seit dem Inkrafttreten des Durchführungsübereinkommens zum SRÜ 1994 existiert auch die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority/ISA) mit Sitz in Jamaika, die sämtliche Aktivitäten in der Tiefsee überwacht und koordiniert, wenn auch heute von einem behördeneigenen Tiefseebergbauunternehmen nicht mehr die Rede ist.67 Obwohl eine kommerzielle Förderung bislang nie stattgefunden hat, wurde der heute gültige institutionelle Rahmen für den Tiefseeboden außerhalb nationaler Hoheitsgewässer – etwa 40 Prozent der Oberfläche der Erde – wesentlich durch das Interesse an den Manganknollen seit den 1960er Jahren bestimmt. Im 21. Jahrhundert ist angesichts steigender Rohstoffpreise ein erneutes Interesse an Manganknollen und anderen Ressourcen der Tiefsee erkennbar. Daher erwarb die deutsche Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe 2006 für 250.000 Dollar von der Internationalen Meeresbodenbehörde auf 15 Jahre die Explorationsrechte für Manganknollen in einem Gebiet von 75.000 km2 im Pazifik und führt dort seitdem Untersuchungen durch.68 Neben Manganknollen geraten auch vermehrt andere Mineralien aus der Tiefsee in den Blick. Hierbei handelt es sich um kobaltreiche Krusten und metallhaltige Massivsulfide, die sich an den Hängen von untermeerischen Vulkanen bzw. am Austritt heißer Quellen an den tektonischen Plattengrenzen finden lassen.69 Während die institutionellen Rahmenbedingungen seit dem Inkrafttreten des (modifizierten) SRÜ 1994 nunmehr unstrittig sein sollten, ist die Rentabilität des 65 66 67 68 69

Glasby: Mining (wie Anm. 11), S. 165; James M. Broadus: Seabed Materials, in: Science 235, No. 4791 (20.2.1987), S. 853–860, hier 856. Hingegen die Bedeutung der institutionellen Rahmenbedingungen betonend: Shaw: Nodule (wie Anm. 13), S. 197. Glasby: Mining (wie Anm. 11), S. 163, 167; James M. Broadus: Asian Pacific Marine Minerals and Industry Structure, in: Marine Resource Economics 3 (1986), S. 63–88, hier 65 f. Vgl. www.isa.org.jm (Zugriff: 18.3.2014). O. A.: Manganknollen – eine Rohstoffquelle der Zukunft, in: Tätigkeitsbericht der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe 2005/2006. Hannover 2007, S. 59 f. Michael Wiedicke u. a.: Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee – Chance und Herausforderung. Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe: Commodity Top News Nr. 40, 6.6.2012, S. 3 f.; Glasby: Lessons (wie Anm. 3), S. 553.

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Tiefseebergbaus immer noch fraglich. Ökologische Bedenken sind heutzutage in dem seit einigen Jahren neubelebten öffentlichen Diskurs über Manganknollen und andere Tiefseeressourcen deutlich zentraler als früher, wie die Presseberichterstattung und auch eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag vom Februar 2012 zeigen.70 Der medienwirksame Protest der Umweltorganisation Greenpeace gegen die völkerrechtlich wohl nicht zu beanstandende Ölsuche durch Russland in der Barentssee im September 2013 deutet ebenfalls auf eine erhöhte Aufmerksamkeit der (westlichen) Öffentlichkeit für ökologische Aspekte bei der Ressourcennutzung im Meer. Einem Einstieg in den Tiefseebergbau in näherer Zukunft stände daher höchstwahrscheinlich ein erheblicher öffentlicher Widerstand entgegen.

70

Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Valerie Wilms, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 17/8753, 28.2.2012; Sarah Zierul: Der Kampf um die Tiefsee. Wettlauf um die Rohstoffe der Erde. Hamburg 2010, S. 212–250; Dies.: Goldrausch in der Tiefsee, in: Süddeutsche Zeitung, 23.1.2009, S. 16; Gerald Traufetter: Naschen von Neptuns Schatz, in: Der Spiegel 40/2006 (2.10.2006), S. 146–148.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON OLE SPARENBERG „Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982“ Lars Bluma, Bochum Die Allokation von Ressourcen im Allgemeinen und insbesondere die Nutzung von Rohstoffen findet in der Geschichtswissenschaft wieder verstärkte Aufmerksamkeit, wie auch der Historikertag 2012 zeigte. Unter dem Thema Ressourcen-Konflikte gab es zahlreiche Vorträge, die sich in vielfältigen methodisch-theoretischen Perspektiven mit der Nutzung von Primärrohstoffen und den sich daraus ergebenden Konflikten beschäftigten. Aber natürlich ist auch die GSWG-Tagung 2013 ein Zeichen dafür, dass eines der grundlegenden sozialen Handlungsfelder des Menschen und ein wesentliches Menschheitsproblem über alle Epochen der Geschichte hinweg vermehrte Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft erfährt – und zwar jenseits der noch relativ neuen Subdisziplin der Umweltgeschichte, die sich diesem Thema schon intensiv gewidmet hat. Ole Sparenbergs Beitrag kann als ein Brückenschlag von der Umweltgeschichte zu anderen historischen Disziplinen – namentlich zur Wirtschafts-, aber auch zur Rechtsgeschichte – interpretiert werden. Ausgehend von den wirtschaftlichen und strategischen Motiven der Akteure Ende der 1960er Jahre, den Tiefseebergbau als eine realistische und ökonomisch lohnenswerte Aufgabe in Angriff zu nehmen, beschreibt er konzis die Entstehung eines internationalen Tiefseeregimes, welches auf der Idee des „Gemeinerbes der Menschheit“ beruht und in den UN-Seerechtskonferenzen 1958, 1960 und 1973 bzw. 1982 kodifiziert sowie 1994 mit der Gründung der International Seabed Authority institutionalisiert wurde. Bei der abschließenden umwelthistorischen Beurteilung des Tiefseebergbaus kommt Sparenberg zu einer recht ernüchternden Einschätzung, dass die ökologischen Auswirkungen zwar durchaus erforscht wurden, jedoch nur nachrangige Bedeutung besaßen; was allerdings nicht heißt, dass spätestens seit Ende der 1980er Jahre die ökologischen Aspekte des Tiefseebergbaus nicht erhebliches Konfliktpotential für die öffentliche Einschätzung gehabt hätten, wenn es denn eine kommerzielle Ausbeutung der Tiefsee gegeben hätte. Dass es bis heute nicht zu einer Förderung der Meeresschätze gekommen ist, lag aber, so das Resümee, nicht an ökologischen Bedenken, sondern am institutionellen Rahmen, den die internationalen Seerechtskonferenzen absteckten, sowie an der Entwicklung der Metallpreise, oder genauer, der Preise für Nickel und Kobalt. Diese These wird am Ende des Kommentares noch einmal aufgegriffen werden.

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In diesem Korreferat werden vier Perspektiven stark gemacht, die eine stärkere Beachtung bei der historischen Betrachtung des Tiefseebergbaus unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit finden sollten: 1. die kulturhistorische Perspektive 2. die wissenschafts- und technikhistorische Perspektive 3. die stärkere Erweiterung des zeitlichen Horizonts der Untersuchung bis zur Gegenwart 4. die rechtsvergleichende Perspektive Zunächst zum ersten Punkt, zur kulturhistorischen Perspektive. Die Bemühungen der Wirtschaftsgeschichte, kulturhistorische Fragestellungen zu integrieren, dürften hinlänglich bekannt sein – hier sei stellvertretend nur auf Hartmut Berghoff und Jakob Vogel verwiesen.1 Grob zusammengefasst, geht es um den Einfluss von Werten, Traditionen, Normen sowie kollektiven und individuellen Wahrnehmungsmustern auf das wirtschaftliche Handeln und auf die Ausgestaltung ökonomischer Institutionen. Diese kulturhistorische Dimension scheint mir unabdingbar zu sein, um insbesondere die Etablierung des internationalen Tiefseeregimes zu verstehen, das die ökonomische Erschließung der Tiefsee bis heute reguliert. Neben den handfesten ökonomischen und politischen Interessen der Akteure werden in den Auseinandersetzungen um die Nutzung der Tiefsee und deren Regulierung auch Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster der Akteure sichtbar, insbesondere deren unterschiedliche Auffassungen darüber, was der Ozean als Gemeinerbe der Menschheit eigentlich meint und welche politischen und ökonomischen Ziele mit einem solchen Konzept verfolgt werden sollen. Die von Arvid Pardo 1967 ins Spiel gebrachte Idee, die Tiefsee als common heritage of mankind zu verstehen, also als Allmende, wie Sparenberg ausführlich dargelegt hat, besaß nämlich ein gleichsam utopisches Potential, welches zumindest bis in die 1980er Jahre geradezu visionäre Kraft besaß. Sparenberg fasst dies recht trocken als Versuche zur Etablierung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung zusammen. Liest man sich jedoch z. B. den Bericht Elisabeth Mann Borgeses Die Zukunft der Weltmeere an den Club of Rome von 1985 durch, dann wird einem bewusst, welche Kraft diese Vision im Faktischen und im Ökonomischen entfalten konnte.2 Borgese, die an der Ausarbeitung der Seerechtskonvention beteiligt war, betont dort mehrmals, dass die rechtliche Regulierung des Meeres und der Tiefsee ein Laboratorium für die Schaffung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung sei, die – mit einer Ökonomie des Gemeinerbes als Leitgedanken – globale Krisen bändigen sowie Nationalismus und den Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus überwinden würde. Vor allem sollte es zu einem gerechten Ausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern kommen, was zu einem führenden Thema der postkolonialen Diskussion bis in die 1990er Jahre wurde. 1 2

Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a. M./New York 2004. Elisabeth Mann Borgese: Die Zukunft der Weltmeere. Ein Bericht an den Club of Rome. Wien u. a. 1985.

Korreferat zum Beitrag von Ole Sparenberg

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Die Ökonomie des Gemeinerbes umfasst insbesondere folgende Prinzipien: – Non-Appropriation: Eigentumsfreiheit. – Common Management: Alle Nutznießer sind am Management beteiligt. – Benefits Sharing: Aufteilung des finanziellen Nutzens und der Vorteile des gemeinsamen Managements (z. B. Technologietransfer). – Peaceful Purposes: Freihaltung des maritimen Raumes für friedliche Zwecke. – Preservation for Future Generations: Nachhaltigkeit im Sinne der Rücksichtnahme auf künftige Generationen. Eng mit dieser Vision einer neuen Wirtschaftsordnung verknüpft war der utopische Gehalt der Ozeane als wirtschaftlich unerschöpfliche Ressource.3 Schon seit Jahrhunderten waren die Ozeane Projektionsflächen für die Ängste und Hoffnungen der Menschen, und mit der Möglichkeit des Tiefseebergbaus verbanden sich seit den 1960er Jahren weitgehende Hoffnungen, die ökonomischen Krisen hinter sich zu lassen, indem die als unbegrenzt angesehenen Rohstoffvorräte der Ozeane genutzt werden. Es ist genau dieser Gedanke, und zwar sowohl im Hinblick auf Fischfang, Aquafarming, der Energiegewinnung durch Gezeiten- und Wellenkraftwerke als auch im Hinblick auf das kontinuierliche „Nachwachsen“ bergbaulich relevanter Erze, der die Diskussion um die Ausbeutung der Tiefsee historisch so interessant macht, da dieser gleichsam ein Widerpart zu der vom Club of Rome verbreiteten Auffassung von der Endlichkeit der Ressourcen darstellt. Die auf Raubbau basierende, nur entnehmende Industriewirtschaft, die das ursprüngliche Gleichgewicht von Nehmen und Geben zerstöre, könne so ein Ende finden, oder in den Worten Borgeses: „Eine Verlagerung zum maritimen Bergbau könnte zur Wiederherstellung dieses Gleichgewichts beitragen: ein Nehmen aus dem Meer und ein Rückgeben an das Meer, ein Recycling von Stoffen, die somit nicht mehr als erschöpft angesehen werden müssen.“4 Borgese spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „maritimen Revolution“, die auf das gesamte globale politische und ökonomische Regime ausstrahlen könne.5 Es sollte deutlich geworden sein, dass die Realisierung und Regulierung des Tiefseebergbaus zumindest bis in die 1980er Jahre hinein nicht nur eine Frage der ökonomischen Rationalität war, sondern maßgeblich angetrieben wurde von visionären Hoffnungen, die als Ausdruck einer Übergangszeit von technokratischer Hochmoderne zur Postmoderne angesehen werden können.6 Das technokratische Element dieser Vision war, dass mit der Realisierung des Tiefseebergbaus die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme der damaligen Zeit hinweggefegt würden. Jedoch war sich auch Borgese bewusst, dass ein solcher Eingriff in ein 3 4 5 6

Callum Roberts: The Unnatural History of the Sea. Washington 2007; Ole Sparenberg: The Oceans – A Utopian Resource within the 20th Century, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv. Wissenschaftliches Jahrbuch des Deutschen Schiffahrtsmuseums 30 (2007), S. 407–420. Borgese: Zukunft (wie Anm. 2), S. 52. Ebd., S. 77. Zum Konzept der technokratischen Hochmoderne vgl. Uwe Fraunholz/Sylvia Wölfel (Hg.): Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne. Thomas Hänseroth zum 60. Geburtstag. Münster u. a. 2012.

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komplexes System neue, unvorhersehbare Probleme mit sich bringen konnte, sodass der technokratische Fortschrittsglaube schon getrübt wurde durch eine kritische, postmoderne Reflexivität. Allerdings, und damit leite ich zum zweiten Punkt meines Kommentares über, der wissenschafts- und technikhistorischen Perspektive, war die praktisch-technische Realisierung des Tiefseebergbaus, anders als z. B. die ökonomische Ausbeutung des Weltraums, am Ende der 1960er Jahre schon absehbar möglich. Genau genommen mag der Ozean betreffend seiner vorgeblich unerschöpflichen Ressourcen und den damit einhergehenden globalen Auswirkungen, die man sich erhoffte, eine Utopie, ein Nicht-Ort gewesen sein. In wissenschaftlicher und technischer Hinsicht war der Tiefseebergbau aber spätestens seit den 1980er Jahren alles andere als ein Zukunftstraum, sondern er war ganz konkret möglich. Andersherum gewendet: Das utopische Potential der maritimen Ökonomie entfaltet sich erst auf der Grundlage der wissenschaftlich-technischen Durchdringung der Ozeane und der Tiefsee, die aus einem Nicht-Ort einen realen Ort machten. Die Verbindung, die Wissenschaft und Technik mit den ökonomischen Interessen an der Meeresnutzung eingingen und bis heute eingehen, lässt sich eindrücklich am Tiefseebergbau studieren. Wissenschaftliche Kampagnen, z. B. die Fahrten des deutschen Forschungsschiffes Sonne 1989 im Südost-Pazifik und 1990 in der Bismarck-See im Rahmen des Projektes OLGA (Ozeanische Lagerstätten: Geologisch-Mineralogische Analyse)7 oder das Forschungsvorhaben DISCOL (Disturbance and Re/Colonization Experiment in the Deep South Pacific Ocean) von 1989 bis 1996, welches die ökologischen Folgen des Manganknollenabbaus untersuchte8, sowie die seit 2006 laufenden Forschungsprojekte der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe im deutschen Lizenzgebiet im äquatorialen Nordostpazifik9, zeigen sehr deutlich die Rolle wissenschaftlicher Forschung im Rahmen der deutschen Wirtschaftspolitik, die den Tiefseebergbau immer noch oder schon wieder als ein „attraktives Zukunftsfeld“ definiert.10 Sparenberg endet in seinem Beitrag jedoch mit der Verabschiedung des Seerechtsübereinkommens 1982 und gibt dann nur noch einen kurzen Ausblick auf die folgende Entwicklung. Es lohnt sich allerdings, die institutionellen Hemmnisse für einen kommerziellen Tiefseebergbau und deren Überwindung etwas detaillierter 7

8 9 10

Werner Tufar/Horst Jullmann: Mit OLGA in den „Wienerwald“. Geowissenschaftliches Großprojekt zur Untersuchung von Lagerstätten in den Ozeanen, in: Spiegel der Forschung 1 (1991), S. 39–45; Werner Tufar: Modern Hydrothermal Activity, Formation of Complex Massive Sulfide Deposits and Associated Vent Communities in the Manus Back-Arc Basin (Bismarck Sea, Papua New Guinea), in: Mitteilungen der österreichischen geologischen Gesellschaft 82 (1989), S. 183–210. Hjalmar Thiel/Gerd Schriever: Deep-Sea Mining, Environmental Impact and the DISCOL Project, in: Ambio 19 (1990), S. 245–250. Michael Wiedicke u. a.: Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee – Chance und Herausforderung, in: Commodity Top News 40 (2012), S. 1–10. Ebd., S. 9. Erst kürzlich wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Nachfolgeschiff der „Sonne“ mit gleichem Namen auf Kiel gelegt, welches ab Januar 2015 im Südpazifik und Indischen Ozean die maritimen Ressourcen erforschen soll. Pressemitteilung des BMBF vom 12.04.2013 [Pressemitteilung 029/2013].

Korreferat zum Beitrag von Ole Sparenberg

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darzustellen, um die Rolle der internationalen Regulierungsregimes besser einschätzen zu können. Die institutionelle Gestaltung von 1982 folgte weitgehend den Vorschlägen der Entwicklungsländer und enthielt sehr restriktive Bestimmungen, um Abbaulizenzen zu erhalten. Beantragte Bergbaufelder mussten so groß sein, dass die UN-Meeresbehörde eine Hälfte mit einem eigenen Unternehmen hätte ausbeuten können. Zudem gab es strikte antimonopolistische Regulierungen, sodass z. B. Unternehmen eines Staates nie mehr als zwei Prozent des internationalen Meeresbodens abbauen durften. Außerdem konnte die Meeresbehörde Produktionsmengen begrenzen, und es war ein kostenloser Technologietransfer zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vorgesehen. Im Rat der Meeresbehörde konnten die Industrieländer jederzeit von den Entwicklungsländern überstimmt werden.11 Die USA, Großbritannien und die BRD traten dem Seerechtsübereinkommen (SRÜ) auf Grund dieser Restriktion gar nicht erst bei und formulierten nationale Gesetze. Schaut man also nur auf den Status quo von 1982, so ist wohl zuzustimmen, dass sowohl die institutionellen Rahmenbedingungen als auch die Rohstoffpreise einen kommerziellen Tiefseebergbau in den 1980er Jahren verhinderten. Allerdings gilt es, im Weiteren zu differenzieren. So kam es 1994 zu erheblichen Veränderungen im Seerechtsübereinkommen. Unter anderem war der kostenlose Technologietransfer zwischen Entwicklungsund Industrieländern nun keine Voraussetzung mehr, um eine Lizenz für eine Unternehmung zu erhalten, und auch das Abstimmungsprozedere im Rat wurde zu Gunsten der Industrieländer verändert. Die genannten Staaten, die die Regelungen von 1984 nicht gebilligt hatten, traten nun dem SRÜ bei. Insgesamt lässt sich festhalten, dass seit 1994 keine institutionellen Hindernisse für eine kommerzielle Ausbeutung der Tiefsee nach den Vorstellungen der kapitalistischen Industrieländer mehr bestanden. Mithin war die Reform des Tiefseeübereinkommens zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für einen kommerziellen Tiefseebergbau. Letztendlich ist es die Wirtschaftlichkeit der Abbau- und Extraktionsverfahren, die über seine Zukunft bestimmen wird. Inzwischen sind durch die Internationale Meeresbehörde sog. Mining Codes für die Prospektion und die Exploration von Manganknollen und Massivsulfiden erstellt worden, aber noch nicht für deren Abbau.12 Die Einschätzung, dass ökologische Aspekte in den Regulierungsmechanismen allenfalls am Rande eine Rolle spielten, mag für die Entwicklung bis 1984 richtig sein, inzwischen werden aber durchaus die ökologischen Auswirkungen eines möglichen Tiefseebergbaus ernsthaft diskutiert. In der Explorationsphase sind die Vertragsnehmer schon jetzt verpflichtet, Umwelt-Referenzdaten zu sammeln, die in einen zukünftigen Umweltmanagementplan der Meeresbehörde einfließen sollen.13 Die Ausweisung von Schutzgebieten, in denen kein Abbau vorgenommen werden darf, sowie die Verpflichtung der Lizenznehmer zur Vorlage von Umweltverträglichkeitsgutachten werden inten11 12 13

Hanns J. Buchholz: Tiefseebergbau im Pazifik. Technische Möglichkeiten und internationale Rahmenbedingungen, in: Geographische Rundschau 46 (1994), S. 631–636, hier 634. Wiedicke u. a.: Rohstoffe (wie Anm. 9), S. 1–10. Ebd., S. 8.

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siv diskutiert und dürften bald obligatorisch sein. Der Nachhaltigkeitsgedanke hat also durchaus Einzug gehalten in die Diskussionen um den Tiefseebergbau. Ob ökologische Bedenken ihn bei vorausgesetzter Rentabilität tatsächlich verhindern können, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt schwer einschätzen. Ich bin in diesem Punkt etwas optimistischer als Sparenberg, denn die ökologischen Folgen wären zumindest nach dem heutigen Kenntnisstand nicht irreversibel. Zudem gäbe es einen internationalen Konsens, wie in Umweltfragen zu agieren wäre, und letztendlich, so zynisch dies auch klingen mag, ist der Pazifik weit weg und sehr tief. Die Extraktion des Metalls aus Manganknollen, die an Land erfolgen würde, wäre unter dem Gesichtspunkt ökologischer Nachhaltigkeit sicherlich problematischer als der Abbauprozess. Obwohl schon seit den 1980er Jahren diskutiert, spielt dieses Problem in den aktuellen Diskussionen keine zentrale Rolle. Zudem müssten in einer seriösen Nachhaltigkeitsdebatte die möglichen wirtschaftlichen Wohlstandseffekte des Tiefseebergbaus mit einfließen. Zumindest die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe kam 2012 nach Abwägung der ökologischen und ökonomischen Faktoren zum Urteil, dass ein „Beginn des Abbaus durch einen der Lizenznehmer in der kommenden Dekade“ denkbar erscheint.14 Ich möchte diese Überlegungen beenden mit einem Hinweis darauf, dass es wichtig wäre, die Regulierung der Tiefseenutzung sowohl in wirtschafts- als auch kulturhistorischer Perspektive mit ähnlichen internationalen Abkommen betreffend Weltraum, Mond und Antarktis zu vergleichen, die ebenso Elemente des Gemeinerbegedankens enthalten. Die internationalen Regulierungsbemühungen von Weltraum und Antarktis, denen man in Bezug auf die vorhandenen Ressourcen ein ähnliches utopisches Potential wie der Tiefsee zumaß, haben allerdings unterschiedliche rechtliche Konkretisierungen erfahren.15 Aus historischer Perspektive wäre es interessant zu erforschen, warum diese „Frontier-Räume“ menschlicher Nutzung im Hinblick auf deren ökonomische Verwendung unterschiedliche institutionelle Arrangements hervorbrachten. Ebenso wären Vorläufer für operative öffentliche und private internationale Institutionen, z. B. Intelsat und Inmersat, in eine rechtshistorische Beurteilung einzubeziehen.

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Ebd., S. 9. Jennifer Frakes: The Common Heritage of Mankind Principle and the Deep Seabed, outer Space, and Antarctica: Will Developed and Developing Nations Reach a Compromise?, in: Wisconsin International Law Journal 409 (2003), S. 409–434.

TEIL 3: UMWELT UND NACHHALTIGKEIT

EINE TRAGÖDIE DER ALLMENDE? DIE BODENSEEFISCHEREI 1350–1900 Michael Zeheter, Trier DIE RECHTLICHEN GRUNDLAGEN Der Bodensee ist heute vor allem als eine idyllische Ferienkulisse bekannt. Doch nur den Seglern unter den Touristen dürfte bekannt sein, dass es sich beim mit 536 km2 drittgrößten Binnensee Mitteleuropas um eine hoheitsrechtliche Kuriosität handelt, denn der Bodensee ist in weiten Teilen ein internationales Gewässer. Allein der kleinere Untersee, der Seerhein und der Konstanzer Trichter verfügen über klar definierte zwischenstaatliche Grenzen zwischen der Schweiz und Deutschland, der Überlingersee gehört zu Deutschland. Da sich die Regierungen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands nie über eine Grenzziehung für den Großteil des Obersees einigen konnten, gilt dieser nun als ein Kondominium der drei Anrainerstaaten und ist damit das einzige Gebiet Europas mit ungeklärten Hoheitsverhältnissen.1 Dieser territoriale Zustand ist jedoch kein Zufall. Er schreibt vielmehr Verhältnisse fort, die sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen lassen. Denn schon im Mittelalter lag der tiefe See jenseits der Halde, also des unmittelbaren Uferbereichs, außerhalb der niederen Gerichtsbarkeit der am See ansässigen Herrschaften.2 Wenn heute drei Staaten an den Bodensee grenzen, dann gibt dies nur einen vagen Eindruck von der politischen Heterogenität der Region vor der napoleonischen Mediatisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit teilte sich eine Vielzahl von Herrschaften unterschiedlichster Größe das Ufer des Bodensees, von denen hier nur die bedeutendsten vorgestellt werden sollen. Die Benediktinerabteien St. Gallen und Reichenau akkumulierten ob ihrer überregionalen politischen und kulturellen Bedeutung bereits im Frühmittelalter ausgedehnte Besitztümer. St. Gallen wurde so der wichtigste Territorialherr am südlichen Ufer des Obersees, während Reichenau den Untersee dominierte.3 Mit diesen beiden altehrwürdigen Klöstern messen konnte sich unter den geistlichen Herrschaften nur der Fürstbi1 2

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Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (Hg.): Der Bodensee. Zustand – Fakten – Perspektiven. 2. Aufl., Bregenz 2004, S. 3, 9. Felix Stoffel: Die Fischereiverhältnisse des Bodensees unter besonderer Berücksichtigung der an ihm bestehenden Hoheitsrechte. Historisch-dogmatische Studie. Bern 1906, S. 3 ff.; Bernhard Schuster: Die Entwicklung der Hoheitsverhältnisse am Bodensee seit dem Dreißigjährigen Kriege unter besonderer Berücksichtigung der Fischerei. Konstanz 1951; Claudius GrafSchelling: Die Hoheitsverhältnisse am Bodensee unter besonderer Berücksichtigung der Schifffahrt. Zürich 1978. Otto Feger: Geschichte des Bodenseeraumes, Bd. 1: Anfänge und frühe Größe. 4. Aufl., Sigmaringen 1975.

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schof von Konstanz mit seinem Besitz um Meersburg. Die Zisterzienserabtei Salem, die Benediktinerprobstei Hofen, die Benediktinerabtei Petershausen und die Deutschordenskommende Mainau spielten eine wesentlich bescheidenere Rolle.4 Unter den weltlichen Herrschaften war das Machtgefälle noch größer. Denn mit Vorarlberg, der Landgrafschaft Nellenburg und einer ganzen Reihe kleinerer Herrschaften waren die Habsburger am Bodensee vertreten. Sie verfügten über immensen Einfluss auf die Fürsten am Nordufer des Sees wie die Grafen von Tettnang (ab 1780 österreichisch), die Fürsten von Fürstenberg oder die Freiherren von Bodman.5 Ihre Besitzungen am Südufer hatten die Habsburger während des 15. Jahrhunderts in zahlreichen erbittert geführten Kriegen an die Schweizer verloren. Die Eidgenossenschaft regierte die so gewonnenen Gebiete im Rheintal und Thurgau als gemeine Herrschaften und gewann Kloster (1451) und Stadt (1454) St. Gallen als Zugewandte Orte.6 Zwischen den geistlichen und fürstlichen Herrschaften standen die vier Freien Reichsstädte am Bodensee: Buchhorn (das heutige Friedrichshafen), Lindau, Überlingen und – zumindest bis zu seiner Eroberung durch die Habsburger 1548 – Konstanz, das dadurch zu einer vorderösterreichischen Landstadt wurde.7 All diese Herrschaften hatten Besitzungen am Ufer des Bodensees. Mit diesen reklamierten sie auch den unmittelbaren Uferbereich des Sees als Teil ihres Territoriums. Er unterlag ihrer niederen Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung. Damit war dort auch Privatbesitz möglich, etwa von Fischereirechten, den so genannten Fischenzen, die dem Besitzer das Recht zum Fischfang an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit gaben.8 Der Untersee, beispielsweise, unterstand komplett der niederen Gerichtsbarkeit des Abts der Reichenau, während nur der zwischen der Insel Reichenau und Allensbach gelegene Gnadensee im Besitz der Abtei war. Hier durften nur die auf der Insel selbst ansässigen Lehensfischer ihrem Handwerk nachgehen. Der Rest des Untersees stand aber allen Fischern offen, ganz gleich ob sie Untertanen der Reichenau oder einer anderen Herrschaft waren.9 Die 4 5

6

7 8 9

Ders.: Geschichte des Bodenseeraumes, Bd. 2: Weltweites Mittelalter. 3. Aufl., Sigmaringen 1983. Volker Press: Vorderösterreich in der habsburgischen Reichspolitik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Ders./Hans Maier (Hg.): Vorderösterreich in der frühen Neuzeit. Sigmaringen 1989, S. 1–41; Dieter Stivermann: Österreichische Vorlande, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 257–277. Karl-Friedrich Krieger: Die Habsburger im Mittelalter. Von Rudolf I. bis Friedrich III. 2. Aufl., Stuttgart 2004, S. 151 ff.; Wilhelm Baum: Friedrich IV. von Österreich und die Schweizer Eidgenossen, in: Peter Rück (Hg.): Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters. Marburg 1991, S. 87–109, hier 91–94; Otto Feger: Geschichte des Bodenseeraumes, Bd. 3: Zwischen neuen und alten Ordnungen. 2. Aufl., Sigmaringen 1981, S. 281 f. Feger: Weltweites Mittelalter (wie Anm. 4); Peter Eitel: Die Städte des Bodenseeraums. Historische Gemeinsamkeiten und Wechselbeziehungen, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 99/100 (1981/82), S. 577–596. Stoffel: Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 3 ff. Richard Kunz: Fischereirechte im Untersee und Seerhein. Eine rechtshistorische Untersuchung über die Entstehung, Ausbildung und Weiterentwicklung von Fischereirechten. Fribourg 1994, S. 54–62.

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Freiherren von Bodman wiederum hatten am Andreastag (30. November) als einzige das Recht, im Seerhein zu fischen.10 Außerhalb dieser privaten Rechtstitel, die meist nicht Fischern gehörten, sondern an diese als Lehen vergeben oder verpachtet wurden, stand in der Nähe des Ufers der See allen Nutzern offen. Wer also zur Selbstversorgung oder zum Spaß eine Angel auswerfen sollte, konnte dies genauso jederzeit tun wie die Fischer, die damit ihrem Beruf nachgingen und ihren Lebensunterhalt verdienten. Das Gleiche galt auch für den „tiefen See“. Denn am Obersee endete der Herrschaftsanspruch der Obrigkeiten mit dem Ende des flachen Uferbereichs. Ihre Privilegien und Rechte fanden dort ihre Grenze und damit auch die Möglichkeit von Privatbesitz an Fischenzen. Da es hier keinen Privatbesitz an Fischereirechten gab, stand er allen Anwohnern zur ökonomischen Nutzung offen. Damit war der größte Teil des Obersees – der ganze tiefe See sowie der ufernahe Bereich soweit nicht in Privatbesitz – eine Allmende.11 DIE BODENSEEFISCHEREI In der Praxis war die Anzahl der potentiellen Nutzer gering. In erster Linie waren es die Fischer, die die notwendigen Fähigkeiten hatten, den tiefen See auszubeuten, denn die Arbeit auf dem offenen Wasser war gefährlich und hart, und sie erforderte den Einsatz von Werkzeug, das die Fischer selbst herstellten. Die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit am Bodensee gebräuchlichen Methoden der Fischerei lassen sich archäologisch bis zu den neolithischen Pfahlbauten zurückverfolgen.12 Die Fischer nutzten eine Vielzahl verschiedener Zugnetze, Stellnetze, Reusen und Angeln, die für den Fang bestimmter Spezies oder für den Einsatz an bestimmten Orten optimiert waren. Zugnetze ermöglichten es den Fischern, aktiv größere Mengen Fisch auf einmal an Bord oder an Land zu holen. Dabei waren sie wenig wählerisch, denn meist ging eine ganze Reihe unterschiedlicher Fischarten ins Netz. Die Stellnetze hingegen trieben, sobald sie ausgelegt worden waren, über Nacht im See und wurden mitsamt der Fische, die sich mit ihren Kiemen in ihnen verheddert hatten, am Morgen eingeholt. Reusen wurden meist in Ufernähe ausgelegt und zielten wie die Stellnetze auf bestimmte Fischarten. Die Angeln hatten mit heutigen Ruten wenig bis nichts gemein. Die Fischer ließen vielmehr mehrere mit Ködern versehene Haken an einer Schnur in den See hinab und warteten mehrere Stunden, bis sie den Fang wieder einholten.13 10 11 12

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Helmut Maurer: Vorläufige Gedanken zum „Hunno-Recht“, in: Clausdieter Schott/Claudio Soliva (Hg.): Nit anders als liebs und guets. Petershauser Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Karl S. Bader. Sigmaringen 1986, S. 121–132. Stoffel: Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 3 f. Helmut Schlichterle: Siedlungsarchäologie im Alpenvorland, Bd. 1: Die Sondagen 1973–1978 in den Ufersiedlungen Hornstaad-Hörnle I. Befunde und Funde zum frühen Jungneolithikum am westlichen Bodensee. Stuttgart 1990, S. 121 ff., 132; Joachim Köninger/Cornelia Lübke: Bemerkungen zur vorgeschichtlichen Fischerei im westlichen Bodenseegebiet und in Oberschwaben, in: Nachrichtenblatt Arbeitskreis Unterwasserarchäologie 8 (2001), S. 67–82. Zu den Methoden des Fischfangs im späten 19. Jahrhundert siehe Carl Klunzinger: Bodensee-

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Gefangen wurden alle Arten von im Bodensee vorkommenden Fischen. Besonders ergiebig war der Fang des Felchen (Coregonus lavaretus) in seinen Formen als Blaufelchen und Gangfisch. Beide wurden besonders im November und Dezember während des Laichs zur leichten Beute der Fischer, der Blaufelchen über den tiefsten Stellen des Obersees, der Gangfisch in Ufernähe und besonders im Konstanzer Trichter und im Seerhein.14 Fischenzen in diesen Gegenden versprachen einen hohen Ertrag und waren dementsprechend begehrt, denn in einem guten Jahr konnten sie mit großen Zugnetzen zehntausende von Fischen einbringen. Diese enormen Mengen wurden nicht sofort verzehrt. Sie mussten durch trocknen und räuchern haltbar gemacht werden.15 Neben dem Felchen war der Barsch (Perca fluviatilis), im örtlichen Dialekt Egli oder Kretzer, der für die Fischer wichtigste Fisch. Der Barsch wurde meist mit Angeln und Stellnetzen gefangen.16 Bei den Konsumenten hatte der Hecht (Esox lucius) einen besonders hohen Stellenwert. Als Raubfisch galt er als besonders edel und durch sein Habitat im Schilf war sein Lebensraum auf relativ wenige Gegenden beschränkt. Er wurde vor allem am Untersee mit Reusen gefangen.17 Die Beute des Hechts waren alle Arten von karpfenartigen Weißfischen, die ebenfalls die nährstoffreichen Uferzonen bevorzugten. Karpfen (Cyprinus carpio), Rotauge (Rutilus rutilus), Rotfeder (Scardinius erythrophthalmus), Schleie (Tinca tinca) und Brachse (Abramis brama) wurden mit Zugnetzen in großer Zahl gefangen, von den Verbrauchern jedoch wenig geschätzt. Nur wer sich keinen besseren Fisch leisten konnte, und das waren viele, begnügte sich mit diesen Arten.18

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fische, deren Pflege und Fang, Stuttgart 1892; zu den im späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Fangwerkzeugen gibt das auf der Fischereikonferenz von 1790 erstellte Verzeichnis der „Fangzeüge“ Auskunft: Protokoll Fischereikonferenz 1790, Stadtarchiv Konstanz (in der Folge StA KN) DI Fasc. 45. Reiner Berg: Über die Fische im Bodensee, in: Benno Wagner u. a. (Hg.): Bodenseefischerei. Geschichte – Biologie und Ökologie – Bewirtschaftung. Zum 100jährigen Jubiläum der Internationalen Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei. Sigmaringen 1993, S. 58– 72, hier 60 f.; Manfred Klein: Wissenswertes über den Felchen, in: ebd., S. 73–77. Etwa: Konstanzer Fischamtsrechnungen 1599–1607, StA KN DI Fasc. 40; Klunzinger: Bodenseefische (wie Anm. 13), S. 15; zu Methoden der Konservierung im Spätmittelalter allgemein: Helmut Hundsbichler: Nahrung, in: Harry Kühnel (Hg.): Alltag im Spätmittelalter. Graz 1984, S. 196–231, hier 203. Berg: Fische (wie Anm. 14), S. 62; Augustin Krämer: Wissenswertes über den Barsch, in: Wagner (Hg.): Bodenseefischerei (wie Anm. 14), S. 78–81; Klunzinger: Bodenseefische (wie Anm. 13), S. 20 f. Berg: Fische (wie Anm. 14), S. 63. Zur Wertschätzung des Hechts im 16. Jahrhundert siehe Gregor Mangolt: Von den Gattungen, namen, natur und Eigenschafft der vischen Bodensees, zu welcher zÿt jars sich jeder laiche und deshalb arg und zu mÿden seÿ, in: Adolf Hermann Ribi: Die Fischbenennungen des Unterseegebiets. Rüschlikon 1942, S. 80–101. Das Manuskript befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich, Ms S 425. Berg: Fische (wie Anm. 14), S. 64 ff. Die mangelnde Wertschätzung schlug sich auch in der Sprache der Fischer nieder, wie die Namen „Spitaler“ für das Rotauge und „Scheißhäusleinkarpfen“ für den Döbel (Leuciscus cephalus) belegen; vgl. Bernhard Möking: Die Sprache des Reichenauer Fischers. Überlingen 1934, S. 49; und Ribi: Fischbenennungen (wie Anm. 17), S. 132.

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Die Nachfrage nach Fisch als Lebensmittel war auf jeden Fall beträchtlich. Allein die Fastenregeln der katholischen Kirche bedeuteten, dass Fleisch an etwa 140 Tagen im Jahr verboten war. Meist wurde es durch Fisch ersetzt.19 Die zahlreichen Klöster des Bodenseeraums hatten dank der strengeren Regeln für Mönche und Nonnen einen noch höheren Bedarf. Allein aus kulturellen Gründen war Fisch also ein wichtiges Grundnahrungsmittel. Aber auch jenseits der Fasttage war er sicherlich ein bedeutender Eiweißspender. Er diente als Ergänzung zu den durch Landwirtschaft gewonnenen Nahrungsmitteln wie Getreide und Fleisch, die in der Ernährung der Bevölkerung des Bodenseeraums die Hauptrolle spielten. In Krisenzeiten wie Hungersnöten durch Ernteausfälle diente er zudem als ein von der Landwirtschaft unabhängiger Puffer, der jederzeit aktiviert werden konnte. Der mit Abstand größte Teil des am Bodensee verzehrten Fischs kam aus lokalen Quellen. Konservierter Salzwasserfisch wie Hering oder Stockfisch, der in anderen Teilen Mitteleuropas eine so wichtige Rolle spielte,20 war am Bodensee selten und im Vergleich zu Bodenseefisch durch hohe Transportkosten und Zölle ausgesprochen teuer.21 Nur während des Konstanzer Konzils scheint dort der Handel mit importiertem Fisch floriert zu haben, da die zahlreichen Fremden anscheinend nicht auf ihre gewohnten Speisen verzichten wollten und der große temporäre Zuzug von Klerikern den Bedarf sicherlich maßgeblich erhöht hatte. So erwähnt Ulrich von Richental in seiner Konzilschronik aus der Lombardei eingeführten in Olivenöl gebackenen Fisch, der ohne das Konzil wohl kaum den Weg über die Alpen gefunden hätte. Doch auf dem Konstanzer Fischmarkt dominierten auch während der Konzilszeit anscheinend Bodenseefische wie Hechte, Felchen, Gangfische und Forellen, die bei den Kunden großen Anklang fanden. 22 Für die Fischer war diese große Nachfrage nach Bodenseefisch nicht nur während und nach dem Konzil die Grundlage ihres Lebensunterhalts. Die Fischerei war keine Subsistenzwirtschaft. Vielmehr wurde die leicht verderbliche Ware Fisch auf den Fischmärkten der Region verkauft. Diese Fischmärkte befanden sich in den Städten, wobei Konstanz und Lindau die bedeutendsten waren. Denn hier deckten sich nicht nur die Städter mit Fisch ein, sondern auch die Bewohner des Umlandes und vor allem die Klöster mit ihrem kaum zu stillenden Bedarf.23 Für die sicherlich 19

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In der Literatur variieren die Angaben zur Anzahl der Fasttage im Mittelalter zum Teil beträchtlich. Ob sich hier regionale Unterschiede niederschlagen, eine Aufweichung der Regeln im Laufe der Zeit oder unterschiedliche Methoden der Berechnung widerspiegeln, lässt sich nicht leicht nachvollziehen. Richard C. Hoffmann: Footprint Metaphor and Metabolic Realities: Environmental Impacts of Medieval European Cities, in: Paolo Squatriti (Hg.): Natures Past: The Environment and Human History. Ann Arbor, MI 2007, S. 288–325, hier 301 kommt auf etwa 135 Tage; Ursula Lampen: Fischerei und Fischhandel im Mittelalter. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen nach urkundlichen und archäologischen Quellen des 6. bis 14. Jahrhunderts im Gebiet des Deutschen Reiches. Husum 1997, S. 41 auf 150 Tage. Für Nürnberg, vgl. Hundsbichler: Nahrung (wie Anm. 15), S. 220. Anton Strigel: Die Fischereipolitik der Bodenseeorte in älterer Zeit mit besonderer Rücksicht auf Überlingen. Freiburg i. Br. 1910, S. 57 f. Ulrich von Richental: Chronik des Konstanzer Konzils 1414–1418. Hg. von Thomas Buck. Sigmaringen 2010, S. 26 f. Salem kaufte allein 1458 18.500 Gangfische auf den Märkten am Bodensee. Siehe Strigel:

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nicht wohlhabenden Fischer bedeutete die große Nachfrage auf dem Fischmarkt eine Chance, ihr Einkommen zu steigern. Dieses Interesse der Fischer an einem immer größeren Fang brachte es mit sich, dass die Bodenseefischerei im Mittelalter wie auch in der Frühen Neuzeit unter einem latenten Intensivierungsdruck stand. Ein größeres Einkommen ließ sich ausschließlich über eine stärkere Ausbeutung der Ressource Fisch erreichen. Da der Bodensee eine Allmende war, gab es keine Autorität, die ihnen dies hätte verbieten können. Die Fischer waren auf dem See ihre eigenen Herren. DIE TRAGÖDIE DER ALLMENDE Laut Garrett Hardins berühmter These müsste diese Konstellation – eine gemeinsam genutzte Ressource, das Fehlen einer übergeordneten Institution und das Interesse der Nutzer an einer Intensivierung – geradewegs zum Niedergang der Ressource führen. In seinem Aufsatz The Tragedy of the Commons24 exemplifizierte Hardin seine Schlussfolgerung an einem Gedankenexperiment. Er nahm eine hypothetische Wiese an, die von mehreren Bauern als Weide gemeinsam genutzt wird. Wenn nun ein Bauer die Anzahl seiner Kühe erhöht, vergrößert sich auch sein Anteil am Ertrag aller Nutzer, während sich der Anteil der anderen prozentual verringert. Da es keine übergeordnete Autorität gibt, die dem Bauern die zusätzliche Kuh verbieten könnte, bleibt den anderen Bauern nur eine Möglichkeit, wenn sie sich nicht übervorteilen lassen wollen: Sie schaffen sich ebenfalls je eine neue Kuh an. So ist das Gleichgewicht wiederhergestellt, doch mit der Zeit verschlechtert sich durch Überweidung die Qualität der Wiese. Die Kühe geben zunächst weniger Milch, nach einigen Jahren kann die Wiese die Kühe nicht mehr ernähren und am Ende stehen laut Hardin eine als Weide nicht länger nutzbare Wiese sowie mehrere Bauern, die mit den Kühen auch ihre Lebensgrundlage verloren haben. Das Resultat ist ein ökologisches und ökonomisches Desaster für alle Beteiligten, die „Tragödie der Allmende“. Als Lösung für das Dilemma sieht Hardin zwei Möglichkeiten: die Aufteilung der Weide unter den Nutzern, also die Privatisierung, oder die Schaffung einer übergeordneten Organisation als Eigentümer der Ressource und damit in der Praxis die Verstaatlichung. Hardins Gedankenexperiment lässt sich leicht auf die Gegebenheiten am Bodensee übertragen. Hier gab eine nachwachsende Ressource, von deren intensivierter Ausbeutung die Nutzer einen individuellen Nutzen davontragen konnten. Möglichkeiten zur stärkeren Nutzung gab es genug: eine größere Anzahl an Netzen, effizientere, weil engmaschigere Netze, oder eine größere Anzahl an Fischern. Es existierte keine übergeordnete Autorität, die für die ganze Allmende Fangquoten hätte vorgeben können. Die Fischer entschieden letztlich also selbst, wie viel und mit welchen Methoden sie fingen. Die Konkurrenz zwischen den Fischern war hart, und der Anreiz, die eigenen Profite auf Kosten der anderen Fischer zu maximieren,

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Fischereipolitik (wie Anm. 21), S. 57. Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248.

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muss enorm gewesen sein. Laut Hardins These wären die Konsequenzen eindeutig gewesen und sie müssten sich auch am Bodensee in historischen Quellen identifizieren lassen. Eine Überfischung der Bestände hätte langfristig negative Folgen gehabt: ökologische für den See und ökonomische für die Fischer. Ihre Fänge wären zurückgegangen, und damit entweder ihr Einkommen oder ihre Anzahl. Um diesen Trend zu stoppen, hätte auch der tiefe Obersee zwischen den Nutzern aufgeteilt oder von einer staatlichen Obrigkeit kontrolliert werden müssen. RESSOURCENPOLITIK DURCH FISCHERORDNUNGEN Doch es kam zu keinem dieser Szenarien. Eine dramatische und andauernde Krise der Bodenseefischerei lässt sich nicht feststellen, eine Aufteilung fand bekanntlich nicht statt und auch eine gemeinsame Obrigkeit gab es nicht. Eine Tragödie der Allmende konnte am Bodensee also vermieden werden. Dies hatte verschiedene Gründe, auf die ich unten zurückkommen werde. Zunächst kann eine mögliche Erklärung dafür ausgeschlossen werden: die mangelnde Effizienz der Bodenseefischerei. Die destruktiven Möglichkeiten der mittelalterlichen Binnenfischerei illustriert das Beispiel des Zeller Sees im Salzburger Pinzgau. Dort verpflichteten sich die Fischer in der Mitte des 14. Jahrhunderts für das Recht zur Ausbeutung des Sees 27.000 Felchen und 18 Seeforellen pro Jahr an den Fürsterzbischof abzuführen. Nach nur einer menschlichen Generation brachen die Fischbestände zusammen und die als Ersatz eingesetzten Hechte dezimierten die Forellen. Die Fischer mussten ein dreijähriges Fangverbot verhängen und in der Folge die Anzahl der Netze beschränken sowie Schonzeiten und Schutzgebiete einführen.25 Der Bodensee war wesentlich größer, aber auch dort hatte die Fischerei durchaus das Potential, die Ressource Fisch bis zu einem Punkt auszubeuten, der diese zum Kollabieren gebracht hätte. Denn gerade der Nachwuchs des Barschs, im Volksmund Hürling genannt, und des Felchen wurde von den Konsumenten als Delikatesse besonders geschätzt. Ein intensiver Fang der Jungfische dieser beiden Arten mit engmaschigen Netzen hätte deren Reproduktionsfähigkeit langfristig durchaus gefährdet, zumal es sich auch im ausgewachsenen Zustand um zwei der ertragreichsten Fischarten für die Fischer handelte. Zusätzlich wäre eine größere Menge an unerwünschtem Beifang die Folge gewesen, die auch andere Arten und deren Nachwuchs in Mitleidenschaft gezogen hätte. Es war also nicht die mangelnde Effizienz der Bodenseefischerei im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, durch die der Bodensee einer „Tragödie der Allmende“ entkam. Vielmehr gelang dies durch eine kontinuierlich verfolgte Strategie, die man als nachhaltig bezeichnen kann, und für die die Fischer und ihre Obrigkeiten gleichermaßen verantwortlich waren. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Fischerzünfte in den Reichsstädten Konstanz und Lindau. Nachdem die Zünfte in der Mitte des 14. 25

Richard C. Hoffmann: Economic Development and Aquatic Ecosystems in Medieval Europe, in: American Historical Review 101 (1996), S. 630–669, hier 648.

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Jahrhunderts in beiden Städten die Vorherrschaft der Patriziergeschlechter gebrochen hatten, übten sie nun die Macht in Fragen von Politik und Wirtschaft aus. Sie besetzten den Rat, in dem die Angelegenheiten der Stadt verhandelt und entschieden wurden.26 Darunter fiel auch das Wirtschaftsleben der Stadt. Der Rat ordnete mit Zunftordnungen alle Gewerbe bis in kleinste Einzelheiten. Das galt auch für die Fischerei, deren Ausübung klaren Regeln unterworfen wurde.27 Die Fischerordnungen weisen von Beginn an eine hohe Detailkenntnis hinsichtlich der Methoden und Praktiken der Fischerei auf. Die Vorschriften waren spezifisch und offensichtlich gegen bestimmte Missstände gerichtet. Insgesamt wurden in den Fischerordnungen sechs Bereiche des Gewerbes geregelt:28 –











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Materialbeschränkungen definierten und spezifizierten die Eigenschaften der von den Fischern benutzten Netze, Reusen und Angeln. Sie sorgten für eine einheitliche materielle Grundlage der Fischerei und damit gleiche Ausgangsbedingungen für alle Fischer. Einsatzbeschränkungen limitierten den Gebrauch bestimmter Fangwerkzeuge. Dies betraf bestimmte Zeiten oder Räume, in denen die Nutzung eines Netzes, einer Reuse oder einer Angel strikt verboten oder nur in engen Grenzen möglich war. Schonzeiten und Fangbeschränkungen schützten bestimmte Fischarten zu bestimmten Zeiten entweder durch ein striktes Fangverbot während eines klar definierten Zeitraums, etwa im Laich, oder durch eine Beschränkung der Anzahl der Tage, an denen eine bestimmte Fischart gefangen werden durfte. Schonmaße gaben eine Mindestgröße vor, die Fische erreicht haben mussten, um gefangen zu werden. Zu kleine mussten ob tot oder lebendig ins Wasser zurückgeworfen werden. Die Fischer wurden von der Ordnung verpflichtet, die aktuellen Maße in ihr Boot einzuritzen, um sie jederzeit verfügbar zu haben. Zudem bestimmten Verhaltensregeln den Umgang der Fischer untereinander auf dem See, indem sie etwa Vorfahrtsregeln aufstellten, den Beginn und das Ende der Fischerei an einem normalen Arbeitstag festlegten oder Feiertage auflisteten, an denen der Fischfang verboten war. Für Verstöße gegen die Vorschriften wurden auch Sanktionen von den Fischerordnungen festgelegt – beginnend mit Geldstrafen über Konfiskationen bis hin zu Gefängnisstrafen je nach der Schwere des Vergehens, der Zahlungsfähigkeit oder dem Vorstrafenregister des Fischers. Zu Konstanz: Klaus D. Bechtold: Zunftbürgerschaft und Patriziat. Studien zur Sozialgeschichte der Stadt Konstanz im 14. und 15. Jahrhundert. Sigmaringen 1981, S. 115–121; zu Lindau: Gerda Leipold-Schneider: Die Lindauer Schiffer- und Fischerzunft von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, in: Bernd Marquardt/Alois Niederstätter (Hg.): Das Recht im kulturgeschichtlichen Wandel. Festschrift für Karl Heinz Burmeister zur Erinnerung. Konstanz 2002, S. 59– 85, hier 60. Das war nicht nur am Bodensee der Fall: Herbert Hitzbleck: Die Bedeutung des Fisches für die Ernährungswirtschaft Mitteleuropas in vorindustrieller Zeit unter besonderer Berücksichtigung Niedersachsens. Göttingen 1971, S. 214. Eine Übersicht der ausgewerteten Fischerordnungen findet sich in Anm. 50.

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Die Ausführlichkeit der Vorschriften, die unter diese sechs Bereiche fallen, verrät eine intime Kenntnis des Fischereihandwerks am Bodensee. Sie basieren auf breitem Wissen über das Verhalten der Fische im See während des Jahreslaufs, ihre Entwicklung vom Laich bis zum ausgewachsenen Fisch sowie geographische Besonderheiten des Sees. Daraus lässt sich schließen, dass die Fischerordnungen nicht von der Obrigkeit oktroyiert wurden, sondern unter Mitarbeit der Fischer entstanden. Die Stadträte und -schreiber waren mit ihrer juristischen Expertise sicherlich in die Entstehung dieser Rechtstexte involviert. Wichtiger waren jedoch die Fischerzünfte, denn die Fischerordnungen wurden auf den zumindest jährlich stattfindenden Fischertagen diskutiert. Dort wurden Änderungen vorgeschlagen, mit denen Schwächen der Ordnungen oder Missstände im See behoben werden sollten.29 Die Verhandlungen auf den Fischertagen führte der Zunftmeister, wohl meist ein älterer und erfahrener Fischer, der auch der Ansprechpartner des Rates in der Zunft war. Er vermittelte somit zwischen den Interessen und Ansichten der Fischer und denen des Stadtrats. Bei der Erstellung und Änderung der Ordnungen leitete die Fischer nicht nur ein Streben nach größeren Fängen und höheren Einnahmen. Sicherlich mussten die Ordnungen trotz der Einschränkungen des Handwerks den Fischern ein Auskommen ermöglichen. Doch schon aus den frühesten Ordnungen geht ein Bewusstsein für die Fragilität der erneuerbaren Ressource Fisch hervor. Junge Fische wie der Hürling wurden explizit durch Schonzeiten und -maße vor dem Fang geschützt.30 Damit versuchten die Fischerordnungen den eklatantesten Schwachpunkt für einen langfristigen Erhalt der Bodenseefischerei zu beseitigen. Aus späteren Zeugnissen geht eindeutig ein Problembewusstsein der Fischer für die potentiellen Konsequenzen einer zu starken Ausbeutung der Fischbestände hervor. So schrieb der Konstanzer Zunftmeister am 11. August 1531 an seinen Überlinger Kollegen, wenn die Fischer sich an die Ordnungen hielten und „volab der jugent fischeten, dieser [der See] werd wider vischrich, so er sunst vast erlärt ist“31. Diese und viele andere ähnliche Textstellen legen ein Bewusstsein unter den Fischern für etwas nahe, das wir heute als Nachhaltigkeit bezeichnen würden.32

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Zur Institution der Fischertage oder Fischermaien u. a. am Bodensee vgl. Urs Amacher: Die Fischermaien. Die Gerichtstage der Fischer zwischen eigener Reglementierung und herrschaftlicher Machtausübung, in: Thomas Meier/Roger Sablonier (Hg.): Wirtschaft und Herrschaft. Beiträge zur ländlichen Gesellschaft in der östlichen Schweiz (1200–1800). Zürich 1999, S. 279–294. Die Vorschriften zum Schutz des Hürlings sind zu zahlreich, um sie alle hier aufzulisten. Eine Hürlingsschonzeit bei zeitversetzter Fangbeschränkung findet sich erstmals für den Untersee 1455 in: Fischerordnung Untersee 1455, StA KN DI Fasc. 44; für Konstanz 1474 in: Fischerordnung Konstanz 1474, StA KN DI Fasc. 44; für St. Gallen 1478 in: Stoffel: Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 18 Korrespondenz Zunftmeister Konstanz an Zunftmeister Überlingen vom 11.8.1531, Stadtarchiv Überlingen (im Folgenden StA ÜL) C 976/1. Selbstverständlich existierte der Begriff der Nachhaltigkeit zu dieser Zeit noch nicht. Zu seiner Entwicklung siehe Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München 2010.

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Dieses Streben nach Nachhaltigkeit war jedoch kein rein ökologisches. Zwar hatten die Fischer ein Verständnis für die potentiellen Konsequenzen ihres Handelns. Sie sprachen etwa von einer Unordnung im See, die durch eine Missachtung der Fischerordnungen eingetreten sei, und von den daraus resultierenden negativen Konsequenzen für ihre Erträge.33 Doch stand meist die ökonomische Perspektive der Fischer im Vordergrund. Dazu kam aber auch eine soziale Dimension, denn durch die Fischerordnungen sollte die Versorgung der Stadtbevölkerung mit dem Grundnahrungsmittel Fisch gesichert werden.34 In einigen Fischereiverträgen finden sich Verweise auf das schwere Los des „armen Mannes“, der sich Fisch nicht mehr leisten könne, weil die Verstöße gegen die Fischerordnung den See veröden ließen.35 Hinter diesen drastischen Formulierungen, die sich sicherlich des rhetorischen Stilmittels der Übertreibung bedienten, stand die Sorge der Obrigkeit, ihrer Verantwortung für die Ärmsten ihrer Untergebenen nicht gerecht werden zu können. Die Fischerei unterstand ihrer Aufsicht und ihr wichtigstes Ziel war es, den auch aus kulturellen Gründen so bedeutenden Bedarf an Fisch zu decken. Schließlich hing daran nicht nur das leibliche Wohl, sondern durch die religiösen Fastengebote auch das Seelenheil ihrer Mitbürger. Bezeichnenderweise kamen sie dieser Aufgabe jedoch nicht durch eine Intensivierung der Fischerei um jeden Preis nach, sondern über eine Regulierung, die auch Engpässe und Knappheit in Kauf nehmen musste. Die Fischerordnungen galten in erster Linie für die Mitglieder der Fischerzünfte von Konstanz und Lindau. Allerdings reichte ihre Geltung weit über den beschränkten Kreis der städtischen Fischer hinaus. Die Grundlage dafür bildeten die Fischmärkte, auf denen auch auswärtige Fischer ihre Ware verkaufen mussten, denn hier fanden sich potentielle Kunden. Zudem waren in den Städten die Wirtschaftshöfe der am See gelegenen Klöster angesiedelt, die auf den Märkten ihren Bedarf deckten. Die Fischerordnungen galten für jeden auf den städtischen Märkten verkauften Fisch und ein Fischhandel jenseits der offiziell dafür vorgesehenen Märkte war illegal. Damit reichte die Gültigkeit der Ordnungen weit über die niedere Gerichtsbarkeit der Städte hinaus. Auch im tiefen See gefangener Fisch musste nach den Vorgaben der Ordnungen gefangen werden, wenn er in Konstanz oder Lindau auf den Markt kommen sollte.36 Ergänzt wurden die Fischerordnungen mit Marktordnungen, die den Verkauf des Fangs regelten. Dabei wurden nicht nur Höchstpreise für bestimmte Fische festgelegt, die Wucher verhindern und die Interessen der ärmeren Verbraucher 33 34 35 36

So in der Präambel des Fischereivertrages zwischen Konstanz und Überlingen von 1536, StA KN DI Fasc. 44. In Lindau durften Auswärtige erst dann Fisch kaufen, wenn die lokale Bevölkerung ihren Bedarf gedeckt hatte. Vgl. Leipold-Schneider: Schiffer- und Fischerzunft (wie Anm. 26), S. 64 f. Wie in der Präambel des Fischereivertrages zwischen Konstanz und der Mainau von 1566, StA KN DI Fasc. 35. Diese Maßgabe wird in den Fischerordnungen nicht expliziert, geht aber zumindest für Konstanz klar aus solchen Vorschriften hervor, die Fremden den Zugang zum Konstanzer Fischmarkt erlauben. Es ist kaum vorstellbar, dass für diese andere Regeln gelten sollten als für die einheimischen Fischer; Vertrag zwischen Konstanz und Ermatingen von 1551; Fischerordnung Konstanz 1527, beide StA KN DI Fasc. 44.

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schützen sollten. Zudem legten sie auch Mindeststandards für Qualität und Frische der Ware fest. So war der Verkauf von Fisch vom Vortag nur nach einer Kenntlichmachung durch das Abschneiden des Schwanzes erlaubt.37 Durch die Kombination aus Fischer- und Fischmarktordnung kontrollierten die Reichsstädte Konstanz und Lindau von der Mitte des 14. Jahrhunderts an nicht nur die Fischerei im Geltungsbereich ihrer niederen Gerichtsbarkeit. Durch die Bedeutung ihres Marktes dehnten sie die Reichweite ihrer Autorität auf den tiefen See aus, solange die Fischer ihren Fang auf den städtischen Fischmärkten verkaufen wollten. Sie erlangten dadurch eine Vormachtstellung in Fischereifragen und konnten auf die Fischereiangelegenheiten von benachbarten Obrigkeiten Einfluss nehmen. In Lindau ging dies so weit, dass alle Fischer zwischen der Argen- und der Rheinmündung Mitglieder der Lindauer Fischerzunft wurden, ganz gleich welcher Obrigkeit sie unterstanden oder ob sie in der Stadt oder auf dem Dorf beheimatet waren.38 Im westlichen Bodensee lösten um das Jahr 1500 Fischereiverträge zwischen mehreren Obrigkeiten in wechselnden Zusammensetzungen die Fischerordnungen als das bevorzugte Mittel zur Regulierung der Fischerei ab. Konstanz war in diesen Verträgen der diplomatische Dreh- und Angelpunkt, um den sich in wechselnden Konstellationen Überlingen, das Fürstenbergische Heiligenberg, das Fürstbistum Konstanz, die Mainau und Salem gruppierten. 39 Die Verträge hatten gegenüber den Fischerordnungen den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass nun die Fischer unterschiedlicher Obrigkeiten die Einhaltung der Vorschriften gegenseitig überwachten. Alle Fischer waren mit den Inhalten der Verträge vertraut. Sie konnten also leicht Verstöße gegen die Vorschriften identifizieren und durch die traditionelle Konkurrenz zwischen den Fischern unterschiedlicher Herrschaften war die Gefahr, entdeckt und angezeigt zu werden, sicherlich größer. Die Vertragspartner versuchten die Bereitschaft zur Denunziation noch zu verstärken, indem sie dem Denunzianten nach einer Verurteilung ein Drittel des Bußgeldes als Belohnung versprachen. So ermöglichten die Fischereiverträge eine bessere Durchsetzung der Regelungen auf dem See, also einem Gebiet auf das die Obrigkeiten keinen direkten rechtlichen oder polizeilichen Zugriff hatten. Das Beispiel der Fischerordnung machte auch jenseits des Einflussbereiches von Lindau und Konstanz am östlichen und westlichen Ende des Obersees Schule. Besonders aktiv war die Reichsabtei Reichenau, die 1450 begann, Fischerordnungen für den Untersee zu erlassen.40 Da der Untersee komplett der niederen Gerichtsbarkeit der Abtei unterstand, musste sie sich nicht mit den anderen angrenzen37 38 39 40

Fischmarkt Ordnung Konstanz 1433, StA KN DI Fasc. 44; Fischerordnung Konstanz 1491, StA KN DI Fasc 44; Strigel, Fischereipolitik (wie Anm. 21), S. 51. Stoffel, Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 152 ff. Der erste Fischereivertrag stammt aus dem Jahr 1481: Fischereivertrag Konstanz, 1481, StA KN DI Fasc. 44. Konstanz war an allen von den Obrigkeiten ausgehandelten Fischereiverträgen beteiligt. Ein Entwurf einer Fischerordnung aus dem Jahr 1450 ist erhalten, wenn auch nicht die Ordnung selbst. Die älteste erhaltene Ordnung stammt aus dem Jahr 1455: Entwurf einer Fischerordnung Untersee 1450; Fischerordnung Untersee 1455, beide StA KN DI Fasc. 44.

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den Obrigkeiten auseinandersetzen. Sie konnte wohl auch deshalb bis weit ins 17. Jahrhundert hinein regelmäßig die Fischerordnung nach Rücksprache mit den Fischern auf einem Fischertag erneuern. Dazu waren auch Fischer vom Obersee, vor allem aus Konstanz, eingeladen, denn der Untersee stand bis auf den bereits oben erwähnten Gnadensee allen offen, solange sie dem Abt der Reichenau einen Zehnten für ihren Fang entrichteten. Es gab auch hier außerhalb des unmittelbaren Uferbereichs keine privaten Fischenzen, so dass man auch den Untersee trotz der Reichenauer Oberhoheit als eine Allmende betrachten muss.41 Die andere Reichsabtei, St. Gallen, verfolgte eine andere Strategie. Für ihren Herrschaftsbereich am Südufer des Sees erließ sie 1534 eine Fischerordnung, die 1544 von einem Fischereivertrag abgelöst wurde, der neben den St. Gallener Besitzungen auch die gemeine Herrschaft Rheintal und Teile des Thurgaus einbezog. Von diesem Zeitpunkt an sind bis zum 19. Jahrhundert keine Änderungen belegt. Möglicherweise war diese vor allem im Vergleich zu den benachbarten Städten Konstanz und Lindau beachtliche Kontinuität ein Zeichen für den Erfolg der Ordnung von 1544. Wahrscheinlich jedoch ist sie ein Zeichen der Indifferenz der nicht direkt am See gelegenen Abtei gegenüber den Aktivitäten der Fischer.42 Fischerordnungen und Fischereiverträge etablierten sich also innerhalb einiger Jahrzehnte als das bevorzugte Mittel zur Regulierung der Bodenseefischerei. Die Vorteile für die Obrigkeiten waren dabei eindeutig: Sie konnten de facto den Geltungsbereich ihres Rechts und damit ihren Herrschaftsbereich auf ein Gebiet ausdehnen, das rein rechtlich jenseits ihrer Grenzen lag. Gleichzeitig erlangten sie eine bessere Kontrolle derjenigen Untertanen, die einen großen Teil ihrer Zeit außerhalb der Grenzen ihrer Obrigkeit verbrachten. Bei Verstößen konnten sie auf der Verfolgung der Missetäter durch deren Obrigkeit bestehen und mussten nicht selbst tätig werden.43 Zudem sicherten sie durch die in den Ordnungen und Verträgen erhaltenen Schutzvorschriften die langfristige Versorgung der Bevölkerung mit dem Grundnahrungsmittel Fisch. Doch was waren die Vorteile für die Fischer, um derentwillen sie sich an der Mitarbeit bei der stärkeren Regulierung ihres Gewerben beteiligten? Zunächst gaben die Ordnungen und Verträge den Fischern Rechtssicherheit. Wenn sie sich an die Vorgaben hielten, konnten sie sicher sein, ihren Fang auf den Märkten absetzen zu dürfen. Da Fisch eine leicht verderbliche Ware ist und vor der Erfindung der Kühltechnik zumindest im Sommer nur wenige Stunden haltbar war, muss diese Garantie von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen sein. Zu41 42

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Kunz: Fischereirechte (wie Anm. 9), S. 54–62. Der St. Galler Fischereivertrag von 1534 ist abgedruckt in: Stoffel: Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 21. Fischereivertrag St. Gallen 1544, StA KN DI Fasc. 44. Über die Fischerei in Buchhorn und dem benachbarten Kloster Hofen, die zusammen das heutige Friedrichshafen bilden, ist nur wenig bekannt, da das Stadtarchiv bei Luftangriffen im Jahr 1944 zerstört wurde. Die einzige Veröffentlichung zu dem Thema vor diesem Zeitpunkt ist wenig ergiebig: Karl Otto Müller: Fischerordnungen von Buchhorn-Hofen im 16. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 54 (1926), S. 11–27. Einige Beschwerden mit der Bitte um Bestrafung: Bericht der Stadt Konstanz an Überlingen wegen der Festnahme eines Überlinger Fischers von 1513; Beschwerde der Stadt Überlingen beim Abt von Salem wegen eines Mauracher Fischers von 1460, beide in StA ÜL C 976/1.

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dem schützten die Verträge vor Übergriffen fremder Obrigkeiten, wenn sie in deren Gewässern fischten. Der Staader Fischer Mathäus Sulger musste etwa 1671 erleben, dass ihm der Prälat des Klosters Kreuzlingen mit einigen Kreuzlinger Fischern unter Missachtung des Fischereivertrags seinen Fang abnahm. Sulger konnte sich bei seiner Obrigkeit, der Mainau, über das Vorgehen des Prälaten beschweren und der Rechtsbruch hatte eine langwierige diplomatische Auseinandersetzung zwischen der Mainau und Kreuzlingen zur Folge.44 Zudem limitierten die Fischerordnungen und Fischereiverträge die Konkurrenz der Fischer untereinander. Die Fischerei wurde zu einem stark regulierten Gewerbe, das persönliche Initiative und Innovationen stark einschränkte, wenn auch nicht vollkommen verhinderte. Bei einer kompetenten Ausübung des Gewerbes konnte jeder Fischer mit seinem Haushalt, der gewöhnlich aus seiner Familie und vielleicht einigen Knechten bestand, von seinem Beruf leben. Angesichts der stark schwankenden Erträge der Fischerei bewirtschafteten die meisten Fischer, oder vielmehr deren Frauen, auch ein kleines Stück Land, auf dem auch der Hanf oder Flachs für die Netze wuchs.45 Das Einkommen der Konstanzer Fischer als Gruppe etwa lag im Spätmittelalter etwas über dem städtischen Mittel. Reich wurden nur die wenigsten, und das wahrscheinlich nicht durch den Fischfang sondern durch den Handel mit gesalzenem Hering oder Stockfisch.46 Die Obrigkeiten und die Fischerzunft sorgten so für eine gewisse soziale Homogenität unter den Fischern und damit auch für den sozialen Frieden in der Zunft und der Stadt. In Lindau war die Zunft wesentlich heterogener. Das war zum einen der Tatsache geschuldet, dass dort Fischer und Schiffer zusammen eine Zunft bildeten. Zudem waren nicht nur die städtischen Fischer in der Zunft organisiert, sondern auch die im Umland lebenden. Innerhalb der Zunft führte diese Konstellation beinahe zwangsläufig zu Konflikten, etwa wenn die Schiffer bei der Fahrt ein Netz auswarfen.47 Für die städtischen Fischer war jedoch das Verhalten der ländlichen Fischer aus Vorarlberg am ärgerlichsten. In den dortigen Dörfern lebten die meisten Fischer nämlich in erster Linie von der Landwirtschaft und übten die Fischerei nur zum Nebenerwerb aus. Diese „Halb-Fischer“ waren aus der Sicht der städtischen Fischer eine unredliche Konkurrenz, wie die Lindauer Fischer in einer Beschwerde an den Rat der Stadt klar machten. Denn sie mussten sich nicht an die Vorschriften der Stadt halten, die den Lindauern die Ausfahrt erst um fünf Uhr morgens erlaubten. Daher kämen sie früher mit ihrer nicht sachgerecht gefangenen und daher minderwertigen Ware auf den Lindauer Markt, was die Kunden aber anscheinend kaum störte. Die Vorarlberger setzten dort ihren Fang ab, bevor die Lindauer vom See zurückkehrten, und verdienten sich dabei ein schönes Zubrot, während die Lindauer von ihrem einzigen Erwerb kaum mehr leben konnten.48 Die Beschwerde 44 45 46 47 48

Bericht 1671, StA KN DI Fasc. 30. Noch im 19. Jahrhundert bewirtschafteten die meisten Fischer auf der Reichenau ein Stück Land. Vgl. Erich Maier: Die Fischerei am Untersee (Bodensee) in ihrer historischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung. Graz 1957. Bechtold: Zunftbürgerschaft (wie Anm. 26), S. 56 f. Leipold-Schneider: Schiffer- und Fischerzunft (wie Anm. 26), S. 74 f. Eingabe Fischerzunft an Rat der Stadt Lindau vom 22.7.1663, StA LI A III 100,9.

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der Lindauer Fischer bezeugt ihr Selbstverständnis als städtische Handwerker im Gegensatz zu den bäuerlichen Halbfischern des Umlandes und sie belegt, dass die Lindauer ihren sozialen Status innerhalb der Stadt als gefährdet ansahen. Die Gegensätze hier waren offenbar so stark, dass sie innerhalb der Zunft und durch das Instrument der Fischerordnung nicht überwunden werden konnten und der Rat der Stadt zum Eingreifen aufgefordert werden musste. Ein Selbstläufer waren die Fischerordnungen und Fischereiverträge also nicht. Das zeigen auch die vielen individuellen Verstöße gegen die Vorschriften. Zumindest ein kleiner Teil der Fischer war jederzeit bereit, die Ordnungen und Verträge zu brechen, um einen kleinen persönlichen Vorteil herauszuschlagen. Es leuchtete also nicht allen ein, zugunsten der langfristigen Interessen der Zunft und der Stadt die eigenen kurzfristigen hintanzustellen.49 STRATEGIEN DER NACHHALTIGKEIT Doch trotz aller Konflikte und Verstöße bewährte sich das Instrument der Fischerordnungen und Fischereiverträge für alle Beteiligten. Nur so ist es zu erklären, dass es für Jahrhunderte in Gebrauch blieb. Dabei half sicherlich seine Flexibilität. Durch die regelmäßigen Beratungen auf den Fischertagen wurden die einzelnen Regelungen ständig diskutiert und ihre Relevanz garantiert. Eine Untersuchung von Regelungen aus 34 Fischerordnungen und Fischereiverträgen aus dem Zeitraum zwischen etwa 1350 und 1774 ergab,50 dass sich die einzelnen Vorschriften im Lauf der Zeit teilweise erheblich änderten. Diese Modifikationen waren jedoch keinesfalls willkürlich. Vielmehr lassen sich durch die Erstellung von Reihen einzelner Regelungen über Jahrhunderte hinweg vier Strategien feststellen: Kontinuität, Verschärfung, Lockerung und Differenzierung. Wenn sich eine Vorschrift bewährt hatte wurde sie teilweise über Jahrhunderte hinweg nicht modifiziert, auch wenn die Ordnung oder der Vertrag erneuert und verändert wurde. Ein besonders deutliches Beispiel ist die Regelung der Maschenweite der Stellnetze durch die Reichenau. Diese wurde durch die Fischerordnung

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Bechtold: Zunftbürgerschaft (wie Anm. 26), S. 56; Peter Schuster: Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz. Paderborn 1997, S. 133 f. Fischerordnungen Untersee: 1594, StA KN Fasc. 26; 1455, 1465, 1470, 1487, 1522, 1583, 1613, alle in StA KN DI Fasc 44; 1532, 1542, 1550, alle in StA KN DI Band 37, 1707, StA KN DI Band 39; 1717, StA KN DI Band 40; 1774, StA KN DI Band 42. Fischerordnungen Konstanz: undatiert (14. Jh.?), Stadtarchiv Lindau (im Folgenden StA LI) A III 101,8; 1474, 1491, 1514, 1527, alle in StA KN DI Fasc. 44. Fischereiverträge Konstanz: 1589, 1599, 1663, StA KN Fasc. 24; 1566, StA KN DI Fasc 35; 1481, 1513, 1536, StA KN DI Fasc. 44. Fischerordnungen Überlingen: 1508, StA ÜL C 976/1; 1552, StA ÜL C 976/2; Fischerordnung Mainau: StA ÜL C 976/1. Fischerordnung Lindau: 1537, StA LI A III 55,2. Fischerordnung Wasserburg: undatiert, in: Stoffel, Fischereiverhältnisse (wie Anm. 2), S. 165; Fischerordnungen St. Gallen: 1479, 1534, in: ebd., S. 18 respektive S. 21. Fischereivertrag St. Gallen: 1544, StA KN DI Fasc. 44.

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von 1455 auf 37 Band – also Maschen – pro Konstanzer Zwillichelle51 festgelegt und blieb bis zur letzten Reichenauer Ordnung aus dem Jahr 1774 unverändert.52 Eine Regelung konnte sich als zu lax herausstellen. In diesem Fall musste sie verschärft werden. Ein eindrucksvolles Muster dafür ist, auch wenn die Gründe für die Verschärfung unklar bleiben, die Vorschrift für die Maschenweite der Seginen, also von Zugnetzen, in den Fischerordnungen der Reichenau. Die Maschenzahl wurde im Jahr 1522 mit 24 Band pro Konstanzer Zwillichelle eingeführt und blieb bis 1594 bestehen, als sie auf 21 Band gesenkt wurde. Dadurch wurden die Maschen weiter, auch größere Fische konnten entkommen, die Effizienz der Zugnetze wurde also gesenkt. Auch in der folgenden Ordnung von 1613 blieb es bei 21 Band, doch es wurde eine Sonderregelung für ein spezielles Zugnetz eingeführt, die Fürnwatt, mit der Rotaugen gefangen wurden. Während die Fürnwatt nun wieder 24 Band haben durfte, blieb es für alle anderen Zugnetze bei 21 Band. Während die Regelung für die Fürnwatt bis 1774 unverändert blieb, wurde die Maschenzahl für die anderen Zugnetze 1707 auf 20 Band gesenkt, nur um 1717 auf 21 Band erhöht und 1774 wieder auf 20 Band gesenkt zu werden.53 Die Fischerordnung nahm also eine Differenzierung der Vorschriften vor. Durch die Verschärfung war die Regelung für den Fang des Rotauges nicht mehr angemessen. Sie musste angepasst werden, um den Bedürfnissen der Fischer und den Gegebenheiten im See gerecht zu werden. Erwies sich eine Regelung als zu strikt und beeinträchtigte dadurch übermäßig das Einkommen der Fischer oder die Versorgung der Bevölkerung, dann konnte sie auch wieder gelockert werden, wenn es keine Grundlage für eine Differenzierung gab. So war im Untersee das Setzen von Angeln ohne Spezifikation der damit gefangenen Fischart begrenzt. 1542 durften noch 400 Fische auf diese Art gefangen werden und die Vorschrift wurde 1550 bestätigt, bevor sie 1583 auf 200 Fische halbiert wurde. Damit konnten die Fischer aber anscheinend nicht leben, so dass 1613 mit 300 Fischen ein Kompromiss gefunden wurde, der bis 1774 gültig blieb.54 Die Gründe für diese und andere Modifikationen der Ordnungen gehen aus ihnen nicht hervor. Die Art der Änderungen spricht aber dafür, dass die Fischer wie auch die Obrigkeiten damit auf wahrgenommene Unzulänglichkeiten und Missstände im See reagierten. Ohne Fangstatistiken basierte dies auf der täglichen Erfahrung der Fischer und sie machten sich wohl auch Gedanken, in welchen Praktiken die Ursache für die negativen Veränderungen im See zu suchen sei. Offensichtlich war nicht jeder Versuch, eine Lösung zu finden, von Erfolg gekrönt. Oftmals waren dafür mehrere Schritte erforderlich, zwischen denen mehrere Jahre lagen. 51

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Die Länge dieses Maßes konnte nicht eruiert werden. In der einschlägigen Literatur wird es nicht erwähnt und es gab zwei verschiedene Ellen, denen es entsprechen könnte. Vgl. Frank Göttmann: Altes Maß und Gewicht im Bodenseeraum. Systeme und Kontinuitäten, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 48 (1989), S. 25–68. Fischerordnungen Untersee: 1455, 1522, 1542, 1550, 1594, 1613, 1707, 1717, 1774 (alle wie Anm. 50). Fischerordnungen Untersee: 1522, 1532, 1542, 1550, 1594, 1613, 1707, 1717, 1774 (alle wie Anm. 50). Fischerordnungen Untersee: 1470, 1542, 1550, 1583, 1594, 1613, 1707, 1717, 1774 (alle wie Anm. 50).

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Die Obrigkeiten waren im Besitz der alten Ordnungen und Verträge und konnten die Änderungen in die Vergangenheit zurückverfolgen. Durch diese Kombination aus täglicher praktischer Erfahrung und historischem Wissen konnten die Fischer und die Obrigkeit flexibel reagieren und ihr Regelwerk den Umständen wie auch ihren Bedürfnissen anpassen. Wenn sich auch keine spezifischen Missstände identifizieren lassen, auf die Ordnungen wie Verträge reagierten, so lässt sich doch feststellen, dass in bestimmte Zeiten besonders viele Verschärfungen und Neueinführungen von Regelungen fallen. Eine erste Phase dauerte von etwa 1450 bis 1550. In diesem Zeitraum wurden etwa zahlreiche neue Schonmaße eingeführt – für Karpfen (1455 im Untersee), Hecht (1481 im Obersee), Schleie (1522 im Untersee), Barbe und Forelle (beide 1542 im Untersee). Das Instrument der Fischerordnungen und Fischereiverträge wurde perfektioniert, und die Rechtstexte wurden sowohl länger als auch detaillierter. Deshalb kann die große Anzahl von neuen Regelungen zu dieser Zeit nicht komplett überraschen. Doch in den späteren Ordnungen findet sich eine ähnliche Häufung von Verschärfungen von Schonmaßen. Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, als am Untersee nach mehr als 70 Jahren wieder Ordnungen erlassen wurden, lässt sich eine zweite Phase feststellen. In den vorhergehenden Jahrzehnten hatten durchaus Fischertage stattgefunden; diese hatten jedoch keine Änderungen beschlossen. 55 Deshalb waren die zahlreichen Veränderungen in der Fischerordnung von 1707 wohl keine Aufarbeitung eines Überhangs nach Jahrzehnten der Untätigkeit von Seiten der Obrigkeit, sondern eine Reaktion auf veränderte Verhältnisse.56 Bezeichnenderweise gab es auch in Lindau 1758 eine neue Ordnung nach mehreren Jahrzehnten, die in der Präambel eine neue Dringlichkeit verrät.57 Auffällig ist, dass es sich bei beiden Phasen, von 1450 bis 1550 und von 1700 bis 1760, um Zeiten eines starken Bevölkerungswachstums handelt,58 in denen die Kapazität der Landwirtschaft in der Region an ihre Grenzen stieß. Fisch war eine Nahrungsquelle, deren Erträge durch eine Intensivierung gesteigert werden konnte. Wahrscheinlich erhöhte sich auch die Anzahl der Fischer.59 Zwar kam es zu diesen Zeiten auch vereinzelt zu Lockerungen und Differenzierungen, die sich als Maßnahmen zur Deckung des gestiegenen Bedarfs interpretieren lassen. Allerdings ist die Häufung der Verschärfungen besonders augenfällig. Kurzfristige Interessen standen somit langfristigen entgegen. Die Beteiligten mussten sich zwischen einer Intensivierung der Fischerei zur Deckung eines steigenden Bedarfs und der langfristigen Sicherung der Ressource Fisch entscheiden. Durch die Fischerordnungen 55 56 57 58

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Einladungen zum Fischertag Reichenau an Konstanz vom 3.6.1651, 2.3.1654, beide in StA KN DI Fasc. 29. Fischerordnung Untersee, 1707 (wie Anm. 50). Fischerordnung Lindau 1759, StA LI A III 55,2. Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie. München 1994, S. 8– 24; Alexander Kessler: Die Bevölkerung der Stadt Radolfzell am Bodensee im 17. und 18. Jahrhundert. Demographische Strukturen einer „Ackerbürgerstadt“ vor Beginn der Industrialisierung. Konstanz 1992, S. 13–21. Zumindest existierte am Ende des 18. Jahrhunderts ein dementsprechender Diskurs unter den Obrigkeiten des Bodenseeraums: Protokoll Fischereikonferenz 1790, StA KN DI Fasc. 45.

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und Fischereiverträge waren Fischer wie Obrigkeiten gemeinsam in der Lage, eine solche langfristige Ressourcenpolitik auch in Krisenzeiten zu verfolgen. Dies galt zumindest bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein. Von diesem Zeitpunkt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden am Bodensee keine neuen Verträge verhandelt und Ordnungen erlassen. Die Bodenseefischerei wurde bestenfalls verwaltet anstatt aktiv gestaltet. Versuche, dies zu ändern, waren rar. Am spektakulärsten war die Konstanzer Initiative, im Jahr 1790 einen Fischereivertrag für den gesamten Obersee auszuhandeln. Dazu kamen vom 30. Juni bis 2. Juli desselben Jahres Vertreter aller am Obersee ansässigen Obrigkeiten in Konstanz zusammen, mit Ausnahme der Schweizer.60 Der Anlass war ein Verbot des Hürlingfangs, also des jungen Barsches, da der Fang überhand genommen hatte. Die Teilnehmer der Fischereikonferenz konnten sich schnell auf ein Verbot des Hürlingfangs für zehn Jahre und auch auf eine ganze Reihe anderer Maßnahmen einigen, die die Bodenseefischerei wieder auf eine gesündere Basis stellen sollten. Ein entsprechender Vertragstext wurde von allen anwesenden Obrigkeiten unterzeichnet,61 doch Konstanz scheiterte mit seinen Bemühungen, die Schweizer mit ins Boot zu holen.62 Besonders die Lindauer Fischer wollten diese Ungleichbehandlung nicht akzeptieren und auch im Konstanzer Einflussbereich kam es zu Konflikten. Der Versuch eines Vertrags für den gesamten Obersee scheiterte so am Desinteresse der Schweizer.63 Somit galten die alten Fischerordnungen und Fischereiverträge weiter und das taten sie auch nach dem Ende der meisten Obrigkeiten, die sie erlassen hatten. Baden, Bayern und Württemberg, die durch Napoleons Mediatisierung ihr Territorium bis an den Bodensee ausgeweitet hatten,64 erließen zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts Fischereigesetze. Diese waren jedoch nicht auf die besonderen Verhältnisse des Bodensees abgestimmt und nahmen ihn in manchen Fällen explizit von ihrer Gültigkeit aus.65 Daher galten die alten Regelungen weiter, auch wenn es nach dem Ende der Zünfte66 und der Obrigkeiten, die sie einst festgelegt hatten, niemand mehr gab, der ihre Einhaltung hätte überwachen können. 60 61 62 63 64

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Ebd. Ebd. Korrespondenz Konstanz an Lindau vom 5.7.1790, StA LI A III 55,2; Korrespondenz Lindau an Konstanz vom 20.7.1790, StA KN DI Fasc. 36. Korrespondenz Konstanz an St. Gallen vom 30.7.1790, StA KN DI Fasc. 36; Korrespondenz Münsterlingen an Konstanz vom 3.1.1791, StA KN DI Fasc 36. Georg Wieland: Die Integration der Städte in die neuen Staaten, in: Daniel Hohrath/Gebhard Weig/Michael Wettengel (Hg.): Das Ende reichsstädtischer Freiheit 1802. Zum Übergang schwäbischer Reichsstädte vom Kaiser zum Landesherren. Begleitband zur Ausstellung „‚Kronenwechsel‘. Das Ende der reichsständischen Freiheit“. Ulm 2002, S. 56–110; zu Lindau, siehe Heiner Stauder: Auf Umwegen nach Bayern. Die Mediatisierung der Reichsstadt Lindau, in: Reiner A. Müller/Helmut Flachenecker/Reiner Kammerl (Hg.): Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum. München 2007, S. 66–95. Waldemar Hoenninger: Bodensee-Fischereirecht im Neunzehnten Jahrhundert. Rastatt 1907, S. 9. Zum bayerischen Fischereirecht siehe Max Freiherr Lochner von Hüttenbach: Zur Geschichte der Lindauer Fischerzunft. Lindau 1895, S. 21. Die letzten Reste der zünftischen Strukturen wurden in den 1860er Jahren beseitigt. Vgl. Lochner von Hüttenbach: Fischerzunft (wie Anm. 65), S. 22; Werner Dobras: Das Lindauer Bürger-

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Die Klagen der Fischer über diesen Zustand und den daraus resultierenden Niedergang der Fischerei fanden bei den Regierungen kein Gehör. Erst als die Fischer selbst in den 1890er Jahren die Initiative ergriffen, begann ein Verhandlungsprozess, an dessen Ende im Jahr 1893 mit der Bregenzer Übereinkunft ein Vertragswerk stand, das die Angelegenheiten der Fischerei auf dem Obersee bis heute unter Beteiligung der Fischer, der Regierungen und der zu dieser Zeit neu entstandenen Wissenschaft der Limnologie regelt.67 Mit ihr endete endgültig die Ära der Fischerordnungen und Fischereiverträge, wie sie im Spätmittelalter entwickelt worden war und ersetzte sie mit der einen übergeordneten Organisation, die Hardin in The Tragedy of the Commons gefordert hatte. FAZIT Blickt man vom Standpunkt der Nachhaltigkeit auf diese Ära zurück, dann muss man eine Erfolgsgeschichte konstatieren. Die Ressource Fisch wurde von den Fischern über Jahrhunderte ausgebeutet, ohne dass es zu Krisen in der Versorgung der Bevölkerung oder zu einem andauernden Niedergang der Bestände kam. Keine Fischart, die uns aus den Quellen bekannt ist, starb während des Untersuchungszeitraums aus.68 Eine Tragödie der Allmende konnte vermieden werden, obwohl die Voraussetzungen für ein solches Szenario durchaus gegeben waren. In den letzten Jahrzehnten hat Hardins These der Tragödie der Allmende verstärkte Aufmerksamkeit und Kritik erfahren.69 Wirtschafts- und Sozialwissen-

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tum während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Thomas Albrich u. a. (Hg.): Stadt und Bürgertum im Bodenseeraum. Dornbirn 2008, S. 51–74, hier 60; Heinz Krümmer: Die Wirtschafts- und Sozialstruktur von Konstanz in der Zeit von 1806 bis 1850. Sigmaringen 1973, S. 50–55. Günter Keiz: Die Bregenzer Übereinkunft und ihr Instrument. Die Internationale Bevollmächtigtenkonferenz, in: Wagner u. a. (Hg.): Bodenseefischerei (wie Anm. 14), S. 10–30. Als die beiden einzigen nachgewiesenermaßen ausgestorbene Fischarten fielen der Kilch (Coregonus gutturosus), eine Unterart des Felchen, der in der Tiefe des Sees lebte, und der Tiefseesaibling (Salvelinus profundus) der Eutrophierung des Bodensees in den 1970er Jahren zum Opfer. Vgl. Berg: Fische (wie Anm. 14). S. 61; Jörg Freyhof/Maurice Kottelat: Salvelinus evasus sp. n., a Charr from Deep Waters of Lake Ammersee, Southern Germany (Teleostei: Salmonidae), with Comments on Two Extinct Species, in: Revue Suisse de Zoologie 112 (2005), S. 253–269, hier 255 f. Der Huchen wurde häufig in Texten aus dem Unterseeraum erwähnt, war und ist aber nach Meinung der Biologen ausschließlich im Flusssystem der Donau endemisch, nicht aber in dem des Rheins. Welcher Fisch sich hinter dem Huchen vom Untersee verbarg, ist nicht zu klären, vgl. Ribi: Fischbenennungen (wie Anm. 17), S. 49, 145. Obwohl die kritische Auseinandersetzung mit Hardins „Tragödie der Allmende“ bereits vor einigen Jahrzehnten begann, gewann sie mit der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Elinor Ostrom im Jahr 2009 neuen Schwung. Elinor Ostrom: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990; Dies./Roy Gardener/James Walker (Hg.): Rules, Games, and Common-Pool Resources. Ann Arbor, MI 1994; Dies.: Coping with Tragedies of the Commons, in: Annual Review of Political Science 2 (1999), S. 493–535; Dies. u. a. (Hg.): The Drama of the Commons. Washington, DC 2002. Das seit 2007 erscheinende International Journal of the Commons ist ebenfalls ein Beleg für wachsendes Interesse.

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schaftler haben in zahlreichen Untersuchungen Hardins Schlussfolgerungen hinterfragt. Studien zu Weidenutzung, Bewässerungssystemen, Grundwasserförderung70 und auch zur Fischerei71 in verschiedenen Teilen der Welt haben gezeigt, dass Allmenden durchaus für die Mechanismen anfällig waren, die Hardin in seinem Gedankenexperiment vorzeichnete. Dennoch war das Ergebnis keineswegs immer die so unausweichlich scheinende Tragödie. Sie stießen auch auf Erfolgsgeschichten, in denen eine Tragödie vermieden werden konnte. Nach den Untersuchungen waren bei der Fischerei zwei Kriterien ausschlaggebend: Die Fischer konnten selbst über die Regulierung der Fischerei bestimmen, sie wurde also nicht von „oben“ vorgegeben; und Fremde, die den Regeln nicht unterworfen waren, konnten von der Nutzung der Ressource Fisch ausgeschlossen werden.72 Genau diese beiden Kriterien finden sich auch in der Bodenseefischerei. Die Fischer waren an der Entstehung und Weiterentwicklung eines elaborierten Regelwerks von Beginn an beteiligt. Sie wurden an den Fischertagen gehört, und durch die Fischerzunft waren sie zumindest in den Städten selbst ein Teil der Obrigkeit. Ihr Wissen und ihre Kooperation wurden geschätzt und so zu Voraussetzungen für jede Modifikation der Fischerordnungen und Fischereiverträge. Zugleich sorgte das Regelwerk dafür, dass alle Fischer, die Zugang zu den bedeutenden Märkten am See haben wollten, sich ihm unterwerfen mussten. Ganz gleich wo gefischt wurde, in der Allmende des tiefen Sees oder im Uferbereich unter der niederen Gerichtsbarkeit der Obrigkeit, und unabhängig davon, wer fischte, eigene Fischer oder die einer fremden Obrigkeit – alle waren sie den Ordnungen und Verträgen unterworfen. Dies wurde durch die Tatsache erleichtert, dass Fisch eine leicht verderbliche Ware war und die Voraussetzungen zur Konservierung am Bodensee nicht besonders gut waren. Es war für die Fischer also beinahe unmöglich, Bodenseefisch in großer Menge auf weiter entfernte Märkte zu bringen, um so den Vorgaben der Fischerordnungen und Fischereiverträge zu entgehen. Die zentrale Rolle für die Umsetzung dieser beiden Strategien, durch die eine nachhaltige Ausbeutung der Fischbestände des Bodensees zwischen 1350 und 1800 bewerkstelligt wurde, spielten die Fischerzünfte. Durch ihre Position zwischen den Fischern und den Obrigkeiten boten die Zünfte einen institutionellen Rahmen, innerhalb dessen Konflikte ausgetragen und Interessen ausgeglichen werden konnten. In der Zunft waren alle Fischer einer Stadt vertreten, im Lindauer Fall auch die des 70 71

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David Feeney u. a.: The Tragedy of the Commons: Twenty-Two Years later, in: Human Ecology 18 (1990), S. 1–19; John A. Baden/Douglas S. Noonan (Hg.): Managing the Commons. 2. Aufl., Bloomington, IN 1998. Beispiele aus der Türkei, Sri Lanka und Kanada finden sich in Ostrom: Governing (wie Anm. 69). Einen Überblick bietet auch Edella Schlager: Fischer’s Institutional Responses to Common-Pool Resource Dilemmas, in: Ostrom/Gardner/Walker (Hg.): Rules (wie Anm. 69), S. 247–265. Eine historische Untersuchung zu Schottland bietet T. C. Smout: Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons and the Firth of Forth, in: Environment and History 17 (2011), S. 357–378. Ostrom: Governing (wie Anm. 69), S. 143–181; zu den Zugangsregeln siehe Feeney u. a.: Tragedy (wie Anm. 70); zur Bedeutung der lokalen Bevölkerung, wenn auch an Land, siehe Jean Marie Baland/Jean-Philipe Platteau: Halting Degradation of Natural Resources: Is There a Role for Rural Communities? Oxford 1996.

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Umlands. Durch die Fischertage hatten sie zumindest einmal im Jahr die Möglichkeit, ihre Meinung zu vertreten und so die Position der Zunft in Fischereifragen mitzubestimmen. Die Mitgliedschaft in der Zunft erzwang aber auch eine gewisse Solidarität untereinander und eine Identifikation mit ihren Beschlüssen, die durch einen Eid auch formalisiert wurde. Zugleich vertraten die Zünfte die Fischer im Rat ihrer Stadt. Dadurch waren sie an allen politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, auch an denjenigen, die die Fischerei betrafen. Die Fischer als Gruppe hatten so ein Mitspracherecht. Die Fischerordnungen und Fischereiverträge entstanden unter ihrer Mitwirkung und mussten auch durch die Zünfte durchgesetzt werden. Denn schließlich hatten nur sie die Kompetenz, um Regelverstöße auf dem See oder dem Markt zu erkennen. Durch die Zunft war auch sichergestellt, dass dieses Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Wie dies genau geschah, ist nicht bekannt. Allerdings ging der Aufnahme in die Zunft eine Lehre voraus. Zudem musste eine Gebühr entrichtet werden.73 Man muss wohl davon ausgehen, dass nicht nur die Grundlagen des Handwerks, sondern auch rechtliche Grundlagen der Fischerei mündlich bei der Arbeit oder danach zuhause oder in der Zunftstube weitergegeben wurden. Für die schriftliche Überlieferung der Ordnungen und Verträge war der Stadtschreiber verantwortlich, der auch bei den Fischertagen anwesend war. So diente die Zunft auch hier als der institutionelle Rahmen, der die Nachhaltigkeit der Bodenseefischerei über 450 Jahre möglich machte. Es hing also die Erstellung wie die Durchsetzung der Regulierung der Bodenseefischerei und damit die Vermeidung einer „Tragödie der Allmende“ fundamental von der Institution der Zunft ab. Diese entscheidende Rolle der Zünfte für die nachhaltige Bewirtschaftung einer Allmende war nicht auf die Bodenseefischerei beschränkt. Die Fähigkeit von Zünften, Allmenden oder andere gemeinsam genutzte Ressourcen über einen langen Zeitraum nachhaltig zu nutzen, findet seit einigen Jahren vermehrt das Interesse der Geschichtswissenschaft.74 Für den Bodenseeraum spezifisch scheint jedoch zu sein, dass das zünftische Instrument der Fischerordnung auch außerhalb der Städte von zahlreichen Obrigkeiten übernommen, für die eigenen Bedürfnisse adaptiert und ohne eine Zunft über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhalten wurde. Das trifft insbesondere auf die Reichenau zu, die mehr Fischerordnungen erließ als alle anderen Obrigkeiten am Bodensee.

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In Lindau forderte die Zunft zudem ab 1607 ein Meisterstück, aber 1792 auch ein Gesellenstück; vgl. Leipold-Schneider: Schiffer- und Fischerzunft (wie Anm. 26), S. 63, 72. Tine de Moor: The Silent Revolution: A New Perspective on the Emergence of Commons, Guilds, and Other Forms of Corporate Collective Action in Western Europe, in: International Review of Social History 53 (2008), S. 179–212.

ÖKONOMIE, ÖKOLOGIE ODER IDEOLOGIE? MOTIVATIONEN FÜR DAS RECYCLING VON ALTPAPIER IM 20. JAHRHUNDERT1 Heike Weber, Wuppertal EINLEITUNG Altpapier-Recycling ist – genauso wie das Wiedernutzen etwa von Altglas oder Altmetallen – keine Erfindung des „ökologischen Zeitalters“; es wurde schon wesentlich länger praktiziert, und zwar dort, wo der Altstoffeinsatz technisch sehr einfach ist (z. B. Schrott in der Stahlproduktion) und wo der Aufwand, der mit jedem Recycling verbunden ist, lohnt, also der Altstoffeinsatz kostengünstiger als das Verwenden von originären Rohstoffen ist. Recycling erfordert aber nicht nur das Vorhandensein von entsprechenden Altstoff-Märkten sowie die technischen Möglichkeiten, Altstoffe für das Produzieren einzusetzen. Vielmehr sind auch logistische Infrastrukturen zur Rückführung von Resten und technische Expertise zu ihrer Nutzbarmachung sowie auch Wissen um unterschiedliche Reinheitsstufen und Sortenqualitäten vonnöten. Mit dem Begriff der „Alt“- bzw. der „Sekundärrohstoffe“ werden letztlich jene Reste bezeichnet, die – als Abfall bzw. Müll angefallen und abgesondert – wieder in der Produktion verwertet werden können. Um den Rest jedoch zu einem solchen rezyklierbaren Altstoff werden zu lassen, sind zahlreiche Sammel-, Transport- und Sortierprozesse erforderlich.2 Zunächst startet Recycling mit dem Zusammentragen der Altstoffe von den Orten ihres „Abfalls“, woran sich ein Weitertransport sowie das Säubern und Sortieren der Reste anschließt, ehe die nun möglichst „sortenreinen“ Qualitäten für die schlussendliche, stoffliche Wiedereingliederung in die Produktion aufgeschlossen werden. Bezogen auf das Papier wird somit aus Papierresten zunächst ein Altpapierballen und später dann Faserbrei. Auch wenn Altpapier aus an sich als „wertlos“ gedachten Abfällen stammt, ist es also keinesfalls eine kostenlose Ressource: Altpapier wird auf jeder Stufe des Rückführens als Ware gehandelt. Dabei ist die Papierindustrie der Hauptabnehmer. Nur von geringer Bedeutung ist das Herstellen von Gipsplatten, Pechfaserröhren oder Bauplatten aus Altpapier. In der heutigen Recycling-Wirtschaft beruht das Recycling von Haushaltsmüll darüber hinaus auf der Mitmach-Bereitschaft der Haushalte: Mit dem System getrennter Mülltonnen und Sammelcontainer wurde der 1 2

Der Artikel erweitert Ergebnisse, die im Kontext eines Forschungsprojekts zur Geschichte des Hausmülls im deutsch-französischen Vergleich entstanden sind; mein Dank geht an die Fritz Thyssen Stiftung, die dieses Projekt von 2009 bis 2013 gefördert hat. Vgl. hierzu auch: Heike Weber: „Entschaffen“: Reste und das Ausrangieren, Zerlegen und Beseitigen des Gemachten. (Einleitung), in: Technikgeschichte 81 (2014), S. 1–32.

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kritische Punkt des Einbringens der Altstoffe in ihren Rückweg zur Industrie auf die Konsumenten abgewälzt. Damit wurde ein Teil der Kosten und des Aufwands von Recycling externalisiert. Diese kostenlose Müll- und Trennarbeit wird mehrheitlich von Frauen übernommen. Eine Geschichte der Recycling-Wirtschaft müsste mithin eine Vielzahl von Faktoren beachten: Herkunft, Aufkommen und Qualität der Reste ebenso wie die logistischen Infrastrukturen des Sammelns, Sortierens und Rückführens der Reste in die Produktion, die vom Anlegen des häuslichen Altpapierbündels über seinen Einwurf in öffentliche Altpapier-Container, deren Installation, Wartung und Entleerung bis hin zum Transport zum schlussendlichen Verwerter reichen. Allein dieser logistische Bereich beschäftigte am Anfang des 21. Jahrhunderts fast drei Viertel der Arbeitskräfte des Altpapier-Recyclings und erwirtschaftete über die Hälfte des Umsatzes.3 Darüber hinaus sind die Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Primär- wie dem Sekundärmarkt – also hier dem Papier- wie dem AltpapierMarkt – ebenso zu betrachten wie die Frage nach den Motivationen der einzelnen Akteure (Staat, Industrie, Kommunen und kommunale Abfuhrunternehmen, Bürger etc.) beim Recycling. Noch dazu gilt bereits für das Papier selbst, dass das, was „Papier“ war, in unterschiedliche Sorten zerfällt und noch dazu dem steten historischen Wandel unterliegt: „Die Kontinuität und Homogenität, die durch den Begriff Papier impliziert wird, wirkt angesichts der Veränderung bei Verwendungsarten und Rohstoffen konstruiert“, stellt Mathias Mutz fest;4 gleiches gilt auch für den Begriff „Altpapier“ und die Wiederverwendung von Altpapier. So wurden beispielsweise am Ende des 20. Jahrhunderts 60 Sorten von Altpapier geschieden, deren Handelspreise sich enorm unterschieden: So kostete „gemischtes Papier“ im Durchschnitt der Jahre 1986 bis 2000 32,80 EUR pro Tonne; „Zeitungspapier“ hingegen 85,50 EUR.5 Dazu kommt eine weitere Herausforderung dergestalt, dass über Angebot, Nachfrage und Preise auf den Altstoff-Märkten kaum verallgemeinerbare Aussagen getroffen werden können. Denn erstens waren diese Märkte um 1900 eher noch regional, zweitens wurden dort unterschiedliche Sorten gehandelt, deren Preise – ebenso wie ihre Einsatzmöglichkeiten in der Industrie – enorm differierten, und drittens scheint der sekundäre Rohstoffmarkt eigentlich nur von einer Konstante geprägt worden zu sein: seiner extremen Volatilität, die erst die staatlichen Eingriffe zur Beförderung des „grünen“ Recyclings etwas abgemildert haben. Umso erstaunlicher ist der relativ stabile und zudem stetige Anstieg der so genann3

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Die Gesamt-Beschäftigtenzahl betrug 10.800; Gesamtumsatz der Branche: 2,4 Mrd. EUR. Vgl. GIB Gesellschaft für Innovationsforschung und Beratung mbH/ARGUS. Statistik und Informationssysteme in Umwelt und Gesundheit GmbH: Endbericht. Die wirtschaftliche Bedeutung der Recycling- und Entsorgungsbranche in Deutschland. Stand, Hemmnisse, Herausforderungen. Zusammenfassung der Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Berlin 2009, S. 7, 14. Vgl. Mathias Mutz: Umwelt als Ressource. Die sächsische Papierindustrie 1850–1930. Göttingen 2013, S. 28. Vgl. Präsentation Harald Grossmann/Bernd Bilitewski: Closing the Material Loops. Paper Recycling in Germany & Europe, im Kontext von Cost E 48, The Limits of Paper Recycling, Technische Universität Dresden, 14. November 2005 (http://www.cost-e48.net/09_9_conferences/bruxelles/grossmann_closing_the_material_loops.pdf, letzter Zugriff: 18.03.2014).

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ten Altpapier-Quote über das 20. Jahrhundert hinweg, also des Anteils von Altpapier an den insgesamt eingesetzten Rohstoffen der Papierproduktion. Die volatilen Preise haben das Altpapier-Recycling also nicht verhindert; vielmehr leistete Altpapier einen wichtigen Beitrag zu den steigenden Produktionszahlen der Papierindustrie. Das eingesetzte Altpapier stammte aber vor allem aus zentralen Orten seines Anfalls als Rest, z. B. aus Druckereien, derweil die volatilen Preise sehr wohl das kostenintensive Zusammentragen von Papierresten aus den Haushalten behinderten. Das Hauptaugenmerk des Artikels liegt aus den benannten Gründen nicht auf einer detaillierten Analyse der jeweiligen Märkte und Akteure für punktuelle Zeitabschnitte. Vielmehr werden die Kontinuitäten und Brüche im Altpapier-Recycling über das 20. Jahrhundert hinweg aufgezeigt und so auch die historischen Wurzeln der Recycling-Wirtschaft, die eben nicht erst in den 1970er Jahren entstanden ist, markiert.6 Zum einen wird nach den Einsatzhöhen von Papierabfällen in der Produktion, der Herkunft der Papiere und der Logistik des Einsammeln, Sortierens und Rückleitens gefragt, zum anderen nach den Motivationen für das Recycling, die sich innerhalb der Trias von Ökonomie, Ökologie und Ideologie bewegten. Während Papierreste aus Produktion und Handel mehrheitlich als Ressource in die Papierindustrie zurück gelangten, unterlag das logistisch wesentlich aufwändigere Rückführen der Papierreste von Privathaushalten unterschiedlichen Konjunkturen. Das logistische Rückgrat für das Rückführen der Papiere aus Gewerbe wie Haushalten bildete der Altstoffhandel. Bis in die 1950er Jahre hinein konsumierten Haushalte wenig Papier und nutzten Altpapier selbst. Zu einem systematischen Erfassen des Altpapiers aus Privathaushalten kam es zwischen 1914 und 1916 sowie 1933 und 1945. Die damaligen Sammel-Kampagnen sollten die Rohstoffbasis der Kriegs- und Autarkiewirtschaft aufbessern und dienten zugleich dazu, die Bürger der „Heimatfront“ ideologisch in die Staats- und Kriegspolitik einzubinden. Interessanterweise operierten die Nationalsozialisten bereits mit dem Topos des „Deutschen Waldes“, der durch das Recycling von Altpapier erhalten würde – ein Topos, der sich im späteren „grünen“ Altpapier-Recycling in der Bundesrepublik zu einem Hauptargument entwickeln sollte. Allerdings ging die NS-Wirtschaft keineswegs nachhaltig mit dem Wald um, und auch der heutige Umgang mit Papier ist aus ökologischer Sicht nicht unumstritten. Es kann allerdings nur angedeutet werden, wie „nachhaltig“ das Recycling jeweils war. Bereits die Rede vom „Recycling“ suggeriert geschlossene Kreisläufe, wohingegen es sich jedoch stets nur um ein unvollständiges Zurückführen von Altstoffen in die Produktion handelt(e), das mit weiteren Abfällen, stofflichen Transformationen, Material-, Energie- und Transportaufwänden sowie inferioren Rezyklaten verbunden ist.7 Wiederholt wurde daher als Gegenbegriff Downcycling vorge6

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Vgl. Raymond G. Stokes/Roman Köster/Stephen C. Sambrook: The Business of Waste. Great Britain and Germany. 1945 to the Present. Cambridge 2013, v. a. Kapitel „Salvage and the Industry“, S. 87–128. Allerdings betrachten die Autoren lediglich die Resteverwertung durch die kommunalen Müllabfuhren; der Bereich des traditionalen Altgewerbes gerät damit kaum in den Blick. Vgl. William McDonough/Michael Braungart: Cradle to cradle. Remaking the Way we Make

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schlagen. Recycling hat in der öffentlichen Meinung ein äußerst positives Image, wird aber unter Umweltwissenschaftlern inzwischen teils auch kritisch gesehen.8 Um wirklich quantifizierende Aussagen zur Nachhaltigkeit treffen zu können, wären umweltwissenschaftliche Betrachtungen vorzunehmen. Allerdings stehen hierzu erst in den letzten Dekaden ausgefeilte Methoden zur Verfügung, um den „ökologischen Rucksack“ von Produkten zu betrachten,9 wohingegen für vorherige Zeiten die nötige Datenbasis kaum zu ermitteln ist. KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE IM ALTPAPIER-RECYCLING DES 20. JAHRHUNDERTS – EIN ERSTER ÜBERBLICK In der Papierherstellung war Recycling stets präsent, denn vor dem Einsatz von Holz gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Papier ein reines Recyclingprodukt, das aus den Fasern von Lumpen hergestellt wurde. Dabei wurden rund 1,5 kg Lumpen für 1 kg Papier benötigt. Es war eben dieser Lumpenhandel, auf dessen Basis sich über die Jahrhunderte hinweg der so genannte Rohproduktenhandel entwickelte, in welchem mittellose Sammler diverse Altstoffe aus Gewerbe und Haushalten einsammelten, die dann über ein vielschichtiges, stark hierarchisch gegliedertes System an Zwischenhändlern und Sortierereien an die Industrie zurückbefördert wurden.10 Das technische Verfahren des Holzschliffs und bald auch die Zellstoff-Erzeugung aus Holz lösten die Papierindustrie von ihrer Abhängigkeit von Lumpen und ermöglichten überhaupt erst den rasanten Anstieg von Papierproduktion bzw. -konsum im 20. Jahrhundert: Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden erstmals mehrere 100.000 t Papier hergestellt; danach stieg die Produktion exponentiell an. Um 1900 lag die Jahresproduktion der deutschen Papier- und Pappenproduktion bei 0,778 Mio. t; etwas weniger als die Hälfte davon entfiel auf die Bereiche Presse- und Buchdruck-Papiere.11 Für den damaligen Rohstoffeinsatz liegen unterschiedliche Angaben vor: Hager spricht von 0,9 Mio. t Holz (0,35 Mio. t davon als Holzschliff und 0,55 Mio. t als Zellstoff), 180.000 t Lumpen und 85.000 t Papierabfälle; andere Quellen konstatieren demgegenüber einen hohen Altpapier-Einsatz, der bereits die Bedeutung der Lumpen überstieg.12 Vor dem Ersten Weltkrieg betrug 8

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Things. New York 2002, S. 56 f. Vgl. Schmidt-Bleek, der ausschließt, dass durch Recycling Nachhaltigkeit zu erreichen ist. Friedrich Schmidt-Bleek: Mit MIPS die Zukunft messen, in: Ders. (Hg.): Der ökologische Rucksack. Wirtschaft für eine Zukunft mit Zukunft. Stuttgart 2004, S. 13–30. Optimistisch hingegen: William McDonough/Michael Braungart: The Upcycle. Beyond Sustainability – Designing for Abundance. New York 2013, die hierzu aber auch zugleich ein anderes Produzieren – ohne toxische Chemikalien – fordern; bei effizientem Stoffeinsatz und Stoffführung könne das Downcycling zu einem Upcycling werden. Vgl. Willy Bierter/Reinier de Man: Papier ist geduldig – wie lange noch? Warum der Wald nach mehr Ressourcenproduktivität bei der Papierherstellung schreit, in: Schmidt-Bleek (Hg.): Der ökologische Rucksack (wie Anm. 8), S. 119–124. Vgl. Sabine Barles: L’invention des déchets urbains. France. 1790–1970. Seyssel 2005. Daten für 1900 vgl. Eugen Hager: Die Papier-Industrie. Berlin 1901, S. 8 f. Vgl. ebd.; die davon abweichenden Daten vgl. Wilhelm auf der Nöllenburg: Die deutsche Pa-

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die deutsche Papierproduktion fast 2 Mio. t – ein Wert, der erst Mitte der 1920er Jahre wieder erreicht wurde. Durch den Zweiten Weltkrieg sanken die Produktionswerte abermals unter diese Marke, bis sie seit 1952 kontinuierlich anstiegen (vgl. auch Abb. 3): um 1960 auf 3 Mio. t, Ende der 1960er Jahre auf über 5 Mio. t. 2010 lag die Produktion bei etwas über 23 Mio. t, darunter rund 10 Mio. t grafische Papiere, 10,2 Mio. t Verpackungsmaterialien und 1,3 Mio. t Hygiene-Papiere.13 Dazu kamen rund 11,2 Mio. t Papiere und Pappen, die importiert wurden. Der Pro-KopfPapierverbrauch in Deutschland ist dementsprechend im Laufe des 20. Jahrhunderts von rund 13 kg auf über 220 kg gestiegen (Abb. 1). Damit lag der deutsche Papierverbrauch am Anfang des 21. Jahrhunderts an sechster Stelle im internationalen Vergleich.14 Deutliche Einschnitte in diesem ansonsten recht kontinuierlichen Anstieg lassen sich in den Kriegszeiten erkennen. Abb. 1: Pro-Kopf-Papierkonsum (kg) in Deutschland

Quelle: Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4), S. 2.

Historische Forschungen zur Papierindustrie haben bisher die Ressourcen Lumpen und Holz in den Vordergrund gerückt.15 In den letzten Jahren wurde auch verstärkt nach Wasserverbrauch und -verschmutzung gefragt, denn die Papierindustrie ist heutzutage der drittgrößte gewerbliche Wasserverbraucher. Auch wenn sie den Wasserverbrauch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark reduzieren 13 14

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pierindustrie 1928. Berlin 1928, S. 762–765. Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V.: Papier Kompass 2012. Bonn 2012. Vgl. Johannes Laufer: Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft innovativer Entwicklung. Zur Bedeutung von Lumpen, Holz und Wasser in der niedersächsischen Papierindustrie (19./20. Jahrhundert), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 80 (2008), S. 215– 240. Vgl. Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4); Mathias Mutz: Managing Resources. Water and Wood in the German Pulp and Paper Industry (1870 s–1930 s), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009/2, S. 45–68; Laufer: Knappe Ressourcen (wie Anm. 14); J. Georg Oligmüller/ Sabine Schachtner: Papier. Vom Handwerk zur Massenproduktion. Köln 2001; Heinz SchmidtBachem: Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland. Berlin/Boston 2011; Günter Bayerl/Karl Pichol: Papier. Produkt aus Lumpen, Holz und Wasser. Reinbek 1986.

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konnte, geht die Papiererzeugung mit problematischen Abwässern einher. Unbeachtet blieb dabei der Einsatz von Altpapier in der Produktion. In der Pappenherstellung war dieser stets wichtig, aber auch die gesamte Papierindustrie setzte im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr Altpapier ein. Der Altpapiereinsatz vollzog sich parallel zum Übergang auf Holz und war eingebettet in einen Substitutionsprozess, in welchem die Papierindustrie die Lumpen nicht nur durch Holz, sondern auch durch die Verwertung anderer Naturfaserstoffe wie etwa Stroh, Flachs oder Juteabfälle zu ersetzen suchte. Dadurch wurde das Sammeln von Altpapier spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lukrativ, auch wenn Schrott, gefolgt von Lumpen und dann Knochen, die wichtigsten im Altstoffhandel vermittelten Reststoffgruppen darstellten. In der Zwischenkriegszeit bildeten Papierabfälle rund 20 % des Rohstoffeinsatzes der Papierproduktion; in der NS-Zeit wurde die Quote von rund 25 % (1935) weiter auf ca. 40 % gesteigert. In den 1950er Jahren betrug die Altpapier-Einsatzquote um die 35 %. Altpapier stieg danach zügig zu einem bedeutenden Papier- und Pappenrohstoff der westdeutschen Papierproduktion auf, der mit einem Einsatz zwischen 40 % und 45 % dem Einsatz von Holz (als Holzschliff sowie als Sulfatund Sulfitzellstoff) nur wenig nachstand. Die Abfälle stammten wesentlich aus der Produktion und dem Verpackungsbereich im Handel sowie auch aus Importen. Das heißt, dass ein intensiver Einsatz von Altpapier bereits üblich war, ehe Papierrecycling wenig später aus ökologischen Gesichtspunkten politisch gefordert und gefördert wurde. Eine weitere Ausweitung ließ sich darüber realisieren, dass man nun auch Haushaltspapiere und damit für den Rezyklierprozess durchaus problematische Altpapier-Qualitäten erfasste. Am Anfang des 21. Jahrhunderts machte Altpapier 60 % (2000) bis 65 % (2005) des Rohstoffeinsatzes der deutschen Papierindustrie aus.16 Diese Steigerung wurde durch eine Intensivierung der Haushaltssammlungen im Laufe der 1990er Jahre bewirkt. Dabei unterscheidet sich der AltpapierEinsatz allerdings je nach Papiersorte enorm: So wiesen Verpackungspapiere im Jahr 2005 eine Altpapier-Einsatzquote von 100 % auf, Hygienepapiere von 60 %, Spezialpapiere von 40 % und Zeitungsdruckpapiere von 117 % (bei der Altpapieraufbereitung und der Produktion gehen stets auch Fasern verloren; im letzteren Fall wird also mehr Altpapiermasse eingesetzt als Papiermasse erzeugt).17 Dennoch landet Papier weiterhin in der Entsorgung, so wurden beispielsweise 2002 rund 2,5 Mio. t Papierabfall endgültig weggeworfen.18 Zum Vergleich: 1970 wurde eben diese Menge als Altpapier in der deutschen Papierproduktion eingesetzt,19 was nochmals den enormen Anstieg der Stoffströme von Papier, Altpapier und Papiermüll anzeigt. Gleichzeitig überwiegt nach wie vor die Bedeutung der Abfälle außerhalb der Privathaushalte: Gewerbe und Handel steuern heutzutage 50 %, Ausschuss 16 17 18 19

Vgl. Olaf Pollmann: Optimierung anthropogener Stoffströme am Beispiel des Papierrecyclings. Darmstadt 2007, S. 2–9, 11. Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Papier recyceln. Fragen und Antworten rund ums Altpapier. Bonn 2012. Vgl. o. A.: Rückläufig, in: Recycling Magazin, H. 14 (2013), S. 32 ff. Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Die Zellstoff-, Holzstoff-, Papier- u. Pappenindustrie im Jahre 1970. Ein Leistungsbericht. Bonn 1971, S. 27.

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und Reste der Produktion 11 % des gesamten Altpapier-Aufkommens bei, Haushalte aber immerhin 39 %.20 Das Recycling von Altpapier weist also eine hohe Kontinuität auf. Brüche bestehen in Hinsicht auf das logistisch aufwändige Recycling von Haushaltspapieren. Der größte Rezyklierer war hier zunächst der Haushalt selbst: Altes Papier diente zum Einwickeln, half beim Entzünden des Hausfeuers oder kam als Toilettenpapier zum Einsatz. Was darüber hinaus übrig blieb, wurde, bedingt durch die Knappheitsökonomie, noch bis in die 1920er Jahre hinein vom Altstoffhandel aufgenommen. Das zwischen 1914 und 1918 sowie 1933 und 1945 politisch forcierte Sammeln von Altpapier aus Haushalten konnte auf solche Praxen des Hortens von Altpapier und des Sammelns durch Altstoffhändler aufbauen. Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg und insbesondere im NS-Regime wurden das Sammeln von wiederverwertbaren Resten und die Ausbeute von Müll auf Altstoffe hin politisch gefördert und instrumentalisiert; hierzu zählten nicht nur Altpapier, sondern auch Speisereste, Knochen, Lumpen, Metalle etc.21 Die Reste sollten die fehlenden Rohstoffe kompensieren und einen wesentlichen Beitrag zur Kriegs- und Autarkiewirtschaft leisten. Dem Einbruch des Recyclings von Haushaltspapieren um 1930 folgte ein weiterer im Laufe der 1950er Jahre; zwischen 1960 und Anfang der 1970er Jahre betrieben meist nur noch karitative Verbände das Einsammeln von Altpapier aus Haushalten. Anfang der 1970er Jahre griff der Staat abermals in das Wegwerfverhalten der Bundesbürger ein und forderte – im Einklang mit dem Wunsch der Bürger nach Hausmüll-Recycling und der entstehenden Umweltpolitik – zum Entsorgen von Papieren in speziell bereitgestellten Altpapier-Tonnen und -Containern auf. Dabei ging es auf der Ebene der kommunalen Entsorgungs- und Recyclingpolitik allerdings in erster Linie darum, Deponiekosten einzusparen, die sich angesichts knapper werdender Deponieflächen stark erhöhten, sowie um eine substanzielle Reduzierung des abzutransportierenden Mülls und damit der Müllabfuhrkosten. Schließlich füllte Papier die Mülltonnen teils bis zur Hälfte. Hier wurde also auf eine ganz neue Form des Mangels reagiert: den Mangel an so genannten „Senken“, also Möglichkeiten der endgültigen Vernichtung bzw. Ablagerung der durch Produktion und Konsumtion in Umlauf gebrachten Stoffe.22 Die Bürger wiederum machten beim Recycling mit oder ergriffen in manchen Kommunen sogar die Initiative für Sammelstrukturen, weil sie in ihrem Alltag etwas für die Umwelt tun wollten. Dabei verbilligte ihre kostenlose Müll-, Trenn- und teilweise auch Transportarbeit den Kostenaufwand für das Recycling von Hausmüll enorm. Ausgeklammert bleibt im Beitrag die DDR, zu der daher kurz einige vergleichende Daten genannt werden sollen. Deren Wirtschaftspolitik inkludierte von An20 21 22

Vgl. Michael Bräuninger u. a. (Hg.): Altpapier: Preisentwicklungen und Preisindizes. Hamburg 2013, S. 6 ff., eine Studie, die im Auftrag der Stadtreinigung Hamburg (AöR) durchgeführt wurde. Vgl. hierzu Ruth Oldenziel/Heike Weber: Recycling and Reuse in the Twentieth Century. Cambridge 2013. Zur historischen Suche nach solchen Senken vgl. Joel Tarr: The Search for the Ultimate Sink. Urban Pollution in Historical Perspective. Akron 1996; vgl. auch Weber: „Entschaffen“ (wie Anm. 2).

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fang an auch die Wiedernutzung von Altstoffen,23 so dass sich markante Kontinuitätslinien zu den NS-Altstoffsammlungen ergaben. Dabei wurden sowohl Abfälle der Industrie als auch solche aus privaten Haushalten verwertet. Beispielsweise stammte immerhin ein Drittel des Papiers, das in den 1950er Jahren wiederverwertet wurde, aus Privathaushalten.24 Wer 2,5 kg Altpapier ablieferte, bekam als symbolische Belohnung zehn Binden oder fünf Tapetenrollen. Diesem sozialistischen „Abfallregime“25 entsprach zum einen ein Produktionsregime, das – der vorherigen NS-Autarkiewirtschaft nicht unähnlich – gezielt Abfälle bzw. die später so genannten „Sekundärrohstoffe“ einsetzte, und zum anderen ein Konsumtionsregime, das mit weniger Stoffdurchsatz auskam als die sich in der Bundesrepublik herausbildende Konsumgesellschaft. Beispielsweise wurde Toilettenpapier in der DDR aus 100 % Altpapier gefertigt, und der Papierkonsum der DDR-Bürger lag 1961 bei 49 kg pro Einwohner und damit wesentlich unter dem der Westdeutschen mit 81,4 kg pro Kopf.26 Insgesamt produzierte die DDR um 1980 rund 800.000 t Papier und wies einen Altpapier-Markt von über 600.000 t auf.27 Auch in den 1980er Jahren, als die Bundesbürger das systematische Trennen und Sammeln von Altpapier unter dem Vorzeichen der Ökologie begannen, konnten sich die DDR-Bürger, zumal ihr Verbrauch geringer war, mit gesammelten 17,4 kg Altpapier pro Kopf und Jahr problemlos mit den Sammelergebnissen jener Bürger in der Bundesrepublik messen, die in Kommunen mit Altpapier-Containern lebten. EINSATZSTOFFE DER PAPIERERZEUGUNG ZU BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS Der Einschnitt, den der Holzschliff für die Wirtschaftskreisläufe von Lumpen, Holz und Papier bedeutete, vollzog sich allmählich in den Dekaden um 1900. So berichtete das Brockhaus Konversationslexikon erst um 1930, Lumpen würden nur noch in wenigen Papierfabriken verwendet, wo sie zentraler Grundstoff für überwiegend hochwertige Spezialpapiere wie z. B. Banknoten blieben, die auch heute noch aus Faserabfällen der Baumwollverarbeitung hergestellt werden. Stattdessen würde, so der Brockhaus weiter, sehr viel Altpapier eingesetzt, und zwar hauptsächlich in der 23 24 25 26 27

Vgl. Christian Möller: Der Traum vom ewigen Kreislauf. Abprodukte, Sekundärrohstoffe und Stoffkreisläufe im Abfall-Regime der DDR (1945–1990), in: Technikgeschichte 80 (2014) (im Erscheinen). Vgl. Dirk Maier: Mehr Achtung für den Lumpenmann – Altstofferfassung und Materialwirtschaft in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, in: Mamoun Fansa/Sabine Wolfram (Hg.): Müll. Facetten von der Steinzeit bis zum Gelben Sack. Mainz 2003, S. 131–139, hier 136. Vgl. zu dem Begriff des „waste regimes“ Zsuzsa Gille: From the Cult of Waste to the Trash Heap of History. The Politics of Waste in Socialist and Postsocialist Hungary. Bloomington 2007. Vgl. Altpapier-Informationsstelle (Hg.): Die Altpapier-Fibel. B. Köln-Weidenpesch 1963, S. 44. Vgl. Jakob Calice: Sekundärrohstoffe – eine Quelle, die nie versiegt. Konzeption und Argumentation des Abfallverwertungssystems in der DDR aus umwelthistorischer Perspektive. Diplomarbeit, Universität Wien 2005, S. 28.

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Pappenherstellung. Noch um 1900 hatte das gleiche Lexikon sehr ausführlich die Papierfabrikation aus Lumpen abgehandelt.28 Laut Nöllenburg wurden 1913 (bzw. 1925 in Klammern) 8 % (5,5 %) Lumpen, 12 % (8 %) Stroh, 60 % (65 %) Holz, 19 % (20 %) Altpapier und 1 % (1,5 %) verschiedene Stoffe in der Papierindustrie eingesetzt.29 Hadern, also Lumpen, und Linters (Baumwollreste) stellten in den 1950er Jahren immerhin noch rund 2–3 % der in der Papierproduktion eingesetzten Rohbzw. Sekundärstoffe dar, so dass in den Organen des Altstoffmarkts, die über Preise, Aufkommen und Bedarf informierten, nicht nur die Preise für unterschiedliche Altpapiersorten, sondern auch noch für Hadern aufgelistet wurden. Papiermühlen nutzten Altpapier bereits in der Frühen Neuzeit.30 Beschriebenes oder sonst wie gebrauchtes Papier wurde dort für die Herstellung minderer Papierqualitäten, etwa für Packpapiere, Graupappe oder Spulenhülsen der Textilindustrie, verwendet, bei denen die Farbstoffe nicht störten. Von Bedeutung waren dabei insbesondere die Reste aus Papier verarbeitenden Betrieben (Druckereien, Buchbindereien etc.) oder aus Verwaltungen, die sicher überwiegend in die Papierindustrie kanalisiert wurden. In manchen Bereichen war Papierrecycling also bereits wichtig. So gab es beispielsweise in Sachsen vor dem Ersten Weltkrieg über 40 Papierfabriken, die lediglich Altpapier verarbeiteten, woraus Pappen und Schrenzpapier hergestellt wurden.31 Im Durchschnitt jedoch blieb bis um 1900 die Bedeutung von Altpapier noch hinter jener der Lumpen zurück. Unbedrucktes – gleichwohl nur in geringen Mengen anfallendes – Altpapier wurde sogar gezielt als Rohstoff für Papier eingesetzt, weil die damit angereicherte Papiermasse einen schnelleren Maschinenlauf zuließ. In den USA entfielen so bereits vor 1900 20 % der Papierrohstoffe auf Altpapier; in Deutschland waren es ca. 10 %.32 Ein Grundproblem des Altpapiereinsatzes bildete das Ablösen von Druckerschwärze: Sie bestand aus chlorunempfindlichem Ruß und öligen Bindemitteln, die zunächst aufgelöst werden mussten, um dann die Farbpigmente entfernen zu können. Nur Tinte ließ sich durch Chlor entfernen. Es gab zwar viele Patente dazu, aber keine industriell einsetzbare Lösung, die erst das De-Inking-Verfahren der Nachkriegszeit lieferte. Die Sammlung von Altpapier aus kleineren Anfallstellen – also aus Gewerbebetrieben, aber auch aus Haushalten sowie von weggeworfenen Papieren auf öffentlichen Plätzen, aus Mülleimern oder Müllkippen – übernahm der Lumpen- und Altstoffhandel. Städtische Müllabfuhren übernahmen nur in seltenen Fällen, so innerhalb einer getrennten Müllabfuhr in Charlottenburg sowie in einer städtischen Müllsortieranstalt in München-Puchheim, das unhygienische und aufwändige Heraustrennen und Wirtschaften mit Altstoffen. Zwar war das oftmals in Grauzonen situierte Herausklauben von Müll als unhygienisch verpönt, aber gleichzeitig wurde das Lumpengewerbe für seine „Recycling“-Leistung durchaus geschätzt. So stellte die Zeitschrift „Städtereinigung“ 1912 fest, wo Müll viele Sperrstoffe wie etwa 28 29 30 31 32

Vgl. Eintrag „Lumpen(sammler)“ sowie „Papierfabrikation“, Brockhaus, Zwölfter Band: Morea-Perücke, 1894, S. 862; Vierzehnter Band Osu-Por, 1933, S. 129. Vgl. Nöllenburg: Die deutsche Papierindustrie 1928 (wie Anm. 12), S. 762–765. Vgl. Bayerl/Pichol: Papier (wie Anm. 15), S. 204–211. Vgl. Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4), S. 231. Vgl. Bayerl/Pichol: Papier (wie Anm. 15), S. 206.

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Papier enthalte, werde dies den „gewerbetreibenden Kreisen“ nicht entgangen sein.33 Auch auf städtischen Müllkippen wurden Altpapier sowie andere Altstoffe aussortiert, und zwar oftmals mittels primitiver Mittel: mit Harken und Händen. Derweil diese Papiere kaum hohe Handelsqualitäten darstellten, konnten Lumpensammler, welche direkt mit den Haushalten handelten, bessere Qualitäten erzielen. So inserierte ein Altstoffhändler in einer Frankfurter Hausfrauen-Zeitschrift 1912: „Lumpen, Knochen, Flaschen, Gummi, Papier und altes Eisen kauft immer noch zu hohen Preisen. Auf Bestellung komme auch ins Haus.“34 Haushalte verwendeten Altpapier jedoch überwiegend selbst, so etwa als Verpackungsmaterial, als Toilettenpapier, aber vor allem als Brennmaterial, um täglich die Kachelöfen und Herde der Wohnung anzuzünden, und in Notzeiten in gepresster Form als Brikettersatz. Daher gelangte Papier zu wesentlich geschmälerten Anteilen in die Mülleimer, als es verbraucht wurde. Analysen des städtischen Hausmülls, die in Wintermonaten – also einer intensiven Hausfeuerungsperiode – durchgeführt worden waren, ergaben so etwa für das bürgerliche und relativ vermögende Charlottenburg rund 5 % Papieranteil, für Frankfurt a. M. weniger als 1 %.35 Im Rohproduktenhandel waren reine Altpapierhandelsbetriebe um 1900 selten, da man Altpapier mehrheitlich zusammen mit anderen Abfällen aufkaufte. Eine Erklärung dürfte darin liegen, dass Papier erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die wesentlichen Handelsstrukturen bereits bestanden, als Sammelgut wichtiger wurde. Umgekehrt hielt aber der Rohproduktenhandel in den 1920er Jahren durchaus die Aktienmajorität einiger Papierfabriken.36 Für die Verwendung in der Papierherstellung war die Sortierung des alten Papiers entscheidend,37 wobei die Methoden des Sortierens und Weiterverarbeitens aus der Lumpensortierung übernommen worden waren. In großen Sortieranstalten wurde letztmalig getrennt; dabei wurden offensichtlich mehr als 70 Papiersorten geschieden.38 Diese Betriebe waren auf Altpapier spezialisiert, und die größten unter ihnen beschäftigten mehr als 400 Sortiererinnen. Für die Sorten gab es noch keine einheitlichen Normen, und viele Sortieranstalten führten ihre eigenen Sortierklassen. Das eigentliche Trennen geschah manuell an Tischen, seit Ende der 1920er Jahre am Förderband, und zwar durch weibliche Arbeitskräfte, denen man eine bessere Sortierleistung unterstellte und die geringer als männliche Arbeiter bezahlt wurden. Eine Sortiererin trennte am Tisch bis zu einer halben, am Band dann mehr als eine Tonne Papiere pro Tag. Wurde das Altpapier weitergehandelt, wurde es zu Pressbällen verpresst. In der Papierfabrik angekommen, wurde es zerschnitten, in Kochern aufbereitet und in Kollergängen, also Mahlwerken zur Zerkleinerung, zerfasert. Auch dieses Aufbereiten der nun

33 34 35 36 37 38

Vgl. Müllverwertung oder Müllverbrennung, in: Die Städtereinigung 20/1912, S. 232 ff. Anzeige, in: Frankfurter Hausfrau, H. 146 (24. November 1912), Titelrückseite. Vgl. Hermann Koschmieder: Die Müllbeseitigung. Hannover 1907, S. 9. Vgl. Nöllenburg: Die deutsche Papierindustrie 1928 (wie Anm. 12), S. 761. Vgl. Bayerl/Pichol: Papier (wie Anm. 15), S. 208 f. Vgl. dies und folgendes: Ernst Schein: Organisation und Technik des deutschen Rohproduktenhandels. Ohlau 1931, S. 30; Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4), S. 232, nennt die mir zu niedrig erscheinende Zahl von 16 Sorten.

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weitgehend homogenisierten „Altpapiere“ war von diskontinuierlichen Prozessen und einem geringen Mengendurchsatz gekennzeichnet. ALTPAPIER-SAMMLUNGEN IM ERSTEN WELTKRIEG UND IN DER NS-ZEIT Altpapier avancierte im Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Rohstoff, um daraus Ersatztextilien, aber auch z. B. Papierhülsen für die Munition- und Sprengstoffproduktion zu fertigen. Desweiteren ersetzte es in der Papierindustrie Hadern, die kaum mehr in die Papier-, sondern in die Textilindustrie geleitet wurden. Die Papierindustrie gründete nun auch eine Zentrale für Altpapier. „Werft kein Altpapier fort, verbrennt und vernichtet es nicht, sondern sammelt es und führt es weiterer Verarbeitung zu“39, forderte der Staat bereits 1915 etwa über die Presse die Bürger auf, und es gab zahlreiche lokale Aufrufe zur Altpapiersammlung. Allerdings geriet der Hausmüll erst mit dem 1916 initiierten Hindenburg-Programm als auszuwertende Ressource ins Visier der Politik.40 Der nun gegründete Kriegsausschuß für Sammel- und Helferdienst sorgte dafür, dass landesweit in den Städten Sammelstrukturen für Altstoffe entstanden, in welche Schulen ebenso wie Wohlfahrts- und Frauenvereine sowie der Altstoffhandel selbst eingebunden waren. Letzterer unterlag staatlichen Preisregulierungen und Beschlagnahmungen. Im Endeffekt wurden Schüler und die Infrastruktur der Schulen zum Rückgrat des staatlich oktroyierten Müllrecyclings. Kellerräume in Schulen wurden quasi zu einer „Produktenhandlung“, wie es die Schülerin Erna Lange in ihren Memoiren für Berlin berichtet: „In Haufen und Bergen liegt dort alter Kram. Alles hat ja heute irgendwie einen Wert, kann weiterverwendet werden: Papier, Lumpen, Knochen, Stanniol, Korken, Gummi, Flaschenkapseln, Haare, zerbrochene Grammophonplatten, Konservenbüchsen.“41 Seit 1916 wurde verstärkt dazu aufgerufen, Papier weder wegzuwerfen noch zu verbrennen.42 Später kam es in einigen Regionen sogar zu einem Verbot, Papier wegzuwerfen. Der Rohproduktenhandel forderte, überall Sammelkisten für Papier aufzustellen. Die Sammler würden, so hieß es in der Fachpresse, bereitwillig vorbeikommen und gute Preise zahlen. Diese waren schließlich sogar so hoch, dass eine Sammlung von Altpapier selbst auf dem Lande lohnte. Seit Ende 1917 und bis einschließlich 1919 erfolgte die Preisfestsetzung durch die Preisregelungsstelle für Altpapier, die von der Kriegs-Rohstoff-Abteilung des Kriegsministeriums unter Mitwirkung von Altpapier-Sortieranstalten und Papiergroßhandlungen entstanden war. In der Sondersituation des Kriegs kam es außerdem zu zahlreichen lokalen 39 40 41 42

Altpapier, in: Allgemeine Produktenzeitung 30/1915, S. 783. Vgl. Heike Weber: Towards total Recycling: Women, Waste and Food Waste Recovery in Germany 1914–1939, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 371–397. Vgl. Erna Lange: 1914 bis 1918 auf der Schulbank. Berlin 1933, S. 79 f. Das Folgende basiert auf einer Durchsicht der Allgemeinen Produktenzeitung für die Jahre 1916–1918.

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Initiativen des Papierverwertens. Beispielsweise sammelte die Eisenbahn mancherorts gebrauchte Fahrkarten ein und ließ sie einstampfen. Das systematische Sammeln von Altpapier aus den Haushalten endete nach dem Krieg, und der Altpapierhandel wurde nun wieder der freien Wirtschaft überlassen. Gegenüber der Vorkriegszeit war der Papierkonsum der Deutschen stark gesunken, und er sollte erst Ende der 1920er Jahre wieder auf die Vorkriegswerte (27 bis 28 kg) steigen.43 Aufgrund der volatilen Preise war die Situation auf dem Altpapiermarkt divergent. Teils forderte die städtische Müllabfuhr die Haushalte auf, möglichst viel Papier zuhause im Küchenherd zu verfeuern, um so Kosten und Aufwand der kommunalen Müllabfuhr zu entlasten,44 teils wurde Altpapier aber auch noch vom Lumpenhandel eingesammelt. So schätzte eine Dissertation zum Lumpenhandel der Zwischenkriegszeit, ein Berliner Sammler könne täglich wohl 75 kg Lumpen, 75–100 kg Zeitungen, 2–3 kg Metalle, 50 kg Eisen und 30–60 Flaschen zusammenbringen.45 Spätestens um 1930, also parallel zum Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, lohnte das gezielte Sammeln von Papier nicht mehr: Altpapier nehme der Lumpensammler nur noch dann mit, „wenn er auch Lumpen erhält, denn sonst kommt der ‚Dienst am Kunden‘ zu teuer“46. Lumpen, Knochen und Metalle waren die einträglichen Altstoffe; dagegen lohnte das mühsame Aufsuchen der einzelnen Haushalte nicht, wenn dort nur Haushaltspapier zu holen war. Hatte der Fotograph Willy Römer 1910 noch Papieraufleserinnen, die nicht viel mehr als einen gemeinsamen Sammelkorb besaßen, dabei abgelichtet, wie sie nach einem Fest im Treptower Park die papiernen Hinterlassenschaften der Gäste einsammelten,47 so lohnte das Zusammentragen solcher Wegwerfpapiere nicht mehr, die am untersten Ende der Altpapierqualitäten standen. Offenbar schlug sich dies sogar im Stadtbild nieder, denn viele Müllabfuhren klagten über das „gedankenlose Wegwerfen von Papier“, das die Straßen und Plätze verunreinige und die Straßenreinigung verteuere.48 Es waren die Nationalsozialisten, die das Zusammensammeln des so genannten „Knüllpapiers“ wieder etablierten, obwohl dies inzwischen völlig unökonomisch war. Im Fall der Nationalsozialisten war es die bereits früh angedachte Autarkiepolitik, die dazu führte, dass Müll zum Gegenstand staatlicher Wirtschaftspolitik wurde und der Staat zum Ausbeuten von Industrie- wie von Haushaltsabfällen auf Altstoffe hin aufrief. Vorbild war die Müllausbeute des Ersten Weltkriegs, an der letztlich sämtliche Erwachsene, die nun um die 30 Jahre alt waren, ehemals als Schüler partizipiert hatten. 43 44 45 46 47 48

Vgl. Zellstoff und Papier 2/1930, S. 115; Nöllenburg: Die deutsche Papierindustrie 1928 (wie Anm. 12), S. 770. Vgl. Über Müllverwertung im Haushalt, in: Die Städtereinigung 1/1924, S. 5. Vgl. Schein: Organisation und Technik des deutschen Rohproduktenhandels (wie Anm. 38), S. 24. Heitere Ecke: Der Lumpenmann. Jugenderinnerungen eines Papiermachers, in: Zellstoff und Papier 12/1930, S. 910. Vgl. Diethart Kerbs (Hg.): Auf den Strassen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887–1979. Im Auftrag des DHM. Berlin 2004, S. 355. Vgl. Die Städtereinigung 6/1929, S. 129 (Beschluss des Verbands der Leiter städtischer Fuhrparks- und Straßenreinigungsbetriebe Deutschlands).

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Wie andere Altstoffe, so wurde auch Altpapier schon 1934 in „Stoßaktionen“ gesammelt, so etwa im „100-Tage-Kampf gegen die Materialvergeudung“ vom Sommer 1934 (von der Gesellschaft für Organisation durchgeführt).49 1937/38 mussten in den Städten separate Sammelcontainer für Altpapier in den Wohnhäusern aufgestellt werden. Der Hauswart oder ein anderer Hausbewohner wurde später dazu verpflichtet, deren Nutzung zu kontrollieren: „Er wird dafür sorgen“, so eine Broschüre des Reichskommissars für Altmaterialverwertung von 1940, „daß im Keller oder an einer sonst geeignet erscheinenden Stelle im Hause, die natürlich trocken sein muß, ein Behälter für Papier-Abfälle, also für gebrauchtes Einwickelpapier, Pappkartons, Tüten, zerrissene Korrespondenz usw. aufgestellt wird“50. Die eigentliche Mülltrennung wurde in den Verantwortungsbereich der Hausfrauen geschoben, die – das war den Verantwortlichen klar – „das Aufheben, Zurechtlegen und womöglich sogar Sortieren des Papiers oft als lästige und zusätzliche Arbeit empfinden“51 würden. Darüber hinaus wurden die städtischen Müllabfuhren aufgefordert, aus dem von ihnen abtransportierten Müll, der aufgrund der separaten Container eigentlich nur noch wenig Altstoffe enthielt, den letzten Rest an Altstoffen wie Konservendosen, Blech- und Eisenwaren, Aluminium, Akkublei, alte Kupferleitungen, Fassungen elektrischer Glühbirnen, Lumpen, Knochen, Weiß- und Farbglas sowie Papier auszusondern.52 Es handelte sich dabei um maximal 2 % der Gesamtmüllmenge, die nur unter größtem Aufwand herauszutrennen war. Die Müllabfuhren wurden zu diesem völlig unökonomischen Schritt gezwungen; sie selbst hatten demgegenüber dazu geraten, das Ausklauben dem Altstoffgewerbe zu überantworten und garantierte Altstoffpreise einzusetzen.53 Um das propagierte Ziel zu erreichen, Müll möglichst „total“ weiterzuverwerten, setzten die Nationalsozialisten demgegenüber auf ein Einsammeln und Sortieren auf allen Stufen des Müllstroms: im Haushalt, bei der Müllabfuhr sowie über das Altstoffgewerbe, das schließlich auch wieder unter staatlich gesetzten Rahmenbedingungen zu operieren hatte. Wie effektiv und intensiv das jeweilige Sammeln dabei war, ist noch nicht näher untersucht.54 Was den Altstoffhandel betraf, so wurde er radikal umstrukturiert: Politisch unerwünschte Personen und insbesondere die zahlreichen jüdischen Händler wurden verdrängt und durch arische, so genannte „Pflichtsammler“ ersetzt, die verpflichtet waren, regelmäßig alle Haushalte ihrer Region aufzusuchen und sämtliche angebotenen Reststoffe mitzunehmen. Mit Kriegsausbruch waren es dann jedoch wieder vor allem die Schulkinder, welche Reste heranzutragen hatten. 49 50 51 52 53 54

Vgl. Beinhauer: Wohin mit dem Papier im Haushalt?, in: Die Städtereinigung 12/1936, S. 367. Reichskommissar für Altmaterialverwertung/Ziegler. Anordnung, Nr. 1, 1940, Berlin. Anordnung Nr. 1/40 betreffend Umstellung der Organisation der Altmaterialerfassung im Kriege, S. 6 (Anlage). Emil Fischer: Altpapier im Vierjahresplan. Berlin/Wien/Leipzig 1942, S. 67. Vgl. Die Müllabfuhr in Stuttgart, in: Die Städtereinigung 12/1941, S. 117 ff. So etwa der führende Müllexperte Erhard in den Beratungen. Vgl. Sammlung Erhard, Umweltbundesamt Dessau, C XII 60, Brief Dr. E an die Wirtschaftsgruppe Eisen-, Blech- und Metallwarenindustrie z. H. d Hrn Johannes Melmer, betr: Abfallstoffverwertung, 31. Oktober 1936. Vgl. Friedrich Huchting: Abfallwirtschaft im Dritten Reich, in: Technikgeschichte 48 (1981), S. 252–273; Susanne Köstering: Pioniere der Rohstoffbeschaffung. Lumpensammler im Nationalsozialismus 1934–1939, in: WerkstattGeschichte 17 (1997), S. 45–65.

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Hatte Altpapier in Form von größeren Mengen sauberen Papiers durchaus noch seinen Wert, so hatten Lumpensammler vor den nationalsozialistischen Eingriffen in die Wirtschaftsströme des Mülls Haushaltspapiere nicht einmal mehr unentgeltlich mitgenommen. Papier nahm daher inzwischen in den häuslichen Mülleimern mehr Platz ein: In Hamburgs Mülleimern betrug der Papier- und Pappeanteil im Hausmüll Mitte der 1930er Jahre im Sommer bereits fast 20 %, im Winter waren es weniger als 5 %.55 Zusammengenommen machten diese Papierreste laut Rechnungen der NS-Abfallpolitik 35 % des Gesamtpapierkonsums aus, und die Nationalsozialisten hofften, diese nicht unerhebliche Menge als Altpapier wiedergewinnen zu können.56 Sie gingen daher auch gegen existierende Praxen der privaten Weiternutzung von Altpapier vor: Presseartikel, die Haushalten den Ratschlag erteilten, aus Papier Brikett zu machen, wurden von der NSDAP kritisiert, denn es handele sich dabei um die „Vergeudung von Volksvermögen“57. In einer von der Lehrmittelzentrale der DAF herausgegebenen Broschüre zu „Altpapier als Rohstoff“ (1938) hieß es ausdrücklich, es müsse „jedem Volksgenossen klar gemacht werden, daß Altpapier ein wertvoller Rohstoff ist, welcher der Fabrikation wieder zugeführt werden muß. Die Unsitte, Altpapier zu verbrennen, muß beseitigt werden.“58 Eine Anordnung der Reichsstelle für Papier- und Verpackungswesen, die der Reichskommissar für Altmaterialverwertung zusammen mit Handel und Industrie erarbeitet hatte, legte 1937 spezifische Qualitätsbegriffe, Altpapier-Sorten sowie Höchstpreise fest.59 Offenbar unterschied man rund 120 Papiersorten.60 Einzelne Städte – belegt ist es für Erfurt und Stuttgart – richteten nun auch regelmäßige, separate Altpapiersammlungen ein; wie flächendeckend solche Sammlungen durch die städtischen Müllabfuhren waren und ob sie aus Zwang erfolgten, bleibt zu prüfen. Erfurt ging sogar dazu über, das Altpapier nicht über die Rohproduktenhändler abzusetzen, sondern mit Hilfe von billigen Arbeitskräften (Invalidenrentnern) in Eigenregie zu sortieren, um so den Höchstpreis für Altpapier zu erzielen.61 Dies warf zwar kaum Überschuss ab, deckte nun aber zumindest die investierten Kosten. Monatlich wurden 12.000 bis 18.000 kg Altpapier gesammelt. Die ersten größeren Sammelaktionen von 1937/38 führten unmittelbar zu Überkapazitäten, die den Markt überschwemmten und von den Papierfabriken nicht sofort aufgenommen werden konn-

55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Heinrich Neuy: Die Müllverwertung in Deutschland. III. Internationaler Kongress für Städtereinigung in Wien, 24.–28. Aug. 1938. Feudingen i. Westfalen 1938 (Sammlung Erhard, A 656), S. 10. Vgl. Rudolf Petzold: Die Altstoffe und die Rohstoffversorgung Deutschlands. Borna 1941, S. 39. So etwa in Franz Schmidt: Altpapier als Rohstoff. Berlin 1938 [Hg.: Der Reichsorganisationsleiter d. NSDAP, verlegt bei der Lehrmittelzentrale der Deutschen Arbeitsfront], S. 5. Ebd., S. 30. Vgl. Die Verwertung der Altstoffe, in: Blätter der Frankfurter Zeitung, Nr. 8, 11. August 1941, S. 1 f. (Sammlung Erhard, Ordner „Vierjahresplan“). Vgl. Petzold: Die Altstoffe (wie Anm. 56). Vgl. Hilbig, E., in: Die Städtereinigung 2/1940, S. 13 f.

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ten.62 Papierfabriken wurden gedrängt, vermehrt Altpapier einzusetzen; zugleich stand ihnen nach der Annexion Österreichs zunehmend Holzschliff zur Verfügung.63 Die NS-Recyclingpolitik und insbesondere die Propaganda zur Reste-Verwertung wurden mit Ausbruch des Kriegs radikalisiert. Selbst die Presse sprach von einer „Mobilisierung der Rumpelkammern“64 für die Kriegswirtschaft. Inwiefern die spätere Ausbeutung der besetzten Länder möglicherweise zu einem Rückgang der „heimischen“ Sammelaktivitäten führte, ist unklar. Bekannt ist aber inzwischen, dass den besetzten Ländern ähnlich restriktive Abfallsammlungen auferlegt wurden.65 In Deutschland wurden vor allem Schüler für das Sammeln herangezogen: Sie sammelten seit 1940 zunächst Knochen, dann auch täglich die Zeitung, außerdem Stoffreste, unbrauchbare Kleidung, Eisen und Metallteile, Flaschenkapseln, Folien und Tuben sowie Korken,66 wobei Schrott, Knochen, Lumpen und Altpapier die wichtigsten Restegruppen darstellten. So genannte „Altstoff-Lehrkarten“ hingen in Schulen und Betrieben, um über die Verwertungsmöglichkeiten aufzuklären (Abb. 2). Sie zeigten den Altpapierstrom, der sich aus der Hausvorsammelstelle und den weiters hinzugekommenen öffentlichen Betriebs- und Büro-Sammelstellen speiste, auf seinem Weg über den Sammler und Rohproduktenhändler in die Papiersortiererei und schließlich die Papierfabrik. Dort würde er ohne weiteres, so suggeriert es jedenfalls die Propaganda, zu neuen Papiererzeugnissen umgeformt. Außerdem zeigt die Lehrkarte ein weiteres Argument, mit dem das Recycling von Altpapier seit 1940 ideologisch begründet wurde. Hatte man bisher das Altstoffsammeln mit dem Sparen von Volksvermögen und der Ausnutzung heimischer Ressourcen – als solche waren die Reste inzwischen ja totalisierend umgedeutet worden – gleichgesetzt, so stellten die Nationalsozialisten im Sommer 1940 eine Sondersammelaktion von Altpapier unter die Leitparole „Altpapier sammeln hilft deutschen Wald erhalten“. Die Lehrkarte greift diese auf und betont, wer Altpapier sammle, helfe dabei, „den deutschen Wald [zu] erhalten“, wobei 20 t Altpapier mit der Ersparnis von 66 Raummetern Holz gleichgesetzt wurden. In der Realität ging diese Rechnung allerdings in dieser Simplifizierung nicht auf, auch wenn der Einsatz von Altpapier Ressourcen schonte und nicht nur Holz, sondern z. B. auch Schwefel und Kohle sparte.67 Denn zum einen füllte die Steigerung des Altpapiereinsatzes, die sich über das Haushalts- und Büropapier erreichen ließ, die entstandene Einfuhrlücke von Papierholz, d. h. der Wald andernorts wurde geschont, ehe dann nach Kriegsausbruch die Wälder der besetzten Länder systematisch aus62 63 64 65

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Vgl. Fischer: Altpapier im Vierjahresplan (wie Anm. 51), S. 12; Petzold: Die Altstoffe (wie Anm. 56), S. 40. Ebd. Die Verwertung der Altstoffe, in: Blätter der Frankfurter Zeitung (wie Anm. 59), S. 1 f. Vgl. für die Niederlande und für Frankreich: Ruth Oldenziel/Milena Veenis: The Glass Recycling Container in the Netherlands. Symbol in Times of Scarcity and Abundance, 1939–1978, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 453–476; Chad Denton: Récupérez! The German Origins of French Wartime Salvage Drives 1939–1945, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 399–430. Vgl. Reichskommissar für Altmaterialverwertung/Ziegler. Anordnung (wie Anm. 50). Die einzusparenden Posten werden berechnet in: Regeneration bedruckten Altpapiers – ein neuer Industriezweig?, in: Zellstoff und Papier 12/1938, S. 709–714.

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Abb. 2: Nationalsozialistische „Lehrkarte“ zum „Rohstoff Altpapier“, die einen geschlossenen Kreislauf vom Knüllpapier zum neuen Papierprodukt suggeriert und die Holzersparnis visualisiert

Quelle: Reichskommissar für Altmaterialverwertung (Hg.): Zu den Lehrkarten. Rohstoff Schrott. Rohstoff Altpapier. Rohstoff Knochen. Rohstoff Lumpen. Berlin 1940 (ohne Seitenangaben).

gebeutet wurden. Bereits 1913 hatte Deutschland über 40 % des Papierholzes aus Nord- und Osteuropa importiert; die Nationalsozialisten senkten den bis 1930 auf fast 60 % angestiegenen Importanteil dann wieder auf etwas weniger als 50 % im Jahre 1936.68 Es war also nicht zwingend der „deutsche Wald“, der geschont wurde. Zum anderen schonten die Nationalsozialisten den deutschen Wald ganz allgemein nicht: Er wurde in zahlreichen Wirtschaftsbereichen genutzt und es kam zu einem forcierten Einschlag.69 Holz wurde dabei auch erstmals in großen Mengen als 68 69

Vgl. Laufer: Knappe Ressourcen (wie Anm. 14), S. 230; Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4), S. 203. Zu den „Grenzen der Holzversorgung“ vgl. auch das entsprechende Kapitel bei Mutz, S. 193–203. Dies berührt die Frage, wie „grün“ die Nationalsozialisten waren. Ist die Bedeutung des Waldes in der NS-Politik und der NS-Ideologie inzwischen sehr gut erforscht, so wurde das Recycling von Papier wie auch von anderen Abfallstoffen bisher in der Debatte um die Nachhaltigkeit der NS-Umweltpolitik nicht erörtert. Vgl. Franz-Josef Brüggemeier/Mark Cioc/Thomas Zeller (Hg.): How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich. Athens 2005, darin vor allem: Michael Imort: Eternal Forest – Eternal Volk. The Rhetoric and Reality of National Socialist Forest Policy, S. 43–72. Imort setzt sich mit der propagandisti-

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„Chemieholz“ in der neuartigen Zellwoll- und Kunstseiden-Herstellung sowie in der Holzverzuckerung verwendet.70 Dieser verstärkten Nutzung von Holz suchte man durch die Substitution von Holz durch Altpapier in der Papierwirtschaft, aber auch mit einer Kultivierung schnell wachsender Baumkulturen sowie später der Ausbeutung der besetzten Gebiete zu begegnen. Unter den nationalsozialistischen Rahmenbedingungen wurde der Altpapiereinsatz wesentlich erhöht, und seit 1936 unterlag auch die Papierindustrie der Rohstoffkontingentierung. Waren die Papierproduktionszahlen zunächst angestiegen, so kam es im Krieg zu einer Verringerung der Papier- und Pappe-Erzeugung, und auch die Beschlagnahme von Papiervorräten in den besetzten Gebieten kompensierte dies nicht.71 Seit Frühjahr 1939 kam es, gelenkt über die 1934 gegründete Überwachungsstelle für Papier (ab Oktober 1939 Reichsstelle für Papier und Verpackungswesen) zu Sparmaßnahmen im Papier- und Verpackungssektor. Der Druck von Zeitungen wurde beschränkt, dem Einzelhandel mangelte es an Verpackungen und Käufer waren aufgefordert, gebrauchtes Verpackungsmaterial wieder mit zu bringen. Dem Altpapieraufkommen waren mithin deutliche Grenzen gesetzt, und es dürfte seit 1939 stark gesunken sein, wobei genaue Zahlen dazu bisher fehlen. Zugleich verschob sich der Rohstoff-Einsatz der Papierproduktion anteilsmäßig deutlich zugunsten des Altpapiers. Laut Fischer, der der Reichsstelle für Papier und Verpackungswesen angehörte, lag die Quote 1938 bei fast 27 % und wurde dann auf mehr als 40 % gesteigert.72 Zum Vergleich: Die amerikanischen Einsatzwerte lagen bereits um 1930 bei einem Drittel des Rohstoffeinsatzes, was vermutlich auch an der größeren dortigen Bedeutung von Verpackungspapieren lag. Um solch hohe Quoten an Altpapier, insbesondere bei den minderen Qualitäten, überhaupt realisieren zu können, mussten die Auf- und Verarbeitungsverfahren weiterentwickelt werden; u. a. waren schonendere Verfahren der Zerfaserungen entwickelt worden und es gelang, unsortierte Haushaltspapierabfälle stärker einzusetzen.73 Deutschland war mit seinen Kriegs-Altstoff-Sammlungen kein Sonderfall. Auch in den USA, vor allem aber in Großbritannien, wurde Altpapier verstärkt gesammelt, und auch die dortigen Aufrufe zu Sammelaktionen stellten das Mitmachen der Bevölkerung als eine nationale Pflicht dar, der kriegführenden Nation bei-

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schen Bedeutung des Dauerwald-Konzepts auseinander, das sich in völkische Propaganda einfügte, das aber spätestens ab 1936 von dem Leitkonzept eines „naturgemäßen Wirtschaftswaldes“ verdrängt wurde. Vgl. außerdem: Frank Uekötter: The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi Germany. Cambridge u. a. 2006. Vgl. Reinhard Trendelenburg: Das Holz als Rohstoff – seine Entstehung, stoffliche Beschaffenheit und chemische Verwertung. München 1939; zum „Chemieholz“: Fritz Brauer: Das deutsche Holz. Berlin 1936, S. 24 f., 31. Vgl. hierzu auch Schmidt-Bachem: Aus Papier (wie Anm. 15), S. 296. Schmidt-Bachem spricht von einem umgerechneten Pro-Kopf-Papierverbrauch von 31 kg im Jahr 1937 und 35 kg für das Folgejahr, womit die Daten von den in Abb. 1 für 1938 genannten 47,8 kg stark divergieren. Zur Papierindustrie in der NS-Zeit vgl. Schmidt-Bachem: Aus Papier (wie Anm. 15), S. 256–318, hier 291 f., 306. Vgl. Fischer: Altpapier im Vierjahresplan (wie Anm. 51), S. 8, 52. Vgl. Eine neue Art der Altpapier-Zerfaserung, in: Zellstoff und Papier 7/1939, S. 415 ff.; vgl. auch Bayerl/Pichol: Papier (wie Anm. 15), S. 209.

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zustehen. Großbritannien wies bereits vor 1939 einen regen Altpapiermarkt auf; wohl rund 700.000 bis 900.000 t Altpapier wurden pro Jahr gesammelt und bis zu einem Viertel exportiert.74 Im Krieg wurden die Sammelaktivitäten, bei zugleich stark sinkendem Papierverbrauch, radikalisiert. Auch in Großbritannien wurden sogar solche Papierprodukte als abzugebendes „Altpapier“ deklariert, die längst noch nicht wertlos geworden waren, wie z. B. Tagebücher, Archivalien und ganze Bibliotheksbestände.75 ALTPAPIER IN DER NACHKRIEGSZEIT Altpapier war in der Bundesrepublik in den Jahren um 1950 stark nachgefragt, um die Rohstoffbasis der Papierfabriken zu vergrößern, zumal Faserholz nach Kriegsende zunächst nicht importiert werden durfte. Selbst die Verpackungen von Lebensmitteln wurden – weiterhin – in die Läden zurückgetragen, so dass „der Laden des Lebensmittelhändlers praktisch zu einer Sammelstelle für Altpapier“ geworden war.76 In West-Berlin gründete der Magistrat während der Berlin-Blockade 1948/49 sogar „Packmittelsammelstellen“ in verschiedenen Stadtteilen, denn in der abgesperrten, nur noch über die Luftbrücke zu versorgenden Stadt war es zu Papiermangel und dadurch auch zu Transportengpässen gekommen: Grundnahrungsmittel konnten mangels Säcken nicht befördert werden. Noch Anfang der 1950er Jahre wurde dem Hausmüll Wert zugestanden, und die Presse forderte weiterhin, „unsere Hausfrauen sollten daher alle noch irgendwie verwertbaren Gegenstände, vor allem Papier, Lumpen und Edelmetalle nicht in den Mülleimer werfen, sondern diese Abfälle entweder direkt oder durch die Kinder dem Althandel zuführen. Manche Haushalts- oder Kindersparkasse könnte dadurch aufgefüllt werden.“77 In der Tat waren die Altpapierpreise Anfang der 1950er Jahre teilweise außergewöhnlich hoch – Anfang 1951 wurde mit 45 Pf. das Kilo rund zehnmal mehr als üblich gezahlt –, und manche Jugendliche machten daher „Jagd“ auf das Altpapier.78 Gleichzeitig konsumierten die einzelnen Haushalte äußerst wenig Papier: 1950 lag der Privatverbrauch laut Verband Deutscher Papierfabriken bei 1,8 kg pro Kopf, 1953 bei 5,2 kg, 1955 bei 8,2 kg und 1960 immerhin bereits bei 19,3 kg.79 In den Jahren um 1960 stieg nicht nur der Papierverbrauch wieder gewaltig an, sondern zugleich gaben Haus74 75 76 77 78 79

Vgl. Stokes/Köster/Sambrook: The Business of Waste (wie Anm. 6), S. 111. Vgl. Peter Thorsheim: Salvage and Destruction. The Recycling of Books and Manuscripts in Great Britain during the Second World War, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 431–452. Vgl. dies und folgendes: Papierversorgung und Altpapiererfassung, in: Neue Verpackung, Nr. 2/3 (1948), S. 37 (Zitat Laden als Sammelstelle); zu Berlin vgl. Packmittel werden wiederverwendet, in: Neue Verpackung, Nr. 8 (1949), S. 118. Tausende Mark im Mülleimer, in: Rhein-Zeitung, 1./2.12.1951 (Sammlung Erhard, Ordner ZA, Verschiedenes A-K, Zeitungsausschnitte). Vgl. Naturforscher, die in Tonnen wühlen. Jugend macht Jagd auf Altpapier, in: Kölnische Rundschau, 24.5.1951 (SE, Ordner ZA, Verschiedenes A-K, Zeitungsausschnitte). Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Die Zellstoff-, Holzstoff-, Papier- u. Pappenindustrie im Jahre 1961. Bonn 1961, S. 38. Die Daten in Abb. 1 sind rechnerische Durch-

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halte immer seltener Altstoffe an Sammler ab; die Kommunen wiederum, die bisher ihre städtischen Kippen oftmals an Altstoffsammler zur Auslese von Wiederverwertbarem verpachtet hatten, suchten diese Praxis einzudämmen.80 Die Altmaterial-Wirtschaft schrumpfte in der Nachkriegszeit auf die Kerngebiete Schrott, Altpapier und Alttextilien zusammen, wobei der Schrotthandel eindeutig dominierte. Von den insgesamt rund 10.000 Betrieben des Altstoffgroßhandels im Jahr 1960 waren lediglich 411 Unternehmen auf Altpapier spezialisiert. Dazu kamen fast 4.000 Mischbetriebe ohne besonderen Sammelschwerpunkt.81 Um ihren Einfluss zu sichern, schlossen sie sich in Interessenvertretungen wie dem europäischen Bureau Internationale de la Récuperation (1948) sowie dem Bundesverband für Deutsche Rohstoffwirtschaft (einem Vorläufer des heutigen Bundesverbands der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft e. V.) zusammen. Allerdings hatte der Altstoffhandel mit stark schwankenden Absatzmöglichkeiten und volatilen Preisen zu kämpfen; dazu kamen sinkende Rohstoffpreise, die den Altstoffen – allerdings weniger dem Altpapier – ihren Platz streitig machten, sowie steigende Arbeitslöhne, die das Aussortieren zu einem enormen Kostenfaktor werden ließen und das Abholen von Resten aus Kleinanfallstellen unökonomisch machten. Anfang der 1970er Jahre schätzten Experten die Zahl der Betriebe auf ca. 400 Altpapier-Großhandelsbetriebe, die teils aber auch mit Schrott und Textilabfällen handelten; darunter gab es sechs oder sieben Großbetriebe und 20 bis 25 mittlere Betriebe, wobei nach wie vor in einigen Fällen Kapitalverbindungen zwischen den Altpapierhändlern und der Papierindustrie bestanden.82 Der Altpapier-Einsatz konzentrierte sich seit Ende der 1950er Jahre wieder auf die Abfälle der Industrie; gelegentlich sammelten außerdem in den 1960er und 1970er Jahren karitative Organisationen Altpapier aus Haushalten, und einige der größten Altpapierhändler führten um 1970 gemeinsame Haussammlungsaktionen unter dem Dach der Interessensgemeinschaft Rohstoff durch. Wurden 1950 rund 0,5 Mio. t Altpapier in der Papierindustrie eingesetzt, waren es 1970 über 2,5 Mio. t (Abb. 3). Dabei konsolidierte sich der Altpapiereinsatz in der Papierindustrie auf einer im westeuropäischen Vergleich führenden Quote von ca. 40 % bis 45 % in den 1960er Jahren (1956: 35 %). Wesentlich kennzeichnender für die Papierindustrie der Nachkriegszeit war jedoch die Tendenz, hochwertige Roh- und Halbstoffe einzusetzen, da die Ansprüche an Papierqualitäten stiegen. So sank die Einsatzquote von reinem Holzschliff auf rund 15 % um 1970, derweil die Einsatzquoten der holz-

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schnittswerte, die den Gesamtverbrauch von Papier (also z. B. auch durch Verwaltungen) auf den Kopf umrechnen. Vgl. Roman Köster: Abschied von der verlorenen Verpackung. Das Recycling von Hausmüll in Westdeutschland 1945–1990, in: Technikgeschichte 80, H. 1 (2014), S. 33–60; Heike Weber: Den Stoffkreislauf am Laufen halten: Restearbeit und Resteökonomien des 20. Jahrhunderts, in: Kijan Espahangizi/Barbara Orland (Hg.): Stoffe in Bewegung. Beiträge zur Wissensgeschichte der materiellen Welt. Zürich 2014, S. 145–171. Vgl. Die Rohstoffwirtschaft zwischen 1950 und 1960, in: Die Rohstoffrundschau, H. 3 (5.2.1964), S. 33–36. Vgl. für dies und Folgendes auch Weber: Stoffkreislauf (wie Anm. 80). Vgl. dies und folgendes: Verwertung von Altpapier. Untersuchung über die Möglichkeiten der Verwertung von Altpapier. Bericht des Battelle-Instituts e. V, Frankfurt a. M. im Auftrag des Bundesministeriums des Inneren. Beihefte zu Müll und Abfall, H. 6. Berlin 1973, S. 11.

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Abb. 3: Mengen des in der Papierindustrie eingesetzten Altpapiers im Vergleich zur Papiererzeugung (Bundesrepublik, 1950 bis 1970)

Quelle: Verband Deutscher Papierfabriken e. V.: Die Zellstoff-, Holzstoff-, Papieru. Pappenindustrie im Jahre 1970 (wie Anm. 19), S. 27.

basierten, höherwertigen Halbstoffe des (einheimischen) gebleichten Sulfitzellstoffs, aber vor allem des (importierten) Sulfatzellstoffs expandierten. Außerdem nahmen die Anteile der eingesetzten hochwertigen Altpapiersorten zu. Gleichzeitig stieg das Gesamtvolumen an erzeugtem Papier kontinuierlich an, und zwar von rund 2 Mio. t am Anfang der 1950er Jahre auf rund 3 Mio. t 1960 und über 5 Mio. t am Ende der 1960er Jahre. Für die Papierindustrie war der Altpapiereinsatz lukrativ, denn Altpapier war teils billiger als andere Faserrohstoffe und zugleich verfügte man inzwischen über rationelle Methoden der Verwertbarmachung von Altpapier. Altpapier wurde daher auch importiert, und zwar vor allem hochwertige, auf dem Inlandsmarkt knappe Sorten.83 Mit verbesserten De-Inking-Verfahren standen seit Ende der 1950er Jahre außerdem Methoden bereit, bedrucktes Altpapier kostengünster aufzubereiten, als es der Holzschliffeinsatz war, und zwar bei vergleichbaren Endqualitäten; allerdings durchlief bis um 1970 nur ein äußerst kleiner Anteil des wiedereingesetzten 83

Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Die Zellstoff-, Holzstoff-, Papier- u. Pappenindustrie (wie Anm. 79), S. 22.

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Altpapiers solche De-Inking-Anlagen.84 Das Altpapier-Aufkommen der Bundesrepublik, also jene Mengen, die aus dem hiesigen Konsum auf den Altpapier-Markt zurück gelangten, lag zwar ebenfalls an der Spitze der westeuropäischen Länder, aber hinter den Niederlanden und Frankreich. Was auf dem westdeutschen Altpapiermarkt an die Papierindustrie gelangte, stellte beispielsweise 1962 mit 1,25 Mio. t nur etwas mehr als ein Viertel des Gesamtpapierverbrauchs dar; letzterer speiste sich zu rund einem Drittel aus Importen, vor allem aus Skandinavien.85 Der steigende Papierverbrauch vollzog sich überwiegend in den privaten Haushalten. Seit der Zeit um 1960 „produzierten“ diese mithin auch markant mehr Papierabfälle. Vor allem konsumierten die Bundesbürger mehr und mehr Zeitschriften- und Zeitungspapiere und neuerdings verstärkt Hygienepapiere. Dazu kam, dass sie altes Papier kaum mehr selbst weiternutzten; so fiel beispielsweise das Verbrennen von Papier mit Einzug der Heizungen in den 1960er Jahren weg. Des Weiteren wurden im Zeitalter von Selbstbedienung und Supermarkt Verpackungspapiere immer häufiger. Gerade der Anstieg von Verpackungspapieren erklärt auch die hohe Nachfrage der Industrie nach Altpapier. Hygienepapiere hingegen wiesen zunächst nur geringe Altpapier-Anteile auf. Insgesamt kam es dadurch bis zum Abflauen des Wirtschaftswachstums 1966 zu Zuwachsraten im Altpapiereinsatz, die über den Zuwachsraten der Gesamtpapier-Erzeugung lagen. ALTPAPIER-RECYCLING UNTER ÖKOLOGISCHEM VORZEICHEN „Der Grunewald ist der Naherholungsraum im Westen der Hauptstadt. Durch Papierrecycling in Berlin wird bereits heute pro Jahr das Holz dieses 3.000 Hektar großen Waldgebietes eingespart.“ Mit diesen Worten, die in das seitenfüllende Foto des Grunewalds aus der Luftperspektive klein eingeblendet sind, bewirbt die Berliner Stadtreinigung (BSR) im städtischen „Trennt Magazin“, einer PR-Zeitschrift für Recycling, ihre Altpapiersammlung.86 Weil die Berliner fleißig Altpapier in die bereitgestellten Sammeltonnen tragen, retten sie, so suggeriert der Vergleich, den heimischen Wald. Abermals hinkt der Vergleich, denn die Papierindustrie der letzten Dekaden hat die zentralen Umweltkosten – Wasserverschmutzung und Abholzung – in andere Länder Nordeuropas, Südeuropas und der Tropen abgewälzt.87 Das unter ökologischem Vorzeichen ausgeführte Altpapier-Recycling stützte sich dennoch von Anfang an auf den Topos des Rettens der Wälder vor ihrer Abhol84 85

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Die Studie des Battelle-Instituts von 1973 bezifferte den Anteil auf nur rund 6 %. Vgl. Verwertung von Altpapier (wie Anm. 82), S. 18; zum De-Inking-Verfahren vgl. Bayerl/Pichol: Papier (wie Anm. 15), S. 212 f. Daten laut der Altpapier-Informationsstelle, einem überverbandlichen Zusammenschluss der papiererzeugenden, verarbeitenden Gewerbe, der graphischen Gewerbe und des Altpapierhandels. Vgl. Altpapier-Informationsstelle (Hg.): Die Altpapier-Fibel. B (wie Anm. 26), Titelrückseite. Vgl.: Trennt Magazin, Nr. 3 (Frühling 2012), Titelrückseite. Die „Trenntstadt Berlin“ ist eine Initiative der Berliner Stadtreinigung (BSR) in Kooperation mit ALBA, Berlin Recycling sowie der Stiftung Naturschutz. Vgl. auch Mutz: Umwelt als Ressource (wie Anm. 4), S. 2.

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zung. Damit wurde eine – in dieser Verkürzung so nicht zutreffende – Argumentation fortgesetzt, mit der bereits der NS-Staat das Sammeln von Altpapier zu begründen und zu forcieren suchte. Getragen von der Motivation, den Wald zu schützen, sammelten die Bundesbürger nicht nur Altpapier, sondern verwendeten auch verstärkt das so genannte „Umweltschutzpapier“, wie die ungebleichten Papiersorten aus 100 % Altpapier seit ca. 1980 benannt wurden.88 Die Sensibilität der Bundesbürger für den Schutz der Wälder verstärkte sich zusätzlich durch die folgende Waldsterbens-Debatte, so dass der Wald zu einer einigenden Klammer werden konnte, um die unterschiedlichen Einzelinteressen der verschiedenen Akteure (Politik, Papier- und Entsorgungswirtschaft, Bürger und Bürgerinitiativen) zu bündeln. Den Kommunen beispielsweise ging es primär darum, Deponiekosten einzusparen; private Entsorger nutzten das Altpapier-Recycling, um in das Geschäft mit dem Müll einzusteigen; die Papierindustrie verpflichtete sich zu bestimmten AltpapierEinsatzquoten, um gesetzlichen Anordnungen zuvor zu kommen. Der heutige Konsumbürger wiederum ist längst zu einem „Konsum- und Recyclingbürger“ geworden, der seine Konsumentscheidungen auch an der potentiellen Rezyklierbarkeit von Produkten ausrichtet und der das schlechte Umwelt-Gewissen mit einer Beteiligung an der Mülltrennung zu kompensieren sucht.89 Als die Bundesrepublik 1979 mit der „Bundesweiten Hausmüllanalyse“ erstmals eine nationale Müllstudie vorlegte, ergab diese, dass fast 20 % des Hausmüllgewichts auf Papiere und Pappen entfielen. Es machte allein schon aufgrund dieser hohen Anteile Sinn, dass sich die nun entstehende, ökologische Recyclingbewegung neben Glas (beinahe 12 % Gewichtsanteil) und später dann auch vegetabilen Resten (mit fast 27 % die schwerste Fraktion) auf Papier konzentrierte, zumal die Anteile hinsichtlich des Volumens noch größer waren, und zwar füllten Papiere rund die Hälfte der Mülleimer.90 Bereits das 1971 verabschiedete Umweltprogramm der Bundesrepublik hatte eine erhöhte Wiedereingliederung von Abfällen in die Produktionskreisläufe gefordert, und das Abfallwirtschaftsprogramm der Bundesregierung (1975) beschrieb Recycling als eine umweltschonende und energiesparende Alternative zum Wegwerfen. Aber es waren vornehmlich diese hohen Zahlenwerte, welche das Umweltbundesamt bewogen, den Kommunen eine separate Straßen- oder Containersammlung von Altpapier zu empfehlen.91 Papier nahm beim immer kostspieliger werdenden Deponieren wertvollen Platz weg. Auch wenn Müllverbrennungsanlagen kaum auf Papier verzichten wollten, so war diese Entlastung der im Abfallsystem wesentlich wichtigeren Deponien seit Mitte der 1980er Jahre ein zentraler Antrieb der bundes88 89 90 91

Vgl. z. B. den Artikel „Umweltschutz. Spur ins Graue“ (in: Der Spiegel 16/1980, S. 69–73), in welchem die Debatte, ob Recycling-Papier den Wald „schütze“, aufgegriffen wurde. Zum „consumer-recycler-citizen“ und einem „ecological citizenship“ vgl. auch: Ruth Oldenziel/Heike Weber: Introduction. Reconsidering Recycling, in: Contemporary European History 22 – Special Issue 3 (Recycling and Reuse in the Twentieth Century) (2013), S. 347–370. Vgl. Bernhard Budde: Verwertung von Altpapier aus Haushaltabfällen. Papiertechnische Beurteilung spezieller Aspekte der Wiederverwertbarkeit von Sekundärfaserstoffen aus Haushaltabfällen mit summarischen Kenngrössen. Berlin 1978, S. 1. Vgl. Umweltbundesamt. Materialien zum Abfallwirtschaftsprogramm 75: 2/76 II Papierabfälle. Berlin 1976, S. 71.

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republikanischen Umwelt- und Abfallpolitik, Papierrecycling zu befördern, auch wenn dies gegenüber den Bürgern kaum kommuniziert wurde. Aber auch die ökonomischen Berechnungen dazu, ob Papierrecycling lohne, ließen die Deponiekosten, welche ja die Kommunen in ihren Haushalten zu tragen hatten, außen vor: Berechnet wurde das enorm kostenintensive getrennte Sammeln, das Pressen und das aufwändige Sortieren von Altpapier, was sich in den 1980er Jahren durchaus auf Kosten von über 100 DM pro Tonne summieren konnte, derweil damit auf dem Altpapiermarkt aufgrund der hohen US-amerikanischen Angebotsmengen nur zwischen 0 bis 60 DM pro Tonne zu erreichen waren; Altpapier-Recycling lohnte also für private Unternehmen nicht. Allerdings sparte z. B. die Frankfurter Kommune in diesem Rechenspiel nicht genannte Deponiekosten in Höhe von 140 DM pro Tonne Müll ein.92 Mitte der 1970er Jahre betrug der Materialwert von Altpapier im Hausmüll zeitweise 20 bis 35 DM pro Tonne und lag damit unmittelbar hinter den Metallen und weit vor Glas (bis zu 8 DM pro Tonne); allerdings hielten die hohen AltpapierPreise nicht lange vor und waren starken Schwankungen ausgesetzt.93 Das Sammeln und Wiederaufbereiten von Haushalts-Abfallpapieren blieb enorm aufwändig und war inzwischen ob hoher Arbeitslöhne überwiegend zu kostenintensiv, da immer noch manuell sortiert wurde. Haushaltspapiere waren verhältnismäßig stark verschmutzt, und das Sortengemisch hatte sich inzwischen weiter ausdifferenziert, wobei der Anteil des disparaten und farbintensiven Verpackungsmaterials bei einem Drittel lag. Noch in den 1970er Jahren stammten daher trotz hoher westdeutscher Altpapier-Einsatzquoten von inzwischen rund 44 % lediglich 2–3 % des AltpapierMarkts aus Haushalten.94 Diese Altpapiere – es waren von den Bürgern bereitgestellte, gebündelte Zeitungen – wurden vornehmlich von karitativen Verbänden, Sportvereinen und ähnlichen Wohlfahrtsprojekten eingesammelt; so führt die Katholische Landjugendbewegung Deutschlands beispielsweise bis heute die „Aktion Rumpelkammer“ durch, in der Altkleider und Altpapier gesammelt und für wohltätige Zwecke weiterverkauft werden.95 Daneben kam es, weil auch die Bürger mehr und mehr Recycling einforderten, in einzelnen Städten zu Probe-Sammlungen, um die Realisierbarkeit und Wirtschaftlichkeit zu testen.96 Gefördert wurden solche 92 93

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Vgl. Matthias Gather: Kommunale Handlungsspielräume in der öffentlichen Abfallentsorgung. Möglichkeiten und Grenzen einer aktiven Umweltplanung auf kommunaler Ebene im Raum Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 128. Preisvergleiche nach Eberhard Hungerbühler: Neuer Rohstoff Müll-Reycling. Ravensburg 1975, S. 33, 39, 110 f.; zur Volatilität vgl. Köster: Abschied von der verlorenen Verpackung (wie Anm. 80) sowie Wolfgang Schneider: Sekundärrohstoff Altpapier. Markt und Marktentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Dortmund 1988. Zahlen von 1973 und Ende der 1970er Jahre vgl. Michael Schorling: Papierkreis, in: Egon Keller (Hg.): Abfallwirtschaft und Recycling. Probleme und Praxis. Essen 1977, S. 272–279; Budde: Verwertung von Altpapier aus Haushaltabfällen (wie Anm. 90), S. 3. Diesen Hinweis verdanke ich Georg Stöger. Ende der 1960er Jahre kam es zu einer rechtlichen Klärung, ob religiöse Verbände überhaupt Altstoffe sammeln dürften. Vgl. z. B. Landeshauptstadt Düsseldorf, Stadtreinigungs- und Fuhramt (Hg.): Praktikabilität und Wirtschaftlichkeit der getrennten Einsammlung von Altpapier im Rahmen der kommunalen Abfallentsorgung. Ergebnisbericht. Düsseldorf 1976.

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Initiativen dadurch, dass zu Beginn der 1970er Jahre die Preise für Altpapier nach oben geschnellt waren. Im Hinblick auf die Gesamtabfallmenge von 5 Mio. t Papier im Hausmüll jährlich waren die so zusammengetragenen 100.000 t Altpapier quantitativ vernachlässigbar.97 Die Initiativen trugen aber zu einem Klima bei, in dem die Konsumbürger eine umweltsensiblere Entsorgung ihres Mülls forderten und dafür auch bereit waren, Altstoffe zu sammeln, zu trennen und zu transportieren, um so einen Beitrag zum Umweltschutz leisten zu können. Welchen Einfluss beispielsweise Bürgerbeschwerden über fehlende Müllseparierung98 oder Bürgerinitiativen, die selbst Sammlungen initiierten, für die erste (Re)Etablierung von Hausmüll-Recycling in den Jahren um 1980 hatten, ist für die Bundesrepublik bisher noch nicht beleuchtet; in den Niederlanden war er offenbar entscheidend.99 Erst die veränderten Rahmenbedingungen der 1980er Jahre, als Staat und Kommunen das Einsammeln von Altpapier aus Haushalten über garantierte Abnahmepreise stützten, brachten die entscheidende Wende hin zur fest etablierten SammelInfrastruktur für Altpapier. Inzwischen hatte sich auch die Papierindustrie, die bisher dem Verwenden von – inferioren – Papieren aus Haushalten skeptisch gegenüber gestanden hatte, einen „grünen“ Anstrich angelegt und zeigte sich dem von Bürgern wie Politik geforderten Recycling von Haushaltspapieren gegenüber aufgeschlossen.100 Entscheidend war jedoch, dass die Kommunen begannen, den Altpapier-Entsorgern feste Abnahmepreise zu garantieren, so dass es für private Entsorgungsbetriebe lukrativ wurde, in die sich nun ausweitende und politisch gewollte Recycling-Wirtschaft einzusteigen.101 Waren Private in der westdeutschen Müllentsorgung bisher eher marginal gewesen und hatten sich vor allem in den ländlichen Zusammenschlüssen zur Müllabfuhr bewährt, so konnten sie nun ihre Marktmacht ausweiten, derweil das Wirtschaften der kommunalen Müllabfuhren zumeist auf die Stadtgrenzen beschränkt blieb. 1991 stammten rund 27 % des Altpapier-Aufkommens aus privaten Haushalten, wobei mehr als zwei Drittel durch private Städtereiniger und weniger als ein Drittel durch kommunale Müllabfuhren eingesammelt wurden.102 Die staatlich geförderte Recycling-Wirtschaft bildete für die Privatwirtschaft mithin die Eintrittstür in das Entsorgungs- und Recycling-Geschäft, das sich seitdem zu einem einträglichen sowie globalen Wirtschaftsbereich entwickelt hat. Für die Intensivierung und eine flächendeckende Durchsetzung der SammelInfrastruktur von Altpapier bis in die ländlichen Haushalte hinein sorgten die neuen 97 98 99

Zahlen nach: Test 7/1979, S. 52. Beispiele nennt Köster: Abschied von der verlorenen Verpackung (wie Anm. 80). Vgl. Frida de Jong/Karel Mulder: Citizen-Driven Collection of Waste Paper (1945–2010): A Government-Sustained Inverse Infrastructure, in: Tineke Egyedi/Donna Mehos (Hg.): Inverse Infrastructures. Disrupting Networks from Below. Cheltenham/Northampton 2012, S. 83–101. 100 Vgl. Verband Deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Altpapier ist Rohstoff. Papier ist umweltfreundlich. Bonn 1978. 101 Vgl. Köster: Abschied von der verlorenen Verpackung (wie Anm. 80). 102 Vgl. für dies und folgendes: Harald Großmann u. a.: Daten zur Altpapieraufbereitung. Abschlußbericht zum Forschugsvorhaben: Entwicklung des Papier-, Karton- und Pappenverbrauches, des Altpapierpotentials und der Technik der Altpapierverwertung, i. A. von UBA (Texte 19). Berlin 1994, S. 91.

Ökonomie, Ökologie oder Ideologie?

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Müllverordnungen der 1990er Jahre, die im Kontext von Verpackungsverordnung und der Formierung des Dualen Systems Deutschland entstanden. Eine Altpapierverordnung von 1992 schrieb hohe Mindestwerte für Verpackungs- und graphische Papiere vor, die bald stofflich wiederzuverwerten seien. Wie im Falle der Glasindustrie, die sich in den 1970er Jahren zum Glasrecycling verpflichtet hatte, da ein radikales Verbot der Einwegflasche drohte, so kam nun auch die AGRAPA (Arbeitsgemeinschaft graphische Papiere) 1994 den angemahnten gesetzlichen Beschränkungen per Selbstverpflichtung zuvor und erklärte sich bereit, die Wiederverwendungsquote zu erhöhen.103 Hierzu wurden nun vor allem weitere De-InkingAnlagen benötigt. Sortieranlagen waren seit den 1980er Jahren stärker automatisiert worden, so dass an deren Bändern inzwischen eine Leistung von rund 12 t Altpapier pro Stunde erreicht werden kann, derweil in der immer noch anzutreffenden Handsortiererei ein Arbeiter eine Tonne pro Stunde bewältigt. Als Sammelsystem setzte sich die „Blaue Tonne“ durch, in welche rund zwei Drittel des von den Bundesbürgern gesammelten Altpapiers geworfen wurden; dem folgten in der logistischen Bedeutung die Depotcontainer (16,5 %); der Rest wird über andere Systeme erfasst.104 Wie das Glasrecycling, so lässt sich auch das Papierrecycling nicht einseitig als Erfolg der Ökologie werten; vielmehr entstanden Allianzen zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Industrie, Politik, Kommunen und Bürgerwille. Wie inzwischen Umwelthistoriker herausgestellt haben,105 haben die eingeschlagenen Lösungswege deutlich umweltschonendere Alternativen außen vor gelassen, die allerdings mit radikalen Änderungen in den Produktions- und Konsumtionsregimes einher gegangen wären – beispielsweise radikale Produktionsvorschriften oder -einschränkungen wie eine Reduktion des Verpackungsaufwands, die Vorschrift von Altpapier-Einsatz auch für Hygienepapiere oder eine Einschränkung von toxischen, nur mit hohem Aufwand zu entfernenden Farben. So weisen selbst Recycling-Enthusiasten wie McDonough und Braungart darauf hin, dass sich bereits in schlichten Papier-Handtüchern rund 30 umweltschädliche Chemikalien finden; Recycling könne überhaupt nur dann eine ökologische Lösung sein, wenn Produktion und Produkt ökologisch sind.106 Zudem wurde in der Vergangenheit das, was durch Recycling an Rohstoffen gewonnen wurde, durch steigende Produktionsund Verbrauchszahlen mehr als wettgemacht, und der Holzverbrauch der Papierindustrie hat parallel zum Recycling weiter zugenommen. Noch dazu wissen wir nichts über die Materialintensität der Papierindustrie im langen Blick, also darüber, wie effektiv die eingesetzten Ressourcen verwertet wurden. Hierzu müssten die Stoffflüsse umfassend betrachtet werden, also auch sämtliche bei der Produktion entstehende Abfälle und Abwässer berücksichtigt werden. Am Ende des 20. Jahr103 Vgl. Klaus Grefermann/Karin Halk/Klaus-Dieter Knörndel: Die Recycling-Industrie in Deutschland. München 1998. 104 Vgl. Bräuninger u. a.: Altpapier (wie Anm. 20), S. 8. 105 So v. a. Samantha MacBride: Recycling Reconsidered. The Present Failure and Future Promise of Environmental Action in the United States. Cambridge/London 2012. 106 Vgl. McDonough/Braungart: The Upcycle (wie Anm. 8).

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Heike Weber

hunderts betrugen die De-Inking-Schlämme beispielsweise bis zu 25 % des eigentlichen Altpapiereintrags.107 FAZIT Laut Expertenmeinung hat das derzeitige Altpapier-Recycling sein Maximum erreicht.108 Der Altpapier-Einsatz der deutschen Papierindustrie lag um 2010 bei fast 70 %, und inzwischen werden beinahe 80 % des in Umlauf gebrachten Papiers der Bundesrepublik über Altpapier-Sammlungen wieder erfasst (so genannte „Altpapierrücklaufquote“)109 – eine Zahl, die sich in den gegebenen Konsumtionsregimes ebenfalls kaum noch steigern lassen wird, da Papiere wie Bücher oder abgeschwemmte Hygienepapiere nicht wiedergewinnbar sind. Diese Obergrenze des Recyclings wurde durch das ökologisch gewollte Recycling der letzten Dekaden erreicht, das sich vornehmlich auf die Haushaltspapiere richtete; Papierabfälle aus Industrie und Handel wurden bereits zuvor zumeist rezykliert. Voraussetzung hierfür waren die staatliche Förderung des Recyclings von Altpapier aus Haushalten sowie die über rechtliche Regulierungen erreichte, systematische Altpapier-Sammlung in jedem deutschen Haushalt. Zugleich ist Altpapier in der veränderten Marktlage am Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem globalen Handelsgut geworden, und es besteht eine enorme Nachfrage nach Altpapier. China, Japan, die USA und Deutschland verarbeiten inzwischen rund die Hälfte des globalen Altpapieraufkommens,110 und mit dem Sammeln von Altpapier aus Haushalten lässt sich inzwischen wieder Geld verdienen. Allerdings lässt sich erstens in Frage stellen, inwiefern Hausmüll-Recycling in seiner derzeitigen Form als „nachhaltig“ angesehen werden kann. Zum einen ist das flächendeckende Einsammeln mit einem hohen Energie- und Transportaufwand verbunden, und der „ökologischere“ Müll ist stets jener, der erst gar nicht entsteht. Zwar werden auf der Seite der Produktion Energie und Ressourcen geschont; es entstehen aber auch problematische Abfälle. Eine Ökobilanzierung von 2000 beurteilte die hohe werkstoffliche Verwertung graphischer Altpapiere jedenfalls als ökologisch günstiger als deren Verbrennung oder Deponierung, empfahl aber zugleich die Verminderung von Papiergewichten, das Herunterschrauben des Konsums von Werbeprospekten und die gemeinschaftliche Nutzung von Zeitungsabonnements als wirkungsvollen Beitrag zum Umweltschutz.111 Zum anderen gerieten durch den Erfolg des Recyclings von Altpapier und Altglas die wesentlich umweltproblemati107 Zahl nach: Grefermann: Die Recycling-Industrie (wie Anm. 103), S. 145 ff. 108 Vgl. Olaf Pollmann: Optimierung anthropogener Stoffströme am Beispiel des Papierrecyclings (wie Anm. 16), S. 2–11; Gesellschaft für Innovationsforschung und Beratung mbH/ARGUS. Statistik und Informationssysteme in Umwelt und Gesundheit GmbH: Endbericht (wie Anm. 3), S. 14, 7. 109 Bräuninger u. a.: Altpapier (wie Anm. 20), S. 6 f. 110 Vgl. Verband deutscher Papierfabriken e. V. (Hg.): Papier 2009. Ein Leistungsbericht der deutschen Zellstoff- und Papierindustrie. Bonn 2009. 111 Vgl. Albrecht Tiedemann: Ökobilanzen für graphische Papiere. Berlin 2000, S. 87.

Ökonomie, Ökologie oder Ideologie?

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scheren Abfallstoffe wie etwa Kunststoff lange Zeit aus dem Blick. Zweitens liegt der „Erfolg“ des grünen Altpapier-Recyclings nicht nur in seiner Förderung durch die Umweltpolitik seit den 1970er Jahren begründet; vielmehr wurden nun abermals wieder jene Altstoffe dem „ökologischen“ Recycling zugeführt, für deren Sammlung, Sortierung und Rückführung schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder sogar bereits zuvor logistische Strukturen, Expertise und entsprechende Wirtschaftszweige bestanden hatten, wie es das Beispiel des Altpapiers eindrücklich zeigt. Und auch die Bürger selbst sammelten nicht erstmals als Umweltbewegte Papier, sondern waren bis in die Zeit um 1960 noch recht selbstverständlich mit Praxen des Weiternutzens von Altpapier und dem Abgeben von Altpapier an den Altstoffhandel vertraut gewesen. Einfache Erklärungen zu den Konjunkturen des Recyclings, die das Aufgeben des Nutzens von Altstoffen in der Wirtschaftswunderzeit und eine Re-Installierung des Recyclings mit der ökologischen Wende der 1970er Jahre112 postulieren, treffen für das Altpapier also nicht zu. Das Altpapier-Recycling kam in der Wirtschaftswunderzeit nicht zum Erliegen; vielmehr weitete die Industrie bereits zu dieser Zeit den Altpapier-Einsatz – vornehmlich über Gewerbeabfälle – aus. Kriegs- und Krisenzeiten stellten Phasen intensivierten Recyclings dar, die auch nach 1945 wirkmächtig blieben. So gleicht das damalige Wiederverwenden dem späteren „grünen“ Recycling in zentralen Punkten: In beiden Fällen wurde an die Verantwortung der Bürger, und zwar vornehmlich der Hausfrauen, appelliert, Müll zu trennen, zu sammeln und zusammenzutragen, und in beiden Fällen wurde auf den Topos vom heimischen Wald zurückgegriffen, den das Altpapiersammeln schützen könne. Er suggerierte, dass Altpapier aus Gründen des Naturschutzes rezykliert würde, derweil die verschiedenen Akteure hingegen von je unterschiedlichen Motivationen geleitet wurden. Inwieweit dabei auch weitere Länder in ihrer Umweltpolitik im späten 20. Jahrhundert auf den Topos des zu rettenden Waldes zurückgriffen, wäre eine noch zu klärende Frage. Für die DDR oder Frankreich scheint dies nicht der Fall zu sein: Die Bürger in Polen wurden aber sehr wohl mit dem Wald-Argument zum Sammeln von Altpapier aufgerufen,113 obwohl der Umweltschutzgedanke in diesem sozialistischen Produktionsregime vermutlich hinter der ökonomischen Motivation rangierte, Ressourcen zu sparen.

112 Zur ökologischen Wende vgl. Radkau, der sogar von einer „Revolution“ spricht, Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011. 113 Diesen Hinweis verdanke ich Anna Paulina Orlowska.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON HEIKE WEBER „Ökonomie, Ökologie oder Ideologie? Motivationen für das Recycling von Altpapier im 20. Jahrhundert“ ÜBERLEGUNGEN ZUR WIEDERVERWERTUNG UND KONSUMPTION VON ALTPAPIER IM 20. JAHRHUNDERT Georg Stöger, Salzburg Die neuere Wirtschaftsgeschichte hat sich im Hinblick auf die Frage der Ressourcen vorrangig mit deren Gewinnung und deren Handel bzw. Verarbeitung beschäftigt und dabei Fragen der Weiter- und Wiederverwendung wie auch des Wiederverwertens kaum in den Blick genommen. Dies erstaunt, da diese Bereiche signifikante Bestandteile vorindustrieller und industrieller Ökonomien bildeten, zudem, da historisch arbeitende Ökonomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa Karl Bücher oder Werner Sombart, noch explizit auf deren Relevanz verwiesen hatten.1 Dieses Defizit führt einerseits zum Nichtbeachten umfangreicher Märkte,2 die darüber hinaus für die labouring poor wichtige Erwerbsfelder bildeten; andererseits kann es zu einer quantitativen Unterschätzung der Produktion einer Volkswirtschaft kommen, wenn diese anhand des Inputs an Primärmaterial gemessen wird und somit sekundäre Märkte ausgeklammert werden.3 In den letzten Jahren hat die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik des Recyclings jedoch merklich zugenommen. Vor allem der Aufstieg der Umweltgeschichte führte zu einer vermehrten Auseinandersetzung mit Ressourcen und Stoffströmen,4 aber auch Studien zum Wegwerfen haben Impulse für die Betrachtung des Wiederverwertens geliefert.5 1

2 3 4 5

Reinhold Reith: Recycling im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Eine Materialsammlung, in: Frühneuzeit-Info 14 (2003), S. 47–65, hier 48; Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2, Leipzig 1902, S. 327 f., 369. Susan Strasser: Waste and Want. A Social History of Trash. New York 1999; Carl A. Zimring: Cash for Your Trash. Scrap Recycling in America. New Brunswick 2005. Donald Woodward: „Swords into Ploughshares“. Recycling in Pre-Industrial England, in: The Economic History Review/New Series 38 (1985), S. 175–191, hier 186. Vgl. als Überblicke Ruth Oldenziel/Heike Weber: Introduction. Reconsidering Recycling, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 347–370 und Susan Strasser: Complications and Complexities. Reflections on Twentieth-Century European Recycling, in: ebd., S. 517–526. Als neuere Arbeiten: Strasser: Waste (wie Anm. 2); Zsuzsa Gille: From the Cult of Waste to the Trash Heap of History. The Politics of Waste in Socialist and Postsocialist Hungary. Bloomington 2007; Raymond G. Stokes/Roman Köster/Stephen C. Sambrook: The Business of Waste.

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Georg Stöger

Im Folgenden werden die Überlegungen in Heike Webers Beitrag um zwei Ebenen bzw. Blickwinkel ergänzt werden: Zunächst wird die Angebots- und Nachfrageseite für Altpapier (und deren Veränderung) betrachtet, daran anschließend der „Umgang“ mit ge- bzw. verbrauchtem Papier auf Seiten der Konsumenten und Institutionen (politischer wie gesellschaftlicher Art). Dabei wird mehrfach auf britische Beispiele zurückgegriffen. ANGEBOT UND NACHFRAGE – MÄRKTE FÜR ALTPAPIER Altpapier ist, mit seiner Vielfalt an Qualitätsstufen und Sorten und damit an Verwendungsmöglichkeiten, zwar nicht als homogener Altstoff zu erachten. Dennoch zeichnet sich insgesamt für Westeuropa im 20. Jahrhundert eine sukzessive Entwertung des Altpapiers als Ressource für die Papierindustrie ab. Gleichzeitig stieg die Papierkonsumption an – analog zu anderen Materialien und Gütern besonders stark seit den 1950er Jahren – und damit die Menge an weggeworfenem Papier.6 Wie veränderte sich bei dieser Konstellation das Angebot an Altpapier? In urbanen Räumen bestanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeprägte Strukturen für die Sammlung von in den Haushalten angefallenen Altstoffen, darunter auch Altpapier. Offenbar waren hier zumeist Individuen oder Kleinbetriebe tätig, die die verschiedenen Materialien – analog zu Tätigkeiten in der Vormoderne – gemeinsam sammelten, partiell auch ankauften. Derartige Sammeltätigkeiten lassen sich in Westeuropa bis in die Nachkriegszeit verfolgen, wenngleich in neueren Forschungen auf die in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs erfolgten Brüche verwiesen wurde.7 Dennoch wäre danach zu fragen, ob das Verschwinden der Sammler ein einheitlicher Prozess war. Über die Nachkriegsentwicklung des Sammlungs- und Verwertungsgewerbes ist noch relativ wenig bekannt, da systematische Studien hierzu fehlen. Es gibt einzelne Hinweise auf Kontinuitäten des Sammelns und Verwertens, etwa bezüglich des schon im 19. Jahrhundert praktizierten Verpachtens von Mülldeponien zur „Auswertung“.8 In diesem Zusammenhang

6

7 8

Great Britain and Germany, 1945 to the Present. Cambridge 2013; Roman Köster: Abschied von der „verlorenen Verpackung“. Das Recycling von Hausmüll in Westdeutschland 1945– 1990, in: Technikgeschichte 81 (2014), S. 33–60 und – immer noch sehr lesenswert – Ludolf Kuchenbuch: Abfall – Eine stichwortgeschichtliche Erkundung, in: Jörg Calließ/Jörn Rüsen/ Manfred Striegnitz (Hg.): Mensch und Umwelt in der Geschichte. Pfaffenweiler 1989, S. 257– 276. In England etwa nahm der (mengenmäßige) Anteil von Papier bzw. Karton im Hausmüll bis zum Ende der 1970er Jahre auf ca. 30 % zu. Vgl. Digest of Environmental Pollution Statistics. Pollution Report No. 4. London 1978, S. 72 und Martin O’Brien: A Crisis of Waste? Understanding the Rubbish Society. New York 2008, S. 102 f.; zudem Stokes/Köster/Sambrook: Business (wie Anm. 5), S. 111–116. Zuletzt Chad Denton: „Récupérez!“. The German Origins of French Wartime Salvage Drives, 1939–1945, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 399–430. Stokes/Köster/Sambrook: Business (wie Anm. 5), S. 92 ff.; Magistrat Stadt Salzburg, Abteilung 7/3, Archiv, Schreiben Firma Altmaterial Kretschmar an Magistrat Stadt Salzburg (Abteilung 7), 4.7.1958.

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Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

erscheint die Einbeziehung lebensgeschichtlicher Quellen von Relevanz, die Entwicklung von Sammelbetrieben könnte aber auch über Adress- bzw. Branchenbücher rekonstruiert werden.9 In der Nachkriegszeit existierten mancherorts durch die kommunalen Verwaltungen organisierte Sammlungsstrukturen, beispielsweise die kerbside collections in London: Diese sammelten erhebliche Mengen an Altpapier, 1966 52.731 Tonnen und 1973 34.278 Tonnen.10 Zudem betätigten sich karitative Organisationen als Sammler. Hier standen als Motive Arbeits- und Einnahmemöglichkeiten im Vordergrund, vermutlich wandten sich diese Aktivitäten auch gegen einen verschwenderischen Umgang mit Ressourcen. Um 1908 sammelte die Salvation Army über ihre Industrial Homes in den USA – neben Gebrauchtwaren und anderen Altstoffen – monatlich 2.500 Tonnen Altpapier.11 Tab. 1: Papierproduktion und -konsum in Großbritannien, 1939–1980 (in tausend Tonnen) 1939

1946

1950

1955

1960

1970

1980

Papierkonsum

3.879,2 1.473,3 1.990,5

3.113

4.310,4

5.054,9

7.410,5

7.094,6

2.630,8 1.383,8 1.690,9 2.623,8

3.295,1

4.073,2

4.941,1

3.817,5

in der Papierproduktion verwendeter Zellstoff

1.514,8

451,9

1.849,7

2.056,8

2.593,6

1.517,2

665,6

665,6

1.096,6

1.339,8

1.946,5

2.014,5

Papierproduktion

in der Papierproduktion verwendetes Altpapier

1941

905 1.363,1

619,8

887,1

Quelle: eigene Berechnungen nach Annual Abstract of Statistics. No. 84 (1935–1946). London 1947, S. 154; Annual Abstract. No. 103 (1966), S. 159; Annual Abstract. No. 92 (1955), S. 157; Annual Abstract. 1982 Edition (1982), S. 224.

Im 20. Jahrhundert stieg der Papierverbrauch in der westlichen Welt insgesamt stärker an als die Menge an wiederverwertetem und wiederverwertbarem Altpapier (vgl. das britische Beispiel in Tabelle 1). Obwohl die Menge des in den Haushalten konsumierten und weggeworfenen Papiers zunahm, war dessen Verwertung schwierig. Das in den Haushalten angefallene Altpapier war in der Regel nur begrenzt nutzbar, da mangelnde Möglichkeiten des Trennens beim Wegwerfen zur Verschmutzung des Altpapiers führten und damit Verwendbarkeit wie Qualität minder9 10 11

Was Carl Zimring u. a. versucht hat. Vgl. Zimring: Cash (wie Anm. 2). Interessanterweise konnten sich, so Zimring, aus individuell (oder in kleineren Verbänden) agierenden Sammlern umfangreichere Verwertungsbetriebe herausbilden. Matthew Gandy: Recycling and Waste. Aldershot u. a. 1993, S. 94, 144. Strasser: Waste (wie Anm. 2), S. 143–148.

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Georg Stöger

ten. Gleichzeitig reduzierte sich mit der Verbreitung von Wegwerfprodukten aus Papier die Menge an rezyklierbarem Altpapier. Taschentücher und Krägen aus Papier, zunehmend auch das Toilettenpapier, gewannen (von den USA ausgehend)12 ab dem beginnenden 20. Jahrhundert an Bedeutung und setzten sich schließlich in der Nachkriegszeit durch: Wurden in Großbritannien 1955 noch 30.200 Tonnen an Household toilet papers and tissues produziert, waren es 1980 bereits 420.800 Tonnen.13 Die mit dem Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahrzehnte steigenden Arbeitskosten erschwerten zunehmend die Tätigkeit kommerzieller und kommunaler Verwerter14 – somit wurde das Papierrecycling mitunter zu einem Verlustgeschäft für kommunale Verwaltungen (etwa im Falle Londons).15 Für die Kommunen konnten die expandierenden Müllmengen dennoch Anreize zu Recyclinglösungen bieten. Wurde jedoch der „Pfad“ des Müllverbrennens eingeschlagen, reduzierte sich der Impetus für getrennte Sammlungen und die Wiederverwertung brennbarer Altstoffe deutlich.16 Die Reduktion der Realpreise für Zellstoff in der Nachkriegszeit begrenzte die Nachfrage nach Altpapier durch die Papierproduzenten erheblich.17 Zudem verteuerten steigende Arbeitskosten arbeitsintensive Prozesse wie das Sammeln, Trennen und Sortieren von Altpapier.18 Zunehmend beschränkte sich die Verwendung von Altpapier auf en masse angefallene und qualitativ höherwertige Sorten (Makulatur und Büropapier).19 Dennoch war, wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, das Papierrecycling seit den 1950er Jahren nicht marginal. In der britischen Papierindustrie standen 1955 1,9 Millionen Tonnen an verwendetem Zellstoff 1,1 Millionen Tonnen an wiederverwertetem Altpapier gegenüber. Bis 1985 war die Menge des Zellstoffes auf 1,4 Millionen Tonnen gesunken, die des Altpapiers hatte sich hingegen auf 2,1 Millionen Tonnen fast verdoppelt.20 Ein erheblicher Anteil des produzierten Papiers wurde aber nicht in der Papierindustrie wiederverwertet (vgl. Tabelle 1). Wenn man den Papierkonsum und nicht die inländische Papierproduktion der Errechnung der „Recyclingquote“ (Altpapieraufkommen) zugrunde legt, würde diese noch geringer ausfallen. 12 13 14 15 16 17 18

19 20

Vgl. ebd., S. 175–180. Dies waren etwa zehn Prozent der gesamten Papier- und Kartonproduktion. Annual Abstract of Statistics. No. 103 (1966). London 1966, S. 159; Annual Abstract of Statistics. 1989 Edition. London 1989, S. 157. Stokes/Köster/Sambrook: Business (wie Anm. 5), S. 46 ff. Gandy: Recycling (wie Anm. 10), S. 145. Stokes/Köster/Sambrook, Business (wie Anm. 5), S. 42–46. Vgl. für die Entwicklung in den USA zwischen den Jahren 1950 und 1980: Statistical Abstract of the United States 1964. Washington/DC 1964, S. 352 (für 1950–1964); Statistical Abstract 1980, S. 481 (für 1965–1980) – dort auch Papier- und Kartonpreise. Peter Thorsheim: Salvage and Destruction. The Recycling of Books and Manuscripts in Great Britain during the Second World War, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 431– 452, hier 434; Gandy: Recycling (wie Anm. 10), S. 93; Stokes/Köster/Sambrook: Business (wie Anm. 5), S. 114, 123. Gandy: Recycling (wie Anm. 10), S. 144. Annual Abstract of Statistics. No. 103 (1966). London 1966, S. 159; Annual Abstract of Statistics. 1989 Edition. London 1989, S. 157.

Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

185

Im Rahmen der Kriegswirtschaft generierten Autarkiebemühungen und propagandistische Überlegungen eine künstliche Nachfrage nach und ein künstliches Angebot von Altstoffen. Viele Staaten intensivierten während des Zweiten Weltkriegs ihre Bemühungen um Papierrecycling, da sich der Import von Zellstoff erschwert hatte und Papier als strategische Ressource gesehen wurde.21 Diese Sammlungsbemühungen verloren, obwohl sie partiell das Kriegsende überdauerten, in den Nachkriegsjahren zunehmend an Bedeutung. Hatte die britische Papierindustrie im September 1945 noch einen Mangel (famine) an Altpapier konstatiert, verringerten sich die Absatzmöglichkeiten für Altpapier zunehmend und führten zu einem Ende der Sammlungen – in Manchester etwa im November 1948.22 „UMGANG“ MIT ALTPAPIER23 Einen zentralen Aspekt bildet nicht nur das Rezyklieren, sondern auch das Wegwerfen oder „sekundäre“ Verwenden von Altpapier. Für das 20. Jahrhundert gibt es einige quantitative Befunde, die Rückschlüsse auf das Wegwerfen, vor allem im häuslichen Bereich, zulassen. Bis in die Nachkriegszeit bestand der überwiegende Teil des Hausmülls aus Staub, Asche und anderen Kleinteilen („Kehricht“); ein signifikanter Anteil von Papier ist für Westeuropa ab der Zwischenkriegszeit und besonders nach den 1960er Jahren festzustellen. Diese Zahlenwerte sind jedoch etwas problematisch: Einerseits handelt es sich um Durchschnittswerte und Momentaufnahmen, um punktuelle Erhebungen mit unterschiedlichen Methoden und Kategorien; andererseits weiß man nicht, was möglicherweise vorher bzw. nachher zur Wiederverwertung aussortiert wurde.24 Zudem überdecken diese Zahlen vielleicht den Umstand, dass man Papier zu einem erheblichen Teil nicht einfach wegwarf, sondern „sekundär“ verwendete. Altpapier wurde vor der Verbreitung von Zentralheizungssystemen als Brenn- und Anzündematerial genutzt25 oder als Toilettenpapier.26 Überdies verwendete man gebrauchtes Papier zum Einwickeln von Lebensmitteln, im Einzelhandel oder bei Imbissen – ein bekanntes englisches Bei21

22 23

24 25 26

Vor allem aufgrund der steigenden Bedeutung von Papier und Pappe für die Munitionsproduktion und für logistische Zwecke (Verpackungen), dazu kam der bürokratische und mediale Papierbedarf. Vgl. zu den USA und zu Westeuropa Strasser: Waste (wie Anm. 2), S. 229–259; Denton: Récupérez! (wie Anm. 7); Thorsheim: Salvage (wie Anm. 18), S. 434–449; Ruth Oldenziel/Milena Veenis: The Glass Recycling Container in the Netherlands. Symbol in Times of Scarcity and Abundance, 1939–1978, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 453– 476, hier 460–463. Stokes/Köster/Sambrook: Business (wie Anm. 5), S. 112, 114 f. Meine Wortwahl bezieht sich hier auf Utz Jeggle: Vom Umgang mit Sachen, in: Konrad Köstlin/Hermann Bausinger (Hg.): Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauchs. 23. Deutscher Volkskundekongreß in Regensburg vom 6.–11. Oktober 1981. Regensburg 1983, S. 11–25. O’Brien: Crisis (wie Anm. 6), S. 93 f. Ebd., S. 97 f., 100 f. Partiell war diese Verwendungsform in ländlichen Regionen Englands noch in den 1980er Jahren anzutreffen. Vgl. Mollie Harris: Cotswold Privies. London 1984, S. 14, 29 f.

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Georg Stöger

spiel ist das noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblicherweise in Zeitungspapier eingewickelte Nationalgericht „Fish and Chips“.27 Die Entwicklung des Papiers im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem Wegwerfprodukt ist unübersehbar – dennoch ist unser Wissen über den Wandel des Papierkonsums und des damit verbundenen Wegwerfens beschränkt. Diesbezüglich kommt lebensgeschichtlichen Quellen, die uns (zumindest für die Nachkriegsjahrzehnte) auch über die Methode der Oral History zur Verfügung stehen, ein hohes und bislang noch kaum genutztes Potenzial zu. Das Verschwinden einer „Recycling-Mentalität“28 seit den 1950er Jahren ist sicherlich nicht als einheitlicher und linearer Prozess zu erachten. Mangelerfahrungen konnten über die Nachkriegszeit hinaus prägend wirken; Quellen aus den 1950er und 1960er Jahren verweisen wiederholt auf tief verwurzelte Formen häuslicher Sparsamkeit.29 Könnten somit die westlichen Recyclinginitiativen der 1970er Jahre nicht nur auf einen ökologischen und einen ökonomischen Impetus (das Interesse kommunaler Entsorger an einer Reduktion der Müllmenge) zurückzuführen sein, sondern auch auf ein Auftreten häuslicher Sparsamkeit gegen das Wegwerfen von „Wertstoffen“? In diesem Zusammenhang kann auch die Frage gestellt werden, inwieweit mangelnde oder bewusst beschränkte Möglichkeiten des Recyclings die Durchsetzung des „einfachen“ Wegwerfens begünstigten. Die zuvor beschriebenen sekundären Nutzungsformen und -möglichkeiten von Papier verringerten sich zunehmend, etwa mit der Verbreitung fertig abgepackter Lebensmittel in den Selbstbedienungsläden und mit dem Aufkommen häuslicher Zentralheizungen. Nach dem Verschwinden der Altstoffsammler blieb die „allgemeine“ Mülltonne übrig, deren steigendes Fassungsvermögen zum Wegwerfen „einlud“. Entscheidend prägten auch Diskurse und Institutionen den „Umgang“ mit Altpapier: karitative Organisationen und Individuen, die gegen einen verschwenderischen Umgang mit Ressourcen auftraten, wissenschaftliche Paradigmen, die Wiederverwertung forderten oder auf deren Irrelevanz und diesbezügliche Nachteile verwiesen,30 nicht zuletzt auch regionale und überregionale politische Akteure, die

27 28 29 30

John K. Walton: Fish and Chips and the British Working Class. 1870–1940. Leicester 1994, S. 97. Christian Pfister: Das „1950er Syndrom“ – die umweltgeschichtliche Epochenschwelle zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft, in: Ders. (Hg.): Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft. 2. Aufl., Bern u. a. 1996, S. 51–95, hier 65 f. Vgl. beispielsweise Rosa Scheuringer (Hg.): Bäuerinnen erzählen. Vom Leben, Arbeiten, Kinderkriegen, Älterwerden. Wien u. a. 2007 sowie Oldenziel/Veenis: Glass Recycling Container (wie Anm. 21). Vgl. Kuchenbuch: Abfall (wie Anm. 5), 263 ff., 271 f.; Bill Luckin: Pollution in the City, in: Martin Daunton (Hg.): The Cambridge Urban History of Britain, Vol. 3: 1840–1950. Cambridge 2000, S. 207–228; Pierre Desrochers: How Did the Invisible Hand Handle Industrial Waste? By-product Development before the Modern Environmental Era, in: Enterprise and Society 8 (2007), S. 348–374; Timothy Cooper: Peter Lund Simmonds and the Political Ecology of Waste Utilization in Victorian Britain, in: Technology and Culture 52 (2011), S. 21–44; Tim T. Cooper: Challenging the „Refuse Revolution“. War, Waste and the Rediscovery of Recycling, 1900–50, in: Historical Research 81 (2008), S. 710–731.

Korreferat zum Beitrag von Matthias Asche

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aus ökonomischen oder ideologischen Gründen die Wiederverwertung einzelner Altstoffe forcieren oder behindern konnten. Insgesamt erscheint für die Thematik des Altpapiers eine Verbindung der verschiedenen Betrachtungsebenen sinnvoll. Die bisher in der Forschung dominierende Auseinandersetzung mit einer Makroebene, also mit dem Recyclinggewerbe/ -industrie, mit Rohstoffen, Technologien und Preisen, mit Institutionen als Entsorger bzw. Wiederverwerter (Staaten, Städte etc.) oder mit wissenschaftlichen bzw. bürokratischen Diskursen, sollte durch eine höher auflösende „Mikroebene“ ergänzt werden, die sich vorrangig mit Akteuren beschäftigt. Ein besonderes Desiderat bilden diesbezüglich Sammelnde wie auch Wegwerfende oder Weiternutzende. Hier ergibt sich notwendigerweise auch eine Hinwendung zu qualitativen Methoden, um Motive des Wiederverwertens bzw. Wegwerfens in den Blick zu bekommen.31 Zudem wäre zu hinterfragen, ob ein einzelner Altstoff getrennt von anderen behandelt werden kann – die Stoffe waren in der Sammlung (und in der Entsorgung) vielfach miteinander verbunden und sind es heute eigentlich auch noch.

31

Vgl. dazu die Studie zum Rezyklieren von Glas in den Niederlanden: Oldenziel/Veenis: The Glass Recycling Container (wie Anm. 21).

TEIL 4: INDUSTRIE UND UMWELT

INDUSTRIALISIERUNG ALS UMWELT-INTEGRATION Konzeptionelle Überlegungen zur ökologischen Basis moderner Industrieunternehmen Mathias Mutz, Aachen Auf einer 1991 von der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte organisierten Tagung zum Thema „Industrie und Umwelt“ eröffnete Ulrich Wengenroth seinen Beitrag zur Industrialisierung mit den Worten: „Das Verhältnis von Industrie und Umwelt vom Beginn der Industrialisierung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war in aller Regel schlecht, schlecht für die Umwelt, in seinen Auswirkungen schlecht für viele Menschen und immer häufiger auch schlecht für die Industrie selbst.“1 Dieses Zitat illustriert ein Spannungsverhältnis von Industrialisierung und Umwelt als unüberwindlichen Gegensatz von Industrieökonomie und Ökologie, das bis heute die geschichtswissenschaftliche und öffentliche Wahrnehmung dominiert. Diese Vorstellung zweier getrennter Sphären beruht letztlich auf der technikoptimistischen Vorstellung einer Überwindung naturaler Abhängigkeiten durch die Industrialisierung, die das Technikideal des 19. Jahrhunderts prägte. Es lohnt sich jedoch, dieses Geschichtsbild zu hinterfragen. Einerseits legitimiert es in aktuellen Debatten häufig ein Denkmuster, wonach für industrielles Wachstum und Konsum ein ökologischer Preis zu zahlen sei; andererseits lässt es jeden Ansatz einer Ökologisierung der Wirtschaft als revolutionäre Neuheit erscheinen, während die Grenzen dieses „Greenings“ nicht diskutiert werden. Dass die Industrialisierung einen Wendepunkt der Umweltnutzungsgeschichte darstellt, ist unbestritten. Auch kann es nicht darum gehen, die gravierenden Umweltschäden durch die industrialisierte Produktion und ihre Nicht-Thematisierung gerade im 19. und größtenteils auch im 20. Jahrhundert zu relativieren. Die Frage, die hier gestellt werden soll, ist vielmehr, ob die Interaktion von Umwelt und Industrie adäquat beschrieben und analysiert werden kann, wenn es nur um ein „Interesse an den dunklen Seiten der Industrialisierung“2 geht. Hier ergeben sich am Knotenpunkt von Wirtschafts- und Umweltgeschichte vier Aufgaben, die dieser Beitrag aufwirft, ohne sie freilich ausreichend bearbeiten zu können. Erstens geht es darum, die Konstellation zwischen Umwelt und Wirtschaftsakteuren zu historisieren und nicht vorschnell als neues Phänomen zu deuten. Einerseits muss das im späten 20. Jahrhundert einsetzende Reden der Unternehmen über 1 2

Ulrich Wengenroth: Das Verhältnis von Industrie und Umwelt seit der Industrialisierung, in: Hans Pohl (Hg.): Industrie und Umwelt. Stuttgart 1993, S. 25–44, hier 25. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 2001, S. 59.

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Mathias Mutz

Umwelt kritisch hinterfragt, für die Analyse in gewisser Weise also unsichtbar gemacht werden. Andererseits müssen Strategien der Ressourcennutzung für die Phase der Hochindustrialisierung sichtbar gemacht werden, die nicht als Umweltdiskurs erkennbar sind. Damit verbindet sich zweitens die Hoffnung, durch eine Fokussierung des Faktors Umwelt die Industrialisierung als historischen Großprozess exakter fassen zu können. Denkt man Industrialisierung nicht (ausschließlich) als technische Revolution oder Entfesselung der Marktkräfte, sondern (auch) als Aneignung und Neudefinition des Umgangs mit der Umwelt, ergibt sich zwar kein vollkommen neues Industrialisierungsverständnis, aber doch eine Akzentuierung der Umweltbezüge, die darüber hinausgeht, lediglich Begrifflichkeiten auszutauschen. Darin zeigt sich drittens die Notwendigkeit, den Umweltbegriff, wie er bis heute im ökonomischen Kontext meist verwendet wird, zu erweitern. Es geht nicht nur um den In- und Output des Wirtschaftens, sondern um eine Vielzahl von Aktivitäten mit ökologischen Implikationen. Hier geraten Aspekte wie die Rohstofferschließung, der räumlich immer weiter ausgreifende Handel oder die Abfallentsorgung in den Blick, die konzeptionell selten zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.3 Ein solcher Umweltbegriff kann schließlich viertens helfen, die Dichotomie von Ökonomie und Ökologie aufzubrechen, die impliziert, dass die Industrie für sich genommen ökologische Aspekte ausblenden kann.4 Durch eine solche Konzeptualisierung wird die Umwelt schwieriger zu fassen, weil nun alle Bereiche ökonomischen Handelns darauf überprüft werden müssen, inwiefern ökologische Gegebenheiten und Prozesse auf sie einwirken. Aber erst damit wird die sich verändernde Umweltnutzung der Industrialisierung wirklich sichtbar. Die Perspektive einer „besiegten Natur“5 oder der „Kolonisierung von Natur“6 greift dann zu kurz, wenn sie langfristig ein statisches Verhältnis zwischen Umwelt und Wirtschaft impliziert. Die Industrialisierung erhielt ihre Dynamik durch eine spezifische, auf Intensivierung, Beschleunigung und Effizienz beruhende Umweltnutzung. Die Deutung und Bedeutung naturaler Faktoren und auch die naturalen Faktoren selbst veränderten und relativierten sich durch menschliche Eingriffe; sie waren somit ein wichtiger Teil der Entwicklung. Betrachtet man die naturale Umwelt als Handlungsraum der gleichzeitig entstehenden Industrieunternehmen, fällt sogar eine Intensivierung der Umweltbeziehungen auf, d. h. die Umwelt wurde organisatorisch und technisch verstärkt in ökonomische Prozesse einbe3 4

5 6

Einen vergleichbar breiten Umweltbegriff verwendet schon William Cronon: Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West. New York/London 1991. Neuere wirtschaftswissenschaftliche Ansätze versuchen deshalb, Möglichkeiten zur „Reintegration von Ökonomie und Ökologie“ zu finden und sprechen von einer koevolutionären Entwicklung. Die Ansätze werden als „Ökologische Ökonomik“ („ecological economics“) zusammengefasst und grenzen sich insbesondere auch von der Ressourcen- und Umweltökonomik („environmental economics“) ab, die Umweltprobleme aus einer neoklassischen Perspektive betrachtet, d. h. sie als „externe Kosten“ zu internalisieren versucht. Franz-J. Brüggemeier/Thomas Rommelspacher (Hg.): Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. München 1987. Marina Fischer-Kowalski (Hg.): Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur. Ein Versuch in Sozialer Ökologie. Amsterdam 1997.

Industrialisierung als Umwelt-Integration

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zogen. Industrielle Umweltnutzung bedeutete für Unternehmen oft keine plötzliche Neuordnung der naturalen Umwelt, sondern den fortwährenden Versuch der Anpassung. Dieses aktive Einbinden der Umwelt wird im Folgenden als Umwelt-Integration gedeutet. Ziel dieses Beitrags ist es, den Fokus auf die Umwelt als aktiven Teil der Industrialisierungsgeschichte zu legen. Sara B. Pritchard und Thomas Zeller haben dafür jüngst die Parole „Naturalizing industrialization“ ausgegeben: „Naturalizing industrialization […] highlights the ways in which industrial processes were embedded within, and thus ultimately dependent upon, natural resources, environmental processes, and ecosystems. […] Naturalizing industrialization also stresses the way in which industrialization involved not only significant social, economic, and technological change but also fundamental shifts in how people in industrializing societies perceived and interacted with nonhuman nature.”7

Das ist keine Aufforderung, die Verhältnisse plötzlich umgekehrt zu interpretieren: Die naturale Umwelt determiniert nicht den Verlauf ökonomischer Prozesse. Die Geschichte der Industrialisierung muss nicht neu geschrieben werden; eine Perspektiverweiterung stellt jedoch die Eindeutigkeit bestimmter Beziehungen in Frage und wird dadurch auch für gegenwärtige Debatten relevant. Um die Umwelt als Basis und zugleich als Objekt der Industrialisierung in den Blick zu nehmen, wird im Folgenden versucht, sich diesem Problem aus zwei Richtungen anzunähern. In einem ersten Teil werden Grundlinien der wirtschafts- und umweltgeschichtlichen Forschung über die Industrialisierung herausgearbeitet und Chancen und Grenzen der Erklärungsansätze diskutiert. Dabei wird nicht zuletzt deutlich werden, dass diese Ansätze häufig den Prozesscharakter und die Handlungsräume von Akteuren vernachlässigen, indem sie die Umwelt externalisieren. Zudem spricht gerade die Heterogenität der Zugänge für ergänzende „Sehepunkte“. In einem zweiten Teil wird deshalb eine Unternehmensperspektive gewählt, um einzelne ökologische Herausforderungen des Industrialisierungsprozesses an einem Branchenbeispiel herauszuarbeiten. Durch diesen Perspektivwechsel bewegt sich der zweite Teil auf einer anderen, konkreteren Argumentationsebene. Dementsprechend soll die Gegenüberstellung weniger zu einer gleichgewichtigen Symbiose führen, als vielmehr Denkanstöße für eine mögliche Neujustierung weiterhin gültiger Interpretationen bieten. Die Papierindustrie eignet sich als Fallbeispiel nicht nur deshalb besonders, weil sie im Rahmen einer Monographie aus dieser Perspektive untersucht wurde.8 Die neue ökonomische und ökologische Ausgangssituation, die durch den Durchbruch der Massenproduktion mithilfe der 1798 erfundenen Papiermaschine und den Übergang vom Lumpen- zum Holzpapier ab der Jahrhundertmitte entstand, kann idealtypisch für die enormen Wachstumsimpulse der Industrialisierung stehen. Sie zeigen sich etwa darin, dass sich die deutsche Papierproduktion im 19. Jahrhundert 7 8

Sara P. Pritchard/Thomas Zeller: The Nature of Industrialization, in: Martin Reuss/Stephen Cutcliffe (Hg.): The Illusory Boundary. Environment and Technology in History. Charlottesville/VA 2010, S. 69–100, hier 70. Mathias Mutz: Umwelt als Ressource. Die sächsische Papierindustrie, 1850–1930. Göttingen 2014.

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verhundertfachte (Abb. 1). Zudem wird Papier zwar zunehmend in großtechnischen Anlagen erzeugt, gleichzeitig sind seine ökologischen Bezüge durch die zentralen Rohstoffe Holz und Wasser und den hohen Energiebedarf aber fest im allgemeinen Bewusstsein verankert, so dass die Umweltnutzung offener zutage tritt als in anderen Wirtschaftsbereichen. Dies gilt umso mehr, wenn man sich – wie im Folgenden am Beispiel Sachsens als „Hauptpapierland“9 des Deutschen Reichs – auf regionale Zentren und lokale Konstellationen konzentriert. Vor diesem Hintergrund kann eine Ressourcen- und Konfliktgeschichte der Branche zahlreiche Interaktionen zwischen Umwelt und Unternehmen herausarbeiten. Umgekehrt bleibt aber zu fragen, wie stark die Umweltgeschichte der Papierindustrie zu einer Wirtschaftsgeschichte der industriellen Umweltnutzung verallgemeinert werden kann. Abb. 1: Entwicklung der deutschen Papierproduktion, 1800–1926 (in 1.000 t)

2000   1500   1000   500   0  

1800  

1868  

1873  

1893  

1909  

1912  

1926  

Quelle: Zusammenstellung nach P. Weiske/K. Rupprecht: Entwicklung des Kraftbetriebes in der deutschen Papierindustrie, in: Der Papier-Fabrikant 24 (1927), S. 58–75.

1. ÖKOLOGISCHE INTERPRETATIONEN DER INDUSTRIALISIERUNG Welche Bedeutung hat die naturale Umwelt für die Industrialisierung? Sowohl Ressourcenkrisen bzw. die ökologischen Begrenzungen des Wachstums als auch Ressourcenchancen – die Verfügbarkeit von naturalen Rohstoffen – werden schon lange als Ausgangspunkt der Industrialisierung in Europa gesehen. Der Energieregime-Ansatz, der den Übergang zu fossilen Energieträgern als Schlüsselprozess der Industrialisierung definiert, oder die empirische Zwangsläufigkeit, mit der Industrialisierung zu Umweltverschmutzung führte, verweisen ebenfalls auf die naturale Bedingtheit der Industriellen Revolution. Industrialisierung als Umweltverschmutzung, Industrialisierung als Energierevolution und Umwelt als Industrialisierungsbedingung lassen sich heute dementsprechend als klassische Interpretationsansätze 9

Hans Mehlhorn: Sachsen, das Hauptpapierland, in: Der Papier-Fabrikant 33 (1935), S. 354.

Industrialisierung als Umwelt-Integration

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beschreiben.10 Dabei geht es im Folgenden nicht darum, den umwelt- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstand umfassend darzustellen, sondern um die Frage, wie die grundsätzliche Rolle der Umwelt jeweils konzipiert wird. Die Relevanz der Ansätze zeigt sich dabei auch am Beispiel der Papierindustrie, auf die dementsprechend verwiesen wird – auch um Grenzen der Verallgemeinerung aufzuzeigen. 1.1 Fanal der Umweltverschmutzung Die Geschichte der Umweltverschmutzung ist der zentrale Ausgangspunkt der deutschsprachigen Umweltgeschichte, auch wenn Frank Uekötter für die so genannte Verschmutzungsgeschichte eine nachlassende Forschung und „eine gewisse Sättigung“11 festgestellt hat. Die Umwelthistoriker der 1980er und 1990er Jahre beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit den Wurzeln heutiger Umweltprobleme im Zeitalter von Industrialisierung und Urbanisierung. Zu den „Erblasten“ dieser Phase gehört aber auch eine starke Betonung des „homo disturbans“, so dass industrielle Skrupellosigkeit und mangelndes Engagement für die Umwelt die Darstellung von Industrieunternehmen bestimmen. Franz-Josef Brüggemeier räumt „(selbst)kritisch“ ein, „dass Entwicklungen teilweise zu linear beschrieben wurden“12. Am weitesten mit seiner Kritik geht Uekötter, der den Arbeiten zur Umweltgeschichte der Industrialisierung vorwirft, eine Geschichte des Misserfolgs und des Scheiterns zu schreiben, in der „die Geschichte der Industriegesellschaft zu einer mehr oder weniger kontinuierlichen Historie von Verschmutzung und Versagen“13 stilisiert werde. Um einen differenzierteren Blick zu ermöglichen, haben Verena Winiwarter und Martin Knoll in ihrem 2007 erschienenen Einführungsband zur Umweltgeschichte vorgeschlagen, anstatt von Verschmutzungs- von Belastungsgeschichte zu sprechen.14 Dies hat jedoch keine neuen Impulse gegeben; ohnehin ist der Vorwurf des Schwarz-Weiß-Malens nur im Einzelfall berechtigt, zeichnen viele Autoren doch ein differenziertes Bild. Auch Uekötters Ergebnisse zum Umgang mit Luftverschmutzungsproblemen geben keinen Anlass zur revisionistischen Neuinterpretation, sondern vor allem zur kritischen Akzentuierung.15 Umweltschutz scheiterte 10

11 12 13 14 15

Vgl. Donald R. Franceschetti: The Industrial Revolution, in: Shepard Krech III. u. a. (Hg.): Encyclopedia of World Environmental History, Bd. 2. New York/London 2004, S. 687–691; Theodore Steinberg: An Ecological Perspective on the Origins of Industrialization, in: Environmental Review 10 (1986), S. 261–276. Frank Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2007, S. 67. Franz-J. Brüggemeier: Umweltgeschichte – Erfahrungen, Ergebnisse, Erwartungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 1–18, hier 6. Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003, S. 13. Siehe Verena Winiwarter/Martin Knoll: Umweltgeschichte. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 60 f. Insgesamt – so resümiert er – „wuchs doch das Bewusstsein für die Komplexität vieler Probleme und die Unzulänglichkeit von Versuchen, die Schuld lediglich einem einzelnen Bösewicht anzulasten“. Uekötter: Umweltgeschichte (wie Anm. 11), S. 91. Vgl. dazu auch die älteren Arbeiten Franz-J. Brüggemeier: Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industri-

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eben nicht (nur) an einer mangelnden Bereitschaft zu Gegenmaßnahmen seitens der Industrie, die vom Staat hingenommen wurde, sondern (auch) an Kommunikationsund Koordinationsproblemen. Trotz dieser zusätzlichen „Betonung der Organisationsfrage“16, als gescheiterte Verbindung von wissenschaftlicher Problemdefinition, technischen Lösungsansätzen und politischen Zielen, spiegelt die Fokussierung auf den Output aber weiterhin ein Externalisierungskonzept wider, das der integralen Bedeutung der Umwelt für wirtschaftliche Prozesse nicht gerecht werden kann und die Handlungsräume der Akteure auf einen Teilbereich reduziert. Aufschlussreich ist vermutlich gerade der Vergleich der Verschmutzungsprobleme mit den ökologischen Herausforderungen anderer Wirtschaftsaktivitäten. Sowohl die typischen Mechanismen der Problembehandlung als auch die Grenzen einer Externalisierung zeigen sich am Beispiel der Papierindustrie. Wasserverschmutzung war seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder Thema breiter Debatten, wobei die Papier- und Zellstoffindustrie zu den wichtigsten „abwasserproduzierenden Industrien“ gehörte. Durch die Vielzahl der Konflikte zwischen Fabrikanten, Nachbarn und Behörden war ein Grundbewusstsein für die Abwasserprobleme der Papierindustrie vorhanden.17 Der unternehmerische Umgang war zwar geprägt von Täuschungs- und Verzögerungstaktiken, öffentlichem Abstreiten und Opposition gegen staatliche Reglementierung, er beinhaltete aber auch eine beschränkte Erfüllung von Regulierungsmaßnahmen und schließlich Versuche, das Abwasserproblem zu ökonomisieren.18 Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass man sich aufgrund der Produktionswassersituation selbst als Opfer der industriellen Wasserverschmutzung fühlen musste. Es kam zu Konflikten, in denen Papierfabriken sich gegenseitig vorwarfen, das Produktionswasser unbrauchbar zu machen, was letztlich bedeutete, dass jeder Eigentümer „sein Etablissement selbst als ein dem Gemeinwohle schädliches der Verwaltungsbehörde denuncieren müßte“19. Das besonders enge Verhältnis von Input und Output bei der Wasserversorgung der Papierindustrie führte zu einer stärkeren Sensibilisierung, auch wenn die Problematik solange wie möglich ausgeblendet wurde. Auch in anderen Bereichen war dieses Wechselspiel vorhanden; oft wird vernachlässigt, dass Dampfmaschinen und Eisenbahnen nicht nur Kohle brauchen, um zu laufen, sondern auch Wasser zum Speisen der Kessel. Selbst in einer Papierfabrik waren dies fünf bis zehn Prozent des Wasserbedarfs. Die Ressource Wasser,

16 17 18 19

alisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert. Essen 1996; Arne Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie 1850–1933. Stuttgart 1996; Jürgen Büschenfeld: Flüsse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870–1918). Stuttgart 1997. Uekötter: Rauchplage (wie Anm. 13), S. 22. Gravierende Auswirkungen auf die Flüsse hatten Holz- und Faserreste und anorganische chemische Substanzen im Abwasser. Vgl. beispielsweise Birgit Siemen: Ökologische Aspekte der Sulfitzellstoff-Herstellung in Deutschland um die Jahrhundertwende. Hamburg 1993. Vgl. Mathias Mutz: Managing Resources. Water and Wood in the German Pulp and Paper Industry (1870 s–1930 s), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2/2009, S. 45–68, hier 56–65. Hauptstaatsarchiv Dresden (HStAD), Bestand 10762, Nr. 565, Rechtsanwalt Eysoldt, Schriftsatz in Sachen des Papierfabrikanten Herrn Eichhorn in Köttewitz, in Firma Eichhorn & Co., gegen den Herrn Strohstofffabrikanten Anton Unger in Dohna, Dresden 14.02.1884.

Industrialisierung als Umwelt-Integration

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deren globaler Verbrauch sich im 19. Jahrhundert schätzungsweise verdoppelte, illustriert die weiterreichende Bedeutung naturaler Rohstoffe deshalb in besonderem Maße.20 1.2 Energieregime und industrielle Stoffströme Stoff- und Energieströme wurden in der Forschung keineswegs ausgeklammert, auch wenn sie vor allem als Nutzung neuer Energieträger für die Wahrnehmung der Industrialisierung zentral wurden. Die Interpretation der Energiefrage als Kernbereich entspricht dem klassischen Leitbild der Industriellen Revolution als Durchbruch der mit Kohle beheizten Dampfmaschine. Rolf-Peter Sieferle und andere Autoren, die sich auf die gesamtgesellschaftliche Analyse von Stoffströmen konzentrieren, betonen hier den Wechsel von einem nachhaltigen zu einem bis heute gültigen, auf fossilen Brennstoffen beruhenden Energieregime. Die Industrialisierung erscheint dabei als „Phase prinzipieller Nicht-Nachhaltigkeit“, charakterisiert durch „wachsenden Verbrauch von Energieträgern, zunehmende Mobilisierung von Stoffen und eine steigende Zahl von Menschen, begleitet von einem scharfen Rückgang der Biodiversität“21. Dieser Anstieg des Energie- und Materialdurchflusses ist inzwischen für einzelne Volkswirtschaften quantifiziert worden. Die große Stärke solcher Studien liegt in der Möglichkeit, Nutzungsmuster und die Zeitpunkte ihrer Durchsetzung zu identifizieren. Sie verweisen etwa darauf, selbst in England entscheidende materielle Umbrüche erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verorten.22 Damit relativiert der Ansatz gleichzeitig die Bedeutung der Energie- bzw. Kohlenutzung – nicht als langfristige Folge der Industrialisierung, aber als ihr Katalysator. Gerade in der frühen Phase der Industrialisierung war die Wasserkraft der entscheidende Energieträger und behielt diese Rolle in zahlreichen Regionen auch bei. Für England ist zu bedenken, dass 1830 immerhin 47 Prozent des industriellen Energiebedarfs durch Wasserkraft bewältigt wurden. Viele Industrien der US-Ostküste und europäischer Gebirgsregionen gingen direkt vom hydraulischen zum hydroelektri20 21

22

Vgl. Mutz: Managing Resources (wie Anm. 18), S. 56 f.; John R. McNeill: Something New under the Sun. An Environmental History of the Twentieth-Century World. New York/London 2000, S. 121. Sieferle hat bereits in den 1980er Jahren ein universalgeschichtliches Modell abgeleitet, das drei sozialmetabolische Regime unterscheidet: Jäger- und Sammlergesellschaften, Agrargesellschaften und die industrielle Gesellschaft. Dazu Rolf P. Sieferle: Energie, in: Brüggemeier/ Rommelspacher (Hg.): Besiegte Natur (wie Anm. 5), S. 25–30; Rolf P. Sieferle u. a.: Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung. Köln/Weimar/Wien 2006. Siehe beispielsweise Heinz Schandl/Niels Schulz: Eine historische Analyse des materiellen und energetischen Hintergrundes der britischen Ökonomie seit dem frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2001; Fridolin Krausmann: Vom Kreislauf zum Durchfluss. Österreichs Agrarmodernisierung als sozialökologischer Transformationsprozess, in: Andreas Dix/Ernst Langthaler (Hg.): Grüne Revolutionen. Agrarsysteme und Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck 2006, S. 46–71. Dementsprechend beschreibt John R. McNeill: Something New (wie Anm. 20), das 20. und nicht das 19. Jahrhundert als zentrale Transformation.

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schen Betrieb über. Auch in Deutschland ist der Beitrag der Wasserkraft, vor allem im regionalen Vergleich, bis ins 20. Jahrhundert nicht zu vernachlässigen.23 Als Branche sticht hier wiederum die Papierindustrie hervor, die auch 1925 noch rund ein Viertel ihrer Antriebsenergie aus Wasserkraftanlagen bezog. Interessant ist es auch, den Ressourcenverbrauch mit den Produktionsmengen zu vergleichen. In Bezug auf Faserrohstoffe, Energie, Wasser und sonstige Hilfsstoffe weitete die Industrialisierung den Bedarf enorm aus. Dabei stieg nicht nur der Rohstoffinput insgesamt, sondern auch der Aufwand je produzierter Einheit deutlich an (Abb. 2). Dennoch kann nicht von einem radikal neuen industriellen Regime der Umweltnutzung gesprochen werden. Erstens ist ein Anstieg des Verbrauchs je Einheit erst nach der Jahrhundertmitte erkennbar, als sich die Papiermaschine bereits länger durchgesetzt hatte. Zweitens stellten bereits die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg einen Wendepunkt dar; nun war der relative Ressourceninput rückläufig oder stagnierte zumindest. Effizienzsteigerungen hoben die Unternehmen jedoch dadurch auf, dass ihr Rohstoffbedarf insgesamt wuchs. Die Industrielle Revolution kann kaum auf eine Verschiebung der gesellschaftlichen Energiebasis reduziert werden. Veränderungen der Wirtschaftsweise erklären sich letztlich nicht aus der Existenz von Stoffströmen. Oder wie der Umwelthistoriker John McNeill formulierte: „Both machines and organization – hardware and software – lie behind the breakthrough of modern times.“24 Zu Recht hat etwa Stefania Barca die grundlegende Bedeutung von Besitzrechten herausgearbeitet. Ihre Deutung der Industriellen Revolution im italienischen Liri-Tal als „the appropriation of a non-biological energy rent (waterpower) by private capitalism”25 verengt diesen Faktor zwar auf das Privateigentum an Ressourcen, stellt damit aber die entscheidende Frage nach den soziokulturellen Ursprüngen der ökonomischen Dynamik. In ähnlicher Weise hat Günter Bayerl die Herausbildung eines „technischökonomischen Blicks“26 auf die Natur und ihr Rohstoffangebot im 18. Jahrhundert als Voraussetzung des Industrialisierungsprozesses interpretiert. In der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung ist diese Verschiebung bei der Interpretation der Industrialisierung von einem rein technisch-materiellen zu einem institutionell-organisatorischen Prozess seit längerer Zeit deutlich zu beobachten.27 Diese institutionellen 23

24 25 26

27

Der Anteil an der deutschen Energieerzeugung lag 1925 bei knapp 10 %, in Baden und Bayern bei um die 40 %. Vgl. Deutscher Wasserwirtschafts- und Wasserkraft-Verband e. V. (Hg.): Die Wasserwirtschaft Deutschlands. Berlin 1930, S. 36 f. Zu anderen Ländern Stefania Barca: Enclosing Water. Nature and Political Economy in a Mediterranean Valley, 1796–1916. Cambridge 2010; Theodore Steinberg: Nature Incorporated. Industrialization and the Waters of New England. Cambridge/MA 1991. McNeill: Something (wie Anm. 20), S. 17. Barca: Enclosing Water (wie Anm. 23), S. 69. Vgl. Günter Bayerl: Prolegomenon der „Großen Industrie“. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur im 18. Jahrhundert, in: Werner Abelshauser (Hg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive. Acht Beiträge. Göttingen 1994, S. 29– 56. Vgl. beispielsweise Clemens Wischermann/Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2004.

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Industrialisierung als Umwelt-Integration

Aspekte hat der Energieregime-Ansatz bisher nicht rezipiert; er bleibt oft einem materiellen Industrialisierungsverständnis und einem klassischen – wenn auch negativ gewendeten – Wachstumsdenken verhaftet. Abb. 2: Wasser- und Energiebedarf je produzierter Einheit Papier

100   80  

Wasserbedarf  in  10l/kg   Energiebedarf  in  kWh/kg  

60   40   20   0  

um  1800  

um  1840  

um  1880  

um  1910  

um  1925  

Quelle: Eigene Berechnungen nach Peter F. Tschudin: Grundzüge der Papiergeschichte. Stuttgart 2007, S. 105–108; Wilhelm Sandermann: Papier. Eine Kulturgeschichte. Berlin 1997, S. 214, 247 f.; Albert Sapper: Die Entwicklung der deutschen Papierindustrie. Diss., Erlangen 1925, S. 45 f.

1.3 Umweltfaktoren als Industrialisierungsvoraussetzung Energieregime und Stoffströme verweisen bereits auf die naturalen Bedingtheiten der Industrialisierung. Richard Wilkinson ging 1988 in einem Aufsatz zur „English Industrial Revolution“ so weit, die Industrialisierung pauschal auf Landmangel, d. h. auf ökologische Begrenzungen zurückzuführen.28 Er sieht die Industrialisierung ähnlich wie viele andere als Reaktion auf vormoderne Produktionsgrenzen, als Ausbruch aus der „Malthusianischen Falle“. Auch für die Papierindustrie kann auf einen naturalen „bottleneck“ verwiesen werden, der mit dem Wechsel des Rohstoffs Mitte des 19. Jahrhunderts gelöst wurde. Statt der begrenzt vorhandenen Hadern oder Lumpen setzte man nun den – in der Wahrnehmung der Zeitgenossen – unbegrenzten Rohstoff Holz ein. Schon nach wenigen Jahrzehnten konsumierte die deutsche Papierfabrikation Ende der 1880er Jahre jedes Jahr 1,5 Millionen fm Holz, bis zum Ersten Weltkrieg waren es 5–6 Millionen fm, in der Zwischenkriegszeit dann 4–10 Millionen fm jährlich.29 28 29

Richard G. Wilkinson: The English Industrial Revolution, in: Donald Worster (Hg.): The Ends of the Earth. Perspectives on Modern Environmental History. Cambridge/MA 1988, S. 80–99. Vgl. Mutz: Managing Resources (wie Anm. 18), S. 49 ff.

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Trotz dieser Wachstumseffekte war die „hölzerne Revolution“ jedoch kein als „demand pull“ oder „technology push“ interpretierbarer Selbstläufer. Angebotsund Nachfrageeffekte wirkten nur in einem bestimmten Kontext. Obwohl Holzpapier preisgünstiger war, hatte es zunächst mit der Skepsis der Konsumenten zu kämpfen, für deren Vertrauen in das neue Produkt aktiv geworben werden musste.30 Ähnlich kritisch dürfte die isolierte Erklärungskraft einer Vielzahl von Standardfaktoren der Industrialisierung zu beurteilen sein, von denen hier lediglich einige ökologische Argumentationslinien herausgestellt werden können. Es ist interessant zu sehen, dass naturale Faktoren häufig als Antwort auf die klassischen Fragen „Warum England?“ oder „Warum Europa?“ auftauchen. Auf Umweltfaktoren greift beispielsweise Kenneth Pomeranz zurück, der das Auseinanderlaufen der Entwicklungslinien zwischen Europa und Ostasien in dem Moment sieht, in dem Europa einen „ecological relief“31 erlebte. Hier betont er die Bedeutung der amerikanischen Kolonialgebiete als Überwindung des Landmangels, nennt aber auch Kohlevorkommen. Schon Eric Jones hob in seinem Buch „Das Wunder Europa“ auf eine ganze Reihe von Umweltfaktoren ab: Ein in Relation zur Bodenfläche großes Ausmaß von Wasserwegen begünstigte den Fernhandel, die geologische und klimatische Vielfalt sorgte für eine Fülle verschiedenster Naturschätze. Ein zentraler Punkt seiner Argumentation ist das in Europa geringere Risiko von Naturkatastrophen, das kontinuierliches Wachstum erleichterte.32 Bekannt sind die Arbeiten Jared Diamonds, der in der geographischen Struktur Europas den entscheidenden Vorteil sieht, weil Bevölkerungsreichtum und Fragmentierung einen Innovationswettbewerb angestoßen haben, während das geographisch kompaktere China einen bürokratischen, innovationshemmenden Einheitsstaat hervorbrachte.33 Um die vorhandenen Ansätze zu strukturieren, können drei große Argumentationsstränge unterschieden werden: Erstens werden Ressourcenkrisen als Industrialisierungsimpuls interpretiert, zweitens aber auch Ressourcenchancen und drittens schließlich Faktoren genannt, die man als „Anthropogeographie“ bezeichnen könnte. Hier werden sozioökonomische Verhältnisse direkt auf Umweltgegebenheiten zurückgeführt.34 Auf die Problematik der Welt- und Geschichtsbilder hinter umweltdeterministischen Erklärungen muss kaum eingegangen werden, weil sie der Wirkungsweise naturaler Faktoren nicht gerecht werden, wenn sie eine stati30

31 32 33 34

Vgl. Mathias Mutz: Die Innovation des hölzernen Papiers und die personalen Netzwerke württembergischer und sächsischer Unternehmerfamilien, in: Ulrike Laufer/Hans Ottomeyer (Hg.): Die Gründerzeit 1848–1871. Industrie und Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich. Dresden 2008, S. 150–155. Vgl. Kenneth Pomeranz: The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy. Princeton 2000, insbesondere S. 274 ff. Vgl. Eric L. Jones: Das Wunder Europa. Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens. Tübingen 1991. Vgl. Jared M. Diamond: Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies. New York 1999. Er folgt damit der ähnlich gelagerten Despotimus-These Karl Wittfogels. So in David S. Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Bonn 2010 (engl. Original 1998), wo unter der Kapitelüberschrift „Die Ungleichheiten der Natur“ die Rolle des Klimas und die entwicklungshemmenden „Beschwerlichkeiten der Hitze“ betont werden. Ebd., S. 22.

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sche Umwelt bzw. eine statische Bedeutung von Umweltfaktoren annehmen. Aber auch die ersten beiden Modelle scheinen nicht unproblematisch, wenn gleichzeitig das Fehlen und das Vorhandensein naturaler Ressourcen als universelle Industrialisierungsvoraussetzung zu deuten sind.35 Dass push- und pull-Faktoren gleichermaßen diskutiert werden, ist letztlich vor allem ein Argument für ein dynamischeres, auf Wechselwirkungen abhebendes Modell. Ansonsten werden – wie auch im Energieregime-Ansatz, der die Industrialisierung im Grunde außerhalb ökologischer Begrenzungen sieht, und in der Verschmutzungsgeschichte – Umwelt-Aspekte als vorgelagerte Faktoren aus der ökonomischen Analyse ausgeklammert, d. h. externalisiert. Wenn man – in welcher Form auch immer – naturale Bedingungen am Anfang der Industrialisierung stehen lässt, ist es aber wenig überzeugend, sie im Prozessverlauf auszublenden. Vielmehr müssen dann Umweltabhängigkeiten und -auswirkungen als Handlungsfelder der Industrialisierung verstanden werden. Dadurch wird diese von einem Externalisierungsprojekt zu einem Internalisierungsprozess. Jürgen Osterhammel spricht in seinem Buch „Die Verwandlung der Welt“ treffend von „Frontiers der Naturerschließung“36, die das 19. Jahrhundert prägten. 2. UMWELTNUTZUNG MODERNER INDUSTRIEUNTERNEHMEN Versteht man Industrialisierung als Umwelt-Integration im Sinne einer verstärkten Interaktion der Wirtschaft mit der naturalen Umwelt, bietet der Kristallisationspunkt Unternehmen die Möglichkeit, Akteure und deren Handlungspraxis zu betrachten. Große Teile der gesellschaftlichen Umweltnutzung finden in Unternehmen statt; sie sind es, die in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft als „intervenierende Variable“ zwischen materielle Erschließung und gesellschaftlichen Konsum naturaler Ressourcen treten. Ihr auf Dauer angelegtes, institutionalisiertes Handeln erlaubt einen fokussierten Einblick in die Funktionslogiken gesellschaftlicher Umweltnutzung. Hier erweitert ein akteurzentrierter Ansatz die historische Analyse des Umgangs mit dem Faktor Umwelt entscheidend; „an institutional approach to environmental history can combine discursive history with material history to a certain degree“37. Viele umweltgeschichtliche Fallstudien der letzten Jahr35

36 37

Dahinter stehen zwei gegensätzliche Vorstellungen von der Grunddynamik industriellen Wachstums: einerseits die Idee, dass Knappheit der Motor wirtschaftlicher Betätigung ist und Ressourcenmangel somit der Anstoß zu Innovationsprozessen, andererseits das Modell, dass Wachstum auf Investitionen beruht und es somit einer „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ bedurfte. Dabei lehnt er sich an den Frühneuzeithistoriker John Richards an. Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 475. Vgl. Joachim Radkau: Germany as a Focus of European ‚Particularities‘ in Environmental History, in: Thomas Lekan/Thomas Zeller (Hg.): Germany’s Nature. Cultural Landscapes and Environmental History. New Brunswick/NJ 2005, S. 24–49. Dies wurde bisher vor allem in Bezug auf den Staat diskutiert. Vgl. Paul R. Josephson: Resources under Regimes. Technology, Environment, and the State. Cambridge/MA 2005; James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven/CT/London 1998.

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zehnte zeigen dies – wenn auch meist mit dem Fokus auf anderen Akteurskonstellationen. Aus unternehmenshistorischer Perspektive ist zu betonen, dass die Interaktion oder Ko-Evolution mit der Umwelt als wesentliche Komponente der Unternehmensentwicklung gesehen werden muss. Diese historisch gewachsene, ökologische Basis moderner Unternehmen wird trotz der Gleichzeitigkeit der Prozesse aber selten in den Blick genommen. Die beschriebene Herangehensweise ist keineswegs alternativlos; andere Zugänge zur besseren Verknüpfung von Wirtschaft und Umwelt sind denkbar. Kenneth E. Boulding etwa, Autor von „The Economics of the Coming Spaceship Earth“ und einer der Väter der modernen Evolutionsökonomie, hat schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen, den klassischen Produktionsmitteln Boden, Kapital und Arbeit die Trias Ressourcen, Wissen und Energie entgegen zu stellen und arbeitete damit wesentliche Kontaktpunkte zwischen Wirtschafts- und Umweltgeschichte heraus.38 Auch hier geht es also nicht um eine Neu-Erfindung der Unternehmensgeschichte oder der akteurszentrierten Umweltgeschichte, sondern vor allem darum, bekannte organisatorische Entwicklungslinien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Aspekte der Umweltnutzung zu verknüpfen. Unternehmen schaffen mit ihren organisatorischen Strukturen nicht nur spezifische Formen der Umweltnutzung, sie sind selbst eine Reaktion auf ökologische Herausforderungen. Diese These lässt sich insbesondere anhand von vier Herausforderungen illustrieren, mit denen die Papierindustrie konfrontiert war. Erstens mussten die Produzenten ihre Standortentscheidungen vor dem Licht sich verändernder Rohstoffquellen neu bewerten. Zweitens mussten sie die Umweltressourcen – soweit möglich – den Erfordernissen der industriellen Produktion anpassen, um drittens die Versorgung mit den zunehmenden Rohstoffmengen zu organisieren, und – viertens – mussten sie das notwendige Umwelt-Wissen erwerben. Es geht also – wenn auch nur schlaglichtartig – um Raumerschließung, Technisierung, Ressourcenmanagement und Wissensproduktion, die getrennt behandelt werden, auch wenn sie eng miteinander verwoben sind. Ziel ist es, anhand dieser Beispiele Grenzen der Externalisierung und Chancen einer Perspektiverweiterung aufzuzeigen. 2.1 Die Standortfrage der Papierindustrie Naturale Standortfaktoren prägten die Geschichte der europäischen Papierfabrikation seit ihren Anfängen. Fritz Holzhey, Miteigentümer der Haindl’schen Papierfabrik in Augsburg, schrieb zu Recht, „daß es ohne Wasser kein Papier und keine Papiermacherei gäbe“39. Als Energiequelle und Produktionsmittel waren Papiermühlen auf Wasser angewiesen, aber auch später blieb für Papierfabriken ein Standort am Fluss üblich. Doch die Tatsache, dass sich die Branchengeographie im 19. Jahrhundert kaum veränderte, legt nur auf den ersten Blick eine statische Abhängigkeit von naturalen Bedingungen nahe. Die Faktoren, die für einen Standort 38 39

Vgl. Kenneth E. Boulding: The Economics of the Coming Spaceship Earth, in: Henry Jarett (Hg.): Environmental Quality in a Growing Economy. Baltimore 1966, S. 3–14. Fritz Holzhey: Wasserkraft in der Papierindustrie, in: Der Papiermacher 10 (1958), 12 f., hier 13.

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am Wasser sprachen, veränderten sich und stellten sich für jedes Unternehmen anders dar.40 Charakteristisch ist die Multidimensionalität papierindustrieller Wassernutzung. Wenn sich die Bedeutung in Bezug auf Wasserversorgung und Energiegewinnung relativierte, weil das natürliche Dargebot nicht ausreichte, gewannen der Wassertransport oder die Abwasserentsorgung an Gewicht. Versuche, sich durch Brunnen oder Dampfkesselanlagen vom Flusswasser zu emanzipieren, verschoben letztlich nur die Abhängigkeiten, weil auch hier die Ressourcenversorgung gesichert werden musste. Dass der neue Rohstoff Holz die Standortstruktur nicht revolutionär veränderte, ist insbesondere in Sachsen darauf zurückzuführen, dass das gewünschte Fichtenholz im Erzgebirge ausreichend vorhanden war. Zwar „wanderte“ die Papierindustrie zum Holz in den Wald, doch diese Verschiebungen machten sich in erster Linie durch eine zahlenmäßige Zunahme bemerkbar.41 Ein Wandel zeigte sich stattdessen in der infrastrukturellen Erschließung. Die Dynamik von Massenproduktion, -vertrieb und -konsum zwang Unternehmen, die Standortsituation aktiv zu gestalten und diese Anpassungsleistungen, die nicht zuletzt die Umwelt veränderten, immer wieder neu zu erbringen. So investierten alle Unternehmen in großem Umfang Kapital und Zeit, um die Verkehrsanbindung ihrer Werke zu verbessern. Während des Kaiserreichs galt das Hauptaugenmerk der Eisenbahn.42 Der Wassertransport stand in Sachsen relativ dazu zurück, dennoch wurden die Schiffbarkeit der Elbe und der Bau von Kanälen intensiv diskutiert. Das Interesse beruhte nicht allein auf praktischen Transportmöglichkeiten, sondern ebenso sehr auf der grundsätzlichen Konkurrenz zwischen Schiene und Wasserstraße, aus der sich Verhandlungsoptionen ergaben. Die Umwelt und die Entscheidung, sie umzugestalten oder nicht, fungierten als strategische Instrumente des Wettbewerbs. Gerade in der Kontinuität des Standorts manifestiert sich die Dynamik der Raumerschließung. Ökonomisch betrachtet waren Investitionen in die Infrastruktur ein Element, das Unternehmen an einen Standort band. Damit machte man sich also gerade nicht von der Umwelt unabhängig. Nicht zuletzt waren Infrastruktursysteme selbst abhängig von der Umwelt. Beispielsweise erschwerten und verteuerten die typischen Mittelgebirgsstandorte den Bau von Eisenbahnanbindungen. Die Witterung bestimmte den Holzeinschlag in den Wäldern. Zudem war der Wassertransport auf der Elbe im Winter für mehrere Monate unterbrochen, ansonsten schufen Hochund Niedrigwasser Risiken.43 Die daraus resultierenden Versorgungsschwankungen erzwangen eine umfangreiche Lagerhaltung, wobei die Mengen auf den Holzplätzen teilweise die Jahreskapazität der Fabriken übertrafen.44 40 41 42 43 44

Vgl. Mathias Mutz: Naturale Infrastrukturen im Unternehmen. Die Papierfabrik Kübler & Niethammer zwischen Umweltabhängigkeit und Umweltgestaltung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 58 (2007), S. 59–87, hier 73 ff. Vgl. R. Staudt: Die Standortwahl der deutschen Papierindustrie in theoretischer und historischer Untersuchung. Diss., Köln 1930, S. 29. Unternehmen, die nicht direkt an einer Bahnlinie lagen, versuchten, die staatliche Streckenplanung zu beeinflussen, initiierten private Eisenbahngesellschaften oder bauten kilometerlange Anschlussgleise. Vgl. Mutz: Naturale Infrastrukturen (wie Anm. 40), S. 67 ff. Vgl. Helmut Bayer: Die Krise in der Elbschiffahrt. Rostock 1932, S. 59 ff. Vgl. Staatsarchiv Chemnitz (StAC), Bestand 33063, Nr. 1369, Leonhardt Söhne, Unterhaltung

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Holz und Wasser waren wichtige Determinanten der Branchendynamik, ohne jedoch eine unumkehrbare Richtung vorzugeben. Nur in einem begrenzten Zeitfenster gaben die naturalen Ressourcen isolierbare Impulse. Danach war es unverzichtbarer Bestandteil der Unternehmensaktivitäten, die Standorte weiterzuentwickeln, um das benötigte Holz aus größerer Entfernung zu beschaffen; oder wie es die Eigentümer der Leonhardt’schen Papierfabrik in Crossen 1933 formulierten: „die Frage der wirtschaftlichen Rentabilität der Papierfabrik [sei] in der Hauptsache zu einer reinen Standortsfrage geworden. Nur dort könne in Deutschland eine Papierfabrik noch rentabel arbeiten, wo sie billigen Bezug der Rohstoffe (vor allem Kohle) und billige Frachtmöglichkeiten (schiffbare Flussläufe) habe.”45 Früher als unveränderlich wahrgenommene Faktoren verloren durch neue technische Möglichkeiten und Anforderungen an Bedeutung, während Infrastrukturen nach ihrem Bau zu festen, quasi-natürlichen Gegebenheiten wurden, d. h. aus der Unternehmensperspektive ähnlich wie naturale Faktoren wirkten. Die Rolle der Umwelt für die unternehmerische Raumnutzung hing von ihrem historischen Kontext ab. Die Industrialisierung hat den Raum somit nicht überwunden, die Bezüge von Standort und Infrastruktur mussten regelmäßig neu ausgehandelt werden. 2.2 Technisierung der unternehmerischen Umweltnutzung Durch den Verbrauch von schnell wachsendem, klein dimensioniertem Holz veränderte die Branche auf lange Sicht die Nutzungsstrategien der Forstwirtschaft. Der Papierholzbedarf stellte eine logistische Herausforderung dar und bedeutete zugleich eine Belastungsprobe für die Wälder. Er förderte Tendenzen, die in der rationellen Forstwirtschaft des frühen 19. Jahrhunderts bereits angelegt waren, insbesondere indem großflächig Fichtenreinkulturen gepflanzt wurden. Daneben war die Nachfrage nach Papierholz eng mit der Forstpraxis der Durchforstung verknüpft, die das Holzwachstum in Monokulturen förderte. Die Unternehmen der Papierindustrie waren jedoch nicht selbst Akteure dieser Umwandlung, die – zumindest in Deutschland – weitgehend in den Händen von Forst-Experten lag.46 Solche Eingriffe dienten in erster Linie dazu, naturale Stoffströme zu verstetigen und zu normieren. Neue Technologien wurden als Mittel der Naturaneignung eingesetzt, man könnte also – durchaus im Sinne einer Umwälzung durch die Industrialisierung – von einer „Technisierung“ der Umwelt sprechen, wenn man darunter Prozessabläufe versteht, die „einem festen Schema folgen, das wiederholbar und zuverlässig erwartete Wirkungen erzeugt“47. Es ist jedoch schwierig, hierin einen streng linearen Prozess sehen zu wollen, der zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein konnte. Sicherlich zielten wichtige Teilprozesse darauf ab, natürliche Begrenzungen und Abhängigkeiten zu überwinden bzw. zu verschieben. 45 46 47

eines Papierholz-Werklagers zwingendes Erfordernis, Crossen 1936. Ebd., Nr. 616, Aktennotiz C. F. Leonhardt, Crossen 17.01.1933. Vgl. Mutz: Managing Ressources (wie Anm. 18), S. 54 ff. Werner Rammert: Technik, Handeln und Sozialstruktur. Eine Einführung in die Soziologie der Technik, in: Ders. (Hg.): Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Wiesbaden 2007, S. 11–36, hier 16.

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Symbolhaft hierfür steht der Bau von Talsperren, die – so hofften die Zeitgenossen – alle Probleme der Wassernutzung (Hochwasser, Niedrigwasser, Verunreinigung) gleichzeitig lösen sollten.48 Die Unternehmen mussten sich aber häufig genug an den naturalen Verhältnissen „abarbeiten“, wenn es galt, die geeigneten Techniken und Methoden zu entwickeln. Es galt gegebenenfalls, sich – vielleicht als Provisorium gedacht – mit Schwankungen abzufinden. Dies betraf etwa die an die Wasserverhältnisse gekoppelten Holzstoffpreise, die Zeitgenossen als Interferenz zwischen ökonomischen und naturalen Zyklen akzeptierten und als Möglichkeit der Preisspekulation nutzten.49 Auf diese Weise entwickelte sich – wie bereits angedeutet – das Produktionswasser zu einem fortdauernden Problem. Dabei waren die Unternehmen in ein Netz von Akteuren eingebunden, die versuchten, ihre Interessen in Konkurrenz zueinander durchzusetzen. Umfangreiche Baumaßnahmen gehörten für Papiermacher zum Alltagsgeschäft. Flussregulierungsmaßnahmen sowie der Bau von Wehren und Wasserkraftanlagen nahmen in ihrem Umfang seit Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch deutlich zu. Die Wasserbauprojekte veranschaulichen hier nicht nur den „ökologischen Fußabdruck“ einzelner Unternehmen, sondern auch die damit verbundenen alltäglichen Aufgaben und Probleme.50 Der Bedarf der einzelnen Fabriken stieg durch den Ausbau der Produktionskapazitäten stetig an. Die Unternehmen selbst sahen die Produktionswasserfrage überwiegend als Qualitäts-, nicht als Quantitätsproblem, obwohl Konsumausweitung und Qualitätsdefizite eng zusammenhingen.51 Auf der einen Seite ergaben sich durch neue technische Verfahren wachsende Ansprüche an das Produktionswasser, auf der anderen Seite wirkte sich die wachsende industrielle Nutzung negativ auf die Wasserqualität aus. Um die Wasserverhältnisse den eigenen Bedürfnissen anzupassen, musste man entweder das vorhandene Flusswasser aufbereiten oder mit Hilfe von Brunnen und Leitungen neue, höherwertige Wasserquellen erschließen. Die Kosten hierfür waren enorm; allein die Crossener Zellstoff- und Papierfabriken investierten in die Wasseraufbereitung bis 1931 etwa 1,5 Millionen Mark.52 Typischerweise waren die Unternehmen zudem gezwungen, ihre Strategie regelmäßig anzupassen und zwischen verschiedenen technischen Lösungen zu wechseln. Ohne solche Maßnahmen war eine industrielle Papierfabrikation nicht möglich. Die Technisierung der Umwelt war für die Unternehmen ein integraler Bestandteil des Industrialisierungsprozesses. Industrielle Umweltnutzung bedeutete aber nicht, die Umwelt technisch neu zu ordnen, sondern den nicht immer erfolg48 49 50 51 52

Zur Faszination, die von Talsperren ausging, vgl. Julius Schultze: Die Papierfabrikation im Königreich Sachsen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den Holzschleifereien. Tübingen 1912, S. 272–302. Vgl. Sapper: Entwicklung (wie Quelle, Abb. 2), S. 59 ff. Vgl. etwa das Beispiel der Talsperre Kriebstein, die für die dort ansässige Papierfabrik errichtet wurde. Dazu Mutz: Naturale Infrastrukturen (wie Anm. 40), S. 78–81. Vgl. ebd., S. 73 ff. Vgl. StAC, Bestand 33063, Nr. 993, Leistungsaufwand für Muldenwasserklärung, Frischwasserbeschaffung und Fabrikationsabwässerreinigung der Firma Leonhardt Söhne, Crossen, Mai 1934.

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reichen Versuch, sie schrittweise anzupassen. Eine rationelle Nutzung der Natur hatte ihre Grenzen in der Eigenlogik ökologischer Prozesse; sie erzeugte einen erhöhten Steuerungs- und Kontrollaufwand und das Risiko komplexer Wechselwirkungen, die neue Anpassungsleistungen erzwangen. 2.3 Unternehmerisches Ressourcenmanagement Eine Technisierung (im weiteren Sinne) ermöglichten daneben betriebliche Abläufe und Managementleistungen. Erstens ließen sich auch durch organisatorische und institutionelle Veränderungen wiederholbar und zuverlässig erwartete Wirkungen erzeugen und zweitens bedarf jedes technische System der Organisation. Die Umwelt war dementsprechend nicht nur materielle Ressource für die Produktion, sondern auch organisatorische Ressource für die Professionalisierung und den strukturellen Wandel der Unternehmen. Die Überwindung von Raum beim Holztransport, die Kontrolle materieller Stoffströme im Wasserbau oder Investitionen in die Wasseraufbereitung banden – sowohl finanziell als auch organisatorisch – bedeutende Ressourcen und beeinflussten die Erfolgsaussichten jedes einzelnen Unternehmens. Folgerichtig hatten die Unternehmen – für sich oder gemeinsam – Organisationskapazitäten aufzubauen. Hier lassen sich verschiedene naturale und sozioökonomische Problemfelder unterscheiden, die spezifischen, aber stets umweltbezogenen Handlungslogiken folgten. Wurden Probleme in die politische Arena getragen, waren Industrieverbände wichtige Akteure. Während die historische Forschung auf finanz- und handelspolitische Interessen als Impulsgeber für deren Entstehung im späten 19. Jahrhundert abhebt, gehören auch umweltbezogene Politikfelder zu den wichtigsten Handlungsräumen.53 Auch die „klassischen“ Bereiche der Verbandsarbeit besaßen häufig eine ökologische Basis. Zölle und Infrastrukturen setzten Anreize für den Verlauf von Stoffströmen und sind deshalb gleichzeitig als umweltpolitische Grundsatzentscheidungen zu verstehen. Dabei sind nicht nur die Branchenvertretungen wie die in den 1870er und 1880er Jahren gegründeten Vereine der Papierfabrikanten, der Holzschleifereien und der Zellstofffabriken relevant, sondern gerade jene Verbände, die aus branchenübergreifenden Problemfeldern entstanden. Insbesondere Fragen der Abwasserpolitik trugen wesentlich zu stetigen Verbandsaktivitäten bei. Die langwierigen Diskussionen um neue Wassergesetze veranlassten die Industrie, problemfeldspezifische Organisationen auf überregionaler Ebene zu gründen.54 Besonders bemerkenswert ist dabei, wie die Umweltnutzung um 1900

53 54

Zur Verbändegeschichte vgl. beispielsweise Hans-Peter Ullmann: Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988; zur Papierindustrie Christian Kurtz: Verbände der deutschen papiererzeugenden Industrie 1870–1933. Berlin 1966. Vgl. Jürgen Büschenfeld: Das Abwasserproblem im Widerstreit der Interessen. Akteure, Konflikte und Lösungsmuster in der Phase der Hochindustrialisierung, in: Wiebke Bebermeier/ Anna-Sarah Henning/Mathias Mutz (Hg.): Vom Wasser. Umweltgeschichtliche Perspektiven auf Konflikte, Risiken und Nutzungsformen. Siegburg 2008, S. 17–47.

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als Arena gesellschaftlicher Grundsatzdebatten über das Selbstverständnis des Deutschen Reichs als Agrar- oder Industriestaat fungierte.55 Im Vergleich dazu reichte die Organisation der Umweltnutzung bei der Holzversorgung besonders weit, weil die Unternehmen auf eine Inkorporation des Holzhandels in die eigenen Organisationsstrukturen setzten. Es lassen sich verschiedene Stufen der Integration unterscheiden, die zwar häufig eine chronologische Abfolge darstellten, jedoch nicht zwingend waren. Der Organisationsaufwand der „lokalen Papierholzwirtschaft“ der 1860er und 1870er Jahre war relativ gering, später schalteten die Unternehmen dann allerdings Zwischenhändler ein und viele zogen es schließlich vor, eigene Einkaufsabteilungen einzurichten. Eine letzte Möglichkeit war es, Wälder zu kaufen. Hier setzte die Akteurskonstellation aber Grenzen, da die Papierindustrie keinen unmittelbaren Zugriff auf die Wälder in Deutschland erhielt. Auslandsinvestitionen, die als Ersatz getätigt wurden, blieben risikoreich.56 Nachdem der Erste Weltkrieg die Verletzlichkeit von internationalen Handels- und Unternehmensnetzwerken aufgezeigt hatte, wurde deshalb parallel zum Wiederaufbau dieser Strukturen intensiv nach neuen Rohstoffen gesucht.57 Seit dem 18. Jahrhundert war ein ausdifferenzierter Markt für Holzprodukte entstanden, in dem die Papierfabrikanten nun als neuer Konkurrent agierten. Die Unternehmen hatten zu lernen, mit Holzhändlern zusammenzuarbeiten, sie mussten die geeigneten Sortimente und Arten auswählen und die Regeln für den Papierholzhandel verhandeln. Es gab dabei auffallend lange keine standardisierten Kriterien. Erst im frühen 20. Jahrhundert begannen die Forstverwaltungen damit, spezielle Papier- oder Faserholzsortimente auszuweisen. Die Preußische Holzmarktordnung von 1911 sprach aber nur sehr vage von „Rundholz von zu Zell- und Holzstoff geeigneten Holzarten in Längen von 1–4 m; an beiden Enden mit der Säge geschnitten, gesund, wenig ästig; in Raummetern aufgesetzt“58. Viele Marktteilnehmer beklagten sich über die fehlende Präzision, aber offensichtlich gab es keine sinnvolle Lösung des Definitionsproblems. In Sachsen, dem Zentrum der deutschen Holzschliffproduktion, kam es zu überhaupt keiner Standardisierung. Dies ist kaum darauf zurückzuführen, dass – wie Beobachter meinten – der sächsische Staat „die Bedürfnisse der Industrie fast gar nicht berücksichtigt“59. Vielmehr akzeptierten Verkäufer und Käufer die Grenzen der Umwelt-Standardisierung und ihrer Organisation.

55 56 57 58 59

Inhaltlich versuchte die Industrie, den Rahmen der Debatte über die Wasserverunreinigung neu zu definieren und ökonomische Kategorien als Grundlage der staatlichen Regulierungspolitik zu etablieren. Vgl. Mutz: Managing Resources (wie Anm. 18), S. 53–56. Ebd., S. 55. Vgl. Ludwig Hufnagel: Handbuch der Kaufmännischen Holzverwertung und des Holzhandels. 10. Aufl., Berlin 1929, S. 35 f.; Ders.: Handbuch der Kaufmännischen Holzverwertung und des Holzhandels. Berlin 1905, S. 31 f. P. Heuell: Die Papierholzversorgung Deutschlands. Diss., Freiburg 1921, S. 12.

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2.4 Umwelt-Wissen im Unternehmen Die Papierindustrie setzte insgesamt auf eine wissenschaftliche Durchdringung der Arbeitsprozesse und folgte damit der allgemeinen Tendenz einer „Verwissenschaftlichung der Produktion“. Zumindest in ihrem Fall wurde diese entscheidend durch die Erfordernisse einer intensivierten Umweltnutzung geprägt. Eine zentrale Rolle übernahm die chemische Forschung, oder wie Heino Castorf, Direktor der Patentpapierfabrik zu Penig, 1897 pathetisch formulierte: „Die Chemie leuchtete mit der Fackel in die dunkelste Tiefe der ererbten Papiermacher-Empirie.“60 Es wurde seit den 1860er Jahren üblich, Fabrikchemiker zu beschäftigen und Labore zur Qualitätskontrolle und Forschung einzurichten. Die dadurch entstehende Wissensbasis – oder „learning base”61 im Sinne der ressourcenbasierten Unternehmenstheorie – veränderte die technischen Prozesse der Produktion und gleichzeitig das Wissensmanagement der Branche. Es handelte sich nicht zuletzt um eine umweltbasierte „learning base“, die sich etwa im neuen Rohstoff Holz zeigt, der wie ein WissensSchock wirkte und einen neuen Umgang mit Wissen erzwang. Holz war nicht einfach nur ein neuer Rohstoff. 1922 erklärte Carl Gustav Schwalbe, ein führender Papierchemiker, rückblickend: „Diese Fasern […] wichen in ihrem chemisch-physikalischen Verhalten wesentlich von den bis dahin verarbeiteten ab. Sie zeigten auch untereinander außerordentlich große Verschiedenheiten. Die baumwollartigen Natronholzzellstoffe und die leinenartigen Mitscherlich-Sulfitholzzellstoffe, von welch letzteren gewisse Sorten sich in kurzer Zeit zu Schleim vermahlen ließen, bedingten eine durchaus andere Behandlung als die altbekannten Leinen, Hanf- und Baumwollhadern der alten Papiermacherei.“62

Abgesehen von diesen grundlegenden Unterschieden spielten auch die Eigenschaften einzelner Holzarten eine große Rolle. Der Zelluloseanteil, die Faserlänge oder der Harzgehalt bestimmten, welches Holz zur Papierproduktion geeignet, wie es zu lagern war und welche Verfahren gegebenenfalls anzuwenden waren. Zunächst konnten Papierfabriken nur Fichtenholz als Holzschliff oder Holzzellstoff verarbeiten. Zudem bestimmten die Fasereigenschaften über die Charakteristika des fertigen Produkts und seine Qualität.63 Die Papierindustrie selbst beschränkte ihre Aktivitäten im Holzforschungsbereich häufig auf Kooperationen mit der Forstwissenschaft. Durch finanzielle Zuwendungen sorgte sie dafür, dass Hochschulen und Forschungsinstitute unternehmerische Interessen in ihrer Arbeit berücksichtigten. Die sächsische Papierindustrie förderte in der Zwischenkriegszeit dementsprechend die Sächsische Forstakademie 60 61 62 63

Heino Castorf: Die Patentpapierfabrik zu Penig. Ein Beitrag zur Geschichte des Papieres. Magdeburg 1897, S. 95. Zu diesem Ansatz Alfred D. Chandler: Inventing the Electronic Century. The Epic Story of the Comsumer Electronics and Computer Industries. New York 2001, S. 4 ff. Carl G. Schwalbe: Die chemischen Arbeiten der Papierfabrikation während der letzten 50 Jahre, in: Verband Deutscher Papierfabrikanten (Hg.): Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Vereines. Der Verein deutscher Papierfabrikanten. Berlin 1922, S. 211–216, hier 211. Vgl. etwa Jan H. Bos/Martin Staberock: Das Papierbuch. Handbuch der Papierherstellung. Houten 1999, S. 32 ff.

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in Tharandt, deren Professor Hans Wislicenus die Holzchemie zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht hatte. 1928 bot man ihm an, ein neu zu gründendes „Holzforschungsinstitut“ mit jährlich 100.000 Mark zu unterstützen, das u. a. nach neuen Rohstoffquellen suchen sollte.64 Holz bildete spätestens zu diesem Zeitpunkt die implizite Grundlage einer institutionell abgeschirmten Wissensproduktion durch einen kleinen Expertenzirkel. Die Grenzen eines (natur-)wissenschaftlichen Zugangs sind aber nicht nur darin erkennbar, dass die Fichte bis auf weiteres die Basis der deutschen Papierindustrie blieb. Es ist außerdem wichtig anzuerkennen, dass erfolgreiche Herstellungsverfahren – wie es die Zeitgenossen formulierten – immer „Resultat langer, mühsamer und mit enormen Geldopfern erkaufter Anstrengungen“65 waren. Für die Holzverarbeitung mussten auf jeder Produktionsstufe die geeigneten Verfahren und Maschinen gefunden werden. Die „Objektivität“ des Holzes im Sinne seiner stofflichen Eigenheiten war eine zentrale Herausforderung für die Unternehmen, die trotz langwieriger Bemühungen (z. B. Entrindung) oder aufwändiger organisatorischer Lösungen (z. B. Lagerhaltung) bestehen blieb. Der Wissensstand blieb begrenzt. Noch 1925 erklärte der Verein der Zellstoff- und Papierchemiker, es gebe „noch viele dunkle Punkte, insbesondere beim Rohmaterial Holz und Cellulose“66. Das ist sicherlich mehr als der Versuch der Experten, die eigene Existenz zu legitimieren. Holz blieb ein Naturprodukt, dessen Eigenschaften von lokalen Faktoren wie Klima, Boden und Forsttechnik abhingen. Der Umgang mit der Materialität und Uneinheitlichkeit des Holzes wurde zwar zum Alltagsgeschäft, es machte aber betriebliche und finanzielle Ressourcen und eine ausgefeilte Strategie erforderlich.67 Die Verknüpfung der Unternehmen mit ihrer naturalen Basis blieb insofern ein langfristiger Lern- und Anpassungsprozess. 4. UMWELT-INTEGRATION ALS FORSCHUNGSPERSPEKTIVE Betrachtet man die unter den Schlagworten Raumerschließung, Technisierung, Ressourcenmanagement und Wissensproduktion beleuchteten Herausforderungen und Strategien unternehmerischer Umweltnutzung, stellt sich zwangsläufig die Frage, inwiefern sich diese zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Oder sind sie letztlich nur jene Übergangs- und Randphänomene, als die sie oft dargestellt werden? Trotz – oder vielleicht auch wegen – der Heterogenität und Kontextabhängigkeit der einzelnen Beispiele ergeben die räumliche, materielle und organisatorische Ebene der Interaktion von Umwelt und Unternehmen aber unübersehbar einen 64 65 66 67

Vgl. Universitätsarchiv Dresden, Forstliche Hochschule Tharandt, Nr. B 715, Prof. Wislicenus an den Rektor, Tharandt 16.11.1927. C. M. Rosenhain: Holz-Cellulose in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Fabrikation und bisherigen Verwendung. Berlin 1878, S. 9. Hauptversammlung des Vereins der Zellstoff- und Papierchemiker und -Ingenieure, Berlin, 4.–6. Dezember 1930 (1931), S. 86. Vgl. zur Nutzungsgeschichte verschiedener Holzarten und -qualitäten auch Joachim Radkau: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt. München 2007.

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langfristigen Trend zur Intensivierung der Umweltbeziehungen. Als Akteure inkorporierten Unternehmen naturale Gegebenheiten in ökonomische Prozesse. Die Umwelt war von Beginn an Arena unternehmerischer Aktivitäten, ihre Bedeutung wuchs aber in dem Maße, wie wachsende Mengen an Rohstoffen transportiert und verarbeitet wurden, verstärkt Konflikte auftraten und dadurch ein größerer Regelungsbedarf entstand. Sie wurde organisatorisch und technisch verstärkt in das Unternehmen und seine Strukturen einbezogen. Dieser Beitrag wollte dies anhand verschiedener Aktivitäten aus der Papierindustrie aufzeigen. Als zentraler Aspekt der industriellen Praxis war die Umweltnutzung hier ein wichtiger Impuls für die Entstehung moderner Industrieunternehmen, die notwendige Managementkapazitäten und Institutionen der Technikentwicklung und der Wissensproduktion bereithielten. Dieser oft beschriebene Weg des Unternehmenswachstums erhält neue Facetten, wenn man der Umwelt eine aktive Rolle zuerkennt.68 Moderne (Groß-)Unternehmen als neue Organisationsform der Hochindustrialisierung entstanden dann nicht nur durch soziale oder ökonomische Vernetzung, sondern gerade auch durch ihre Verflechtung mit der naturalen Umwelt. In diesem Sinne bedeutete die Industrialisierung – und dies war die Ausgangsthese des Beitrags – keine Überwindung der Umwelt durch die Industrialisierung, sondern eine Ausweitung und Ausdifferenzierung der Umweltbeziehungen. Zumindest für die Papierindustrie kann nicht nur gezeigt werden, wie stark Fabriken seit der Industrialisierung in die Umwelt eingriffen und diese durch den Konsum naturaler Ressourcen oder die Emission von Abgasen und Abwässern veränderten. Moderne Industrieunternehmen sind hier zugleich Produzenten und Produkt der natürlichen Umwelt. Sie sind Ergebnis und Erzeuger von Raumnutzung und -wahrnehmung, sie sind Produzenten von Umweltveränderung (und -verschmutzung), die gleichzeitig von ihrer natürlichen Umwelt abhängig bleiben, und sie schaffen mit ihren organisatorischen Strukturen spezifische Formen der Umweltnutzung. Die ökologische Basis moderner Unternehmen zeigt sich somit in ihrer institutionellen Gestalt, die sie nicht zuletzt der Arbeit mit der naturalen Umwelt verdanken. Ressourcenmanagement und Umweltbeziehungen behielten im 19. und frühen 20. Jahrhundert diese Rolle als Impulsgeber der Organisation dauerhaft bei. Die Abwasserpolitik, der Papierholzhandel und die Rohstoffforschung sind Beispiele dafür, wie Probleme der Umweltnutzung Anstöße für organisatorische Innovationen gaben. Regelmäßig kam es zu Rückkopplungseffekten, die neue Anpassungsleistungen erforderten. Ein Eingriff in die natürlichen Verhältnisse war selten eine endgültige Problemlösung, sondern verlagerte Konflikte, Risiken und Kosten nur auf eine andere Ebene. Mit dem Umfang der Maßnahmen stieg ihre Anfälligkeit und Konfliktträchtigkeit. Die stärkere Internalisierung der Umwelt, d. h. ihre Einbeziehung ins Netzwerk des Unternehmens, führte also vor allem zu neuen, differenzierteren Verhältnissen. 68

Als „Klassiker“ wäre zu verweisen auf Alfred D. Chandler: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism. Cambridge/MA 1990; Ders.: Strategy and Structure. Chapters in the History of the Industrial Enterprise. Cambridge/MA 1962.

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Hier zeigen sich in der Geschichte der Papierindustrie die Grenzen der Ökonomisierung im Beharrungsvermögen der Natur. Ökologische Zusammenhänge waren zu vielfältig, um sie dauerhaft zu kontrollieren, und die Konstellationen zwischen Umwelt, Unternehmen und anderen Akteuren waren zu variabel, um statische Lösungen zu erlauben. Zwar dominierte im Selbstverständnis der Zeitgenossen das Motiv der Naturüberwindung, doch war dies immer nur eine Projektion in die Zukunft. Unternehmen waren keine perfekten „Rationalisierungsmaschinen“ oder „Umweltnutzungsmaschinen“. Einerseits beschleunigten Anpassungsleistungen die Umweltnutzung, weil die neuen institutionellen Arrangements einen stärkeren Zugriff auf die Natur ermöglichten und erzwangen, um die geschaffenen Kapazitäten effizient zu nutzen. Andererseits ließen sich Probleme und Widersprüche von Technisierung und Umwelt-Integration oft nur unzureichend überdecken. Diese Aspekte kommen in den gängigen Interpretationsmustern häufig zu kurz, die den Faktor Umwelt nur thematisch oder zeitlich begrenzt mit einbeziehen. Um dies zu verdeutlichen, hat der Beitrag den zu Beginn überblicksartig skizzierten Grundlinien der historischen Interpretation konkrete Beobachtungen der Unternehmensentwicklung gegenübergestellt. Die Papierindustrie erweist sich hier als gutes und schlechtes Beispiel zugleich. Viele Aspekte der Branchengeschichte sprechen dafür, Industrialisierung auch als neue Form der Umwelt-Integration in die Wirtschaftsweise zu verstehen. Durch neue Nutzungsmöglichkeiten und -strategien stieg die Komplexität der Mensch-Umwelt-Beziehungen, und dies sorgte für eine aktivere Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die herausgehobene Stellung der Rohstoffe Holz und Wasser in der Papierproduktion wirft jedoch gleichzeitig die Frage auf, inwiefern diese Beobachtungen verallgemeinert werden können und auch für andere Branchen, insbesondere die „neuen Industrien“ des späten 19. Jahrhunderts wie Elektro- und Chemieindustrie, gelten. Zweifelsohne handelt es sich bei der Papierfabrikation um einen Extremfall, in dem die Ko-Evolution von Umwelt und Unternehmen besonders prägnant zutage tritt, während sie in anderen Wirtschaftsbereichen deutlich indirekter verläuft. Dennoch sollte man die Papierindustrie nicht voreilig zum Sonderfall erklären. Keine Industriebranche ist gänzlich unabhängig von Infrastruktur-, Energie- oder Rohstofffragen. Sie betreffen auch Schlüsselbereiche der digitalen Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts, wie beispielsweise aktuelle Debatten um „Seltene Erden“ für die Herstellung von Elektronikbauteilen zeigen.69 Selbst wenn die Spielräume der Interaktion zwischen Umwelt und Wirtschaft kleiner geworden sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie unwichtig werden. Zudem geht es nicht darum, die Industrialisierung in ihrer Gesamtheit zu einem ökologischen Prozess zu machen und mit einem grünen Label zu versehen. Vielmehr zielt die Diskussion der Industrialisierung als Umwelt-Integration darauf ab, für die Relationalität von Umwelt und Wirtschaft zu sensibilisieren, ohne die Ergebnisse einer Neuinterpretation vorwegnehmen zu wollen. Der hier betonte offene Prozesscharakter stellt jene Konzepte in Frage, die auf einer Externalisierung von 69

Vgl. Christoph Brüning: Seltene Erden. Der wichtigste Rohstoff des 21. Jahrhunderts. 2. Aufl., Kulmbach 2013.

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Umweltfaktoren aufbauen. Solche Tendenzen wurden im ersten Teil dieses Beitrags mit Bezug auf Verschmutzungsgeschichte, den Energieregimeansatz und verschiedene Industrialisierungsmodelle herausgearbeitet, auch wenn sich die entsprechenden Ansätze nicht darauf reduzieren lassen. Diese Zuspitzung diente dazu, Denkanstöße zu geben, wie sich verschiedene Teilaspekte zu einem Gesamtbild verbinden lassen könnten. Dabei sollte zumindest deutlich geworden sein, dass das Erklärungspotential jedes Zugangs an Grenzen stößt. Es bleibt eine wichtige Aufgabe wirtschafts- und umwelthistorischer Forschung, diese Ansätze zusammenzudenken, zu kombinieren und zu erweitern. Eine stärkere Fokussierung auf Unternehmen als Akteure der Umwelt-Integration erscheint hier als eine Möglichkeit. Wenn man mit Markt und Unternehmen die beiden Makro-Institutionen betrachtet, die in der Wirtschaftsgeschichte vorwiegend diskutiert werden, handelt es sich im Kern um Institutionen der Umwelt- und Ressourcennutzung. Ob man den Fokus auf Wachstum, technische Innovation oder institutionellen Wandel legt, stets stellt sich die Frage nach der dynamischen Rolle der Umwelt in diesen Prozessen, die es immer wieder neu zu beleuchten gilt. In diesem Sinne kann die Umweltgeschichte der Industrialisierung – oder auch die Wirtschaftsgeschichte der industriellen Umweltnutzung – nicht als abgeschlossenes Forschungsgebiet betrachtet werden. Dabei scheint eine Überlegung zentral: Wenn die Aneignung der Umwelt durch das industrielle Produktionsregime nicht umfassend und dauerhaft erfolgte, muss sie historisch, d. h. in Abhängigkeit von zeitspezifischen Konstellationen, betrachtet werden. Um die Relationalität von Umwelt und Industrialisierung zu beschreiben, bedarf es einer Interaktionsgeschichte, die Natur nicht nur als Opfer oder passiven Zulieferer versteht. Zumindest erfordert es eine genauere Chronologie der industriellen Umweltnutzung. Die sich über Jahrzehnte erstreckende Durchsetzung von Papiermaschine und hölzernem Papier im 19. Jahrhundert spricht gegen einen revolutionären, d. h. plötzlichen Wandel im Umgang mit der Umwelt. Angesichts von zahlreichen kleinteiligen Verbesserungen entstand erst nach und nach ein neues Produktionsregime, das dann tatsächlich neue ökologische Ansprüche stellte. In diesem Sinne kann tatsächlich von einer „umwelthistorischen Sattelzeit um 1900“70 gesprochen werden, in der sich bekannte Problemlagen verdichteten und gleichzeitig langfristige Lösungsansätze etablierten. Aus diesem Grund stand die Phase der Hochindustrialisierung bis etwa 1930 im Mittelpunkt dieses Beitrags. Auch wenn damit die seither stattfindende Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung des industriellen Produktionsregimes ausgeblendet wurde, demonstriert der Blick in die Gegenwart die Aktualität dieser historischen Problemstellung. Die Strategien und Institutionen der unternehmerischen Umweltnutzung, die im 19. Jahrhundert entstanden, verfestigten sich zu langfristigen Nutzungsregimen, die bis heute organisatorische Probleme und Anpassungsschwierigkeiten aufwerfen. Möglicherweise besteht ein erster Fehler immer noch darin, die Umwelt nicht als Teil des Wirtschaftens zu verstehen, sondern als etwas, 70

Während Uekötter: Umweltgeschichte (wie Anm. 11), S. 23, diesen Begriff für die Regulierung von Verschmutzung vorgeschlagen hat, ist eine Neupositionierung für die gesamte industrielle Umweltnutzung festzustellen.

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das außerhalb der ökonomischen Sphäre liegen sollte. Nicht nur die klassischen Argumente der Wirtschaft, auch die Ideale der Umweltpolitik neigen häufig zu dieser Logik. Doch wer Umweltschutz durch eine Trennung der Sphären von Umwelt und Wirtschaft erreichen will, muss sich bewusst sein, dass ihr Verhältnis eine historisch gewachsene Wechselbeziehung gesellschaftlicher und ökologischer Prozesse darstellt. Die natürlichen Rahmenbedingungen der Ökonomie sind so kaum zu überwinden. Diese Einsicht bietet für sich keine Problemlösungen für die Gegenwart. In Bezug auf aktuelle Debatten zeigt sie aber, wie sehr die Orte, an denen wir nach Lösungen suchen, von unserem Verständnis der Vergangenheit geprägt sind. Dementsprechend könnte es neue Wege eröffnen, über die Rolle der Umwelt und die Begriffe, mit denen wir sie beschreiben, ständig neu nachzudenken – auch unter Historikerinnen und Historikern.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON MATHIAS MUTZ „Industrialisierung als Umwelt-Integration“ Franz-Josef Brüggemeier, Freiburg Mathias Mutz behandelt in seinem Beitrag ein Thema, das – zumindest in Deutschland – seit den ersten Veröffentlichungen zur Umweltgeschichte ein zentrales Thema war und ist: das Verhältnis von Umwelt und Industrialisierung. Hierzu liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, die eine Vielfalt von Aspekten behandeln. Darauf bezieht sich Mutz, möchte aber diesem etablierten Thema nicht nur einen weiteren Aspekt hinzufügen, sondern schlägt eine Neuorientierung vor: Er plädiert für eine „Interaktionsgeschichte, die Natur nicht nur als Opfer oder passiver Zulieferer versteht“, sondern sie auch als Akteur sieht (S. 212). Damit greift er einen Ansatz auf, der aktuell in den internationalen Umweltdebatten intensiv diskutiert wird und sowohl fasziniert als auch etwas ratlos macht. Faszinierend ist der damit verbundene Perspektivwechsel, Umwelt und Natur nicht nur als Opfer menschlicher Eingriffe, sondern auch als Akteure zu sehen. Zugleich ruft dieser Zugriff eine gewisse Ratlosigkeit hervor, denn unstrittig verhalten sich Natur und Umwelt nicht nur passiv, sondern zeigen Reaktionen, folgen eigenen Logiken und können zudem agieren – besonders offensichtlich im Fall von Stürmen, Überschwemmungen und anderen „Naturkatastrophen“. Es gibt Gründe, sie als Akteure zu bezeichnen, jedoch in einem begrenzten Sinne, denn fraglos handelt es sich bei ihnen nicht um selbständig handelnde Subjekte, die eigene Überlegungen und Ziele verfolgen oder gar darüber reflektieren. Als Einstieg in diese Debatte bietet der Beitrag von Mathias Mutz zuerst einen knappen Überblick über zentrale Ansätze der Umweltgeschichtsschreibung, darunter die so genannte Verschmutzungsgeschichte, die Untersuchung von Energie- und Stoffströmen und die Bedeutung von Umweltfaktoren als prägende Elemente der Industrialisierung. Die Ausführungen hierzu fallen notgedrungen knapp aus, bieten aber einen guten Abriss. Mutz weist ausdrücklich darauf hin, dass bei diesen Ansätzen Vorwürfe einer Schwarz-Weiß-Malerei bzw. einer einseitigen Darstellung nur im Einzelfall zutreffend seien. Vorherrschend seien differenzierte Argumentationen, so dass kein Anlass für revisionistische Neuinterpretationen bestehe, wie sie vor allem Frank Uekötter fordert (S. 195). Um die Argumentation an Beispielen zu verdeutlichen, greift er auf die Papierindustrie zurück. Hiervon ausgehend kann er u. a. zeigen, dass das viel zitierte und beklagte Prinzip der Externalisierung von Umweltbelastungen auf natürliche Grenzen stieß, da Betriebe durch Emissionen ihre eigene Produktionsgrundlage gefährdeten. Generell ist diese Industrie ein gutes Beispiel dafür, wie groß die Bedeutung naturaler Faktoren im Untersuchungszeitraum (bis ca. 1930) blieb. Das betraf nicht

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nur die Abhängigkeit vom Holz als zentralem Rohstoff für die Papierherstellung, sondern auch die Bereitstellung von genügend Wasser, eine gute Verkehrsanschließung oder Techniken bzw. Produktionsverfahren, die sich auf naturale Faktoren einlassen mussten. Diese Ausführungen sind weithin überzeugend und veranschaulichen, wie die vom Verfasser postulierte Interaktionsgeschichte umgesetzt werden kann. Allerdings werfen sie einige Fragen auf. Dass in der Papierindustrie die Ressourcen Holz und Wasser und damit die Faktoren Natur und Umwelt zentrale Bedeutung besaßen, ist nicht überraschend. Zeitgenossen waren diese Zusammenhänge bekannt, und spätere Historikerinnen und Historiker haben ihnen wohl nicht immer die erforderliche Beachtung geschenkt und stattdessen Technik, Betriebsorganisation oder Infrastrukturen weitgehend losgelöst davon behandelt. Hierauf geht der Beitrag aber nicht näher ein. Entsprechend würde die Argumentation von Mutz keine grundlegende Neuerung bedeuten, sondern auf ein vorübergehendes Defizit verweisen – was allerdings ebenfalls eine wichtige Aufgabe von historischen Untersuchungen ist. Schwerer zu beantworten ist die Frage, inwieweit die Beobachtungen zur Papierindustrie auf die Bereiche übertragen werden können, die deutlich weniger von naturalen Faktoren abhingen. So lässt sich nicht bestreiten, dass mit Kohle und Transport natürliche Standortfaktoren massiv an Bedeutung verloren; dass natürliche Ressourcen austauschbar wurden oder zunehmend durch Substanzen ersetzt wurden, die Menschen durch Fortschritte in Wissenschaft und Technik selbst erschufen. Genannt seien die synthetischen Farbstoffe, die nach 1850 entstanden, die Medikamente, die kurz danach aufkamen, oder die Petrochemie mit ihren zahllosen neuen Verbindungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen beeindruckenden Aufschwung erlebte. Hier gibt es Beispiele dafür, dass „die“ Natur als Akteur handelte, wenn etwa Bakterien oder Insekten Resistenzen entwickelten oder aktuell Plastikabfälle erhebliche Eingriffe in Ökosysteme verursachen. Doch wie hilfreich es ist, hier von Akteuren zu sprechen, muss sich noch erweisen. Die bisher vorliegenden Veröffentlichungen besitzen einen vorwiegend programmatischen Charakter und verweisen auf die Möglichkeiten dieses Ansatzes, während empirisch gesättigte Studien noch weithin ausstehen. Hier hilft der Beitrag von Mutz nur beschränkt weiter. Das von ihm gewählte Beispiel der Papierindustrie ist auf den ersten Blick aussagekräftig, verkörpert tatsächlich aber einen traditionellen Umgang mit naturalen Faktoren. Durch die Industrialisierung erreichte der Umgang damit eine neue Quantität, doch die interessanteren und perspektivisch wichtigeren Entwicklungen fanden auf den Gebieten statt, wo zunehmend versucht wurde, die grundlegenden Bestandteile der natürlichen Faktoren zu analysieren, sie nachzumachen, anschließend durch Synthese zu ersetzen und schließlich ganz neue Substanzen zu schaffen, die in der Natur nicht vorkommen. Nach und nach entstanden Mischungsverhältnisse, die seit einiger Zeit unter dem Begriff der Hybridität diskutiert werden. Folglich hat es die Industrialisierung nicht vermocht (und auch nicht versucht), sich von der naturalen Umwelt zu lösen (S. 192 f.). Das Ziel bestand und besteht vielmehr darin, sie besser zu verstehen, sie zu nutzen und immer neue Beziehungen zu ihr einzugehen.

Korreferat zum Beitrag von Mathias Mutz

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Für diese Entwicklungen und Debatten bietet der Beitrag von Mutz einen Einstieg. Doch letztlich ist das von ihm gewählte Beispiel von begrenzter Aussagekraft und geht auf neuere Entwicklungen kaum ein. Gelegentlich finden sich auch ungewöhnliche Begrifflichkeiten, wenn etwa bestehende Infrastrukturen, die kaum zu verändern sind, deshalb als feste, „quasi-natürliche“ Gegebenheiten bezeichnet werden (S. 204). Zusammenfassend bedeutet es eine faszinierende Herausforderung, die dynamische Rolle der Umwelt in unseren Überlegungen, Debatten und Untersuchungen zu berücksichtigen. Doch es bleibt noch viel zu tun, bis dafür überzeugende Beispiele vorliegen.

ÖKOLOGISCHE ASPEKTE DER WIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG IN DER TSCHECHOSLOWAKEI 1948 BIS 1989 Jana Geršlová, Ostrava EINLEITUNG Die Bedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik wurden sehr stark durch die geopolitische Ordnung Europas nach 1945 beeinflusst. Die Tschechoslowakei, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu den höchst entwickelten Staaten der Welt mit einem hohen Anteil an verarbeitender Industrie gehörte, konzentrierte sich im Rahmen des „Ostblocks“ vorwiegend auf die Schwerindustrie, d. h. das Hütten- und Kokereiwesen, die Industriechemie und den Schwermaschinenbau. Der enorme Energiebedarf dieser Industrien wurde überwiegend durch Braunkohlekraftwerke befriedigt. Neben extremen Emissionen von Luftschadstoffen hatte dies zur Folge, dass sich weite Teile der Landschaft durch den Braunkohletagebau veränderten. Ähnlich verhängnisvoll waren die Auswirkungen des Sozialismus sowjetischen Typs auf die Landwirtschaft: Es kam zur Schädigung der agrarischen Infrastruktur und zum übermäßigen Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Obwohl einige Teile der Umwelt durch stufenweise erlassene Gesetze und Verordnungen formal geschützt wurden, hatte die Steigerung der industriellen bzw. landwirtschaftlichen Produktion oberste Priorität. Bei Kollision von Unternehmerinteressen und Umweltfragen wurde der Umweltschutz sehr häufig mittels gesetzlicher Ausnahmeregelungen umgangen. Zwar wurden einerseits Nationalparks und Naturschutzgebiete eingerichtet, andererseits jedoch bis 1982 keines der tschechischen Braunkohlekraftwerke mit einer Entschwefelungsanlage ausgestattet – und die Wälder wurden auch in den geschützten Gebieten stark durch Immissionen geschädigt. Die zerstörerischen Einflüsse der Umweltverschmutzung nahmen in den 1970er und 80er Jahren greifbare und deutlich sichtbare Formen an: Jeder, der durch das Erzgebirge fuhr, sah die abgestorbenen Bäume. Auch war es unwahrscheinlich, dass die Besucher der Stadt Aussig (Ústí nad Labem) die unnatürliche Farbe des Flusses nicht bemerkten, und die vom Braunkohletagebau geprägten Gebiete bezeichnete man schon damals als „Mondlandschaft“. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war sich die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung bewusst, dass mit ihrer Umwelt etwas nicht in Ordnung war. Dem Umweltschutz wurde jedoch erst 1989, im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, eine wichtige Bedeutung beigemessen.

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UMWELT IM ZEITRAUM 1949–1968 In der Tschechoslowakei machten sich nach 1945 allmählich die ökologischen Probleme als Folge der veränderten wirtschaftlichen und der gesamtgesellschaftlichen Strukturen bemerkbar. Gleichzeitig versuchte der Staat – mehr oder weniger erfolgreich – gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, um die ungünstige Entwicklung zu bremsen. Mehrere Grundfaktoren determinierten den Zustand der Umwelt nach 1948: die sektorale Struktur der Volkswirtschaft, vor allem der Industrie, der Landwirtschaft und des Verkehrswesens; das technische Niveau der Wirtschaft und die Ausstattung der Haushalte; die ungleichmäßige räumliche Verteilung der Produktion und Siedlungsstruktur; der Wissensstand bezüglich ökologischer Probleme bzw. das jeweilige gesellschaftliche Klima, das der Lösung dieser Probleme mal mehr, mal weniger zugeneigt war; das Niveau und die Effizienz der Umweltpolitik. Die nach 1948 begonnene Wirtschaftspolitik führte zu einer Steigerung der ökologischen Belastung des Landes. Zeitgleich mit der weiteren Konzentration der Produktion in den bereits industrialisierten Regionen expandierte die Industrie auch in die bislang agrarisch geprägten Gebiete. Mit der dynamischen Entwicklung der Industrie setzte sich zugleich die Tendenz durch, die ökologisch problematischsten Industriezweige zu bevorzugen: Bergbauindustrie, Energie- und Hüttenwesen, Schwermaschinenbau und Großchemie.1 Zudem beeinflussten die Umwelt auch Erscheinungen, die mit dem Übergang zur landwirtschaftlichen Großproduktion sowie mit der Urbanisierung und Entwicklung des Autoverkehrs verbunden waren. Die Stellung der Tschechoslowakei nach 1948, ihre wirtschaftliche Aufgabe in der Gruppe der osteuropäischen Länder mit der dominanten Position der UdSSR und autarke Tendenzen in den 1950er Jahren führten zu einigen Deformationen der sektoralen und territorialen Struktur der Wirtschaft. Dies hatte größere ökologische Folgen, als wenn es in einer anderen historischen Konstellation geschehen wäre. Die direktive Steuerung der Wirtschaft mit einer quasi Alleinvertretung des Staatsund Genossenschaftseigentums bestimmte zugleich die Auswahlmöglichkeiten und den Einsatz der Instrumente bei der Lösung der entstehenden ökologischen Probleme. In den volkswirtschaftlichen Plänen waren die Aufgaben, die mit dem Umweltschutz verbunden waren, nicht gebündelt, sondern auf verschiedene Bereiche2 verteilt. Die oberste Maxime, die Industrieproduktion und die Mengenkennziffern rasch zu steigern, drängte nicht nur den Aspekt der Produktqualität in den Hinter1

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Ökologische Folgen der Industrialisierung der Slowakei behandelt der Aufsatz von M. Barnovský: Industrializácia Slovenska a životné prostredie v období komunistického režimu (Industrialisierung der Slowakei und Umwelt in der Zeit des kommunistischen Regimes), in: AOP, Nr. 7/2007. Schadstoffemissionen gab es überwiegend in Orten mit Kohlengruben, Kraftwerken und Chemiebetrieben (Pressburg/Bratislava, Krickerhau/Handlová, Nováky, Sillein/ Žilina). Des Weiteren zählten die Umgebung von Magnesitbetrieben (u. a. Jeltschau/Jelšava, Lubeník), Zementfabriken und Aluminiumfabriken in Heiligenkreuz (Žiar nad Hronom) zu den betroffenen Gebieten. Eine Gemeinde unweit von Heiligenkreuz/Žiar nad Hronom – Apelsdorf an der Gran/Horné Opatovce mit mehr als eintausend Einwohnern – musste in den Jahren 1963–1969 wegen Gesundheitsgefährdung sogar evakuiert werden. Als selbstständige Liste von Investitionsaktionen tauchten diese erst seit dem 6. Fünfjahresplan (1976–1980) auf.

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grund, sondern auch die Schonung der Umwelt spielte bei der Produktion keine Rolle. Obwohl damals noch nicht als solche bezeichnet, traten „ökologische Probleme“ in der Tschechoslowakei sehr früh auf. Schon Mitte der 1950er Jahre spürte man, eher unbewusst und wohl vor allem aufgrund empirischer Erfahrungen, dass es notwendig sein würde, in irgendeiner Weise mit dem Schutz der Natur bzw. der Umwelt im weiteren Sinne zu beginnen. Die Form der sozialistischen Wirtschaft, die sich in der Tschechoslowakei nach 1948 herausgebildet hatte, baute ihr eigenes System des Umweltschutzes auf. Dieses System setzte sich aus verschiedenen Institutionen mit eingeschränkten Kompetenzen, begrenzter Verantwortung und Arbeitsteilung zusammen, die vielfältige Instrumente ökologischer Politik anwandten. Es schlug sich in Rechtsnormen nieder, deren Inhalt einerseits von einem gewissen Umdenken im „ökologischen Bewusstsein“ der Gesellschaft in dieser Zeit und andererseits vom Streben zeugte, sich der zunehmenden Umweltverschmutzung entgegenzustellen. Das Ergebnis dieser Bemühungen fiel jedoch bescheiden aus. Die Gesetzgebung blieb lückenhaft, die Rechtsnormen besaßen in der Gesellschaft nicht die erforderliche Autorität und somit auch keine Akzeptanz, und in der Praxis umgingen sowohl die Betriebe als auch der Staat selbst häufig diese Auflagen und Bestimmungen. Es machte sich vor allem ein strukturelles Problem bemerkbar: So gab es kein spezielles Organ, dessen Haupttätigkeitsfeld der Schutz der Umwelt bzw. von Teilen der Umwelt gewesen wäre, und zwar weder auf der gesamtstaatlichen noch auf der Landkreis-, Bezirks- oder Gemeinde-Ebene.3 Anstatt eines solchen speziellen Organs wurde ein System der Beauftragung geschaffen, in dem einige Institute der Staatsverwaltung neben ihren Kernaufgaben auch für einen bestimmten Bereich der Umweltproblematik verantwortlich waren. Die Aufträge wurden jedoch erst dann erteilt, wenn das Problem schon unübersehbar war und dringend gelöst werden musste. Die Organisationsstruktur des Umweltschutzes war infolgedessen bis zum Ende der 1960er Jahre zersplittert. Zudem betraf sie nur solche Bereiche, die eine wirtschaftliche Bedeutung hatten (Wasser, Bodenschätze, Wälder) oder bereits ernsthafte Beeinträchtigungen aufwiesen (Luft). Einer der ersten bedeutenden Schritte der Ökologiepolitik in der Nachkriegszeit war die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 40/1956 Slg.4 Das Gesetz, „Umweltschutzgesetz“ genannt, konzentrierte sich vor allem auf den staatlichen Schutz ausgewählter Landschaftsteile – von den Nationalparks bis zur untersten Ebene der geschützten Objekte, frei lebende Tiere und wild wachsende Pflanzen.5 Auf der 3 4 5

Bis zum Jahr 1971 wurde die Funktion dieses Organs zum Teil durch die Räte für Umweltschutz ersetzt, die als Beratungs-, Koordinierungs- und initiatives Organ der Regierungen der beiden Teilrepubliken der ČSSR fungierten. Ursprünglich war es Nr. 70/1956 Sb., VLÁDNÍ NAŘÍZENÍ ze dne 4. prosince 1956, kterým se provádí zákon č. 11/1955 Sb., o vodním hospodářství; 40/1956 Sb. ZÁKON ze dne 1. srpna 1956 o státní ochraně přírody. Es regelte auch die Bedingungen für größere Eingriffe in Landgebiete. So mussten die Stellungnahmen von Organen des staatlichen Naturschutzes beim Bau von Gebäuden bzw. technischen Anlagen und dem Abbau von Bodenschätzen, des Weiteren in der Industrie, Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Wasserwirtschaft beachtet werden.

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Grundlage des Gesetzes Nr. 4/1952 Slg.6 – „über den hygienischen und epidemiologischen Dienst“ – agierte der hygienische und epidemiologische Dienst auf der Ebene der Kreise und der Bezirke. Seine Tätigkeit wurde 1966 durch das „Gesetz über die Pflege des Gesundheitszustands vom Volk“ (Nr. 20/1966 Slg.)7 und eine Verordnung über die Errichtung und den Schutz der gesunden Lebensbedingungen aus demselben Jahr näher geregelt. Der Generalbeauftragte für Hygiene führte auf dieser Grundlage Grenzwerte für die zulässige Konzentration von Schadstoffen in der Luft ein. In den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung fiel die Kontrolle der Lebensmittelqualität und der landwirtschaftlichen Produktion. Andere ökologisch relevante Rechtsnormen betrafen den Schutz von Wasserquellen, des Bodenfonds und der Wälder, auch regelten sie den Bau bzw. Betrieb von Abwasserkläranlagen und die Nutzung des Rohstoffreichtums. UMWELT IM ZEITRAUM 1969–1989 Die frühen 1970er Jahre stellten auf dem Gebiet des Umweltschutzes eine bedeutende Wende dar, und zwar sowohl in der Tschechoslowakei als auch im weltweiten Maßstab. Ökologische Probleme in den entwickelten Ländern und Auswirkungen der gesamtweltwirtschaftlichen Entwicklung gewannen bereits in dieser Zeit einen unübersehbar globalen Charakter. In Fachkreisen sprach man über den Beginn einer weltweiten ökologischen Krise. Damit einhergehend wurden internationale Kontakte geknüpft, die dem globalen Charakter der ökologischen Probleme entsprachen. In der Tschechoslowakei zeigte sich Anfang der 1970er Jahre, dass die bis zu dieser Zeit getroffenen Maßnahmen nicht dazu geeignet waren, der Umweltverschmutzung adäquat entgegenzuwirken. In der Ökologiepolitik setzte sich schrittweise eine komplexere Vorgehensweise durch. Ein wichtiger Impuls, die vorige Zersplitterung zu überwinden, ging vom Übergang zur föderativen Staatsordnung aus8, womit das System der zentral gesteuerten Organe umgebaut wurde. Im Rahmen der Kompetenzverteilung zwischen den föderativen und den Institutionen der Teilrepubliken kamen auch neue Lösungen durch eine organisatorische Gewährleistung der Umweltpflege zur Anwendung. Die Föderative Versammlung der Tschechoslowakei verabschiedete Umweltschutzgesetze, die in der gesamten Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) gültig waren. Darüber hinaus verabschiedete sie die Fünfjahrespläne sowie den Staatshaushalt, die jeweils einige ökologische Maßnahmen enthielten. Seit dem Jahr 1974 war die Regierungskommission der ČSSR für Umwelt tätig. Dieses Beratungs- und Koordinierungsorgan wurde im Jahre 1983 in eine der Arbeitskommissionen der neu errichteten Staatskommission für wissenschaftlich-technische Investitionsentwicklung umgewandelt. Auf der föderalen Ebene wirkte auch das Amt für Normierung, Standardisierung und Vermessung, dessen Tätigkeit zur Feststellung des damaligen Zustan6 7 8

4/1952 Sb. ZÁKON ze dne 28. března 1952 o hygienické a protiepidemické péči. 20/1966 Sb. ZÁKON ze dne 17. března 1966 o péči o zdraví lidu. Am 1.1.1969 wurde die Tschechoslowakei eine Föderation zweier Staaten – der Tschechischen föderativen und der Slowakischen föderativen Republik.

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des der Umwelt beitrug. Die Tschechoslowakische Kommission für Atomkraftenergie verfügte seit dem Jahr 1973 über die Befugnis, allgemein verbindliche Rechtsvorschriften über die Atomsicherheit zu erlassen und auf diesem Gebiet eine internationale Zusammenarbeit zu garantieren. Weitere föderale Institute, die mit ihrer Tätigkeit das Thema Umweltschutz berührten, waren die Staatsplanungskommission und die einzelnen föderalen Ministerien. All diese Organe hatten zahlreiche andere Aufgaben, die mit dem Umweltschutz häufig nicht in Einklang standen, und ökologische Angelegenheiten spielten für sie oft nur eine untergeordnete Rolle. Aufgaben des Umweltschutzes wurden vor allem auf die beiden Nationalrepubliken übertragen. Die ökologischen Gesetze, die jeweils vom Tschechischen Nationalrat bzw. vom Slowakischen Nationalrat erlassen wurden, glichen sich nahezu völlig. Die Unterschiede im Inhalt waren minimal; ein wenig mehr unterschieden sich die Durchführungsverordnungen. Die höchsten Exekutivorgane des Umweltschutzes waren die Regierungen der Republiken. Sie entschieden über die Maßnahmen, die die Umweltqualität beeinflussten. Anfang der 1970er Jahre errichteten beide Regierungen so genannte Umweltbeiräte9, die Beratungs-, Koordinierungsund Initiativfunktionen erfüllten, allerdings nur über eine geringe Anzahl von Mitarbeitern verfügten. In einem gewissen Maße ersetzten sie das fehlende Zentralorgan zum Umweltschutz. Die Ministerien für Finanzen der Teilrepubliken befassten sich (wenn es nicht im föderalen Zuständigkeitsbereich lag) mit der Finanzierung von wichtigen ökologischen Maßnahmen und mit der Aufsicht über die zweckgebundenen Republikfonds der Wasserwirtschaft und der Bodenrekultivierung. Gleich mehrere Republikministerien widmeten sich unterschiedlichen Bereichen des Umweltschutzes: das Ministerium für Wald- und Wasserwirtschaft den Wäldern, dem Wasser und der Luft, das Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung dem agrarisch genutzten Boden, das Kulturministerium den Naturschutzgebieten und der Denkmalpflege und das Innenministerium den festen kommunalen Abfällen. Schließlich war das Ministerium für Gesundheit dafür zuständig, gesunde Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu schaffen und Maßnahmen gegen Lärm zu treffen. Die Bergbauämter der Republik beschäftigten sich mit der Problematik der Bodenschätze. Um das Gebiet des Arbeitsumfelds kümmerte sich das Arbeits- und Sozialministerium. Auf der Ebene der gesamten föderativen Republik arbeiteten zwei Kontrollorgane – die Staatliche Inspektion für Wasserwirtschaft und die Technische Inspektion der Luftqualität. Beide Inspektionen waren den Republikministerien für Waldwirtschaft und für Wasserwirtschaft untergeordnet. Weitere Staatsorgane sahen den Umweltschutz als eher nebensächlich an, wenn es zur Kollision mit Produktions- oder anderen höherrangigen Interessen kam.10 Wenn die Aufgaben der 9 10

Diese Räte verfügten über keine Exekutivbefugnisse. Obwohl sie im Rahmen des Umweltschutzes eine bedeutende positive Rolle spielten, waren ihre Möglichkeiten, ökologische Politik zu realisieren, nur begrenzt. Der Planungsprozess verlief auf folgende Weise: In der Vorbereitungsphase übergaben die Verschmutzer den Zentralorganen Unterlagen zur voraussichtlichen Entwicklung der Verschmutzung. Zugleich formulierten sie Forderungen hinsichtlich der Einordnung von ökologischen Maßnahmen (überwiegend Investitionsmaßnahmen) in den volkswirtschaftlichen Plan des

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volkswirtschaftlichen Pläne im Widerspruch zu den Interessen des Gebietsschutzes standen, gerieten die Organe der Gebietsplanung in die Position des Schwächeren, der hinter den höheren Interessen zurücktreten musste. Dies bedeutete in mehreren Fällen, dass auf dem entsprechenden Territorium Aktivitäten zugelassen wurden, die die Umwelt weiter schädigten. Zur Finanzierung des Umweltschutzes standen in jeder der beiden Teilrepubliken zwei zweckgebundene staatliche Fonds, für Wasserwirtschaft und für Bodenrekultivierung, bereit. Die Republikministerien für Waldwirtschaft und Wasserwirtschaft verwalteten zudem den Fonds für den Schutz der Luftqualität als einen selbstständigen Fonds. Er hatte zwar nicht den Charakter eines staatlichen Fonds, wurde aber in analoger Weise verwendet. Aus den Haushalten der Landes-, Bezirks-, Gemeinde- und Ortsnationalausschüsse wurden lokale Projekte wie der Aufbau der städtischen Abwasserkläranlagen und Heizkraftwerke, die Regelung der örtlichen Verkehrswege sowie die Erweiterung und die Pflege von Grünflächen gefördert. Alle Finanzquellen reichten jedoch nicht für einen flächendeckenden Umweltschutz aus, so dass das System seit den 1970er Jahren durch Gebühren und Geldstrafen ergänzt wurde. Einen großen Teil dieser Gelder erhielten die Nationalausschüsse, die sie jedoch häufig zu anderen als zu ökologischen Zwecken verwendeten. Zudem schaffte man es in vielen Fällen nicht, die Finanzmittel für Umweltschutz auszugeben – es waren schlichtweg nicht genügend Kräfte vorhanden, um die Aufgaben umsetzen zu können. Die Funktion ökonomischer Anreize, die zur Erfüllung oder Durchsetzung ökologischer Ziele führen sollten (wie eine Gebührenerhebung bei Luftverschmutzung oder Abgaben für Bodenentzug zulasten der landwirtschaftlichen Produktion), war es, entsprechende Initiativen z. B. in den Betrieben zu erhöhen oder umgekehrt ökologisch unpassendes Handeln aufzuzeigen (z. B. Bestechungsgelder in der Wasserwirtschaft).11 Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Umweltschutz ermittelte man entweder aufgrund der allgemein geltenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches bzw. des Wirtschaftsgesetzbuches oder nach besonderen Vorschriften. Das Bürgerliche Gesetzbuch Nr. 40/1964 Slg. (nach Gesetzesnovellen in

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Staates. Die Organe beurteilten die zusammengestellten Unterlagen und ausgewählten Maßnahmen mit Haushaltskosten über zwei Millionen Tschechoslowakische Kronen (seit dem Jahr 1986 über fünf Millionen Kčs) und ordneten sie in den Investitionsteil des Plans in Form eines selbstständigen Verzeichnisses der Investitionen zum Umweltschutz ein. Es ging vor allem um diejenigen Maßnahmen, für die Finanzmittel aus zentralen Quellen gewährt wurden. Bei der Wahl mussten jedoch die in Frage kommenden und besprochenen Investitionen oft zu Gunsten anderer Investitionen zurücktreten, an denen die Ressorts vorzugsweise interessiert waren. Überdies flossen eine Reihe der geplanten Maßnahmen verspätet oder überhaupt nicht mehr in den Fünfjahresplan ein. Der Grund dafür lag eher an fehlenden Finanzmitteln als am Mangel an Lieferkapazitäten. Kritisiert wurde auch die geringe Effektivität einiger Maßnahmen. In Fällen, die einzelne Personen betrafen, erteilten die Wirtschaftsorganisationen ihren Angestellten spezielle Sonderzahlungen oder Prämien, oder sie kürzten umgekehrt die Sonderzahlungen. Vornehmlich bei Havarien verlangten sie Ersatz für die verursachten Schäden (nach den damaligen arbeitsrechtlichen Vorschriften war deren Höhe in der Regel maximal das Dreifache des durchschnittlichen Monatslohns). Bei langfristigen Umweltzerstörungen mussten gewöhnlich keine Einzelpersonen haften, eine individuelle Verantwortung wurde nicht konkretisiert.

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voller Fassung Nr. 70/1983 Slg.)12 regulierte den Schadensersatz auch in den Fällen, in denen einzelnen Bürgern Schäden durch Organisationen entstanden waren, z. B. wenn Trinkwasserbrunnen verschmutzt oder die Ernte durch falsch durchgeführte Flugzeugberegnung mit Pestiziden vernichtet wurde. Theoretisch konnten die Bürger von den Organisationen auch Ersatz für gesundheitliche Schäden fordern, die durch langfristige Schädigungen ihrer unmittelbaren Umwelt hervorgerufen worden waren. In der Regel wurde jedoch lediglich Schadensersatz aufgrund einmaliger Unglücksfälle oder Havarien zugestanden. Für die sozialistischen Organisationen galten die Schadensersatzregelungen nach dem Wirtschaftsgesetzbuch Nr. 109/1964 Slg. (nach Gesetzesnovellen in voller Fassung nach dem Gesetz Nr. 45/1983 Sgl.)13. Die Geldstrafen waren Strafen für die Verletzung der Rechtsvorschriften. Die Möglichkeit, sie geltend zu machen, sollte potentielle Umweltstörer und -verletzer abschrecken. Die Voraussetzungen für die Verhängung von Geldstrafen wurden schrittweise durch eine Reihe von Rechtsvorschriften festgelegt. Das bestrafte Subjekt wurde verpflichtet, den verursachten Schaden zu bezahlen oder Sanktionszahlungen zu entrichten. Die Höhe der Strafen wurde in den älteren Rechtsnormen mit einer genauen Summe festgesetzt, später in der Form von Mindest- und Höchstsätzen. In der Praxis orientierten sich die Geldstrafen jedoch meist an der Untergrenze. Im Jahr 1985 verabschiedete die Regierung der ČSSR die „Grundsätze der Staatskonzeption der Schaffung und des Schutzes der Umwelt und der rationellen Ausnutzung von Naturressourcen“. Überdies bestimmte sie, diese Grundsätze in Bereichs- und Gebietskonzeptionen auszuarbeiten. Auf dieser Grundlage wurden erstmals Aufgaben und zeitlicher Rahmen für die Reduktion der Umweltverschmutzung verbindlich festgelegt.14 WASSER ALS UMWELTFAKTOR Die rasche Industrialisierung, die Konzentration der landwirtschaftlichen Produktion und der steigende Anteil der Bevölkerung, der an die öffentliche Wasserversorgung und die öffentliche Kanalisation angeschlossen war, hatten nach 1948 zur Folge, dass die Qualität der Wasserquellen (des Grund- und Oberflächenwassers) abnahm.15 Der ungünstige Trend bei der Entwicklung von Wassermenge und -qua12

13 14

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40/1964 Sb.Občanský zákoník ze dne 26. února 1964; Ergänzung dazu war 70/1983 Sb., PŘEDSEDNICTVO FEDERÁLNÍHO SHROMÁŽDĚNÍ vyhlašuje úplné znění občanského zákoníku ze dne 26. února 1964 č. 40 Sb., jak vyplývá ze změn a doplnění provedených zákonem ze dne 5. června 1969 č. 58 Sb. a zákonem ze dne 9. listopadu 1982 č. 131 Sb. 109/1964 Sb.HOSPODÁŘSKÝ ZÁKONÍK ze dne 4. června 1964. Hierzu ausführlich: Vybrané stati z historie péče o životní prostředí na území ČSR (Ausgewählte Aufsätze aus der Geschichte der Umweltpflege auf dem Gebiet der Tschechoslowakischen Republik). Praha: Rada pro životní prostředí při vládě ČSR (Rat für Umwelt bei der Regierung der Tschechoslowakischen Republik) 1988, S. 142. Mit Blick auf den jeweiligen Verbraucher wurde die Qualität des Wassers in der Tschechoslowakei in drei Typen klassifiziert: Trinkwasser (Parameter wurden durch die tschechoslowakische Staatsnorm festgelegt), Betriebswasser (es konnte mit dem Menschen in Kontakt kommen, aber es durfte nicht getrunken werden) und übriges Wasser.

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lität hing z. B. mit der Inbetriebnahme großer Funktionseinheiten zusammen, die die Wasserquellen verschmutzten. Angesichts der Versorgungsschwierigkeiten erfüllte ungefähr die Hälfte der Wassermenge, die als Trinkwasser verwendet wurde, in Bezug auf den Gehalt an Nitraten die Kriterien für Trinkwasser nicht. In den 1950er Jahren wurde der Bau von Talsperren, die vor allem dazu dienen sollten, den Energiebedarf der Industrie zu befriedigen, vorangetrieben. Dies bedeutete einen massiven Eingriff in die wasserwirtschaftlichen Verhältnisse der Landschaft. Zur gleichen Zeit stieg mit fortschreitender Industrialisierung die Wasserverschmutzung in den Flüssen und Wasserreservoirs. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wirkten sich die Folgen der Vernachlässigung des Ausbaus der Wasserleitungen und der Kanalisation, der geringeren Anzahl von neu errichteten Abwasserkläranlagen und der Erweiterung von Beregnungssystemen in der Landwirtschaft deutlich aus.16 Die Probleme des Wassermangels wurden in einigen Regionen zudem von Eingriffen des Menschen in die Natur begleitet. Zum einen kam es häufiger zu Hochwassern, Überflutungen und Überschwemmungen in denjenigen Gebieten, in denen es früher solche Probleme nicht gegeben hatte. Zum anderen traten diese Ereignisse in den regelmäßig überschwemmten Gebieten in einer weitaus stärkeren Intensität auf. 1949 entschied die Regierung, den Staatswasserwirtschaftsplan vorzubereiten. Seine Grundsätze wurden 1954 genehmigt. Im Jahr darauf folgte das Gesetz Nr. 11/1955 Slg. über Wasserwirtschaft17 und zwei Jahre später die Richtlinie über die Qualität des Oberflächenwassers18. In den Jahren 1958 bis 1960 führte die Regierung eine Reihe von Maßnahmen zum Gewässerschutz durch; 1960 wurde die Staatsinspektion für Wasserwirtschaft errichtet. In den 1970er und 80er Jahren setzte sich die ungünstige Entwicklung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse fort: Der Zugriff auf Grund- und Oberflächenwasser stieg weiter an, die Böden wurden durch Chemikalien aus der Landwirtschaft und der Produktion kontaminiert, Unreinheiten und Schmutz drangen aus den Müllablagerungsstellen und aus den Fahrwegen ins Wasser, und das verunreinigte Wasser aus der Beregnung sickerte ins Grundwasser ein. Aufgrund der geografischen Lage der Tschechoslowakei strömte fast das gesamte verschmutzte Oberflächenwasser in die Nachbarländer ab. Dieser zunächst scheinbare Vorteil wurde in den 1980er Jahren zu einem internationalen Problem, weil diese gegen die Verschmutzung immer schärfer protestierten und auf deren Beseitigung drängten. Auch das Spektrum von Verschmutzungsstoffen im Wasser erweiterte sich, von relativ einfach abbaubaren „klassischen“ Stoffen bis hin zu gefährlicheren Formen der Verunreinigung. Darüber hinaus war die Selbstreinigungskraft der Flüsse nicht groß genug, um Schwermetalle, giftige Chemikalien, aber auch Viren und Bakterien zu beseitigen. Die Entwicklung und Installation moderner Kläranlagen-Technologien reichten jedoch nicht aus, um diese Probleme zu lösen. Daher widmete man der Wasserwirt16 17 18

Vgl. dazu: Vybrané stati (Ausgewählte Aufsätze) (wie Anm. 14), S. 45 ff. 11/1955 Sb. ZÁKON ze dne 23. března 1955 o vodním hospodářství. Diese Richtlinie stellte fest, auf welche Weise die Wasserqualität in den Flüssen und die zulässigen Werte für das Ablassen von Abwasser eingestuft wurden. Diese Rechtsnorm wurde Mitte der 1970er Jahre durch eine neue Regelung ersetzt.

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schaft nach 1970 im Vergleich zu anderen Teilen der Umwelt größte Aufmerksamkeit. Das Gesetz Nr. 138/1973 Slg. über Wasser (Wassergesetz)19 regelte die Art und Weise des Umgangs mit Wasser, die Bedingungen des Ableitens von Abwässern und den Schutz vor Hochwasser. Schon 1973, als das Gesetz verabschiedet wurde, war klar, dass viele Wassernutzer nicht in der Lage sein würden, sofort alle gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten, vornehmlich beim Abwassereinleiten. Daher erteilte die Regierung in der Folge zahlreiche Ausnahmeregelungen, deren Anzahl erst Ende der 1980er Jahre radikal eingedämmt wurde. Der Status quo änderte sich jedoch nicht – Industrie und Landwirtschaft leiteten das Abwasser, das verschmutzter war, als die Grenzwerte es erlaubten, weiterhin ein – nur taten sie dies nun ohne amtliche Genehmigung. LUFT ALS UMWELTFAKTOR Nach 1948 wurde die rasante Entwicklung der Industrie zunächst nicht von entsprechenden Bemühungen gegen Luftverschmutzung begleitet. Nicht nur in den Industrieregionen, sondern auch allgemein wuchs die Kontamination durch Staub und Flugasche schnell – und auch durch andere Schadstoffe, z. B. Schwefeldioxid oder Stickstoffoxide, die jedoch in dieser Zeit noch nicht so intensiv beobachtet wurden. Die unerwünschte Entwicklung hing vor allem mit der wachsenden Produktion elektrischer Energie zusammen. Dies wurde durch zwei Aspekte mit hervorgerufen: Einerseits war die damalige Strukturorientierung der wirtschaftlichen Politik stark energielastig, andererseits widmete man im Rahmen der technischen Entwicklung der Senkung des Stromverbrauchs wenig Aufmerksamkeit. Außer dem Energiewesen produzierten auch andere Industriezweige Schadstoffemissionen in gewaltigen Mengen. Nicht vergessen sollte man auch den Einfluss veralteter Heizsysteme in den Haushalten. Eine der wichtigsten Ursachen der hohen Luftbelastung war – vornehmlich in den tschechischen Ländern – die Notwendigkeit, minderwertige und schwefelhaltige Braunkohle zu verbrennen (eine Produktion elektrischer Energie aus Wasser oder anderen regenerativen Quellen war nicht möglich). In der Slowakei hingegen konnte man Wasser zur Energieerzeugung einsetzen; Braunkohle wurde dort in wesentlich geringerem Ausmaß zur Energiegewinnung verwendet. Lange Zeit fehlten zuverlässige Informationen über die tatsächliche Qualität der Luft bzw. den Stand der Luftverschmutzung. Denn man begann zunächst nur die Verbreitung einzelner Schadstoffe, und dies auch nur schrittweise, systematisch zu verfolgen und zu untersuchen.20 Die Regierung stellte den Ressorts die Aufgabe, die ungünstigen Einflüsse der Industrie auf die Luft zu mindern. Dies bezog sich zuerst auf die am meisten betroffenen Regionen: das Ostrauer und das Aussiger Gebiet. Aufgrund des Regierungsbeschlusses aus dem Jahr 1960 sollten die Ressorts und Betriebe neue sowie bestehende Anlagen so ausstatten, dass die Schad19 20

138/1973 Sb. ZÁKON ze dne 31.října 1973 o vodách (vodní zákon). Feste Emissionen beobachtete man ungefähr seit der Mitte der 1960er Jahre. In den 70er Jahren bezog man Schwefeldioxid und erst ab 1980 Stickstoffoxidemissionen ein.

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stoffemissionen in die Luft reduziert würden.21 Diese Aufgaben wurden jedoch nicht erfüllt. Wichtige legislative Schritte gegen die Luftverschmutzung fallen in die Jahre 1966/67. Das „Gesetz über den Schutz der Luft vor Schadstoffen“ (Nr. 35/1967 Slg.)22 regulierte technische, ökonomische und organisatorische Zugänge zum Schutz der Luft, führte das System finanzieller Rückgriffe und materieller Sanktionen ein, legte die fachliche Überwachung gesetzlich fest und schuf Organe für Luftreinhaltung. Das Gesetz galt bis zum Jahr 1991, obwohl ihm wesentliche Mängel vorgeworfen wurden und man während der gesamten Geltungsdauer über seine Änderung diskutierte.23 Zum Kontrollorgan des Ministeriums für Waldwirtschaft und Wasserwirtschaft wurde im Jahr 1968 die Tschechische technische Inspektion für Luftreinhaltung – und die analoge Inspektion in der SSR (Slowakische Sozialistische Republik). Die Zentralorgane der Staatsverwaltung für die Reinhaltung der Luft bildeten die Ministerien für Wald- und Wasserwirtschaft, und zwar sowohl in der Tschechischen als auch der Slowakischen Republik.24 Insgesamt gestaltete sich der Schutz der Luft in den Jahren 1969 bis 1989 relativ kompliziert. Was den Grad der Luftverschmutzung betrifft, war die Situation Anfang der 1970er Jahre vor allem in den Industrieregionen ernst.25 Es ist darüber hinaus anzumerken, dass sich die Immissionssituation in der gesamten Nachkriegszeit bis zum Jahr 1989 verschlechterte. Die Reduktion des Emissionsausstoßes (vornehmlich der festen Stoffe) gelang in einigen Bereichen zumindest teilweise. Nach wie vor blieben aber die Gebiete am meisten belastet, in denen zwei wichtige ungünstige Faktoren zusammentrafen: eine hohe Zahl an Verschmutzungsquellen und eine wenig begünstigende geografische Lage. Zu diesen betroffenen Regionen gehörten das Erzgebirgsvorland sowie das mittelböhmische, Pilsner, ostböhmische, Ostrauer und Brünner Gebiet.26 Darü21 22 23

24 25

26

Vgl. dazu: Vybrané stati (Ausgewählte Aufsätze) (wie Anm. 14), S. 143 ff. 35/1967 Sb. ZÁKON ze dne 7. dubna 1967 o opatřeních proti znečišťování ovzduší. Der Hauptmangel des Gesetzes war, dass das zulässige Maß der Luftverschmutzung von der Höhe der Fabrikschlote abhing. Dies ermöglichte, dass Sanktionen nicht durch Begrenzung der Emissionen, sondern durch die Errichtung eines höheren Fabrikschlotes vermieden werden konnten. Ein weiteres Defizit bestand darin, dass nicht die Luftverschmutzung an sich, sondern nur die Zunahme der Luftverschmutzung sanktioniert wurde. Vor diesem Hintergrund und angesichts niedriger Gebühren spielten Geldstrafen für Luftverschmutzung für die meisten Betriebe keine wichtige Rolle. Es wurden auch technische Inspektionen für die Luftreinhaltung in den beiden Teilrepubliken errichtet, die neben anderen Aufgaben auch die Verstöße der Verschmutzer gegen das Gesetz kontrollierten und ihnen Strafen auferlegten. Bei den Emissionen aus festen Schadstoffen entfiel ein Anteil von 46 % auf die Dampfproduktion und die Produktion von elektrischer Energie. (In diese Prozentzahlen eingerechnet sind allerdings nur die Energie-Betriebe, die unter Aufsicht des Ministeriums im Rahmen des Ressorts standen; schließt man die anderen Energie produzierenden Betriebsstätten aus anderen Ressorts mit ein, muss man von ungefähr 70 % ausgehen). Vgl. dazu: Václav Průcha u. a.: Hospodářské a sociální dějiny Československa 1918–1992, 2. Díl: Období 1945–1992 (Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1992, 2. Teil: Zeitraum 1945–1992). Brno: Ergänzung 2009, S. 886.

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ber hinaus gab es kleinere Gebiete (normalerweise städtische Agglomerationen mit die Umwelt stark verschmutzenden Industriebetrieben), in denen die Luftqualität bzw. Qualität der gesamten Umwelt ähnlich ungünstig bewertet wurde. In den tschechischen Ländern handelte es sich z. B. um Budweis (České Budějovice) oder Prerau (Přerov). In der Slowakei waren zwar angesichts der unterschiedlichen Industrieentwicklung nicht so weiträumige Flächen und Gebiete belastet wie in Böhmen und Mähren, aber auch hier gab es zahlreiche kleinere Landstriche in der Umgebung von Industriebetrieben, die ernsthafte Probleme mit der Luftqualität hatten, z. B. Pressburg (Bratislava), Heiligenkreuz (Žiar nad Hronom), Nováky-Krickerhau (Nováky-Handlová), Kaschau-Jeltschau (Košice-Jelšava) oder Kotterbach-Krombach (Rudňany-Krompachy). In internationalen Studien, die in den 1970er und 80er Jahren den Grad der Luftverschmutzung ermittelten, belegten einige Gebiete der ČSSR unrühmliche vordere Plätze in Europa.27 BODEN, WÄLDER UND ROHSTOFFQUELLEN ALS UMWELTFAKTOREN Die Industrieentwicklung sowie die Ausdehnung der Städte, aber auch der Wälder hatten zur Folge, dass die Größe der landwirtschaftlich genutzten Flächen immer weiter abnahm. Zugleich kamen mit der fortschreitenden Kollektivierung der Landwirtschaft und der Intensivierung der Produktion auch einige ungeeignete technologische Verfahren der Bodenbearbeitung zum Einsatz. Der Schutz des Bodens wurde im Gegensatz zum Schutz der Gewässer und der Luft nicht als eine Komponente der ökologischen Politik angesehen, sondern fast ausschließlich als ein Produktionsproblem. Damalige Überlegungen waren durch folgenden Gedanken geprägt: Wenn es nicht gelänge zu verhindern, dass die landwirtschaftlichen Nutzflächen abnehmen und ihre Qualität sich verschlechtert, würde die landwirtschaftliche Produktion bedroht, was schließlich Lebensmittelmangel verursachen könnte. Dies wurde in der Nachkriegssituation zu einem bedeutenden Politikum. Um landwirtschaftliche Böden in ihrem ursprünglichen Umfang erhalten zu können, etablierte sich folgendes Verfahren: Als Kompensation für verlorengegangene Flächen mussten ersatzweise Böden zu landwirtschaftlichen Parzellen umgestaltet werden. Dies hatte oftmals ungünstige ökologische Konsequenzen und führte dazu, dass die immer intensiver bewirtschafteten Böden immer häufiger von Windund Wassererosion bedroht, verdichtet und von Kunstdünger, Pestiziden, Schwermetallen und anderen Schadstoffe kontaminiert wurden. Die ökologischen Schäden wurden auch durch einige ungeeignete Meliorationsmaßnahmen und eine übertriebene Erweiterung der Ackerflächen zulasten der begrünten Grundstücke verursacht. Von den weiteren Faktoren, die die Umwelt beeinflussen, wurde dem Wald besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte sich die gesamte Waldfläche in der Tschechoslowakei vornehmlich durch 27

Vgl. dazu: Alena Hadrabová u. a.: Ekonomika a řízení péče o životní prostředí (Ökonomik und Steuerung der Umweltpflege). Praha 1991, S. 118.

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Aufforstung des weniger fruchtbaren landwirtschaftlichen Bodens in den tschechischen Grenzgebieten, die, aufgrund der historischen Entwicklung, dünn besiedelt waren. Seit den 1960er Jahren verschlechterte sich der Zustand der Wälder – zuerst im Erzgebirge und dann auch in anderen Gebieten. Diese Entwicklung wurde vor allem durch Immissionen der Luftschadstoffe und in geringerem Maße durch eine verschlechterte Wasserqualität verursacht. Die Waldschäden wurden lange Zeit unterschätzt, auch deswegen, weil sie zumeist erst in einem längeren zeitlichen Horizont auftraten. Als sich die Folgen zeigten, war es für effektive Gegenmaßnahmen häufig bereits zu spät, so auch im tschechischen Fall. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden erstmals die Auswirkungen von Immissionen auf das „Waldsterben“ systematisch untersucht. Die festgestellten Werte waren damals nicht so alarmierend wie bei späteren Messungen. Die Katastrophe, die sich vorwiegend in den Nachkriegsjahrzehnten in den tschechischen Wäldern angebahnt hatte, brach erst in den 1980er Jahren mit voller Wucht über das Land herein. INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT 1967 stand die weltweite Verschlechterung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschen zum ersten Mal auch im Fokus der UN-Generalversammlung während ihrer XXII. Tagung. Auf der folgenden XXIII. Tagung wurde der schwedische Vorschlag angenommen, eine weltweite Konferenz zum Thema „Umwelt“ zu organisieren, die im Juni 1972 in Stockholm stattfand. Im Vorbereitungskomitee dieser Tagung war auch die Tschechoslowakei.28 1971 wurde auf Initiative der UN-Wirtschaftskommission für Europa das erste internationale Treffen auf Regierungsebene einberufen. Bei dieser Sitzung suchte man nach gangbaren Wegen und Lösungen für den Umweltschutz. Dieses Symposium, das erste seiner Art, fand im Mai 1971 in Prag statt. Mehr als vierhundert Delegierte aus 42 Ländern nahmen daran teil. Das Symposium diskutierte Papiere, die die öffentliche sowie die private Pflege der Umwelt betrafen und später zur Vorbereitung der Stockholmer Konferenz genutzt wurden. Zweifellos fand die Konferenz nicht in Prag statt, weil sich die Tschechoslowakei besonders um die Umwelt verdient gemacht hätte. Vielmehr war die Wahl auf Prag gefallen, weil sich in unmittelbarer Nähe des Konferenzortes Gebiete mit schwer beschädigter Umwelt befanden. Die Teilnehmer des Symposiums konnten sich mithin während einer Exkursion in das Ostrauer Gebiet in der ČSSR und nach Kattowitz in Polen vor Ort davon überzeugen, dass die Lösung der ökologischen Probleme eine dringende Aufgabe war. Die Tschechoslowakei schickte ihre Vertreter in internationale Organisationen und Organe, die sich mit dem Umweltschutz auf der zwischenstaatlichen ebenso wie auf der nicht-staatlichen Ebene befassten. Am intensivsten verlief die Zusammenarbeit im Rahmen des „Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW). Die RGW-Länder setzten sich ehrgeizige Ziele, aber positive Auswirkungen ihrer Akti28

Die Tschechoslowakei nahm schließlich ebenso wie andere Staaten des sog. Ostblocks nicht an der Konferenz teil, aber sie schloss sich der Zustimmung der XXVII. Tagung der UN-Generalversammlung zu den Schlussfolgerungen und Dokumenten der Konferenz an.

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vitäten auf die Umwelt zeigten sich nur langsam. Aufgrund des Komplexen Programms der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW aus dem Jahr 1971 wurde im Jahre 1973 der Rat für Verbesserung und Schutz der Umwelt errichtet. An der Verabschiedung des Programms der Maßnahmen zum Schutz des Wassers nahmen 600 wissenschaftlich forschende Institute der Mitgliedsländer teil. Sie befassten sich erfolgreich mit rund 2.000 Projekten. Eine dauerhafte RGW-Kommission für Umweltschutz in Moskau entstand erst im Jahr 1987. Zu ihren Aufgaben gehörte es, eine koordinierte ökologische Politik auszuarbeiten, eine gemeinsame Strategie bis zum Jahr 2010 festzulegen und die dringlichsten ökologischen Probleme der RGW-Mitgliedsländer zu lösen. Die Tschechoslowakei schloss mit allen Nachbarländern in den Jahren 1954 bis 1982 Verträge über die Regelung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse an den Grenzgewässern.29 Zudem handelte man mit Österreich den Vertrag über die Prinzipien der Zusammenarbeit im geologischen Bereich (1960), mit Polen den Vertrag über den Schutz der Luft vor Verschmutzung (1974) sowie mit der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Sowjetunion Verträge über die Zusammenarbeit beim Umweltschutz (1987–1989) aus. Darüber hinaus ratifizierte die ČSSR in den Jahren 1984 bis 1988 mehrere multilaterale Abkommen, denen sie zuvor nicht beigetreten war. Diese Abkommen betrafen das Monitoring und die Eindämmung der Schadstoffmengen, die durch die Luft über die Grenzen der europäischen Staaten gelangten. Die konkreteste Verpflichtung ging die tschechoslowakische Regierung im Jahre 1987 ein: Bis zum Jahr 1993 sollten die Schwefelemissionen oder ihre Verbreitung über die Grenzen im Vergleich zum Stand des Jahres 1980 mindestens um 30 Prozent gesenkt werden. Ein Jahr später verpflichtete sich die tschechoslowakische Regierung, die Emissionen der Stickstoffoxide zu begrenzen und unterschrieb das „Protokoll über langfristige Finanzierung des internationalen kooperativen Programms von Monitoring und Auswertung der Fernübertragung der die Umwelt verschmutzenden Stoffe in Europa“. Im Jahre 1987 wurde die ČSSR Mitglied des „Internationalen Vertrages über Pflanzenschutz“, der bereits im Jahre 1951 geschlossen worden war. Einigen internationalen Verträgen trat die Tschechoslowakei erst nach dem Jahr 1989 bei, z. B. dem „Abkommen über den internationalen Handel mit bedrohten Arten der frei lebenden Lebewesen und wild wachsenden Pflanzen“ (1973) oder dem „Abkommen über Sümpfe“ (1971). Das letztgenannte Abkommen konzentrierte sich auch auf den Erhalt günstiger Lebensbedingungen für Wasservögel.30 Die internationale Zusammenarbeit bot somit Wege zur Lösung der Probleme mit dem Wasser, der Luft und dem Boden, deren Verschmutzung und Zerstörung ständig größer wurde. Zugleich konnten auf diese Weise eine ganzen Reihe bedrohter Pflanzen- und Tierarten unter Schutz gestellt werden.

29 30

Vgl. dazu: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzes nummer=10010405;http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/057/1305720.asc Vgl. Hadrabová u. a.: Ekonomika (wie Anm. 27), S. 37.

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SCHLUSS Aus der Perspektive des Umweltschutzes können die 1950er und 60er Jahre als ein Zeitraum charakterisiert werden, in dem sich die Umweltbedingungen verschlechterten. In den darauffolgenden Jahren besaß die Lösung der ökologischen Probleme für die tschechische Wirtschaftspolitik zwar keine Priorität, aber dennoch gab es bereits seit den frühen 1970er Jahren einige Initiativen und Lösungsansätze – einschließlich ihrer gesetzlichen Verankerung –, ohne dass sie jedoch eine größere Wirksamkeit entfalten konnten.31

31

Mehr dazu siehe: http://www.gueg-downloads.eu/downloads/rothdcz.pdf.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON JANA GERŠLOVÁ „Ökologische Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung in der Tschechoslowakei 1948 bis 1989“ Christoph Boyer, Salzburg EINLEITUNG Die Ausführungen des Beitrags von Jana Geršlová werden, der Chronologie folgend, in drei Etappen kommentiert.1 Der Bogen spannt sich hierbei vom „Aufbau des Sozialismus“ in den vierziger und fünfziger Jahren über die Reformzeit der sechziger bis zur „Normalisierung“ in den siebziger und achtziger Jahren. Im Grundsatz lässt sich festhalten, dass das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie in der Nachkriegstschechoslowakei prononciert systemisch geprägt war. „System“ meint das klassische System des Staatssozialismus, wie Janos Kornái die Kombination von zentraladministrativer Planwirtschaft und Parteiherrschaft genannt hat;2 die politische Diktatur stand im Dienst der Durchsetzung einer extensiven schwerindustriellen Wachstumsstrategie. Im Wesentlichen handelte es sich bei dieser um den Nachbau des stalinistischen Industrialisierungsmodells in der Sowjetunion ab den späten zwanziger Jahren. Staatssozialismen sollten als eine spezielle Variante klassischer Industriegesellschaften der zweiten industriellen Revolution aufgefasst werden. Der diesen wohl überhaupt (also auch in den „westlichen“ Varianten) inhärente Hang zum nicht nachhaltigen Umweltverbrauch dürfte, so zumindest die Hypothese, im Staatssozialismus in markanter Überspitzung anzutreffen gewesen 1 2

Der mündliche Duktus der Ausführungen wurde in vielen Hinsichten beibehalten. Systeme sowjetischen Typs werden, um dies hier noch einmal detaillierter zu erläutern, als Kombinationen der folgenden drei Elemente gefasst: a) Prinzipieller und unbedingter Primat der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft: das – ungeachtet aller faktischen Begrenzungen – rechtlich nicht gebändigte Machtmonopol der marxistisch-leninistischen Staatspartei und des von ihr angeleiteten bürokratischen Gesamtapparats auf der Grundlage des Monopols ideologischer Gestaltungsmacht. Politik steuert ein Mega-Projekt politisch-sozial-ökonomischer Transformation, das die Arbeiterklasse ins Zentrum des gesellschaftlichen Gefüges rückt. b) Dominanz staatlichen und quasistaatlichen Eigentums; tendenzielle Beseitigung autonomer Akteure auf dem Markt; bürokratische (vertikale, hierarchische) Koordinierung der Wirtschaft durch umfassende zentrale Planung physischer Größen der industriellen Bruttoproduktion. c) Forcierte industrielle Wachstumspolitik mit markanter Präferenz für die Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien. Klassisch-staatssozialistisches industrielles Wachstum ist extensiv: es überspannt Ressourcen und Entwicklungstempo ohne Rücksicht auf ökonomische und soziale Kosten und produziert mit hoher Wahrscheinlichkeit Mangelkrisen in Permanenz: Vgl. János Kornái: Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus. Baden-Baden 1995, S. 35–428.

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sein.3 Im Durchgang durch den dreiteiligen Bogen zeigt sich dann allerdings zum einen, dass dieses System nicht statisch war, sondern einen Entwicklungspfad durchlief – dies gilt generell wie vor allem auch speziell im Hinblick auf das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie. Und zweitens wird deutlich, dass „das System“ nicht alles war; vielmehr spielten Kontingenzen und exogene Determinanten eine nicht zu unterschätzende Rolle. I. „AUFBAU DES SOZIALISMUS“ IN DEN 1940ER UND 50ER JAHREN Nun jedoch der Reihe nach, beginnend mit dem „Aufbau des Sozialismus“ in den vierziger und fünfziger Jahren.4 Weil die Nachkriegsentwicklung eigentlich erst durch die Kontraste zur Vorgeschichte der Zwischenkriegszeit an Profilschärfe gewinnt, zunächst ein rascher Rückblick: Zwar war die Wirtschaft der Ersten Tschechoslowakischen Republik5 bereits von einem bedeutenden schwerindustriellen Anteil geprägt; eine ziemlich wichtige Rolle spielte auch die Großchemie. Insgesamt jedoch war die Ökonomie der ČSR von klein- und mittelbetrieblichem, zudem 3

4

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Ungefähr so ließe sich der aktuelle Wissensstand kennzeichnen – ob diese „Wahrheit“ nicht womöglich zu simpel ist, wird die (auf längeren Wegen befindliche) Forschung erweisen müssen. Zu deren Anleitung vgl. (in strikter Auswahl aus einer zusehends sich vermehrenden Zahl von Literaturtiteln): Julia Obertreis: Von der Naturbeherrschung zum Ökozid? Aktuelle Fragen einer Umweltzeitgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9/1 (2012), http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/ 40209222/default. aspx. Wegweisend des Weiteren, speziell auch für den Fall Tschechoslowakei: Horst Förster/Julia Herzberg/Martin Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus. Göttingen 2013, hier insbesondere die Einleitung der Herausgeber, S. 1–6, sowie der Beitrag von Julia Herzberg: Ostmitteleuropa im Blick. Umweltgeschichte zwischen Global- und Regionalgeschichte, S. 7–29. Man wird sich einerseits also vor den gängigen Sozialismus-Klischees, andererseits aber auch vor einer neuen, schönfärberischen, die harten politisch-ökonomischen Fakten weichspülenden Apologetik hüten müssen. Vgl. für das Folgende in allerstriktester Auswahl aus der umfangreichen Literatur zur tschechoslowakischen Wirtschaftsgeschichte: Jiří Kosta: Die tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im mehrfachen Wandel. Münster 2005; Martin Myant: The Czechoslovak Economy 1948–1988. The Battle for Economic Reform. Cambridge 1989; Alice Teichova: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei, 1918–1980. Wien 1988; Franz-Lothar Altmann: Wirtschaftsentwicklung und Strukturpolitik in der Tschechoslowakei nach 1968. München 1987; Mikuláš Teich/Dušan Kováč/ Martin D. Brown (Hg.): Slovakia in History. Cambridge 2011; John N. Stevens: Czechoslovakia at the Crossroads. The Economic Dilemmas of Communism in Postwar Czechoslovakia. New York 1985, S. 226–259; Zdislav Šulc: Stručné dějiny ekonomických reforem v Československu (České republice) [Kurze Geschichte der Wirtschaftsreformen in der Tschechoslowakei (Tschechischen Republik)] 1945–1995. Brno 1998; Niklas Perzi/Beata Blehova/Peter Bachmaier: Die Samtene Revolution. Vorgeschichte, Verlauf, Akteure. Frankfurt a. M. 2009; Beata Blehova: Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei. Wien 2006. Zur Wirtschaft der Ersten Republik immer noch maßgeblich (und hier anstelle einer Vielzahl von Einzeltiteln angeführt): Eduard Kubů/Jaroslav Pátek (Hg.): Mýtus a realita hospodářské vyspělosti Československa mezi světovými válkami [Mythos und Realität der wirtschaftlichen Reife der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit]. Praha 2000.

Korreferat zum Beitrag von Jana Geršlová

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vorwiegend konsumgüterorientiertem Zuschnitt. Gemessen an diesem status quo ante war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Übergang zum schwerindustriell-investitionsgüterorientierten Wirtschaftswachstum mit exorbitant hohem Energieverbrauch im Geist des Stalinismus zweifellos, jedenfalls mit Blick auf die Umwelt, der große „Sündenfall“. Allerdings, dies wäre zu ergänzen, war die Nachund Umindustrialisierung lediglich der zweite Teilabschnitt einer bereits im Rahmen der NS-Kriegswirtschaft weit vorangetriebenen Transformation. Bereits die Wirtschaft des „Protektorats Böhmen und Mähren“ wurde nämlich von den nationalsozialistischen Besatzern auf Rüstungsproduktion umgestellt und damit zu weiten Teilen schwerindustrialisiert. Die Entwicklung ging also, um den Titel einer maßgeblichen neuen Veröffentlichung zu zitieren, „von der Rüstkammer des Reiches zum Maschinenwerk des Sozialismus“6. Analog verlief im „Aufbau des Sozialismus“ die Industrialisierung der Landwirtschaft. Die Nachkriegs-Transformation war kein Selbstläufer; bekanntlich war sie in starkem Maß zentral politisch gesteuert und von oben forciert. Sie ging mit aller Gewalt (was durchaus buchstäblich zu verstehen ist) vonstatten, mit atemberaubender Rasanz, mit exorbitanten Wachstumsraten und mit ziemlich wenig Augenmerk auf die ökonomischen und sozialen Kosten durch rücksichtslose Steigerung des Umwelt-Verschleißes. Für diesen sorgten nicht zuletzt und zusätzlich auch die ins zentraladministrative Planungswesen eingebauten, sozusagen lehrbuchmäßigen Ineffizienzen.7 Drei Zusatzmomente sollten an dieser Stelle ins Spiel kommen. Erstens: Hie und da wurden, im Beitrag wird dies thematisiert, die Betriebe für ökologische Sünden sogar finanziell und materiell sanktioniert. Diese Sanktionen verpufften indes weitgehend, angesichts der weichen Budgetbeschränkungen, denen sozialistische Betriebe unterlagen.8 Zweitens: Die Möglichkeiten einer Zähmung der Ökonomie und der Wahrung ökologischer Belange der Bürger durch das Umweltrecht waren, unter den Vorzeichen der Unteilbarkeit der politischen Gewalt und der Funktionalisierung des Rechts als „Transmissionsanlage“ der politischen Führung, eher kärglich. Punkt eins und zwei betreffen ökologie-averse systemische Eigenheiten des Staatssozialismus. Man sollte, drittens, hinzufügen, dass nicht allein „das System“ der Sünder war: Der „Aufbau des Sozialismus“ fand ja durchaus Breitenresonanz. Die im Parforceritt nachgeholte ursprüngliche Akkumulation sowie die ungeahnt gesteigerte vertikale und horizontale Mobilität schufen weite Räume von Lebenschancen, nicht zuletzt auch Wohlstand. Der Sozialismus mag zu einem guten Teil aufgezwungen gewesen sein – aber er entsprach doch auch den Bedürfnissen und Sehnsüchten vieler, etwa breiter Teile der Arbeiterschaft und der 6 7 8

Jaromír Balcar/Jaroslav Kučera: Von der Rüstkammer des Reiches zum Maschinenwerk des Sozialismus. Wirtschaftslenkung in Böhmen und Mähren, 1938–1953. Göttingen 2013. Einen bedeutenden Schritt tut der Beitrag von Frau Geršlová, auf den sich dieses Korreferat bezieht. Vgl. des Weiteren noch einmal die in Anm. 3 formulierten Überlegungen und die dort zitierte Literatur. Sozialistische Betriebe können im gegebenen Systemrahmen nicht bankrottgehen: Weil die finanziellen Folgen betriebswirtschaftlicher Misswirtschaft letzten Endes immer ausgeglichen werden, haben Strafgelder, welche die finanzielle Lage eines Betriebs verschlechtern, keine wesentlichen Verhaltensänderungen zur Folge.

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Christoph Boyer

Intelligenz. Ökologischer Raubbau ist also nicht einfach eine Angelegenheit von „Herrschaft“, sondern durchaus auch von „Gesellschaft“.9 II. REFORMZEIT DER 1960ER JAHRE Nun zur Reformdekade der sechziger Jahre, gipfelnd 1968 im „Prager Frühling“. Generell gilt: Sozialistische Reformen reagieren auf die inhärente Krisenträchtigkeit des klassischen Systems, d. h. des vorrangig quantitativen, extensiven Wachstums; auf die schleppende Entwicklung der Kapital- und der Arbeitsproduktivität also, auf die Mängel an Produktqualität, ja von Lebensqualität in einem umfassenden Sinn. Sozialistische Reformen versuchen es, immer in Maßen, mit Flexibilisierung und Vermarktlichung, speziell mit marktwirtschaftlichen incentives.10 Manche sozialistischen Reformregime, etwa das der DDR der sechziger Jahre, reformierten vorzugsweise per Oktroi, von oben.11 Andere, und hierzu gehörte die Tschechoslowakei, setzten eher auf die Beteiligung der Gesellschaft: Auf Partizipation von unten, auf Transparenz und Demokratie also, und nun auch auf den Rechtsstaat. Soviel zum Hintergrund. Vor diesem wäre nun also nach der politischen Ökologie des Staatsozialismus in Reformzeiten zu fragen. Insofern die tschechoslowakischen Reformen auf „Lebensqualität“ setzten, müssten sie eigentlich einem bewussteren Umgang mit Umweltressourcen förderlich gewesen sein. Dies ist vorerst eine Hypothese; sie wird vielleicht durch den Umstand gestützt, dass sich, nach Maßgabe der parteioffiziellen Bestandsaufnahmen zu den Auswirkungen des extensiven Wachstums, um die Mitte der sechziger Jahre in den Großstädten und den Industrieagglomerationen im Hinblick auf die Luft- und Wasserverschmutzung ein umweltpolitischer Handlungsbedarf aufgestaut hatte.12 Wichtige legislative Maßnahmen, etwa solche gegen die Luftverschmutzung, wurden, wie Geršlová darlegt, in den sechziger Jahren initiiert. Andererseits war diese Dekade aber eben doch noch eine arg wachstumsgläubige Zeit: Generell, und was speziell den Geist der sozialistischen Reformkonzepte angeht. Ich lasse dies vorerst einfach so stehen, wir 9

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Die hier unterstellte simple Zweipoligkeit von Parteimacht und Gesellschaft müsste eigentlich aufgefächert werden. Man müsste etwa die Zwischenschichten sozialistischer Gesellschaften in den Blick nehmen: so die unteren Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, die der doppelten Pression durch Forderungen von „unten“ und Anmutungen seitens der Leitungsebene ausgesetzt sind, die situativ bedingte Koalitionen nach beiden Seiten hin eingehen und in beide Richtungen als Filter oder Puffer wirken. Gespaltene, partielle und unklare Loyalitäten sozialer Gruppen sind die Regel. Systemnähe ist graduierbar – sie korreliert vermutlich nicht sonderlich hoch mit der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Vgl. aus der umfangreichen Literatur zu sozialistischen Reformen in allerstriktester Auswahl: Christoph Boyer (Hg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre: Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999. Vgl. hierzu: Christoph Boyer: „Sorge um den Menschen“. Tschechoslowakische Sozial- und Konsumpolitik im Übergang von der Reform zur „Normalisierung“, in: Peter Hübner/Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968–1976. Köln/ Weimar/Wien 2008, S. 471–514.

Korreferat zum Beitrag von Jana Geršlová

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befinden uns, wenn ich es richtig sehe, auf einem noch kaum bearbeiteten Feld, es gibt für die Forschung hier noch ausgiebig zu tun. III. „NORMALISIERUNG“ DER 1970ER UND 80ER JAHRE Abschließend nun noch einige Überlegungen zu den siebziger und achtziger Jahren: Jana Geršlovás Analyse nimmt von der internationalen Trendwende in Umweltbewusstsein und -politik etwa Anfang der siebziger Jahre ihren Ausgang. In der Folge seien einige Ansätze zu einer behutsamen Verbesserung der Beziehungen zwischen Ökologie und Sozialismus zu konstatieren. Ich verstehe das als einen schüchternen Optimismus, würde hier die Gewichte allerdings ein bisschen anders verteilen: Der Spätsozialismus brachte, so kommt es mir vor, umweltpolitisch nicht einmal minimale Verbesserungen, vielmehr eine deutliche Verschlechterung – dies aus mindestens drei Gründen: Erstens: Unter dem schamlosen Euphemismus „Normalisierung“13 kehrte die ČSSR 1968/69, nach dem Abbruch der Reformen, zur orthodoxen Planwirtschaft und zur unangefochtenen Parteiherrschaft zurück – in der Konsequenz zum extensiven Wachstum, koste es, was es wolle; folglich auch, so die nicht unplausible Hypothese, zu den damit einhergehenden systeminhärenten Ineffizienzen. Zwar waren „Intensivierung“, „Effizienz“, „Innovation“ nun die Parolen des Tages. Dies klingt so, als habe sich hier auch ein schonenderer Umgang mit den Umweltressourcen angebahnt. Aber „Intensivierung“ blieb in der rezentralisierten, jetzt sogar hyperzentralisierten Planwirtschaft eine rhetorisch-propagandistische Chimäre. Hinzu kommt: Den Übergang von der „klassischen“ Industriegesellschaft der zweiten industriellen Revolution zur Dienstleistungsgesellschaft auf der technologischen Basis der dritten industriellen – der elektronischen – Revolution, der vermutlich in einem gewissen Ausmaß von der „alten“ industriellen Welt der rauchenden Schlote weggeführt hätte, bewältigte der Staatssozialismus nur sehr mühsam. Hatte das staatssozialistische System in der Reformzeit Anflüge von Lernfähigkeit bewiesen, so bedeutete dies nun den Rückfall in ein beinhart einzementiertes politischökonomisches Paradigma. Die Forschung14 wird sich fragen müssen, ob nicht doch, auch dort, wo „Herrschaft“ „ihre“ Gesellschaft sozusagen schockgefrostet und eingemauert hat, untergründig oder im Halbschatten, womöglich im Rahmen des Dissenses, Ansätze einer Umweltbewegung15 entstanden sind. Eine weitere, vermutlich eher negativ zu beantwortende Frage wäre die nach der praktischen Relevanz solcher Initiativen: Keimten hier, in Kavernen und Nischen, womöglich auch zu13 14 15

Vgl. zum Normalisierungsparadigma: Christoph Boyer: Normalisierung, in: Bohemia 2006/7, S. 348–360; Ders.: „Sorge um den Menschen“ (wie Anm. 12). Leitlinien skizziert: Frank Uekötter: Environmentalism, Eastern European Style. Some Exploratory Remarks, in: Förster/Herzberg/Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n) (wie Anm. 3), S. 241–254. Die langen Traditionslinien ließen sich, so eine allererste Vermutung, womöglich auf ältere naturnahe Organisationen im Kontext der tschechischen Nationalbewegung wie den Sokol oder auch auf die Pfadfinderbewegung zurückführen.

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kunftsweisende, aus der Vogelschau verborgen bleibende Entwicklungen, so führte der offizielle Weg des „normalisierten“ Staatssozialismus doch weiter und weiter in die Sackgasse; das Normalisierungsregime wurde erst 1989, durch die sametová revoluce, zum Einsturz gebracht. Weil im sklerotisierten Spätsozialismus die Wachstumsraten gegen Null gingen, wären die Ressourcen für umweltschonende Modernisierungsinvestitionen vermutlich ohnehin nicht mehr erwirtschaftet worden. Zweitens: Der Spätsozialismus versuchte, nach dem Abbruch der Reformen, die hier sich auftuende Legitimationslücke durch Massenkonsum zu füllen. Die hieraus folgende Umschichtung der Ressourcen von der Schwer- zur Konsumgüterindustrie hat womöglich zur Verbesserung der Umweltbilanz beigetragen; ob das so ist, wissen wir (noch) nicht. In einer anderen Hinsicht hingegen leistete der Konsumsozialismus eindeutig dem Raubbau an der Umwelt Vorschub. Konsumpolitik heißt nämlich auch: Flächendeckende Subventionen der Konsumgüterpreise, unter anderem derjenigen für Energie. Billige Strompreise und niedrige Heizkosten fördern die Verschwendung: Hier also begegnen uns die notorischen sozialistischen Heizungen ohne Abstellknopf. Apropos, und drittens, Energie: Weil auf dem Weltmarkt in den siebziger Jahren die Energiepreise stiegen und die Sowjetunion als Hauptenergielieferant diese Erhöhungen mit Zeitverzögerung an ihre Satelliten weitergab, verlegte sich die ČSSR (wie übrigens auch die DDR) auf Energiegewinnung aus Braunkohle, mit den bekannt verheerenden Umwelt-Konsequenzen. Das im klassisch-stalinistischen System angelegte, von vornherein ziemlich problematische Verhältnis von Ökonomie und Ökologie wurde im längerfristigen Verlauf – in dem der Sozialismus sich zunächst zu bessern versuchte, aber letztlich, aus Gründen des Machterhalts, in der „Normalisierung“ endete, die alle systeminhärenten Übel auf die Spitze trieb – also nicht besser, sondern desaströs. Hiergegen gab es auch transnational keine Abhilfe. Zwar fand sich die späte ČSSR, wie Jana Geršlová darlegt, im internationalen Umwelt-Konferenzbetrieb ein. Was das wirklich gebracht hat, wäre über weite Strecken hin noch zu erforschen; ich befürchte jedoch, dass die Antworten eher negativ ausfallen werden. Ähnliches gilt für die ökologischen Bemühungen im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, vor allem diejenigen im Kontext des Komplexprogramms von 1971. Über Absichtserklärungen und höchstens Expertenkonsultationen sind diese allem Anschein nach nicht weit hinausgekommen. FAZIT Was, so stellt sich am Ende die Frage, ist an der Fallstudie „Tschechoslowakei“ für eine politische Ökologie des Staatssozialismus als System exemplarisch? Man muss hier ziemlich vorsichtig sein, denn manche der oben thematisierten Umstände und Determinanten sind kontingent tschechoslowakisch (so etwa der von der NSKriegswirtschaft herbeigeführte Strukturwandel). Kontexte, historische Pfadabhängigkeiten und Konstellationen werden sich vermutlich auch im Blick auf andere staatssozialistische Länder in vielfacher Hinsicht anders ausnehmen; die Forschung

Korreferat zum Beitrag von Jana Geršlová

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wird verstärkt nach den kontingenten Beimischungen zur ökologischen Logik des Systems fragen müssen. Andere Faktoren, etwa die Ölpreissteigerungen auf dem Weltmarkt in den siebziger Jahren, sind exogen. Hierfür also kann das System des Staatssozialismus bzw. können die systemischen Beziehungen zwischen Ökologie und sozialistischer Ökonomie nicht haftbar gemacht werden. Trotzdem bleiben – so einfach ist eben manchmal die Geschichte – „das System“ und seine extensive Wachstumsideologie und -strategie letztlich der große Buhmann – mit einem Lenkungs- und Steuerungsmechanismus, der Ineffizienz und Verschwendung systemisch-systematisch Vorschub leistete. Es war dies ein Regime, das sich in dieser Hinsicht (und nicht nur in dieser) à la longue als lern- und reformunfähig erwies. Nirgendwo aber schneidet der Staatssozialismus ökologisch schlechter ab als dort, wo er, gegen sein Ende zu, noch versuchte, durch Konsum ein bisschen besser zu werden. Auf einer langen historischen Linie zur Nachhaltigkeit liegt (um noch einmal den Bezug zum Tagungsthema und dem Fragezeichen, das dieses abschließt, herzustellen) dieses System sicherlich nicht. All dies möge vorerst als forschungsleitende Hypothese gelten; man wird hierfür nach weiterer evidence, mehr aber noch, im Sinne einer falsifikationsorientierten Forschungslogik, nach counter-evidence suchen müssen. In diesem Zusammenhang wird dann auch noch einmal in Rechnung zu stellen sein, dass die Etablierung des längerfristig die natürlichen Lebensgrundlagen verheerenden Wachstumsparadigmas der industriegesellschaftlichen Moderne keine staatssozialistische Spezialität gewesen ist. Das Verhältnis zur Umwelt im Europa des 20. Jahrhunderts (vor allem in dessen zweiter Hälfte) war schließlich in einem sehr allgemeinen Sinn vorrangig am Wirtschaftswachstum (sei es im Interesse der „Werktätigen“ und ihrer Einheitspartei, sei es im Interesse des return on investment) orientiert. Nimmt man die spezifischen Modalitäten der Ressourcennutzung und damit die je unterschiedlichen politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in Europa und deren mehr oder weniger effiziente (d. h. der Verschwendung Vorschub leistende, oder aber diese durch geeignete Regularien und incentives zügelnde) Steuerungsmechanismen in den Blick, so scheinen die Unterschiede zwischen den ost- und ostmitteleuropäischen Staatssozialismen und den zivilgesellschaftlich-demokratisch verfassten mittel- und westeuropäischen varieties of capitalism hinsichtlich ihrer Lern- und Veränderungspotentiale erheblich – zumindest vorerst. Aber auch dies ist nicht als eherne Wahrheit gemeint, sondern sollte als eine die künftige Forschung anleitende Vermutung aufgefasst werden.

„LECK IM RAUMSCHIFF ERDE“1 Die Entdeckung des Ozonlochs und die Reaktion westdeutscher Chemieunternehmen auf Forderungen nach einem FCKW-Verbot (1974–1995) Christian Marx, Trier/Tübingen 1. EINLEITUNG Mit dem Auslaufen des europäischen Nachkriegsbooms bildete sich ein gesellschaftliches Klima zunehmender umweltpolitischer Sensibilität heraus. Die um das Jahr 1970 zu verortende Trendwende spiegelte sich zum einen in der von Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) betriebenen Umweltpolitik „von oben“ und der Gründung neuer Institutionen wie dem Umweltbundesamt 1974 wider, zum anderen mündeten die Bedrohungsszenarien in den Neuen Sozialen Bewegungen und dem Entstehen der Grünen als neuer Partei.2 Auf das „1950er Syndrom“3 stark ansteigender Umweltbelastungen infolge des Durchbruchs der industriellen Massenproduktion im „Goldenen Zeitalter“4 mit billigen Preisen für fossile Energieträger schloss sich die „1970er Diagnose“5 an, in der die Belastungen der Konsumgesellschaft als akute Probleme wahrgenommen wurden.6 Dramatische Unfälle wie in Seveso (1976) oder Bhopal (1984) erhöhten das Bewusstsein für die Gefahren der 1

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DER SPIEGEL 49/1987, S. 262–273. Die Spiegel-Ausgabe trug den Titel: „Lebensgefahr aus der Dose. Das Ozonloch“. Vgl. auch Joachim Radkau: Scharfe Konturen für das Ozonloch. Zur Öko-Ikonografie der Spiegel-Titel, in: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute. Göttingen 2008, S. 532–541. Monika Bergmeier: Umweltgeschichte der Boomjahre 1949–73. Das Beispiel Bayern. Münster 2002; Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen. München 2011; Frank Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2007, S. 28–38, 67 f. Christian Pfister (Hg.): Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft. Bern 1995. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 10. Aufl., München 2010, S. 283–499. Patrick Kupper: Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte?, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348. Melanie Arndt: Umweltgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: https://docupedia.de/zg/Umweltgeschichte_Version_1.0_Melanie_Arndt?oldid=85136 (2010); Jens Ivo Engels: Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13 (2006), S. 32–38; Kai F. Hünemörder: 1972 – Epochenschwelle der Umweltgeschichte?, in: Franz-Josef Brüggemeier/Jens Ivo Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt a. M. 2005, S. 124–144; Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft. Göttingen 2008, S. 158 f.; Ders.: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. München 2007, S. 132 f.

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Christian Marx

Chemieproduktion und führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einigen Fällen zu neuen, für die Unternehmensakteure handlungsleitenden Sinndeutungen.7 Zu den Diskussionen über die „Grenzen des Wachstums“8 entwickelten sich zeitgleich Überlegungen über die Nachhaltigkeit einer industriellen Massenproduktion. Dabei standen den proklamierten Wachstumsgrenzen keineswegs abschätzbare Unfallgefahren oder Umweltprobleme gegenüber, vielmehr schienen sich die Probleme der Industrieproduktion am Ende der Hochmoderne zu kumulieren.9 Mit der Metapher „Raumschiff Erde“ hatte Kenneth Boulding schon 1966 gegen die Vorstellung Position bezogen, die Menschheit würde in einem offenen System leben, und forderte ein Ende der verschwenderischen Ressourcenausbeutung.10 Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel griff diesen Begriff Ende 1987 bereitwillig auf, um damit Kritik am gerade verabschiedeten Abkommen von Montreal zur Senkung des Ausstoßes von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) zu üben. Chemieunternehmen galten sowohl aufgrund singulärer Unfälle als auch wegen ihrer ständigen Verunreinigung von Flüssen, Böden und Luft als Umweltverschmutzer.11 So musste sich der westdeutsche Chemiekonzern Hoechst nicht nur für die Einleitung von Schmutzwasser und Luftverunreinigungen während des Herstellungsprozesses verantworten, vielmehr standen auch seine Produkte unter eingehender Beobachtung. Neben dem negativen Image chemischer Dünge- und Pflanzenschutzmittel geriet in den 1970er Jahren mit FCKW ein weiteres zentrales Produktfeld in die Schlagzeilen. Wissenschaftliche Analysen machten deren Freisetzung für den Abbau der schützenden Ozonschicht in der Stratosphäre verantwortlich. Grundsätzlich stellt die Ozonschicht ein frei zugängliches Gut dar, von dem alle Menschen aufgrund des Schutzes vor UV-Strahlung profitieren. Auch 7 8 9

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Thilo Jungkind: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2013. Dennis L. Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972. Ulrich Herbert: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–21; Kai F. Hünemörder: Kassandra im modernen Gewand. Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004, S. 78–97; Patrick Kupper: „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Ebd., S. 98–111. Kenneth E. Boulding: The Economics of the Coming Spaceship Earth, in: Henry Jarret (Hg.): Environmental Quality in a Growing Economy. Baltimore 1966, S. 3–14; Reinhold Reith: Umweltgeschichte und Technikgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts. Konvergenzen und Divergenzen, in: Technikgeschichte 75 (2008), S. 337–356, hier 351. Rachel Carson: Silent Spring. Boston 1962; Martin Forter: Farbenspiel. Ein Jahrhundert Umweltnutzung durch die Basler chemische Industrie. Zürich 2000; Ralf Henneking: Chemische Industrie und Umwelt. Konflikte um Umweltbelastungen durch die chemische Industrie am Beispiel der schwerchemischen Farben- und Düngemittelindustrie der Rheinprovinz (ca. 1800–1914). Stuttgart 1994; Ernst Homburg/Tony Travis/Harm G. Schröter (Hg.): The Chemical Industry in Europe, 1850–1914. Industrial Growth, Pollution and Professionalization. Dordrecht 1998; Christian Simon: DDT. Kulturgeschichte einer chemischen Verbindung. Basel 1999.

„Leck im Raumschiff Erde“

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wenn niemand unmittelbar Ozon konsumiert, kann sie als Allmende-Gut bezeichnet werden, da durchaus Rivalität über ihren dauerhaften Erhalt besteht.12 Während Mitte der 1970er Jahre zunächst nur Vermutungen über die von FCKW ausgehenden Gefahren geäußert wurden, bestätigte die Entdeckung des Ozonlochs diesen Verdacht endgültig. Daraufhin entschlossen sich 1987 mehrere Staaten im Montrealer Protokoll, die FCKW-Verbreitung drastisch zu senken. Im Rahmen des folgenden Beitrags wird dieser Prozess aus Sicht des HoechstKonzerns untersucht. Mit welchen Maßnahmen reagierte das Management auf die Kritik an FCKW-Produkten? Gab es seitens des Unternehmens Versuche, Einfluss auf die politischen Akteure zu nehmen, und inwiefern bemühten sich die FCKWherstellenden Chemieunternehmen und die verarbeitenden Aerosol-Unternehmen um ein gemeinsames Vorgehen? Hierbei werden die Handlungs- und Entscheidungsspielräume sowie die Strategiewechsel der Akteure herausgearbeitet. Welche Vereinbarungen wurden bei Hoechst getroffen, um der gesetzlich vorgeschriebenen FCKW-Reduzierung nachzukommen, und welche Produkte wurden neu- oder weiterentwickelt? Auf Grundlage von Quellenmaterial aus dem Hoechst-Archiv wird ein Einblick in unternehmensspezifische Wandlungsprozesse der Chemieindustrie vor dem Hintergrund eines zunehmenden Bewusstseins für umweltpolitische Fragen in den 1970er und 1980er Jahren gegeben. Die Hinzuziehung von Aktenmaterial aus dem Umweltbundesamt ermöglichte zudem, das Verhältnis von Wirtschaft und Politik genauer zu beleuchten. Der Beitrag bietet damit einen unternehmensund umwelthistorischen Zugriff auf die Postboomperiode und knüpft sowohl an aktuelle Forschungen der Wirtschafts- und Zeitgeschichte als auch an den noch jungen Trend zur Verbindung von Unternehmens- und Umweltgeschichte an.13 Im Folgenden werden die Rolle und der Einfluss der westdeutschen Chemieunternehmen in der FCKW-Frage in drei chronologisch aufeinander aufbauenden Kapiteln analysiert. Während das zweite Kapitel den Zeitraum von der Veröffentlichung der Hypothese 1974 bis zur Vereinbarung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft 1980 umfasst, reicht das darauffolgende Kapitel bis zur Verabschiedung des Montrealer Protokolls 1987. Anschließend wird der Ausstieg aus der FCKW-Pro-

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Garret Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248; Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Tübingen 1999; Volker Stollorz: Elinor Ostrom und die Wiederentdeckung der Allmende, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (2011), S. 3–8; Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002, S. 90–98, 293; Rolf Peter Sieferle: Wie tragisch war die Allmende?, in: GAIA 7/4 (1998), S. 304–307. Hartmut Berghoff/Mathias Mutz: Missing Links. Business History and Environmental Change, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009/2 (2009), S. 9–21; Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl., Göttingen 2012, S. 118–121; Reinhold Reith: Die Internalisierung der externen Effekte. Konzepte der Umweltgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte, in: Günter Bayerl/Wolfhard Weber (Hg.): Sozialgeschichte der Technik. Ulrich Troitzsch zum 60. Geburtstag. Münster/New York 1998, S. 15–24. Ich möchte mich an dieser Stelle bei der Hoechst GmbH (Sanofi-Gruppe) für die Möglichkeit zur Akteneinsicht und beim Umweltbundesamt für die Gewährung einer Schutzfristverkürzung bedanken.

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duktion bis Mitte der 1990er Jahre nachgezeichnet und ein abschließendes Fazit gezogen. 2. VON DER AUSGANGSHYPOTHESE ZUR FCKW-BESCHRÄNKUNG (1974–1980) Hoechst hatte 1938 mit der Produktion von FCKW begonnen, diese zunächst als Kältemittel, später auch als Treib- und Lösemittel unter dem Markennamen Frigen vertrieben und dominierte die westdeutsche FCKW-Herstellung. In den USA nahm der Chemiekonzern DuPont diese Position ein. Während in den 1960er Jahren Nuklearexplosionen und Abgase von Überschallflugzeugen im Verdacht standen, die Ozonschicht zu schädigen, rückten bald die Chlor enthaltenden Emissionen der US-Raumfähren als Verursacher in den Fokus.14 Daraufhin stellten die beiden USChemiker Mario Molina und Sherwood Rowland im Juni 1974 die Hypothese auf, die Chlor enthaltenden FCKW seien für die Abnahme der Ozonkonzentration verantwortlich.15 Die USA nahmen zu diesem Zeitpunkt noch eine klare Vorreiterrolle in der Umweltpolitik ein; in der Bundesrepublik stellte erst der Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition einen Wendepunkt in der Umweltpolitik dar. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher griff das Thema aus koalitionsinternen und parteipolitischen Überlegungen bereitwillig auf, und 1971 verabschiedete das Kabinett ein Umweltprogramm, in dem die drei Leitlinien deutscher Umweltpolitik – Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip – festgesetzt wurden. Allerdings geriet der von einem breiten Konsens getragene Umweltschutz mit der Ölpreiskrise 1973/74 und Auseinandersetzungen über die Kernenergie bald an sein Ende.16 Durch die 1974 einsetzende Ozondebatte eröffnete sich neben den bisherigen Feldern des Umwelt- und Naturschutzes eine weitere Konfliktlinie zwischen ökonomi14

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Reiner Grundmann: Transnationale Umweltpolitik zum Schutz der Ozonschicht. USA und Deutschland im Vergleich. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 67, 89–92; Julia Brüggemann: Der Weg zum FCKW-Verbot in der Bundesrepublik Deutschland und die Haltung der deutschen Chemieindustrie (Masterarbeit). Göttingen 2012, S. 11; Hoechst-Archiv (HA), Toxikologie und Umweltschutz (TU) (01.01.1977–30.04.1977), Hoechst-Broschüre: „Die Frigen Story“ (1977); Richard S. Stolarski/Ralph Cicerone: Stratospheric Chlorine. A Possible Sink for Ozone, in: Canadian Journal of Chemistry 52 (1974), S. 1610–1615. Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 71 f., 95–114, 188–192; James E. Lovelock/R. J. Maggs/R. J. Wade: Halogenated Hydrocarbons in and over the Atlantic, in: Nature 241 (1973), S. 194 ff.; Mario J. Molina/F. Sherwood Rowland: Stratospheric Sink for Chlorofluormethanes. Chlorine-Atom Catalysed Destruction of Ozone, in: Nature 249 (1974), S. 810 ff. Karl Ditt: Die Anfänge der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und frühen 1970er Jahre, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. 2. Aufl., Paderborn u. a. 2005, S. 305–347; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 211–216; Edda Müller: Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik – (Ohn) macht durch Organisation. Opladen 1986; Bernhard Weßels: Politik, Industrie und Umweltschutz in der Bundesrepublik. Konsens und Konflikt in einem Politikfeld 1960–1986, in: Dietrich Herzog/Bernhard Weßels (Hg.): Konfliktpotentiale und Konsensstrategien. Beiträge zur politischen Soziologie der Bundesrepublik. Opladen 1989, S. 269–306, hier 271–281.

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schen Interessen und gesellschaftlichen Forderungen nach einem umfassenden Gesundheitsschutz. Da kurzfristig kein wissenschaftlicher Beweis für die Gültigkeit der FCKWOzon-Hypothese erbracht werden konnte, stellte sich die Frage, inwieweit bereits vor einer endgültigen Klärung Regelungen zu treffen seien, um einer zukünftigen Katastrophe zu entgehen. In den USA setzte sich bei den Regulierungsbehörden Mitte der 1970er Jahre die Ansicht durch, die seitens der Unternehmen vorgebrachten Argumente möglicher Arbeitsplatzverluste und fehlender Ersatzstoffe seien in Anbetracht der potenziellen Gefahren zu vernachlässigen. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, in denen sich die Regulierungsbefürworter auf die 1970 unter Nixon eingerichtete Umweltbehörde Environmental Protection Agency (EPA) und öffentlichkeitswirksame Auftritte von Wissenschaftlern stützen konnten, fehlten in der Bundesrepublik lautstarke Regulierungsbefürworter. Das erst 1974 als Beratungsbehörde des Bundesinnenministeriums gegründete Umweltbundesamt (UBA) stand einer Regulierung zwar positiv gegenüber, passte sich aber weitgehend der Regierungslinie an.17 Auf Seiten der Gegenallianz standen in den USA die Manufacturing Chemists Association (MCA) und der Chemiekonzern DuPont, die von einer wesentlich kürzeren FCKW-Lebensdauer ausgingen. Dabei legte sich DuPont eine gewisse Selbstverpflichtung auf, indem das Unternehmen 1975 öffentlich erklärte, die Produktion entsprechender Stoffe zu beenden, sobald ein wissenschaftlicher Nachweis eines FCKW-Ozon-Zusammenhangs erbracht sei. Die deutschen Hersteller waren hier vorsichtiger. Hoechst und Kali-Chemie waren für etwa 15 Prozent der weltweiten FCKW-Produktion verantwortlich und nahmen zunächst Kontakt zum nahe gelegenen Max-Planck-Institut für Chemie (MPI, Otto-Hahn-Institut) in Mainz auf. Zwar sah es der Leiter der MPI-Chemieabteilung Prof. Dr. Christian Junge als wissenschaftlich erwiesen an, dass sich in der Ozonschicht chemische Reaktionen ereignen würden, allerdings zog dies seiner Meinung nach keine Ozonverminderung nach sich, da ständig neues Ozon gebildet werde. Damit folgte Junge dem traditionellen Bild der Atmosphärenchemie seit den 1930er Jahren.18 Daneben knüpfte Hoechst Kontakte zum 1974 ernannten Leiter des Instituts für Atmosphärische Chemie, Prof. Dieter Ehhalt, in der Kernforschungsanlage Jülich. Der aus den USA kommende Ehhalt war dort Mitglied im National Academy of Sciences (NAS)-Panel 1974/75 und wollte die Modellrechnungen des niederländischen Meteorologen Paul Crutzen fortsetzen.19 Gleichzeitig bemühte sich Hoechst im Verbund mit anderen europäischen FCKW-Herstellern um eine gemeinsame Gegenkoalition. Hierzu fand noch im Oktober 1974 ein Treffen des Hoechst-Direktors B. Hoffmann mit Vertretern des französischen Unternehmens Rhône-Poulenc/Progil und des britischen Konzerns Impe17 18 19

Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 185–188, 215. Ebd., S. 193–197, 217–220; HA, TU (01.01.1974–31.12.1974), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (13.03.1974), Notiz ATA AN/Hoffmann (01.10.1974). HA, TU (01.01.1975–31.05.1975), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (29.04.1975); HA, TU (01.06.1975–31.08.1975), Notiz von Kollrack (Marktförderung Frigen) für Hilger und Bereich A (16.06.1975).

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rial Chemical Industries (ICI) statt, bei dem die Unternehmen vereinbarten, die kritischen Studien gegenüber der Ozon-FCKW-Hypothese von James Lovelock finanziell zu fördern. Ebenso waren Rhône-Poulenc/Progil und ICI mit dem HoechstVorschlag einverstanden, die toxikologischen Eigenschaften von FCKW im europäischen Verbund zu untersuchen.20 Die westeuropäischen Konzerne verharrten somit keineswegs in einer Schockstarre. Im Herbst 1975 startete Hoechst eine Offensive und behauptete unter Berufung auf Lovelock und Crutzen, dass nur 20 Prozent des atmosphärischen Chlorgehalts FCKW zuzuschreiben und das Ausmaß der Ozonzerstörung wesentlich geringer sei. Daneben bemühte sich das Unternehmen, die Öffentlichkeit durch seine Broschüre Frigen Information in seinem Sinne zu beeinflussen.21 Über die American Hoechst Corporation (AHC), das US-Tochterunternehmen, wurde Hoechst zudem über die Entwicklungen innerhalb der MCA informiert. Schon im November 1972 waren hier für den Zeitraum 1973 bis 1978 drei Projekte zur Wirkung von FCKW in der Atmosphäre im Umfang von 1,245 Millionen Dollar angestoßen worden.22 Obwohl die FCKW-Hersteller grundsätzlich in Konkurrenz zueinander standen, befürworteten sie in Anbetracht der öffentlichen Kritik ein gemeinsames Vorgehen. Innerhalb der Gruppe europäischer Produzenten zeigte sich dieses verstärkte Abstimmungsbedürfnis in der Neugründung eines „Technischen Arbeitskreises FKW“ durch die italienische Montedison, Rhône-Poulenc, die französische Produits Chimiques Ugine Kuhlmann (PCUK), den deutsch-niederländischen Akzo-Konzern, ICI, Hoechst sowie Kali-Chemie. Der Arbeitskreis lehnte sich an den Verband der Europäischen Chemischen Industrie – Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique (CEFIC) – und die Föderation Europäischer Aerosolverbände – Fédération Européenne des Aérosols (FEA) – an. Die FCKW-produzierenden Chemieunternehmen befürchteten aufgrund des öffentlichen Drucks ein Ausweichen der Aerosolindustrie auf andere Treibmittel und strebten deshalb nach einem gemeinsamen Vorgehen beider Industriebranchen.23 Um nicht von einem plötzlichen Ausstieg der Aerosolunternehmen überrascht zu werden, suchten die Produzenten nach Alternativlösungen. ICI, PCUK und Hoechst vereinbarten daher im Februar 1976, bei der Erforschung von Ersatzstoffen enger zusammenzuarbeiten.24 Nur wenige Monate später, im Mai 1976, stellte das Battelle-Institut, eine Einrichtung naturwissenschaftlich-technischer Vertragsforschung, im UBA eine seitens des Bundesinnenministeriums in Auftrag gegebene Studie vor, in der die OzonFCKW-Hypothese weitgehend bestätigt wurde. Der Fachverband Industrie-Ge20

21 22 23 24

HA, TU (01.01.1974–31.12.1974), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (10.10.1974). Laut Hoffmann bezeichnete Lovelock seine Kollegen Rowland und Molina als „Armchair Scientists“; diese kritische Haltung wurde von den Industrievertretern offensichtlich positiv aufgenommen. Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 221 ff. HA, TU (01.01.1974–31.12.1974), Geschäftsbereich A/Dr. Haas, Notiz für Herrn Hilger (12.12.1974). HA, TU (01.06.1975–31.08.1975), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Pfleiderer (12.08.1975). HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Aktennotiz ATA-AN/Pfleiderer (19.02.1976).

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meinschaft Aerosole (IGA) hatte dem Battelle-Institut zuvor die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer sowie die Höhe des investierten Kapitals mitgeteilt und versuchte neben den naturwissenschaftlichen Aspekten politische und ökonomische Argumente ins Feld zu führen. Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme nach der ersten Ölpreiskrise 1973/74 gewannen diese in der Umbruchphase nach dem Boom wesentlich an Bedeutung. Die Gefahr einer Hautkrebserkrankung wurde hingegen heruntergespielt. In diesem Zusammenhang stand das einer FCKW-Regulierung zugeneigte UBA vor der schwierigen Aufgabe, seine eigenen Vorstellungen mit den Wünschen des Bundesinnenministeriums in Einklang zu bringen, das sich gegenüber den Bedürfnissen der Industrievertreter offener zeigte.25 Tab. 1: Anzahl der betroffenen Arbeitsplätze Unternehmen Aerosol-Abfüller Dosenhersteller

FCKW-Treibmittelhersteller Ventilhersteller

Rohstoff- und Verpackungsmaterialhersteller Schutzklappenhersteller Summe

Zahl der Beschäftigten 5.000 1.200

600

1.500 2.200

500

11.000

Quelle: HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Verkauf Anorganische Chemikalien/Notiz (29.03.1976).

Die zuständigen Bundesministerien wurden von Hoechst Anfang 1976 über den aktuellen Forschungsstand der Industrie und die sich bei einer FCKW-Reduktion abzeichnenden Probleme informiert. Zugleich erhielt das Bundesinnenministerium einen umfangreichen Bericht über die Produktion von FCKW 11 und 12 für die bevorstehende OECD-Konferenz. Die Weltproduktion dieser beiden FCKW-Typen war bei etwa 25 Herstellern konzentriert und umfasste bei Hoechst über 90 Prozent der gesamten FCKW-Produktion.26

25

26

Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 22, 28 ff.; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 220; HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Verkauf Anorganische Chemikalien/Notiz (29.03.1976); HA, TU (01.04.1976–31.12.1976), Notiz von ATA-AN/Hoffmann (01.04.1976), Hoechst an UBA (01.09.1976). Das investierte Kapital wurde mit 102 Millionen DM für die Dosenhersteller und 150 Millionen DM für die Aerosol-Abfüller angegeben. HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Hoechst an BMI/Weber (13.01.1976), ATA-AN an Harnisch (15.01.1976), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (12.02.1979).

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Tab. 2: Schätzung über die weltweite Produktion von FCKW 11 und 12 in Tonnen (1975) FCKW 11 Europa (einschl. Ostblock) Nordamerika

Mittel- und Südamerika Asien (einschl. China) Australien Afrika

Gesamt

FCKW 12 158.000

160.000

5.000

10.000

170.000 27.000 7.000 3.000 370.000

220.000 40.000 10.000 5.000

445.000

Quelle: HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Hoechst an BMI/Weber (13.01.1976).

Im Unterschied zu den Produktionszahlen war eine weltweite Schätzung über den FCKW-Verbrauch aus Sicht des Hoechst-Konzerns nicht zu erbringen, da diese Mengen nach Anwendungsgebieten in einzelnen Ländern stark variierten. In der Bundesrepublik wurden 1973 etwa 60 bis 65 Prozent für Aerosole, 15 bis 20 Prozent für die Kälte- und Klimatechnik und circa 20 Prozent für weitere Gebiete wie die Kunststoffverschäumung oder Lösemittel eingesetzt. Hinsichtlich möglicher Alternativen zu FCKW 11 und 12 brachte Hoechst andere FCKW-Typen ins Gespräch, machte aber sogleich darauf aufmerksam, dass bei einem restriktiven Vorgehen voraussichtlich alle Typen betroffen sein würden. Damit wird deutlich, dass Hoechst schon 1976 ein umfangreiches FCKW-Verbot in Betracht zog. Ferner verwies das Unternehmen gegenüber dem Bundesinnenministerium für den Aerosolbereich auf die geringe Bedeutung mechanischer Zerstäuber und Pumpen, die Brennbarkeit und Explosionsgefahr anderer Treibmittel wie Propan und Butan sowie die schlechte Löslichkeit anderer Treibgase. Die physikalischen Vorteile im Anwendungsbereich seien somit unübersehbar. Gleichzeitig sei das notwendige Know-how für den Einsatz von FCKW 22 als Alternativtreibmittel noch nicht vorhanden. Auch in der Kältetechnik und der Kunststoffverschäumung bedeute ein FCKW-Verbot einen Rückschritt, da andere Kältemittel wie Ammoniak oder Schwefeldioxid entweder brennbar oder giftig seien und die Technik der Verschäumung damit auf den Stand von 1960 zurückgeworfen werde.27 Vor dem Hintergrund der ökonomischen Verwerfungen in den 1970er Jahren mussten solche Äußerungen hohe Aufmerksamkeit auf politischer Ebene erfahren.

27

HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Hoechst an BMI/Weber (13.01.1976).

249

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Tab. 3: Produktion von FCKW 11 und 12 bei der Hoechst AG in Tonnen FCKW 11 1960 1965 1970 1975 seit 1938

FCKW 12 2.800

10.700 29.800 37.000 344.700

6.900

19.000 37.900 37.800 431.100

Quelle: HA, TU (01.09.1975–31.03.1976), Hoechst an BMI/Weber (13.01.1976).

Am 10. Dezember 1976 fand auf Grundlage der neuesten NAS- sowie der BattelleStudie ein Fachgespräch im UBA mit Vertretern der FCKW- und CO2-Hersteller, der Kälteindustrie, der mechanischen Pumpenhersteller, des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), der IGA, des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel sowie verschiedenen Forschern statt. Deren gemeinsame Stellungnahme sah die qualitative Gültigkeit der Ozon-FCKW-Hypothese grundsätzlich als nicht widerlegt an, obgleich die quantitativen Auswirkungen noch weiterer Untersuchungen bedürften. Während das UBA die Wiedereinführung von Pumpensystemen im Aerosolbereich als sinnvollen Ausweg ansah, der seitens der Hoechst AG als „verständlicher Laienstandpunkt“ klassifiziert wurde, favorisierten die Hersteller eine Umstellung auf andere FCKW-Typen, um ihre Produktionskapazitäten auszulasten. Die Umstellungsphase wurde im Fall von FCKW 22 auf vier, bei anderen Typen auf mindestens sechs Jahre veranschlagt. Da ein Aufschub von zwei Jahren die Ozonabbaurate nur geringfügig erhöhte, wurde von gesetzlichen Restriktionen abgesehen.28 Zugleich insistierte Hoechst immer wieder auf die sicherheitstechnische Unzumutbarkeit alternativer Treibmittel und spielte das Krebsrisiko infolge erhöhter UV-Strahlung herunter. Bei der Suche nach Ersatzstoffen spielten neben Sicherheitsaspekten und physikalischen Eigenschaften ökonomische Faktoren eine zentrale Rolle. So wurde in einem Bericht der Hoechst-Forschungsabteilung im April 1977 festgehalten, dass lediglich FCKW 22 zu einem akzeptablen Preis hergestellt werden könnte. In diesem Fall konnte Hoechst mit den vorhandenen Anlagen weiterproduzieren und nach wie vor die interne Rohstoffbasis nutzen.29

28

29

Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 202–205, 230; HA, TU (01.04.1976–31.12.1976), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (14.12.1976), Sonderdruck „Pfleiderer, Gerhard: Fluorkohlenwasserstoffe und Ozon, in: Klima + Kälte Ingenieur 9 (1976), S. 309–312“; HA, TU (01.01.1977–30.04.1977), UBA an Hoechst (03.01.1977). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 224; HA, TU (01.01.1977–30.04.1977), Harnisch an Schlitt (22.04.1977).

250

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Tab. 4: Treibmittel und Anwendungsbereiche in der Bundesrepublik (1977) Treibmittel

in %

Anwendungsbereiche bei Aerosolen*

in %

FCKW

61 Körperpflege

67

Propan/Butan

22 Haushalt

18

Kohlendioxid

12 Farben/Auto/technische Sprays

11

Pumpensprüher

5 Pharmazeutika

4

Quelle: HA, TU (01.10.1977–31.12.1977), BMI an Bundeskanzleramt, BMFT, Bundesminister für Jugend Familie und Gesundheit, Bundesminister für Wirtschaft (12.10.1977). (* ohne Pumpensprüher)

Bei einem vertraulichen Spitzentreffen im Bundesinnenministerium am 19. Juli 1977, an dem sowohl Bundesinnenminister Werner Maihofer als auch HoechstVorstand Wolfgang Hilger teilnahmen, zeigte sich die Bundesregierung stark an einer Verständigung mit der Industrie interessiert und strebte eine einvernehmliche Lösung an. Hilger wandte sich gegen eine schnelle freiwillige Selbstbeschränkung der Industrie, betonte die Unzweckmäßigkeit eines öffentlichen Hearings und machte nochmals deutlich, dass sich jegliche Beschränkung im „Rahmen des wirtschaftlich Möglichen bewegen“ müsse. Daraufhin einigten sich beide Seiten auf folgendes Vorgehen: Maihofer sollte dem Hoechst-Vorstandsvorsitzenden Rolf Sammet offiziell mitteilen, dass die Bundesregierung in Absprache mit den übrigen EG-Ländern eine FCKW-Reduktion bei Aerosolen von einem Drittel bis 1979 beabsichtige. Im Gegenzug könnte Sammet seitens der Industrie die Zusage einer freiwilligen Beschränkung um 25 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1975 abgeben.30 Auf diese Weise sollte das Ergebnis nach außen als harter Verhandlungskompromiss dargestellt werden, tatsächlich stand das Resultat schon vorher fest, und die FCKW-Produzenten setzten damit ihre Forderungen weitgehend durch. Doch im November 1977 nutzte Maihofer aktuelle Berichte der EPA und der NASA über eine stärker als bisher angenommene Ozonminderung und forderte die chemische Industrie auf, ihre Selbstbeschränkung zu überdenken. Sammet machte daraufhin gegenüber Maihofer auf die fortbestehenden Unklarheiten einer möglichen FCKWSenke aufmerksam und unterstrich erneut die ökonomische Bedeutung der FCKWProduktion. Zugleich betonte Hoechst gegenüber dem UBA 1977/78 mehrmals die Diskrepanzen zwischen Messwerten und Modellrechnungen.31 Das vom Bundesinnenministerium angestrebte öffentliche Hearing zur Ozonfrage im Herbst 1977 wurde – ganz im Sinne der Industrievertreter – abgesagt, stattdessen etablierte das Ministerium einen Beraterkreis für FCKW- und Aerosolfragen, dem neben mehre30 31

HA, TU (01.05.1977–30.09.1977), Protokoll über Gespräch im BMI (25.07.1977), Harnisch an Gäbler (27.07.1977), BMI an Sammet (Juli 1977). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 224 ff.; HA, TU (01.10.1977–31.12.1977), Maihofer an Sammet (24.11.1977), Aktennotiz ATA-AN/Pfleiderer (14.12.1977).

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ren IGA-Vertretern auch B. Hoffmann (Hoechst) und Dr. Joachim Massonne (KaliChemie) angehörten.32 In Anbetracht der Öffentlichkeitswirksamkeit zog Hoechst Verhandlungen im vertraulichen Kreis des Ministeriums eindeutig vor. Während das UBA sogar eine Verbrauchssenkung von 50 Prozent anvisierte, beinhaltete der Ende 1977 zwischen VCI und Bundesinnenministerium geschlossene Kompromiss bei Aerosolen bis 1979 eine freiwillige Selbstbeschränkung um 30 Prozent auf dem Basisjahr 1975. Ein Verbot wollte auch die Bundesregierung vermeiden.33 Daneben trieb Hoechst die Koordination der europäischen FCKW-Hersteller voran und organisierte im Dezember 1977 mit den Konkurrenten ICI, PCUK, Montedison und Kali-Chemie eine Konferenz über die Toxizität von FCKW.34 Tab. 5: FCKW-Verwendung als Aerosol-Treibmittel in der Bundesrepublik Jahr

FCKW-Verbrauch in 1.000t

Spraypackungen in Millionen

Gesamtmarkt

Hoechst

Kali-Chemie

1974

418

49,0

28,9

9,0

1976

457

25,2

10,0

1975 1977

425 445

50,2 48,2

41,45

30,0 21,75

Andere Produzenten 11,1

9,5

10,7

9,7

10,0

13,0

Quelle: HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Heinz Harnisch (Hoechst) an Katin (BMI) (09.03.1978), Erwin Hof (Hoechst) an Katin (BMI) (23.03.1978).

Während die deutsche Botschaft aus den USA über mögliche Deodorants in fester Form als Alternative berichtete, hielt der interministerielle Ausschuss an der Pumpensprühtechnik für Deodorants fest. Die betreffenden Unternehmen wiesen allerdings darauf hin, dass deren Marktentwicklung letztlich von der Akzeptanz der Verbraucher abhänge. Laut einer Erklärung der IGA sollte der FCKW-Einsatz im Aerosolbereich bis 1979 auf ein Drittel und bis 1981 auf die Hälfte des Basiswerts abgesenkt werden.35 Alle Beteiligten waren mit dieser Regelung weitgehend einverstanden. Umso mehr zeigte sich Ministerialrat Dr. Ing. Katin bei einem Treffen der von Maihofer und Sammet ausgehandelten „Arbeitsgruppe Aerosole“ über aktuelle Entwicklungen in den USA beunruhigt und verurteilte das individuelle Vorpreschen des schleswig-holsteinischen Einzelhändlers Hansen, der einen Verzicht auf den Verkauf jeglicher FCKW-Produkte angekündigt hatte. In den Augen Katins wurde durch Hansen die unternehmerische Phalanx der FCKW-Befürworter entscheidend aufgebrochen. Katin sah sich deshalb einerseits genötigt, weitere Maß32 33 34 35

HA, TU (01.10.1977–31.12.1977), Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien, Auszug aus Aerosol-Information (07.11.1977). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 230 f. HA, TU (01.10.1977–31.12.1977), Hoechst AG Pharma Forschung, Summary of Discussions on Toxicity of Fluorocarbons (15./16.12.1977). HA, TU (01.10.1977–31.12.1977), BMI an Bundeskanzleramt, BMFT, Bundesminister für Jugend Familie und Gesundheit, Bundesminister für Wirtschaft (12.10.1977).

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nahmen zur FCKW-Reduzierung auf den Weg zu bringen, andererseits stand die Aussage des Innenministers im Raum, der die Drittelbeschränkung grundsätzlich als ausreichend erachtete.36 Nachdem der NAS-Zwischenbericht vom Dezember 1977 eine etwa doppelt so hohe Ozonabbaurate wie der erste NAS-Bericht 1976 ausgegeben hatte, nutzten die Regulierungsbefürworter in den USA die Gunst der Stunde und setzten 1978 ein vollständiges FCKW-Verbot in Spraydosen durch. Hierdurch erlangten die europäischen Firmen zunächst einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren US-Konkurrenten, doch blieb die Entscheidung in den USA nicht ohne Auswirkungen auf Europa. Mit dem FCKW-Verbot in den USA setzte insbesondere eine stärkere Differenzierung zwischen der Aerosolindustrie und den FCKW-Produzenten ein. Obwohl Hoechst und Kali-Chemie auch innerhalb der IGA organisiert waren, fühlte sich der Verband stärker den Interessen der Aerosolunternehmen verpflichtet und kündigte bei einer Konfliktverschärfung eine Verteidigung der Spraydose auf Kosten von FCKW an.37 Die Hersteller betrachteten dieses Verhalten einerseits mit Argwohn, andererseits zeigte Hoechst Verständnis für die grundlegenden Existenzsorgen der Branche.38 In Anbetracht des US-Verbots lud Katin Hoechst, Kali-Chemie, Wella/ Ondal sowie die Dalli-Werke Mäurer & Wirtz und den VCI im Mai 1978 zu einem vertraulichen Gespräch ins Bundesinnenministerium ein, um einen über die Drittelreduktion hinausgehenden Stufenplan zu entwickeln. Aufgrund fortbestehender Gegensätze blieb das Treffen jedoch letztlich ohne konkretes Ergebnis.39 Auf europäischer Ebene sprach sich Hoechst zunächst gegen eine direkte Intervention beim EG-Ausschuss für Umwelt und Verbraucherschutz aus, doch war das Unternehmen auch hier keineswegs untätig. Eine von der Europäischen Gemeinschaft initiierte Studie der Metra Consulting Group erstellte unterschiedliche Szenarien eines möglichen FCKW-Ausstiegs. Neben einer unmittelbaren Intervention von Hoechst beim EG-Ministerrat wirkten die europäischen Chemiekonzerne über diese von ihnen beeinflusste Metra-Studie auf den EG-Ausschuss ein.40 Hoechst hatte Metra mitgeteilt, dass bei einer völligen Stilllegung der FCKW-Produktion der Bedarf an Natronlauge und Wasserstoff nicht mehr gedeckt werden könnte. Als Konsequenz müssten Teilbereiche zurückgefahren oder komplett stillgelegt werden, wodurch 83 Arbeitsplätze in der Produktion wegfielen; mit diesem Schritt würden auf einen Schlag 70 Millionen DM Investitionen zunichte gemacht.41 Auf Grundlage eines möglichen Ausfalls von 50.000 Tonnen Frigen 11 und 12 bei einem FCKW-Verbot für Sprays, der einen Umsatzrückgang um 143,3 Millionen DM 36 37 38 39 40 41

HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (26.05.1978). Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 16–20; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 73, 201–211; HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Frigen-Information (20.03.1978), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (26.05.1978). HA, TU (01.10.1978–30.04.1979), Marktförderung Frigen an Geschäftsbereich A (Gäbler) (02.11.1978). HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), BMI an Hoechst, Kali-Chemie, Wella/Ondal, Dalli-Werke Mäurer & Wirtz, VCI (09.05.1978). HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Telefonnotiz ATA-AN/Pfleiderer (05.04.1978). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 186; HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Geschäftsbereich A an ATA-AN/Hoffmann (31.03.1978).

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erwarten lasse, errechnete Hoechst im November 1978 einen Verlust von insgesamt 1.244 Arbeitsplätzen und wies zugleich auf ein niedrigeres Steueraufkommen von über 17 Millionen DM hin. Die aufgrund der DM-Aufwertung ohnehin in einer schlechteren Wettbewerbsposition stehenden deutschen Unternehmen würden durch den notwendig werdenden Zukauf von Grundstoffen in eine extrem nachteilige Situation geraten, so dass ein weiterer Stellenabbau im Inland nicht ausgeschlossen werden könnte. Hoechst wollte mit diesen Zahlen Umweltfragen in den Hintergrund drängen und sah jegliche weitere Verzichtserklärung der Industrie als „Kapitulation vor der Ozon-Theorie“ an.42 Tab. 6: Verteilung des Verbrauchs von FCKW 11 und 12 in der Bundesrepublik (1975) Anwendungsgebiet Kältemittel Aerosole

Kunststoffverschäumung Lösemittel Summe

in Tonnen

in Prozent 3.650

5,8

50.000

79,1

500

0,8

9.000

63.150

14,3 100,0

Quelle: HA, TU (01.11.1979–15.04.1980), Hof und Hoffmann (Hoechst) an Lohrer (UBA) (14.04.1980).

Steigende Arbeitslosenzahlen verliehen der in der Studie vorgezeichneten Entwicklung ein starkes Gewicht. Dabei stand dem Bedrohungsszenarium wachsender Arbeitslosigkeit das Bild einer weltweiten Gesundheitsgefährdung gegenüber. In dieser Situation machte der Parlamentarische Staatssekretär von Bundesinnenminister Gerhart Baum deutlich, dass sich die Bundesregierung alleine durch die bisherige Vermutung einer Ozonverminderung veranlasst sehe, Maßnahmen zur FCKW-Einschränkung durchzusetzen, sie der Industrie aber ausreichend Zeit zur Umstellung geben wolle und den Weg einer Selbstbeschränkung als sinnvoll erachte. Baum rechnete mit einem vollständigen Ausstieg der Aerosolindustrie aus der FCKWNutzung bis Anfang der 1980er Jahre.43 Die engen Beziehungen zum Bundesinnenministerium ließen die Hersteller um die bevorstehende FCKW-Einschränkung somit nicht im Unklaren, obschon das Verhältnis nicht vollkommen spannungsfrei war.

42

43

HA, TU (01.10.1978–30.04.1979), Marktförderung Frigen an Geschäftsbereich A (Gäbler) (02.11.1978), Hoffmann an Hilger/Gäbler (17.11.1978). Allein der Hoechst-Geschäftsbereich Organische Chemikalien erwirtschaftete 1978 einen Umsatz von über einer Mrd. DM; der inländische Gesamtumsatz lag 1978 bei knapp acht und der Weltumsatz bei über 25 Mrd. DM. Insofern wurde die Bedeutung der FCKW-Produktion nach außen deutlich überbetont. Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1978, S. 19 f. HA, TU (01.01.1978–30.09.1978), Frigen Information. Interview von Gerhart Baum im Süddeutschen Rundfunk (21.02.1978).

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Die Münchener FCKW-Konferenz im Dezember 1978 war ein weiterer Schritt in Richtung Beschränkung. Auch wenn sich der Hoechst-Vertreter sichtlich über ein Referat freute, bei dem ein sich sonnendes Mädchen gezeigt wurde, wodurch eine Gesundheitsgefährdung durch UV-Strahlen heruntergespielt werden sollte, so wirkte der Beitrag der EPA über die geplante zweite Phase der FCKW-Reduktion in den USA, die nicht mehr auf Sprays reduziert war, auf die anwesenden Industrievertreter „wie eine Dampfwalze“. Mit dem Gedanken einer FCKW-Beschränkung für Spraydosen hatten sich die Chemieunternehmen inzwischen weitgehend abgefunden, an eine Ausweitung auf andere Produktgruppen mochten sie hingegen nicht glauben.44 Die Münchener Konferenz war auch Hauptthema des folgenden Treffens der europäischen FCKW-Hersteller im Januar 1979, an dem neben Hoechst und Kali-Chemie auch ICI, Imperial Smelting Chemicals (ISC), Rhône-Poulenc/Progil, Akzo und Montedison teilnahmen. Hierbei kristallisierten sich zwei zentrale Problemfelder heraus: Erstens stellte der Vorschlag der Bundesregierung einer 30-Prozent-Reduzierung auf Basis des Jahres 1975 innerhalb der Europäischen Gemeinschaft die italienischen, französischen und britischen Firmen vor erhebliche Schwierigkeiten, da dort neben FCKW bereits andere Treibgase genutzt wurden. Umgekehrt wehrte sich Hoechst gegen die Verschiebung des Basisjahrs von 1975 auf 1976, da das Unternehmen seinen FCKW-Absatz entgegen dem europäischen Trend in dieser Zeit deutlich reduziert hatte. Doch konnte sich Hoechst in diesem Punkt am Ende nicht durchsetzen. Bei einem vertraulichen Gespräch des Bundesinnenministeriums, der IGA und Hoechst im Oktober 1979 machte Katin deutlich, dass die Verschiebung des Basisjahres als bindend anzusehen sei. Zweitens wurde den Herstellern ihr bedingter Einfluss auf den zukünftigen FCKW-Einsatz bei Spraydosen bewusst, da letztlich die Aerosolindustrie diese Entscheidung treffen musste. So testeten Schwarzkopf, Unilever oder L’Oréal eigene Mischrezepturen zur Senkung des FCKW-Anteils. In anderen Einsatzgebieten zeigte sich ein differenziertes Bild: Während die europäischen Hersteller in der Schaumproduktion deutliche Zuwächse und entsprechende Kritik erwarteten, sahen sie dem Kälte- und Klimabereich gelassen entgegen, da – im Unterschied zu den USA – vor allem die Pkw-Klimatisierung in Europa noch nicht weit fortgeschritten war und demzufolge kaum öffentliche Proteste zu erwarten waren.45 Das unaufhaltsame Näherrücken einer EG-Regelung veranlasste die deutsche Chemieindustrie im September 1979 zu einer Intervention beim EG-Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz, von der man Anfang 1978 noch abgesehen hatte. Hierin wiesen Hoechst und Kali-Chemie erneut auf die ökonomische Bedeutung von Frigen und Kaltron, die mit einem Produktionsrückgang 44

45

Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 22 ff., 35–38; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 233; HA, TU (01.10.1978–30.04.1979), Notiz: Telefonischer Zwischenbericht Harnisch (07.12.1978) [Zitat], Harnisch an Hilger, Gäbler, Hof, Hoffmann und Siebert (29.12.1978); Umweltbundesamt: Internationale Konferenz über Fluorchlorkohlenwasserstoffe 6. bis 8. Dezember 1978 in München. Volume I: Konferenzergebnisse. Berlin 1978. HA, TU (01.10.1978–30.04.1979), Notiz von Hof (19.01.1979); HA, TU (01.05.1979– 31.10.1979), Hilger an Hoffmann (13.07.1979), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann im BMI (25.10.1979).

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verbundenen sozialen Folgen eines Arbeitsplatzabbaus sowie die bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheiten hin.46 Doch der zweite NAS-Report Ende 1979, der gegenüber den Berechnungen von 1976 nun von einer Verdopplung der Ozonverminderung ausging, verfehlte seine Wirkung auch in Europa nicht, und so verabschiedete der Europäische Rat im März 1980 eine Entscheidung, wonach ein weiterer Ausbau von FCKW-Kapazitäten verboten und eine 30-Prozent-Reduzierung auf Basis des Jahres 1976 erlassen wurde. Die Einhaltung beider Bestimmungen stellte die Hersteller aufgrund der rezessiven Marktentwicklung zwar vor keine großen Probleme, allerdings widersprach die verbindliche Festsetzung ihrem Ziel nach keiner oder allenfalls einer freiwilligen Begrenzung.47 3. WACHSENDER REGULIERUNGSDRUCK: DIE WESTDEUTSCHEN FCKW-HERSTELLER AUF DEM WEG ZUM MONTREALER PROTOKOLL (1980–1987) Obwohl die Umweltpolitik in der zweiten Hälfte der sozialliberalen Regierung tendenziell in die Defensive geriet, blieb das Verhältnis zwischen Chemieunternehmen und dem zuständigen Bundesinnenministerium seit der Abkehr vom Weg der freiwilligen Selbstbeschränkung angespannt. Insbesondere die Einführung des Umweltengels zur Kennzeichnung umweltfreundlicher Produkte erregte die Gemüter. Der Aerosol-Verband, der VCI und Fachverbände der kosmetischen Industrie lehnten das Umweltzeichen ab und ermahnten ihre Mitgliedsfirmen, einen geringeren FCKW-Ausstoß nicht zu Werbezwecken zu nutzen. Bundesinnenminister Baum sah hierdurch das Vertrauensverhältnis zur Industrie erheblich gestört und drohte dem VCI im April 1980 mit der Umsetzung der EG-Entscheidung per Rechtsvorschrift, sollten sich die Chemieunternehmen nicht kooperativer zeigen.48 Doch die Chemieindustrie ließ sich davon nicht beeindrucken. Während sie sich auf europäischer Ebene auf günstige wissenschaftliche Beurteilungen stützen konnte, verwies sie gegenüber dem Bundesinnenministerium auf die von Maihofer und Sammet 1977 abgegebene Absichtserklärung einer 25-Prozent-Reduzierung, die inzwischen deutlich überschritten worden sei.49 Innenminister Baum stand aufgrund der Wahl46 47

48 49

Geschäftsbericht Kali-Chemie 1975, S. 20; HA, TU (01.05.1979–31.10.1979), Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien/Kollrack. Entwurf für eine Information der deutschen Mitglieder des EG-Ausschusses (28.09.1979). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 233 f., 260–263; HA, TU (01.11.1979– 15.04.1980), ATA-AN an Gäbler (11.01.1980), ATA-AN an Hilger und Gäbler (11.01.1980); Michael Huber/Angela Liberatore: A Regional Approach to the Management of Global Environmental Risks. The Case of the European Community, in: William C. Clark/Jill Jäger/Josee Van Eijndhoven (Hg.): Learning to Manage Global Environmental Risks. Volume I: A Comparative History of Social Responses to Climate Change, Ozone Depletion, and Acid Rain. Cambridge/London 2001, S. 295–322. Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 45–48; HA, TU (01.11.1979–15.04.1980), BMI an VCI (29.04.1980), Notiz von Hof über Umweltzeichen (14.07.1980); HA, TU (15.07.1980– 15.10.1980), Notiz von Hof über Umweltzeichen (22.07.1980). HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), ATA-AN/Pfleiderer mit Notiz für Gäbler (14.05.1980), VCI

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erfolge der Grünen bei der Europawahl (Juni 1979) und der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (Mai 1980) sowie der anstehenden Bundestagswahl unter erheblichem Druck und wollte im Wahlkampf mit einer weitergehenden Regulierung Stimmen gewinnen. Damit rückte er klar von der Position der FCKW-Hersteller ab. Die im Juni 1980 von ihm bei einer Besprechung im Bundesinnenministerium vorgeschlagene Reduzierung um 50 Prozent bei Aerosolprodukten bis Ende 1981 wurde erwartungsgemäß seitens IGA und Hoechst abgelehnt.50 Während die Chemieunternehmen die Metra Consulting Group bei ihren Studien bis dahin unterstützt hatten, da hier vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Folgen herausgehoben wurden, lehnten die Mitglieder des European Fluoro Carbons Technical Committee (EFCTC) die Mitarbeit an einem Metra-Bericht über eine 70-Prozent-Reduzierung kategorisch ab. Jede über die 30-Prozent-Regelung hinausgehende Begrenzung in Sprays hatte in ihren Augen einen vollständigen phase out zur Folge, den man um jeden Preis vermeiden wollte. Um der seitens des Bundesinnenministeriums und der Europäischen Gemeinschaft vorangetriebenen Verschärfung entgegenzuwirken, wies Hoechst auf den bereits eingetretenen Produktionsrückgang von FCKW 11 und 12 in den Jahren 1976 bis 1979 hin.51 Tab. 7: Welt- und EG-Produktion von FCKW 11 und 12 in 1.000 Tonnen Jahr 1976 1977 1978 1979

FCKW 11 (global)

FCKW 12 (global)

FCKW 11 (EG)

349,9

449,8

131,4

321,2

414,1

127,6

332,2 302,0

424,4 400,3

FCKW 12 (EG) 112,6

125,8

107,2

120,8

98,7

103,9

Quelle: HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), ATA-AN/Hoffmann an Gäbler, Kandler, Kollrack (02.10.1980).

Parallel kam Hoechst nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Koordination der FCKW-produzierenden Chemieunternehmen zu. Ohne das Wissen der übrigen Hersteller kamen die Manager der vier großen europäischen FCKW-Produzenten (ICI, PCUK, Montedison, Hoechst) zu regelmäßigen Gipfeltreffen zusammen. Der kleine Kreis der vier einflussreichen Unternehmen sollte eine Verständigung erleichtern, rief jedoch bei seinem Bekanntwerden 1980 den Unmut der vier kleineren Hersteller (ISC, Rhône-Poulenc, Akzo, Kali-Chemie) hervor. Pfleiderer (Hoechst) regte deshalb an, die übrigen Firmen von den Treffen offiziell in Kenntnis zu setzen, zumal Hoechst in der FCKW-Problematik enge Kontakte zu Kali50 51

an BMI (19.05.1980). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 80; HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), Besuchsbericht ATA-Anorganika/Hoffmann (23.06.1980), BMI an VCI (27.06.1980). HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), Bericht von ATA-AN/Pfleiderer (29.09.1980), ATA-AN/ Hoffmann an Gäbler, Kandler, Kollrack (02.10.1980); HA, TU (16.10.1980–28.02.1981), Notiz von ATA-AN/Hoffmann (26.11.1980); HA, TU (01.03.1981–30.06.1981), Hoffmann und Pfleiderer an Sartorius (30.06.1981).

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Chemie pflegte.52 Darüber hinaus erhielt Hoechst nach wie vor über seine USTochter AHC aktuelle Informationen aus den USA. Obwohl AHC kein FCKW herstellte oder verwendete und infolgedessen nicht Mitglied der Alliance for Responsible CFC-Policy war, erhielt AHC ständig alle Informationen über deren Vorgehensweise.53 Vor dem Hintergrund des NAS-Reports 1979 und seiner Wirkung auf die nationalen Regierungen sahen sich die FCKW-Hersteller zusehends in die Enge getrieben. „Es ist in Zukunft mit Sicherheit mit weiteren unsachlichen Verketzerungen der Halogenkohlenwasserstoffe nicht nur von Seiten der ‚Grünen’, sondern auch von Behördenseite zu rechnen.“54 Der VCI widersprach in diesem Zusammenhang Innenminister Baum, wonach die Aussagen des NAS-Reports von keiner Seite angezweifelt würden, und forderte, der FCKW-Arbeitsausschuss möge sich primär mit aktuellen Forschungen und weniger mit Beschränkungen beschäftigen.55 Gleichzeitig intensivierte Hoechst seine Kontakte zu Forschungseinrichtungen. Das industrielle Forschungsprogramm der westlichen Hersteller hatte seit Mitte der 1970er Jahre mehrere Forschungsinstitute mit insgesamt 11,4 Millionen US-Dollar gefördert – alleine der Hoechst-Anteil belief sich bis 1981 auf 2,9 Millionen DM –, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Ein wissenschaftlich einwandfreier Beleg für eine Ozonreduzierung durch FCKW wurde von den hier Beteiligten Anfang der 1980er Jahre weiterhin bestritten. Die Industrie suchte nach Schwachstellen der MolinaRowland-Hypothese, ging dabei von einer kürzeren FCKW-Lebenszeit aus und verwies ständig auf die physikalischen und chemischen Vorzüge des Sicherheitstreibmittels FCKW.56 Umso mehr zeigte sich Hoechst über den zunehmenden Druck zur Reduktionsverschärfung erstaunt. Trotz teils entlastender Erkenntnisse gegenüber dem NASReport forderte das Bundesinnenministerium im April 1981 Emissionsverminderungen und stellte Überlegungen hinsichtlich einer Sondersteuer an. Nahezu zeitgleich beauftragten die europäischen Umweltminister die EG-Kommission im Juni 1981 mit einem Entwurf für eine Verschärfung der EG-Entscheidung vom März 1980. Darüber hinaus veranstalteten die Verbraucherverbände und Verbraucherzen52 53 54 55 56

HA, TU (16.04.1980–14.07.1980), Aktennotiz ATA-AN/Pfleiderer (06.05.1980); HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), Notiz über Gespräch mit Kali-Chemie (26.09.1980). HA, TU (15.07.1980–15.10.1980), Notiz über Ozonhypothese/Gespräch mit DuPont bei AHC (17.09.1980); HA, TU (01.05.1983–31.03.1984), AHC an Gäbler (30.11.1983); HA, TU (01.04.1984–30.11.1984), Notiz von Kandler anlässlich CMA-FPP-Treffens (11.10.1984). HA, TU (16.10.1980–28.02.1981), Geschäftsbereich A (Hoechst)/Notiz von Rossberg (03.12.1980). HA, TU (16.10.1980–28.02.1981), Wamsler (VCI) an Baum (BMI) (08.12.1981). Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 49 ff.; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 72 f.; HA, TU (16.10.1980–28.02.1981), Bericht von Odo Klais über beratendes Gespräch zum möglichen Ozonabbau (24.02.1981). Ab 1983 ließ das Forschungsinteresse der europäischen Unternehmen deutlich nach; Hoechst und ICI wollten das CMA-Budget 1984 um 20 % kürzen. Vgl. HA, TU (01.09.1982–30.04.1983), Notiz Anorganisches Laboratorium/Russow (10.02.1983), Notiz von Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien (29.03.1983), Pfleiderer an Kandler (26.04.1983); HA, TU (01.04.1984–30.11.1984), Bericht Forschung und Entwicklung/Anorganische Chemikalien/Russow (27.06.1984).

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tralen mehrere Kampagnen, in denen die von FCKW ausgehenden Gefahren herausgestellt wurden.57 Hoechst reagierte hierauf nicht nur mit wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern entwickelte zudem neue Konzeptionen in der Öffentlichkeitsarbeit, um ein Übergreifen der „Ozon-Hysterie auf die Non-Aerosol-Anwendungen und die übrigen FKW-Typen“ zu verhindern. „Alle ökologisch relevanten Aussagen müssen deshalb äußerst sorgfältig überlegt und vorbereitet werden, damit nicht das Image des Unternehmens oder die Interessen anderer Geschäftsbereiche ungünstig beeinflusst werden.“58 Doch die politischen Anstrengungen zur FCKWVerminderung nahmen weiter zu. So äußerte die EG-Kommission den Wunsch, über andere Typen – nämlich FCKW 113 und 114 – zu verhandeln. Hoechst zeigte sich darüber wenig erfreut, sah darin aber vor allem einen strategischen Fehler der europäischen FCKW-Hersteller – insbesondere von ICI –, die bereitwillig dem Vorschlag der niederländischen Aerosol-Industrie zur Substitution von FCKW 11 durch FCKW 113 gefolgt seien. Im Gegensatz zu Montedison und ICI war Hoechst denn auch nur widerstrebend bereit, seine Produktions- und Verwendungsdaten gegenüber der Europäischen Gemeinschaft offenzulegen.59 Das Bundesinnenministerium verfolgte ab Ende 1981 nicht nur das Ziel einer weiteren nationalen FCKW-Absenkung im Aerosolbereich, sondern wirkte über eine Initiative im EG-Ministerrat auch auf eine europaweite Reduzierung um 50 Prozent bis 1983 auf Basis des Jahres 1976 hin. Eine solche Forderung ließ an einem dauerhaften Erhalt von FCKW als Treibmittel deutliche Zweifel aufkommen. Baum folgte hier dem Vorsorgeprinzip, wonach man nicht auf endgültige wissenschaftliche Erkenntnisse warten könne, und warb gegenüber der IGA um Verständnis. Schließlich sei in der Bundesrepublik bereits eine 40-Prozent-Reduktion erreicht worden, sodass eine Harmonisierung auf EG-Ebene für die westdeutschen Firmen weniger dramatisch ausfalle.60 Doch der Vorschlag des Innenministers rief erneut tief greifende Befürchtungen auf Seiten der Industrie hervor. Infolgedessen wirkte Hoechst über ein Expertengespräch im Bundesinnenministerium im März 1982 und einen UBA-Bericht erneut auf die politischen Entscheidungsträger ein und wusste auf einem Gipfeltreffen der vier großen europäischen Hersteller im Mai 1982 bereits zu berichten, dass es Anzeichen für ein Abrücken des Ministeriums 57

58

59 60

HA, TU (01.03.1981–30.06.1981), Entwurf eines Briefs VCI an BMI (ohne Datum), Besuchsbericht von Russow über Gespräch im UBA (10.06.1981), ATA-AN/Hoffmann an Hilger, Gäbler, Kandler (29.06.1981); HA, TU (01.07.1981–31.01.1982), Gespräch mit Riesenhuber (MdB) über Umweltfragen (09.11.1981); HA, TU (01.02.1982–31.08.1982), Riesenhuber an Hoechst (26.03.1982). HA, TU (01.03.1981–30.06.1981), ATA-AN/Hoffmann Entwurf für eine Presse-Information (10.04.1981), Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien, Marktförderung Frigen (05.06.1981) [Zitat]; HA, TU (01.07.1981–31.01.1982), Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien, Marktförderung Frigen (20.01.1982); HA, TU (01.02.1982–31.08.1982), Hoechst informiert: FKW-Auswirkungen auf die Ozonschicht weiterhin unerheblich (21.07.1982). HA, TU (01.03.1981–30.06.1981), Notiz von Werner über Monitoring (04.03.1981); HA, TU (01.07.1981–31.01.1982), Information zum geplanten Ausbau der FCKW 113/114/115-Kapazität der Hoechst AG (28.10.1981). HA, TU (01.07.1981–31.01.1982), Kali-Chemie an VCI (19.11.1981), BMI an IGA (22.12.1981), AÖA/Siebert an Hoechst-Verteiler (21.01.1982).

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von seiner 50-Prozent-Forderung gäbe.61 Die verschiedenen Ressorts der Bundesregierung – das Bundesinnen- und das Bundeswirtschaftsministerium – verständigten sich schließlich auf die Empfehlung einer 40-Prozent-Reduzierung. Auch wenn Hoechst nach außen – vor allem wegen des Exports in andere EG-Staaten – weiterhin die hierdurch entstehenden Belastungen hervorhob, so war bereits dieser Kompromiss ein Erfolg der Lobbyarbeit. Letztlich entschied der EG-Ministerrat am 15. November 1982, die Produktionskapazitäten von FCKW 11 und 12 einzufrieren und die 30-Prozent-Quote beizubehalten und blieb damit noch hinter den Forderungen der deutschen Regierung zurück. Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien zeigten sich gegenüber Reduktionsvorschlägen weniger aufgeschlossen und bestimmten aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses in der EG-Umweltpolitik die Geschwindigkeit.62 Insgesamt war Hoechst mit den Ergebnissen seiner Lobbyarbeit denn auch sichtlich zufrieden: „Die individuellen und gemeinsamen Bemühungen um sachliche Information von Umweltbundesamt und Bundesinnenministerium wirken sich offensichtlich positiv aus.“63 Ebenso wurde Hoechst an den Vorbereitungen der Bundesregierung für die anstehenden United Nations Environmental Program (UNEP)-Konferenzen (Global Framework Convention) in Genf und Wien 1983 beteiligt und konnte das Bundesinnenministerium dazu bewegen, kein FCKW-Protokoll der UNEP zu unterzeichnen, dessen Inhalt über die bisherigen EG-Entscheidungen hinausging: „Die geänderte […] Haltung der Bundesrepublik Deutschland sehen wir als Erfolg unserer ständigen Kontakte mit BMI.“64 Für Hoechst hätte es durchaus auf diesem Pfad weitergehen können, allerdings stellten die vier großen europäischen Hersteller (Atochem, ICI, Montefluos, Hoechst) bei ihrem Gipfeltreffen am 30. Mai 1984 bereits selbst fest, dass – trotz der Begrenzung im Aerosolbereich – die Produktion von FCKW 11 und 12 in den Jahren 1984/85 wieder auf das Niveau von 1976 ansteigen werde und das erneute Eingreifen der Behörden wahrscheinlich mache. Die Chemieunternehmen waren gewarnt.65 Bereits im darauffolgenden Jahr mussten die Mitgliedsfirmen der Chemical Manufacturers Association (CMA) den zügigen Fortschritt mehrerer FCKWStudien registrieren. Sowohl die für Mitte 1986 erwartete Risikoanalyse der EPA 61 62

63 64

65

HA, TU (01.02.1982–31.08.1982), Notiz über FKW-Gespräch ICI, Montedison, PCUK, Hoechst (03.05.1982), ATA-AN an Hoechst-Verteiler (27.05.1982). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 262–265; HA, TU (01.02.1982–31.08.1982), ATA-AN/Pfleiderer Telefonnotiz von Pfleiderer und Hoffmann mit BMI und BMWi (18.06.1982); HA, TU (01.05.1983–31.03.1984), Notiz von Hoffmann für Gäbler (21.10.1983). Der Exportanteil von Kaltron bei Kali-Chemie lag 1985 bei 45 %. Vgl. Geschäftsbericht 1985, S. 17. HA, TU (01.09.1982–30.04.1983), Notiz von Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien (29.03.1983); HA, TU (01.05.1983–31.03.1984), Frigen-Information: Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) in der Atmosphäre (Juni 1983). Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 74 ff., 238 f.; HA, TU (01.09.1982–30.04.1983), Besuchsbericht von ATA-Anorganika/Hoffmann im BMI (11.03.1983), Notiz von Hoechst Verkauf Anorganische Chemikalien (29.03.1983); HA, TU (01.05.1983–31.03.1984), Gäbler an Hilger (09.08.1983), Hoffmann an Gäbler, Kandler, Schlatermund (14.10.1983), Notizen von Hoffmann zum FKW-Gespräch (06.09.1983), Aktennotiz von Pfleiderer (26.01.1984) [Zitat]. Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 70–73; HA, TU (01.04.1984–30.11.1984), Notiz über FKW/Ozon-Gespräch (08.06.1984).

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als auch die Arbeiten am NASA-Bericht, der als Grundlage für das nächste Coordinating Committee on the Ozone Layer (CCOL)-Treffen im Januar 1986 dienen sollte, lagen im Zeitplan. Zudem arbeitete die EPA zielstrebig an der Verabschiedung eines FCKW-Protokolls der UNEP.66 Dabei verkannten die Chemieunternehmen teilweise die Brisanz der neuen Ergebnisse. Besonders DuPont hatte sich als führender US-Hersteller in einer ganzseitigen Anzeige der New York Times 1975 frühzeitig freiwillig den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen unterworfen. Zwar unternahm der US-Konzern alles, um die Existenz eines Ozon-FCKWZusammenhangs zu widerlegen, doch wurde diese Selbstbindung nun Mitte der 1980er Jahre wirksam.67 Der im Dezember 1985 als erster Entwurf herausgegebene NASA-Bericht stützte die Ozon-FCKW-Hypothese. Während die IGA noch die isolierte Betrachtung von FCKW in der Studie kritisierte, hatten deutsche Tageszeitungen schon den entscheidenden Kern der Untersuchung ausgebreitet und medienwirksam auf die Gefahren zusätzlicher Hautkrebserkrankungen hingewiesen.68 Nachdem ein Forscherteam des British Antartic Survey (BAS) außerordentlich niedrige Ozonwerte über der Antarktis gemessen und eine Neuauswertung der NASA-Satellitenbilder das Ozonloch im Sommer 1986 bestätigt hatte, war die von Menschen verursachte Umweltkatastrophe offensichtlich und führte auch bei einem Teil der betroffenen Industriezweige zu einem Positionswechsel. Die Entdeckung des Ozonlochs bewirkte eine von den Medien genutzte Dramatisierung und erhöhte den Druck, sich schnellstmöglich auf ein internationales Abkommen zu einigen. Dabei führte die Rückbindung an wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur zu einer Neuausrichtung der Konzernpolitik von DuPont, auch die Verhandlungsposition von Staaten, die sich bisher einer FCKW-Begrenzung entzogen hatten, wurde auf diese Weise erheblich geschwächt. Die EG-Umweltminister verständigten sich im März 1987 zunächst auf eine Reduktion um 20 Prozent gegenüber 1986. Mit dem im September 1987 sich anschließenden Montrealer Protokoll, in dem sich die Industrieländer verpflichteten, Produktion und Verbrauch von FCKW bis 1999 zu halbieren, wurde der FCKW-Ausstoß erstmals auf internationaler Ebene verbindlich geregelt.69

66

67 68 69

HA, TU (01.12.1984–31.07.1985), Forschung und Entwicklung/Anorganische Chemikalien/ Russow: Bericht über das Management-Treffen des FPP der CMA (26.06.1985); HA, TU (01.08.1985–31.01.1986), Bericht über das Arbeitstreffen des FPP der CMA (19.11.1985). Das CCOL war ein mit Experten – auch aus der chemischen Industrie – besetztes Koordinationsgremium, das aus dem Handlungsplan der UNEP für die Ozonschicht (World Plan of Action) hervorgegangen war und sich von 1977 bis 1985 einmal jährlich mit aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen beschäftigte. Vgl. Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 237 ff.. Ebd., S. 73 f. HA, TU (01.08.1985–31.01.1986), Aerosol-Information. Nicht zur Veröffentlichung in Tagesund Fachzeitschriften (Januar 1986). Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 53–58; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 76–79, 264 f., 283 f.

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4. DER AUSSTIEG AUS DEM FCKW-GESCHÄFT NACH MONTREAL Im Gegensatz zu den westdeutschen Unternehmen stellten sich die FCKW herstellenden US-Konzerne wesentlich schneller auf die neue Situation ein. DuPont verfügte keineswegs über fertige Ersatzstoffe, die den plötzlichen Kurswechsel 1986 mit einem Technologievorsprung erklären könnten, vielmehr verband das DuPontManagement mit einer umfassenden Regulierung die Erwartung, alternative Ersatzstoffe könnten rentabel und marktfähig werden. Trotz Rationalisierungsmaßnahmen hatte der Preisverfall bei FCKW 11 und 12 seit Anfang der 1980er Jahre die Rentabilitätsspanne verengt. Mit neuen umweltfreundlicheren Produkten wollten die Chemieunternehmen ein Signal an Kunden und Öffentlichkeit senden.70 Nachdem DuPont und die Alliance for Responsible CFC-Policy ihre Politik im Herbst 1986 geändert und dadurch die Glaubwürdigkeit der Regulierungsbefürworter erhöht hatten, prüfte Hoechst die Nutzung teilhalogenierter Kohlenwasserstoffe – wie H-FCKW 22 (Frigen 22) – als alternative Aerosoltreibmittel. Zwar war die mittlere atmosphärische Lebensdauer kürzer als bei FCKW 11 oder 12, allerdings gehörte auch Frigen 22 zu den klimawirksamen Gasen.71 Zur selben Zeit sorgte mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl ein anderes umwelthistorisches Ereignis für weltweite Aufmerksamkeit und zog in der Bundesrepublik die Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1986 nach sich. Damit wanderte die Zuständigkeit für die FCKWProblematik vom Innenministerium zur neuen Umweltbehörde, zu der seitens der Industrie keine langfristigen und vertrauensvollen Beziehungen bestanden. Im Jahr 1987 übernahm Klaus Töpfer die Leitung des Ministeriums und war in den folgenden Jahren maßgeblich für die Ausgestaltung des westdeutschen FCKW-Ausstiegs verantwortlich. Die IGA sagte Töpfer bereits im August 1987 verbindlich zu, dass ihre Mitgliedsfirmen bei FCKW 11 und 12 bis Ende 1988 eine Reduktionsquote von 75 Prozent bzw. von 90 Prozent bis Ende 1989 erreichen würden. Dieses Vorgehen war keineswegs mit den FCKW-Herstellern abgestimmt, und so warnte der VCI den Bundesumweltminister noch im gleichen Jahr vor nationalen Alleingängen der deutschen Umweltpolitik und insistierte auf ein harmonisiertes Reduzierungsprogramm der EG-Länder. Gleichzeitig bat die Chemieindustrie Töpfer, von weiteren staatlichen Eingriffen abzusehen und wieder den Weg einer freiwilligen Beschränkung einzuschlagen. Doch hierfür gab es keine Option mehr. Töpfer machte deutlich, dass die in Montreal festgelegten Werte noch keineswegs das Endziel der Regierung darstellten, vielmehr ein vollständiges Herstellungsverbot anvi70 71

Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 61 ff.; Detlef Sprinz/Tapani Vaahtoranta: The InterestBased Explanation of International Environmental Policy, in: International Organization 48 (1994), S. 77–105; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 252–258. Geschäftsbericht Hoechst 1988, S. 16; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 73, 236, 265–269; HA, TU (01.06.1986–31.10.1986), Notiz von Hoffmann über die Umweltrelevanz von Frigen 22 (13.10.1986). Kali-Chemie vereinbarte nach dem Montrealer Protokoll eine Zusammenarbeit mit ISC, um gemeinsam Ersatzstoffe zu entwickeln. Vgl. Geschäftsbericht KaliChemie 1988, S. 20.

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siert sei, auch wenn dies auf europäischer Ebene erfolgen sollte, um die deutsche Industrie vor Benachteiligungen zu bewahren. Gleichzeitig forderte er die beiden deutschen Hersteller auf, ihm endlich ihre Produktionszahlen zu übermitteln, die Hoechst und Kali-Chemie mit Verweis auf das Betriebsgeheimnis verweigerten.72 Daraufhin startete Hoechst Ende 1988 eine öffentlichkeitswirksame Kehrtwende, erklärte die Fristen im Montrealer Protokoll als zu lang und kündigte den stufenweisen Ausstieg aus vollhalogenierten FCKW bis 1995 an. Im Mai 1994 gaben Hoechst und Kali-Chemie ihre deutschen FCKW-Produktionsstätten auf und schlossen zugleich eine Verlagerung derselben ins Ausland aus. Ebenso verpflichteten sich die Unternehmen, jeden Transfer von Know-how zur Herstellung vollhalogenierter FCKW zu unterlassen. Mit Frigen 22 verfügte Hoechst zunächst über ein alternatives Kälte- und Verschäumungsmittel, das vom Konzern als ökologisch vertretbare Ersatzlösung angepriesen wurde. Allerdings betrachtete auch Hoechst den Einsatz von H-FCKW nur als Übergangslösung, und mit dem Verbot teilhalogenierter FCKW in den 1990er Jahren musste auch deren Produktion schrittweise zurückgefahren werden.73 Während die IGA die FCKW-Reduktion bei Körperpflegemitteln zügig vorantrieb, machte sie besonders bei technischen und medizinischen Einsatzzwecken im Verbund mit dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie und dem Deutschen Kälte- und Klimatechnischen Verein auf die Schwierigkeiten von Ersatzstoffen aufmerksam und stieß damit bei den politischen Akteuren durchaus auf Verständnis. Allerdings wollte das Bundesumweltministerium auch hier baldmöglichst zu einer Reduzierung gelangen.74 Der Bundesrepublik fiel innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mittlerweile eine Vorreiterrolle für eine stärkere FCKW-Begrenzung zu, da sich die Bundesregierung von fortschreitenden Umweltstandards Vorteile im Wettbewerb auf dem Gebiet des Umweltrechts und innenpolitisch eine Schwächung der Grünen versprach. Besonders über die 1987 vom Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eingesetzte Enquetekommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ gelangte die FCKW-Problematik über den Umweg der Klimaerwärmung in den Fokus der Öffentlichkeit. Obwohl die Kommission neben Wissenschaftlern mit Bräutigam (Kali-Chemie) und Hoffmann (Hoechst) auch Vertreter der beiden großen deutschen FCKW-Hersteller umfasste, konnten die Unternehmen die von Politik und Öffentlichkeit vorgegebene Marschroute nicht mehr 72 73

74

Bundesarchiv Koblenz (BAK) B295/2103, IGA an Töpfer (13.08.1987), VCI an Töpfer (26.11.1987), Töpfer an VCI (14.01.1988), Referat IG II 5 an Referat Z III 3 (19.01.1988). BAK B295/24547, Information der Kali-Chemie (09.11.1988), Pressereferat des BMU (08.12.1988); BAK B295/24551, Hoechst will die Produktion vollhalogenierter FCKWs einstellen (März 1989), Information der Kali-Chemie (15.12.1988); BAK B295/24559, „FCKWHersteller lassen es mit dem Ausstieg langsam angehen“, in: Frankfurter Rundschau (10.10.1989); BAK B295/24561, Hoechst Presse-Information (27.11.1989); Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 74–79. BAK B295/24554, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie an den Vorsitzenden der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre” (09.05.1989); BAK B295/24556, IGA an BMU (28.06.1989), Entwurf eines Schreibens an den Vorsitzenden der Enquete-Kommission (Bernd Schmidbauer) (28.08.1989).

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umkehren.75 Der Deutsche Bundestag sprach sich Anfang März 1989 für eine weitere Reduktion ozonschädigender Stoffe aus. Dabei forderten nicht nur die Grünen und die SPD eine FCKW-Drosselung, auch die CDU/CSU-Fraktion machte sich für eine Verbotsregelung stark. Aus Sicht der Industrie zog die Entscheidung des Bundestags schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen nach sich. Gleichwohl hielt Töpfer an dem Beschluss fest und sah für die Bundesrepublik als führende Industrienation die Durchsetzung weitergehender Minderungsmaßnahmen, die über den EG-Durchschnitt hinausgingen, als erforderlich an. Noch bevor neue Gespräche mit dem VCI stattfanden, verlangte der Minister die Vorbereitung einer Verbotsverordnung für den Schaumbereich.76 Ebenso trat das Bundesumweltministerium der Kali-Chemie-Kampagne „Brandschutz ist Umweltschutz“, unter der für den Einsatz von Halonen bei Löschanlagen geworben wurde, vehement entgegen und forderte erfolgreich, die Anzeigenserie einzustellen.77 Damit war die Frage einer FCKW-Reduktion für die Regierung Kohl politisch und wissenschaftlich entschieden. Weder bei den Vorbereitungen zum Montrealer Protokoll noch bei den hierdurch institutionalisierten Folgekonferenzen Anfang der 1990er Jahre gelang es der westdeutschen Chemieindustrie, zum kooperativen Vermittlungsstil der vorangegangenen Jahrzehnte zurückzukehren. Bei dem Bestreben der deutschen Regierung, Musterschüler im Umweltrecht zu werden, hatten die Chemieunternehmen das Nachsehen, und so hatte das Scheitern eines informellen Einigungsversuchs schließlich 1991 den Erlass einer FCKW-Halon-Verbotsverordnung zur Konsequenz.78 Bei den Londoner Verhandlungen 1990 vertrat Töpfer die Position, die weltweite Produktion und den Verbrauch von FCKW bis 1997 vollkommen einzustellen, wobei die Bundesrepublik dieses Ziel schon zwei Jahre früher erreichen sollte. Kritiker hatten bereits bei Abschluss des Montrealer Protokolls darauf hingewiesen, dass wissenschaftlich nichts für eine 50-Prozent-Lösung spreche, da die Ozonschicht durch den fortwährenden FCKW-Ausstoß weiterhin bedroht sei.79 Eine Verschärfung war somit durchaus zu erwarten. Mit dem „Greening of Margaret Thatcher“ vollzog auch die britische Regierung 1988 eine Wende in der FCKW-Politik und trat mit der Bundesregierung für einen vollständigen FCKW-Ausstieg auf eu75 76

77 78 79

Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 267 ff. BAK B295/24558, Ergebnisvermerk über das BM-Gespräch mit Industrievertretern zur FCKW-Reduktion im Bereich Kunststoffverschäumung (25.09.1989), Unterabteilungsleiter IG II (07.09.1989); BAK B295/24559, „Bundestag grundsätzlich für ein Verbot von FCKW“ in: Handelsblatt (06.10.1989), Presseerklärung der CDU/CSU – Fraktion im Deutschen Bundestag (04.10.1989), Die SPD im Deutschen Bundestag (02.10.1989); Bundestagsdrucksache 11/4133 (08.03.1989). BAK B295/24559, Referat IG II 5 an Minister (19.09.1989), Kali-Chemie: Halon, Ozon und die öffentliche Diskussion (Brandschutz – Deutsche Feuerwehrzeitung 8/1989); BAK B295/24560, Referat IG II 5 an Minister (09.11.1989). Brüggemann: Weg (wie Anm. 14), S. 64–69; Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 270 ff. BAK B295/6473, BMU-Pressemitteilung (25.06.1990); BAK B295/24542, MPG-Presseinformation (30.09.1987); BAK B295/24549, Saving the Ozone Layer. Statement Prof. Dr. Klaus Töpfer zur Londoner Konferenz (05.–07.03.1989).

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ropäischer Ebene ein, dem sich der EG-Rat im März 1989 anschloss. Daraufhin vereinbarten die Staaten im Juni 1990 in London den Ausstieg aus FCKW und Halonen bis zum Jahr 2000 und ergänzten die Liste ozongefährdender Stoffe. Im Jahr 1992 einigten sich die Vertragsparteien in Kopenhagen dann auf einen beschleunigten FCKW-Ausstieg der Industriestaaten. Die Frist für Halone wurde auf 1994, diejenige für FCKW auf 1996 vorgezogen, ferner wurden die H-FCKW ebenfalls einer Kontrolle unterstellt. Damit hatten sich die Marktbedingungen für die FCKW-Hersteller innerhalb von fünf Jahren erheblich verschlechtert, und eine Rückkehr zu einer nichtregulierten FCKW-Produktion war vollkommen ausgeschlossen. Seit der Kehrtwende von DuPont hatten alle Unternehmen die Entwicklung entsprechender Ersatzstoffe intensiv vorangetrieben, um nicht gegenüber ihren Konkurrenten ins Hintertreffen zu geraten. Unter den neuen gesetzlichen Bedingungen mussten die Ersatzstoffe nun ihre Produktionsreife und ihre Rentabilität beweisen.80 5. FAZIT Die mit dem Anstieg der industriellen Massenproduktion verbundenen Umweltprobleme rückten am Ende des Booms ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Während auf der Wahrnehmungsebene ein deutlicher Bruch in umwelthistorischer Perspektive zu sehen ist, folgte der Anamnese keine direkte Therapie.81 Der gesellschaftliche Umgang mit der Umwelt blieb zunächst unverändert. Noch ließ sich das Wissen über den Umfang und die Tiefenwirkung der Umweltzerstörung unterschiedlich interpretieren. Dies galt in besonderer Weise für den FCKW-Ozon-Zusammenhang. Die Chemieunternehmen stellten immer wieder die fehlende wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Molina-Rowland-Hypothese heraus, da sie ihre Produktionskapazitäten weiterhin nutzen wollten, und kooperierten mit unterschiedlichen Forschungsinstituten, um Schwächen und Unstimmigkeiten der Hypothese aufzudecken. Gleichzeitig intensivierten sie in Abstimmung mit den FCKW-verarbeitenden Aerosolunternehmen ihre Kontakte zu den staatlichen Stellen. Da Innenminister Genscher die deutsche Umweltpolitik zu seinem neuen Aufgabenfeld gemacht hatte, wirkten die Chemie- und die Aerosolindustrie vor allem auf Entscheidungsträger im Bundesinnenministerium und im UBA ein und verhinderten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung erfolgreich eine gesetzliche Bestimmung. Es gelang den Unternehmen jedoch nicht, jegliche Regelung zu umgehen; hier deuteten sich erste Risse im korporativen System der Bundesrepublik an. Die eingespielten Prozesse des Informationsaustauschs zwischen den politischen und den ökonomischen Entscheidungsträgern waren im Fall neuer Institutionen wie dem UBA nicht gegeben. Darüber hinaus 80

81

BAK B295/24546, „Sorge um den Planeten“, in: Generalanzeiger (05.10.1988), Entwurf eines Memorandums (17.10.1988); Grundmann: Umweltpolitik (wie Anm. 14), S. 76 f., 278–294; „Mehr Schmutz als Schutz“, in: DIE ZEIT, Nr. 5, 29.01.1988, S. 26; „Maggie gibt sich grün“, in: DIE ZEIT Nr. 10, 03.03.1989, S. 9. Kupper: Diagnose (wie Anm. 5).

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zeigte sich an dieser Stelle eine klare Konfliktlinie innerhalb der Industrie. Während die Aerosolunternehmen vornehmlich um den Erhalt der Spraydose kämpften, waren die FCKW-herstellenden Chemieunternehmen am Fortbestand von FCKW als Treibmittel interessiert. Hoechst und Kali-Chemie wollten nicht nur ihre Kapazitäten auslasten, sondern waren zudem auf die dabei anfallenden Nebenstoffe angewiesen, die im Fall eines Verbots hätten zugekauft werden müssen. Beide Unternehmen beließen es nicht bei wissenschaftlichen Gegendarstellungen, vielmehr machten sie gegenüber dem Bundesinnenministerium auf die ökonomischen und sozialen Folgen einer FCKW-Beschränkung aufmerksam. Mit der Rückkehr der Arbeitslosigkeit in den 1970er Jahren gewann das Argument eines möglichen Arbeitsplatzabbaus deutlich an Gewicht. In Anbetracht einer voranschreitenden De-Industrialisierung maßen die politischen Akteure der Verhinderung von Werksschließungen und Entlassungen wesentlich mehr Beachtung bei. Bis Ende der Dekade hielt die Koalition zwischen Industrie und Politik. Den maßgebenden Bezugsrahmen zum Lobbying bildeten der Nationalstaat und an zweiter Stelle die Europäische Gemeinschaft; dies erklärt auch die enge Zusammenarbeit der europäischen FCKW-Hersteller. Ein Umdenken in den Unternehmen fand zu diesem Zeitpunkt noch nicht statt. Mit der verbindlichen Entscheidung des Europäischen Rats im März 1980 änderten sich die Rahmenbedingungen grundlegend, da die Unternehmen von nun an nicht mehr nur einer freiwilligen Selbstbeschränkung unterlagen. Gleichzeitig erhöhte das Innenministerium den Druck, einer weitergehenden Reduzierung zuzustimmen. Letztlich verhinderten die intensive Lobbyarbeit von Hoechst und die Unstimmigkeit der EG-Mitgliedsländer das Zustandekommen einer schärferen Regelung. Die Bundesregierung drängte zwar seit Anfang der 1980er Jahre auf eine stärkere FCKW-Begrenzung, wollte einen nationalen Alleingang jedoch vermeiden. Erst neue wissenschaftliche Ergebnisse und die Entdeckung des Ozonlochs 1986 verschoben die Machtverhältnisse zugunsten der Regulierungsbefürworter. Gegen den Druck der Wissenschaft, der Medien und der Öffentlichkeit hatten die Initiativen der Unternehmen keine Chance.82 Mitte der 1980er Jahre setzte dann ein fundamentaler Lernprozess ein, der eine langfristige Kursänderung der Unternehmen bewirkte.83 Nachdem DuPont seinen Widerstand aufgegeben hatte, kam ein Dominoeffekt in Gang, der auch bei Hoechst zu einem Strategiewechsel führte. Wenn der deutsche Konzern den Wettlauf auf den Ersatzstoff-Märkten nicht verlieren wollte, musste er seine Produktion zügig umstellen. Der erfolgreiche Schutz des Allmendeguts Ozon im Montrealer Abkommen und seinen Nachfolgeprotokollen ist auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure in Politik, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Wirtschaft zurückzuführen. Das FCKW-Verbot stellte somit einen zentralen Punkt im top-down-Naturschutz dar.84 Im Unterschied zu DuPont leistete Hoechst hierzu keinen positiven Beitrag. Selbst nach der Entdeckung des Ozonlochs äußerte das Unternehmen noch Zweifel am 82 83 84

Volker von Prittwitz: Das Katastrophenparadox. Elemente einer Theorie der Umweltpolitik. Opladen 1990; Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung (20 Tage im 20. Jahrhundert). München 1998, S. 191 f. Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Tübingen 1993. Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011, S. 543–548.

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FCKW-Ozon-Zusammenhang. Zugleich musste sich die Chemieindustrie mit dem Bundesumweltministerium auf eine weitere neue politische Institution einstellen, zu der keine langjährigen Vertrauensbeziehungen bestanden und die massiv für eine Verschärfung der Montrealer Vereinbarungen eintrat. Neue Institutionen und die internationale Dimension der FCKW-Problematik erschwerten eine erfolgreiche Lobbyarbeit ab den 1980er Jahren. Nach mehr als zehn Jahren mit teils widersprüchlichen Diagnosen in der Ozondebatte setzte ab Mitte der 1980er Jahre die Therapiephase ein, die Anstoß zu weiteren, bis heute andauernden Diskussionen über die Klimawirksamkeit von Stoffen gab und gibt. Insofern bildet die Geschichte des FCKW-Verbots ein anschauliches Beispiel einer problemorientierten Zeitgeschichte der unmittelbaren Gegenwart.

KORREFERAT ZUM BEITRAG VON CHRISTIAN MARX „Leck im Raumschiff Erde“ DIE MACHT DER BILDER: DAS „LECK IM RAUMSCHIFF ERDE“ ALS MENETEKEL EINER INDUSTRIENAHEN UMWELTPOLITIK Michael Toyka-Seid, Darmstadt Aus unternehmens- und umwelthistorischer Perspektive blickt Christian Marx auf die Wahrnehmung des Zusammenhangs zwischen der Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) und der Abnahme der Ozonkonzentration in der Stratosphäre seit den 1970er Jahren sowie auf die daraus resultierenden Folgen für die FCKW-produzierenden Firmen. Im Zentrum steht dabei mit der Hoechst AG eines der größten deutschen Chemieunternehmen, das seit dem Beginn der Produktion der als Kältemittel sowie als Treib- und Lösemittel verwendeten FCKW im Jahr 1938 die Marktführerschaft bei dieser Produktlinie in Deutschland innehatte. Insbesondere auf der Grundlage von Quellenmaterial aus dem Hoechst-Archiv und dem Umweltbundesamt (UBA) werden Strategien und Versuche der Einflussnahme durch die Industrie, die Veränderung von Handlungsspielräumen und die Durchsetzung eines top-down-Naturschutzes vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in der Durchbruchphase der modernen staatlichen Umweltpolitik nachgezeichnet. Es war die Angst vor der atomaren Vernichtung, die die Politisierung der Umweltbewegung in den 1970er Jahren befeuert hatte. Doch gegenüber der so erschreckend abstrakt bleibenden Atomkraft stellte das „Ozonloch“ eine geradezu idealtypisch greifbare Bedrohung dar. Die auf Bildern sichtbar werdende Beschädigung des gerade erst ins Bewusstsein der Erdbewohner getretenen „blauen Planeten“ verlieh der naturwissenschaftlichen Theorie eines durch FCKW zerstörten OzonSchutzschilds eine nicht gekannte öffentliche Durchschlagskraft. Heute, in einer Zeit, da die Beschäftigung mit den aktuellen Folgen des globalen Klimawandels angesichts der noch aktuelleren Sorgen um die globalen Finanzen selbst schon wieder ins politische Abseits zu geraten droht, spielt die Sorge um die Beschädigung der weltumspannenden Ozonschicht kaum noch eine Rolle. Tatsächlich könnten jüngste wissenschaftliche Ergebnisse sogar den Schluss nahe legen, dass es sich hier um ein temporäres ökologisches Phänomen gehandelt haben dürfte,1 um einen 1

http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/antarktis-ozonloch-in-diesem-jahr-kleiner-als-imdurchschnitt-a-930194.html; Artikel vom 26.10.2013, letzter Zugriff 05.02.2014.

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der inzwischen hinlänglich bekannten „falschen Öko-Alarme“, die mehr über die Ängste und Befindlichkeiten einer umweltpolitisch sensibilisierten Öffentlichkeit als über die wahren ökologischen Gefährdungen unserer Zeit aussagen.2 Eine derartige Thesenbildung ist aber keineswegs das Anliegen dieses Beitrags über das „Leck im Raumschiff Erde“ und die politische und gesellschaftliche Aushandlung eines Verbots von FCKW in den Jahren 1975 bis 1995. Überhaupt bleibt die ökologische Dimension der FCKW-Problematik ein Nebenschauplatz der Darstellung, die vielmehr en détail die Durchsetzung einer umweltpolitischen Maßnahme im Geflecht von Wirtschaftsinteressen, wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt und politischen Erwägungen vorführt. Dabei wird exemplarisch die enge Verzahnung dieser Bereiche deutlich und der für die „Deutschland-AG“ der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit so typische Versuch einer korporativen Konfliktaustragung, allerdings auch die zunehmende Infragestellung dieser Form der industrienahen Umweltpolitik. Im Mittelpunkt steht hier zunächst einmal die Perspektive der Industrie, und zwar die einer Branche, die von der Wucht der Entwicklung überrascht und am Ende beinahe überrollt wurde. Auf die anfangs keineswegs unumstrittene wissenschaftliche Hypothese von Molina und Rowland zum FCKW-Ozon-Nexus reagierten Hoechst und seine industriellen Mitbewerber zunächst mit einem Instrumentarium, das sich in rund einem Jahrhundert chemischer Industrieproduktion und damit verbundener Beeinträchtigung der Umwelt herausgebildet hatte.3 Der Schulterschluss mit der Konkurrenz wurde gesucht, wissenschaftliche Gegenstudien wurden initiiert und gefördert. Vor allem aber zählte hierzu der mehr oder weniger subtil betriebene Aufbau politischen Drucks durch die Errichtung von öffentlichkeitswirksamen Drohkulissen und Schreckensszenarien zu Gewinneinbrüchen, dem Verlust von Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit und folgendem Arbeitsplatzabbau. In Christian Marx’ Darstellung werden diese erprobten Handlungs- und Argumentationsmuster der chemischen Industrie in höchst anschaulicher Weise in Erinnerung gerufen – zugleich aber wird gezeigt, wie in einer umweltpolitisch sensibilisierten Ära neue Wahrnehmungen und Sinndeutungen politisches Gewicht erhielten und innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten das Aus für die einträgliche Produktlinie einläuteten. Der Nachweis der Gültigkeit der Ozon-FCKW-Hypothese durch das Battelle-Institut 1976 und die darauf folgende Dramatisierung eines naturwissenschaftlichen Wirkungszusammenhangs durch die Medien wurden zum Menetekel für die weltweit eingesetzten Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Der Versuch der Industrie, die FCKW-Frage im kleinen Kreis der Fachleute und Umweltpolitiker zu halten, war, wie in dem Beitrag überzeugend herausgearbeitet wird, mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen Mitte der 1980er Jahre definitiv gescheitert. 2 3

Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.): Wird Cassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Stuttgart 2004. Vgl. z. B. Arne Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie 1850–1933. Stuttgart 1996; Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003.

Korreferat zum Beitrag von Christian Marx

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Eine industriepolitische Strategie für diese Situation war jedoch trotz der langen Vorbereitungszeit nicht in Sicht. Warum aber scheiterte diese vielfach und auch noch in den Nachkriegsjahrzehnten mit Erfolg praktizierte Form des Lobbyismus? Zunächst ist festzuhalten, dass sich der Druck auf die chemische Industrie und ihre Produkte in den Jahren vor der Ozonloch-Debatte verstärkt hatte. Rachel Carsons Öko-Klassiker Silent Spring hatte mit dem Pflanzenschutzmittel DDT einen „Hauptschuldigen“ an der schleichenden Veränderung gewachsener Ökosysteme – die damals noch nicht so genannt wurden – an den Pranger gestellt und einer ganzen Industrie den Boden entzogen.4 In ähnlicher Weise war seit den 1950er Jahren PVC in den Ruf des Umweltschädlings gekommen, ohne dass allerdings gleich eine ganze Produktlinie vom Markt verschwunden wäre.5 Aber die 1970er Jahre brachten doch noch einmal eine neue Dimension des Ökologischen in das öffentliche Bewusstsein und – nicht erst mit der Gründung „grüner“ Parteien – auch in die Politik. Die Agitation vorpolitischer Gruppen wie der Bürgerinitiative Umweltschutz und die Herausbildung eines politischen Zweigs der Umweltbewegung setzten die etablierten politischen Parteien unter Zugzwang und erzeugten auch bei Politikern der „alten“ Parteien nolens volens so etwas wie ökologisches Bewusstsein.6 Dass sich dabei die in der sozialliberalen Koalition um Profilierung bemühte FDP zum Vorreiter einer staatlichen Umweltpolitik machte, wie Christian Marx zeigt, scheint die damals Handelnden der Industrie ebenso überrascht zu haben, wie es möglicherweise heute wieder für Verwunderung sorgen könnte. Gleiches gilt notabene für die aktive Rolle der USA in dieser frühen Phase umweltpolitischer Aktivitäten. Man wird hier nicht fehlgehen, die Sensibilität der US-Regierung im engen Zusammenhang mit den DDTEnthüllungen zu sehen – ein Schrecken, von dem in den Klimaschutzbestrebungen des frühen 21. Jahrhunderts offenbar nicht mehr viel geblieben ist. Darüber hinaus gab es aber auch eine zunehmend medial geprägte und agierende Öffentlichkeit, die nicht mehr willens war, in Umweltfragen den arrivierten Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Industrie das Feld zu überlassen. Dass dieser Aspekt gerade in der ausgesprochen medienwirksamen FCKW-Debatte von den Produzenten offensichtlich unterschätzt wurde, es keinen nennenswerten Versuch gab, auch auf diesem Handlungsfeld gegen die gefühlte „Ozon-Hysterie“ anzugehen, gehört zu den überraschenden Einsichten der Untersuchung. Wer wie der Autor dieses Kommentars die hitzige Debatte um FCKW persönlich miterlebt hat, die sprunghafte Verbreitung „FCKW-freier“ Kühlschränke ebenso in Erinnerung hat wie das plötzliche Verschwinden fröhliche Sprühnebel erzeugender Deodorants aus der Fernsehwerbung, wird diese offensichtliche Fehleinschätzung in einer auch schon damals von den visuellen Medien dominierten Öffentlichkeit nur schwer nachvollziehen können. 4 5 6

Rachel Carson: Silent Spring. Boston 1962. Vgl. dazu die aufschlussreiche Darstellung von Andrea Westermann: Plastik und politische Kultur in Westdeutschland. Zürich 2007. Zur Frühgeschichte der deutschen Umweltpolitik vgl. exemplarisch Kai Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973). Stuttgart 2004.

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Natürlich bleiben auch in dieser gut erzählten und quellengesättigten Geschichte, die einen weiteren Baustein zur Analyse der Umbruchphase Mitte der 1970er Jahre ebenso wie zur Institutionalisierung des Umweltschutzes seit den 1980er Jahren liefert, einige Fragen offen oder werden nur am Rande angeschnitten. Insgesamt aber bestätigt Christian Marx die Kernthese der „1970er-Diagnose“ vom Wandel der Umweltwahrnehmung und des darauf beruhenden umweltpolitischen Handelns seit den 1970er Jahren7 und ergänzt sie in erhellender Weise durch den Blick auf die Reaktionsweisen der von diesen Prozessen erfassten Industrien. Einige Überlegungen mögen diese Darstellung hier noch ergänzen. Da ist zum einen zu fragen, wieso es offenbar immer wieder die Chemieindustrie war, die bei solchen frühen umweltpolitischen Kampagnen ins Blickfeld geriet? Zwar war die Chemieindustrie keineswegs die einzige Branche, deren Produktionsweise negative Auswirkungen auf die menschliche Umwelt zeitigte. Das Misstrauen gegen gerade diese Industrien mit ihren gefährlichen und vermeintlich unkontrollierbaren Produktionsprozessen, ihren giftigen Nebenprodukten und auffälligen Emissionen scheint hier eine wichtige und im Rahmen einer branchenspezifischen Umweltgeschichte noch weiter zu erforschende Rolle gespielt zu haben. Nicht von ungefähr gehört ja die durch Betriebe der chemischen Industrie verursachte Umweltbelastung zu den bevorzugten Untersuchungsgegenständen der Umweltgeschichtsschreibung, die diese seit ihren Anfängen immer wieder in den Fokus genommen hat.8 Mit der Ausweitung der Produktpalette und Produktionswege wuchsen aber nicht nur Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der chemischen Industrie, zugleich verlor auch ein zentrales Element der Emissionsdebatte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an Gewicht: die Lokalisierbarkeit von Umweltschäden, die in der Festlegung einer „ortsüblichen Belastung“ im 19. Jahrhundert gewurzelt hatte.9 Die Gefährdung durch Produkte der chemischen Industrie nahm dabei auch einen neuen Charakter an. Während Chlorkalk-Verätzungen und tote Fische noch sehr greif- und begreifbare Folgen des Tuns dieser „Zauberlehrlinge“ der Moderne waren, stellte die Bedrohung durch das an sich harmlose und nur indirekt wirkende FCKW eine andere Dimension dar. So abstrakt aber auch die Gefährdung zumindest bis zur Entdeckung des Ozonlochs scheinen mochte, im Gegensatz zu vielen anderen Produkten der modernen Industriegesellschaft lag die Abhilfe scheinbar nur zu offensichtlich auf der Hand. Tatsächlich war es ja (anders als beispielsweise beim Sandoz-Skandal 1986) nicht die Industrie allein, die bei dieser Produktlinie am Pranger stand. Das eigentlich „Böse“ war das Produkt, das offenbar ebenso hinterlistig wie von niemandem vorhersehbar (auch nicht von den Chemikern in ihren Labors) seine Wirkung entfaltete. Das Gute an dieser Erkenntnis war allerdings auf der anderen Seite, dass im 7 8 9

Patrick Kupper: Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348. Vgl. beispielhaft Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung (wie Anm. 3); Ralf Henneking: Chemische Industrie und Umwelt. Stuttgart 1994; Ernst Homburg u. a.: The Chemical Industry in Europe, 1850–1914. Dordrecht 1998. Vgl. Arne Andersen/Franz-Josef Brüggemeier: Ortsübliche Belastung, in: Rolf-Peter Sieferle (Hg): Natur. Ein Lesebuch. München 1991, S. 401–409.

Korreferat zum Beitrag von Christian Marx

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Kampf gegen die ozonschädlichen FCKW jedes umweltpolitisch motivierte Individuum ohne viel Mühe oder Verzicht aktiv werden konnte – es reichte ja schon, wenn man demonstrativ zum Deo-Stift statt zur Sprühdose griff. Die intensive Wahrnehmung eines Umweltproblems ging also einher mit einer auf der Hand liegenden Lösungsmöglichkeit, zumal bezahlbare Alternativen bereitstanden. Letzteres kommt im Beitrag von Herrn Marx in den durchaus unterschiedlichen und konfliktträchtigen Reaktionen der FCKW- und Aerosol-Produzenten zum Ausdruck, die sicherlich noch eine genauere Untersuchung wert wären, gerade mit Blick auf die chemische Industrie mit ihren lange eingeübten Mustern der industriepolitischen und gesellschaftlichen Konfliktaustragung. Zu den Stärken dieser Branche in Deutschland gehörte dabei seit jeher eine auf gemeinsames Handeln ausgerichtete Strategie. Beispielhaft dafür seien nur das gemeinsame Vorgehen der Industrie in der Karbid-Absatzkrise der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die massive Kartellbildung mit Produktionsabsprachen und Zusammenschlüssen bis hin zur IG Farben in der Zwischenkriegszeit oder der gemeinsame Kampf gegen die Zerschlagung der IG Farben durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg genannt. Dazu gehörten auch die starke Fundierung der Produktion auf Forschung und Entwicklung und das fast uneingeschränkte Vertrauen in die Ergebnisse der Wissenschaftler, das auch immer wieder in die Öffentlichkeit transportiert wurde. Nicht zu vergessen ist schließlich auch die enge Verzahnung mit den politisch Handelnden und die Vernetzung in der aus Wirtschaft und Wissenschaft gewobenen Welt der Physiker, Chemiker und Ingenieure, die nach dem Zweiten Weltkrieg als integraler Bestandteil des korporativen deutschen Wirtschaftssystems weiterlebte.10 Es sind also in gewissem Sinne vertraute Handlungsmuster, die hier präsentiert werden, allerdings mit dem höchst spannenden Effekt, dass all das in der FCKWAufregung einer neuen, umweltbewegten Zeit nicht mehr wie gewohnt funktionierte. Nicht von ungefähr äußerten sich die Vertreter der Industrie dann ja auch überrascht über die Vehemenz der Kritik, der sie sich unversehens gegenübersahen. Und es stellt sich doch auch die Frage, warum es der Industrie in dieser Krise nicht gelang, sich auf die neuen Organisationen und Institutionen – Umwelt-Ministerien und Umweltbundesamt, Umweltgesetzgebung und Technische Anleitung Luft etc. – einzustellen. Um diese Frage beantworten zu können, müsste wohl die Perspektive der Untersuchung hin zu einer mentalitäts- und wahrnehmungsgeschichtlichen Annäherung an die Thematik erweitert werden. So ist es ein Kennzeichen der neuen Umweltprobleme, dass sie ihrer lokalen Begrenzbarkeit verlustig gehen. Was sich im 19. Jahrhundert als End-of-Pipe-Technologie entwickelt hatte und zu lokalen oder regionalen Lösungsversuchen im Blick auf industrielle Emissionen führte, musste angesichts eines Phänomens wie des Ozonlochs als Vorbeugung gegen eine Umweltgefährdung wahrhaft globalen Ausmaßes versagen.11 Die Industrie hatte für 10 11

Vgl. Elmar Altvater u. a.: Vom Wirtschaftswunder zur Wirtschaftskrise. Ökonomie und Politik in der BRD. Berlin 1979; Volker Berghahn: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 1985. Vgl. Gordon McGranahan u. a.: The Citizens at Risk. From Urban Sanitation to Sustainable Cities. London 2001; grundlegend Joel Tarr: The Search for the Ultimate Sink. Urban Pollution in Historical Perspective. Akron 1996.

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diese Form der Herausforderung, der nicht mit noch höheren Schornsteinen, mit noch mehr Messstationen im Rhein oder einer noch schärferen Überwachung der Produktionsprozesse beizukommen war, keine Antwort parat. In diesem Zusammenhang soll hier auch noch einmal auf die vom Autor des Beitrags nur angedeuteten Überlegungen zur Ozonschicht als Allmende-Gut eingegangen werden. In der historischen Diskussion um eine ökologische Betrachtung menschlichen Wirtschaftens haben die Vorstellungen zwangsläufig endlicher Umweltgüter in den letzten Jahren eine große Rolle gespielt. Der Gedanke, die Ozonschicht in diesem Sinne als ein frei zugängliches Gut anzusehen, ist im hier beschrieben Kontext der FCKW-Debatte zweifelsohne reizvoll, zumal die beschrittenen Lösungswege in vielem an die von Elinor Ostrom favorisierten kollektiven Lösungswege der Allmende-Problematik erinnern.12 Dass dabei der Allmende-Begriff der kollektiv nutzbaren Ressource durchaus gedehnt wird, soll hier nicht verschwiegen werden, muss aber für eine Nutzung des Konzepts in ökologischen und umwelthistorischen Kontexten keineswegs ein Hinderungsgrund sein. Eine letzte Überlegung führt zum Eingang dieses Kommentars zurück. Mit der FCKW-Problematik hatten Umweltpolitik und Umweltbewegung eine ökologische Belastung zum Thema gemacht, die vergleichsweise einfache Lösungen versprach. Die enorme Dynamik, die im Montrealer Abkommen 1987 ihren Niederschlag fand, hatte ihre Ursache aber weniger im wissenschaftlichen Nachweis zum Zusammenhang zwischen der FCKW-Produktion und der Schädigung der Ozonschicht als in der schnellen Ikonisierung dieses Zusammenhangs. Das im Titel zitierte „Leck im Raumschiff Erde“ und das mit den Raumflügen der Amerikaner in die Vorstellung getretene Bild vom beschädigten „Blauen Planeten“ hatte eine Emotionalisierung der Debatte zur Folge, die in einer Art globaler Verlustangst kulminierte. Hier dürfte, neben der im Zeichen der Umweltdebatte erfolgenden Neudefinition der Rahmenbedingungen industriepolitischen Handelns, die in gerade einmal zwei Jahrzehnten zwischen 1975 und 1995 das korporative Wirtschaftssystem der alten Bundesrepublik grundlegend in Frage stellte, ein entscheidender Grund für diese radikale Durchführung einer umweltpolitischen Maßnahme „von oben“ zu sehen sein. Vielleicht waren die Betreiber der Kernkraftwerke, die sich mit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 und der Einrichtung des Bundesumweltministeriums nicht mehr nur dem Druck der außerparlamentarischen Initiativen ausgesetzt sahen, insgeheim ganz froh über die große Aufmerksamkeit, die in jenen Jahren den Ereignissen auf diesem Nebenkriegsschauplatz der Umweltdebatte zukam. Was die friedliche Nutzung der Kernkraft angeht, sollte das vom damaligen Bundesumweltminister in der FCKW-Auseinandersetzung postulierte „Vorsorgeprinzip“ noch ein weiteres Vierteljahrhundert kaum keine Rolle spielen, hier blieb der von Christian Marx konstatierte time-lag zwischen Diagnose und Therapie eines Umweltproblems weiterhin bestehen. Es bedurfte noch einer weiteren und medial noch sichtbareren Katastrophe, um auch auf diesem Feld dem „ökologischen Zeitalter“ (Radkau) zum Durchbruch zu verhelfen. 12

Vgl. Elinor Ostrom: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990.

AUTORINNEN UND AUTOREN Matthias Asche Prof. Dr. Matthias Asche, seit 2006 apl. Professor am Seminar für Neuere Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Oliver Auge Prof. Dr. Oliver Auge, seit 2009 Professor für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins im Mittelalter/Früher Neuzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Lars Bluma Dr. Lars Bluma, seit 2012 Leiter des Forschungsbereichs Bergbaugeschichte am Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Christoph Boyer Prof. Dr. Christian Boyer, seit 2005 Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Salzburg. Franz-Josef Brüggemeier Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Brüggemeier, seit 1998 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Winfried Freitag Winfried Freitag, Leiter i. R. des Museums Wald und Umwelt und der Umweltstation Ebersberg Forst. Jana Geršlová Prof. Dr. Jana Geršlová, seit 2004 Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der VŠB-TU Ostrava und an der Palacký-Universität Olomouc. Helmut Lackner Dr. Helmut Lackner, seit 2011 Wissenschaftlicher Stellvertreter der Geschäftsführung am Technischen Museum Wien. Christian Marx Dr. Christian Marx, seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund „Nach dem Boom“, Teilprojekt „Europeanization of Multinationals – Europäische multinationale Unternehmen zwischen Europäisierung und Globalisierung im Zeitraum zwischen 1965 und 1990“, Universität Trier und Eberhard Karls Universität Tübingen.

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Autorinnen und Autoren

Mathias Mutz Dr. des. Mathias Mutz, seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RWTH Aachen, Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte. Renate Pieper Prof. Dr. Renate Pieper, seit 1998 Professorin für Allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Reinhold Reith Prof. Dr. Reinhold Reith, seit 1999 Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Salzburg. Roman Sandgruber Prof. Dr. Roman Sandgruber, seit 1988 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz. Günther Schulz Prof. Dr. Günther Schulz, seit 2000 Leiter der Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ole Sparenberg Dr. Ole Sparenberg, seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (einschließlich Technik- und Umweltgeschichte) der Universität des Saarlandes. Georg Stöger Dr. Georg Stöger, seit 2013 PostDoc im Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Michael Toyka-Seid Dr. Michael Toyka-Seid, seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Projektgruppe „Nachhaltige Entwicklung von Städten“ an der Technischen Universität Darmstadt. Heike Weber Prof. Dr. Heike Weber, seit 2014 Professorin für Technik- und Umweltgeschichte, Geschlechtergeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Michael Zeheter Dr. des. Michael Zeheter, seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier.

v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e

Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0846

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Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 Bastian Walter Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb. und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1 Volker Stamm Grundbesitz in einer spätmittelalterlichen Marktgemeinde Land und Leute in Gries bei Bozen 2013. 135 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10374-9 Hartmut Schleiff / Peter Konecny (Hg.) Staat, Bergbau und Bergakademie Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2013. 382 S. mit 13 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10364-0

224. Sebastian Freudenberg Trado atque dono Die frühmittelalterliche private Grundherrschaft in Ostfranken im Spiegel der Traditionsurkunden der Klöster Lorsch und Fulda (750 bis 900) 2013. 456 S. mit 101 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10471-5 225. Tanja Junggeburth Stollwerck 1839–1932 Unternehmerfamilie und Familienunternehmen 2014. 604 S. mit 92 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10458-6 226. Yaman Kouli Wissen und nach-industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956 2014. 319 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10655-9 227. Rüdiger Gerlach Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre 2014. 457 S. mit 28 Abb. und 42 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10664-1 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7 229. Günther Schulz (Hg.) Arm und Reich Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte 2015. 304 S. mit 18 Abb. und 15 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10693-1 230. in Vorbereitung 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7 231. Gabriela Signori (Hg.) Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) 2014. 126 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10691-7

Die Endlichkeit der Rohstoffe und die Verletzlichkeit unserer Umwelt waren und sind Herausforderungen, auf die jede Generation unter den sich wandelnden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ihre Antworten finden muss. Dieser Band legt dazu neuere Forschungen aus historischer Perspektive vor, vereint unter der Leitfrage: War Nachhaltigkeit ein durchgängiger Entwicklungsprozess, und verlief er linear? Die Autoren beschäftigen sich u.a. mit Strategien zur Regeneration des Waldes, mit den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus, Recycling, Folgen industrieller Entwicklung und mit der Wahrneh-

mung von Umweltproblemen. Deutlich wird, dass Nachhaltigkeit als Konzept bzw. Leitbild in verschiedenen Epochen aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurde: Sie trat dort in den Vordergrund, wo ökonomische Zwänge – etwa Mangel an natürlichen Ressourcen wie Holz und Bodenschätzen  – keine großen Spielräume ließen. Aber auch pragmatische Überlegungen führten – im Sinne „prozeduraler Nachhaltigkeit“ – zu ressourcenschonender Wirtschaftsweise. Mit wachsendem Umweltbewusstsein trug man ökologischen Überlegungen schließlich zunehmend auch aus ökonomischen bzw. strategischen Gründen in der Unternehmenspolitik Rechnung.

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ISBN 978-3-515-11064-8