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German Pages 770 [776] Year 1999
de Gruyter Studienbuch Peter von Polenz Deutsche Sprachgeschichte III
1749
?
Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart von
Peter von Polenz
Band III 19. und 20. Jahrhundert
W DE
G
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
Die Deutsche
Bibliothek
—
CIP-Einheitsaufnahme
Polenz, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart / von Peter von Polenz. — Berlin ; New York : de Gruyter. Bd. 3. 19. und 20. Jahrhundert. - 1999 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-014344-5 brosch. ISBN 3-11-016426-4 Gb.
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer-GmbH, Berlin
im Gedenken an Horst Grünert (1927-1988)
Vorwort Das Interesse für unsere letzten beiden Jahrhunderte und die Quellenlage dafür sind so vielfältig, daß in diesem dritten Band 16 Kapitel den 12 im zweiten und den 9 im ersten Band entsprechen, bei weitgehend ähnlicher Reihenfolge der Themenbereiche. Wegen eines sprachenpolitischen Nachholbedarfs der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung ist, aufgrund neuerer Forschungsliteratur, das an 4.9 anknüpfende Kapitel 6.4 über Sprachminderheiten besonders ausführlich und umfangreich geraten. Auch wegen der heute wichtig gewordenen Themen von 6.3, 6.5, 6.6, 6.8, 6.11 drohte schon nach der Fertigstellung von 6.11 die sinnvolle Umfangsbegrenzung eines Studienbuchs in bedenklicher Weise überschritten zu werden. Auf Bitte des Verlags habe ich mich daher für die restlichen Kapitel (außer 6.16) zu einem etwas knapperen Darstellungsstil und zu einigen Kürzungsprinzipien im Literaturverzeichnis und im Register entschlossen. Aus dem gleichen Grund habe ich auch darauf verzichtet, zur Geschichte der Germanistik (s. ζ. B. 6.2Lit, 6.7L, 6.8S, 6.16Lit) und des Deutschunterrichts, der germanistischen Lexikographie und Grammatikographie eigene Kapitel zu schreiben, für die umfangreiche personengeschichtliche Detailausführungen unerläßlich gewesen wären; einiges davon kommt aber gelegentlich in mehreren Kapiteln vor (mit Literaturhinweisen) und ist über die betreffenden Stichwörter im Register aufzufinden. Auch ein Kapitel über deutschen Lehneinfluß in anderen Sprachen und eines über Deutsch im Rahmen einer europäischen Sprachgeschichte hätte eigentlich in diesen Band gehört (s. ζ. B. 6.5BCDY, 6.6H, 6.10HIP), wofür aber ein langwieriges Studium spezieller Literatur über viele Sprachen notwendig gewesen wäre. Hierfür wie auch für meine zahlreichen Literaturverweise auf das große HSK-Handbuch „Sprachgeschichte" von Besch/Reichmann/Sonderegger (BRS) kann auf die demnächst beginnende Publikation der erweiternden Neubearbeitung dieses Handbuchs hingewiesen werden. Wie in den Bänden I und II, sind auch im vorliegenden Band die Kapitel sozusagen nach dem Schnellbenutzer-freundlichen journalistischen Prinzip der Abfolge vom Allgemeinen und Übergreifenden her zum immer Spezielleren hin aufgebaut; dies als Bitte um Verständnis an Leserinnen, die am Ende der Kapitel und des ganzen Bandes Zusammenfassungen vermissen (wie schon einige der Rezensenten). — M ö g e dieser Band hei-
Vili
Vorwort
fen, eine seit langem bestehende, von vielen bis heute vernachlässigte Lücke der Germanistik zwischen Mediävistik, neuzeitbezogener Literaturwissenschaft und Systemlinguistik zu schließen. Ohne die zahlreichen, größtenteils sehr innovativen Forschungsarbeiten der letzten 25 Jahre über deutsche Sprache im 19. und 20. Jahrhundert, deren Verfasserinnen großer Dank gebührt, wäre dieser Band nur ein fragmentarisch-impressionistischer Versuch geblieben. Für die Zusendung von Publikationen danke ich allen mit der Bitte um Nachsicht dafür, daß ich nicht alles gebührend berücksichtigen konnte. Für förderliche Gespräche, Hinweise und kritische Bemerkungen danke ich Hans Peter Althaus, Nina Berend, Ingrid Guentherodt, Werner Holly, Peter Kühn, Helmut Protze, Ulrich Püschel, Georg Stötzel, Erika Timm und Rainer Wimmer, für interessiert-hilfreiche Korrekturen und stilistische Glättungen Uta Glück, für schnelle Hilfe in der Literaturbeschaffung Eva Teubert und dem IdS. Ganz besonders bin ich wieder Elsbeth Schirra dankbar verbunden, ohne deren unermüdliche, sorgfältige und mitdenkende PC-Arbeit ich die Textverarbeitung sicher nicht vor dem Jahrhundertende hätte selbst leisten können. — Für den Band I ist eine erweiterte Neubearbeitung im Studienbuch-Format geplant. Trier, im Juni 1998
P. v. P.
Inhalt Vorwort
VII
6. Deutsch in der Zeit des Nationalismus und der Industriegesellschaft 6.0
Zur Einführung
1
A: Nationalismus, Industriegesellschaft und Sprachbewußtsein als sozialgeschichtliche Epochenmerkmale — B: Entwicklungsschiibe statt Periodisierung — Literatur
6.1.
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft von 1800 bis 1933
. .
10
A —C: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Wiener Kongreß (Napoleonische Zeit) — D —H: Bis zur bürgerlichen Revolution (Restaurationszeit, Vormärz, Revolution) — I —M: Bis zum Sturz Bismarcks (Reaktionszeit, Bismarckzeit) — N O : Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (wilhelminische Zeit) — P —R: Bis zum Beginn der nationalsozialistischen Diktatur (Weimarer Republik) — Literatur
6.2.
Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildungsgeschichte, individuelle Kommunikationsformen
37
AB: Von Schriftsprachdominanz zu sekundärer Oralität — C—E: Schönschreiben, Schriftarten-Ideologisierung — F: Piktogramme — G H : Alphabetisierung der Bevölkerung durch Schulbildung — IJ: Formen alltäglicher Schriftlichkeit in Unterschichten, Arbeiterbildung — K: Höhere Schulbildung —L: Frauenbildung — M —O: Bildungsbürgerliches Deutsch als Sozialsymbol — PQ: Briefsteller, Briefschreiben, Telefonieren — RS: Universitätsbildung, Studentenverbindungen — TU: Vereinswesen, öffentliche Rede — V—X: Parlamentsrede — Literatur
6.3.
Entwicklung der Massenmedien
77
A: Allgemeines — BC: Buchmarkt und Lektüre — D —N: Zeitungen und Zeitschriften — O: H ö r f u n k — PQ: Film und Fernsehen — R: Medienwirkungen, Medienzukunft — Literatur
6.4.
Sprachenpolitische Entwicklung: Unterdrückung Tolerierung von Sprachminderheiten
und
6.4.0. Allgemeines: Sprachnationalismus, Sprachimperialismus — Sprachminderheitenschutz — Übersicht
108
χ
Inhalt
6.4.1. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
112
A—C: Deutsch, Französisch, Italienisch und Bündnerromanisch in der Schweiz — D —G: Deutsch und Französisch im Elsaß und in Ost-Lothringen — HI: Deutsch und Französisch in Luxemburg — J: Deutsch und Französisch in Ost-Belgien — K: Deutsch und Niederländisch an der Sprachgrenze — L: Deutsch, Niederdeutsch und Friesisch in Ost- und Nordfriesland — M N : Deutsch und Dänisch in Süd- und Nord-Schleswig — OP: Deutsch und Sorbisch in der Lausitz — Q—T: Deutsch und Polnisch, Masurisch, Kaschubisch, Litauisch in den preußischen Ostprovinzen und Polen — U: Österreich-Ungarn allgemein — V: Deutsch und Tschechisch in Böhmen und Mähren — W: Deutsch und Slowenisch in Süd-Kärnten — X: Deutsch und Italienisch in Südtirol — Y: Deutsche Sprachminderheiten außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets — Z: Jüdischdeutsch/Jiddisch
6.4.2. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
144
AB: Sprachgrenzen, Staatsgrenzen, Sprachminderheiten — CD: Deutsch, Französisch, Italienisch und Bündnerromanisch in der Schweiz — EF: Deutsch, Französisch und Elsässisch im Elsaß und in Ost-Lothringen — GH: Deutsch, Französisch und Letzeburgisch in Luxemburg — I: Deutsch und Französisch in Ost-Belgien — J: Deutsch und Niederländisch an der Sprachgrenze — K: Deutsch und Friesisch in Ost- und Nordfriesland — L: Deutsch und Dänisch in Süd- und Nordschleswig — M: Deutsch und Sorbisch in der Lausitz — N O : Deutsch und Polnisch usw. in den preußischen Ostprovinzen und Polen — P: Deutsch und Tschechisch in der Tschechoslowakei — Q: Deutsch und Slowenisch in Süd-Kärnten — R: Deutsch und Italienisch in Südtirol — ST: Auslandsdeutsche Minderheiten — U: Deutsch und Jiddisch
6.4.3. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs A: Sprachenpolitische Katastrophe und Neuansätze — BC: Deutsch, Französisch, Italienisch und Bündnerromanisch in der Schweiz — DE: Deutsch, Französisch und Elsässisch im Elsaß und in Ost-Lothringen — FG: Deutsch, Französisch und Lëtzebuergesch in Luxemburg — HI: Deutsch und Französisch in Ostbelgien — J: Deutsch und Niederländisch an der Sprachgrenze — K: Deutsch und Friesisch in Ost- und Nordfriesland — LM: Deutsch und Dänisch in Süd- und Nordschleswig — N O : Deutsch und Sorbisch in der Lausitz — P—R: Flucht, Vertreibung, Aussiedlung aus den entdeutschten Ostgebieten — S: Deutsch und Slowenisch in Süd-Kärnten — TU: Deutsch, Italienisch und Ladinisch in Südtirol — V: Deutschsprachige in Ostmitteleuropa und Sowjetunion — W: Deutschsprachige in westlichen und überseeischen Ländern — X: Deutsch und Jiddisch — Y: Probleme neuer fremdsprachiger Minderheiten in deutschsprachigen Ländern — Literatur zu Kap. 6.4 insgesamt
163
Inhalt
6.5.
XI
Deutsch in inter- und übernationalen Beziehungen
. . . .
191
A : S p r e c h e r z a h l e n u n d S p r a c h e n p o l i t i k — B — D : D e u t s c h als e u r o regionale Verkehrssprache
— E—I: Deutsch
als F r e m d s p r a c h e
—
J —N: Fremdsprachenlernen der Deutschsprachigen — Ο — T : Sprachf ö r d e r u n g s - u n d - V e r b r e i t u n g s p o l i t i k — U — W : D e u t s c h als W i s s e n s c h a f t s s p r a c h e — X Y : D e u t s c h in i n t e r / i i b e r n a t i o n a l e r P o l i t i k — Z : D e u t s c h in W i r t s c h a f t s b e z i e h u n g e n — L i t e r a t u r
6.6.
Allgemeine Sprachnormierungen A—C: Sprachnormentheoretisches
229
— DE:
Normierungsbedürfnisse
— F G : Institutionalisierungsversuche — H — L : Rechtschreibregelung bis z u m D U D E N — M — P : R e c h t s c h r e i b r e f o r m v e r s u c h e bis 1 9 9 6 — Q R : S t r e i t u m die N e u r e g e l u n g 1 9 9 6 / 9 8 -
ST: G r o ß - und Klein-
schreibung — UV: Fremdwortorthographie
— W: Interpunktion —
X —Z: Aussprachenormierung — Literatur
6.7.
Fremdwortpurismus und Sprachpflege, Sprachvereine und Sprachinstitutionen A: Sprachpurismus, Fremdwortpurismus — B C :
264
Romantisch-natio-
n a l i s t i s c h e r F r e m d w o r t p u r i s m u s — D —I: R e i c h s n a t i o n a l i s t i s c h e P o litisierung, der Allgemeine D e u t s c h e Sprachverein p u n k t u n d K r i s e im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s welschung
— J — N:
Höhe-
— OP: Praktische
Ent-
im Z w e i t e n W e l t k r i e g — Q : V e r s u c h e s t a a t l i c h e r I n s t i t u -
t i o n a l i s i e r u n g v o n S p r a c h p f l e g e in d e r N S - Z e i t — R — W : R ü c k g a n g des F r e m d w o r t p u r i s m u s , S p r a c h p f l e g e ' , S p r a c h k u l t u r ' in d e r N a c h kriegszeit — Literatur
6.8.
Sprachkritik und öffentliche Sprachsensibilität A: Arten
und Ziele von Sprachkritik
— BC:
294
Spätaufklärerische,
r o m a n t i s c h e u n d l i b e r a l e S p r a c h k r i t i k bis M i t t e des 1 9 . J h . — D — F : Sozialdistinktive 2 . H ä l f t e des
und
19. J h .
kulturpessimistische — GH:
Sprachkrise
Sprachkritik der
in
der
Jahrhundertwende:
Hofmannsthal, M a u t h n e r — IJ: Politische Konkretisierung: Kraus — K L : S p r a c h g l o s s e n u n d p o p u l ä r e S t i l l e h r e n seit den 1 9 2 0 e r J a h r e n — M —O: Antifaschistische Sprachkritik — P—S: Streit um Sprachk r i t i k in den 1 9 6 0 e r J a h r e n
— Τ — Y : Praktisch-politische
Sprach-
k r i t i k : F r i e d e n s - , U m w e l t - , F r a u e n b e w e g u n g — Z : A n s ä t z e zu linguistisch begründeter Sprachkritik — Literatur
6.9.
Entwicklungstendenzen der Standardsprache A: Allgemeines
338
— BC: Aussprache — D: Flexionsmorphologie
E—H: Morphosyntax
— I — O : S y n t a x — P: I n t e r p u n k t i o n
—
— QR:
W o r t b i l d u n g — S —V: W o r t s c h a t z — W : V o r n a m e n — X : P h r a s e o l o gie — Y Z : S p r a c h p r a g m a t i k — L i t e r a t u r
6 . 1 0 . Lehndeutsch, Lehnwortbildung, Angloamerikanismen
. .
A: Grundsätzliches — B: R ü c k g a n g französischer Entlehnungen — C D : E n t w i c k l u n g d e r H e r k u n f t des L e h n d e u t s c h — E — G : L e h n w o r t -
391
XII
Inhalt bildung: Suffixe, Präfixe, Konfixe — HI: Eurolatein, Internationalismen — J—P: Angloamerikanismen, moderne Weiterentwicklung des ,Eurolatein' — QR: Entlehnungen aus slawischen Sprachen — Literatur
6.11. Nationale/staatliche Varietäten: Deutsche Standardsprache in mehreren deutschsprachigen Staaten
412
A—C: national/staatlich, plurizentrisch/plurinational — D — F: Varianten, Varietäten, Asymmetrien — G: Forschungsgeschichte — H: 20 Beispiele — IJ: Deutsch in Deutschland — K —O: Unterschiede zwischen BRD und DDR - P—S: Deutsch in Österreich - T - X : Deutsch in der Schweiz — Y: Deutsch in Südtirol und Liechtenstein — Literatur
6.12. Regionale und soziale Varietäten
454
A: Diskriminierende Dialektvermeidung — B: Stadtdialekte, Regiolekte — C—E: Dialektverlust, Funktionswandel des Dialektsprechens, ,Mundartwelle', Diglossie, neuer Substandard — FG: OberschichtSprache: preußischer Offizierston, akademische Korporationssprache, bürgerliches Konversationsdeutsch — H: Sprache in den Unterschichten, ,Arbeitersprache' — I: Gastarbeiterdeutsch/Xenolekt — J: Soldatensprache — K—M: Jugendsprache — Literatur
6.13. Literarische Sprache
473
A: Klassikersprache als Vorbild — B: Junges Deutschland, Vormärz, Biedermeier — C: Poetischer Realismus, Naturalismus — D: Konsumliteratur — E: Sprachkrise um 1900 — F—J: Sprachstile der Moderne — K: Zeit des Nationalsozialismus — L: Nachkriegszeit — Literatur
6.14. Sprache in Institutionen und von Fachexperten
485
A: Institutionensprache in der bürgerlichen Gesellschaft — B—D: Rechts- und Verwaltungssprache, Bürgernähe, Schwerverständlichkeit — E —G: Wissenschaftssprache und ihre szientistischen Wirkungen, pseudowissenschaftlicher Jargon — H: Technisch-industrielle Fachsprachen — I: Terminologienormung — J: Textsorten in Industriebetrieben — K: Freizeit-Fachsprachen — Literatur
6.15. Sprache in Massenmedien
504
A: Kritik an ,Zeitungssprache' — B: Zeitungsnachrichten — C: Überschriften, Schlagzeilen — D: Unterhaltsamkeit — EF: Werbeanzeigen — G—I: Sprache im H ö r f u n k — JK: Sprache im Fernsehen, sekundäre Oralität — L: Vermischtheit, Offenheit, Kürze — M N : Infotainment, Boulevardisierung — Literatur
6.16. Politische Sprache A: Überblick — BC: Frühnationalismus in der Napoleonzeit — DE: Restaurationszeit und Vormärz — F—H: Revolution 1848/49 auf der
523
Inhalt
XIII
Straße und im Parlament — I: Arbeiterbewegung — J : Frauenbewegung — K: Radikalisierung des Nationalismus in der späten Bismarckzeit — L M : Antijudaismus/Antisemitismus — N — S : Weimarer Republik und Nationalsozialismus — Τ —V: Bundesrepublik Deutschland — W X : Deutsche D e m o k r a t i s c h e Republik — Y: Wende 1 9 8 9 / 9 0 - Z : Neue Bundesländer - Literatur
Literatur
577
Abkürzungen
736
Register
739
Band I:
Einführung, Grundbegriffe, Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit
Band II: 17. und 18. Jahrhundert
Das deutsche Volk hat es sich leicht gemacht, zu leicht gemacht in seiner Masse, sich in die Fesseln des Nationalsozialismus zu geben. Es darf es sich nicht leicht machen, diese Fesseln, an denen es schlimm trug, von denen es sich nicht selber hatte lösen können, es darf es sich nicht leicht machen, die bösen Dinge wie einen wüsten Traum hinter sich zu werfen. (Theodor Heuss in seiner Tübinger Universitätsrede „Die deutsche Nationalidee im Wandel der Geschichte" am 27. 5. 1946)
6. Deutsch in der Zeit des Nationalismus und der Industriegesellschaft 6.0 Zur Einführung A. Ähnlich wie in der politischen Geschichtsschreibung erscheint es sinnvoll und für erklärende historische Tiefe unerläßlich, die Zeit vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart als einen sprachgeschichtlichen Zusammenhang zu behandeln. Wesentliche Sprachwandelprozesse, sprach(en)politische und sprachkritische Probleme des 20. Jahrhunderts reichen weit ins 19. Jahrhundert zurück, in dem die „Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache" (Cherubim/ Mattheier 1989), die „Sprachgeschichtlichen Wurzeln des heutigen Deutsch" (Wimmer 1991) zu finden sind. Sprachgeschichtsschreibung hat hier einen wichtigen Beitrag zur Relativierung beliebter sprachkritischer Vorurteile vom ,Sprachverfall' in der Gegenwart zu leisten (vgl. Bd. I: 1.1). Hierbei ist das einseitige traditionelle Bild vom 19. Jahrhundert als einer noch ,heilen' Welt, wie es im deutschen Gymnasialunterricht gelehrt worden ist, zu korrigieren: „Das 19. Jahrhundert ist eine ereignisreiche Zeit, die von einem atemberaubenden, oft heterogenen Wechsel der Ideen, Empfindungen und Ereignisse geprägt worden ist und nicht von der idyllischen Beschaulichkeit der Stahlstiche Ludwig Richters oder der Spitzwegschen Bilder". (S. Grosse, in: Wimmer 1991, 9). Im 19. Jahrhundert, besonders in seiner zweiten Hälfte, ist die seit der industriellen Nutzung der Dampfkraft wirkende Beschleunigung des sozialökonomischen und kulturellen Wandels auch in der Sprachentwicklung des öffentlichen, beruflichen und literarischen Lebens zu beobachten. Insofern ist die belletristische Auffassung eines literarischen Kontinuums von der Goethezeit bis heute zu korrigieren, die damit begründet wird, daß man ja Texte seit der Klassik noch heute als Leser oder Theaterbesucher ohne weiteres verstehen könne, und die zur pauschalen sprachkritischen Verurteilung der Gegenwartssprache als „Verhunzung der Sprache Goethes" geführt hat. G e g e n ü b e r dieser bildungspolitisch geförderten konservativen Illusion ist zu e m p f e h len, die Lektüre literarischer Werke mindestens bis 1900 nicht o h n e f o r t l a u f e n d e Ben u t z u n g historischer W ö r t e r b ü c h e r u n d Konversationslexika zu betreiben, u m die zahlreichen Fälle von Bedeutungs- u n d Bezeichnungswandel nicht zu ignorieren. Angemessenes Verständnis historischer literarischer Texte bedarf einer über die aktive
2
6 . 0 Z u r Einführung
Sprachbeherrschung weit hinausgehenden passiven historischen Sprachkompetenz, die gerade für das Bildungsideal des historistischen 19. Jahrhunderts kennzeichnend ist. Noch 1 8 2 8 , nach dem Höhepunkt der Weimarer Klassik, beklagte der spätaufklärerische Sprachkritiker J o c h m a n n (vgl. Bd. II: 5 . 1 2 Z ) das „Vertrocknen" der deutschen Sprache zu einer „Büchersprache", den „Mangel eines allgemeingültigen Sprachgebrauchs", der vor allem daherrühre, daß „unsere Schriftsteller, statt in seiner Sprache zu ihrem Volke zu sprechen, sich begnügen, in einer selbstgeschaffenen einem kleinen Kreise ihrer Schüler, und oft auch in diesem nur einem noch kleineren von Eingeweihten verständlich zu seyn" (n. Dieckmann 1 9 8 9 a , 149, 153).
Die stark belletristisch und folkloristisch orientierte traditionelle Auswahl der Schullektüre und Bildungslektüre hat die außergewöhnlich vielfältige Entwicklung nichtliterarischer Kommunikationsformen und Textsorten des 19. Jahrhunderts (s. 6.2, 6.3, 6.14—6.16) außer Acht gelassen. In einer soziopragmatischen Sprachgeschichtsauffassung ist auch die Verfügbarkeit bestimmter Sprachvarietäten für die große Masse der Bevölkerung — im Sinne der soziologischen ,Alltagsgeschichte' — zu beschreiben und zu erklären; in dieser Hinsicht hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Übergang von der feudal-ständischen Gesellschaft zur Industriegesellschaft viel verändert, was bis heute weiterwirkt: „Kleinräumige, vertrautere Verhältnisse in Familie und Handwerksbetrieb werden nun ergänzt oder ersetzt durch großräumige, unpersönliche Situationen (Massenkommunikation, öffentliche Debatte, Umgang mit Institutionen usw.)", wobei „im Zyklus des alltäglichen städtischen Lebens viele verschiedene und rasch wechselnde Kommunikationssituationen zu meistern sind" (Cherubim 1983 b, 403). Es ist also auf sprachliche Folgen von zeittypischen sozialökonomischen Prozessen zu achten, die mit Schlagwörtern wie Modernisierung, Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung, Professionalisierung, Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung, Politisierung, Demokratisierung, Internationalisierung usw. gemeint sind. N a t i o n a l i s m u s als eines der beiden Epochenmerkmale soll hier im weiteren, politologischen Sinne verstanden werden: Nicht nur extreme, gruppenegoistische Ideologien, die von der Napoleonzeit bis zur Hitlerzeit mit völkischem Sendungsbewußtsein, Franzosen- und Fremdenhaß, Antisemitismus und militantem Imperialismus zu Kriegen, Verfolgungen, Vertreibungen und Massenmord geführt haben — einschließlich der damit verbundenen Entwicklungen des politischen Deutsch in Propaganda und Gruppenvorurteilen (s. 6.16J—S), sondern Nationalismus als neue Staatsideologie im Sinne der mittel- und westeuropäischen politischen Begriffsbildung seit der späten Aufklärungszeit und der Französischen Revolution. Anstelle des untergegangenen Reichspatriotismus, neben dem bis ins späte 19. Jahrhundert lebendigen Landespatriotismus und im Widerspruch zu dem humanistisch-gelehrten Kulturpatriotismus der
A: N a t i o n a l i s m u s , Industriegesellschaft, Sprachbewußtsein
3
vorangegangenen Epoche (vgl. Bd. II: 5.5B, 5.7AC, 5.10U; v. Polenz 1998 b) hat sich Nationalismus von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch sprach(en)politisch ausgewirkt: als zunehmende Intoleranz gegenüber Minderheitensprachen und Nachbarsprachen (s. 6.4), als Triebkraft zu immer rigideren, im Rahmen des kleindeutschen Nationalstaates reglementierten Sprachnormen (s. 6.6) und damit als Irritationen über die Koexistenz staatlicher/nationaler, regionaler und sozialer Sprachvarietäten des Deutschen (s. 6.11, 6.12). Die zweite, sozialökonomisch orientierte Charakterisierung unseres sprachgeschichtlichen Zeitraums, I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t , könnte, zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als teilweise verfrüht erscheinen, da das 19. Jahrhundert gemeinhin als das bürgerliche Jahrhundert gilt (oft auch einschließlich der spätwilhelminischen Zeit). Diese einseitig hochkulturelle Sicht ist zu relativieren. Zwar ist das um 1800 literarisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich etablierte und hochangesehene bildungsbürgerliche Deutsch gerade im Laufe des 19. Jh. durch Pädagogisierung und Popularisierung vom Status eines akademisch-belletristischen Standessymbols in den eines „Nationalsymbols" zur „Herrschaftssicherung" (Mattheier 1991, 49) einer über das Bildungs- und Besitzbürgertum der absolutistischen Zeit weit hinausgreifenden staatsund wirtschaftstragenden oberen Mittelschicht überführt worden. Aber gerade dadurch, daß traditionelle „bürgerliche Bildung und bürgerliche Lebensformen" auch für ganz neue soziokulturelle Kommunikationszwecke zu einem „Maßstab des Verhaltens" wurden, „den auch andere gesellschaftliche Gruppen zunehmend anerkennen" mußten (Cherubim 1983 b, 407) — auch sich modernisierende Teile des Adels und des Kleinbürgertums, selbst in der frühen Arbeiterbewegung —, ist eine „Entkonturierung des Bildungsbürgertums" im Laufe des 19. Jh. zu beachten (Mattheier 1991, 49), die sich sprachlich als kultureller ,Niveauverlust' der ,Hochsprache' auswirkte, als Annäherung an die ,Umgangssprache' (Cherubim 1983 b, 403; Kettmann 1981). Nach der konservativen Sprachideologie hieß das: ,Sprachverfall', ,Verrottung', ,Verhunzung', ,Vulgarisierung' der ,deutschen Sprache', wie es zahlreichen elitär rückwärtsgewandten Sprachkritikern vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jh. erschien (s. 6.8D —H). In soziopragmatischem Perspektivenwechsel kann man die Folgen der Popularisierung des bildungsbürgerlichen Deutsch auch anders sehen: Durch umfassenden soziokulturellen Wandel veränderten sich Kommunikationserfordernisse und entstanden zweckbedingt, Produzenten- und sozialgruppenbedingt neue öffentliche Textsortenstile, komplementär zu der Tatsache, daß der für die Hochindustrialisierung erforderliche schließliche Erfolg der Schulpflicht am Ende des 19. Jh. (s. 6.2G—J) „das erste Mal in der deutschen Sprachgeschichte" dazu geführt
4
6.0 Zur Einführung
hat, „daß Schreiben und Lesen nicht das Privileg der Gebildeten ist, sondern daß es eine Volksliterarität gibt", indem der allergrößte Teil der erwachsenen Bevölkerung für vielfältige Alltagszwecke sekundäre Fertigkeiten des Schreibens und Lesens erwerben mußte (S. Grosse 1990, 325). Das modernisierte Bürgertum des 19. Jh. stellte durch seine wirtschaftspolitischen Bestrebungen und Erfolge im Laufe des 19. Jh. die treibende Kraft für Industrialisierung, Urbanisierung, Arbeitsteiligkeit, Vollalphabetisierung, Mobilisierung und Politisierung der Unterschichtbevölkerung dar; es war der maßgebende Teil der Industriegesellschaft. So sind die sprachideologisch-kulturkritischen Klagen über eine ,Gefährdung' der ,Hochsprache' durch ,Umgangssprache', Zeitungsdeutsch', ,Fachjargon', ,Fremdwörter' und das die ,heile Welt' störende Politikdeutsch auch als (bis weit ins 20. Jh. nachwirkende) Instrumentalisierung des Sprachwandelbewußtseins für bildungsorientierte Sozialdistanzierung und mittelständische Berufschancensicherung zu erklären. Modernisiertes Gesamt-Bürgertum und Arbeiterschaft zusammen bilden die moderne Industriegesellschaft. In der thematischen Gliederung und Proportionierung dieses Bandes tritt — noch stärker als im Band II — die S p r a c h b e w u ß t s e i n s g e s c h i c h t e in den Vordergrund. Die Sprachentwicklung ist vor allem bis zur Mitte des 20. Jh. von institutionellen und persönlichen Aktivitäten der Sprachbewertung, Sprachideologisierung und Spracherziehung (s. 6.3M—O), der Sprachendiskriminierung und -Verdrängung (s. 6.4), der Sprachstandardisierung (s. 6.6), des Sprachpurismus und der Sprachpflege (s. 6.7) geprägt, auch weiterhin durch vielfältige Sprachkritik (s. 6.8). Gerade die „bürgerliche Sprache" des 19. Jh. ist in soziopragmatischer Sprachgeschichte weniger als eine bestimmte Varietät, als ein bestimmtes Inventar oder System von Sprachmitteln beschreibbar, vielmehr als ein spezifisch (bildungs)bürgerliches sprachreflexives Verhalten, als „Sprachgestus [...], d. h. in den Formen des Bewußtseins und Verhaltens gegenüber einer Menge tradierter und/oder neugebildeter heterogener Sprachmittel [...], die über Konnotationen (Sprachgefühl, Spracheinstellungen, Sprachwertmuster usw.) organisierte Zuordnung bestimmter Sprachmittel und Sprachverhaltensweisen zu verschiedenen Sprachhandlungssituationen" (Cherubim 1983 b, 406, 417). Da die Sprachentwicklung von solchen metasprachlichen Bemühungen mindestens teilweise beeinflußt worden ist, erschien es sinnvoll, das systemlinguistisch relevante Kapitel 6.9 diesem umfangreichen sprachbewußtseinsgeschichtlichen Teil erst nachfolgen zu lassen. Da Sprachreflexion und Sprachentwicklung in üblicher Weise mit der verallgemeinernden, wenn nicht idealisierenden Annahme einer homogenen Größe ,die deutsche Sprache' dargestellt werden, müssen danach — wie in Band II — noch die Ansätze zur Erforschung einiger wichtiger sozialer und funktionaler Sprachvarietäten fol-
A: Nationalismus, Industriegesellschaft, Sprachbewußtsein
5
gen (6.11 — 6.16), um gegenüber traditionellen bzw. systemlinguistischen Homogenitätsauffassungen den auch für moderne Kultursprachen unentbehrlichen Prinzipien Sprachvariation (vgl. Bd. I: 2.4) und ,innere Mehrsprachigkeit' (vgl. Bd. II: 5.8C) gerecht zu werden. B. Eine Untergliederung des Zeitraumes 19./20. Jahrhundert als , P e r i o d i s i e r u n g ' oder Setzung von , Z ä s u r e n ' wäre sehr problematisch wegen großer Überschneidungen, Widersprüche, Phasenverschiebungen, Retardierungen je nach Textsorten und Diskursbereichen (vgl. Steger 1983/89, dazu Stötzel/Wengeler 1995, 4 ff.; Stötzel 1993; v. Polenz 1989 a; Roelcke 1995, dazu v. Polenz, in: ZdPh 116, 1997, 461 ff.). Man könnte sich beispielsweise darüber streiten, wann man das ,neuere/neueste', ,jüngere/jüngste' Neuhochdeutsch oder die ,Gegenwartssprache' beginnen läßt. Es ist sinnvoller, zunächst das unterschiedliche Entwicklungstempo der verschiedenen Objektbereiche von Sprachgeschichtsschreibung zu beachten, d. h. die langfristigen, einschnittslosen Entwicklungen festzustellen und erst danach in kurzfristiger verlaufenden Objektbereichen nach Zeitpunkten oder Zeitphasen mit erkennbaren, meist außersprachlich erklärbaren Entwicklungsschüben zu fragen. Dazu der folgende Versuch einer groben Übersicht über chronologisch orientierbare Teilthemen dieses Bandes mit Verweisen auf die entsprechenden Kapitelabschnitte: Sehr l a n g f r i s t i g und kontinuierlich sind folgende Entwicklungen über das 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t hinweg: — Reduzierungen im lautlichen, flexivischen und morphosyntaktischen Bereich, vor allem in tieftonigen Silben, beim Genitiv, Dativ, Konjunktiv, im Tempusgebrauch; Rückgang der Hilfsverbeinsparung in Nebensätzen, Ersatz von Flexionsformen durch Hilfsverb- oder Präpositionalfügungen; alles ohne erkennbare zeitgeschichtliche Ursachen (s. 6.9C — G). — Allmähliche Tendenzwende vom komplexen, oft verschachtelten Nebensatzstil zum inhaltlich komprimierenden Nominalisierungs- und Attribuierungsstil, vor allem in fachlicher und öffentlicher Schriftsprache, aus sprachökonomischen Erfordernissen der Verbesserung des raschen Lese- und Hörverständnisses auf Kosten der satzsemantischen Explizitheit (s. 6.9HI, 6.14B, 6.15B). — Zunahme von lockeren, fürs Hörverstehen günstigeren Satzbauformen gegen strengere traditionelle schreibsprachliche Präferenzen: Ausklammerungen, Kurzsatzformen, Parenthesen, Herausstellungen, Hauptsatzwortstellung bei bestimmten Nebensatzkonjunktionen (s. 6.9K —O). — Weiter zunehmende Ausnutzung von Wortbildungsmöglichkeiten: mehr und längere Zusammensetzungen; mehr substantivierter Infinitiv statt Ableitungen mit -ung, -nis, -(ajtion; mehr Präfixoid-/Suffixoid-/Konfixbildungen (s. 6.9R, 6.10G). — Rückgang von bildungssprachlichem welcher/-e/-es als Relativpronomen zugunsten von der/die!das (s. 6.9K). — Ausweitung des Gebrauchs von Interpunktionen in mehr pragmatischen Funktionen (s. 6.9P).
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6 . 0 Z u r Einführung
— Weitere, nur zeitweise durch Sprachpurismus retardierte Z u n a h m e des G e b r a u c h s von Lehnwörtern und Lehnwortbildungen, meist auf eurolateinischer Basis (s. 6.10D-P). — Allmählicher Rückgang des französischen Lehneinflusses zugunsten von englischamerikanischem, mit Beibehaltung der eurolateinischen Grundtendenz (s. 6.10J—P). — Popularisierung des Wissenschaftswortschatzes in öffentlicher und beruflicher K o m m u n i k a t i o n , ζ. T. mit pervertierenden Folgen wie Szientismus und pseudowissenschaftlichem J a r g o n (s. 6 . 1 4 E — K ) . — Entstehung von Stadt- und Regionalsprachvarietäten anstelle von Dialekten, zunehmende Vertrautheit auch der Unterschichtbevölkerung mit überregionalem Sprachgebrauch und Standardsprache (s. 6 . 1 2 A — E H ) .
Langfristige Entwicklungen, die bereits gegen Ende des 1 9 . J a h r h u n d e r t s zum Abschluß kamen: — Rückgang des Französischen als oberschichtliche Prestigesprache und Ersatz durch das bildungsbürgerliche Deutsch nach Vorbild des Stils der Weimarer Klassik, vor allem Schillers (s. 6 . 5 J , 6 . 6 D E , 6 . 1 0 B , 6 . 1 2 G , 6 . 1 3 A ) . — Fortsetzung und H ö h e p u n k t der spätaufklärerischen Bemühungen um bürgerverständliche Gesetzessprache bis zum B G B (s. 6 . 1 4 B ) . — Vorbereitung großer Teile auch der Mittel- und Unterschichtbevölkerung auf geregelte öffentliche K o m m u n i k a t i o n durch vielfältiges Vereinsleben; G e w ö h n u n g an bestimmte Textsorten in Industriebetrieben (s. 6 . 2 I J T U , 6 . 1 4 J , 6.161).
Neben diesen (und weiteren) längerfristigen Entwicklungen sind auf bestimmte Jahre oder Jahrzehnte fallende E n t w i c k l u n g s s c h ü b e der Kommunikations- und Sprachgeschichte zu erkennen, besonders in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung (1871) und in der späteren Nachkriegszeit, wobei darauf hinzuweisen ist, daß für eine solche Schwerpunktebestimmung die Zeit der Weimarer Republik noch zu wenig erforscht ist. Vom Revolutionsjahr 1 8 4 8 / 4 9 bis zur Reichsgründung 1871: — Modernisierung der Massenpresse: Pressefreiheit, Meinungspresse, Pressepolitik, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Journalismus, Differenzierung von Zeitungstextsorten (s. 6 . 3 D — I, 6 . 1 5 A B ) . — Z u n e h m e n d e Unterhaltsamkeit von Teilen der Massenmedien: schriften, Trivialliteratur (s. 6 . 3 B J , 6 . 1 3 D , 6 . 1 5 D ) .
Publikumszeit-
— Zunehmend sozialdistanzierende Funktion des Bildungsdeutsch in der Mittelschicht (s. 6 . 2 M O , 6 . 9 X , 6 . 1 2 G ) . — Anfänge parlamentarischen und parteienspezifischen Sprachgebrauchs (s. 6 . 2 V W , 6.16GH). — Vorübergehende Politisierung der Unterschichtbevölkerung in revolutionären Aktionen, Dialekt in politischer Funktion (s. 6 . 1 2 B , 6 . 1 6 E F ) .
Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende: — Nahezu Vollalphabetisierung der Bevölkerung, Zeitunglesen auch in der Unterschicht (s. 6 . 2 G - J , 6 . 1 2 H ) .
Β: Entwicklungsschübe statt Periodisierung
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— Professionalisierung und Kommerzionalisierung der Anzeigenwerbung (s. 6.3K, 6.15E). — Stärkeres Bedürfnis und Aktivitäten zur Sprachnormung in Orthographie und Lautung (s. 6.6DE, 6.6KXY, 6.9B), sprachpuristischen Verdeutschung (s. 6.7D—G) und ,Sprachverfalls'-Kritik (s. 6.8D—F). — Sprachimperialistische Verschärfung der Unterdrückung von Sprachminderheiten (s. 6.4.1, 6.5P). — Anfänge der halboffiziellen Verbreitung radikalnationalistischen und antisemitischen Sprachgebrauchs (s. 6.16J —M). — Förderung der jiddischen Literatursprache außerhalb der deutschsprachigen Länder (s. 6.4.1Z).
Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs: — Verbesserung der Frauenbildung (s. 6.2L). — Entwicklung von Freizeit-Fachwortschatz (s. 6.14K). — Englisch und Lehnwörter aus dem Englischen werden in der Oberschicht beliebt (s. 6.10CJ). — Vermehrter (auch gesprochener) Gebrauch von Abkürzungen, syntaktischen Kurzformen, Schlagzeilen (s. 6 . 9 M Q , 6.15C). — Literarische Sprachkrise mit der Folge stärkerer literarischer Verwendung von Sprachverfremdung und spielerisch-kreativen Umgangs mit der Sprache für das ganze 20. Jh. (s. 6 . 9 X , 6 . 1 3 E - I ) . — Sprach(en)politische Radikalisierung im Ersten Weltkrieg: Sprachpurismus, Entwelscbungs-Kampagne in Elsaß-Lothringen (s. 6.4.1FG, 6.71).
Vom Versailler Vertrag bis zum Ende der Weimarer Republik: — Neue Grenzziehungen durch die Siegermächte: Befreiung nichtdeutschsprachiger Minderheiten und Nationen, Unterdrückung neuer deutschsprachiger Minderheiten, eskalierende Sprachenkämpfe (s. 6.4.2). — Anfänge der rückläufigen Entwicklung der internationalen Stellung von Deutsch als Minderheiten-, Fremd- und Wissenschaftssprache, besonders in westlichen Ländern (s. 6.4.2, 6.5ACEUV). — Englisch wird 1. Schulfremdsprache auf Kosten von Französisch (s. 6.5J). — Angloamerikanischer Lehneinfluß wird populärer, auch für Freizeit und Geselligkeit (s. 6.10K). — Terminologienormung durch DIN (s. 6.141).
Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs: — Verschärfung sprachenpolitischer Kämpfe bei Auslandsdeutschen, Unterdrückung fremdsprachiger Bevölkerungen, Verbot des Sorbischen in der Lausitz und des Letzeburgischen in Luxemburg, erste Vertreibungen und Umsiedlungen (s. 6.4.2, 6.5S). — Beginn sprachseparatistischer Tendenzen in der Schweiz und in Luxemburg als Reaktion auf den verschärften deutschen Sprachimperialismus (s. 6.4.2C—H, 6 . 7 0 P , 6.11V). — Letzte Welle des Sprachpurismus in der frühen NS-Zeit (s. 6.7K—M), Entwelschungs-Terror in Luxemburg und Elsaß (s. 6.4.2E —H). — Totalitäre NS-Medienpolitik, vor allem mit Rundfunk und Kinofilm (6.3LOP). — Durchsetzung eines totalitären, staatsparteiorientierten öffentlichen Sprachgebrauchs aufgrund starker radikalnationalistischer und antisemitischer Traditionen seit dem späten 19. Jh. (s. 6 . 1 6 N - S ) .
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6.0 Zur Einführung
— Stillstand und Rückschritt in der Modernisierung von literarischem Sprachgebrauch (s. 6.13K). — Politisch motivierte Umstellung von altdeutschen Schriftarten (Fraktur, deutsche Schrift usw.) auf internationale (Antiqua, Lateinschrift) durch Hitlers Anordnung 1941 (s. 6.2D). — Ablösung des theaterorientierten Hochlautungs-Vorbilds durch den (noch traditionell schreibsprachorientierten) Sprechstil in Hörfunk-Nachrichten (s. 6.6Z).
Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 1960 er Jahre: — Teilweise Ersetzung des politischen und institutionellen NS-Sprachgebrauchs durch Rückgriffe und westlich orientierte Innovationen in den Westzonen / in der Bundesrepublik (s. 6.16T-V), stärker innovativ und sowjetisch-sozialistisch in der SBZ/DDR (s. 6 . 1 1 K - N , 6 . 1 6 W X ) . — Westlich orientierte besatzungsrechtliche Neuordnung der Massenmedien-Politik in Westdeutschland (s. 6 . 3 M Q ) . — Antifaschistische Sprachkritik und Vergangenheits-Diskurs vor allem in der Bundesrepublik (s. 6 . 8 M - Y , 6 . 1 6 T - V ) . — Verstärkung des angloamerikanischen Spracheinflusses in den westlich orientierten Ländern, vor allem in Politik, Wissenschaften, Wirtschaft, Verkehr, Freizeitkultur, mit wesentlich geringerer formaler Integration ins deutsche Sprachsystem als vor 1945 (s. 6.5KLM, 6.10KL). — Relativ geringer russischer Spracheinfluß, vor allem mit Lehnprägungen, in der SBZ/DDR (s. 6.10R). — Weitere Popularisierung des überregionalen und standardsprachlichen Sprachgebrauchs in den beiden deutschen Staaten infolge Bevölkerungsmischung durch Massenflucht, Vertreibung, berufliche Mobilität, Funktionswandel des Dialektsprechens (s. 6.12CD) — Kodifizierung und Domänenausweitung des Lëtzebuergesch als Nationalsprache (s. 6.4.3FG). — Lösung von Sprachminderheitenproblemen in der Lausitz (Sorben), Nord- und Südschleswig und Ostbelgien (s. 6.4.3). — Entstehung neuer soziolinguistischer Probleme durch Arbeitsimmigranten (s. 6.4.3V —Y, 6.121).
Von Mitte der 1960 er Jahre bis 1989/90: — Liberalisierung der Einstellung zu traditionellen Sprachnormen in öffentlicher Kommunikation und Massenmedien (s. 6 . 2 X , 6.3AN, 6 . 9 B C Z , 6.15L—N), in der Jugendsprache (s. 6.12M), im Anredeverhalten (s. 6 . 9 Y Z ) . — Politisch-soziale Sprachkritik und öffentliche Sprachsensibilität in der B R D , semantische Kämpfe in der Parteipolitik (s. 6.8T—Y, 6.16TV). — Wachsendes Bewußtsein für Sprachunterschiede zwischen den deutschsprachigen Staaten, neuer Regionalismus (s. 6.11, 6.12D). — Lösung von Sprachminderheitenproblemen in Südtirol (s. 6.4.3T).
Von der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bis zur Gegenwart: — Sprachrevolte in der D D R im Herbst 1989, Verdrängung des DDR-spezifischen Deutsch in den neuen Bundesländern durch BRD-Sprachgebrauch im öffentlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Leben (s. 6.11 Ο, 6 . 1 6 Y Z ) .
Β: Entwicklungsschiibe statt Periodisierung
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— Wachsendes Interesse für Deutsch als Fremdsprache und übernationale Verkehrssprache in Ostmitteleuropa (s. 6.5B—I), — Osterreichische Bemühungen um mehr Anerkennung des österreichspezifischen Deutsch (s. 6.1 I Q ) . — Weiterer D o m ä n e n z u w a c h s des Dialektsprechens im deutschsprachigen Teil der Schweiz (s. 6 . 1 1 W ) . — Öffentlicher Streit um eine Rechtschreibreform (s. 6 . 6 N — R ) . — Informationsgesellschaftliche Veränderungen des privaten und beruflichen K o m munikationsverhaltens durch neue elektronische Medien (s. 6 . 2 B , 6 . 1 4 H ) .
Literatur Bach 1 9 7 0 , Kap. 4 . 5 . B R S , Kap. X I V . Cherubim u. a. 1 9 9 8 . DPhA (Langen 1 1 7 2 ff.). Eggers 1963/86, Bd. IV, Kap. V I I - I X . Fleischer/Hartung/Schildt 1 9 8 3 , Kap. 4 . 3 , 4 . 4 . G a r d t u . a . 1 9 9 5 . Langner 1 9 8 3 . Langner/Berner 1 9 8 6 ; 1 9 9 1 . L G L (Eggers 6 0 3 f f . , Frühwald 7 3 2 f f . , Leibfried 7 4 0 f f . , Eibl 7 4 6 f f . ) . Maurer/Rupp 1 9 7 8 , Bd. II (Kainz 2 4 5 ff., Wagner 4 9 3 ff., M o s e r 5 2 9 f f . ) . M o s e r 1969, Kap. 2 6 - 3 0 . Nerius 1 9 8 3 . Schirmer/Mitzka 1960, 1 0 4 ff. V. Schmidt 1 9 7 8 . W. Schmidt 1993, Kap. 1.7, 1.8. Schwarz 1 9 6 7 , Kap. V I I - X I I . Tschirch 1983/90, Kap. VI. Wells 1 9 9 0 , Kap. I X , X . Wolff 1 9 8 6 , Kap. 6 . 3 - 7 . 19. J a h r h u n d e r t : Cherubim 1 9 8 3 ab. Cherubim/Mattheier 1 9 8 9 . Cherubim/Objartel 1 9 8 6 . D i e c k m a n n 1 9 8 9 . S. Grosse 1 9 8 6 ; 1 9 9 0 . Kettmann 1 9 8 1 . Kettmann u. a. 1 9 8 0 . Mattheier 1 9 9 1 ; 1 9 9 8 . Maurer/Rupp 1 9 7 8 , Bd. II (Wagner 4 9 3 ff.), v. Polenz 1 9 8 3 ; 1989 a. Schildt u . a . 1 9 8 1 . W i m m e r 1 9 9 1 . - 2 0 . J a h r h u n d e r t : Cherubim 1 9 9 8 b. Eggers 1 9 7 3 . Kämper/Schmidt 1 9 9 8 . M a c k e n s e n 1 9 7 1 . — Gegenwartssprache / nach 1 9 4 5 : Braun 1 9 7 9 b; 1 9 9 3 . Clyne 1 9 8 4 ; 1 9 9 5 a. Debus 1990/91. Der öffentliche Sprachgebrauch 1 9 8 0 . Die deutsche Sprache . . . 1 9 8 4 . Glück/Sauer 1990/97. S. Grosse 1 9 9 3 . R . G r o ß e 1 9 7 1 . Hellmann 1 9 7 3 ; 1 9 7 6 . Heringer u. a. 1 9 9 4 . L G L (Glinz 6 0 9 ff., Henne/Drosdowski 6 1 9 ff.). M o s e r 1 9 5 6 . v. Polenz 1 9 8 3 b. Russ 1 9 9 4 . Schildt 1 9 8 3 . Sommerfeldt 1988. Steger 1983; 1 9 8 5 ; 1989. Stickel 1 9 9 0 .
6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft von 1800 bis 1933 A. Die n a p o l e o n i s c h e Z e i t war in Deutschland eine Umbruchsphase: Die „defensiven Reformen von oben" (Wehler) des aufgeklärten Absolutismus (vgl. Bd. II: 5.1J) wurden durch revolutionären und okkupatorischen französischen Einfluß belebt und von deutschen aufgeklärten Reformfreunden im Staatsdienst vorangetrieben. Auf der anderen Seite entwickelten sich, infolge der Zwänge und Härten des französischen Besatzungsregimes, aber auch des verführerischen französischen Vorbilds, die Anfänge des deutschen Nationalismus, mit antiwestlicher und antiaufklärerischer Tendenz. Beides hat die Weichen gestellt für die verspätete, krisenhafte und schließlich katastrophale Entwicklung des späteren deutschen Nationalstaates. Das 19. Jahrhundert begann in Europa mit dem Aufstieg Napoleons in Frankreich (Staatsstreich 1799) und seinen ersten militärischen Erfolgen, in Deutschland mit dem E n d e des A l t e n R e i c h s (Nipperdey 1983, 11 ff.). Nach französischen Siegen über Österreich wurde 1801 der Friede von Luneville geschlossen, der die Annexion der linksrheinischen deutschen Territorien bestätigte und die längst fällige Reichsreform durch den Regensburger Reichsdeputationshauptschluß (1803) mit seiner drastischen Verminderung der deutschen Kleinstaaterei zur Folge hatte (vgl. Bd. II: 5.1K). Nachdem Napoleon als Kaiser der Franzosen das Erbe der Revolution auf französischen Nationalismus mit hegemonialen europäischen Zielen reduziert, Österreich und Rußland bei Austerlitz 1805 besiegt und den Rheinbund napoleonhöriger deutscher Mittelstaaten gegründet hatte, gab Kaiser Franz II. dem längst in Auflösung befindlichen Reich den Todesstoß, indem er 1806 die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte und sich auf das bereits 1804 eigenmächtig eingeführte österreichische Kaisertum zurückzog.
Die späte, nur noch mit Verwaltungsroutine erledigte formale Abschaffung der Reste des mittelalterlichen Reiches hatte — verstärkt durch die französische Militärherrschaft — in den deutschen Territorien ein politisch-ideologisches Vakuum zur Folge, das die Deutschen bis ins 20. Jahrhundert in immer neuen, ζ. T. irrationalen Versuchen zur Lösung der deutschen Frage zu füllen versuchten, um das durch die allgemeine europäische Modernisierung unumgänglich gewordene staatsbezogene N a t i o n a l b e w u ß t s e i n zu gewinnen. Das Napoleonische Besatzungsregime hat sich auf die politische Meinungsbildung in Deutschland zwiespältig ausgewirkt: Auf der einen Seite setzten aufgeklärt, kosmopolitisch und frankophil Gesonnene ihre Hoffnung auf eine belebend modernisierende Wirkung der französischen Besatzungs- und Bündnispolitik; positive Beispiele waren der ins Deutsche übersetzte Code Napoléon und
A—C: Napoleonische Zeit
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gelungene Reformen in den Rheinbundstaaten. Auf der anderen Seite entstanden antifranzösische Einstellungen in Teilen der gedemütigten alten Oberschicht und in der durch Kriegskosten und Besatzungshärten bedrückten Bevölkerung. So wurde Preußens Widerstand nach Napoleons Niederlage in Rußland (1812) mit frühnationalistischer Propaganda (Fichte, Arndt, Jahn, vgl. 6.16BC) gegen den noch zögernden König eingeleitet. In den Befreiungskriegen (1813/15) entstand ein ethnozentrisches deutsches Nationalgefühl, das sich vom humanistisch-aufklärerischen Patriotismus ebenso wie vom westeuropäischen politischen Begriff der ,Staatsbürgernation' zunehmend entfernte. Diese intellektuelle Ideologisierung hatte damals noch eine geringe Breitenwirkung: Dem größten Teil der Bevölkerung, der nur den Territorialpatriotismus kannte, und den (nun ζ. T. wehrpflichtigen) Soldaten erschienen die antinapoleonischen Feldzüge noch als gewohnte Fürstenkriege mit harten Opfern des willenlosen Untertanen-VVolkes. Das spätere preußisch-reichsdeutsche Propagandabild vom ,Aufbruch des Volkes in Waffen' war damals nur politischer Mythos einer kleinen Gruppe von Publizisten und Studenten als politischer Teil der romantischen Bewegung (Wehler 1987, 1, 525 ff.). Die Anfänge des deutschen Nationalismus sind als „Reaktion auf Modernisierungskrisen, Revolution und Fremdherrschaft" zu verstehen (Wehler 1987, 1, 506 ff.): Die traditionelle Legitimierung politischer Herrschaft (Gottesgnadentum) war im Zerfallen, so auch der ihr entsprechende Reichs- und Landespatriotismus (vgl. Bd. II: 5 . I E , 5.10U). Das aus Frankreich kommende, durch den „Universaldespoten Napoleon" (Wehler) verkörperte Vorbild des politischen Fortschritts erschien den Deutschen in pervertierter Form: „Der demokratisierte, militarisierte Nationalstaat erwies sich als Machtstaat nach innen und außen" (Mann 1958/92, 101). Da auch die Kirchen von der Legitimationskrise des Alten Reiches und der Territorien betroffen waren, wurde der erst noch zu definierende neue ,Nation' —Begriff „anstelle der Kirche zur verbindlichen Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz des nachrevolutionären Menschen erhoben" (Wehler 1987, 1, 508). Vgl. 6.16BC!
Der frühe deutsche Nationalismus knüpfte an eine vom Kulturpatriotismus (vgl. Bd. II: 5.5BC) herkommende übersteigerte Bildungsideologie an, mit der man in politikfernem Idealismus eine ,Auserwähltheit' oder ,Sendung' der Deutschen als „Menschheitsnation" (Schiller) oder „Weltbeglücker" (Jahn) postulierte. Von daher richteten sich nationalistische Aggressionen in der Napoleonzeit in opportunistischer Weise nicht gegen die eigenen Obrigkeiten des Territorialabsolutismus, sondern gegen äußere Gegner als vermeintlich Schuldige an der offensichtlichen Rückschrittlichkeit der Deutschen auf dem Weg zu einem Nationalstaat, wie man ihn in westeuropäischen Ländern bereits etabliert sah. So wurde für ein reichliches Jahrhundert der Franzosenhaß „als schlimme Hinterlassenschaft der Besatzungszeit und Befreiungskriege'" (Wehler 1987, 1, 512), und mit ihm eine weitverbreitete Fremdenfeindlichkeit, zum wesentlichen Bestandteil des deutschen Nationalismus. In antiaufklärerischer, fortschrittsfeindlicher Richtung wurde Frankophobie schon damals mitunter mit radikalisiertem Antijudaismus verknüpft: „Verflucht
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6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
aber sei die Humanität und der Kosmopolitismus [...], jener allweltliche Judensinn, den ihr uns preist." (Arndt); zum frühen Antisemitismus vgl. 6.16LM! B. Politisch gewirkt hat der frühe deutsche Nationalismus erst später. Die ,Befreiungskriege' brachten nur eine Befreiung von der napoleonischen Herrschaft. Die eigentlichen Gewinner waren die Großmächte Preußen und Österreich und die deutschen Mittelstaatsfürsten, die sogar ihre Napoleon zu verdankenden neuen Königs- und Großherzogstitel behielten. Auf dem W i e n e r K o n g r e ß (1815) wurde das monarchische Prinzip auf der Basis der napoleonischen Neuordnung mit neuer Machtverteilung und mit antinationaler restaurativer Tendenz stabilisiert. Die auf dem Kongreß beschlossenen territorialen Veränderungen wirkten sich später aus auf dem Weg zu Bismarcks Reichsgründung: Preußen konnte sein Gebiet beträchtlich vergrößern: um die Provinzen Westfalen und Rheinland, die nördliche Hälfte Sachsens, Schwedisch-Pommern mit Rügen. Dies hat „aus Preußen erst eigentlich einen überwiegend deutschen, quer durch ganz Deutschland liegenden, tief nach Süden ausgreifenden Staat gemacht und ihm so das Präsidium über die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert in die Hände gespielt" (Mann 1958/92, 67). Österreich mußte sich weiter aus Mitteleuropa zurückziehen: es verlor oberrheinische Gebiete an Baden und Württemberg, Belgien an die Niederlande. Als schwacher Ersatz für das untergegangene Alte Reich wird unter Österreichs Leitung der Deutsche Bund aus 39 Staaten gegründet (Bundestag in Frankfurt), der sich dann unter der Regie des Fürsten Metternich als loser Fürstenbund zur Verhinderung der Demokratisierung und eines deutschen Nationalstaates erwies. Z u seiner antinationalen Orientierung gehörte es, daß auch nichtdeutsche Fürsten dazugehörten (der englische König als König von Hannover, der dänische als Herzog von Holstein, der niederländische als Großherzog von Luxemburg) und daß Preußen und Österreich mit einigen ihrer Territorien (Ostpreußen, Posen bzw. Italien, Ungarn) dem Bund nicht unterstanden. Die Bevölkerungen wurden bei den umfangreichen landesherrschaftlichen Veränderungen überhaupt nicht gefragt.
C. Die fast kontinuierliche europäische Kriegsperiode von 1792 bis 1815 war w i r t s c h a f t s g e s c h i c h t l i c h für Deutschland eine Zeit starker Belebung, aber auch großer Ungleichheiten, Widersprüche und Unsicherheiten (Wehler 1987, 1, 486ff.; Treue 1989, 16ff.): Während Heereslieferanten, maschinelle Baumwollverarbeitung, Maschinenindustrie, kontinentaler Fernhandel, Schmuggler, neue Grundbesitzer und Bankiers von den Kriegszwängen oder den englischen und französischen Handelsblockaden beträchtlich profitierten, verarmten andere gewerbliche Branchen, ζ. B. Leineweberei, Glasindustrie, Seehandel, ostelbische Landwirtschaft. Die durch kommerzielle Isolierung von England bedingte frühindustrielle Belebung der Binnenwirtschaft, vor allem linksrheinisch und in Sachsen, war allerdings mit einem Rückschritt in Bezug auf technische Innovationen verbunden, da in dieser Zeit England einen Vorsprung vor dem Kontinent erreichte, den Deutschland erst sechs bis sieben Jahrzehnte später einholen
A —C: Napoleonische Zeit
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konnte. Der sozialökonomische Unterschied zwischen frühindustriellem W e s t e n (einschließlich Sachsen) und agrarischem N o r d o s t e n wurde in Deutschland als Folge der napoleonischen Wirtschaftspolitik verschärft (Treue 1989, 20). Infolge umfangreicher Kapitalanhäufungen und Umverteilungen von Besitz und Einkommen (durch Säkularisation kirchlicher Güter, hohe Verschuldung von Altbesitzern, Staatsschulden) entstanden — im Sinne des schon damals kulturkritisch bewußten Commerzgeistes — neue, schärfere soziale Ungleichheiten. Die zunehmende Trennung von Kapital und Arbeit verschärfte im 19. Jahrhundert die Klassengegensätze, auch auf dem Lande, da durch S o z i a l r e f o r m e n der Großgrundbesitz für frühindustrielle Wirtschaftsweise freigegeben war: preußisches Allgemeines Landrecht 1794 (vgl. Bd. II: 5.1J), Code Napoléon, Reformen in den Rheinbundstaaten, Stein-Hardenbergsche Reformen (1807/08). Die Befreiung der Bauern von Leibeigenschaft und Frondiensten, der Gewerbetreibenden von Zunftzwängen brachte zunächst nur für Kapital- und Grundbesitzer und frühe Unternehmer Vorteile, nicht für die Unterschichten, die mit ihren neuen Freiheiten noch nicht viel anfangen konnten und aus traditionellen sozialen Sicherungen der alten ständisch-feudalen Herrschaftsverhältnisse entlassen waren. Die Ergebnisse der „antirevolutionären Reformen" der napoleonischen Zeit (Wehler 1987, 1, 531; Nipperdey 1983, 33 ff.) bestanden in einer Stärkung des modernen zentralistischen Staatsdenkens (Etatismus), der staatlichen Verwaltung (Bürokratismus) und der frühindustriellen Wirtschaftsliberalität, bei restaurativer Konsolidierung der monarchischen Verfassung der Einzelstaaten. Die stärker unter Napoleons liberaler Diktatur stehenden Rheinbund-Staaten, zu denen auch die süddeutschen Staaten gehörten, konnten die Reformen etwas weiter vorantreiben auf den Gebieten der Verwaltung, des Verfassungsstaates und der Entmachtung des altständischen Adels, während die preußischen Reformen dem grundbesitzenden Adel (Junkertum mit Agrarkapitalismus) weiterhin starken politischen Einfluß beließen, mit Niedergerichtsbarkeit, Polizeigewalt und Repräsentationsmonopol in den Provinzialinstitutionen. Fortschrittlicher war Preußen in Steuer- und Zollpolitik, Gewerbefreiheit, Militärreform. Dies waren wichtige Voraussetzungen für die besondere Art der preußischen Führungsmacht auf dem Weg über Bismarck zum Wilhelminismus: wirtschaftsliberal, aber politisch konservativ und militaristisch. D . Die Z e i t v o m W i e n e r K o n g r e ß bis zur R e v o l u t i o n 1 8 4 8 / 4 9 , R e s t a u r a t i o n s z e i t g e n a n n t , ist v o n politischer R e t a r d i e r u n g und B e h i n d e r u n g der verschiedenen M o d e r n i s i e r u n g s b e s t r e b u n g e n
(Liberalismus,
Natio-
n a l s t a a t , Industrialisierung) g e k e n n z e i c h n e t , a b e r a u c h v o n m e h r o d e r w e n i g e r heimlichen bzw. inoffiziellen kleinen Schritten verschiedener Bev ö l k e r u n g s g r u p p e n in R i c h t u n g a u f diese Ziele, b e s o n d e r s im V o r m ä r z (seit der Pariser J u l i r e v o l u t i o n 1 8 3 0 ) und in den
Revolutionsmonaten
1848/49. Seit dem Kongreß in Karlsbad 1819 unterdrückte der österreichische Minister M e t t e r n i c h fast diktatorisch im Interesse der Monarchisten in den Ländern des Deutschen Bundes alle revolutionären, liberalen und nationalen Aktivitäten von Demagogen mit einem perfektionierten Netz von Agenten und Denunzianten, vor allem an Universitäten, in der Presse und im Vereinswesen. Viele der fortschrittlichsten Publizisten und Gelehrten waren durch Verfolgung, Ausweisung, Berufsverbot usw. zur Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, nach England oder Frankreich gezwungen. Ausgelöst wurde die radikal-restaurative Politik durch das Wartburgfest 1817, die
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6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
erste politische Massenkundgebung in Deutschland, zu der etwa 500 Delegierte von 12 deutschen Universitäten zum Gedenken an die Reformation und die Völkerschlacht bei Leipzig zusammenkamen. Im freiheitlich-nationalen Sinne tonangebend waren dabei die 1815 in Jena gegründeten Burschenschaften, die damals die Farben Schwarzrotgold als Symbol für die Nationalbewegung einführten. In der gleichen Zeit wurden Turn-, Gesangs- und andere offiziöse Vereine gegründet, in denen man die restaurative Unterdrückung durch Kollektivaktivitäten zur freiheitlich-nationalen Bewußtseinsbildung zu unterlaufen versuchte (vgl. 6.2T, 6.16EF). Unter dem Einfluß der Pariser Julirevolution und des polnischen Aufstandes kam es 1830/31 zu politischen Bewegungen und Unruhen in Kurhessen, Braunschweig, Hannover, Sachsen. 1832 veranstalteten liberale und national Gesonnene das Hambacher Fest.
E. Erfolge der gemäßigten Reformer im Sinne der konstitutionellen Monarchie waren die V e r f a s s u n g e n , die 1814 in Nassau, 1816 in Sachsen-Weimar, 1818 in Bayern und Baden eingeführt wurden. In Preußen scheiterte die Verfassungsbewegung; die angefangenen Reformen (Stein, Hardenberg, Humboldt) wurden 1819 abgebrochen, die Reformer entlassen. Als grundsätzlich wegweisender Schritt zur überterritorialen wirtschaftlichen Modernisierung gelang nur die Gründung des Deutschen Zollvereins (1834) zwischen Preußen und den meisten deutschen Staaten (nicht Österreich, Hannover und die Nordseehäfen). Die fortgesetzte Vorenthaltung versprochener Verfassungsrechte in den meisten Staaten, die ungenügende Förderung wirtschaftsliberaler Fortschritte, aber auch das Vorbild revolutionärer und/oder nationaler Bewegungen und Unruhen in Frankreich, Belgien, Italien, Griechenland, Ungarn, Böhmen, Polen, ließen die Zeit reif werden für die revolutionären Vorgänge von März 1848 bis Mai 1849, die man zusammenfassend als d e u t s c h e b ü r g e r l i c h e R e v o l u t i o n bezeichnet, nicht ganz treffend, da es damals weder einen festen politisch-sozialen Begriff,bürgerlich' noch eine gelungene Revolution gab. Es war eine mehrschichtige Summe von mehr reformistischen als revolutionären Aktivitäten mittelständischer Schichten und loser Interessengruppen. Forderungen nach Grundrechten, einer neuen Reichsverfassung und einem deutschen Nationalstaat wurden — außer in einzelnen lokalen Petitionen und Programmen — vom 18.5.1848 bis Mai 1849 in dem ersten deutschen Parlament, der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, von als Honoratioren gewählten lokalen Abgeordneten, überwiegend bildungsbürgerlich, diskutiert und teilweise als Beschlüsse vorgelegt, die jedoch noch nicht praktisch realisiert werden, sondern nur indirekt politisch weiterwirken konnten. Nach anfänglichem Zurückweichen und Entgegenkommen der Fürsten und Regierungen wurden alle Demonstrationen und Barrikadenkämpfe, an denen sich auch verarmte Unterschichtbevölkerung beteiligte, vor allem in Wien, Berlin, Frankfurt, Dresden, Baden, von Regierungstruppen niedergeschlagen. Erreicht wurden weder demokratische Verfassungen noch der deutsche Nationalstaat; das alte spätabsolutistische System konnte sich erneut gestärkt behaupten (Nipperdey 1983, 595 ff.; Wehler 1987, 2, 585 ff.). — Zu den revolutionären und parlamentarischen Kommunikationsformen vgl. 6.2VW, 6.16F —I!
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F. Die durch die Revolutionszeit geförderte teilweise Politisierung des öffentlichen Lebens in allen Bevölkerungsschichten hat vor allem die n a t i o n a l e F r a g e unumkehrbar vorangetrieben. Der deutsche Nationalismus hatte sich seit der französisch-deutschen Rheinkrise (1830) und der Schleswig-Holstein-Krise (ab 1840) aus einer bildungsbürgerlichen Einstellung durch das nationale Vereinswesen schon im Vormärz zu einem „Massenphänomen", zu einer „breitenwirksamen Offensivideologie" bürgerlicher und kleinbürgerlicher Schichten gesteigert (Wehler 1987, 2 , 3 9 6 ff.; Nipperdey 1983, 3 0 0 ff.). Dabei waren Liberale aus dem Besitzbürgertum meist zurückhaltender — und nicht franzosenfeindlich (Mann 1992, 157) — als linke Demokraten und unterschichtliche radikale Gruppen, auch in der frühen Arbeiterbewegung vor dem Einfluß des Marx/Engelsschen Internationalismus. Ein Zeichen für die Popularität der Nationalbewegung war es, daß der widerstrebende Preußenkönig sich nach der blutigen Niederschlagung der Straßenkämpfe im M ä r z 1848 gezwungen sah, zur Beschwichtigung beim Umritt in Berlin sich mit den Farben Schwarzrotgold zu schmücken. Als zentrales Projekt kam die nationale Frage in der Paulskirche auf die Tagesordnung, wegen des problematischen Verhältnisses zu Ö s t e r r e i c h und wegen des kriegerischen Schleswig-Holstein-Konflikts mit Dänemark (s. 6 . 1 6 H ) . Der künftige Ausschluß der Vielvölkermonarchie der Habsburger aus der deutschen Nationalstaatsbewegung war schon durch den Zollverein (1834) vorprogrammiert. Die rein ideologische Bewegung mußte 1848/49 an Tatsachen der völlig gegensätzlichen realpolitischen Situation zunächst einmal scheitern: „Ein deutscher Nationalstaat konnte nur dann Zustandekommen, wenn man entweder sehr viele Nichtdeutsche mit hineinnahm oder sehr viele Deutsche davon ausschloß oder zwischen beiden Extremen einen schwierigen Mittelweg wählte" (Mann 1992, 203). — Zur reservierten bzw. ablehnenden Haltung in der Schweiz, im Elsaß und in Luxemburg vgl. 6 . 4 . 1 A B D H I , 6 . 1 1 T U ! Im Entwurf einer neuen Reichsverfassung formulierte im Oktober 1848 die Frankfurter Verfassungskommission: „§ 2: Kein Teil des Deutschen Reiches darf mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staat vereinigt sein." (n. Schieder 1992, 94). Im November 1848 forderte im Gegenzug der neuernannte Nachfolger Metternichs, Fürst Schwarzenberg, die Erhaltung des österreichischen Vielvölkerstaates als europäische Notwendigkeit, im März 1949 noch radikaler eine absolute Stimmenmehrheit Österreichs in einem österreichisch-deutsch bestimmten Mitteleuropa, also ein „Großösterreich" statt eines „Großdeutschland" (Mann 1992, 226; Schieder 1992, 92). Im Winter 1948/ 49 wurden die Schlagworte großdeutsch und kleindeutsch üblich. Nationalistische Aktivitäten im Habsburgerreich haben, komplementär zur Wiener Regierungspolitik, die Österreichfrage brisant werden lassen: in Ungarn, Böhmen, Italien in antideutscher, ζ. T. separatistischer Richtung, bei Wiener radikalen Aufständischen im Sinne eines Anschlusses Deutschösterreichs an einen künftigen deutschen Nationalstaat (Mann 1992, 196, 205ff.).
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Durch militärische Niederschlagung all dieser Bewegungen wurde in der fast schon zusammenbrechenden Donaumonarchie das absolutistische System in starrem Konservatismus unter dem jungen Kaiser Franz Joseph wiederhergestellt. So blieb der Frankfurter Nationalversammlung nur der kleindeutsche Weg unter preußischer Führung übrig. Ihr erster Versuch in dieser Richtung scheiterte aber, da sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV. weigerte, eine ihm von der liberalen Mehrheit im März 1849 angebotene erbliche deutsche Kaiserwürde anzunehmen, aus Mißtrauen und Verachtung gegen die liberalen Parlamentarier, wohl auch aus Unsicherheit über die Reaktionen europäischer Großmächte, die sich seit der Schleswig-Holstein-Krise einmischten. Die Aufgabe, eine neue deutsche Verfassung und zugleich den dazugehörigen Staat zu schaffen, überstieg die Möglichkeiten des Paulskirchenparlaments, dessen unentschlossene liberale Mehrheit sich durch die radikaldemokratischen Unruhen anpassungsbereit an die Seite der Rechten drängen ließ (Schieder 1992, 91). „Man wollte sich die neue Freiheit von der traditionellen Autorität bewilligen lassen", „von der großen hoffnungsvollen Unruhe schien nichts übrigzubleiben als Enttäuschung, Scham und Spott" (Mann 1992, 199, 234). Das Scheitern der Revolution war auch dadurch bedingt, daß — im Unterschied zur Französischen Revolution — die staatliche Verwaltung keineswegs im Zusammenbrechen war, sondern — trotz des vorübergehenden Schocks im März 1848 — gut funktionierte auf dem Wege zum modernen autoritären Beamten- und Obrigkeitsstaat. Mit zahlreichen standrechtlichen Erschießungen und Hochverrats-Prozessen wurde für fast sieben Jahrzehnte politische Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Viele fortschrittlich Gesonnene, die sich der militärischen und juristischen Beendigung der Revolution nicht beugen wollten, sahen sich zur Auswanderung gezwungen, meist nach den USA; allein in Baden etwa 80 Tausend (mehr als ein Zwanzigstel der Bevölkerung), in Gesamtdeutschland etwa 250 Tausend im Jahr, gegenüber etwa 100 Tausend im Vormärz (Mann 1992, 249). G. Die 1848/49 er Revolution hatte verfassungspolitische und nationale, im Hintergrund wirtschaftsliberale, aber noch keine sozialen Ziele. Das s o z i a l e P r o b l e m der noch unorganisiert vor der Tür stehenden Massen der Unterschichtbevölkerung wurde noch kaum wahrgenommen. Die sehr abstrakten Theorien und Forderungen von Marx und Engels (.Kommunistisches Manifest 1847) und ihres in London, Paris und Köln wirkenden Kommunistenbundes „hatten damals in Deutschland höchstens ein paar hundert Anhänger" (Mann 1992, 244). Die deutschen Arbeiter wurden „in ihren praktischen Nöten 1848 von jenen Theoretikern alleingelassen" (Treue 1989, 90ff.). Die von den Vätern des Sozialismus zugrundegelegten Klassenkampfverhältnisse Englands und Frankreichs
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gab es im industriell rückständigen Deutschland noch nicht. Um die Jahrhundertmitte bestanden die Unterschichten in Deutschland überwiegend aus Bauern, Tagelöhnern, Handwerkern, kleinen Händlern, nur zu einem geringen Teil aus Industriearbeitern. Die ersten lokalen Treffen der frühen Arbeiterbewegung hatten vor allem handwerkliche Ziele (Gesellenvereine). Obwohl die in der frühen Industrie Beschäftigten und die Arbeits- und Obdachlosen heute unvorstellbare Not leiden mußten, war sozialkritisches Bewußtsein bei den betroffenen Proletariern noch kaum vorhanden, eher schon bei bildungsbürgerlichen Intellektuellen und teilweise in den Kirchen (Treue 1989, 87 ff.; vgl. 6.161). Die ,Bauernbefreiung' der Stein/Hardenbergschen Reformen und entsprechender Gesetze bis zur Jahrhundertmitte kam in den einzelnen Staaten verzögert, unterschiedlich und unvollständig voran. Der unselbständige Teil der ländlichen Bevölkerung sollte im aufklärerisch-utilitaristischen Sinne „aus einem schwer bedrückten Untertanen in einen freien Staatsbürger mit steigender Arbeitslust verwandelt" werden (Treue 1989, 24). Oft wurden nur die schärfsten, aus feudal-ständischer Zeit stammenden persönlichen Bedrückungen abgeschafft bzw. durch Geldleistungen oder Lohnarbeit ersetzt: Leibeigenschaft (die es fast nur in Ostelbien gab), Erbuntertänigkeit, Naturalabgaben, Frondienste, Heirats- und Wegzugsverbote, während die Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Gutsherren meist noch lange bestehenblieb. Die neuen privaten Freiheiten und die Freizügigkeit der ländlichen Unterschicht führte zu einer Verdoppelung der ländlichen Bevölkerung (Treue 1989, 31; Wehler 1987, 2, 7 ff.) als Übervölkerung. Dies hatte auf dem Lande wegen rationalisierender Umstellung der Gutsherrschaften und Bauerngüter auf Lohnarbeit, Bodenmelioration und Mechanisierung, in der Stadt wegen massenhaften Zuzugs durch Landflucht und Ausbleibens der eigentlichen Industrialisierung Massenarbeitslosigkeit, Lohnabhängigkeit, hohe Verschuldung und bittere Armut zur Folge. Dieser damals gelehrt mit Proletariat und Pauperismus benannte Übergangszustand zwischen Sozialreformen und Industrieller Revolution dauerte bis nach der Jahrhundertmitte an. Noch 1848 lebten in Preußen 72% der Bevölkerung auf dem Lande oder in kleinen Ackerbürgerstädtchen; zur Zeit der Revolution war etwa die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands besitz- oder erwerbslos, meist unter dem Existenzminimum lebend, also „nicht fähig zur Bildung wie zur Solidarisierung" (Wittmann 1982, 194).
Spätestens zur Zeit der bürgerlichen' Revolution wird die besondere sozialökonomische Entwicklung Deutschlands (im Vergleich mit Westeuropa) deutlich, die bei Historikern in der , S o n d e r w e g s d i s k u s s i o n ' seit Wehler (1973) zur Erklärung des verhängnisvollen Weges zum Wilhelminismus und zur nationalsozialistischen Diktatur benutzt wird, aber umstritten ist (Haltern 1985; Kocka 1994, 52ff.): Es wird dabei hingewiesen auf die Diskrepanz zwischen fortschreitender wirtschaftlicher Modernisierung einerseits und mangelnder bzw. zurückbleibender politischer und sozialer Modernisierung andererseits, auf einen diffusen, weitgehend unpolitischen Bürgertumsbegriff mit Trennung von Gesellschaft' und ,Staat', auf den Vorsprung des Gutsbesitzer-Adels in der Teilhabe an der industriekapitalistischen Entwicklung, auf die Anpassung des
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,feudalisierten' Besitzbürgertums an den autoritären, bürokratisierten, militarisierten Staat, usw. Noch bis Mitte des 19. Jh. war der Begriff , B ü r g e r ' , , b ü r g e r l i c h ' (Bürgertum vereinzelt ab 1797, für eine soziale Gruppe erst in den 1840 er Jahren) semantisch extrem überfrachtet: ,Stadtbürger', ,Nicht-Adliger' 'Nicht-Bauer', ,Untertan', Staatsbürger' (Steinmetz 1991), vgl. Bd. II: 5.12M. Der noch fortlebende ständische Begriff ,Stadtbürger' war an Rechtstitel wie Haus, Eigentum, Vertragsverhältnis und Tugenden wie Selbstbeschränkung, gewerblicher Fleiß, Sparsamkeit, Gemeinwohl gebunden; aber die früheste begrenzte Machtteilhabe von Mittelschichtgruppen bestand in der Kooperation und Konkurrenz staatlich privilegierter Beamter, Juristen und Gelehrten usw. mit Adeligen in gleichen Stellungen, mit der Tendenz zur ständischen Verschmelzung mit ihnen zu einer staatsnahen, aber mehr administrativen und kulturellen als politischen und wirtschaftlichen neuen Oberschicht (Haltern 1985, 75; vgl. 6.2M, 6.12G über das Bildungsbürgertum). Der citoyen-Begriff der Französischen Revolution (Bürgerrecht für alle Menschen, allgemeines ,Staatsbürgertum') hat sich in Deutschland langezeit nicht durchsetzen können; bei der Emanzipation der ,Bürger' aufgrund von Besitz und Bildung Schloß man besitzlose und ungebildete Schichten aus (Haltern 1985, 9). Der ,Freiheits'-Begriff wurde weitgehend unpolitisch, rein g e sellschaftlich' aufgefaßt, die moderne Privatrechtsordnung wurde nicht in Abhängigkeit von der politischen Verfassung angestrebt, schien also auch innerhalb des aufgeklärten Absolutismus möglich.
Begrenzt politisch-gesamtgesellschaftlich war der frühe, vor-bourgeoise Liberalismus, der vom aufgeklärten Absolutismus her sich um den repräsentativen Verfassungsstaat mit Grundrechtskatalog bemühte, aber sich mit der konstitutionellen Monarchie begnügte (Haltern 1985, 61 ff.; Nipperdey 1983, 286ff.). In der Paulskirche hatte das Bildungsbürgertum mit dem frühliberalen Beamtenbürgertum die Mehrheit (vgl. 6.16H). Daneben — in der Paulskirche noch geringer vertreten — entwickelte sich aber in der nachrevolutionären politischen Resignation das polemisch Bourgeoisie genannte, an Industrie, Kommerz und Finanz orientierte Besitzbürgertum mit seinem Wirtschaftsliberalismus (im hochkapitalistischen Extremfall polemisch Manchestertum genannt), dem die Zukunft gehörte. Erst seit der Politisierung von 1848/49 kam es zur (noch undeutlichen) Herausbildung einer solchen profitorientierten Kapitalistenklasse, die Marx klassenkämpferisch auf andere nichtproletarisch-nichtadelige Schichten verallgemeinerte. Wenn sich fortan diese WirtschaftsBourgeoisie zunehmend das Bürgertum nannte, wurde ihr diese Bezeichnung von links und rechts her gleichermaßen streitig gemacht. Das ganze Begriffsfeld um ,Bürger' war weiterhin nur Anlaß zu Mißverständnissen, Umdeutungen und semantischen Kämpfen (Steinmetz 1991). Um so mehr wurde das verlegene Ausweichen in unpolitische Bildungsstatusrituale gepflegt (vgl. 6 . 2 K M - P ) . H. Die Frühphase der I n d u s t r i a l i s i e r u n g (erste Jahrhunderthälfte) brachte zunächst eine Ausbreitung und Verarmung des Handwerkerstan-
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des (Wehler 1987, 2, 54ff.; Treue 1989, 104ff.; Glaser 1994, 50 ff.). Die Aufhebung des Zunftzwanges, also die Gewerbefreiheit verlockte zahlreiche Meister, aber auch entlassene Gesellen, sich auf eigene Faust mit kleinen Betrieben selbständig zu machen, die wegen zu starker Konkurrenz untereinander und mit den (von Kaufleuten finanzierten) ersten Fabriken nicht florieren konnten, zumal eine für Handwerksbetriebe geeignete Mechanisierung erst Jahrzehnte später durch den Elektro- und Verbrennungsmotor zur Verfügung stand. Die Folge war eine weitgehende Verarmung und Verproletarisierung von Teilen des Kleinbürgertums besonders seit den 1830 er Jahren. Dem Handwerkerelend versuchte die noch vorindustriell orientierte katholische Sozialbewegung (Ketteier, Kolping) abzuhelfen (Gesellenvereine in Rheinland und Westfalen ab 1845). Die Ansätze zur industriellen Produktion waren in der ersten Jahrhunderthälfte in Deutschland noch vereinzelt, verzögert und behindert (Treue 1989, 123 ff.; Wehler 1987, 2, 64 ff.): durch staatliches Monopol im Bergbau, das zwar die Modernisierung von Organisation und Technik förderte, aber unternehmerische Expansion behinderte oder liberalen Privatinitiativen überließ; durch ausländische, vor allem englische Konkurrenz mit billigerer Warenproduktion seit Aufhebung der Kontinentalsperre; durch Überlegenheit ausländischer Erzvorkommen, usw. Wesentlich positiver war bereits in den 1830 er und 1840 er Jahren die Entwicklung der deutschen Maschinenindustrie und des Baus von Eisenbahnen und Dampfschiffen als wichtige strukturelle Vorbereitung der Hochindustrialisierung. Der E i s e n b a h n b a u , der 1850 bereits über rund 7.500 Streckenkilometer verfügte (1900: über 50.000), hat nicht nur die Stahlindustrie und den Kohlebergbau sprunghaft belebt und neue militärstrategische Möglichkeiten eröffnet, sondern dieser große „Vernetzungstraum" des 19. Jh. hat auch die sozialgeschichtliche Entwicklung bis in die Unterschichten auch im Alltagsleben beeinflußt (Glaser 1994, 15 ff.): Berufe wie Unternehmer, Beamter, Ingenieur, Arbeiter und entsprechende Arbeitsordnung und -disziplin wurden gefestigt, Wanderarbeit in großen Gruppen organisiert, traditionelle Zeit- und Raumvorstellungen verändert, Sicherheitsmaßnahmen, Pünktlichkeit und Zeitersparnis eingeübt, der Kleinhandel belebt, überregionale Alltagskultur und -kommunikation aller Schichten gefördert, der Nachrichtenfluß beschleunigt (vgl. 6.3GH). I. Die Ergebnisse der 1948/49 er Revolution bestimmten die weitere Entwicklung Deutschlands und Österreichs von der B i s m a r c k z e i t bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in folgenden Hinsichten: — kleindeutscher Nationalstaat unter Preußens Führung als Ziel; Ausscheiden Österreichs,
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— konstitutionelle M o n a r c h i e statt R e p u b l i k , — autoritäre, obrigkeitsstaatliche P r ä g u n g des nationalen M a c h t s t a a t e s , mit starker D o m i n a n z konservativer K r ä f t e (Großgrundbesitz, Militär, Bürokratie), — Erfolglosigkeit und Aufsplitterung der liberalen Bewegung, Behinderung d e m o k r a t i s c h e r Bestrebungen, — relative Liberalität in der Wirtschaftsentwicklung mit s p r u n g h a f t e m W a c h s t u m der Hochindustrialisierung und Urbanisierung seit Mitte des 19. J h . , w o d u r c h der sprachgeschichtlich relevante Ü b e r g a n g von der ständisch-agrarischen zur Industriegesellschaft beschleunigt wurde. Die Epoche zwischen 1845/48 und 1871/73 nennt H a n s Ulrich Wehler (1995, 1250 ff.) „Deutsche Doppelrevolution": Was in anderen westlichen Ländern zeitlich nacheinander erreicht wurde — Nationalstaatsbildung und Industriekapitalismus — hat sich in Deutschland in der gleichen Zeit „kumulativ überlagert" mit der Folge verhängnisvoller Spannungen zwischen beschleunigter, moderner, sehr erfolgreicher Hochindustrialisierung und einem erstarrten politischen Ordnungsgefüge, das Reformen nur für Wirtschaftsinteressen, aber nicht für eine Demokratisierung der sich erst sehr allmählich bildenden reichsdeutschen Staatsnation zuließ. Wesentlich anders waren die Spannungen zwischen Tradition und Modernisierung in der habsburgischen Vielvölkermonarchie begründet: Nationalstaatsbildung und ökonomische Modernisierung waren gleichermaßen verspätet und behindert durch einen völlig überlebten dynastischen Reichsuniversalismus. Die 1850er J a h r e nennen Historiker R e a k t i o n s z e i t , Stillhaltezeit (Mann 1992, 255; Schieder 1992, 113 ff.; Nipperdey 1983, 6 7 4 f f . ) : Die Großmächte Preußen und Österreich kehrten nach der militärischen Niederwerfung der Revolution zu fast absolutistischen Zuständen zurück, mit bürokratischem Zentralismus, Aristokratismus, Pressezensur, höfischem Cliqueneinfluß, kultureller Dominanz der katholischen Kirche in Österreich-Ungarn. Der Liberalismus in bürgerlichen Schichten geriet in eine tiefe Depression und Verunsicherung, von der er sich erst in der Weimarer Zeit erholen konnte (Haltern 1985, 6 3 f f . ) : Der Nationalstaat erschien mit freiheitlich-demokratischen Mitteln unerreichbar, und man fürchtete sich vor dem Aufstieg des 4. Standes.
S o überließ m a n die Politik den traditionell M ä c h t i g e n und konzentrierte sich auf scheinbar unpolitische mittelständische Aktivitäten wie Wirts c h a f t , Bildung und Kunst. Die Wiederbelebung der deutschen N a t i o n a l bewegung durch d a s Vorbild der italienischen N a t i o n a l r e v o l u t i o n (1859) ging dann g a n z in die m a c h t s t a a t l i c h e Richtung, die auch durch den scheinparlamentarischen C a e s a r i s m u s N a p o l e o n s III. angeregt wurde, dessen unberechenbare e u r o p ä i s c h e Nationalitätenpolitik in den mitteleuropäischen Staaten U n r u h e bewirkte (Schieder 1992, 118, 127). Auch einflußreiche deutsche Historiker, vor allem Heinrich v. Treitschke, der preußisch-deutsche N a t i o n a l s t a a t s i d e o l o g e , förderten a u f g r u n d der Hegelschen S t a a t s p h i l o s o p h i e den irrational übersteigerten G e d a n k e n des nationalen M a c h t s t a a t e s (Mann 1992, 2 7 9 ff.), der den Nationalliberalism u s in antidemokratischer R i c h t u n g z u m „politischen D a r w i n i s m u s "
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pervertierte (Schieder 1992, 184f.). Die dazu erforderliche, dafür ersehnte starke Führerpersönlichkeit wirkte schon seit den frühen 1850 er Jahren einflußreich: B i s m a r c k , der die preußisch dominierte Nationalstaatsbildung ,νοη oben' bereits als Gesandter in der Frankfurter Bundesversammlung und als Botschafter in St. Petersburg und Paris im Sinne hatte. Seine verblüffenden Erfolge verdankte er seiner virtuosen Wendigkeit, mit der er innen- wie außenpolitische Gegner und Interessengruppen gegeneinander auszuspielen verstand, mal brutal ohne Rücksicht auf Legitimität und öffentliche Meinung, mal in klug berechnender Voraussicht nachgiebig oder beschwichtigend, lernbereit und alle Gefahren und Alternativen abwägend, gelegentlich nach Bedarf die Emotionen der öffentlichen Meinung für seine Ziele ausnutzend (Schieder 1992, 140 ff.; Mann 1992, 317ff.; vgl. 6.31). J. Die Bismarcksche Gründung des Deutschen Reiches mit ihren Stationen — preußisch-österreichischer Sieg über Dänemark wegen Schleswig-Holstein (1864), preußischer Sieg über Österreich bei Königgrätz (1866), Norddeutscher Bund (1866), deutsch-französischer Krieg (1870/ 71), Kaiserproklamation in Versailles (1871) (Nipperdey 1993, 2, 75 ff.) — war in dieser Weise nicht vorgeplant, sondern von Bismarck durch diplomatisches und publizistisches Geschick nach und nach zustandegebracht. Die darauf hindrängenden politischen Tendenzen waren zwar längst vorhanden (Nationalbewegung, preußisches Expansionsstreben, wirtschaftsliberale Wünsche und Erfordernisse); aber Bismarck hat sie in sehr persönlicher, bonapartistischer Art des Eingreifens in die Geschichte in eine feste Form gebracht. Widerstände — von süddeutschen Fürsten wie von Konservativen oder Altliberalen — hat er nach der Methode ,mit Zuckerbrot und Peitsche' zu brechen verstanden. So wurde das politisch wirksame Bewußtsein geschaffen, nicht das deutsche ,Volk' habe sich seinen Nationalstaat geschaffen, sondern es habe ihn von den Fürsten ,zum Geschenk' erhalten, denen es darum Dankbarkeit und Gehorsam schulde (Craig 1993, 50). Die Titelei mit Kaiser und Reich hatte den Sinn, zu verschleiern, wie weit weg vom völkerübergreifenden, christlichen und föderativen Alten Reich das Bismarckreich entfernt war: Bismarcks tollkühne Kombination von Kabinettspolitik und Kabinettskriegen mit nationalistischen Emotionen in der Publizistik sollte die Hegemonie Preußens ebenso verdecken wie die formal unangetasteten Rechte der Landesfürsten. Die Reichsgründung war eine „politische Revolution ,νοη oben'" (Wehler 1995, 4). In der Bismarckzeit blieb die Unfertigkeit des Nationalstaates und das Unbehagen über ungelöste Probleme noch lange bewußt: Etwa 24 Millionen Deutschsprachige blieben ausgeschlossen, Bevölkerungsteile mit nichtdeutscher Sprache oder anderem Nationalbewußtsein (vgl. 6.4.1) wurden ungefragt einverleibt,
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mehrere deutsche Territorialdynastien kurzerhand abgeschafft, französisches Territorium annektiert. Die Reichsverfassung (ζ. T. nach der des Norddeutschen Bundes) war vorwiegend preußisch und monarchisch dominiert, nur in weniger bedeutenden Einzelheiten föderativ. Außen- und Militärpolitik unterstanden außschließlich dem Kaiser und seinem von ihm ernannten, dem Parlament faktisch nicht verantwortlichen Kanzler. Die aktuellen militärischen Entscheidungen hatte der Monarch allein mit seinen Generälen zu treffen. Der Reichstag handelte mehr reagierend als initiativ. Sein Wahlrecht begünstigte ländliche Gebiete und die besitzenden Schichten. Preußen hatte im Bundesrat eine Sperrminorität für Verfassungsänderungen. Die nicht zum Norddeutschen Bund gehörigen süddeutschen Staaten erhielten als Trostpflaster ζ. T. eigene Post, Eisenbahn und Telegraphiedienste, Befreiung von der Bier- und Spirituosensteuer, Bayern auch gewisse Rechte in außenpolitischer Repräsentation (Craig 1993, 47ff.). Der Widerstand gegen die Art der Reichsgründung, vor allem aus Süddeutschland, von Klerikalen, Großdeutschen, Demokraten, Sozialisten, Landespatrioten, Altkonservativen ging unter im publizistisch entfachten Siegesjubel der mit Bismarck versöhnten Nationalliberalen und im bald einsetzenden Persönlichkeits- und Denkmalskult um Wilhelm I. und Bismarck.
K. Die noch von B i s m a r c k beherrschten ersten zwei Jahrzehnte des neuen deutschen Nationalstaats werden im Vergleich mit der eigentlichen ,Kaiserzeit' unter Wilhelm II. politisch etwas positiver beurteilt: Bismarck konnte in der Außenpolitik mit den traditionellen Mitteln der Geheimdiplomatie einiges zum europäischen ,Gleichgewicht' beitragen, besonders nach Österreich, dem Balkan und Rußland hin; und innenpolitisch erreichte er mit Hilfe der nun mit ihm versöhnten Nationalliberalen wichtige institutionelle Fortschritte zur Konsolidierung der jungen deutschen Industrienation (K. E. Born 1994, 17, 74 ff., 145 ff.; Mann 1992, 439): Vereinheitlichung des Rechts, der Währung, der Maße und Gewichte, Einführung der Goldwährung, staatlicher Zwang zu Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung für die Arbeiterschaft. Auch die starke Hegemonie Preußens im Bund der Länder des Reiches, durch die Verfassung und die Personalunion wichtiger Ämter im Reich und in Preußen, hat nicht nur eine ,Verpreußung' Deutschlands bewirkt, sondern — im Sinne positiver nationaler Modernisierung — zu einem „allmählichen Aufgehen Preußens in Deutschland" (K. E. Born 1994, 17) geführt, da vor allem Preußen an der Reichspolitik gegen den Länderpartikularismus interessiert und an sie gebunden war. Hierhin gehören die bis zur Jahrhundertwende erreichten sprachnormerischen Vereinheitlichungen in Orthographie (s. 6.6D —F) und Hochlautung (6.6X —Z). Großenteils aber hatte Bismarck innenpolitisch als „Diktator oder Halbdiktator" (Mann 1992, 433) keine glückliche Hand, sondern kehrte immer mehr zur erzkonservativen, parlamentsfeindlichen Politik seiner Frühzeit zurück und hinterließ auf die Dauer verhängnisvolle ungelöste
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Probleme (Κ. E. Born 1994, 17): im Verhältnis zwischen politischer und militärischer Führung, in der Machtverteilung zwischen Monarchie und Volksvertretung, in der Arbeiterfrage, in der Frage nationaler/sprachlicher Minderheiten (vgl. 6.4.1). Z w a r konnten sich in der Bismarckzeit politische P a r t e i e n bilden und teilweise (Sozialdemokraten, Zentrum) den Übergang vom Honoratiorenverein zur fest organisierten parlamentarischen Kraft mit Massenbasis vollziehen. Aber der Staat war für sie noch zu stark. Parteien hielt Bismarck im Grunde für illegitim, außer wenn er sie für seine Ziele mit wechselnden Mehrheiten benutzen oder sie gegeneinander ausspielen konnte. Oppositionsparteien wie das als ultramontan (,papsthörig') bekämpfte katholische Zentrum und die ideologisch international orientierten Sozialdemokraten diskriminierte er ebenso wie Polen und Elsaß-Lothringer als Reichsfeinde und bekämpfte sie mit Einschüchterungen, Verleumdungen, anonymen Presseartikeln und Verboten (Nipperdey 1993, 2, 314ff.): Die liberalen Parteien verloren immer mehr die Beziehung zum demokratischen Geist von 1848/49. Die N a t i o n a l l i b e r a l e n akzeptierten in den 7 0 e r Jahren im Zweckbündnis mit Bismarck den obrigkeitlichen Nationalstaat, gerieten aber durch seine protektionistisch-interventionistische Wirtschaftspolitik der 80 er Jahre in Opposition zum Kanzler, der mit rückschrittlichen Gesetzen einer linksliberalen Wende beim zu erwartenden Thron-und Kanzlerwechsel vorbeugen wollte. Schärfster Gegner war für Bismarck die A r b e i t e r b e w e g u n g , die durch die Industrialisierung groß und eigenständig geworden war (Κ. E. Born 1994, 21 ff., 35 ff., 126; Mann 1992, 176 ff., 282 ff., 445): Nach Anfängen in kleinen Gesellen- und Arbeitervereinen seit 1848 wurde 1863 nach Ferdinand Lassalles reformsozialistischem Programm der Allgemeine deutsche Arbeiterverein gegründet, der mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 gegründeten marxistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zunächst rivalisierte, bis zum Zusammenschluß zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (1875), die ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands hieß. Gewerkschaften verschiedener politischer Richtungen gab es ab 1860. Die Sozialdemokraten hatten stetig steigende Erfolge bei den Reichstagswahlen: von 124 Tausend (1871) über fast 500 (1878) bis zu 1,4 Millionen Stimmen (1890) als stärkste Partei. Bismarcks Sozialistengesetz (1878), mit dem er durch harte Verbote ihre Organisationsmöglichkeiten und ihre Attraktivität zerschlagen wollte, hatte auf die Dauer keinen Erfolg. Aus Furcht vor revolutionärem Umsturz kam es auf beiden Seiten zu Kompromissen: Bismarck setzte im Reichstag die Sozialversicherungen durch (1883 — 89), und die Sozialdemokraten schlugen einen pragmatischen reformsozialistischen Kurs ein (Craig 1993, 239 ff.; K. E. Born 1994, 36 f.). - Zur Arbeiterbildung s. 6.2J; zum politischen Sprachgebrauch 6.161.
L. Die politischen Schwierigkeiten und Widersprüche beim Übergang von der Bismarckzeit zur wilhelminischen Zeit hängen mit der sehr dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte zusammen, auf die Bismarck, die Konservativen und Liberalen nur defensiv oder konservativ zu reagieren verstanden. Die erste Welle der H o c h i n d u s t r i a l i s i e r u n g begann um 1845 (Wehler 1987, 2,
6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
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6 1 4 ) ; bereits 1 8 4 5 s p r a c h F r i e d r i c h E n g e l s v o n Industrieller
Revolution.
Sie h a t t e ein b e s c h l e u n i g t e s W a c h s t u m d e r S t ä d t e , u m f a n g r e i c h e B i n n e n wanderungen und grundlegende industriegesellschaftliche
Veränderun-
gen der Sozialstruktur und der öffentlichen M o r a l zur Folge (Treue 1 9 8 9 , Kap. 6 - 1 6 ,
23):
In der Gründerzeit (1873 — 79) kommt es wegen zu vieler unsolider Firmenneugründungen und durch waghalsige Spekulationen mit den 1871 von Frankreich geforderten Kriegsentschädigungsgeldern zum ersten großen Börsenkrach und einer anhaltenden Wirtschaftskrise mit Firmenpleiten, Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Trunkenheit, Prostitution (Craig 1993, 8 ff.). In den 80 er und vor allem 90 er Jahren geht die Industrialisierung Deutschlands erfolgreich weiter, bis sie um die Jahrhundertwende die englische Produktion erreicht, die französische überflügelt, von 1871 bis 1914 wird die deutsche Ausfuhr vervierfacht, die Industrieproduktion versechsfacht. Das Industrialisierungstempo ist an der B e v ö l k e r u n g s - und S t ä d t e e n t w i c k l u n g abzulesen (Reulecke 1989; Glaser 1994, 80 ff.; K. E. Born 1994, 40 ff; Mann 1992, 399ff.): Deutschland hatte um 1800 nicht wesentlich mehr Einwohner als vor dem 30 jährigen Krieg, um 1900 gut dreimal so viel. Von 1871 bis 1914 wuchs die Bevölkerung im Deutschen Reich von 41 auf 65 Millionen. Das Verhältnis der Stadt- zur Landbevölkerung kehrte sich um: etwa ein Viertel um 1800, ein Drittel um 1871, zwei Drittel um 1914, am stärksten in Nord-, Mittel und Westdeutschland. Um 1830 gab es nur 4 Großstädte (über 100 000 Ew.), 1871: 8, 1910: 48. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nahm von 4 , 9 % (1871) auf 2 1 , 3 % (1910) zu. Berlin verzehnfachte zwischen 1848 und 1914 seine Einwohnerzahl auf 3,7 Millionen. Die Bevölkerung des Ruhrgebiets wuchs von 360 000 (1850) auf 3,5 Millionen (1914). Der Anteil der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung stieg von etwa ein Fünftel (1871) auf ein Drittel (1907). Seit der Jahrhundertmitte gab es weiträumige B i n n e n w a n d e r u n g , vorwiegend in Ost-West-Richtung, aus den preußischen Ostprovinzen (z. T. polnischsprachig) nach dem Ruhrgebiet, Berlin und Mitteldeutschland; allein in Rheinland und Westfalen etwa 1,5 Millionen von 1880 bis 1907. Seit 1905 lebten ständig über 1 Million Ausländer im Reich, dazu fast 1 Million Saisonarbeiter jährlich. Die Auswanderung nach Amerika ging in den 1890 er Jahren stark zurück. Verstädterung
und
Binnenwanderung
sozialkommunikativen
waren
neuartige
Faktoren
des
W a n d e l s in d e r z w e i t e n H ä l f t e d e s 1 9 . J h .
( R e u l e c k e 1 9 8 9 ) : E s h a n d e l t e sich n i c h t u m U r b a n i s i e r u n g im Sinne allgem e i n e r , fester , u r b a n e r ' L e b e n s f o r m e n (wie im S p ä t m i t t e l a l t e r u n d in d e r f r ü h e n N e u z e i t in O b e r i t a l i e n u n d d e n s ü d l i c h e n N i e d e r l a n d e n ) , s o n d e r n u m „ D e k o r p o r i e r u n g " , d. h. „ A u f l ö s u n g d e r t r a d i t i o n e l l e n Bindungen", und „Disproportionierung",
ständischen
d. h. u n g e b r e m s t e s
Wuchern
d e r U n t e r s c h i c h t e n " , u n d „ E n t s i t t l i c h u n g " , d. h. „Verlust a n sinn- u n d h a k g e b e n d e n Sitten u n d N o r m e n " . Was Wilhelm Heinrich Riehl seit den 1850 er Jahren in zahlreichen Vorträgen und Schriften über das Erschrecken und die Verunsicherung traditioneller bürgerlicher Schichten angesichts des sozialen und moralischen Wandels der neuen Großstadtbevölkerung verbreitete, mündete in den 80 er und 90 er Jahren in die bildungsbürgerliche und intellektuelle Literatur der pessimistischen Z i v i l i s a t i o n s k r i t i k . Während in der ersten Jahrhunderthälfte bei der Öffnung des Stadtrechts für die stadtrechts-
I—M: Reaktionszeit, Bismarckzeit
25
losen Vorstädte mit ihrem planlos zugewanderten Pauperismus-Proletariat eine soziale Integration schwer möglich war, wurde Desintegration und Heterogenität zum unlösbaren Normalproblem in den durch wild wachsende Industrie expandierenden Großstädten, die seit Ende der 1880 er Jahre auch durch rein administrative Eingemeindungen wuchsen. Die aus entfernten Gegenden kommenden Zuwanderer, mit ζ. T. anderer Sprache, Konfession und ethnisch/nationaler Einstellung (ζ. B. die Polen im Ruhrgebiet, s. 6.4.IT) mußten meist noch längere Zeit in besonderen Arbeitervierteln gettohaft leben, ebenso die jüngeren unqualifizierten Zuwanderer, die oft als ,moderne Nomaden' oder ,Flugsand' weiterwandern mußten, so daß oft erst deren Kinder oder Enkel seßhaft werden und eine neue soziale Identität finden konnten. Die neue, ganz unständische, von bürgerlichen, auch kleinbürgerlichen Gewohnheiten oft weit entfernte Mentalität der industriegesellschaftlichen Großstadtbevölkerung erforderte ein hohes Maß an E m p a t h i e (Reulecke 1989, 48): Mobilität, Lernfähigkeit, raschen Wechsel von Identitäten, Rollen, Wertmaßstäben, Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz und damit Gefährdung oder Auflösung der alten Familienstrukturen. So bildeten sich ab Ende des 19. Jh. neuartige Mentalitäten und Stadt/ Stadtviertel-Subkulturen, die mit den altheimischen städtischen oder ländlichen Traditionen oft nur noch wenig zu tun hatten. Der Weg „von der ständisch gegliederten Bürgerstadt" über die „flächig gewordene Regionalstadt" bis zur „demokratisch regierten Bürgerstadt" hat viele Jahrzehnte gedauert (Glaser 1994, 85).
Die bürgerliche und obrigkeitliche Furcht vor sozialrevolutionärem Umsturz durch die A r b e i t e r k l a s s e wurde ebenso gegenstandslos wie M a r x ' Theorie von deren ,Verelendung', da der enorme industrielle Aufschwung, mit einer um 1900 erreichten Vollbeschäftigung, eine neue Differenzierung und einen Mentalitätswandel des vierten Standes zur Folge hatte (Reulecke 1989; M a n n 1992, 409; Glaser 1994, 9, 59). Die Industrielöhne stiegen weit über die landwirtschaftlichen. Ende des 19. Jh. war der Pauperismus überwunden. Allerdings war auch eine neuartige Integration des Individuums ins Kollektiv weit vorangeschritten, mit allgemeinem Verlust direkter Erfahrung für den einzelnen infolge streng rationeller betrieblicher Organisationssysteme mit hochdifferenzierter Arbeitsteilung und dem Z w a n g zu einem Minimum an Lesen, Schreiben und Rechnen. Dies förderte einerseits die Möglichkeiten der Arbeiterbildung und Arbeiterkultur (vgl. 6.2IJ), andererseits eine Aufstiegsmentalität von Teilen der Arbeiterschaft (Facharbeiter, Vorarbeiter, Aufseher usw.). So entstand eine Bereitschaft zur Anpassung an zumindest kleinbürgerliche Lebens- und Denkweisen, was wiederum die Sozialdemokratie zum Revisionismus zwang. So entstand eine neue Art von unterer Mittelschicht, die durch sozialkommunikative Chancen die Klassenkampf-Situation (im marxistischen Sinne) aufweichte: die A n g e s t e l l t e n . Die Zahl der Angestellten (in Industrie und Verwaltung) hat sich verfünffacht in der gleichen Zeit, in der sich die Arbeiterschaft verdreifacht hat. 1870 kam ein Angestellter auf 30 Arbeiter, 1914 auf nur 9 (Κ. E. Born 1994, 46). Angestellte bildeten eine „osmotische" Schicht (Glaser 1994, 105): Sie mußten gleichermaßen mit Aufstieg ins Bürgertum und Abstieg ins Proletariat rechnen. Bei dieser schlechter bezahlten Schicht von Unselbständigen zwischen ,Mitte' und ,unten' konnte die Erzie-
26
6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
hung zu einem festen, engagierten Klassenbewußtsein durch die Arbeiterbewegung nicht fruchten. Dies gilt ähnlich für die durch die Feudalisierung des Großbürgertums stark gewachsene Schicht der Dienstboten (überwiegend unverheiratete Frauen vom Kindesalter an): Sie hatten Anteil an bürgerlichen Lebensformen, einschließlich Wohnungsgemeinschaft, Umgangsformen, Lektüre, wurden aber in noch patriarchalischer Weise diskriminiert durch geringe Bezahlung, fristlose Kündigung, unzumutbare Arbeitszeiten, räumliche Trennung von der Herrschaft bei den Mahlzeiten, separate Hauseingänge, Sprachbarriere durch Französischsprechen der Herrschaft unter sich usw. 1907 waren 2% der Gesamtbevölkerung Dienstboten (Glaser 1994, 135). — Zur Frauenbildung s. 6.2L! M . All d i e s e g e s e l l s c h a f t l i c h e n U m s c h i c h t u n g e n f ö r d e r t e n d i e v o n d e n Sozialreformen u m 1800 eingeleitete F e u d a l i s i e r u n g des G r o ß b ü r g e r t u m s , die ü b e r sozialen P r e s t i g e g e w i n n h i n a u s ein w i r k s a m e s M i t t e l zur G e w i n n u n g von Staatsnähe u n d indirektem Anteil an der M a c h t darstellte (Wehler 1995, 7 1 8 ff., 1269). Je m e h r Adel u n d O b r i g k e i t e n w i r t s c h a f t s l i b e r a l e F r e i h e i t e n g e w ä h r t e n u n d je m e h r R e i c h t u m s i c h in industriell u n d k o m m e r z i e l l profitierenden Bürgerfamilien a n h ä u f t e , desto m e h r w u r d e der Lebensstil des Adels n a c h g e a h m t , mit Titeln, O r d e n und Nobilitierungen, mit prunkvollem Theaterbesuch, Reserveoffiziersu n i f o r m e n u n d s c h l o ß a r t i g e n Villen mit D i e n e r s c h a f t , mit V e r s c h w e n d u n g , L i b e r t i n a g e u n d S t a n d e s d ü n k e l g e g e n d i e kleinen/einfachen Leute ( G l a s e r 1 9 9 4 , 1 0 2 ff; C r a i g 1 9 9 3 , 9 8 f.). D u r c h d i e s e n e u e Vornehmheit u n d d u r c h unsolides G e s c h ä f t s g e b a r e n w a r die ,Krise des B ü r g e r t u m s ' a m E n d e d e s 19. J h . a u c h e i n e „ E n t b ü r g e r l i c h u n g " ( H a l t e r n 1 9 8 5 , 2). Adel und Großbürgertum verschmolzen zu einer neuen politischen Führungsschicht (K. E. Born 1994, 43 ff.): Im letzten Drittel des 19. Jh. war in Preußen und Mecklenburg fast die Hälfte der Rittergüter in bürgerlichem Besitz. Adelige engagierten sich erfolgreich in der Industrie (Schlotbarone). In höchsten Staatsämtern hatten Adelige noch ein starkes Privileg, in höheren Beamtenstellen Besitzende wegen der teuren akademischen Ausbildung, in der Justiz dagegen überwiegend Bürgerliche. Das Offizierskorps war 1871 bereits zu zwei Dritteln bürgerlich, 1913 zu vier Fünfteln. Im preußischen Landtag und in Kommunalwahlen hatten Besitzende weitaus höhere Chancen wegen des Klassenwahlrechts nach Steuerleistung. — Der Feudalisierung entsprach ein streng konservatives, klassische Stilmuster pflegendes öffentliches Sprachnormenbewußtsein und ein stark konventionalisiertes bildungsbürgerliches Deutsch als Sozialsymbol (s. 6.2M, 6.12B), dem sich um die Jahrhundertwende viele Schriftsteller und Publizisten durch Sprachskepsis, Sprachkritik und Sprachverfremdung entzogen (s. 6.8G —H). — Zu Korporationssprache und preußischem Leutnantston s. 6.12FG! In d e r Gründerzeit-Krise (ab 1973), s c h o n sehr bald n a c h der p r o b l e m trächtigen R e i c h s g r ü n d u n g , w u r d e v o n Berlin aus — aber s c h o n weit weg v o m alten, aufgeklärten P r e u ß e n t u m — der Weg eingeschlagen, der in d i e d e u t s c h e n u n d e u r o p ä i s c h e n K a t a s t r o p h e n d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s f ü h r t e : N a c h H a n s - U l r i c h W e h l e r ( 1 9 9 5 , 9 4 3 f f . , 9 9 0 ff.) h a t e i n e „ k o n -
I — M : Reaktionszeit, Bismarckzeit
27
s e r v a t i v e Wende von 1878/79" die Entwicklung bis 1918 und schließlich bis zur Selbstzerstörung des Deutschen Reiches 1945 entscheidend bestimmt: Als Reaktion auf die Industriekrise seit 1873 und Agrarkrise seit 1876 wurden die Widersprüche zwischen forciert modernisierter Wirtschaft und in überlebten Traditionen erstarrter politisch-sozialer Struktur offensichtlich und unerträglich, ebenso die unbewältigte Inkongruenz zwischen traditionellem Landespatriotismus, den intellektuell-romantisierten Begriffen der ,Kulturnation', ,Volksnation', ,Sprachnation' und dem sehr legitimationsbedürftigen, weil kriegerisch-halbdiktatorisch zustandegekommenen Begriff der kleindeutschen , R e i c h s n a t i o n ' . In einer abenteuerlichen ,Flucht nach vorn' ließ sich in dieser ersten Systemkrise des Kaiserreiches Bismarck von den hinter ihm stehenden großindustriell-großagrarisch-militaristischen Interessengruppen zu einem fundamentalen Kurswechsel drängen: Bruch mit den Nationalliberalen, Übergang zum halbdiktatorischen Interventionsstaat, ständig wechselnde Koalitionen mit reichstreuen Elementen des Reichstags (Sammlungspolitik), durch wahltaktisch aufheizende Agitation und Maßnahmen gegen immer neue äußere und -innere, tatsächliche oder eingebildete Reichsfeinde: Franzosen, Dänen, Zarismus, Engländer, Slawen, Polen, Elsässer, Liberale, Katholiken, Sozialdemokraten, Juden (Wehler 1995, 945, 952ff.). Dabei wurde der traditionelle Intellektuellen-Nationalismus zum Massennationalismus radikalisiert, mit einem Funktionsund Inhaltswandel von preußischer ,Mission' für Deutschland zu einer „politischen Religion" (Wehler 1995, 938 ff.) als groß- und weltmachtsüchtiger Ersatzlegitimation von Herrschaft anstelle des obsolet gewordenen Gottesgnadentums der Fürsten und ständisch-spätfeudalen Privilegiensystems, aber auch zur Verhinderung eines neuen Staatsnationsbegriffs aus parlamentarischer Volkssouveränität. Ideologisches Mittel dazu war ein rigider Zwang zur „Homogenisierung des Nationsverbandes [...] notfalls gegen jeden Widerstand", eine immer mehr ethnisch und rassistisch orientierte „Vergemeinschaftung zu einem Solidaritätsverband mit hochgradiger Stabilisierung der ,Ιη-Group' und schroffer Abgrenzung von ,Out-Groups'", analog zum Gegensatz von Christen und Heiden (Wehler 1995, 943 f.; 1067ff.). „Heilsfunktionäre" dieses übersteigerten Reichsnationalismus waren „nationalprotestantische Pfarrer", „nationalistische Oberlehrer", Beamte, Juristen, Professoren, Studenten, Lehrer und andere von „Staatsnähe" beseelte Bildungsbürger und Akademiker, die — neben Großindustriellen — in auffälliger Weise tonangebend waren in den seit den 1880er Jahren agitierenden, den Reichsnationalismus zusammen mit Kolonialismus, Antipolonismus und Antisemitismus „gesellschaftsfähig" machenden r a d i k a l n a t i o n a l i s t i s c h e n Vereinen (Wehler 1995, 925 ff., 1063 ff., 1270; Κ. E. Born 1994, 187 f.; Dann 1984; Glück 1979, 274ff., 326f.; 375 ff.):
28 1878 1882 1885 1886 1891 1893 1894 1898
6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft Christlich-soziale Partei (antisemitisch) Deutscher Kolonialverein Allgemeiner Deutscher Sprachverein (s. 6.7D—I) Deutsche Antisemitische Vereinigung Alldeutscher Verband Bund der Landwirte Deutscher Ostmarkenverein Deutscher Flottenverein
In diesem Zusammenhang standen teilweise auch Kriegervereine und Studentenverbindungen. In den überlieferten schriftlichen und mündlichen Äußerungen aus diesen populistisch-politischen Kreisen finden sich programmatisch schon Arten von Maßnahmen, die man im Allgemeinen erst aus dem Dritten Reich kennt: Umsiedlung, Ausweisung, Enteignung, Massenvertreibung, sowie der größte Teil des Vokabulars der menschenverachtenden nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik (s. 6.16JK). Manches davon wurde seit der gleichen Zeit besonders in den preußischen Ostprovinzen realisiert (s. 6.4.1Q—T). Eine Parallele, ζ. T. vom deutschen Reichsnationalismus angeregt, ist die antislawisch-antisemitische Bewegung der Deutschnationalen in Österreich-Ungarn (s. 6.4.1V).
Auch wenn diese radikalnationalistische Ideologisierungswelle in den Monarchien zunächst noch kaum Einfluß auf die offizielle Regierungspolitik hatte, haben diese den Staat mittragenden Kräfte eine starke propagandistische Breitenwirkung gehabt, haben „jene verhängnisvollen Belastungen geschaffen, welche die Deformation der deutschen Geschichte bis 1945 ermöglicht haben" (Wehler 1995, 1294), über die Kriegszielplanung von 1914, die Dolchstoßlegende von 1918 und den Versailles-Komplex in der Weimarer Zeit bis zur breiten populistischen Akzeptanz der völkischen Gewaltpolitik der Nationalsozialisten. Vom A n t i s e m i t i s m u s ist nur seine Politisierung und Radikalisierung aus der „konservativen Wende" von 1878/79 zu erklären; seine Ursachen und seine Entwicklung in Deutschland reichen weiter zurück (Wehler 1995, 921 ff.; 1063 ff.; Nipperdey 1993, 2, 282 ff.; Craig 1993, 85 ff.; Erb/Bergmann 1989). Der Berliner öffentliche Antisemitismus verschärfte sich 1879 mit aufsehenerregenden Publikationen und Agitationen des Hofpredigers Adolf Stoecker und des Historikers Heinrich v. Treitschke und 1880 mit pogromähnlichen Krawallen. — Z u m Zusammenhang zwischen Rassismus und (indo)germanistischer Sprachwissenschaft seit dem späten 19. Jh. s. Römer 1985; vgl. 6.16LM! N . Der Weg von Bismarcks Sturz (1890) zum Ersten Weltkrieg in der eigentlichen K a i s e r z e i t war zum Teil eine Konsequenz aus den Fehlentwicklungen der späten Bismarckzeit (K. E. Born 1994, Kap. 17—30; Craig 1993, Kap. V I I - I X ; Mann 1992, Kap. 8; Haffner 1989, 8 1 - 1 1 0 ) : Trotz fruchtbarer legislativer Arbeit (z. B. das BGB 1896/1900), lebhafter Debatten und linksliberaler Mehrheiten seit 1890 blieb der Reichstag politisch machtlos, betrieb Opposition ohne Einfluß auf die Regierung,
NO: Wilhelminische Zeit
29
die, unter meist schwachen Kanzlern, dem Parlament nicht verantwortlich war, sondern hintergründig abhängig von dem Throne nahen Reichsämtern, Staatssekretären, Generälen und Admiralen und nicht zuletzt von dem persönlichen Regiment des unerfahrenen, sich mit dilettantisch-theatralischer Publizität einmischenden Kaisers Wilhelm II. Die wirtschaftliche Hochkonjunktur von 1895 bis 1914, mit den Anfängen der Elektrifizierung und Motorisierung, Exportsteigerung und Scheinerfolgen der Kolonialpolitik, zog die emporkommende deutsche Industriemacht in die damals in Europa allgemein zeitgemäßen Verführungen imperialistischer und kolonialistischer Weltmachtpolitik hinein. Die „pessimistische Vorsicht der Bismarckzeit" ging in das „optimistische Kraftgefühl" der wilhelminischen Zeit über (Haffner 1989, 122). Vom Parlament unkontrollierbare militärische Prinzipien gewannen immer mehr die Oberhand über zivile politische. Flottenbau (ab 1897), Kolonialeuphorie und Expansionstendenzen nach dem Südosten (Balkan, Bagdadbahn) waren in der deutschen Öffentlichkeit sehr populär. So wurde das Verhältnis zu England und Rußland zunehmend gestört. Das opportunistisch schwankende, unberechenbar gewordene Deutsche Reich geriet in außenpolitischer Isolierung in gegenseitige Abhängigkeit auf Gedeih und Verderb mit der längst in Agonie befindlichen Habsburgermonarchie, die seit Bismarcks kleindeutscher Reichsgründung der letzte große NichtNationalstaat Mitteleuropas in der Epoche des Nationalismus war, im verzweifelten Ankämpfen gegen seine Auflösung in mehrere Nationalstaaten. O. Der E r s t e W e l t k r i e g (Erdmann 1991; Nipperdey 1993, 2, 621 ff.) war keineswegs nur ein durch den Fürstenmord in Sarajewo ausgelöster Unfall, sondern wurde jahrelang in den europäischen Ländern von Politikern und Journalisten herbeigeredet. Er wurde unausweichlich durch den allgemeinen „Zerfall der Wertbegriffe" und eine „Neigung zur Überbewertung von Reichtum und Macht" (Craig 1993, 297f.), aber auch weil man Krieg noch als legitimes Mittel der Politik ansah und naiv einen herkömmlichen Bewegungskrieg von wenigen Monaten erwartete, noch nicht den jahrelang bis zur Erschöpfung geführten industrialisierten Massenvernichtungskrieg, der ganze Bevölkerungen ins Unglück stürzte (Haffner 1989, 104, 113). So stellte man sich auf beiden Seiten auf den Krieg ein und begrüßte seinen Ausbruch freudig wie eine Erlösung, indem jedes Land sich angegriffen fühlte. Sogar die deutschen Sozialdemokraten schlossen zu Kriegsbeginn den Burgfrieden mit den Konservativen und Liberalen, vergaßen ihren Internationalismus und beteiligten sich kooperativ an der Bewilligung der Kriegskosten (Nipperdey 1993, 778ff.). Ihr Kriegspatriotismus hing mit der Aussicht zusammen, endlich — seit 1912 mit über einem Drittel der Stimmen als stärkste Reichstagspartei — regierungsfähig zu werden, aber auch mit ihrer Verachtung des noch fortschrittsfeindlicheren Zarismus in Ruß-
30
6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
land (Mann 1992, 592). Es half ihnen nichts, daß sie sich während des Krieges beständig für einen Verständigungsfrieden ohne Eroberungen einsetzten. Ihre Antikriegsfraktion spaltete sich als Unabhängige SPD ab und wurde Vorläufer der KPD. Die Kriegführung wurde auf deutscher Seite weder vom Parlament noch von der Regierung noch vom Kaiser wirklich bestimmt, sondern von der politisch autonomen Obersten Heeresleitung, in den letzten Kriegsjahren praktisch ausschließlich von der Militärdiktatur des Generals Ludendorff, der den politisch unbedeutenden verdienten Feldmarschall Hindenburg nur als wirksamen Propagandamythos über sich hatte (Craig 1993, 322 ff.; Erdmann 1991, 180 ff.; Mann 1992, 623 ff.). Diesem politisch abenteuerlichen militaristischen Geist entsprangen auch die beiden tückischen deutschen ,Wunderwaffen' des Ersten Weltkrieges, die ungewollt und ungeahnt viel später zum Ende des Deutschen Reiches beigetragen haben: der unbeschränkte U-BootKrieg, der 1917 die Vereinigten Staaten in den Krieg und damit in die Weltpolitik hineinzog, und die von höchsten deutschen Stellen organisierte und finanzierte geheime Durchreise Lenins aus der Schweiz nach Schweden und St. Petersburg, von wo aus er die für Deutschland und die Welt bedrohliche sowjetische Revolution in Gang setzte (Haffner 1989, 125 ff.). Der Zynismus der politischen Arbeitsteilung' zwischen kaiserlicher Militärdiktatur und Reichstagsparteien zeigte sich in der langfristig irreführenden propagandistischen Art des Kriegsendes (Nipperdey 1993, 858 ff.; Haffner 1989, 152; Mann 1992, 648, 659): Als die militärische Niederlage an der Westfront nicht mehr länger zu verheimlichen oder zu beschönigen war, bot der Kaiser aufgrund einer von der Obersten Heeresleitung und dem Kronrat beschlossenen innenpolitischen ,Wende' der linksliberalen Reichstagsmehrheit nicht nur die Regierungsbildung (unter dem liberalen Prinzen Max v.Baden), sondern auch eine ,Revolution von oben' an, indem er ihr unerwartet die seit Bismarcks Zeiten vergeblich angestrebte Parlamentarisierung der Regierung nahelegte, um bei den Westmächten die Chancen für einen günstigeren Verhandlungsfrieden zu erhöhen. So durften die Sozialdemokraten mit ihren demokratischen Gesinnungsfreunden die Oktoberreformen, als eigentlichen verfassungsrechtlichen Beginn der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, eilig beschließen. Aber sie waren auch dazu verdammt, die bedingungslose Kapitulation mit den Westmächten zu vollziehen und moralisch auf sich zu nehmen, während die hintergründige Militärdiktatur, nach dem relativ unauffälligen Verschwinden des Kaisers und der längst entmachteten Landesfürsten in den Revolutionswochen, ihr Propagandabild der ,unbesiegten' Armee (nur gegenüber dem revolutionär zerrütteten Rußland war sie es) und des ,Verrats' der Heimat am angeblich greifbar nahen Sieg in die Reichswehr-Zeit hinüberretten konnte. So w u r d e d a s politische K l i m a der W e i m a r e r Republik bis hin zu und G o e b b e l s mit der Dolchstoßlegende berverbrecher
und d e m H a ß auf die
Hitler Novem-
vergiftet. D i e r e v o l u t i o n ä r e n Ereignisse seit N o v e m b e r
1 9 1 8 , die mit Arbeiter-
und Soldatenräten,
Freikorps,
Streiks, P u t s c h e n
und politischen M o r d e n die innenpolitischen Verhältnisse in D e u t s c h land und Ö s t e r r e i c h a u f längere Z e i t sehr unübersichtlich und b e d r o h lich w e r d e n ließen, w a r e n — abgesehen v o m Ü b e r g a n g v o n der M o n a r chie zur R e p u b l i k — keine wirkliche R e v o l u t i o n . D e r Militär- u n d Verw a l t u n g s a p p a r a t und die zivilen Besitz- u n d M a c h t v e r h ä l t n i s s e blieben n a h e z u u n a n g e t a s t e t . In der F u r c h t v o r einer R e v o l u t i o n n a c h sowjetischem
Muster
schloß
die d e u t s c h e
SPD-Regierung
unter E b e r t
und
N O : Wilhelminische Zeit
31
Noske ein Bündnis zur Aufrechterhaltung der Ordnung um jeden Preis mit den Rechten, stillschweigend auch mit Reichswehr und Freikorps. Die einst als vaterlandslose Gesellen Verachteten erwiesen sich legalistisch als sozialpatriotische ,Retter des Reiches' oder aber als K o n k u r s verwalter' des in eine schwere Legitimitätskrise geratenen alten Systems (Haffner 1989, 1 6 0 f f . ; Mann 1992, 691). Die deutsche Bevölkerung, die nach dem trügerischen, glänzenden Wohlleben der Kaiserzeit im Krieg durch hohe Menschenverluste, Zwangswirtschaft, Kriegsanleihen, Hunger und andere Entbehrungen ihr Vertrauen in handelnde Obrigkeiten und redende Politiker verloren hatte, geriet in den bürgerkriegsähnlichen Monaten nach dem Kriegsende in noch tieferen politischen Unfrieden, mit Spannungen zwischen Kriegsopfern und Kriegsgewinnlern, Armen und Reichen, Konsumenten und Schleichhändlern oder Spekulanten und vor allem zwischen denen, die aufgrund desillusionierender Kriegserfahrungen vernünftige neue Ordnungen aufbauen wollten, und denen, die sich nur um den Sieg betrogen glaubten und sich darum allem Neuen in den Weg stellten oder die allgemeine Verunsicherung für die Propagierung radikaler, utopischer, totalitärer Ziele nutzten. P. Die Konsolidierung eines neuen, demokratischeren Staates in Deutschland und Österreich und die staatliche Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg wurden schwer belastet durch die unheilvolle Art der F r i e d e n s d i k t a t e von Versailles und St. Germain im Jahre 1919 (Erdmann 1993, 98 ff., Mann 1992, 6 7 1 ff.): Nachdem sich die USA aus der Mitwirkung an einem echten Friedensvertrag (Versöhnungsfriede nach Wilsons 14 Punkten) zurückgezogen hatten, bestimmten faktisch allein die europäischen Siegermächte Frankreich, England und Italien mit einer inkonsequenten, kurzsichtigen Prinzipienmischung, die einer Rückkehr zum traditionellen Territorial- und Revancheprinzip nahekam. Hauptsächliche Ziele waren: für Frankreich nationale Genugtuung und künftige Sicherheit und in Osteuropa einen cordon sanitaire kleiner Nationalstaaten zugleich gegen Deutschland und die Sowjetunion mit enger Bindung an Frankreich zu schaffen. Das nationale Selbstbestimmungsrecht wurde mehr gegen als für deutschsprachige Bevölkerungsteile angewandt, meist zugunsten der Befreiung fremdsprachiger Minderheiten und Völker von deutscher und österreichischer Herrschaft. So entstanden in Deutschland, quer durch alle politischen Gruppierungen, langfristig revisionistische außenpolitische Haltungen des Ethnonationalismus und im Inneren unversöhnliche Gegensätze zwischen fatalistischen (.Erfüllungspolitik) und revanchistischen Einstellungen zum ,Versailler' System, das viele Gegner mit der Weimarer Republik überhaupt identifizierten. — Zu den neuen Grenzziehungen und sprachenrechtlichen Veränderungen s. 6.4.2AB!
32
6.1. S t a a t , W i r t s c h a f t , G e s e l l s c h a f t
Die wirtschaftliche Entwicklung nach der industriellen Katastrophe des Krieges wurde durch den Versailler Vertrag empfindlich gestört (Erdmann 1993, 105 ff.): Die militärische Besetzung der linksrheinischen Gebiete diente nicht nur der militärischen Unschädlichmachung des militaristischen Reiches. Durch in der Höhe immer wieder neu festzulegende Reparationszahlungen und -lieferungen und die Beschlagnahme von Kohle- und Erzbergwerken und Industriebetrieben sollte — über die angemessene Kriegsentschädigung hinaus — die in der Vorkriegszeit für die Westmächte bedrohlich gewordene deutsche Wirtschaftskonkurrenz auf lange Zeit beseitigt werden. All dies hat die deutsche Innen- wie Außenpolitik der Weimarer Zeit konfliktreich und brisant werden lassen. Auch die bürgerliche Unantastbarkeit des Privateigentums erlitt durch Beschlagnahmungen, Enteignungen und andere Zwangsmaßnahmen erstmalig eine ideologische und rechtliche Schwächung, die sich — verstärkt durch die Inflation — als Vorbereitung für noch brutalere Verfahrensweisen in der Zeit nach 1933 und ab 1945 erwies. Diese Anstöße zu sozialgeschichtlichen Strukturveränderungen leiteten das Ende des bürgerlichen' Zeitalters in Deutschland früher ein als etwa in der Schweiz oder in den Niederlanden. Q . Auf der anderen Seite waren die Pariser Friedensordnungen innenpolitisch „zu milde, denn der Eingriff in die deutsche Substanz war nicht tief genug, um Deutschland die Hoffnung und die Möglichkeiten zu nehmen, den Vertrag revidieren zu können — sich ihm zu entwinden oder ihn zu zerreißen" (Erdmann 1993, 108). So waren die Ansätze zu einer demokratischen Modernisierung Deutschlands durch restaurative (jetzt reaktionär genannte) Tendenzen gestört: Politisch und wirtschaftlich sehr einflußreich blieben „jene, die ohne Kaiser doch das Wesen des Kaiserreiches weiter fortführen wollten: Industrielle und Gutsbesitzer, Professoren, Richter und Bürokraten" (Mann 1992, 667), nicht zu vergessen die Reichswehrgeneräle. Der Weg zur Demokratie wurde zwar theoretisch geebnet durch die W e i m a r e r V e r f a s s u n g , die 1919 von der Nationalversammlung nach amerikanischen, französischen und schweizerischen Vorbildern in Anknüpfung an die Tradition des Paulskirchenparlaments ausgearbeitet und beschlossen wurde (Erdmann 1993, 120ff.; Craig 1993, 3 6 2 f f . ; Mann 1992, 678 ff.): Gegenüber dem nur halbdemokratischen Bismarckschen System wurden die Grundrechte, die Rechte des Parlaments und des Wählervolkes als des alleinigen Souveräns und die Reichsgewalt gegenüber den Ländern deutlich gestärkt. Verhängnisvoll wirkte sich jedoch aus, daß der Reichspräsident durch das Recht zur Auflösung des Parlaments mit Neuwahlen und zu Notverordnungen eine zu starke Stellung als ,Ersatz-Kaiser' (Craig) erhielt und daß im Vertrauen auf eine politische Bildung, die es in der
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Bevölkerung überwiegend noch nicht gab, direkte Demokratie so stark gewagt wurde, daß plebiszitäre Wählerrechte durch allzuhäufige Anwendung Parteienzersplitterung, Koalitionswechsel, den Einfluß radikaler Parteien und Demokratiefeindlichkeit förderten. Die Anwendung der Weimarer Verfassung wurde zudem kompliziert durch das Auseinandergehen von juristischen und politisch-gesellschaftlichen Textfunktionen (Haß-Zumkehr 1998). Nach chaotischen Anfangsjahren hatte die Weimarer Republik eine Chance zur Bewährung in der Konsolidierungsphase unter Stresemann (1924—29): Eine gemäßigte Mitte-Rechts-Koalition, friedenswillig nach außen, republikanisch nach innen, erreichte im Locarno-Vertrag (1925) einen Verständigungsfrieden nach Westen hin bis zur Aufnahme in den Völkerbund (1926), Erleichterung der Reparationspflichten, amerikanischen Wirtschaftskrediten, usw. Eine Belebung der deutschen Wirtschaft kam aber weniger den durch die Inflation ,enteigneten' Bevölkerungsmassen zugute, mehr der staatlichen Wirtschaftslenkung, dem Außenhandel, der Wiedererlangung internationalen Prestiges für das besiegte Deutschland. Diese politische Beruhigung war aber durchaus keine politische Wende. Ausgelöst wurde die Verständigungsbereitschaft westlicher Staaten durch die bewußt ungebremste deutsche Inflation, die als Schlüssel zur Befreiung der deutschen Industrie von übermäßigen Reparationsleistungen benutzt wurde (Mann 1992, 697 ff., 705). Das neue Bündnis von Industrie und rechten Parteien mit dem Weimarer Staat war wirtschaftspolitisch motiviert, nicht verfassungspolitisch. Das außenpolitische Druckmittel der galoppierenden Dauerinflation kam aber — als „eine zweite Revolution" (Mann) — einer ,Enteignung' des geldsparenden und geldbesitzenden Mittelstandes und der lohnabhängigen Arbeiter zugunsten der Sachwertbesitzer gleich, was (nach einem Urteil Stefan Zweigs) das deutsche Bürgertum „für Hitler reif gemacht" habe (Haffner 1989, 187), eine sozialzynische Art von Wirtschaftspolitik, die auch die Kommunisten zur Massenpartei werden ließ und die in der großen Wirtschaftskrise 1929—32 wiederholt wurde.
R. Der Weg der N a t i o n a l s o z i a l i s t e n zur Machtübernahme, also zur Zerstörung der Weimarer Republik, begann — nach einer langen Kampfzeit, in der sie noch kaum Einfluß hatten — erst in der großen Weltwirtschaftskrise von 1 9 2 9 , die Massen von Arbeitslosen und anderen wirtschaftlich Geschädigten entweder den Kommunisten oder den Nationalsozialisten als Wähler in die Arme trieb. Auf der Ebene der einflußreichen Schichten und Institutionen wurden die Wahlerfolge der Nationalsozialisten durch verschiedene Haltungen und Verhaltensweisen der politischen Rechten gefördert (Erdmann 1 9 9 3 , Kap. 1 9 — 2 5 ; M o m m s e n 1 9 8 9 ; Mann 1 9 9 2 , 7 3 8 ff.; Craig 1 9 9 3 , Kap. X V ) : — Justiz, Verwaltung und Reichswehr übten ihre im Grunde republikfeindliche parteipolitische Neutralität einseitig aus: scharf gegen linke, schonend gegen rechte Extremisten. — Traditionelle bürgerliche Schichten betrachteten aufgrund anachronistisch gebliebener politischer Bildung die Republik nur als „ein vom
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6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
Feind diktiertes Provisorium, mit dem man eine Zeitlang spielen mußte" (Mann 1992, 687). — Seit der Wahl des schon hochbetagten Feldmarschalls Hindenburg zum Reichspräsidenten (1925), verschärft und offen erst seit dem Auseinanderbrechen der Mitte-Rechts-Koalition (1930), betrieben Industrielle, Großgrundbesitzer, Konservative, Deutschnationale und Reichswehrgeneräle eine staatsstreichhafte reaktionäre Verfassungspolitik, die auf die Entmachtung des Parlaments und eine halbdiktatorische Gewalt von Präsident und Kanzler zielte und mit immer häufigeren Notverordnungen, Auflösungen des Reichstags und Neuwahlen die allgemeine Demokratieverdrossenheit auf die Spitze trieb. — Diese zur Verhinderung linker oder rechter Diktaturen gedachte Präsidialpolitik des Kreises um Hindenburg scheiterte schließlich unter Papen und Schleicher mit dem naiven Versuch, Hitler und seine Leute durch Hineinnahme ins Kabinett für ihre Zwecke zu ,zähmen', ihn zu „engagieren" (Papen). — Durch den Z u s a m m e n b r u c h des Weltwirtschaftssystems und isolationistische Tendenzen des Westens in der Wirtschaftskrise wurde Deutschland zu starker staatlicher Lenkung der Wirtschaft, nationalwirtschaftlichen M a ß n a h m e n , inflationärer staatlicher Arbeitsbeschaffung gezwungen. „Als Hitler die Regierung übernahm, zog der Staat bereits etwa 50 Prozent des Sozialprodukts ein und verteilte es" (Engelsing 1976, 183). Die Verächtlichmachung des Weimarer Systems wurde auch dadurch verstärkt, d a ß die Kommunisten ebenso wie die meisten Linksintellektuellen sich zu ihren unterschiedlichen Zwecken an der propagandistischen Ablehnung der ersten deutschen Republik beteiligten (Mann 1992, 719 ff.), so d a ß schließlich die Sozialdemokraten mit ihrem ordnungsliebenden toleranten Verfassungspatriotismus ziemlich allein dastanden in der von Hitler, Goebbels und ihren Anhängern mit Medienroutine und Massenpsychologie geschickt entfachten Massenbegeisterung des 30. Januar 1933. Neben der politischen Verwilderung der Partei- und Parlamentsarbeit und den Staatsstreichplänen der Extremkonservativen am Ende der Weimarer Republik sind auch verschiedene s o z i a l g e s c h i c h t l i c h e n Ursachen für die Aufnahmebereitschaft großer Teile der Bevölkerung für die rechtsrevolutionären Ideen und Praktiken der Nationalsozialisten zu berücksichtigen: Die von den Nationalsozialisten demagogisch genutzte moralische und politische Instabilität von Mittel- und Unterschichten kann als Folge einer V e r s t ä d t e r u n g s k r i s e erklärt werden (Reulecke 1989, 52 ff. mit weiterer Lit.): Im beginnenden 20. Jahrhundert entstanden Spannungen zwischen sozialer Konzentration und Diffusion, indem durch die Verstärkung der geschäftlichen großkapitalistischen City-Funktion und den Auszug prosperierender Teile des Ober- und Mittelstandes in die idyllischen Vororte
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eine ,Verslumung' der veralteten Wohnviertel in und um die Innenstädte die Folge war. Diese „Entmischung von Stadtvierteln" durch Segregation (Reulecke) geriet in krassen Widerspruch zur Reichtumsdemonstration der City-Boulevards, -plätze und -hochhäuser. Die Folge waren Stadtverdrossenheit und Sozialneid als fruchtbarer Boden für neuromantische Antigroßstadtideologien von der Jugendbewegung bis zur Blut und Boden-Propaganda der Nazis. So konnten sich antikapitalistische, antibürgerliche, zivilisationspessimistische Frustrationen, mit ,Sündenbock'-Vorstellungen als A n t i s e m i t i s m u s kanalisiert, bei Pogromen zu eruptiven Handlungen des durch Hitlers SA organisierten Straßenmobs steigern, von der passiven Straßenöffentlichkeit mit stilschweigender Tolerierung durch ,Wegsehen' gefördert. Radikalisierender gesellschaftlicher Bewußtseinswandel war für die Bevölkerung in allen Schichten auch Folge der W e l t k r i e g s e r l e b n i s s e , die sich auch in einer weitverbreiteten Literatur des völkisch-nationalistischen Kulturpessimismus äußerte (Glaser 1994, 207 ff. m. weiterer Lit.): Man hatte in massenmörderischen Materialschlachten, Hungerjahren und Gefangenschaft die schlimmsten Auswirkungen der Klassengegensätze und soziales Unrecht alltäglich am eigenen Leibe erlebt, und zwar als pervertierenden Verfall der gesamten bürgerlichen Ordnung einschließlich ihrer Moral, aber auch als hoffnungsloses Scheitern des von Intellektuellen und Bildungsbürgern gelehrten rationalen Denkens. So konnten in dieser zweiten großen Krise der Industriegesellschaft in Deutschland — wenn man die Gründerkrise (6.IM) als erste rechnet — die antidemokratischen, mythisierenden Rettungsverheißungen der Völkischen verstärkt in einer neuen Welle des Radikalnationalismus und Antisemitismus rasch große Breitenwirkung gewinnen. Die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs im Überblick zu beschreiben, ist hier nicht der Ort. Anders als die in 6.1A —R angedeutete Vorgeschichte, kann die Kenntnis dieser zweiten deutschen und europäischen Katastrophe, ebenso wie die der Nachkriegsgeschichte Mitteleuropas bis heute, als zeitgeschichtliche Allgemeinbildung hier vorausgesetzt werden. In den sprachgeschichtlichen Ausführungen zu diesem Zeitraum (auf die in 6.0 Β chronologisch verwiesen wird) wird der politisch-soziale Hintergrund hinreichend berücksichtigt. Im übrigen ist auf die Darstellungen von Historikern hinzuweisen: Conze/Hentschel 1996, 2 4 9 - 2 7 5 ; Craig 1993, Kap. X V I - X X ; Erdmann 1992, 1993 bc; Eschenburg 1989; Mann 1992, Kap. 11, 12. — Die Geschichte Österreichs, der Schweiz und Luxemburgs wird hauptsächlich in 6.4 bzw. 6.11 berücksichtigt.
Literatur Κ. E. Born 1994. Conze/Hentschel 1996. Craig 1993. Greiffenhagen 1986. Haffner 1989. Mann 1992. Nipperdey 1993. Treue 1978. Wehler 1973; 1987/95. - 19. Jahrhundert: Braubach 1992. Koselleck 1981. W. Mommsen 1993. Nipperdey 1983. Th. Schieder 1992. - 20. Jahrhundert: Erdmann 1991; 1992; 1993 abc. Eschenburg 1989. Kaelble/Kocka 1994. H. Mommsen 1989. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Bruckmüller 1985. Conze 1970. Conze/Engelhardt 1979. Elias 1976. Engelsing 1976. Erb/Bergmann 1989. Glaser 1994. Greive 1983. Henning 1988; 1989. Kaelble/Kocka 1994. Kocka 1987; 1989. Kuczynski 1960 ff.; 1981 ff. Langewiesche 1981. Lütge 1966. Reulecke 1989. Ritter/Kocka 1982. W. Schie-
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6.1. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft
der/Sellin 1986/87. Tennstedt 1983. Treue 1989. Weber-Kellermann 1974. Wehler 1981; 1987/95. Wiegelmann 1973. Zwahr 1981. Nationalismus, Nationalstaat: Alter 1985. Barbour 1992; 1993; 1998. Bruckmüller 1994. Buse 1985. Craig 1982. Dann 1986; 1993. Eley 1991. Glotz 1990. Haider 1998. Hobsbawn 1991. Koppelmann 1956. Meinecke 1969. Möhler 1989. v. Polenz 1998 b. Schulze 1985. v.See 1975. Wehler 1987, 1, 506 ff.; 1995, 938 ff. Weidenfeld 1991. Vgl. auch Lit. zu 6.4: Sprachnationalismus, zu 5.5: Kulturpatriotismus ...! Bürgertum, bürgerliche Gesellschaft: Brunner/Conze/Koselleck I 1972 (Riedel 672ff.). Gall 1989. Haltern 1985. Kocka 1987; 1988. Koselleck 1973. Koselleck/ Spree/Steinmetz 1991. Panzer 1989. Steinmetz 1991. Wehler 1987, 1, 174 ff.; 1995, 111 ff., 712 ff. Weis 1981. - Zum Bildungsbürgertum s. Lit. zu 6.2!
6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildungsgeschichte, individuelle Kommunikationsformen A. Im 19. und 20. Jahrhundert erreichte — dank langfristiger Wirkung der Aufklärung — die Entwicklung des Schreibens, Schreibenkönnens und davon abhängiger Arten von Bildung ihren Höhepunkt, aber auch — dank verzögerten Nachwirkens der Französischen Revolution — die der mündlichen Kommunikationsformen im privaten und öffentlichen Verkehr. So sollen, vor der Darstellung der industriegesellschaftlichen Forcierung der Massenmedienentwicklung (s. 6.3), hier zunächst deren individuelle/interindividuelle Voraussetzungen in den Bereichen des Schreibens, Lesens, Lernens und Miteinander-Redens behandelt werden. Mediengeschichte beginnt nicht erst bei den Massenmedien (auf die man heute das Wort Medien gern einschränkt). Zu den Medien als Einrichtungen für die Vermittlung von Informationen, Meinungen, Appellen usw. gehört — neben der Sprache selbst — zunächst die mögliche Schriftlichkeit von Sprache. Das Verhältnis zwischen M ü n d l i c h k e i t (Oralität, Oratheit) und S c h r i f t l i c h k e i t (Literalität, Literatheit) hat sich um 1800, mit Anfängen im späten 18. Jahrhundert seit der ,Leserevolution' (s. Bd. II: 5.2L), grundlegend verändert (Knoop 1993; Schön 1987): Vorher hatte Schreiben eine nur sekundäre Funktion zur Bewahrung und zum Wiedervortrag situationsabhängiger, körperlich-sinnlich und gesellig vollzogener Sprechsprachhandlungen. Die neue Schriftlichkeit war autonom, lautlos, entkörperlicht und entsinnlicht und wurde von sozial isolierten Individuen produziert und rezipiert. Mit ihr wurde das alte Recht auf soziale Gültigkeit der gesprochenen Sprache mehr und mehr entzogen. Konnte schon das 18. Jahrhundert in Deutschland sprachkritisch als papierenes Zeitalter kritisiert werden (s. Bd. II: 5.12Z) — wegen des Fehlens einer gemeindeutschen höfischen und öffentlichen Sprechsprache (s. Bd. II: 5.6DEJ) und wegen gewachsener Bedeutung von Bürokratie, Wissenschaft und Zeitung —, so erscheint das 19. Jahrhundert, mit starker Nachwirkung bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts, geradezu als der Höhepunkt der Priorität und Allmacht von geschriebener/ gedruckter Sprache in Öffentlichkeit, Verwaltung, Erziehung, Sprachnormung, als eine Epoche beispiellos starker Schriftlichkeit: — Diktieren, Lautlesen und Vorlesen traten im Laufe des 19. Jh. immer mehr hinter dem Selbstschreiben und stillen Lesen zurück. Schreiben war nicht mehr eine ,niedere' handwerkliche Tätigkeit, mit der vor-
6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, K o m m u n i k a t i o n
nehme und begüterte Leute spezielle Bedienstete beschäftigten. Die nicht mehr primär situativ-soziale Art des Produzierens und Rezipierens von Texten machte Autor wie Leser zum „Herrn des Textes" im Sinne der Kantschen „aufklärerischen Befreiung des Subjekts, jederzeit selbst denken zu können" (Knoop 1993, 220). Der allergrößte Teil der Bevölkerung, bis in die Arbeiterschaft hinein, wurde bis um 1900 an ein berufsspezifisches und staatsbürgerliches Minimum an Lesen und Schreiben gewöhnt; Selbstlesen und Selbstschreiben wurden in allen Schichten unumgänglich („soziale Literalität" Grimberg 1988); s. 6.2GH. Die bildungsbürgerlichen Anforderungen und Maßnahmen der Sprachnormung und Spracherziehung, vor allem Orthographie, Hochlautung und Textsortenstile (s. 6.6) waren vornehmlich an typisch schriftsprachlichen Varianten orientiert. Diese „verbürgerlichte Beziehung zwischen Schrift und Macht" (Grimberg 1988, 75 ff.) hatte zur Folge, daß viele aus der Unterschichtbevölkerung in ihren sozialen Aufstiegschancen gehemmt waren durch den oft extremen Abstand zwischen privater alltäglicher Sprechsprache und offizieller Schreib-/ Sprechsprache, was Schreibangst, Sprechscham, Sprachbarrieren zur Folge hatte; s. 6 . 2 G - J , 6.12H. Bei der Erziehung zur Schriftsprache in der traditionellen höheren Schule übte man bis um 1970 im Aufsatzunterricht abstrakte Schultextsorten, die rhetorikfern fast nur um ihrer selbst willen existierten, also primär der schulischen Bildungsrepräsentation dienten, kaum praktischen Erfordernissen des Berufslebens oder öffentlichen Lebens (Grimberg 1988). Durch zunehmende Verwissenschaftlichung/Akademisierung der Sprache des öffentlichen Lebens und der Verwaltung wurde Schreib-/ Drucksprache tendenziell auf Informationsvermittlung, also auf Karl Bühlers ,Darstellungs'-Funktion reduziert und von Komponenten und Stilmitteln des ,Ausdrucks', des ,Appells' und des Beziehungsaspekts weitgehend freigehalten (O. Ludwig 1983 a, 6 ff.). Eine der alten Funktionen gesprochener Sprache, als Wissensspeicher und Textspeicher für Auswendigsprechen (Knoop 1983 a, 161 ff.), wurde zunehmend auf geschriebene/gedruckte Sprache verlagert, in Form von Notizen, Redemanuskripten, Tagebüchern, Nachschlagewerken, Registern, Karteien, usw. Das Auswendiglernen in der Schule wurde noch bis Mitte des 20. Jh. weiterbetrieben, auch für Zwecke der sprachlichen Sozialdisziplinierung. Der zunehmende Zwang zur Verschriftlichung von Rechts- und Verwaltungsakten förderte mit einem „Selbstlob der Gerechtigkeit" einen naiven Glauben an die Gültigkeit und Unmißverständlichkeit nur von Schreib-/Druck-Texten, womit das traditionelle ,Vertrauen'
AB: Schriftsprachdominanz, sekundäre Oralität
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(in formale mündliche Abmachungen unter Zeugen) durch schreibsprachliche ,Kontrolle' und ,Überprüfbarkeit' ersetzt wurde und die maßlose Anhäufung von beschriebenen/bedruckten Papiermassen Unübersichtlichkeit des sozialen Lebens bewirkte (Knoop 1983 b, 28 ff.); s. 6.14. Die Tendenz zur maximalen Schriftlichkeit im 19. Jh. hat dazu geführt, daß typisch sprechsprachliche, vor allem dialektale Sprache von deutschen Gebildeten im 19. Jh. (wie schon im 18. Jh., s. Bd. II: 5.8P—R) als „das ganz Andere", als „verkehrte Welt", und Schriftsprache von weniger Gebildeten als eine „Zuflucht" für ihr sprachliches Minderwertigkeitsbewußtsein empfunden wurde (Maas 1991a); s. 6.12A. Die moderne kulturideologische Selbstverständlichkeit der Priorität von Schriftsprache äußerte sich paradoxerweise — wohl unter Einfluß von Rousseau, Herder und Romantik (Grimberg 1988, 68 ff.) — in einem „schriftabwertenden Diskurs" (Maas) von professionellen Schriftsprachlern, die sich solche Umkehrung der herrschenden Priorität sozialökonomisch leisten konnten, wie ζ. B. Goethe: „Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stilles für sich Lesen ein trauriges Surrogat der Rede" (Dichtung u. Wahrheit, 1, 2. T., 10. Buch), oder Wilhelm v.Humboldt, der die Aufbewahrung von Sprache in der Schrift „mumienhaft" nannte. Hierin äußere sich „in vertauschten Rollen die Position derer, die im Lob der Mündlichkeit die verkehrte Gegenwelt zu ihrem Schriftmonopol besingen" (Maas 1992, 4) oder gar eine Abwehrhaltung gegen die geistigen Nivellierungsfolgen der bevorstehenden Alphabetisierung der Gesamtbevölkerung, also den letzten Akt der „Demotisierung von Schrift" (Maas 1991, 212). Man kann aber darüber streiten, ob solche Abwertung der Schriftlichkeit zu dieser Zeit nicht doch noch ihren alten sekundären, untergeordneten Status widerspiegelt (Knoop 1993).
B. Noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte jedoch durch die Massenverbreitung der S p r e c h / H ö r m e d i e n Telefon, Mikrophon, Schallplatte, Kino, Rundfunk eine Tendenzwende des öffentlichen Lebens zu wieder m e h r O r a l i t ä t ein: Politische Massenbeeinflussung erhielt schon bei den Nationalsozialisten durch Rundfunkreden und Massenversammlungen mit Lautsprecherübertragung gesteigerte Suggestiv- und Verführungsmacht, die allein mit Zeitungen nicht möglich gewesen wäre (s. 6.16R). In der Lautnormung erhielten schon in den 30er Jahren Rundfunksprecher eine Vorbildrolle anstelle der Theaterschauspieler (s. 6.6Z). In der späteren Nachkriegszeit wurde monologisches Briefeschreiben in allen Bevölkerungsschichten geschäftlich und privat weitgehend durch dialogisches Telefonieren und durch Diktat auf Band ersetzt (s. 6.2Q), setzte sich im Sprachnormenbewußtsein durch modernere Arten von Sprechsendungen im Fernsehen mehr Toleranz für regionale, situative und soziale Vielfalt durch (s. 6.15J—N), wurde in Schulen und Hochschulen monologisches Lehren und Aufsagenlassen teilweise durch mehr Diskutieren und spontane freie Rede ersetzt, auch in basisdemokratischen politischen Veranstaltungsformen. Diese teilweise Reoralisierung der öffentlichen Kommunikation ist aber nicht viel mehr
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, K o m m u n i k a t i o n
als die Korrektur der zu einseitig schriftsprachlichen Entwicklung im 19. Jh., bedeutet keineswegs ein Ende des Schreib- und Druckzeitalters als „suizidale" Entwicklung popularisierter und technisierter Schriftsprachlichkeit (Grimberg 1988, 220). Gegen kulturpessimistische Klagen über ein ,Ende der Schriftkultur' wird die Computerisierung auch als „Fortsetzung der Schriftlichkeit mit anderen Mitteln" erklärt (Giese/ Januschek 1990, 70). Es ist aber mit modernen Verschiebungen des Verhältnisses zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im e l e k t r o n i s c h e n I n f o r m a t i o n s z e i t a l t e r zu rechnen (Grimberg 1988, Glück/ Sauer 1990, 162 ff.; Giese 1993; Giese/Januschek 1990; Kübler 1985; Lerchner 1996; Wichter 1991; vgl. 6.14H): — Durch Computertechnologie entwickelten sich neue Schreibanlässe und -textsorten, mit modernerer Art von Formalisierung und Rigidität, mit hoher Rekursivität und intertextueller Vernetzung möglichst übersichtlicher Textbausteine, mit Entindividualisierung (Kollektivierung) der Beziehung zwischen Autor, Schreiber, Text und Leser, wodurch das Urheberrecht teilweise illusorisch wird. — Umgekehrt müssen elektronisch festgehaltene Sprechtexte quasischriftsprachlich streng spontan als gültige Texte formuliert werden (ζ. B. Diktieren auf Tonband oder Anrufspeicher), was auch bei Schriftstellern zur Gewohnheit einer nicht durch ständiges Korrigieren und Umformulieren gestörten flüssigen „mündlichen Erstproduktion" geführt hat, ebenso wie schon das fertige Formulieren in die Schreibmaschine (Kübler 1985, 355). — Berufsstrukturen, Zeitaufwand und Raumbedarf für Schreibtätigkeit verändern sich durch elektronische Text- und Datenverarbeitung, so daß die Unterscheidung zwischen Literalität und Illiteralität (funktionaler Analphabetismus) künftig überholt wird von einer neuen Unterscheidung nach Fähigkeiten in Computerarbeit, nach hochtechnologisiertem Experten- und ,Herrschaftswissen' in der ,Zweidrittelgesellschaft'. — Mit der Ersetzung der schreibsprachlichen „Ökonomie des Raumes" durch eine „Ökonomie der Zeit" (Kübler) in audiovisuellen Massenmedien wird der linear progressiv sequenzierte Informationsfluß in extrem kurze Einheiten gegliedert, so daß die Fähigkeit und Bereitschaft zu längerem Zuhören und längerer Lektüre stark zurückgeht. — Durch täglichen Langzeitkonsum des Fernsehens oder Heimarbeit am Computer geht dialogische Mündlichkeit in der unmittelbaren sozialen Umgebung stark zurück. Auch die Perfektionierung moderner dialogischer Redesendungen im Fernsehen bedeutet keineswegs eine Rückkehr zu natürlichem Gespräch. Vieles ist geplante Inszenierung nach schriftlicher Vorbereitung, mit schreibsprachlichen Stilmitteln
AB: Schriftsprachdominanz, sekundäre Oralität
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und mit reduzierten Handlungsbedingungen, ist nur eine s e k u n d ä r e O r a l i t ä t (Ong 1987; Holly 1992). Aber dies galt, in anderer Weise, auch für die akademisch-bildungsbürgerliche Gesprächskultur. — Individuelle und emotionale Äußerungsbedürfnisse werden mit neuen graphischen Mitteln und Formen subkultureller und basisliterarischer Art befriedigt: Wandsprüche, Graffiti, Aufkleber, Buttons, Kleidungsaufdrucke, Anschläge, ironische Zeitungsannoncen, getragenes Plakat, Computerspiele usw. C. Die Höhepunktepoche der Schriftlichkeitskultur war in Deutschland auch eine Blütezeit der Ideologisierung der S c h r i f t a r t e n w a h l . Die Popularisierung des Schreibenkönnens war auch im 19. Jahrhundert nicht nur am Ziel der Verbesserung der Befähigung zur gesellschaftlichen Kommunikation orientiert. Dieser funktionale Zweck wurde noch lange pädagogisch durchkreuzt vom institutionalisierten Zwang zum S c h ö n s c h r e i b e n und zur sprachenpolitisch konnotierten Wahl bestimmter Schriftarten, nicht nur in prunkvollen Inschriften, Titeln, Spruchtexten, Stickereien usw., auch im Alltag der Texte, schon in der Schule. Handschriftarten und Drucktypographie sind dabei im Zusammenhang zu sehen. Von der exklusiven professionellen Verfügung über Schreibfähigkeit in früheren Zeiten her (Gelehrte, Kanzleischreiber, Notare) wurden schöne, dekorativ verzierte Buchstabenformen meist höher bewertet als klare, schnell zu lesende. Seit der italienischen Renaissance wurde die Wahl zwischen den Grundschriftarten auch „mit paralingualen Botschaften überlagert" (Rück 1993, 231), ähnlich wie Intonation, Akzent, Rhythmus, Mimik und Gestik der gesprochenen Sprache zusätzlich Inhalten der Beziehungskommunikation dienen. Unter G r u n d s c h r i f t a r t e n sind zu verstehen: — g e b r o c h e n e / g o t i s c h e Schriften (Fraktur u. a., auch altdeutsche genannt) aus spätmittelalterlichen Traditionen: eckig, spitz, steil, verziert, beim Schreiben sehr rechtsschräg. — A n t i q u a - S c h r i f t e n (auch lateinische, französische genannt), nach spätantiken und karolingischen Vorbildern in der Humanistenzeit eingeführt (s. Bd. I: 3 D 2 , 4.2E): rund, ausgewogen, klar, schlicht, leichter lesbar. Diese Nebenfunktion der Schriftenwahl wurde besonders in Deutschland stark ideologisiert und am längsten in Europa fortgeführt. Im frühesten Buchdruck war die Wahl zunächst konservativ-ökonomisch motiviert: Die Drucker/Verleger waren auf den Absatz altgewohnter, den Handschriften buchkünstlerisch möglichst ähnlicher Prachtfolianten bei vermögenden Kunden angewiesen, mit gebrochenen, ornamentierten Schriftarten (vgl. Bd. I: 4 . 2 J ) ; schmucklose Antiqua hatte dagegen den
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
G e r u c h des M o d e r n e n und U n k i r c h l i c h e n . Seit der R e f o r m a t i o n
wurde
die S c h r i f t e n w a h l schrittweise ideologisiert n a c h G e g e n s ä t z e n wie: lutherisch gegen reformiert, national gegen kosmopolitisch, romantisch gegen h u m a n i s t i s c h / a u f g e k l ä r t / m o d e r n , so d a ß sich im 19. u n d frühen 2 0 . J h . „ d a s V e r h ä l t n i s der D e u t s c h e n zu den g e b r o c h e n e n S c h r i f t a r t e n als ein ideologischer Seismograph ohnegleichen" erweist (Rück 1993, 231). Imm e r w i e d e r w u r d e n die V e r s u c h e , die leichter lesbare, weil n i c h t v e r f r e m dete,
nicht
ornamentierte
durchzusetzen,
durch
humanistische
Gegenbewegungen
Z e i t von 1 8 8 1 bis 1 9 4 1 Silvia H a r t m a n n
Antiqua
bzw.
zurückgedrängt;
Lateinschrift vgl.
für
die
1998.
Während sich seit dem Erlaß des Königs v. Preußen von 1714 in den Schulen fast aller deutschsprachigen Länder die sehr spitze, ornamentale, mit übermäßigen Oberund Unterlängen versehene gebrochene Schulschrift von Hilmar Curas durchsetzte (Warwel 1988, 85), gewann in der 2. Hälfte des 18. J h . in gebildeten, aufgeklärten Eliten nach Vorbild Friedrichs II. von Preußen die Antiquaschrift im Druck, die Lateinschrift (auch französische genannt) in der Handschrift teilweise auch für deutsche Texte an Anhängern, nicht ohne Widerspruch der Verfechter der altfränkischen Schriftarten, z. B. Goethes Mutter (Rück 1993, 236). Seit den deutschen Auswirkungen der Französischen Revolution, besonders in der Napoleonzeit engagierten sich national Gesinnte wieder mehr für die gebrochenen Schriften, jedoch nicht in Straßburg und Wien. Die einflußreichen Berlinischen Schulvorschriften von 1817 erhöhten die schreibkünstlerischen Anforderungen, indem sie einen markanten Unterschied mit durchgeformten Schwellzügen (dünner Auf-, dicker Abstrich) fordern (Warwel 1988, 86).
Für den sprachideologisch geregelten Wechsel von deutscher und lateinischer/französischer Schrift mitten im Text noch in der 1. Hälfte des 19. J h . ist das Beispiel einer Begräbnispredigt eines sächsischen Dorfpfarrers aus dem J a h r e 1815 aufschlußreich:
Ausschnitt aus dem „Curiculum vide" eines Dorfpfarrers über den Rittergutsbesitzer J o h a n n Gottfried Friedrich in Schönbach b. Colditz, Sachsen (1815)
C—E: Schönschreiben, Schriftarten-Ideologisierung
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In der für Zwecke der gutbürgerlichen Familientradition bestimmten Niederschrift nimmt es der Ortsgeistliche zwar mit seinem Latein nicht so genau (sächsisch-sprechsprachlich vide statt vitae), aber in der Kalligraphie ist er vortrefflich mit Verschnörkelungen des Schluß-s oder mit der ständischen Abkürzung Hl. für hochlöblich bei jeder Nennung des Verstorbenen oder anderer Mannspersonen vom gleichen Stand, ebenso mit der konsequenten Verwendung der Lateinschrift für Fremdwörter mit öffentlicher Repräsentationsfunktion (Militair, Dragoner, Avancement) und für Eigennamen (Albert), an anderer Stelle auch mit gekonnter druckartiger Frakturschrift beim Namen des Verstorbenen.
Im Laufe des 19. Jh. ging man in der Schreibpädagogik allmählich vom alten kalligraphischen Buchstabenbilden zum Schreiben als Mittel zu funktionalen Zwecken über: nicht nur schön, sondern auch flüssig, lesbar, schließlich auch persönlich, vor allem richtig schreiben. Schreiben wurde zur obersten sprachlichen Aktivität aufgewertet (O. Ludwig 1998). Eine liberale Bewegung im Vormärz förderte wieder mehr Antiqua/Lateinschrift, vor allem für Wirtschaft und Export, durch englische Vorbilder, was sich bei Werbeanzeigen und für den ganzen Wirtschaftsteil von Zeitungen, ebenso in Geschäftskorrespondenzen, auswirkte. Inzwischen war durch die romantische Bewegung die kulturnationale Ideologisierung der gebrochenen Schriften vorangeschritten, mit Bewertungen und Vergleichen wie Offenbarung deutschen Gemütes (Goethe), deutscheste Schrift, Heimatlichkeit, Seelenträgerin, etwas Faustisches, Rosenhecken, Waldesweben, Adler schwingen (Rück 1993, 231). Die konservative (und damals zugleich nationalistisch progressive) Bevorzugung der ,deutschen' Schreibschrift wurde im 19. Jh. verstärkt durch besondere s c h r e i b p ä d a g o g i s c h e Anforderungen (Maas 1991b): Das Schreibenlernen mit Gänsefeder in der Schule war noch eine primär handwerkliche Angelegenheit, da sich die Schüler die Federkiele durch kunstvolles Beschneiden selbst brauchbar machen mußten und deshalb oft auf ihre individuelle Federform und ihren Schwellduktus stolz waren. Für die kalligraphisch orientierten Lehrer und Schüler störend wirkte dabei seit etwa 1850 der industrielle Einfluß aus England mit der Einführung der Stahlfeder: Jetzt kam es auf schnelleres, ökonomisches Schreiben mit spitzer oder spitzrunder Feder an, also ohne Schwellungen mit einem flüssig in alle Richtungen gleichmäßig zu führenden Schreibgerät. Trotzdem förderte man in Deutschland mit entsprechend breit schreibbaren Stahlfedern den traditionellen Schwellduktus weiter, mit starkem Neigungswinkel und extrem langen Ober- und Unterlängen, teilweise mit schreibpädagogischen Forderungen nach Leistungssteigerung zur ,Charakterbildung', mit Kontrolle der Körperhaltung durch Festbinden am Stuhl, teils mit dem Ziel einer möglichst individuell ausgeschriebenen, charaktervollen Handschrift, die dann durch graphologisch auswertbares Schreiben von Lebensläufen für Bewerbungen bis weit ins 20. Jh. wieder zu einem „parasitären Bewertungssystem" des Schreibrituals im Rahmen von ,sozialer Kontrolle' führte (Maas 1991b, 99). So kam es zu einem „Schriftwirrwarr in den Schulen" um 1900, in dem zwischen Ländern, Städten, Altersstufen und Schultypen unterschiedliche Ausprägungen deutscher Kurrentschriften gelehrt wurden (Warwel 1988, 87). Schönschreiben und ,Charakterschrift' gerieten miteinander in Widerspruch.
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Inzwischen war die Ideologisierung der Schriftarten weiter politisiert worden anläßlich von Bismarcks Kulturkampf gegen die Zentrumspartei: Antiqua/Lateinschrift wurde von Liberalen als Symbol für Emanzipation und Internationalist benutzt, von ihren Gegnern (vor allem von Treitschke und den Alldeutschen; s. 6.IM) nationalistisch und ζ. T. antisemitisch bekämpft, wobei aber auffällig ist, daß Germanisten (ζ. B. die Brüder Grimm) und sogar Sprachpuristen (s. 6.7D —I) mehr für als gegen die Antiqua/Lateinschrift waren (Rück 1993, 239 ff.; Grimberg 1988, 110 f.). Die Verfechter der gebrochenen Schriften hatten Beziehungen zur in der wilhelminischen Zeit modischen Heraldik und Ahnenforschung. Jugendbewegung und Sozialisten bevorzugten natürlich Antiqua/Lateinschrift, ebenso die Literaten und Buchkünstler des Jugendstils, die auf der Basis der Antiqua kühne neue Schriftarten entwickelten, die auch bald phantasievoll im modernisierten Design der Warenwerbung benutzt wurden. Seit 1890 gab es viele Schriftvereine und viel Streit um Schriftarten (S.Hartmann 1998, 39 ff.): Seit 1887 (Hermann v. Pfister) wurde mit nationalistisch-völkischen Argumenten sogar die Ausbreitung der Fraktur auf alle germanischen Völker als Aufgabe eines geistigen Allgermanentums gegen die Lateinschriftlinge propagiert. 1911 führte man eine heftige Reichstagsdebatte über die Frage, ob Antiquaschrift im amtlichen Verkehr und Lateinschrift als Erstschrift in der Schule eingeführt werden solle, was eine Beendigung des luxuriösen deutschen Mehrschriftensystems bedeutet hätte. Danach wurden Schriftkünstler mit einer S c h r i f t r e f o r m beauftragt (Warwel 1988, 91 ff.): Der Bonner Schreibwarenhersteller Friedrich Soennecken konnte sich mit seiner Befürwortung und Vereinfachung der Druckantiqua weniger durchsetzen als der Berliner Graphiker Ludwig S ü t t e r l i n , der seit 1911 im Auftrag des preußischen Kultusministeriums in Schreibkursen mit Lehrern neue Schriftformen sowohl für deutsche als auch für Lateinschrift als Schulerstschriften erarbeitete und 1917 in seinem „Neuen Leitfaden für den Schreibunterricht" veröffentlichte. Daß sein Name später nur mit der deutschen Schrift verbunden wurde, ist aus der einseitigen schriftideologischen Tendenz bis 1941 zu erklären. Für beide Schriften erreichte Sütterlin eine Befreiung vom Unterschied zwischen Schwell- und Haarstrich, von der Schräglage, von Schnörkeln und willkürlichen Verschleifungen. Seine Reformschrift wurde auch vorbildlich durch ein ausgewogenes l:l:l-Verhältnis zwischen Ober-, Mittel- und Unterlängen, mit Ringschleifen statt Punktschleifen. Diese beiden Reformschriften waren auch für das moderne flüssige Schreiben mit Füllfederhalter (mit Schnurzugfeder oder Kugelspitzfeder), also für gleichbleibende Strichbreite geeignet. In der Weimarer Zeit machte zuerst Preußen 1924 die deutsche Sütterlinschrift als Schulerstschrift obligatorisch. 1934 wurde die deutsche Sütterlinschrift reichseinheitlich durchgesetzt. So ergab sich ein reduziertes Zweischriftensystem: grundsätzlich deutsche Schrift; Lateinschrift erst ab 4. Klasse,
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Kalligraphische Übungen aus einem Schulheft einer höheren Mädchenschule in Trier um 1 8 7 0
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Deutsche Reformschrift nach Siitterlin 1 9 1 7 (η. M a a s 1 9 9 1 b , 107)
weiterhin für Fremdsprachen, fremdsprachliche Z i t a t w ö r t e r und Zitate im deutschgeschriebenen T e x t , teilweise für Eigennamen, für technisch-naturwissenschaftliche Texte und für Geschäftliches. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es intellektuellen und künstlerischen Widerstand gegen die ideologisierende und ästhetisierende Schriftartengesinnung. In der Drucktypographie und Kunstgraphik wirkte in den frühen 2 0 e r J a h r e n avantgardistische Experimentierlust, bis hin zu ironischer oder zynischer Beziehung zwischen Textinhalt und Typographie. Im Dadaismus wagte man auch die anarchische Loslösung der ästhetischen Schriftfunktionen vom sprachlichen Textinhalt, mit isolierten Buchstabenelementen in Bildcollagen oder in völlig ent-
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
sprachlichten Textbildern wie den optophonetischen Gedichten von Raoul Hausmann. In einer Gegenbewegung entwickelten Künstler der Bauhaus-Bewegung radikal moderne, ökonomische, betont sachliche Schriften wie die leicht lesbaren Grotesk, Futura und Helvetica nach Grundformen wie Kreis, Dreieck, Quadrat; Vertreter beider modernistischer Richtungen wurden ab 1933 von den Nationalsozialisten wegen „entarteter Kunst" in die Emigration getrieben (Schellnack 1994, 18 f.).
D. Die weitere Bevorzugung gebrochener Schriften war durchaus nicht nur eine nationalsozialistische Sache. Nach dem deutlichen Rückgang von Frakturschriften in der mehr internationalistisch-modernistischen frühen Weimarer Zeit gab es ab 1927 eine neue schriftkünstlerische Tendenz zu modernisierten gebrochenen Schriften, mit Ausstellungen, Preisverleihungen, Vereinen und teilweise „messianischem Sendungsbewußtsein" der Schriftkünstler (Rück 1993, 253 ff.). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gab es unter dem vom Goebbels-Ministerium unterstützten Einfluß deutschtümelnder Mitläufer (Bund für deutsche Schrift) einen neuen Aufschwung von Frakturschriften in der Presse, in Schulbüchern, auf Plakaten, an Gebäuden, in Innenräumen, auf Schiffen, parallel zum letzten Aufflammen des Sprachpurismus (s. 6.7J—N). Die damaligen Frakturschriftkreationen waren meist holzschnittartige Modernisierungen: wuchtig, kantig, fett, schmucklos (vgl. die Abbildung in 6.4.2G!); sie wurden z. T. rassistisch als „arteigen" bezeichnet. Die Haltung führender Nationalsozialisten war widersprüchlich (vgl. S. Hartmann 1989, 137 ff.): Hitler liebte weder Fraktur noch Antiqua und schrieb selbst eine deutsch/lateinische Mischschrift. 1934 polemisierte er auf dem Nürnberger Reichsparteitag gegen „jene Rückwärtse, die meinen, eine ,theutsche' Kunst aus der krausen Welt ihrer eigenen romantischen Revolution als verpflichtendes Erbteil für die Zukunft mitgeben zu können" und lehnte dabei deren „Straßenbenennungen und Maschinenschrift in echt gotischen Lettern" ab; er selbst wollte mehr eine Wiederbelebung germanischer Runenschrift (s. Hunger 1984) als Gesinnungs- und Herrschaftssymbol, wie sie in der Hitlerjugend, in der SS und bei den Ahnenforschern teilweise betrieben wurde, auch in Geburts- und Todesanzeigen in Zeitungen. Goebbels verbot 1937 jüdischen Verlegern die Verwendung deutscher Schriftarten; aber ab 1940 ließ er parteiamtliches Material und Bücher für das Ausland in Antiqua drucken, ebenso seine erfolgreiche intellektuelle Wochenzeitung Das Reich und im gleichen Jahr einige andere Zeitungen und Zeitschriften, 1941 auch den Völkischen Beobachter. Der Widerstand gegen das Frakturmonopol begann 1940 von Goebbels' Propagandaministerium her mit außenpolitischen Zielen (S. Hartmann 1998, 312).
Die für die Deutschtümler überraschende Kehrtwende der nationalsozialistischen Schriftartenpolitik — H i t l e r s F r a k t u r v e r b o t im Januar 1941 — wird bis heute sehr verschieden erklärt (vgl. S. Hartmann 1998, 245ff.). Gerade dies ist typisch für die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des nationalsozialistischen Ideologiekonglomerats, für das Kompetenzenchaos der Hitlerdiktatur, für ihren taktischen Opportunismus und für die Propagandamethode, verschiedenen Adressatenkreisen in
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verschiedener Weise , n a c h d e m M u n d e zu r e d e n ' und sie z u n ä c h s t in je eigener Weise ihren B e i t r a g zur b r a u n e n Bewegung 6 . 1 6 N —Q). A m 3. Januar
E n t s c h e i d u n g mitgeteilt, „daß sämtliche mählich
auf
und
Urkunden
daß
Behörden werden" der
die
Normalschrift des Staates,
usw. künftig
Zeitungen
(sogenannte Anschläge
nur in Normalschrift
Antiquaschrift) und
Hitlers
und Zeitschriften Veröffentlichungen
geschrieben
all-
umgestellt oder
von gedruckt
(n. H o p s t e r 1 9 8 5 , 6 3 ) . Verblüffend w a r dabei die B e z e i c h n u n g
Antiqua-/Lateinschriften
nannte"
leisten zu lassen (s.
1 9 4 1 w u r d e , z u n ä c h s t parteiintern,
als
Normalschrift
und
die
mit
„soge-
heuchlerisch distanzierende Relativierung der traditionellen Be-
zeichnung Antiqua.
Die G e l t u n g des Führererlasses
s o w o h l für Schreiben
als a u c h für D r u c k e n , ja die p r i m ä r e N e n n u n g der P r e s s e t y p o g r a p h i e und der B e h ö r d e n - S c h r i f t l i c h k e i t , spricht d a g e g e n , einer E r k l ä r u n g dieser schriftartenpolitischen W e n d e aus der R e f o r m p ä d a g o g i k des Schreibens die P r i o r i t ä t zu geben (wie es n a c h den v o n H o p s t e r 1 9 8 5
untersuch-
ten Quellen erscheinen m a g ) . E s ist a u c h der Z u s a m m e n h a n g mit d e m d u r c h Führererlaß
v o m 1 9 . N o v e m b e r 1 9 4 0 v o r a n g e g a n g e n e n V e r b o t des
S p r a c h p u r i s m u s (s. 6 . 7 M ) zu b e a c h t e n , das m i t d e m s p r a c h p o l i t i s c h e n A r g u m e n t „übervölkische
Aufgaben
unserer
Sprache"
begründet wurde.
Auch nach eigener Erinnerung an meine Lehrer hing in beiden Fällen die von höchster Stelle angeordnete Umstellung mit einer grundsätzlichen Änderung der a u ß e n p o l i t i s c h e n Propaganda, entsprechend der Kriegslage, zusammen: Statt „großdeutscher" Ziele orientierte man sich seit der Besetzung vieler europäischer Länder auf „Neuordnung Europas" und „Verteidigung des Abendlandes" hin, auch um in den besetzten Gebieten kollaborierende Anhänger zu gewinnen. Die außenpolitische Begründung „Führung in Europa durch diesen Krieg" ist 1941 belegt bei dem Schriftpädagogen Georg Raederschmidt (Rück 1993, 259). Bei ausländischen Zwangsarbeitern im Reich war die Frakturschrift verhaßt. Da der Streit um beide Schriftarten von jeher mit der Alternative zwischen nationalen und internationalen Interessen verbunden war, gab die Umstellung „all denen recht, die auch vorher schon um der Erfordernisse der ,Wirtschaft', der ,Weltgeltung' des ,Reiches' oder der Verbreitung deutschen Schrifttums' willen für die Übernahme der in den meisten anderen Staaten eingeführten lateinischen' Schrift plädiert hatten" (Hopster 1985, 62). Also war diese Schriftreform nicht etwas völlig Überraschendes. Die außenpolitische Propagandasituation gab nur einen willkommenen Anlaß zu ihrer diktatorischen Realisierung. Die zweite, i n n e n p o l i t i s c h e Begründung hing mit opportunistischem Taktikwechsel zusammen: Die Naziführer hatten jetzt, nach ihrer Machtkonsolidierung in den Vorkriegsjahren, nach Blitzkriegen und imperialistischen Erfolgen in Europa, die anfängliche Rücksicht auf die Deutschtümler nicht mehr nötig; man hat „ideologischen Ballast über Bord geworfen" (Hopster 1985, 63). Diese außen- und innenpolitischen Hintergründe der schriftpolitischen Kehrtwendung wurden aber öffentlich kaum thematisiert. Dafür gab es aber in schriftkünstlerischen und schreibpädagogischen Fachkreisen widersprüchliche Erklärungen, die mit den eigentlich politischen Aspekten wenig zu tun hatten: Nach Warwel (1988, 95) verurteilten Schriftpädagogen Hitlers Frakturverbot mit dem Argument, die „eckigen Formen der deutschen Sütterlinschrift als Ausgangsschrift" hätten sich zur Diszipli-
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
nierung der Schüler für sauberes, gleichmäßiges Schönschreiben „bewährt und sich bei der individuellen Handschriftenentwicklung als stabilisierender Faktor erwiesen". Dieser Auffassung noch kalligraphisch eingestellter Schreibpädagogen sollte nach Hopsters Untersuchung einschlägiger Quellen (Hopster 1985, 64 ff.) mit einer neuen rassistischen Schrift-Theorie entgegengewirkt werden: Nicht mehr Schreib-Drill zum Schönschreiben, sondern, im Anschluß an die ganzheitspsychologische Graphologie von Ludwig Klages (Handschrift und Charakter, 1916), Praktizierung einer Schreibpädagogik, die den Menschen in seiner „Ganzheit" als „erbbiologisches" Wesen offenbare, also Einheitlichkeit zur „sozialen Ein- und Ausgrenzung anhand von Schriftdiagnose", um die Graphologie auf moderne Weise „für die Ausübung der politischen Gewalt nutzbar" zu machen (Hopster 1985, 72). Das geistige Horrorbild vom Finale der deutschen Schriftartenideologisierung wird erst vollständig, wenn man auch die absurdeste Begründung des Frakturverbots nicht unerwähnt läßt: Die Bekanntmachung des Führerbefehls durch Hitlers Stellvertreter Bormann vom 3. 1. 1941 enthielt eine (damals wohl sonst von niemandem geglaubte) Erklärung, die den deutschtümelnden Schrift-Antisemitismus plötzlich genau umkehrte: „Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch", sie bestehe „in Wirklichkeit aus Schwabacher Judenlettern", die von den Juden als Beherrschern des Buchdrucks eingeführt worden seien (n. Rück 1993, 263). Ein Parallelfall dazu ist in der Zeit der beginnenden Polemik von Naziführern gegen den Sprachpurismus die übereifrige plötzliche Kehrtwendung eines Sprachvereinsmitglieds in der Zeitschrift „Muttersprache" (52, 1937, 141 ff.) mit der den Sprachpurismus umkehrenden Begründung, der einflußreichste ,Fremdwortjäger' der wilhelminischen Zeit, Eduard Engel, sei Jude gewesen und habe „die Fremdwortfrage zu Unrecht zum Maßstab der Deutschheit gemacht"' (vgl. 6.7LM).
Neben den Schwierigkeiten der Umstellung auf eine andere Schriftideologie und andere Methodik der Schreibpädagogik gab es technische und organisatorische Probleme in der Druckindustrie: Die im Laufe des Jahres 1941 erfolgenden verschärfenden Maßnahmen der Umstellung entsprechen dem üblichen Herrschaftsritual im Dritten Reich, waren aber im allgemeinen leichter zu befolgen als andere Zwangsmaßnahmen. Die Druckereien hatten von jeher auch Antiquatypen in Gebrauch, hatten aber wegen der Engpässe der Kriegswirtschaft große Schwierigkeiten, für mehr Vorrat an Drucktypen zu sorgen. Die Umstellung von deutscher auf lateinische K u r r e n t s c h r i f t führte — zusammen mit der zunehmenden Verfügbarkeit technischer Schreib- und Vervielfältigungsmittel — zu einem langfristigen Verfall des Deutlich- und Schönschreibens (Kübler 1985, 353 ff.): Aber sie war im Wesentlichen unproblematisch, da ältere Schüler und Erwachsene beide Schriftarten bereits nebeneinander beherrschten. Viele gewöhnten sich aber eine Mischschrift an oder schrieben die Lateinschrift in der von der deutschen Schrift her gewohnten schrägen, engen, eckigen Art, mit Rundungen nur nach unten, nicht nach oben, was — wegen des Wegfalls des diakritischen Zeichens über dem u — die rasche Identifizierung von u, n, m erschwerte. Viele stellten sich erst nach 1945 oder noch später auf Lateinschrift um, manche ihr Leben lang nicht mehr, so daß ihre Briefe für ihre Kinder und Enkel schwer
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lesbar wurden. Viele noch mit deutscher Schrift und Fraktur Aufgewachsene haben noch heute Schwierigkeiten, beim Schreiben von Paketadressen und Schildern oder beim Ausfüllen von computergerechten Kästchenformularen gut lesbare Block-Versalien zustandezubringen (das erste, was wir in amerikanischer Kriegsgefangenschaft lernen mußten). Das Zeitalter der Schriftideologisierung war bald nach 1941 zuende. Sie erscheint rückblickend als ein Symptom für die jahrhundertelangen Schwierigkeiten, die das deutsche Bildungsbürgertum, deutsche Gelehrte, Künstler und Pädagogen mit der modernisierenden humanistischaufklärerischen Bewegung auf dem mühsamen, verspäteten Weg zum deutschen Nationalstaat und darüber hinaus hatten. E. In der N a c h k r i e g s z e i t gab es bis in die 60er Jahre noch vereinzelt Klagen von Professionellen der Schriftkunst und der Schreibpädagogik sowie von Sprachvereinen über den Verlust altdeutscher Schriften, aber keine ernstzunehmenden Bestrebungen zu ihrer Wiedereinführung (Rück 1953, 260). Im Allgemeinen war man froh, vom generationenlangen Streit befreit zu sein, zumal in beiden deutschen Staaten und in Österreich antinationalistische, internationalisierende und modernisierende Tendenzen im Vordergrund standen. Frakturschriften spielen — wie in anderen westlichen Ländern — nur noch gelegentlich als Auszeichnungsschrift in Titeln und Werbetexten bestimmter Branchen eine Rolle. Geblieben sind ihnen dabei die alten Konnotationen aus der vornationalistischen Zeit, die auch in anderen Ländern gelten: altertümlich', nostalgisch', ,rustikal', ,historisch', konservativ', usw. Außer bei rechtsextremen Gruppen, ist das Bedürfnis nach Schriftarten-Ideologisierung genauso geschwunden wie die Uniformen- und Ordenssucht. Außerdem hat Schriftlichkeit heute nicht mehr einen so überhöhten kommunikationssoziologischen Status wie seit dem 19. Jahrhundert. Der Traditionsbruch wird auch daran deutlich, daß bei heutigen Versuchen Jüngerer, wieder Fraktur zu schreiben oder zu drucken, die bis 1941 noch streng beachtete Unterscheidung zwischen langem / im Anlaut und rundem s im In- und Auslaut meist verlorengegangen ist. Im Allgemeinen ist die Schriftentwicklung in der Nachkriegszeit bei öffentlichen Drucktexten und Schildern — z. T. auch in der Werbung — von einer Tendenz zu klaren, runden, breiten, schmucklosen, nicht fetten Buchstabenformen gekennzeichnet, mit neofunktionalistischer Anknüpfung an die Modernisierungen der 20er Jahre und deren Weiterentwicklung in der Schweiz (Schellnack 1994, 20 f.), auch infolge zunehmender Erfordernisse der Mechanisierung, Formalisierung und Digitalisierung. Der Lesbarkeit förderliche Ästhetisierungen gab es auch bei der Weiterentwicklung von Schreibmaschinenschriften seit der Einführung von
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
K u g e l k ö p f e n in d e n 7 0 e r J a h r e n . H ä ß l i c h e , s c h w e r l e s b a r e
Computer-
schriften, die n o c h heute a u f B i l d s c h i r m e n und a u t o m a t i s c h e n G e s c h ä f t s a u s d r u c k e n als t y p o g r a p h i s c h e r R ü c k s c h r i t t z u w e r t e n s i n d , w u r d e n seit den 80er J a h r e n durch Laserdrucker mit reichen
Schrifttypenprogram-
m e n s o h e r v o r r a g e n d ü b e r w u n d e n , d a ß h e u t e a u c h bei p r i v a t e r T e x t v e r arbeitung
mit P C
die fast professionelle
Lust
an
zweckangemessener
A u s w a h l s c h ö n e r , k l a r e r D r u c k s c h r i f t e n v e r b r e i t e t ist. Die seit der Hochindustrialisierung voranschreitende Verlagerung von Schriftlichkeit aus den intimen Nahlesemedien Buch, Zeitung usw. in die öffentliche U m w e l t verstärkte sich in der Nachkriegszeit, im Westen mit Plakaten, Schildern, weithin sichtbaren Reklameschriften an Hauswänden oder Straßenbahnwagen, in der D D R mit offiziellen politischen Spruchbändern oder Tafeln, seit der 1968er Zeit auch im Westen mit oppositionellen politischen Beschriftungen an Mauern, Hauswänden und öffentlichen Verkehrsmitteln, meist illegal mit Farbdosen gesprayt. Vorläufer davon gab es seit der Weimarer Zeit. Im Unterschied zu diesen meist deutlich lesbaren politischen Mauerbeschriftungen gibt es seit den späten 1960er Jahren — ähnlich wie in den 20er Jahren — eine s u b k u l t u r e l l e (ζ. T. anarchische) Schriftbewegung, die bewußt und spielerisch gegen traditionelle Prinzipien wie Lesbarkeit, Linearität, Ästhetik verstößt und statt Informationsvermittlung extrem entfunktionalisiert nur noch reine Emotionen, Spaß, Verfremdung, Verrätselung, Häßlichkeit, Vermischtheit, Kaputtheit und Dilettantismus verbreiten will (Schellnack 1994, 22 ff.). Künstlerisch verfremdender Gebrauch von Buchstaben als wildes Schreiben ist seit den späten 80er Jahren in der aus den USA, den Niederlanden und Frankreich kommenden Street Art immer häufiger, illegal oder legal, an Haus- und Raumwänden, Mauern, Eisenbahnzügen und Autos zu sehen (Treeck 1993; Neumann 1991). Die bis zur Unlesbarkeit verfremdeten, aufgeblähten und ineinandergeschobenen Buchstaben der Writing Graffiti enthalten meist nur die Pseudonyme (ζ. T. Nonsens-Wörter zur Geheimhaltung) der Künstler. Die Künstlersignatur ist hier meist zum Selbstzweck für Selbstverwirklichung und ingroup-Kontakte geworden. Diese sprachferne Buchstabenkunst hat Beziehungen zu magischer oder mystischer Verwendung von Schrift (Geier, in: Günther/ Ludwig 1994, 1, 6 7 8 ff.). F. M i t e i n e r v e r s t ä r k t e n
sprachlichen
Internationalisierung,
nicht
mit
A u s w e i c h e n in v ö l l i g n i c h t s p r a c h l i c h e K o m m u n i k a t i o n , h a b e n d i e P i k t o g r a m m e z u t u n , d i e in d e r N a c h k r i e g s z e i t als i n s t i t u t i o n s s p e z i f i s c h e ikonographische und ideographische Art ökonomischer
Schreibkommu-
n i k a t i o n in B a h n h ö f e n , F l u g h ä f e n u n d a n d e r e n ö f f e n t l i c h e n
Gebäuden,
S p o r t - u n d V e r k e h r s r ä u m e n , a u c h als B e d i e n u n g s a n w e i s u n g e n f ü r t e c h nische G e r ä t e üblich g e w o r d e n sind. I m m i t t e l e u r o p ä i s c h e n D u r c h g a n g s land Deutschland w a r e n allerdings schon vorher Verkehrsschilder weita u s m e h r n o n v e r b a l - p i k t o g r a p h i s c h a l s e t w a in d e n U S A n o c h h e u t e . Piktogramme sind unabhängig von Einzelsprachen, haben komplexe Inhalte, was durch gleichartige Umrahmung angedeutet wird, sind aber nicht unabhängig von Kultur- und institutionsspezifischen Vorkenntnissen (W. W. Sauer 1993; Lutz, in: Günther/Ludwig 1994, 2. Bd., Art. 149); und in den meisten Fällen liegen übereinzelsprachliche, übersetzbare gewortete Begriffe (ζ. T. Fachtermini) zugrunde. So wird
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F: P i k t o g r a m m e
Postamt
Toiletten
Toiletten (Damen)
Toiletten (Herren)
E
Friseur
( Φ
Treffpunkt
Trinkwasser
Treppe abwärts
Treppe aufwärts
Fahrtreppe
P i k t o g r a m m e der Deutschen Bahn A G
in unseren Beispielen aus d e m B a h n k u r s b u c h 1995 z w a r bei „Treppe ab/aufwärts" n u r auf Allgemeinmenschlich-Physisches verwiesen, mit den Bildmotiven P o s t h o r n , Briefumschlag, F r a u e n r o c k , Schere und K a m m , Pfeilen, Wasserhahn, Trinkglas und Rolltreppe auf Kulturspezifisches; bei Begriffen wie , P o s t a m t ' , ,Toilette', ,Friseur', ,Trinkwasser', ,Fahrtreppe' ist die p r a g m a t i s c h e U m s e t z u n g der I n f o r m a t i o n nicht o h n e eine sprachliche Benennung mit Lexemen möglich, in welcher Sprache auch immer. In einigen Fällen dient das Bildzeichen auch der Neutralisierung von Syno n y m i k im Deutschen: WC/Toilette/Klo, Damen/Frauen/Mädchen, Herren/Männer/ Jungen, Fahrtreppe/Rolltreppe. Vorgänger solcher m o d e r n e n P i k t o g r a m m e w a r e n in f r ü h e r e r Zeit Bildsymbole f ü r H a n d w e r k e oder Truppenteile, f ü r .geboren', g e s t o r b e n ' , ,Eheschließung', ,Gefahr!', , D u r c h s c h n i t t ' , ,Addition', ,ähnlich' usw., die im Prinzip fachsprachlich schon seit dem Mittelalter nachzuweisen sind.
G. Da sich die Lesefähigkeit (in geringerem Maße die Schreibfähigkeit) im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem elitären bzw. professionellen Standesprivileg zu einer (differenzierten) allgemeinen Volksbildung entwickelt hat, erscheint es angemessen, hier — im Unterschied zu 5.2 in Bd. II — der Entwicklung der Massenmedien die der A l p h a b e t i s i e r u n g und S c h u l b i l d u n g voranzustellen. Schreiben- und Lesenkönnen lassen sich historisch-demographisch nur indirekt erforschen anhand von Rekrutierungslisten, Heiratsprotokollen, Schulbesuchsstatistiken, biographischen Zeugnissen, Stückzahlen des Buch- und Zeitungsvertriebs, so daß für das 19. Jh. nur ungefähre Angaben gemacht werden können (Knoop, in: Günther/Ludwig 1994, 859 ff.; Eisenberg 1983; Engelsing 1973; Wehler 1987, 2, 520ff.; O. Ludwig 1998): Die Zahl der Analphabeten (einschließlich der nur Unterschriftsfähigen) kann um 1800 auf etwa die Hälfte, Mitte des 19. Jh. auf etwa ein Drittel, um 1900 auf etwa 1% der erwachsenen Bevölkerung geschätzt werden. Die bloße Unterschriftsfähigkeit muß aber schon um 1800 aufgrund von Er-
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6 . 2 . Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, K o m m u n i k a t i o n
fordernissen der Verwaltung mit über 6 0 % angesetzt werden, die leidliche Lesefähigkeit in Bezug auf Kalender, Erbauungsliteratur, Zeitungen usw. um 1800 mit rund der Hälfte der männlichen erwachsenen Bevölkerung, im Vormärz weit darüber (Wehler 1987, 2, 521 f.), um 1900 mit über 95 % . Bei den deutschen Einwanderern in den USA in der 2. Hälfte des 19. Jh. fiel gegenüber anderen Herkunftsgruppen der hohe Alphabetisierungsgrad und die große Zahl deutschsprachiger Zeitungen auf. Der in der napoleonischen Zeit angesichts der Niederlagen gegen die Franzosen von preußischen Reformern geförderte Volksbildungs-Gedanke wurde in der Restaurationszeit, besonders ab 1848, von konservativer Seite wieder zurückgenommen aus Furcht vor Aufsässigkeit der Unterschichtbevölkerung in Stadt und Land; die Schüler sollten vornehmlich zu Disziplin, Ordnung und Gehorsam erzogen werden (Craig 1993, 174f.). Dem kam die Schulpolitik der Wirtschaftsliberalen entgegen. Der entscheidende Entwicklungsschub erfolgte nämlich nicht erst als Folge der Hochindustrialisierung um die Mitte des 19. Jh., sondern als ihre wesentliche Voraussetzung (Wehler 1987, 2, 521; Engelsing 1973, 105; Glück 1987, 180f.; Knoop, a. a. O. 869). Dies wird begründet mit dem Rückgang der alten multimedialen Geselligkeit und Vorlesekommunikation und einer neuen Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Schriftlichkeit für Anforderungen der industriegesellschaftlichen Sozialdisziplinierung: Weniger für volle Kompetenz in der Textproduktion, mehr zur Einübung in Stillsitzen, Konzentration, planendes systematisches Denken, Gedächtnis, Pünktlichkeit, Zeiteinteilung, soziale Unterordnung, Gemeinsamkeit und Pflichterfüllung sollten alle Staatsbürger lesen und etwas schreiben können; das Lob der deutschen Soldaten nach den Reichsgründungskriegen von 1864 bis 1871 ist öfters mit dem Lob der deutschen Schulmeister verbunden worden (Engelsing 1973, 102). Die „funktionale Alphabetisierung" der Volksmassen in der 2. Hälfte des 19. Jh. diente, außer minimalen Fähigkeiten im beruflichen und öffentlichen Leben, dem politisch-normativen Ziel „Integration aller Bürger zu einem Staatsvolk" (Ahlzweig 1994; O. Ludwig 1998). Die nationalliberale Erweiterung des Bildungsprogramms in Richtung auf Geschichte und Geographie wurde durch persönliche Intervention Wilhelms II. in den Dienst preußisch-konservativer und imperialistischer Ideologisierung gestellt (Craig 1993, 175 f.). Bei quantitativen historischen Schätzungen und Erklärungen der Alphabetisierungsund Schulbesuchsentwicklung ist mit großen s o z i a l e n und r e g i o n a l e n Unterschieden zu rechnen. Die Z a h l e n liegen im 19. J h . für die männliche Bevölkerung wesentlich höher als für die weibliche, in stärker industrialisierten bzw. protestantischen Regionen wie Sachsen, W ü r t t e m b e r g , Berlin usw. deutlich höher als e t w a in länd-
GH: Alphabetisierung, Schulbildung
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liehen Gegenden Ostpreußens, Posens oder Österreichs. Die seit langem bestehende Schulpflicht konnte in der 1. Hälfte des 19. Jh. noch nicht überall voll realisiert werden (Knoop, a. a. O.; Grimberg 1988, 80 ff.; Eisenberg 1983, 16 ff.): Es gab noch viel Kinderarbeit aus sozialer Not, in der Industrie ganzjährig, in der Landwirtschaft im Sommerhalbjahr. Erst ab 1839 durften Kinder unter 9, ab 1853 unter 12 Jahren nicht mehr arbeiten. Für viele Kinder konnte das (erst 1888 endgültig abgeschaffte) Schulgeld nicht bezahlt werden. In der Frühzeit der Industrialisierung half man sich mit Armenschulen und Fabrikschulen, in denen aber mehr die direkte Integration der Kinder in den Arbeitsprozeß betrieben wurde. Für die Lehrer wurde zwar ab 1826 eine Abschlußprüfung verlangt, aber ihre Besoldung war noch lange sehr gering, ζ. T. niedriger als die des Dorfgendarms, oft nur in Naturalien oder Landnutzung bestehend. Die Schulaufsicht oblag im 19. Jh. noch weithin dem Ortsgeistlichen. Der Schulunterricht begann frühmorgens mit Religion. Die Lehrer/Schüler-Relation lag in der Volksschule oft zwischen 1:50 und 1:90. Die meisten Volksschulen waren einklassig, auch in übervölkerten Vorstädten. Dies alles verbesserte sich erst gegen Ende des 19. Jh., besonders durch die Einführung obligatorischer Seminarausbildung der (nun besser besoldeten) Lehrer.
H . D a s Schwergewicht der Elementarschulbildung lag bei rezeptiven Fähigkeiten: Vorlesen, Abschreiben, Diktatschreiben, Auswendigsprechen, als Ersatz für schwindenden moralischen Einfluß der Kirchen, vor allem in der vorstädtischen Landfluchtbevölkerung, und als Mittel der utilitaristisch-frühindustriellen Leistungssteigerung (Wehler 1 9 8 7 , 2, 4 7 8 ff.). In Schreiben und Rechnen wurden erst in der eigentlichen Industrialisierungsphase die für Fabrikarbeiter notwendigen Mindestanforderungen erfüllt (Kettmann 1 9 8 1 , 5 1 ) . Die Aufsatzübungen der Volksschule in der 2. Hälfte des 19. J h . waren im Wesentlichen auf Standardbriefe, Geschäftstexte, allenfalls Erörterungen über Nützlichkeit und M o r a l i sches beschränkt ( O . Ludwig 1 9 9 8 ) . D a viele Arten der eingedrillten Schreib- und Leseübungen mehr ,Lernen für die Schule', weniger fürs Leben, darstellten, ist damit zu rechnen, daß ein großer Teil der Volksschulabsolventen das meiste davon bald wieder verlernte. Unter den Älteren m u ß es also stets, auch in der schulstrengen wilhelminischen Zeit, einen beträchtlichen Prozentsatz f u n k t i o n a l e r A n a l p h a b e t e n (Halbalphabetisierter) gegeben haben, d. h. Menschen, die nur in bestimmten Alltagsroutinen (Unterschrift, Briefadressen, Personalien in Behördenfomularen, Schilder usw.) begrenzte Schreib- und Lesefähigkeiten mehr oder weniger behalten haben, aber bei neuen (beruflichen, behördlichen) Anforderungen der T e x t p r o d u k t i o n und -rezeption versagen und diesen (zunehmend sozial diskriminierten) M a n g e l so weit wie möglich verbergen. Die Alphabetisierungszahlen der Jahrhundertwende gelten nur für das Verhalten im Schulalter und bei routinemäßigen Behördenerfordernissen wie Unterschreiben bei der Eheschließung und bei der Rekrutierung fürs Militär. W i e großen Teilen der Bevölkerung auch im ersten Drittel des 2 0 . Jahrhunderts im späteren Leben ihre schulischen
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Schreib- und Lesefähigkeiten verlorengingen oder auf ein Minimum reduziert waren, ist nicht bekannt. Deshalb sind kulturpessimistische Klagen über heutigen angeblich gestiegenen funktionalen Analphabetismus durch audiovisuelle Massenmedien voreilig und statistisch haltlos. Dazu s. 6.3PR! I. Die noch sehr dunklen Anfänge der industriegesellschaftlichen Teilhabe von U n t e r s c h i c h t b e v ö l k e r u n g an der bildungsbürgerlich geprägten Schriftlichkeit im 19. Jh. werden neuerdings — aus dringendem Nachholbedarf — in empirischen Untersuchungsprojekten erforscht unter Stichworttiteln wie „Textsorten im Industriebetrieb" (Mattheier) oder „Private Schriftlichkeit ,kleiner Leute'" (Schikorsky 1989; 1990; ähnlich S. Grosse u. a. 1989), wobei unter ,klein' im Sinne eines damaligen elitären Wortgebrauchs verstanden wird: nicht ständisch etabliert, ohne höhere Schulbildung. Die soziokommunikative Situation der A r b e i t e r im 19. Jh. ist gekennzeichnet von einem extremen „Auseinanderfallen einer bürgerlichen und einer proletarischen Lebenswelt" als Ergebnis der Industrialisierung und Verstädterung (Mattheier 1986 ab; 1987; 1989 ab). Private Unterschichttexte zur sozialen A l l t a g s g e s c h i c h t e erschließt man in großer Zahl im Bochumer Ruhrgebietsprojekt (Grosse u. a. 1989; ähnlich Schikorsky 1989; 1990) aus Stadt- und Kirchenarchiven und iibriggebliebenen Abfallkartons in Privathäusern. Darin finden sich, meist erst aus der 2. Hälfte des 19. Jh., Anträge, Gesuche, Beschwerden, Krankmeldungen, Dank- und Glückwunschbriefe, Postkarten (nach 1890), Tagebücher und — zur Überbrückung weiter Entfernungen — Auswandererund Soldatenbriefe, Kriegserinnerungen von Veteranen usw. Diese Texte sind, erwartungsgemäß, von großer sprachlicher Unsicherheit und Stilmischung gekennzeichnet („den das Schreiben gehört nicht zu meiner Tägliegen Bescheftigung"), nach S. Grosse 1991; vgl. Grosse u. a. 1989.
Die Eingewöhnung literat gewordener Unterschichtangehöriger in die Textsorten- und Stilwelt des Bildungsbürgertums im späten 19. Jh. war nicht nur Anpassung um ihrer selbst oder um des sozialen Aufstiegs willen. Textsorten wie Brief, Tagebuch und Autobiographie dienten auch der Notwendigkeit, sich in der immer komplexer werdenden industriegesellschaftlichen Welt über neue Erfahrungen geistig zurechtzufinden und das Kurzzeitgedächtnis zu entlasten; Schreiben diente also auch der individuellen außenorientierten Konfliktbewältigung. Die Übergänge von rein sachgebundenen, nur für sich selbst als Erinnerungshilfen geschriebenen Rechnungs-und Anschreibebüchern von Bauern und Handwerkern (vgl. 5.8ST) zu reflektierenden Tagebüchern waren fließend (Maas 1991 ab). — Über sprachliche Merkmale und Niveaus in Texten aus der sozialen Unterschicht s. 6.12H! J. Innerhalb und außerhalb des Rahmens der praktischen Schreib- und Leseanforderungen an die Unterschichten und ihrer Anpassung an bür-
IJ: Schriftlichkeit in der Unterschicht, Arbeiterbildung
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gerliche Formen der Schreib- und Lesekommunikation gab es auch den politisch-pädagogischen Bereich der A r b e i t e r b i l d u n g . Um die Jahrhundertmitte bemühten sich kirchliche Gesellenvereine und liberale bürgerliche Arbeiterbildungsvereine darum, durch Unterricht in Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Ökonomie, Naturwissenschaften zunächst formale Defizite der Volksschulbildung zu kompensieren, ergänzt durch allgemeinbildende Vorträge bürgerlicher Intellektueller. Die Grenze zu Sportund Gesangsvereinen (s. 6 . 2 T ) war fließend (Lidtke 1973). Seit den 1860er Jahren differenzierte sich die Arbeiterbildung in Vereine, die nur kulturelle Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft betrieben, und politische Gruppen, die im Geist der Aufklärung politische Bildung förderten, radikalisiert auf der Grundlage der Theorien und Forderungen von M a r x und Engels mit dem Ziel, ein revolutionäres Klassenbewußtsein der Arbeiter zu erwecken. Da nur wenige Arbeiter hinreichend lesefähig waren und die politische Bildung von der Aufgabe der kompensatorischen Elementarschulbildung losgelöst wurde, konnte die politische Agitation im wesentlichen nur von einer Parteielite von ,oben' nach ,unten' mit fertigem Wissen monologisch erfolgen, was Verständnisschwierigkeiten mit der theoretischen Terminologie und Begrifflichkeit der Marxisten und mangelnde kritische Reflexion zur Folge hatte (Eisenberg 1983, 21 ff.); s. 6.161. Immerhin hat die Redner- und Debattierschulung und Pressearbeit der SPD dazu beigetragen, daß Ende des 19. Jh. große Teile der städtischen Unterschichten weitgehend politisiert wurden. Die Sozialdemokraten, besonders unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht, legten in der Arbeiterbildung großen Wert darauf, die bürgerliche Trivialliteratur fernzuhalten und die Arbeiter durch Vorträge, Leihbibliotheken und Volksbühnenveranstaltungen an die klassische Literatur heranzuführen. Am Ende des 19. Jh. konnten einzelne Arbeiter Autobiographien schreiben (Schildt u. a. 1981, 29; Engelsing 1973, 136). Mehr pädagogisch sollte die für Arbeiterkinder und deren Eltern in der Zeit von Bismarcks Sozialistengesetz (1878) herausgegebene Wochenschrift „Deutscher Jugendschatz" wirken, an der neben Liebknecht und Bebel junge Literaten der SPD und sympathisierende Wissenschaftler und Mediziner mitarbeiteten (Lesanovsky 1994). Die Einführung der Petroleumlampe (ab 1860) förderte das Lesen nach Feierabend in der dunklen Jahreszeit; Zeitunglesen war um 1900 auch in der Arbeiterbevölkerung Gewohnheit, s. 6.3G; 6.12H!
K. Eine privilegierende Art von Allgemeinbildung erhielten einflußreiche Teile des Mittelstandes im h u m a n i s t i s c h e n G y m n a s i u m , der Nachfolgeinstitution der alten Latein- oder Gelehrtenschulen (vgl. Bd. II: 5 . 2 G ) . Im Unterschied zu den wirtschaftsbürgerlichen Bürger-, Realoder Handelsschulen hatten sie bis um 1 9 0 0 für nur etwa 2 Prozent aller Schulpflichtigen mit dem Abitur (Österreich, Schweiz: Matura) ein Monopol für die Zugangsberechtigung zum Universitätsstudium. Nicht anders als in anderen europäischen Ländern, war das deutsche Gymnasium des 19. Jh. ein „Hemmschuh für die soziale Mobilität" (Craig 1 9 9 3 , 176), ein Instrument der ,Feudalisierung' des Großbürgertums im Zeit-
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
alter des Wirtschaftsliberalismus (vgl. 6 . I M ) . Bis weit ins 20. Jh. hinein w a r der Z u g a n g zu allen staatstragenden und sozial einflußreichen Berufen an eine humanistische Allgemeinbildung gebunden, bei der Latein, Griechisch, Deutsch und M a t h e m a t i k im Vordergrund standen, daneben Geschichte u n d Geographie, w ä h r e n d Naturwissenschaften u n d moderne Sprachen meist als Wahlfächer gelehrt oder vernachlässigt w u r d e n . Die Verpflichtung auf Latein als wichtigste Bildungssprache, auf klassische Literatur und politikferne Geisteswissenschaften f ü h r t e dazu, d a ß in der politischen Sprachkultur des traditionellen Deutschland bildungsideologische Überzeugungen und schöngeistige Rhetorik mehr galten als Realitätssinn und Kompromißbereitschaft. Im Unterschied zur angelsächsischen Bildungsübung des debating w u r d e Rhetorik an deutschen Gymnasien weniger als Lehre des vernünftigen geselligen Diskurses gepflegt, mehr als institutionalisierte literarische Stilisierung u n d perfekte Darbietung monologischer repräsentativer Textsorten. Bildung w a r in Deutschland mit Belesenheit identisch. M a d a m e de Staël, kritische Kennerin Deutschlands zur Zeit der Weimarer Klassik, sah dies im Kontrast: „In Frankreich studiert m a n die Menschen, in Deutschland die Bücher". M o d e r n e Literatur w u r d e jedoch möglichst ferngehalten. Der Eintritt ins Gymnasium im Alter von 10 Jahren war mit sprachlicher Sozialdistanzierung verbunden: Dialektsprechen war diskriminiert; die universitätsgebildeten Gymnasiallehrer (Professoren, Studienräte) pflegten einen von der Elementarschule her ungewohnten akademischen Kommunikationsstil: mit Fremdwörtern, stark hypotaktischem Satzbau, mit ironischem Sprechen und lateinischen Floskeln (veni vidi vici, mutatis mutandis, cum grano salis usw.), die kaum erklärt wurden und nach deren Bedeutungen man nicht zu fragen wagte. Schüler aus bildungsbürgerlichen Familien waren allgemein im Vorteil dank elterlicher Lernhilfen und der Gewöhnung an bürgerlichen Konversations- und Erziehungsstil. Die Abbruchquoten für soziale Aufsteiger waren sehr hoch, zumal die Volksschullehrer von den Lehrerseminaren her einen weniger akademischen Stil gewohnt waren. Gymnasiasten lebten oft vom Eintritt in die Sexta bis zum Militärdienst soziokulturell isoliert unter ihresgleichen. Die Schicht der ,Gebildeten' blieb bis um 1900 eine elitäre Minderheit: Trotz starken Bevölkerungswachstums und größerer Bildungsbedürfnisse der unteren Mittelschicht stieg die Zahl der Gymnasien in Preußen bis zur Mitte des 19. Jh. nur unwesentlich an, ihre Schülerzahl noch weniger als die anderer höherer Schulen (Wehler 1987, 2, 491 f.). Bis 1906, also in der Hochindustrialisierungsphase, stieg die Zahl aller höheren Schüler von 37.779 (1846) auf 323.277 an, gegenüber 6.134.398 Volksschülern (Grimberg 1988, 95). Im Laufe des 20. Jahrhunderts, besonders seit der Weimarer Zeit, wurde diese hohe bildungspolitische Zugangsschwelle allmählich abgebaut, seit den 1970er Jahren so stark, daß Bildungspolitiker heute über die qualitative Eignung des Abiturs als Nachweis der Studierfähigkeit streiten.
L. Ein dunkles Kapitel in der Bildungsgeschichte des 19. Jh. w a r die systematische Beschränkung der F r a u e n b i l d u n g . Ins G y m n a s i u m wurden M ä d c h e n nicht a u f g e n o m m e n , weil dies allgemein als unschicklich
KL: Gymnasium, Frauenbildung, Frauenbewegung
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und schädlich galt. Für Mädchen gab es zwar seit der Jahrhundertmitte kostspielige höhere Schulen (für höhere Töchter), an denen kein Latein, dafür moderne Fremdsprachen gelehrt wurden, vor allem aber Verhaltenstugenden der bürgerlichen Ehefrauenrolle: Haushaltsführung, kunstgewerbliche Handarbeit, Gelegenheitspoesie, höfliche Konversation, Musik, Kunst. Die Mode der Poesiealben und der (meist trivialen) Romanlektüre (s. 6.13D) war vorwiegend Sache der höheren Töchter, aber bald auch der Dienstmädchen. In der Frühphase der Industrialisierung (1800—1850) wirkte im oberen Mittelstand (Grundbesitzer, Kaufleute, Unternehmer, höhere Beamte und Offiziere) eine neue Arbeitsteilung der Geschlechter mit entsprechendem Mentalitätswandel (Häntzschel 1991; Schön 1987): Die Hausherren arbeiteten zunehmend außer Hause in ihren Firmen, Büros und Behörden. Ihre Hausfrauen erhielten Dienstpersonal zur Verfügung, also viel Freizeit für Müßiggang und meist recht oberflächliche Bildungsbeschäftigungen, die vor allem ihre Repräsentationspflichten zugunsten der Karriere des Ehemannes fördern sollten. Besonders seit den 1840er Jahren wurden (stets konservative) Anstandsbücher und Briefsteller, Lektüre-Ratgeber und belletristische Literatur vor allem für Frauen geschrieben. 1825 gab es in Deutschland etwa 500 Schriftstellerinnen, 1898 etwa 5000. Rilke klagte über ein literarisches „Frauen-Proletariat". Bis zum Ersten Weltkrieg kamen für unverheiratete höhere Töchter kaum andere Berufe in Betracht als mäßig bis schlecht bezahlte Stellen als Hauslehrerin, Erzieherin, Gesellschafterin oder Stiftsdame.
Aufklärerische Ansätze zur Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frau, wie sie noch in der Zeit der Romantik bei geistig einflußreichen Frauen wie Rahel Varnhagen und Bettina v. Arnim, dann in publizistischen Bemühungen des Jungen Deutschland deutlich wurden, konnten sich infolge der sozialpolitischen Reaktionspolitik nach 1 8 4 8 / 4 9 nicht fortsetzen. Konservative und wirtschaftsliberale, patriarchalische Einigkeit bestand bis zum Ende der wilhelminischen Zeit über eine grundsätzliche ,Unmündigkeit' und angebliche „Minderbegabung" von Frauen, denen grundlegende Bürgerrechte vorenthalten wurden (Craig 1993, 190ff.). Für die Gleichberechtigung von Frauen in der Zulassung zum Studium und zu akademischen Berufen sowie im Wahlrecht und in der Ehe hat sich vor allem Hedwig Dohm engagiert in schonungslos kritischen, witzig und rational argumentierenden Veröffentlichungen von 1872 bis 1919. Die Verwirklichung der vollen Chancengleichheit für Frauen begann erst um 1900 und ist bis heute nur teilweise erreicht. Im Vormärz und 1848/49 spielten — trotz zahlreicher für wirkliche Emanzipation der Frau eintretender Autorinnen (s. Möhrmann 1977; 1978) — Forderungen nach bildungspolitischer Gleichberechtigung von Frauen noch kaum eine Rolle; Frauenvereine waren damals nach dem herrschenden Verständnis der Geschlechterrollen hauptsächlich im Sinne von Unterstützung der kämpfenden, verwundeten oder verfolgten Revolutionäre tätig (Asche 1998). Auch die von 1850 bis 1852 bestehende „Hamburger Frauenhochschule" förderte progressive höhere Allgemeinbildung vor allem für
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
die traditionell-weibliche Berufsrolle der Erzieherin, hatte aber indirekt Wirkung für den Fortschritt der Frauenbewegung im späteren 19. Jh. (Sylvia Paletschek, in: Asche 1989, 21). Seit den 1860er Jahren gab es F r a u e n b e w e g u n g e n verschiedener Art: eine bürgerliche, mehr auf Bildung und Gesellschaftliches orientiert (Luise Otto-Peters, Helene Lange, Gertrud Bäumer u. a.) und eine sozialistische im Rahmen von Kapitalismuskritik und Sozialreformen (August Bebel, Lily Braun, Clara Zetkin u. a.). Um 1900 gab es über 850 Vereinigungen f ü r Frauenrecht in Deutschland. Wirksame politische und moralische Unterstützung gewährten fast nur die Sozialdemokraten. Erfolge k o n n t e n zunächst nur in Bezug auf Bildungschancen erreicht werden: Abitur und Universitätszulassung für Frauen erst um 1900, Promotions- und Habilitationsrecht in der Weimarer Zeit. Der Frauenanteil unter den Studierenden stieg seit dem Ersten Weltkrieg leicht an und erreichte erst um 1976 etwa ein Drittel. Aktives und passives Wahlrecht für Frauen gab es in Deutschland ab 1918, gesetzliche Gleichberechtigung ab 1949 in der D D R , ab 1957/1976/1992 schrittweise in der Bundesrepublik, 1971/1990 in der Schweiz. Um faktische Gleichberechtigung in höheren Berufen müssen für Frauenrechte Engagierte bis heute k ä m p f e n . Von der 1968 er Studentenbewegung setzte sich die Frauenrechtsbewegung ab und suchte, ζ. T. nach amerikanischem und französischem Vorbild, im Feminismus eine größere Autonomie. — Z u feministischer Linguistik und geschlechtsspezifischem Sprachverhalten s. 6.8W—Y! — Z u m Sprachgebrauch der Frauenbewegung s. 6.161, 6.8W—Y!
M . Die Gymnasien und (in komplementärer Rollenverteilung) die Höhere-Töcbter-Schulen zusammen haben im 19. Jahrhundert das gefördert, was man pauschal b i l d u n g s b ü r g e r l i c h e s D e u t s c h nennen und als S o z i a l s y m b o l (Mattheier 1991), d . h . als sprachliche Leit- und Orientierungsnorm für das Bildungsbürgertum und die von ihm beeinflußten Ober- und Mittelschichten erklären kann. Im Unterschied zu der „verstaatlichten Intelligenz" (Wehler) der absolutistischen Zeit, die durch akademische Bildung und davon ermöglichte privilegierte hofkulturelle und administrative Tätigkeiten partiellen Anteil an der Macht im Staat erlangt und schließlich zu den „defensiven Reformen" (Wehler) des aufgeklärten Absolutismus beigetragen hatte (s. Bd. II: 5.1EJR), hat sich bürgerliches Bildungsbewußtsein im 19. Jh. über die soziologische Kategorie ,Professionalisierung' hinaus zu einem überberuflichen gesamtgesellschaftlichen Selbstzweck entwickelt. Zwischen der absterbenden spätfeudalen Hof- und Adelskultur und der mächtig aufstrebenden kommerziell, technisch-naturwissenschaftlich und (indirekt) politisch orientierten Industriekultur des Besitzbürgertums hat sich die in immer mehr Berufen und öffentlichen Tätigkeiten einflußreiche Schicht der gymnasial und akademisch Gebildeten eine idealistische ,Ersatzreligion' geschaffen, mit der sie den Mangel an Besitz und politischer Selbstbestimmung kompensieren und die soziale Distanzierung vom unruhig und mobil gewordenen Kleinbürgertum und Arbeiterstand festigen, also die alte Ständeordnung durch eine neue Sozialhierarchie ersetzen konnte (Haltern 1985, 89 ff.; Engelhardt 1989, 63):
Μ —O: Bildungsbürgerliches Deutsch
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Durch „Einhegung, ja Kodifizierung bestimmter Teile der universal verfügbaren Wissensbestände als ,Bildung'", durch „ideologische Erhebung dieses Bildungswissens zum obersten Kulturgut" und „normative Überordnung von Bildungswissen über ,bloßes' Staats- und verwaltungspolitisches Herrschafts- wie ökonomisch-technisches Leistungswissen" wurde für ,Gebildete' eine gesellschaftliche „Sonderstellung" und relative „Handlungsautonomie" erreicht (Engelhardt 1 9 8 9 , 59). Dieser Bildungsausschnitt kann mit den Stichwörtern Latein, klassisches Altertum, klassische deutsche Literatur, deutscher Idealismus, Neuhumanismus angedeutet werden. In politischer Hinsicht erscheint dieses typisch deutsche soziokulturelle Wertsystem als „Flucht der bürgerlichen Intelligenz in die Fiktion einer sozialen H a r m o n i e " nach „vorindustriellen und vormodernen Leitbildern" und mit „Selbstgenügsamkeit privater Glückseligkeit" als „Selbstzweck williger Pflichterfüllung und leidenden Gehorsams gegenüber den politischen M ä c h t e n " (Haltern 1 9 8 5 , 100 ff.), auch gegenüber der unübersichtlichen Komplexität des modernen Gesellschaftslebens (Linke 1 9 9 1 , 2 5 5 ) .
Der sozialdistanzierende Zweck wurde aber ins Gegenteil verkehrt dadurch, daß diese Bildungsideologie im Laufe des 19. J h . auch auf den Adel stark wirkte, der seine absolutistische französische Sprachkultur durch eine bürgerliche deutsche zu ersetzen gezwungen war, im späten 19. J h . auch auf das Besitzbürgertum und große Teile der industriegesellschaftlich modernisierten Unterschichten, so daß am Ende des 19. J h . eine „Entkonturierung" des Bildungsbürgertums stattfand (Wehler), mit der aus einem gruppenspezifischen „Sozialsymbol" schließlich das dringend erwünschte „Nationalsymbol" des Bismarckreiches und schließlich ein brauchbares rationalisierendes Instrument der modernen Industriegesellschaft wurde (Mattheier 1991, 49 ff.). — Zur Beliebtheit von Rezitationsveranstaltungen im 19. J h . s. 6.6X1 — Zum nationalistischen Deutschunterricht seit der wilhelminischen Zeit s. 6.16K! N. Das pädagogisch und sprachnormerisch popularisierte Bildungsdeutsch, von dem sich Schriftsteller um die Jahrhundertwende sprachkritisch abwandten (s. 6 . 8 G H , 6.13E), ist weniger ein Inventar bestimmter Sprachmittel (ein Soziolekt, ein soziale Varietät, s. 6.12G) als vielmehr ein System bestimmter E i n s t e l l u n g e n zur Sprache (Cherubim 1983 b, 406): Äußerste Normenstrenge in Orthographie und Hochlautung (s. 6 . 6 H —R, 6 . 6 X — Z ) mit idealisierter überregionaler Einheitlichkeit, besonders innerhalb des Bismarckreiches, mit einem sehr schriftsprachtypischen Satzbau auch in offizieller Sprechsprache (s. 6 . 9 M —O), mit vielfältigen sprachkritischen Aktivitäten (s. 6.8D—F). Neben dieser standardsprachlichen Realisierungsweise des bildungsbürgerlichen Deutsch hat sich in der privaten Öffentlichkeit des deutschen Bürgertums des 19. J h . ein System s p r a c h l i c h e r A n s t a n d s r i t u a l e entwickelt, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als gutbürgerliches Benehmen nachgewirkt hat. Anhand der vielen Anstandsbücher können die Prinzipien und Regeln des gutbürgerlichen Gesprächsverhaltens studiert werden (Linke 1988; 1991):
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Die Zahl der Anstandsbiicher, die sich mit Stichwörtern wie Komplimentieren, Höflichkeit, Anstand, Etikette, feine Sitte/Lebensart, feinest gutes Benehmen, guter Umgang, gutes Auftreten, guter Ton betitelten, stieg besonders in den ,Wirtschaftswunderzeiten' an (1870—1910, 1950—70). Sie lehrten sprachliche Verhaltensregeln für Einladungen, Festessen, Festakte, Anstandsbesuche usw. Auffällig ist, im Vergleich mit spätfeudalen Komplimentierbüchern des 18. und frühen 19. Jh., eine Schwerpunktverlagerung von lebhafter Körpersprache, Gestik und Mimik zu einer verhaltenen, möglichst rein s p r a c h l i c h e n Art von Konversation. Der Mangel an renommierter Herkunft, Besitz und politischem Einfluß wurde mit hochentwickelter Sprachkultur kompensiert. Verhalten gegenüber Gleichgestellten wurde wichtiger als das gegenüber Höhergestellten. Man sollte nicht räsonieren, streiten oder politisieren, nicht reden, sondern — losgelöst von konkreten Handlungszwecken — sich unterhalten als Selbstzweck der Freizeitgestaltung und zur sozialen Statusbestätigung. Alles sollte leicht, kurz, unverbindlich und nicht kontrovers vorgetragen werden. Rascher, häufiger Themenwechsel und Gleichzeitigsprechen mehrerer Gesprächsteilnehmer war deshalb nicht nur toleriert, sondern erwünscht. So konnten auch die Damen trotz ihrer eingeschränkten, schöngeistigen Bildung mit Standardthemen, kleinen Bemerkungen, Literaturzitaten, Redensarten oder entwaffnendem Lächeln zu diesem sprachrituellen Rollenspiel systemkonform erfolgreich beitragen, während sich die Herren mit Schwadronieren im schnarrenden Leutnantston (s. 6.12F) oder mit lautem Witzeln und dröhnendem Gelächter bequem entziehen durften. Z u m Wohlklang der Artikulation kam (nach Linke, a. a. O.) gegen Ende des 19. Jh. in den Empfehlungen korrekte Aussprache, normgerechte Grammatik und distinguierte Wortwahl hinzu, auch Vermeidung pragmatischer Partikeln usw. (s. 6.12G). Bestimmte Themen galten als unschicklich (ζ. B. politisch oder konfessionell Strittiges), andere als empfehlenswert (Konzert/Theaterbesuch, Auslandsreisen, Tagesneuigkeiten, Wetter). Bestimmte rituelle Textsorten mußten Herren beherrschen: Eröffnungsansprache, Tischrede, Toast, Damenrede, Anekdotenerzählen, Gedenkrede, Schlußwort; Damen lernten von Kind an Gedichteaufsagen, Rätselspiele, Laienspiel. Eine wichtige Rolle als Bildungssignale spielten Literaturzitate, die man sich vorsorglich aus Georg Büchmanns berühmter Zitatensammlung „Geflügelte Worte" holte, die von 1864 bis 1912 in 25 Auflagen weit verbreitet war (s. 6.9X).
O. Die Entwicklung von A n r e d e - und H ö f l i c h k e i t s f o r m e n war im 19. Jh. von einer gemäßigten Verbürgerlichung altständischer Gewohnheiten, in der zweiten Hälfte des 20. Jh. von einer Entbiirgerlichung im Sinne der Hierarchien abbauenden pluralistischen Massengesellschaft gekennzeichnet (Besch 1994): Höflichkeit war eine „sublimierte Spätform" der „Abstandsmarkierung" in der spätfeudalen höfischen Gesellschaft und davon privilegiert-abhängigen Teilen der Mittelschichten gewesen. Das Gewaltmonopol der jeweils oberen Hierarchieebenen hatte unter den Bedingungen der Zivilisation' von den Angehörigen der unteren Ebenen nur durch die Verwandlung der „Fremdzwänge" in „Selbstzwänge", „Selbsterniedrigung" ertragen werden können (Elias 1988; Montandon 1991). Neben Kleidung, Sitzordnung, Körperdistanz, Körpersprache, Gestik, Mimik usw. waren dafür im 17./18. Jh. vor allem auch sprachliche Rituale der Titulatur und Anrede, der Begrüßung und
Μ —O: Bildungsbürgerliches Deutsch
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des Komplimentierens ausgebildet worden (vgl. Bd. II: 5.IE; 5.9Y). Da diese Formen der strengen Etiquette langezeit nur von einer kleinen Oberschicht und meist nur auf Französisch oder in elitärem Soziolekt beherrscht wurden (mit dem beabsichtigten Risiko der Blamage von Ungeübten) und da die internationale Kunst der Hofberedsamkeit ohnehin mit Raffinessen des Sich-Verstellens verbunden war (s. Bd. II: 5.2E), lag bei der Übernahme höfischer Sitten ins Deutsche und ins Bürgerliche Mißtrauen nahe: „Im Deutseben lügt man, wenn man höflich ist", läßt Goethe den Baccalaureus in Faust II sagen (H. Weinrich 1986). Diese bürgerliche Vorsicht oder Reserviertheit läßt sich von Harsdörffer über Pietismus, Rousseauismus und Romantik als Gegenströmung nachweisen, die Formen der Höflichkeit nur mit einem grundsätzlichen Wandel der Motivation beibehielt: Statt Hierarchie und Untertänigkeit, Abstand und Verstellung wird Gleichberechtigung, Besitz, Leistung, Freundschaft und sogar individuelle Herzensnähe zur Grundlage der bürgerlichen Höflichkeit des 19. Jh., wobei das berühmte aufklärerische Anstandsbuch des Freiherrn v. Knigge (1788) viel zur kommunikationsfreundlichen Überbrückung zwischen Adel und oberer Mittelschicht in Deutschland beigetragen hat (Besch 1994; Montandon 1991). — Zum Wandel von Anreden s. 6.9YZ! P. Eine ähnliche Funktion wie die Anstandsbücher hatten die B r i e f s t e l ler, die von den Traditionen der Rhetorik und der Briefschreibkultur der Empfindsamkeit her im 19. Jh. als Sprach- und Stillehrbücher zur Ergänzung des hierin ungenügenden Deutschunterrichts den Schreibbedürfnissen sozial aufsteigender Bevölkerungsschichten angepaßt werden mußten (Etti 1983; 1984): Viele obsolete Stilmuster wurden noch weitergelehrt, vor allem bei sozial und situativ differenzierten Eingangs- und Schlußfloskeln und in Bezug auf Höflichkeit und angemessene Gefühlsäußerung. In den Universalbriefstellern (19. und frühes 20. Jh.) wurden immer mehr alle möglichen konkreten Anlässe und Lebensbereiche exemplarisch berücksichtigt, vom Geschäftsbrief und der amtlichen Eingabe bis zum Liebes- oder Kondolenzbrief, einschließlich Allgemeinbildung und Sprachkritik, oft in den Bereich der Anstandsbücher übergehend. Zur Sozialdifferenzierung dienten noch Mitte des 19. Jh. unterschiedliche Schrift- und Briefpapiergrößen und -arten sowie unterschiedliche Abstände zwischen Anrede und Text, Briefschluß und Unterschrift, z. B. handbreit an Höhergestellte, daumenbreit an vertraute Freunde (Besch 1994, 256 f.). — Das Briefschreiben galt im späten 19. Jh. noch so sehr als schwer erreichbare Stilkunst, daß die Einführung der Correspondenzkarte (ab 1870) und der Ansichtspostkarte (kurz vor 1900) für viele aus der Unterschichtbevölkerung eine erlösende Befreiung aus Stilzwängen bedeutete. Die modernen Briefsteller des 20. Jh. haben sich weitgehend auf sachlichen Mitteilungsstil für konkrete objektive Aufgaben beschränkt, so daß die Textsorte Brief heute als entlite-
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6 . 2 . Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, K o m m u n i k a t i o n
rarisiert und nicht mehr als Standesritual gelten kann, nur noch als Mittel, den notwendigsten Pflichten zu rechtzeitiger korrekter, kooperativer Information zu genügen. D e r Rückgang des B r i e f s c h r e i b e n s in der 2. Hälfte des 2 0 . J h . ist von der Einführung des Telefons als beschleunigendes, direkteres Ersatzmedium bedingt. Die eingegangenen Briefsendungen betrugen im Deutschen Reich pro Kopf der Bevölkerung 1 8 7 0 : 1 2 , 1 6 ; 1 9 0 0 : 5 8 , 5 7 ; 1930: 1 0 0 , 5 0 ; 1 9 4 0 : 8 9 , 5 0 (Grimberg 1 9 8 8 , 176). Die Z a h l für 1 9 4 0 wäre sicher noch niedriger, wenn der Z w e i t e Weltkrieg und die Nachkriegsjahre nicht, aus bekannten Notwendigkeiten der Menschenmassenbewegungen, die letzte Blütezeit des Briefschreibens gewesen wären. Auch im privaten Verkehr zwischen B R D und D D R hat die Unumgänglichkeit des Briefschreibens noch bis in die 80er J a h r e gedauert, da die allgemeine private Verfügbarkeit des Telefons im östlichen Teil Deutschlands erst nach der Neuvereinigung technisch möglich wurde. Der private Anteil am Briefaufkommen ist stark gesunken: nach 1 9 8 4 auf weit unter 2 0 % ; die Briefkampagne „Schreib mal wieder!" der Bundespost seit 1 9 8 0 hat daran wenig geändert, da solche Bedürfnisse angesichts der menschlichen Unmittelbarkeit des Telefongesprächs nicht durch kommerzielle Werbung gesteigert werden können (Grimberg 1 9 8 8 , 2 0 0 ) .
Q. Ersatz für Briefschreiben ist das T e l e f o n i e r e n nur teilweise, jedenfalls nicht in Bezug auf sorgfältige Vorplanung der Formulierung und auf juristische Gültigkeit von Sprachhandlungen. Dagegen ermöglicht es freieren, spontaneren, ungenierten Sprachgebrauch, einen natürlichen, nicht durch Wortwahl reglementierten Ausdruck von Emotionen auch durch Stimmton und Rhythmus, sowie unverzögerten, direkten Dialog mit den Feedback-Möglichkeiten der Sprechsprache (außer Mimik, Gestik, Körpersprache); es erlaubt situationsabhängige Zeitreferenz, Sprachnormentoleranz und überregionale Verständlichkeit (Schenker 1977). Das Fehlen des visuellen Kontakts hat zur telefonspezifischen Ritualisierung kurzer, paarweise geordneter Gesprächssequenzen geführt, vor allem a m Anfang zu Kontakteröffnung, Identifizierung, Begrüßung, sozialer Beziehung, T h e m a w a h l , am Ende zur Rechtfertigung der Beendigung und im Mittelteil zur Kontaktsicherung; Rituale, deren Unterlassung Beziehungsstörungen und Sanktionen zur Folge haben können (Hess-Lüttich 1 9 9 0 a). Über das herkömmliche, natürlich-dialogische Telefonieren im Privat- und Berufsleben hinaus hat man in letzter Zeit im Medienverbund neue, sozial weitergreifende, institutionalisierte Arten der Telefonbenutzung entwickelt, die sowohl in Sprachhandlungsstrukturen als auch in sozialen Beziehungen mit noch nicht genügend erforschten Problemen und Folgen verbunden sind: Anrufbeantworter, skript- oder computergestütztes Telefongespräch, Konferenzschaltung, subkultureller Telefontreff, Telefonberatung oder -seelsorge, Telefonsex, Telemedizin, H o m e s h o p ping, Hörerrückmeldung in R a d i o und Fernsehsendungen, Integrale Digitaldienste, D a t e n a u t o b a h n usw. (Hess-Lüttich 1 9 9 0 a, 2 5 0 ff. m. weiter Literatur; G e i ß n e r / R ö s e ner 1 9 8 7 ; Nickl/Seutter 1995).
R. Die Reform der deutschen U n i v e r s i t ä t e n in der Phase der aufgeklärt-absolutistischen ,Reformen von oben' (s. Bd. II: 5.2R), verbunden mit dem Namen Wilhelm v.Humboldt und dem Leitprinzip ,Freiheit der
Ρ —R: Briefschreiben, Telefonieren, Universitäten
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Forschung und Lehre', gab den Geisteswissenschaften den Vorrang. Sie war bewußt dem napoleonischen Modell der Hochschulreform (Bildungszentralismus, enzyklopädisches Wissen) entgegengesetzt (Craig 1993, 179). So konnten sich auch die Naturwissenschaften zwar frei und auf hohem methodologischem Niveau entwickeln; aber sie blieben, teilweise bis ins 20. Jh., den Philosophischen Fakultäten untergeordnet, zu denen um 1850 ein Viertel der Studenten gehörte. Die Technikforschung und -ausbildung wurde in Fachhochschulen und Technischen Hochschulen, die praktische Anwendung jeder Wissenschaft in Referendariaten und Praktika ausgegliedert. Die Dominanz der vom deutschen Idealismus geprägten Geisteswissenschaften hatte zur Folge einerseits die Konsolidierung von „flexiblen, allgemein gebildeten, nicht nur hochspezialisierten Funktionseliten", andererseits einen bildungspolitischen Zustand, in dem schöngeistige Bildung mit der Leerformel humanistisch wie ein „Religionsersatz" wirkte und „eine quasireligiöse Wissenschaftsgläubigkeit nährte" (Wehler 1987, 1, 275; 2, 507 ff.). Dies hat sich auf die Stilistik der deutschen Öffentlichkeitssprache bis ins 20. Jh. ausgewirkt. — Zu Szientismus und pseudowissenschaftlichem Jargon s. 6.14E—G! D a s Erfolgsrezept der deutschen Universitäten bestand in leistungssteigernden Regelungen u n d L e h r m e t h o d e n : D a s staatliche M o n o p o l f ü r finanzielle G e s a m t p l a n u n g , f ü r beruflich n u t z b a r e A b s c h l u ß p r ü f u n g e n und f ü r die Bestätigung von Berufungen w i r k t e — neben politisch-disziplinierenden Eingriffen — der traditionellen „zünftlerischen K o r r u p t i o n s n e i g u n g " der Professoren entgegen (Wehler 1987, 1, 296), w u r d e aber k o m p e n s i e r t d u r c h deren Vorrecht zur inhaltlichen u n d methodischen P l a n u n g , die sich in persönlicher wissenschaftlicher K o n k u r r e n z als kontrollierte Fortentwicklung innovativer Wissenschaften f r u c h t b a r a u s w i r k t e . An die Stelle der alten stoffr e p r o d u z i e r e n d e n Textlektüre t r a t e n die systematischen L e h r f o r m e n der (in aktuelle Forschung e i n f ü h r e n d e n ) Vorlesung, auch Kolleg g e n a n n t , und des (zu wissenschaftlicher Beweisführung u n d A r g u m e n t a t i o n anleitenden) Seminars. Professoren u n d Prwatdozenten (habilitierte Wissenschaftler o h n e feste Stelle und Besoldung) w u r d e n zur Teilnahme an der internationalen Gelebrtenrepublik d u r c h (kritisch rezensierte) P u b l i k a t i o n e n verpflichtet.
Die im Laufe des 19. Jh. vollzogene Verbeamtung der P r o f e s s o r e n wirkte sich innerhalb der Hochschulen ebenso wie in der politischen Öffentlichkeit im Sinne der „verstaatlichten Intelligenz" (Wehler) auf die Entwicklung der Demokratie ungünstig aus: Regierungskonformität wurde vorherrschend, Fälle von Widerstand — ζ. B. der Protest der Göttinger Sieben (1837), zu denen die Brüder Grimm gehörten — waren Ausnahmen und wurden mit Lehrverboten und Entlassungen verfolgt. Die Lehr- und Lernfreiheit wurde stets durch staatliche Finanzierung reguliert, zeitweise auch durch rigorose Eingriffe von Regierungsseite. Sozialdemokraten hatten in der wilhelminischen Zeit wenig Aussicht auf Berufung. Vor 1914 hat man die Professoren einmal polemisch „intellektuelle Leibwache der Hohenzollern" genannt (Craig 1993, 189). Ein ex-
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
tremes Beispiel für professoralen ideologischen Staatsdienst' war Heinrich v. Treitschke mit seinem großen Einfluß auf den wilhelminischen Radikalnationalismus und Antisemitismus (vgl. 6.IM). Die hilfreiche Rolle der deutschen Universitäten bei der Verbreitung und Durchsetzung des Nationalsozialismus kann also nicht allein aus Willküraktionen der Naziführer erklärt werden. Auch auf der Seite der S t u d e n t e n entwikkelte sich ein starkes Bewußtsein neuer ständischer Privilegierung und Teilhabe an der Macht im öffentlichen Leben. Studentensoziologisch waren die deutschen Universitäten des 19. Jh. gekennzeichnet von bildungsbürgerlicher ,Berufsvererbung' einerseits und begrenzter, integrierender Offenheit für Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht andererseits (Wehler 1987, 2, 513 ff.; Craig 1993, 177ff.): Die Studentenzahlen stiegen vor allem zwischen 1815 und 1830 und zwischen 1860 und 1880, wohl als Auswirkung der Befreiungskriege und der industriellen Hochkonjunktur. In Halle hatten Söhne akademisch gebildeter Väter schon um 1770 einen Anteil von 5 5 , 4 % , Söhne von Handwerkern und Subalternbeamten 2 1 % , von Kaufleuten 9 % , vom Landadel 4 % . Der bildungsbürgerliche Anteil blieb im ganzen 19. Jh. bei 60 bis 7 0 % , obwohl diese Schicht nur etwa 2—5% der Gesamtbevölkerung ausmachte; der kleinbürgerliche stieg auf rund 3 0 % . Der Anteil evangelischer und jüdischer Studenten war unverhältnismäßig hoch. Studierende Frauen und Arbeiterkinder gab es erst ab etwa 1900 vereinzelt. Ein Ausgleich solcher sozialer Ungleichheiten wurde seit den 1920er Jahren und nach 1945 erreicht, in der DDR in umgekehrter Richtung: Akademikerkinder (ohne deutlich SED-konforme Qualifikation der Eltern) durften nicht studieren.
S. Bei den S t u d e n t e n v e r b i n d u n g e n (1928: 56,5% der Studierenden) gab es zwei politisch unterschiedliche Richtungen. Aus den traditionellen Landsmannschaften oder Nationen (landespatriotisch orientiert) entstanden seit Ende des 18. Jh. die Korporationen oder Corps. Als farbentragende und schlagende Verbindungen pflegten sie feudale Rituale: gruppenexklusive Renommierübungen mit übersteigertem persönlichem Ehre-Begriff, mit der Pflicht zur Satisfaktion, die in Mensuren oder Duellen realisiert wurde, mit dem bewußt angestrebten Risiko von Gesichtsnarben oder tödlichem Ausgang. Nach außen hin präsentierten sie sich mit spektakulären Trink, Rede- und Gesangsritualen, mit arrogantem Verhalten gegenüber den Philistern (nichtfeudal lebenden Studenten und Stadtbürgern), teilweise auch gegenüber jüdischen Mitstudenten und Mitbürgern. Bis 1879 bildeten die Studenten als cives academici einen eigenen Stand unter der Gerichtsbarkeit des akademischen Senats. Diese weitgehend der Lebens- und Denkweise von Offizieren und Adligen angepaßte elitäre Subkultur wirkte sich innerhalb der Universität als feudalisierender Anpassungszwang auf kleinbürgerliche Aufsteiger aus, auch auf die gesellschaftlichen Machtstrukturen in der Öffentlichkeit: Seit dem späten 19. Jh. wurden über die Alten Herren die jeweiligen Bundesbrüder in einflußreichen Berufen bevorzugt, besonders in Rechtswesen,
RS: Universitäten, Studentenverbindungen
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Verwaltung, Militär, Medizin, Industrie. Diese konservativen oder reaktionären Gruppen haben viel zu den antidemokratischen, chauvinistischen und antisemitischen Tendenzen des wilhelminischen Deutschland beigetragen (Craig 1 9 9 3 , 1 8 9 f . ; s. 6 . I M ) . Die aus der freiheitlichen Gegenbewegung ab 1 8 1 5 entstandenen nationalliberalen Burschenschaften, die in der Restaurationszeit als Republikaner und alldeutsche Patrioten verfolgt wurden, konnten demgegenüber weniger Einfluß gewinnen. D i e mehr philosophischen, christlichen, musischen oder sportlichen moderneren Arten von Studentenverbindungen seit der zweiten H ä l f t e des 19. J h . standen eher im Hintergrund des offiziösen Studentenlebens oder wurden durch die wilhelminische Z e i t m o d e den Ritualen der dominierenden Korporationen angepaßt. Die kommunikative Tätigkeit der Studentenverbindungen hat im Laufe des 19. Jh. weit über Jugend- und Standessprache hinausgewirkt und ist deshalb im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Vereinsleben zu sehen (Objartel 1989): In der 2. Hälfte des 19. Jh. ist eine beschleunigte Differenzierung der studentischen Organisationsformen und Spezialisierung ihrer Textsorten festzustellen; Konstitutionen, Ehren- und Duellkomments, Kommersordnungen, Protokollbücher, Chroniken, Stammbücher wurden meist mit juristischer Akribie und bürokratischem Aufwand geschrieben. Mit der Tendenz zu Fachsprachlichkeit, Verdeutschungen, Abkürzungen und nationaler Vereinheitlichung der Terminologie war diese studentische Vereinsschriftlichkeit sehr zeitgemäß. Der wachsende Einfluß der Alten Herren seit etwa 1880 trug viel zur archaisierenden Sprachstiltendenz und zur Weiterverbreitung von Elementen der Korporationssprache als allgemeiner Akademikerjargon bei, bis hin zu Einflüssen im allgemeinen öffentlichen und polemisch-politischen Sprachgebrauch; s. 6.12F. — Ebenso gut überliefert und typisch für das gesellig-politische Vereinsleben im 19. Jh. sind die Studentenlieder in rund 350 Erstauflagen von weitverbreiteten Studentenliederbüchern (Henne 1989).
T . Während sich im studentischen Verbindungswesen die frühen demokratischen Tendenzen der Burschenschaften wegen zu starker Kontrollen und Verbote seitens der Universitäten und restaurativen Regierungen nicht durchsetzen konnten, entwickelte sich das frühliberale V e r e i n s w e s e n — in der Tradition der spätaufklärerischen Societäten und Lesegesellschaften (s. Bd. II: 5 . 2 H L , 5 . 5 H ) zu einer starken integrativen Kraft, die mit „neuhumanistischer Bildungsreligion", politischem Liberalismus und nationaler Emanzipation im Laufe des 19. J h . für die verschiedenen Gruppen und Schichten des deutschen Bürgertums eine „gemeinbürgerliche Identität" schaffen konnte (Wehler 1 9 8 7 , 2, 2 3 8 ff.). Anstelle von , H e r k u n f t ' und ,Stand' setzten sich Prinzipien wie ,Bildung' und ,Leistung' immer mehr durch, teilweise auch beim Kleinbürgertum, das in den Vereinen aktiven Anteil nahm. D i e schriftliche und mündliche Disziplinierung mit Statuten, Protokollen, Berichten, Anträgen, Beschlüssen, Verlautbarungen usw. (Cherubim 1 9 9 8 a) und die regelmäßigen, dank der Eisenbahnen auch überregionalen Treffen mit Ansprachen,
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Diskussionen und Sprachritualen machte das Vereinsleben zu einer Vorübung für späteren Parlamentarismus und demokratische Öffentlichkeit. Glänzende, politisch wirksame Vorbilder waren das Wartburgfest (1817) und das Hambacher Fest (1832). Wegen der Heterogenität und der scharfen Kontrolle durch Polizei und Spitzel konnte sich im frühliberalen Vereinswesen über emotionale Gruppenrituale hinaus eine rational-argumentative Rhetorik von der Art der englischen debating-Tradition nur schwer entwickeln. M a n w a r teilweise zu para- und nichtsprachlichen und indirekten Kommunikationsformen gezwungen: Liedersingen, Dichterehrungen, Massenaufmärsche, Fackelzüge, Bücher-und Uniformverbrennungen, Festplatzschmuck, schwarzrotgoldene Fahnen und Bänder. Wortführer und Anreger waren von den Befreiungskriegen her (Fichte, Arndt, Jahn, Körner, v. Schenkendorf) bürgerliche Intellektuelle, Burschenschaftler, literarische Publizisten und politische Lyriker, vor allem aus dem 1 8 3 5 verbotenen Jungen Deutschland im Vormärz (s. 6 . 1 6 D — F). Nach dem Wiederaufleben des Vereinslebens im Vormärz muß es zur Zeit der 1 8 4 8 er Revolution in den deutschsprachigen Ländern etwa 2 . 0 0 0 Vereine mit etwa 2 5 0 . 0 0 0 Mitgliedern gegeben haben (Wehler 1 9 8 7 , 2, 4 0 2 f f . ) . Die T u r n b e w e g u n g entstand in der napoleonischen Zeit durch den deutschen Turnvater Friedrich Ludwig Jahn, der aufgrund spätaufklärerischer Anregungen Turnübungen und Turnplätze einführte, mit der Zielvorstellung, damit die physische und moralische Kraft des Volkes im Sinne von ,Freiheit' und nationaler ,Einheit' über alle Standesgrenzen hinweg zu stärken. Die Bewegung wurde als Teil der nationalen und liberalen Bestrebungen unter dem Metternich-Regime 1819/20 verboten. Nach Aufhebung des Verbots nahm sie einen neuen Aufschwung seit dem ersten überregionalen Turnfest in Frankfurt/M. 1841; 1848 hatte sie insgesamt 90.000 Mitglieder, vorwiegend aus handwerklichen und kleinbürgerlichen Kreisen (Wehler 1987, 2, 403). Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848/49 erhielt das (von Jahn aus dem ritterlichen Mittelhochdt. wiederbelebte) Wort turnen eine Konnotation des Altmodisch-Kleinbürgerlichen, so daß es seit dem Ende des 19. Jh. allmählich von oberschichtlichen Freizeitbeschäftigungen her durch das engl. Lehnwort Sport (im 19. Jh. noch oft in der Pluralform sports) ersetzt wurde. In den modernen Sportvereinen sind zwar lokalpatriotische und nationale Motive der alten Turnerbewegung erhalten und weiterentwickelt, nicht aber ihre liberal-emanzipatorischen Ziele. — Seit der Zeit der Demagogen-Verfolgungen um 1830 wurden M ä n n e r g e s a n g v e r e i n e gegründet, bis 1848 1100 mit rund 100.000 Mitgliedern, besonders in den liberaleren Ländern von Baden und Württemberg bis Sachsen (Wehler 1987, 2, 402 f.). Im Gesang konnte man patriotische, nationale und freiheitliche Texte leichter zu Gehör bringen und indirekt zur kollektiven politischen Meinungsbildung benutzen als in der zensurbedrohten öffentlichen Rede (s. 6.16F). Seit dem ersten Deutschen Sängerfest 1845 in Würzburg gab es viele überregionale Sängertreffen.
Seit der Mitte des 19. Jh. wurde das deutsche Vereinswesen zu einer quasipolitischen Massenbewegung mit subsidiären (ideologischen, sozial- und ordnungspolitischen) Funktionen (Nipperdey 1976; Cherubim
TU: Vereinswesen, öffentliche Rede
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1998 a). Nachdem die eigentlich politisch-emanzipatorischen Aufgaben mehr und mehr von (ζ. T. aus Vereinen entstandenen) P a r t e i e n übernommen worden sind, besonders seit der Reichsgründung, wurde das Vereinswesen teils von staatskonform-affirmativen (Krieger-, Schützen-, Flotten-, Kolonial-, Geschichtsvereine usw., s. 6.IM), teils von mehr privaten, lokalpatriotischen, freizeitgestaltenden Zielen bestimmt. Als partikulärer, repräsentativer ,Beitrag' zur Politik ebenso wie als Politik-Ersatz stellte das Vereinsleben des 19. Jh. eine einflußreiche, konstitutive Vorbereitung der „familialen Öffentlichkeit" der modernen Massengesellschaft dar (Cherubim 1998 a). U. Als unterentwickelt, verfallen oder fehlend gilt in Deutschland die Kultur und Kunst der ö f f e n t l i c h e n R e d e , vor allem im Vergleich mit England und den USA. Seit Tacitus (Dialogas de oratoribus) wissen Gebildete vom notwendigen Zusammenhang der Redekunst mit Republik, Demokratie und Freiheit. Da es diese Vorbedingung im absolutistischen Untertanenstaat, in dem höfisches Komplimentieren, Kabinettspolitik und Geheimdiplomatie, Trommelwirbel und Säbel herrschten, nicht geben konnte, wurde die Klage über den Verfall der Rhetorik im noch halbabsolutistischen Deutschland zum weitverbreiteten schöngeistigen Topos; der Zusammenhang mit der abstinenten Distanzierung deutscher Literaten und Gelehrten vom Politischen in der Zeit der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus ist deutlich (vgl. Bd. II: 5.10V). Seit der Aufklärung sind zahlreiche derartige Äußerungen nachzuweisen (Jens 1969, 16 ff.; Geißner 1969, 13 ff.; Kalivoda 1986, 288 ff.): von Hallbauer, Gottsched, Sulzer, Schubart, Herder, Schiller u. a.; in der politischen Aufbruchsstimmung der napoleonischen Zeit von Adam Müller, Fichte, Arndt, in der Restaurationszeit von Börne, Jochmann (vgl. Bd. II: 5.12Z). Die Unterdrückung öffentlicher Rede hatte — was besonders Nietzsche erkannte — zur Folge, daß die Lehre von der Beredsamkeit in Deutschland nach Vorbild der lutherischen Predigt zu abstrakt und monologisch als schöngeistige Stilistik aufgefaßt wurde: ohne adressatenbezogene Angemessenheit („kein Publikum"), ohne persuasives zweckorientiertes Engagement (mehr docere als delectare und movere), zu sehr schreibsprachlich, „dem Ethos den Vorzug vor dem Pathos, dem Inhalt den Vorzug vor der Form gebend" (Jens 1969, 41). Selbst Fichte, dessen Reden in ganz Deutschland (und darüber hinaus) eine große nationalpolitische, antinapoleonische Wirkung hatten, sprach so ,gebildet', politisch abstrakt und so bewußt nur für ,Gebildete', daß er von der französischen Zensur verschont wurde, da er für die nichtakademische Öffentlichkeit ja kaum verständlich war (Weithase 1961, 404ff.). Die Rhetorik-Klage wurde seit Kant (Kritik der Urteilskraft) zur V e r a c h t u n g der Rhetorik gesteigert: Sie sei pomphaft, eitel, trickreich, nichtig, liederlich, unnatürlich, zu intellektuell usw.; und man lehnte vom schöngeistigen Poesie-Standpunkt ihre Orientierung am Zweckhaft-Sozialen, an Regeln und Konventionen ab. So konnte sich auch keine Lehre und Tradition des guten deutschen Prosastils entwickeln (Jens 1969, 29ff.).
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Bezeichnend für die restaurativen antidemokratischen Hintergründe dieser antirhetorischen Haltung ist die „Rhetorik-Verachtung des erfolgreichsten Redners der Zeit, Bismarcks" (Breuer 1974, 150). In staatsautoritärer Art war die Mißachtung des ,nur Redens' mit einer Überbewertung der Aktion verbunden; gutes Reden galt als Sache von Predigern und Gelehrten oder aber von Rebellen wie Forster, Büchner, Blum und den Sozialdemokraten von Lassalle und Bebel bis Rosa Luxemburg (Jens 1969, 22, 26).
Rhetorik-Klagen und Rhetorikverachtung in Deutschland seit dem 19. Jh. sollten sprachgeschichtlich differenziert betrachtet werden. Beide kulturkritischen Haltungen sind philosophische, literarische und politische Ideologien seit Herder, Kant und Goethe, die sehr wohl aus der politisch-sozialen Entwicklung erklärbar sind (Breuer 1974): War die Ablehnung der Rhetorik des Ancien Regime und ihre Ersetzung durch eine zweckfreie, kreative Kunsttheorie in der ,Geniezeit' (vgl. Bd. II: 5.10Q—T), verbunden mit der Klage über die restaurative Behinderung politischer Rede, noch emanzipatorisch im Sinne von Aufklärung und Revolution motiviert, so wurde von der Restaurationszeit bis zur wilhelminischen Zeit diese Ideologie zum Selbstzweck der ästhetisierenden Politikflucht und obrigkeitlichen Anpassung der staatlich geförderten Geisteswissenschaftler; man machte aus der politischen Not eine bildungsbürgerliche Tugend. Entgegen dieser Ideologie ist jedoch die Rhetorik im Schulunterricht noch bis Ende des 19. Jh. wichtiger Bestandteil der Lehrpläne geblieben (Breuer 1974). Die heutigen populären rhetorischen Ratgeber sind eine sehr heterogene, „alltagstheoretische" Mischung aus aufklärerischer Tradition der „Manierenbücher", Elementen des Aufsatzunterrichts, Le Bons Massenpsychologie und „inhaltbezogener" Grammatik (Bremerich-Vos 1991). Regeln der politischen Rhetorik werden unbesehen auf den „Führungsstil" in der Wirtschaft übertragen; das Versprechen der Erlernbarkeit für alle steht im Widerspruch zur Hervorhebung der Ausstrahlung von .Persönlichkeit'; statt rationaler Argumentation wird eine Einteilung in „Verstandes-, Gefühls- und Willensmenschen" gelehrt. — Eine neuaufklärerische Neubelebung der Rhetorik von der Argumentationslehre und Sprachpragmatik her ist in der modernen Massendemokratie mit entpolitisierter, kommerzialisierter, inszenierter Öffentlichkeit problematisch (Bausch/Gross 1985; Kopperschmidt 1973).
V. Ähnlich wie bei der Rhetorik hat konservative Parlamentsverachtung im 19. Jh. den Blick auf die Wirklichkeit politischer Kommunikationsformen verstellt. Neuere historische Politiksprachforschung hat mit kommunikationstheoretischem und sprachpragmatischem Analyseinstrumentarium ein differenzierteres Bild von der frühen Entwicklung der p a r l a m e n t a r i s c h e n R e d e in Deutschland gezeichnet. Ebenso wie in den Reden der ersten Massenversammlungen (Wartburgfest 1817, Hambacher Fest 1832), im Vereinswesen oder in ständischen Parlamenten in Süddeutschland (ab 1818) sind nach Kalivoda (1986, 289 ff.) auch in den
V—X: P a r l a m e n t s r e d e
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Debatten des verspätet eingerichteten preußischen 1. Vereinigten Landtags in Berlin (1847) mit rednerischen Einzelleistungen im herrschaftskritischen „Sprachspiel des politischen Begehrens" die verschiedenen Diskursformen politischer Interessengruppen provoziert worden. Es ist also durch eine „politische Gegenöffentlichkeit" der kommunikative Prozeß der revolutionären und parlamentarischen Vorgänge von 1848/49 vorbereitet worden, auch wenn es bis zur Durchsetzung der rednerisch angestrebten Ziele und zu einer allgemeinen, gesicherten parlamentarischen Redekultur in Deutschland noch Jahrzehnte gedauert hat. Auch in den Sitzungen der Liberalen in Heppenheim und der Demokraten in Offenburg (1847) hat mit rhetorisch-persuasiven Aktivitäten „eine langsame, aber stetige Entwicklung von der Politik akademischer Zirkel und republikanischer Feste hin zu bürgerlichen Parteiorganisationen" begonnen (Kalivoda a. a. O.). Die Reden u n d D e b a t t e n des 1. Vereinigten Landtags sind schon von wesentlichen M e r k m a l e n p a r l a m e n t a r i s c h e r Arbeit gekennzeichnet (Kalivoda 1986, 65 ff., 254 ff.): Konservative Vertreter des status q u o hatten dem rednerischen E n g a g e m e n t der liberalen A b g e o r d n e t e n „ k a u m mehr als d ü r r e Gesetzestexte u n d b e s c h w ö r e n d e Appelle entgegenzusetzen". Die Liberalen steuerten im Diskurs gegen Provinz-, Standes- u n d Kuriengrenzen u n d e n t s p r e c h e n d e S i t z o r d n u n g deutlich auf eine F r a k t i o n s b i l d u n g hin. Ein Teil der Redner h a t t e schon E r f a h r u n g e n aus Provinziallandtagen bzw. d e m N o r d deutschen Reichstag. T r o t z politischer Folgenlosigkeit h a t die D e b a t t e doch „die Schwachstellen der m o n a r c h i s c h e n Rechtfertigung s o w o h l politisch als auch rechtlich aufgezeigt". Die rituellen Ergebenheitsfloskeln w a r e n „allenfalls die (taktische) Begleitmusik", u n d die Veröffentlichung der Protokolle einschließlich ihrer Pressekomm e n t i e r u n g h a t „die politische Bildung u n d B e w u ß t w e r d u n g des Volkes weiter gefördert und zur Steigerung der Teilnahme a m öffentlichen Leben beigetragen" (Kalivoda 1986, 256; s. auch 6.16G). A m elaboriertesten in p r o g r a m m a t i s c h e n Formulierungen in R i c h t u n g auf die spätere Parteibildung w a r e n die mit kommerziellem u n d industriellem A n s p r u c h s d r u c k versehenen R h e i n l ä n d e r (Kalivoda, a. a. O.).
W. Der parlamentarische Redestil des ersten gesamtdeutschen Parlaments, der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter P a u l s k i r c h e (1848/49) ist, schon durch zeitgenössische Urteile bald nach ihrem praktisch-politischen Scheitern — besonders in der Bismarckzeit —, im restaurativen, demokratiefeindlichen Sinne pauschal herabgewürdigt worden als „Schönrednerei", „Professorenparlament", „Schwatzbude" usw. Gewiß hat es in den 236 Verhandlungstagen auch manche unschönen Streitereien um Rederecht und Geschäftsordnung, juristische Haarspaltereien, gelehrte Abschweifungen, idealistisch-romantische Beschwörungen, senile Narrationen gegeben; auch ist zu berücksichtigen, daß viele Abgeordnete in Verfahrensfragen noch ungeübt waren, revolutionäre wie antirevolutionäre Tagesereignisse die kontinuierliche Arbeit oft empfindlich störten und unangreifbare Machtpositionen der Einzelstaaten, vor allem Österreichs, sowie politischer Druck auswärtiger
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Großmächte die Entscheidungsfreiheit bei abschließenden Abstimmungen krisenhaft einengten (Griinert 1974a, 36, 80ff.). Wenn man die Tätigkeit des Paulskirchenparlaments nicht am praktischen politischen Mißerfolg, sondern an den Ergebnissen in selbstgesteckten echt parlamentarischen Aufgaben mißt (vor allem über die Grundrechte und die künftige Reichsverfassung), dann erscheinen seine sehr engagiert, persönlich und spontan, oft tagelang geführten Debatten als echter, achtungswürdiger, bis heute fortwirkender „Anfang des modernen parlamentarischen Redestils" (Allhoff 1975, 568). Im Unterschied zu politischen Reden zur Zeit der Französischen Revolution (s. Bd. II: 5.12P—Y) waren um 1848 die politischen und institutionellen Voraussetzungen für den Kommunikationstyp parlamentarische Debatte im Prinzip schon vorhanden: eine starke, bis an den Rand der Revolution fortgeschrittene politische Reformbewegung mit gemeinsamen und verschiedenen Zielen, in Aussicht gestellte staatsrechtliche Konsequenzen der Institution Parlament, erste Ansätze zu politischer Parteienbildung. Die altständische bzw. privatbürgerlich-dialogische Öffentlichkeit war auf dem Wege zur Repräsentativen' Öffentlichkeit (Habermas 1982; s. 6.3A). In der von Juli bis Dezember 1848 fast kontinuierlich bis zur ordnungsgemäßen Verabschiedung eines vorbildlich gebliebenen Gesetzes geführten Debatte über die Grundrechte konnte von den Persönlichkeiten vieler Abgeordneter und den bereits bestehenden einzelstaatlichen Verfassungen her bereits auf einen vielfältigen gesetzgeberischen und reformerischen Erfahrungsschatz und einen schon längst in der Diskussion befindlichen Katalog von Grundrechten zurückgegriffen werden (Grünert 1974 a, 80ff.). In den mehr konstruktiven Teilen der Paulskirchendebatten sind moderne parlamentarische Argumentationskategorien bereits grundsätzlich zu erkennen: Destination (Zielsetzung), Fundation (politische Prinzipien, Doktrinen), Motivation (von Wollen, Notwendigkeiten, Autoritäten her), Kausation (retrospektive Begründung), Konsekution (prospektive Folgerungen), Fremd- und Selbstidentifikation, Zweiwertigkeit/Binarität des ideologischen Zeicheninventars, usw. (Grünert 1974 a, 191 ff.). — Z u m politischen Sprachgebrauch in der Paulskirche s. 6.16HI!
In Bezug auf f o r m a l e parlamentarische Sprachhandlungsmuster hat Werner Holly (1982; 1996 a.) eine Entwicklung vom ungeschickten Experimentieren zur G e s c h ä f t s o r d n u n g s - R o u t i n e nachgewiesen: Es gab zwar entsprechend ältere Verfahrensregeln im Reichstag des Alten Reiches und in ritualisierten akademischen oder gerichtlichen Verhandlungen; auch waren Experten wie die beiden Staatsrechtler Robert von Mohl und Carl Mittermaier unter den Abgeordneten. Da aber revolutionäre Vorgänge zu den Auslösern der Einrichtung dieses ersten deutschen Parlaments gehörten, mußten die von den (englischen) Theoretikern immer wieder genannten Grundprinzipien Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Mehrheitsentscheidung, Minderheitenschutz und rationale, ökonomische Abfolgeregeln erst einmal mühsam neu eingeübt werden, zumal die Mehrheit der Abgeordneten wenige und sehr unterschiedliche parlamen-
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tarische Erfahrungen hatte und die früheren einzelstaatlichen Geschäftsordnungen und die aus Vereinen gewohnten Verfahrensweisen sehr heterogen und auf kleinere, intimere Gremien eingestellt waren. In der Paulskirche war die Redeorganisation zu Anfang noch weitgehend chaotisch und hilflos, da es zunächst weder eine routinierte Sitzungsleitung noch vorbereitende Absprachen zwischen Fraktionen gab und die Erarbeitung einer neuen, eigenen Geschäftsordnung ja gerade zu den erkämpften Autonomierechten des Parlaments gehörte (Holly 1982, 20 ff.): Die noch „als Individuen handelnden" Abgeordneten diskutierten meist planlos, ohne Tagesordnung, im „Antragsfieber" ohne ordnungsgemäße Erledigung bisheriger Anträge. Das Handlungsmuster ,Antrag' mit seinen notwendig geordneten Teilschritten war den meisten Rednern noch nicht geläufig; sie behandelten Anträge wie unverbindliche, nichtinstitutionalisierte ,Vorschläge'. Dies äußerte sich (nach Holly, a. a. O.) in „Knoten, die aus Mißverständnissen über den Status einer Äußerung im Sequenzschema entstehen", vielleicht auch in der Variation des metakommunikativen Verbs zwischen der präpositionalen Form mit trennbarem Zusatz (ich trage an) und der noch selteneren modern-kompakten Form (ich beantrage). Auch der oft ratlose Alterspräsident selbst stellte Anträge. Daß viele Abgeordnete unter der schlechten Verfahrensweise der ersten Sitzung litten und dies äußerten, sei ein Zeichen dafür, daß man sich der öffentlichen Wirkung und der ,Imagearbeit' für die Institution Parlament durchaus schon bewußt war (Holly 1982, 33).
Ein Vergleich der Eröffnungssitzung der Paulskirche mit den Eröffnungssitzungen der Weimarer Nationalversammlung (1919) und des Parlamentarischen Rates (1948) ergibt (nach Holly 1982, 35 ff.), daß Abgeordnete und Sitzungsleitung der Vor-Parlamente des 20. Jh. die Geschäftsordnung problemlos routiniert beherrschten und beachteten. Dieser Fortschritt' war aber mit einer Verschiebung und Aushöhlung der Anwendungsprinzipien verbunden: Die Geschäftsordnung wurde propagandistisch r i t u a l i s i e r t ; sie diente kaum mehr der unmittelbaren diskursiven Entscheidungsfindung, sondern vorwiegend der Demonstration bzw. Entlarvung von bereits feststehenden Fraktionsmeinungen, der Solidarisierung von Fraktionen und jeweiligen Koalitionen sowie entsprechender Abgrenzung von den Gegnern und deren Abwertung, vor allem der L e g i t i m a t i o n des Parlaments als Institution gegenüber der Öffentlichkeit bis hin zur „Volksbeschwichtigung". Weniger der Verstoß gegen Geschäftsordnungsregeln, sondern „ihre selektive, demonstrative Beachtung wird zum politischen Kampfmittel" (Holly 1982, 38, 41). Die eigentlichen politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse finden längst v o r den Plenumssitzungen in Fraktionssitzungen, durch interfraktionelle Absprachen und in Ausschüssen unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Dennoch wird aus Gründen der Legitimation gegenüber dem Medienpublikum die liberale F i k t i o n vom ordnungsgemäßen Funktionieren des parlamentarischen Systems und vom Diskussionscharakter des Plenums bewußt aufrechterhalten und gepflegt (Holly 1982, 20; Dieckmann 1975, 161).
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
Die Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnungen war seit 1849 verhältnismäßig kontinuierlich, ohne einschneidende Änderungen, aber zunehmend differenziert (Holly 1996 a): Bis 1848 gab es eine verwirrende Fülle von Modellen nach englischem, amerikanischem, französischem oder belgischem Vorbild, daneben wirkten altständische Verfahrensweisen aus absolutistischen oder patrizischen Versammlungen nach. Seit dem Vormärz waren die preußischen Verhältnisse, mehr praxisbezogen nach englischem Vorbild, zunehmend einflußreich. Der grundsätzliche Wandel von ständisch-monarchistischer Abhängigkeit zu parlamentarischer Autonomie wird an einem Vergleich zwischen der Geschäftsordnung des Westfälischen Provinziallandtags von 1826 und der des Reichstags von 1876 deutlich (Holly 1996 a, 13 ff.). Die Reichstagsgeschäftsordnung war als Text weitaus weniger kohärent, vielmehr eine ,Collage' aus immer wieder geänderten und eingefügten Einzelbestimmungen, ein Zeichen für die weitgehend ausgenutzte Geschäftsordnungs-Autonomie des Parlaments.
X. Die alltägliche Wirklichkeit m o d e r n e r P a r l a m e n t s r e d e ist so komplex und vielschichtig, daß sie kaum mit Analysekategorien von Rhetorik als Lehre von der persuasiven und/oder argumentativen Kommunikation angemessen und hinreichend beschrieben werden kann. Hier ist institutionsspezifische Sprachpragmatik und Textlinguistik angemessener. Interindividuelle rhetorische Künste im traditionellen Sinne sind in diesem hochinstitutionalisierten Kommunikationssystem kaum mehr möglich, da meist Fraktionszwang herrscht, die Parteien sich aus wahltaktischen Gründen nicht mehr als Vertretung bestimmter Interessengruppen verstehen (dürfen), sondern als ,Volksparteien' und da der eigentliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß kaum mehr im Plenum stattfindet, das vorwiegend zum Forum für Inszenierungen für die M e d i e n ö f f e n t l i c h k e i t geworden ist. Die Erweiterung der Öffentlichkeit durch das Fernsehen hatte starken Einfluß auf parlamentarisches Kommunikationsverhalten und politische Wirkungen (Burkhardt 1993): Schon seit den 20er Jahren war, in der Defensive gegen Presse und Radio, die Verlegung des eigentlichen politischen Diskurses und der zur Entscheidung hinführenden Meinungsbildung in die nichtöffentlichen Ausschüsse angebahnt. Ins Plenum gelangen in der Experten- und Fraktionsdemokratie nur noch vorher besprochene und vorher entschiedene starre Positionen der Fraktionen, die für das Medienpublikum mit scheinbar unversöhnlichen Gegensätzen als Scheingefechte oder Schaukämpfe von Rednern inszeniert werden, was beschönigend noch immer Debatte heißt. Die eigentliche politische Arbeit wird verstellt; es geht nach außen hin in nach Parteienproporz gesteuerten Monologen fast nur noch um Werbung und Imagearbeit für Parteien und einzelne Politiker (vgl. 6.15L-N). Auch scheinbar spontane Zwischenrufe, Zwischenfragen, Minidialoge sind weitgehend in diesem Sinne ritualisiert. Der weitgehenden Vorbereitetheit der Parlamentsreden entsprechen zunehmend die vorher ausgegebenen fertigen Pressetexte von Parteien, Ausschüssen und anderen Teilinstitutionen (Biere 1993). Nach Hans Dieter
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Zimmermanns Untersuchung des Sprachgebrauchs Bonner Politiker (1969) ging es schon in der Spätphase der Adenauer-Ära im Bundestag meist nicht so sehr um Persuasion im Sinne von zu bewirkender Meinungsänderung, mit rhetorischen Mustern wie Auf- und Abwertung, Polarisierung in ,Wir'- und ,Feind'-Gruppe, sondern mehr um Konfliktvermeidung, Beschwichtigung, Interessenausgleich, Synthesesehnsucht, Abschirmung interner Absprachen, vor allem um Legitimation und Bestätigung bereits vorhandener Meinungen, Vorurteile und Ideologien, mit Kollektivstilmitteln wie Wiederholungen, feste Formeln, Stereotypen, Leerformeln, Mythen, Vagheit, Polysemie usw. Was in der Parlamentsarbeit geredet, geschrieben oder gedruckt wird, ist nicht einfach Politiksprache, sondern ein sehr komplexes System von Institutionssprache (Simmler 1978): mit mindestens 13 Textsorten (Regierungsvorlage, Ausschußbericht, Anfrage, Antrag usw.) und mindestens 14 Redesorten (Regierungserklärung, Aussprache, Fragestunde, Zwischenfrage usw.), definierbar nach externen Merkmalen wie Mündlichkeit, Status- und Rollenverteilung, Sprecherreihenfolge, zeitliche Begrenzung, thematische Beschränkung, Zulässigkeit von Zwischenfragen usw. Bei politiksprachlichen Analysen sind solche Inhalt und Form determinierenden Voraussetzungsbedingungen zu berücksichtigen. Unterhalb der Ebene prominenter Parlaments-Stars, im Alltagshandeln eines Hinterbänklers in verschiedenen Situationen, zeigt sich die Heterogenität und Widersprüchlichkeit parlamentarischen Rollenverhaltens noch deutlicher, wie Werner Holly (1990 a) anhand von Tonbandaufnahmen eines Bundestagsabgeordneten gezeigt hat: Weitgehend im Windschatten der offiziellen Publizität hat der nichtprominente Abgeordnete einen Rollenkonflikt zwischen interner Parlamentsarbeit und externen Funktionen als Wahlkreispolitiker zu bewältigen. Gegenüber Besuchern aus seinem Wahlkreis und bei seinen eigenen Auftritten dort hat er vertrauensbildende Eigenwerbung zu leisten mit Stilwechseln zum lokalen Usus, mit inszenierter Rezeptionshaltung, gespielter Kompetenz und Interessiertheit für alle Themen, während er in der informellen parlamentarischen Kommunikation hinter den Kulissen der Medienöffentlichkeit die Rolle eines sehr untergeordneten, durch Informationsflut, Themenvielfalt und Zeitdruck überlasteten Gruppenmitglieds bewältigen muß. Unvermeidliche institutionelle Doppelbödigkeit und ständiger notwendiger Perspektivenwechsel lassen es fraglich erscheinen, „ob die Übertragung der Kategorie ,Glaubwürdigkeit' aus dem privaten Bereich auf die Politik, an der die Politiker allerdings selbst — wiederum aus durchsichtigen Gründen — kräftig mitwirken, wirklich angemessen ist" (Holly 1990 a, 273). D a s l a i e n h a f t e bzw. staatsbürgerlich naive U n b e h a g e n an m o d e r n e r Politikersprache beruht auch auf d e m Prinzip der M e h r f a c h a d r e s s i e r u n g , das für viele Bereiche der m o d e r n e n Institutions- u n d M e d i e n k o m m u n i k a t i o n t y p i s c h ist (P. Kühn 1995): Ein u n d derselben Ä u ß e r u n g m ü s s e n i m p r a g m a t i s c h e n G e h a l t a d r e s s a t e n s p e z i f i s c h unterschiedliche B e d e u t u n g e n z u g e s c h r i e b e n w e r d e n , e n t w e d e r absichtlich o d e r u n a b sichtlich o d e r in Kauf g e n o m m e n , o f f e n o d e r verdeckt, t e i l w e i s e kodiert u n d rituell inszeniert, s o in P a r l a m e n t s r e d e n ( Z u m - F e n s t e r - H i n a u s - R e den), Z w i s c h e n r u f e n i m Parlament, M e d i e n i n t e r v i e w s , K o m p r o m i ß f o r m e l n , Arbeits- u n d S c h u l z e u g n i s s e n , K l e i n a n z e i g e n , Beipackzetteln, Reis e k a t a l o g e n usw. D i e s e t e x t p r a g m a t i s c h e n V e r f a h r e n s w e i s e n der Industrie- u n d M a s s e n m e d i e n g e s e l l s c h a f t m a c h e n d a s v o n der A u f k l ä r u n g
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6.2. Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Bildung, Kommunikation
h e r k o m m e n d e bildungsbürgerliche Ideal einer diskursiven Direktheit und individuellen Gerichtetheit politischen H a n d e l n s zur Illusion. Da das Parteienleben und der repräsentative Parlamentarismus zur Routine und ritualisierten Fassade erstarrt erscheint, empfinden sich heute große Teile der intellektuellen Jugendlichen und Studierenden mit ihren basisdemokratischen, kulturkritischen und alternativen Zielen durch Parteien und Parlamente nicht mehr genügend vertreten. So haben sich seit der 1968 er Protestbewegung neue Formen mündlicher und schriftlicher öffentlicher K o m m u n i k a t i o n entwickelt, nach amerikanischen und Pariser Vorbildern: teach-in, sit-in, drop-in, march-in, Sitzblockade, Sprechchöre, Lieder, Happenings, Straßentheater, D e m o n s t r a t i o n e n , Flugblätter, W a n d b e s p r ü h u n g e n , Graffiti, Buttons, H e m d b e s c h r i f t u n g e n usw., zugleich auch mit bewußter D u r c h b r e c h u n g traditioneller Sprach- und Verhaltensnormen (Steger 1983, 28 f.; s. auch 6.16V). Teilweise haben diese Veranstaltungsformen Vorbilder oder Entsprechungen in älteren Revolutionsformen oder im Vereinsleben (vgl. 6.16EF; Bd. II: 5.12ST).
Literatur: Sprechsprache: Gesprochene Sprache ... 1974. D. Hartmann 1995. Holly 1992. LGL (Schank/Schwitalla 313 ff.). Quasthoff 1992. Schank/Schoenthal 1983. Schwitalla 1997. — Sprechsprache und Schreibsprache: Ammon u . a . 1987 (Nerius 832ff.). S. Grosse 1971; o.J. Günther/Ludwig 1994 (Raíble 1 ff.). Halliday 1985. Heinze 1979. Knoop 1983 b; 1993. Korenski/Hartung 1989. Kübler 1985. Leska 1965. Ludwig 1980. Maas 1991. Mangold 1961. K.Müller 1990. B . N a u m a n n 1989. Ong 1987. Raible 1995. Rupp 1965. Steger 1972. Tannen 1982. K. Zimmermann 1992. Schreibsprache: Baurmann u . a . 1993. BRS (Grubmüller 205ff.). Feldbusch 1985. Glück 1987. Grimberg 1988. S. Grosse 1983. S. Grosse u. a. 1989. Günther/Günther 1983. Günther/Ludwig 1994. Jedlicka 1978. Knoop 1983 a. LGL (Ludwig 323ff.). O. Ludwig 1983 ab; 1989. Maas 1992. Schikorsky 1990. Schön 1987. - Schriftarten, Typographie: Gerdes 1993. Glatt 1976. Günther/Ludwig 1994 (Brekle 171 ff., 204ff.). S . H a r t m a n n 1998. Jensen 1969. Maas 1991b. v. Polenz 1996 b. Schellnack 1994. Stiebner/Leonhard 1992. Warwel 1988. - NS-Schriftpolitik: S. Hartmann 1998. Hopster 1985. Hunger 1984. Keunecke 1993. Kruse 1989. v. Polenz 1996 b. Rück 1993. Schellnack 1994. Warwel 1988. - Graffiti: R. Blume 1980. Gamber 1984. Glismann 1984. Neumann 1991. van Treeck 1993. - Piktogramme: Günther/Ludwig 1994 (Lutz Nr. 149). Pörksen 1997. W. W. Sauer 1993. Sprache in neuen elektronischen Medien: Faulstich/Rückert 1993, 2, 384 ff., 460 ff. Giese 1993. Giese/Januschek 1990. Glück/Sauer 1990, 162 ff. Grimberg 1988. Günther/Ludwig 1994 (Pospischill Nr. 90). Hadorn/Cortesi 1986, 2, 189 ff. Hess-Lüttich 1996. Holly 1992. Jacobs 1998. L. Jäger 1989. Kübler 1985. Lerchner 1996. Schellnack 1994. Schmitz 1995. Weingarten 1989; 1997. Wichter 1991. D. Zimmer 1990. Alphabetisierung der Bevölkerung: Börner 1995. Ehling u. a. 1981. Eisenberg 1983. Engelsing 1973. Giese/Gläß 1984. Günther/Ludwig 1994 (Knoop 859 ff.). Hinrichs
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6 . 2 . S c h r i f t l i c h k e i t / M ü n d l i c h k e i t , Bildung, K o m m u n i k a t i o n
Jensen 1989. Nipperdey 1976. Objartel 1989. Wehler 1987, 1, 317 ff.; 2, 238 ff., 402 ff.; 1995, 1038 ff. Wiegelmann 1973. - Gesprächskultur, Rhetorik: Bader 1995. Bausch/Grosse 1985. Böhme-Dürr 1995. Bremerich-Vos 1991. Breuer 1974. Cherubim 1992. Gadamer 1972. Geißner 1969. Jens 1969. Kopperschmidt 1973. Linke 1988; 1991; 1998 ab. Montandon 1991. Schanze 1974. Schmölders 1986. Straßner 1981. Weithase 1961. - Politische Rede, Parlamentsrede: Allhoff 1975. Burkhardt 1993. Dörner/Vogt 1995. Grünert 1974 ab. Heiber 1953. Heinze 1979. Hinderer 1973. Holly 1982; 1990 a; 1996 a; 1998. Kalivoda 1986. Kühn 1995. Simmler 1978. Wehler 1995, 864 ff. H. D. Zimmermann 1969.
6.3. Entwicklung der Massenmedien A. Die Mediengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist von folgenden durch technische Erfindungen, soziokulturelle Veränderungen und institutionell-professionelle Faktoren bedingten allgemeinen Entwicklungstendenzen gekennzeichnet: — Technische Verbesserungen wie Rotationspresse, Eisenbahn, Télégraphié, Telefon, Schreibmaschine, Setzmaschine, Fotokopie, Funkverkehr, Flugverkehr, Tonband, Telefax, Computer usw. haben das Tempo von Quellenauswertung, Textübermittlung, Textproduktion und -Verbreitung enorm beschleunigt und damit die billige Massenverbreitung sowie Erwartungen und Zwänge in Bezug auf A k t u a l i t ä t und Pünktlichkeit von Information durch Medien bis zur Illusion des ,Miterlebens' gesteigert, aber teilweise auch die Möglichkeiten zu sorgfältigem Recherchieren, Formulieren, Korrigieren vermindert. — Lithographie, Stahlstich, Photographie, photomechanische Reproduktion, Kinematographie, Fernsehen und Video haben die Möglichkeiten der massenhaften Verbreitung von B i l d e r n so weitgehend verbessert, daß in der 2. Hälfte des 20. Jh. die Bild-Text-Kommunikation tendenziell als Reduzierung von Sprachkommunikation erscheint. — Der industriegesellschaftliche Abbau von Standesschranken und ständischen Bildungsprivilegien, die schrittweise erreichten Lese- und Schreibfähigkeiten nahezu der Gesamtbevölkerung und die Verbilligung der Papierpreise hatten die M a s s e n v e r b r e i t u n g fast aller Medienkommunikationsmittel und deren größere inhaltliche Differenzierung nach Publikumsgruppen zur Folge, damit im Zusammenhang auch einen starken Rückgang des Angewiesenseins auf Verkündigung bzw. Belehrung durch Kirche und Schule. — Der seit 1848, endgültig 1874 grundsätzlich entschiedene politische Kampf um Pressefreiheit gegen die staatliche Zensur wird seit etwa 1870 abgelöst und sein positives Ergebnis gefährdet, relativiert oder aufgehoben durch die zunehmende K o m m e r z i a l i s i e r u n g der Massenmedien, ihre Abhängigkeit von Nachrichtenagenturen und von der Finanzierung durch Auflagenhöhen, Werbeanzeigen, hintergründige industrielle Interessengruppen und Regierungen; Massenmedien sind selbst Industrieunternehmen als ,Großmacht' geworden, in denen sich Journalisten wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen haben, die wiederum politisch motiviert und/oder gezielt sind, was moderne
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
Diktaturen und Regierungsparteien für sich erfolgreich nutzen konnten bzw. können. — Auf dem Wege von bildungsbürgerlicher privater ,Aufklärung' zur modernen Massenmedieninformation innerhalb demokratisch verfaßter Staaten wirkt — wie in Parteien und Parlamenten — in den Massenmedien eine Tendenz zum Strukturwandel bzw. zur Pervertierung der aufklärerischen Institution gesellschaftliche Ö f f e n t l i c h k e i t ' : sie ist nicht mehr „diskursiv", sondern nur noch „repräsentativ" (Habermas 1982; Schmölders 1986, 57ff.); und sie wird gestört durch öffentliche entpolitisierende Rituale pseudopersönlicher Intimität (Sennett 1983), schließlich durch eine Tendenz, Information mit entertainment zu kombinieren, auch durch allgemeine Vermischungen von Textsorten und Stilformen. Die vorpolitische, private, räsonnterende ,Öffentlichkeit' der aufgeklärten Bürger in den kleinen, vertrauten Zirkeln des späten 18. Jh. (vgl. Bd. II: 5.12A) konnte sich als diskussionsgestützte politische Gegenkraft gegen die Reste des Absolutismus zwar in begrenzten lokalen revolutionären Situationen (z. B. 1813, 1830, 1848) im aufklärerischen Sinne konkretisieren. Mit dem Fortschritt der Parteienbildung und Konstitutionalisierung von Regierungsformen ging jedoch ein „Strukturwandel" oder eine „Zerstörung" dieser Art Öffentlichkeit' einher (Habermas 1982, 172ff.): Durch „fortschreitende Verstaatlichung der Gesellschaft" und „Vergesellschaftung des Staates" (,Nachtwächterstaat') geriet das Verhältnis zwischen , ö f f e n t l i c h ' und , p r i v a t ' durcheinander. Der Staat betraute private Personen, Gruppen und Institutionen mit öffentlichen Aufgaben oder koordinierte sie. Während die Arbeits- und Berufswelt immer ,öffentlicher' wurde — bis zu sozialer Absicherung des einzelnen konsumierenden Bürgers — „löst sich die Institution der Kleinfamilie aus dem Zusammenhang mit Prozessen der gesellschaftlichen Reproduktion" und erhält eine scheinbare absolute Privatheit als Gegenwelt zur politischen Öffentlichkeit; entsprechend tritt an die Stelle der literarischen Öffentlichkeit der „pseudo-öffentliche oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums". „Das Räsonnement eines Lesepublikums weicht tendenziell dem ,Geschmacks-' und ,Neigungsaustausch' von Konsumenten". „Öffentlichkeit wird zur Sphäre der Veröffentlichung privater Lebensgeschichten, [...] zufälliger Schicksale des sogenannten kleinen Mannes oder planmäßig aufgebauter Stars". Die dabei kultivierte Sentimentalität läßt die Fähigkeit zum kritischen Argumentieren verkümmern. Der „Journalismus schriftstellernder Privatleute" verkommt zu „öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien". Die damit verbundene Entpolitisierung — extrem realisiert im unterhaltungssüchtigen , I n f o t a i n m e n t ' des späten 20. Jh. (s. 6.15DMN) — erklärt Jürgen Habermas (a. a. O. 233) als „Refeudalisierung der Öffentlichkeit": „Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Maße ihrer Gestaltung durch public relations wieder feudale Züge an: die ,Angebotsträger' entfalten repräsentativen Aufwand vor folgebereiten Kunden". Die Privatisierungs- und Personalisierungstendenz in der Massenmedienöffentlichkeit erklärt Richard Sennett (1983, 167 ff.) in ähnlicher Weise mehr sozialpsychologisch als „Tyrannei der Intimität": Wie bei der Ablösung des freien geselligen Tauschmarktes durch den Zwang zum stummen Konsum des gesellschaftlich isolierten Individuums im Warenhaus (Marx: „Warenfetischismus") werde auch der medienkonsumierende Leser/Hörer/Zuschauer auf eine völlig passive Rolle reduziert, soziale Interaktion auf das Familienleben. Die in der Familie entbehrte
A: Allgemeines
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Entfaltung der Persönlichkeit suchte das disziplinierte („geräuschlos ehrbare") bürgerliche Publikum im Club, im Theater, im Café oder in der durch ,Intimität' pervertierten Medien-,Öffentlichkeit', in der Politiker ihre Persönlichkeit' schauspielernd als modernes, psychologisiertes Herrschaftsmittel zur Schau stellen, indem sie das Publikum „mit ihren Absichten und Empfindungen abspeisen, statt über ihr Handeln zu sprechen" (Sennett 1983, 295).
In der massenmedialen T e x t s o r t e n e n t w i c k l u n g zeigen sich diese Tendenzen des Strukturwandels von ,Öffentlichkeit' ebenso wie in Versuchen, sie mit neuen, mehr dialogischen, adressatenbezogenen Formen zu korrigieren. Der von medientechnischen Innovationen bedingte Textsortenwandel richtete sich teilweise nach einem „stilistischen Trägheitsgesetz" (Bausinger 1972/84, 81): Die Zeitung arbeitete bis ins 19. Jh. mit literarisch-rhetorischen Textsorten- und Stilvorbildern; der H ö r f u n k übernahm zunächst ohne wesentliche Veränderungen Textsorten und Textsortenstile der Zeitung, das Fernsehen solche der Zeitung und des H ö r f u n k s , ehe neue, medienspezifische Formen erprobt und eingeführt wurden. Für die Entwicklung nach 1945 unter westlichem Einfluß sind Mischformen, verstärkter Einsatz der Bildkommunikation, Unterhaltungstendenz, ständige Innovationsversuche und immer kürzere Einheiten in immer schnellerer Abfolge kennzeichnend (Schwitalla 1993, 24). Es bleibt von bildungspolitischen Einstellungen abhängig, ob man diese Entwicklung kulturkritisch als ,Boulevardisierung' der journalistischen Aufklärungstradition oder antielitär als M o d e r n i s i e r u n g ' zugunsten immer breiterer Allgemeinverständlichkeit gesellschaftlicher Kommunikation beurteilt (s. 6.15N; vgl. Bischl, in: Sprachreport 3/95, 19). B. Die Retardierungsphase der , L e s e r e v o l u t i o n ' (vgl. Bd. II: 5.2L) begann schon bald nach den Auswirkungen der Französischen Revolution in Deutschland: Die Wiedereinführung der präventiven staatlichen Zensur und das obrigkeitliche Vorgehen gegen Lesegesellschaften und Leihbibliotheken gingen parallel mit einer „Anti-Lese-Bewegung" (Schenda 1970, 54), in der das traditionelle, ständische Bildungsbürgertum obrigkeitskonform die Lesesucht in zweierlei Hinsicht diffamieren konnte: als zu gesellschaftlichem Umsturz hinführende Volksaufklärung und als leistungsfeindlichen Müßiggang der neuen Leser aus der unteren Mittelschicht. Goethes Herzog Carl August sah die aufklärerische Lese- und Schreiblust der preußischen Offiziere als Ursache für die Niederlage Preußens gegen Napoleon (Umbach 1986, 169). Von Volksaufklärung und Literaturexpansion distanzierte sich Goethe selbst in einem Brief an einen Freund 1811: „Die Wahrheit hätte nur unter uns Akademikern bleiben sollen!" (Engelsing 1973, 68). Das Scheitern der spätaufklärerischen Lesebewegung zeigte sich quantitativ an einer vorübergehenden Stagnation des deutschen B u c h m a r k t e s im ersten Drittel des 19. Jh. (Engelsing 1973, 90ff.; R. Wittmann 1982, 116): Die Absatzerwartungen der Verleger hatten sich in Bezug auf die
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
unteren sozialen Schichten nicht erfüllt. Während der 1. Hälfte des 19. Jh. gehörten Arbeiter, Handwerker und Bauern im allgemeinen noch nicht zu den potentiellen Buchkäufern. Im Vormärz gab es nach Wehler (1987, 2, 520 ff.) ein „Gründungsfieber" kommerzieller, also nicht mehr nur bildungsbürgerlicher Leihbibliotheken, und die Buchhandlungen hatten zwischen 1820 und 1840 eine starke Zuwachsrate (um 1800: 500, 1832: 729, 1841: 1321); 1844 gab es in Leipzig 130, in Berlin 127, in Wien 48, in Stuttgart 36, in Frankfurt 33, in München 20. Zwischen 1815 und 1849 nahm die deutsche Buchproduktion beträchtlich zu. Um 1820 begann mit dem ersten Brockhaus die große Breitenwirkung der Konversationslexika, die ζ. T. in billigen broschierten Lieferungen herauskamen.
Die Absatzkrise des deutschen Buchhandels wurde mit dem Klassikerjahr 1867 beendet, in dem aufgrund eines Bundesratsbeschlusses das Monopol des Verlegers Cotta dadurch gebrochen wurde, daß alle vor 1837 verstorbenen deutschen Klassiker zum Nachdruck freigegeben wurden (R. Wittmann 1982, 118, 130). Damals wurde ζ. B. die bis heute erfolgreiche billige Klassikerreihe Reclams Universalbibliothek gegründet. Da die Klassiker nun billiger zu kaufen waren, stellte sich das industriegesellschaftliche Bürgertum auf andere Rezeptionsformen um. Die literarischen Salons der Zeit der Romantik und des Biedermeier und die bis zur Jahrhundertmitte außer Mode gekommenen Lesegesellschaften hatten noch das Vorlesen und die literarische Konversation gepflegt. Jetzt begnügte man sich mehr mit schweigendem S e l b s t l e s e n oder mit monologischen Dichter- und Rezitatorenvorträgen; und durch den gymnasialen Deutschunterricht wurde der pädagogisierte Konsum der Klassiker geregelt. Eine industriegesellschaftliche Popularisierung und Nivellierung des Bücherlesens stellt die zweite Welle der T r i v i a l l i t e r a t u r dar (vgl. Bd. II: 5.2 Ο, 5.10Z), die seit den 1860er Jahren von geschäftstüchtigen Verlegern und vielschreibenden Lohnschriftstellern vor allem über Leihbüchereien in Gang gesetzt wurde (Karl May, Hedwig Courts-Mahler, Eugenie Marlitt usw.). Das Erfolgsrezept dieser bis heute weitverbreiteten und fortgesetzten Romanliteratur ist die serienmäßige variierende Wiederkehr von hundertfach bewährten thematischen und stilistischen Mustern, mit deren Genuß bildungsmäßig anspruchslose Leserinnen und Leser ihre euphorische Flucht aus dem deprimierenden gesellschaftlichen Alltag in schwarz-weiß-gezeichnete Wunschwelten betreiben können. In der neueren Diskussion über ,Konsumliteratur' wird — neben billiger Unterhaltung — auch mit einem sozialgeschichtlich ernstzunehmenden Bedürfnis anpassungs- und aufstiegswilliger unterer Bevölkerungsschichten nach sozialen Orientierungsmustern als Folge der Säkularisierung gerechnet (s. Bd. II: 5.10Z). Der aus Sachsen stammende Karl May, der seine exotischen Reisewelten ohne jede persönliche Erfahrung zusammengeschrieben hat, kam mit seinen Indianer- und
BC: Buchmarkt und Lektüre
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Orient-Romanen bis 1914 auf 1,6 Millionen Exemplare und ist noch heute Bestseller des Boulevardbuchhandels. Hedwig Courts-Mahler wurde im Alter von 17 Jahren zum Schreiben von Romanen (insgesamt über 200) angeregt durch ihre Tätigkeit als Dienstmädchen, das der Mutter des Hausherrn regelmäßig historische Romane von Gustav Freytag und Felix Dahn vorzulesen hatte; ihre sentimental-harmonisierenden Lösungen von Standeskonflikten sind als massenwirksam zu verstehen im Zusammenhang mit der illusionistischen ,Feudalisierung' des deutschen Bürgertums in der wilhelminischen Zeit (vgl. 6 . I M ) . Der polemisch verwendete Ausdruck Kitsch ist erst am Ende des 19. Jh. im Zusammenhang mit der literarischen ,Sprachkrise' aufgekommen (vgl. 6.13DE). Im Jugendstil um 1900 wurde die Grenze zwischen hoher/bildungsorientierter Kunst/Literatur und Kitsch wieder sehr fließend (vgl. 6.13F—J). — Die Entwicklung der L e i h b ü c h e r e i e n stagnierte (nach Engelsing 1973, 140ff.) zwischen der gescheiterten Revolution 1848/49 und der Reichsgründung 1871; danach gab es im Zusammenhang mit der immer stärkeren Alphabetisierung der Unterschichtbevölkerung in der Hochindustrialisierungsphase einen Anstieg von Leser- und Ausleihezahlen um das Zehnfache bis um 1900. Dabei traten die im Vormärz zahlreichen Leserinnen und Leser aus dem alten Mittelstand (einschließlich seines Dienstpersonals) immer mehr zurück. Als Gründer und Förderer von Leihbüchereien waren vor allem Vereine und die Innere Mission tätig, teilweise seit 1849 mit dem Ziel der Revolutionsbeschwichtigung, während die Leihbüchereien der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften nur wenig benutzt wurden (Engelsing 1973, 147).
C. In der N a c h k r i e g s z e i t ist in den 50er Jahren ein starker Rückgang der Leihbuchlektüre, besonders nach Einführung des Fernsehens festgestellt worden (Pflug 1983): Wenige Jahre danach hat sich die Nutzung der öffentlichen Bibliotheken (wie Leih- und Volksbüchereien jetzt heißen) wieder „stabilisiert, wenn auch auf anderem Niveau"; statt ,Bildung' (im traditionellen belletristischen Sinne) und Unterhaltung ist jetzt mehr Information aus Sachbüchern und Nachschlagwerken gefragt. Unterhaltung wird heute mehr von audiovisuellen Medien geboten. Die Ausleihe literarischer Werke sank von etwa 8 0 % auf 3 0 — 5 0 % . Bücher werden mehr benutzt als gelesen. Die Buchausleihe ist in der Bundesrepublik Deutschland auf 5 % der Bevölkerung gesunken, allerdings weniger bei Jugendlichen, die (mit etwa 2 0 % ) vor allem seit der Oberstufenreform der höheren Schulen Literatur für Spezialarbeiten benutzen. Das nur informative Lesen bedeutet einen Verlust an Einübung in kontinuierliches Lesen und an „Bindung der Leserschulung an einen Bildungskanon"; andererseits hat sich die Buchproduktion trotz des Fernsehens erstaunlich expandieren können, vor allem mit Taschenbüchern (Wegwerfliteratur) (Pflug 1983, 78, 81). — Die heutige Inkongruenz zwischen Bücherbesitz, Bücherschenken und repräsentativ vollen Bücherregalen in der Wohnung einerseits und tatsächlicher Bücherlektüre andererseits ist kulturideologisch bedingt. Für die Bundesrepublik Deutschland wurden durchschnittlich 186 Bücher in 9 4 % aller Haushalte errechnet, „doch jeder dritte Bundesbürger liest kein Buch", und durchschnittlich 3 Stunden Fernsehen täglich entsprechen nur 40 Minuten Buchlektüre (Peter Schneider, in: H. Hoffmann 1994, 225). „Das Ansehen des Buches ist weit größer als der Kreis seiner Leser", und mit 32 entliehenen Büchern pro Entleiher im Jahr liegt Deutschland deutlich hinter den Niederlanden (41) und Finnland (37) (Frank Wössner, ebda. 108 f.).
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
Die wachsende Nachfrage nach sachlicher I n f o r m a t i o n s l i t e r a t u r im Buchhandel, verbunden mit dem Rückgang erzählender Literatur auf 1 1 % , kann verschieden beurteilt werden. Geht man davon aus, daß Sachinformation und Wissensorganisation grundsätzlich nicht an das Medium Buch gebunden sind, daß Computer hierin ebenso nützlich und leistungsfähig sind und intensive Computerbenutzer am seltensten Bücher lesen, so wird man die Überlebenschancen des Buches als Massenmedium für gering halten und den Verlust dieses ruhmreichen, individuellsten Bildungsmittels beklagen (Wössner, in: H. Hoffmann 1994, 110ff.). Gegenüber dem Fernsehen scheint das Buch jedoch noch Chancen insofern zu haben, als festgestellt worden ist, daß Vielleser Informationen aus audiovisuellen Medien weitaus besser und erfolgreicher verarbeiten als Nichtleser (H. H o f f m a n n 1994, 261 ff.): Lesen macht die Lesenden autonomer in der Zeitplanung und Wissensorganisation, fördert ihre Phantasieentwicklung und die Fähigkeit zum hypothetischen und argumentativen Denken wie zum Lernen und Problemlösen überhaupt. Um der bereits aus den USA signalisierten Gefahr der wieder wachsenden ,Wissenskluft' zwischen erfolgreichen Wohlorientierten und einem ,Wissensproletariat' entgegenzuwirken, bemüht sich seit 1977 die Deutsche Lesegesellscbaft, seit 1988 die Stiftung Lesen, ζ. T. mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und des ZDF, um diesbezügliche Forschungen und Programme, um Appelle zur aktiven Leseförderung in Familien neben dem und nicht statt des Fernsehens, um Kooperation zwischen Schule und Elternhaus, gegen traditionelle Vorstellungen von Lektürekanons und ,Interpretationswut' bei Lehrern, um Literaturempfehlungen zu Fernsehserien, usw. (H. H o f f m a n n 1994, 228 ff., 269ff.).
D. In der Entwicklung der Z e i t u n g kam die Modernisierung in deutschsprachigen Ländern verhältnismäßig spät, verglichen mit Westeuropa und den USA. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es im Wesentlichen nur eine N a c h r i c h t e n p r e s s e (vgl. Bd. II: 5.2BC). Trotz mancher früher Versuche zur politischen Publizistik kurz nach der Französischen Revolution (s. Bd. II: 5.12P—Y), in den Befreiungskriegen (1813/15), im Vormärz (ab 1830) kann von einer M e i n u n g s p r e s s e erst seit den revolutionären Monaten im Jahre 1848 die Rede sein (Wilke 1991, 84). Kritische Töne, ja selbst Bewertungen, Hintergrundinformationen, Forderungen wurden meist ebenso vermieden wie lokale und innerterritoriale Themen überhaupt. Die Napoleonzeit und die Metternichzeit (seit den Karlsbader Beschlüssen 1819) waren Zeiten scharfer Präventivzensur, vor allem für Druckerzeugnisse unter 20 Druckbogen, so daß nur eine kleine Schicht von Gebildeten, Begüterten und politisch Interessierten Unzensiertes zu lesen bekam (Breuer 1982; McCarthy/ v. d. Ohe 1995). Durch allgemeine Demagogen-Verfolgung, mit Zeitungskonfiszierungen, Berufsverboten und Verhaftungen für Redakteure
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usw. wurde kritischer Journalismus systematisch unterdrückt. Unter den in der 1. Jahrhunderthälfte nach Amerika ausgewanderten Deutschen war ein relativ hoher Prozentsatz an Zeitungsschreibern und -lesern. Im Deutschland der Restaurationszeit wurde aus der N o t eine Tugend gemacht: Im Sinne der aufklärerischen privaten Öffentlichkeit überließ man weiterhin die Meinungsbildung dem vertraulichen Räsonnement der lesenden gebildeten Bürger im Kaffeehaus und zuhaus bzw. der politisch naiven Kannegießerey der Leute in Wirtsstuben und an Straßenecken. Die vorwiegend konservative, antirepublikanische Haltung der p o l i t i s c h e n Publizistik hing auch mit dem Einfluß der aufklärungsfeindlichen literarischen R o m a n t i k zusammen (Wehler 1 9 8 7 , 2 , 4 0 9 ff., 5 0 6 ff.): D e n bildungsbürgerlichen Wortführern ging es besonders um ein neues Identitäts- und Legitimationsbewußtsein der Bürger; für die neuen Staatsbürger (citoyens) ersetzten sie das alte Untertanen-Verhältnis durch eine neue, gesicherte Privilegierung aus Besitz und Bildung sowie durch ein (aus historischen Vorstellungen abgeleitetes) N a t i o n a l b e w u ß t sein, das einerseits das emotionale revolutionäre Nationalbewußtsein der Franzosen zum Vorbild n a h m , andererseits in franzosenfeindlicher H a l tung die demokratischen Ziele der Revolution zurückstellte oder verdrängte. So haben die (noch lange gerühmten) akademischen patriotischen Reden und Schriften von Fichte, Schleiermacher, A d a m M ü l l e r u. a. und die publizistischen Aktivitäten (in Flugschriften, Zeitungen, Liedern) von Görres, Gentz, Arndt, J a h n , Körner u. a. in der napoleonischen Z e i t zwar viel zur Verbreitung eines bildungsbürgerlichen deutschen Nationalgefühls beigetragen, teilweise mit kulturellem Sendungsbewußtsein, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (Wehler 1 9 8 7 , 2 , 3 9 4 ff.); damit wurde jedoch nichts erreicht für die Demokratisierung und politische Bildung der Unterschichtbevölkerung, die auch die Befreiungskriege mit ihren Z w ä n g e n und Verlusten nicht viel anders erlebt und erlitten hat als die Fürstenkriege der absolutistischen Z e i t . In seiner politischen Bedeutung und Wirkung überschätzt worden ist die literarische Bewegung des Jungen Deutschland (Hermand 1966; Koopmann 1970; 1993; Brandes 1991): Einige Schriftsteller (Gutzkow, Laube, Mündt, Wienbarg, Heine, Börne u. a.) suchten zwar, angeregt durch die Pariser Julirevolution (1830), in der Auseinandersetzung mit Klassik und Romantik die Literatur der Zeitwirklichkeit näherzubringen, brachten es aber nur zu einer experimentierenden literarischen Stilrevolution, die sehr eigenwillig, unklar und widersprüchlich war. Es war nur eine literarische Emanzipation, vergleichbar dem Sturm und Drang (s. Bd. II: 5.2P, 5.10S), mit vagen politischen Zielen. Das durch literarische Denunziation ausgelöste spektakuläre Verbot der Bewegung durch einen Bundestagsbeschluß (1835) wegen Gefährdung von Religiosität und Sittlichkeit kann ebensowenig über die eher elitäre, politikferne, antijournalistische Grundhaltung deutscher Literaten des 19. Jh. hinwegtäuschen wie die heutigen ideologie- und selbstkritischen Versuche der Germanistik, einzelne mutige antirestaurative oder sozialkritische Taten (z. B. Büchner) zu einer fortschrittlichen ,Vormärz'-Literatur zusammenzustellen (vgl. 6.16D).
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
E. Die Forderung nach politischer Meinungsbildung in der Zeitung — bereits 1775 von Schubart erhoben und realisiert (vgl. Bd. II: 5 . 2 N ) , konnte im frühen 19. Jh. nur ausnahmsweise verwirklicht werden, ζ. B. in den Berliner Abendblättern von Heinrich v.Kleist ( 1 8 1 0 / 1 1 ) und im Rheinischen Merkur von Joseph Görres (1814—16). Ihr Fehlen in den „miserablen", „langweiligen", „niveaulosen" deutschen Blättern wurde noch bis um 1880 von vielen beklagt, besonders im Vormärz (Püschel 1 9 9 1 a , 429ff.). Möglichkeiten politischer Einflußnahme durch Publizistik wurden schon früh auch von fürstlichen Obrigkeiten erkannt: So konnte der russische Oberbefehlshaber Kutosow es am 25.3.1813 wagen, in seinem „ A u f r u f an die Deutschen" den deutschen Fürsten die „verdiente Vernichtung durch die Kräfte der öffentlichen Meinung" für den Fall anzudrohen, daß sie sich dem russisch-preußischen Bündnis gegen Napoleon nicht anschlössen; auch der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. hat 1813 einen (von Staatsrat v.Hippel stilistisch gekonnt verfaßten) Aufruf „An mein Volk" erlassen (s. 6.16C). — Ein wenig bekannter Ausnahmefall von Meinungspresse im Vormärz war die seit 1814 erscheinende Trier'sche Zeitung (Püschel 1 9 9 1 c 1993 ab): Sie leistete nach der Lockerung der Zensur durch das preußische Zensuredikt von 1841 einen konsequenten Beitrag zur Herstellung einer „vollständigen Öffentlichkeit im Politischen", indem sie eine kommunalpolitische Bürgerpetition an den König abdruckte, ihr sozusagen den Status des ,offenen Briefes' als mehrfachadressierte Textsorte gab (auch im politischen Streit mit anderen Zeitungen) und dies durch parteiliche Kommentarartikel von anonym schreibenden Liberalen unterstützte, die inhaltlich, noch nicht formal, schon den Charakter des ,Leserbriefs' haben, wobei schon der Inszenierungscharakter moderner Medienkommunikation deutlich wird: Bildungsbürgerlich orientierte Parteimeinung wurde als Vertretung einer allgemeinen ,öffentlichen Meinung' hingestellt (Püschel 1991c). Diese Zeitung aus einer sehr rückständigen, aber von langer französischer Besatzung geprägten, einst geistlichen ,Provinz' entwickelte sich von 1840 bis zum Verbot 1851 vom Liberalismus über einen „wahren Sozialismus" bis zum Anarchismus (Dowe 1972, n. Püschel a. a. O.); sie war journalistisch moderner und länger am Leben als Karl M a r x ' Rheinische Zeitung (1842/43).
K o m m e n t i e r e n d e s Zeitungschreiben begann nicht erst mit den speziell dafür zu entwickelnden Textsorten. Bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden gelegentlich auch in berichtenden Zeitungstexten, sofern sie die Kurzform der ,Meldung' in Richtung auf ,Nachricht' überschritten, kommentierende Elemente im ,Wie' des Berichtens untergebracht (Püschel 1991 ab): Mit Einzelheiten über politische, kulturelle und historische Details und Zusammenhänge wurden Hintergrundinformationen gegeben, ζ. B. in Cottas Allgemeiner Zeitung (ab 1798), teilweise schon nach dem Pyramidenprinzip im Textanfang (mit dem, was man heute das Lead nennt). Auch reportagehafte Züge finden sich vereinzelt als Nachwirkung der Briefform der frühesten Zeitungen. Politische und ökonomische Zwänge haben diese modernisierenden Tendenzen jedoch noch lange gebremst. Wo meinungsbildende Persuasion schon in speziellen Textsorten wie ,Leitartikel' oder ,Leserbrief' gewagt wurde,
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wie in Georg Büchners „Hessischem Landboten" (1834, s. 6.16E), waren die Textstile stark von der Rhetorik geprägt, die — trotz ihrer Abschaffung in der Belletristik und Poesie — im gymnasialen Deutschunterricht des 19. J h . noch eine bedeutende Rolle spielte (Püschel 1991, 1993 a, 1994): Von Textmustern des Briefes, der wissenschaftlichen Abhandlung oder aber der Volksversammlungsrede her wurden diese persuasiven Zeitungsartikel gegliedert, ζ. T. mit zeitungsspezifischer Anpassung wie der Umfunktionierung des exordiums zur Verständnissicherung und Leserorientierung, die allerdings in den Revolutionsjahren 1848/49 überflüssig wurde, da es nun im raschen Lauf der Ereignisse eine hinreichend kontinuierliche Berichterstattung gab. Der Journalist änderte dabei mit Rhetorik seine Berufsrolle als Textproduzent: Aus dem bildungsbürgerlich formulierenden ,Privatmann' oder ,Chronisten' wurde der Quasi-Redner vor dem Forum der Leser, allerdings nur mit dem Ziel des docere und movere, noch nicht des delectare (wie im unterhaltungssüchtigen späteren 20. Jh.). Während man gegenüber der Obrigkeit noch rationalistischaufklärerisch, nämlich belehrend und argumentativ umging, stilisierte man gegenüber ständisch gleichgestellten Gegnern eher polemisch und emotional (Püschel 1994, 173). Von den leserbriefähnlichen Kommentaren aus dem J a h r 1842 (rhetorisch-bildungsbürgerlich raisonnierend, im Interesse des Gemeinwohls) unterscheiden sich stark die als bezahlte Anzeigen getarnten Leserbriefe von 1848: sehr kurz, scharf polemisch, persönlich beleidigend, für individuelle oder Gruppeninteressen (Püschel 1995 a). F. Die P r e s s e f r e i h e i t wurde 1848 als langezeit vorenthaltenes Grundrecht endlich in der Paulskirchenverfassung proklamiert. Aber schon
1854 wurden restriktive „Bundesbestimmungen, die Verhältnisse des Mißbrauchs der Presse betreffend" erlassen, und man übte zusätzlich reaktionären Druck auf die Presse aus durch Konzessions- und Kautionszwang und eine Stempelsteuer, also durch Zwang zur Kostensteigerung (Wilke 1991, 80). Innerhalb weniger Jahre wurde die Zensur ersetzt durch „die Schere im Kopf des Literaten, des Herausgebers und selbst des Verteilers" (Kohnen 1995). Erst 1874 wurde die Pressefreiheit durch ein Reichspressegesetz endgültig garantiert. Die politische Presse von 1848 war dreigeteilt in konstitutionelle, republikanische und radikalsozialistische/kommunistische Blätter (Tauschwitz 1981; Hoefer 1983): Die letztgenannten konnten nur im Ausland erscheinen und waren sehr persönlich akademisch, noch nicht parteigebunden redigiert. Die republikanische Presse wurde vom fortschrittlich denkenden Mittelstand (Lehrer, Pfarrer, Ärzte, kleine Gewerbetreibende), ζ. T. auch von Handwerkern, Arbeitern, Soldaten, Bauern gelesen, war persönlicher, adressatenbezogener, in der Kritik ironischer und indirekter; die konstitutionelle
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6.3. E n t w i c k l u n g der M a s s e n m e d i e n
richtete sich an das Besitz- und traditionelle Bildungsbürgertum, strebte vor allem die Erhaltung des Status q u o (Monarchie mit gemäßigter Verfassung, Garantie des Eigentums) und k o m m e r z - und industriefreundliche Handelsfreiheit an und formulierte autoritärer mit A n o n y m i t ä t und unpersönlicher Referenz im man/wir/unser-Sú\ und in Gemeinplätzen. In der untersten, eigentlich revolutionären Schicht der Publizistik der Zeit von 1830 bis 1849 w u r d e n von arbeitslosen u n d / o d e r politisch verfolgten A k a d e m i k e r n („herumziehenden Libellisten") oder Handwerksgesellen zahlreiche F l u g s c h r i f t e n verbreitet ( M a t t e n k l o t t / S c h e r p e 2, 1975; D. Wolf 1983; Weigel 1979): Die Textsorten der Flugschriften unterscheiden sich k a u m von denen der R e f o r m a t i o n s - u n d Bauernkriegszeit (vgl. Bd. I: 4 . 8 H —K): Briefe, Petitionen, Adressen, Dialoge, parodistische Gebete, Katechismen und G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e , Statuten, A u f r u f e , allerdings keine Sermone, T r a k t a t e , Beschwerden mehr, d a f ü r aber auch D o k u m e n t a t i o n e n , Bekanntm a c h u n g e n , auch von R e d a k t i o n s g r e m i e n bearbeitete Beschlüsse von Vereinen und Versammlungen (noch häufiger als um 1525). Adressiert w a r e n sie der Form nach
Wirtshausszene in Oberhessen: Ein Lesekundiger liest aus einer Flugschrift vor n. einer Z e i c h n u n g von Rudolf H o f m a n n , 1837 D a r m s t a d t , Hessisches L a n d e s m u s e u m (a. d. Katalog d. Georg-Büchner-Ausstellung, D a r m s t a d t 1987)
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meist an die Deutseben, das deutsche Volk, Brüder und Freunde, dem Inhalt nach aber an bestimmte politische oder gesellschaftliche Gruppen. Für bürgerliche Gruppen wurde aufklärend-kritisches, argumentierendes Formulieren bevorzugt, für unterschichtliche eher belehrendes in kirchlicher und schulischer Stiltradition. Im urban fortgeschrittenen Berlin war das parteiische Kommentieren von Tagesereignissen im Berliner Stadtdialekt sehr beliebt (s. 6.16F), auch spöttische Verwendung des Obersächsischen mit der satirischen Figur des „Rebubltganers Bliemcben". Manche Flugschriften waren im Westentaschenformat gedruckt, um sie rasch verstecken und unauffällig weitergeben zu können. Die Flut der Flugschriften, Anschlagzettel und Plakate seit dem Revolutionsjahr 1848/49 wurde 1855 nach englischem und französischem Vorbild legalisiert durch Litfaßsäulen und Plakatwände an öffentlichen Plätzen. — In der Zeit der kurzen Pressefreiheit im Sommer 1848 blühte in Berlin die S a t i r e p r e s s e auf (Koch 1991): Aus über 30 ragten die liberalen, mit Karikaturen illustrierten Witzblätter „Kladderadatsch", „Berliner Wespen" und „Ulk" heraus. Sie hatten schnell massenhafte Verbreitung mit Auflagen bis zu 100.000. Nach der Niederschlagung der Revolution gingen die meisten ein, die anderen wurden politisch derart gezähmt, daß sie bald zu Unterhaltungs- und Familienblättern mit „echtem Humor" statt „zuchtlosem Witz" verkamen oder (wie der „Kladderadatsch") später in nationalchauvinistische, antisemitische Richtung gerieten. G . In der 2 . H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s , v o r allem in seinem letzten Drittel, e x p a n d i e r t e das d e u t s c h e Z e i t u n g s w e s e n zur M a s s e n p r e s s e im Z u s a m m e n h a n g mit der H o c h i n d u s t r i a l i s i e r u n g . Seit 1 8 4 8 w a r der R ü c k g a n g des B ü c h e r a b s a t z e s mit der Z u n a h m e des Z e i t u n g l e s e n s v e r b u n d e n . Die M e h r h e i t der lesefähig g e w o r d e n e n U n t e r s c h i c h t - B e v ö l k e r u n g stieg gleich als Z e i t u n g l e s e r in die d e u t s c h e S c h r i f t s p r a c h k u l t u r ein. F ü r d a s J a h r h u n d e r t e n d e d a r f a n g e n o m m e n w e r d e n , d a ß a u c h jeder Arbeiter, H a n d w e r k e r und K l e i n b a u e r täglich eine Z e i t u n g selbst lesen k o n n t e ( K e t t m a n n 1 9 8 1 , 5 3 ) , w ä h r e n d 1 8 4 8 e t w a nur ein Viertel der Bevölkerung Z e i t u n g e n las (Engelsing 1 9 7 3 , 9 4 ) . Die Entwicklung der Zeitung „vom Rinnsal zur Informationslawine" in der 2. Hälfte des 19. Jh. läßt sich an der Zahl der Blätter, ihren Auflagen und ihrem Umfang ablesen (Wilke 1991, 76 ff.): Ende des 18. Jh. gab es in Deutschland über 200 Zeitungen an etwa 150 Orten, Ende des 19. Jh. 3405 an 1884 Orten, vor allem viele kleinräumige und lokale. Nach einer Stagnation in den 1850er Jahren lag die stärkste Expansion im letzten Drittel des 19. Jh. Die größten Zeitungen steigerten dabei ihre Auflagenhöhe von ca. 4.000 Exemplaren auf bis zu 150.000; nach der Gesamtauflagenhöhe aller Zeitungen gab es eine etwa 40fache Steigerung in einem Jahrhundert. Die kollektive Rezeption (um 1800 oft noch 10 Leser oder Lesenhörer pro Exemplar) ging stark zurück zugunsten von individuellem Bezug und individueller Lektüre. Um 1900 erschien jede dritte Zeitung (werk)täglich, in Berlin einige mehrmals täglich. 1904 gab es mit der Berliner „B. Z. am Mittag" das erste Boulevardblatt. A u f die seit der R e v o l u t i o n und d u r c h die Télégraphié z u n e h m e n d e Fülle der zu d r u c k e n d e n I n f o r m a t i o n e n reagierten die Verleger mit kleineren Typen, g r ö ß e r e n F o r m a t e n , h ö h e r e r Seitenzahl, mit i n s g e s a m t einer Verm e h r u n g des L e s b a r e n u m das F ü n f z e h n f a c h e
(Wilke 1 9 9 1 , 7 9 ) .
Die
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inhaltliche Expansion führte zu immer größerer Unübersichtlichkeit. Der Zeitungleser mußte von der Ganz-Lektüre zur selektiven Lektüre nach eigenen Interessen übergehen (Püschel 1991 a, 438 ff.; Wilke 1991, 83 ff.): Dies machte allmählich (bis um die Jahrhundertwende) die Ausbildung von Z e i t u n g s t e x t s o r t e n über die Nachrichten hinaus notwendig, auch die Einteilung in journalistische S p a r t e n (Rubriken, Ressorts) mit speziellen Redaktionen und schließlich die Entwicklung eines Systems von Überschriftenarten bis hin zur Schlagzeile. Bei den Nachrichten dominierte nicht mehr Höfisches, Militärisches und das Ausland. Handel, Wirtschaft und später auch Soziales wurden immer mehr gleichrangig behandelt. Ende des Jahrhunderts gab es auch einen ausführlichen Lokalteil. Nach 1870 wurden erzählende und literarische Texte, nicht nur im Feuilleton, ζ. T. in Unterhaltungsbeilagen, beliebt. Zur Entwicklung der Schlagzeile s. 6.15C. H. Die Zeitungsexpansion war nicht nur von fachspezifischen t e c h n i s c h e n Fortschritten bedingt: Die Schnellpresse (seit 1823) und die Rotationspresse (seit den 1860er Jahren) ermöglichten eine bis zu zehnfache Druckleistung. Durchgehende Nacht-Schnellzüge der Eisenbahn beschleunigten den überregionalen Vertrieb. Die Herstellung von Papier aus Holzschliff (ab 1844) verbilligte die Preise um das sechsfache. Die Gründung der ersten deutschen Nachrichtenagentur Wolffs Telegraphisches Korrespondenzbureau (1849) vergrößerte, beschleunigte und zentralisierte die Nachrichtenflut und machte Nachrichten zur Ware. Ö k o n o m i s c h entscheidend für die Zeitungsexpansion war die Aufhebung des staatlichen Intelligenz-Monopols (1850), so daß nun Werbeanzeigen von zahlenden Inserenten auch in normalen privaten Zeitungen erscheinen durften. Die marktwirtschaftliche Funktionalisierung des Anzeigenwesens seit der Gründerzeit (ab 1872) hatte jedoch eine so starke Abhängigkeit der Zeitungsfinanzierung vom Annoncenteil zur Folge (Hadorn/ Cortesi 1986, 2, 70ff.; Wilke 1991, 81 ff.), daß ein Generalanzeiger genannter neuer Typ von Tageszeitung nach amerikanischem Vorbild zunehmend den Markt beherrschte: kostenlos für die Bezieher, mit nur kleinem redaktionellem Teil und starkem Lokal- und Anzeigenteil, politisch wenig informativ, mit sehr hohen Auflagen. Damit konnte die freie politische Meinungspresse nicht mehr konkurrieren. Dies machte wiederum die Parteizeitungen, die es ab 1871 gab, immer stärker von mit Anzeigen inserierenden Interessengruppen abhängig, wobei natürlich die Linkspresse wegen fehlender Industrie- und Gewerbebeziehungen im Nachteil war. Der Beruf des Journalisten wurde professionalisiert: An die Stelle der im Nebenberuf schreibenden, akademisch gebildeten Lehrer, Juristen, Offiziere, Diplomaten usw. trat der vom Verkaufserfolg abhängige Berufsjournalist. Die Verleger, in der ersten Jahrhunderthälfte
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noch meist als eigene Redakteure eher publizistisch an der ,Botschaft' interessiert, wurden vorwiegend k o m m e r z i e l l interessierte Unternehmer. Um 1900 bildeten sich durch monopolistische Pressekonzentration mächtige Presse-Konzerne. I. Seit der Freigabe der Meinungspresse durch Pressefreiheit und ihrer immer stärkeren parteipolitischen Orientierung wurden die journalistischen Methoden der Nachrichtenmanipulation durchexerziert: Aufmachung, variierende Wiederholung, Steigerung, Verschweigen, Verzerrung, Kontrast, Vereinfachung (H. D. Fischer 1975, 37). Die politische Wirkung der Presse als »Großmacht', mit „ M i t r e g e n t s c h a f t ' und Einfluß auf die Bedeutungsveränderung der Wörter wurde bereits seit den 1840er, vor allem 1860er Jahren von Regierungsseite warnend festgestellt (Wilke 1991, 88): Konkreter Einfluß der veröffentlichten Meinung' auf das politische Geschehen wurde in den deutschen ,Einigungskriegen' (1864, 1866, 1870/71) offensichtlich. Seit der Abschaffung der Zensur konnten Regierungen nur noch entweder mit Gerichtsprozessen oder mit aktiver P r e s s e p o l i t i k gegensteuern. Nach dem frühen Beispiel einer flexiblen Pressepolitik des preußischen Ministers v. Hardenberg von 1792 bis 1822 (Hofmeister-Hunger 1994) hat vor allem Bismarck, nach dem Vorbild amerikanischer Präsidenten, das Regieren m i t der Presse meisterhaft und skrupellos beherrscht, mit einem amtlichen Pressereferat im Auswärtigen Amt, mit eigener Redaktionsarbeit, mit eigenen anonymen Polemiken in der Presse, mit bestellten Provinzialkorrespondenten, die im geheimen Regierungsauftrag Artikel schrieben, mit Nachrichtenmanipulationen (nicht nur in der Emser Depesche 1870), mit Journalistenbestechung usw. (Wilke 1991, 88; Koszyk 1966, 229ff.). Das Wölfische Telegraphenbureau hatte bald eine halbamtliche, offiziöse, regierungskonforme Position als Sprachrohr Bismarcks. Mit dem Sozialistengesetz (1878) wurde punktuelle Zensur wiedereingeführt in Form von zahlreichen Verboten von Büchern und Zeitschriften, wegen Demoralisierung, Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, undeutscher Gesinnung usw. (Karolak, in: H . G ü n t h e r / O . L u d w i g 1994, 1, 895f.). In der Entwicklungslinie regierungskonformer Pressepolitik von Bismarck über Graf Waldersee (Bismarcks Sturz), die Berichte der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg und Alfred Hugenbergs Pressekonzern vor 1933 bis zur Springer-Presse der Nachkriegszeit wurde immer wieder die komplementäre Seite von staatlicher Pressepolitik deutlich: Viele Verleger und Journalisten haben sich den Regierungen und Regierungsparteien gern angedient zur professionellen und ökonomischen Anteilhabe an der politischen Macht.
J. Eine Entpolitisierung der Printmedien-Öffentlichkeit durch Pseudoprivatisierung politischer Inhalte zeigte sich in der Vermehrung von P u b l i k u m s z e i t s c h r i f t e n (mit thematischer und sozialer Differenzierung für bestimmte Leserkreise) in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders nach 1870. Um 1900 überholten sie an Breitenwirkung die Zeitungen (Hadorn/Cortesi 1986, 104). Stahlstiche im Rotationsdruck, beson-
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ders seit dem Revolutionsjahr 1848/49, und Zeitungsdruck von Photographien (seit 1883) brachten immer stärker die emotionalisierende Bildk o m m u n i k a t i o n zur Geltung, nicht nur als bequemer Leseersatz für halbalphabetisierte Bevölkerungsteile, auch als Verführung zu vorwiegend optischer, selektiver W a h r n e h m u n g gesellschaftlicher Wirklichkeit. Vorläufer populärer bebilderter Unterhaltungspresse waren das Leipziger Pfennigmagazin (ab 1833), nach englischem Vorbild, und die Leipziger Illustrine Zeitung (ab 1843). Großen Erfolg hatte die Gartenlaube, lllustrirtes Familienblatt (ab 1853), von einem liberalen 1848 er im Gefängnis entworfen, zunächst noch aufklärerisch mit Stahlstichen und sozialkritischen Romanen ihrer Starautorin Eugenie Marlitt. Zwischen 1883 und 1903 wurden in der Gartenlaube über 900 Gedichte abgedruckt, meist eigens für die Zeitschrift verfaßt, oft von Lesern eingesandt (Rischke 1982): In sehr sentimentaler Weise wollte m a n mit ihnen nationalpädagogisch wirken für ein neues, nationalliberales Identitätsbewußtsein nach dem Scheitern der Revolution, dann bis zur Reichsgründung teilweise mit einem ausländerfeindlichen, auf charismatische Führerpersönlichkeiten hin orientierten, f r ö m m e l n d e n Nationalgefühl, mit Verharmlosung sozialer Konflikte; in der Bismarckzeit im Kulturkampf gegen den Ultramontanismus, danach nur noch unpolitisch mit romantisch-restaurativer Verklärung von Familie, patriarchalischer Frauenrolle und ländlichem Leben, mit rührenden, ,lebensnahen' Kurzgeschichten und Bildreportagen aus der Intimsphäre von Fürstlichkeiten und Prominenten. Diese erfolgreichste Familienzeitschrift hatte 1855 bereits
Beißfatt ¿um DCTuftrirten Dorfßnröicr. - »«αηηβοηΐίφ« ¡Retaftmr jttbmaab ®toiu. Titelblattvignette der 1. Ausgabe der „Gartenlaube"
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35.000 Abonnenten, 1876: 400.000, 1881: 3 Mill., im Krieg 1870/71 mit Feldabonnements. Sie wurde immer staats- und regierungshöriger in den Händen von Verlagskonzernen: Scherl ab 1903, Hugenberg ab 1916 (Hadorn/Cortesi 1986, 2, 93). Wesentlich moderner als diese kleinbürgerlich-sanfte Vorläuferin der späteren Regenbogenpresse' war Ullsteins Berliner lllustrirte Zeitung (ab 1891) mit sensationellen Photodrucken und Reportagen: Der Leser dieses Bildjournalismus wurde zum „Voyeur" bei Prominenten (Hadorn/Cortesi 1986, 2, 95). Vor dem 1. Weltkrieg konkurrierten etwa 7000 solcher Zeitschriften miteinander. Ihre eskapistische Volksbefriedigungsfunktion wird meist schon an ihren Titeln deutlich: Daheim, Am deutschen Herd, Heimath, Quellwasser fürs deutsche Haus, Abendglocken, Sorgenfrei, Sonntagsruh, Der Hausfreund. Durch solche Unterhaltungs- oder Familienzeitschriften wurde bereits im Krieg 1870/71 die privatistisch-emotionalisierende Verharmlosung von Politik sehr geschickt betrieben. Die Reduzierung rationaler Rezeption durch Bildkommunikation wurde schon 1873 von dem Wiener Journalismuskritiker Ferdinand Kürnberger (s. 6.8F) polemisch beurteilt: „Übergang vom Lesen zum Nichtlesen. Viel Bild, wenig Text [...] und nicht lesen, immer gaffen" (zit. n. Mackensen 1971, 154). Bildkommunikation fördert (nach Sennett 1983, 16 ff., 173) „das übermäßige Interesse an Personen auf Kosten der gesellschaftlichen Beziehungen [...] wie ein Filter, der unser rationales Gesellschaftsverständnis verfärbt", als „Mystifikation der öffentlichen Erscheinungsbilder"; dadurch geriet „die freie Persönlichkeitsentfaltung in einen Gegensatz zur sozialen Interaktion", wobei die Frustration im eigenen Leben des (Klein-)Bürgers auf das Erscheinungsbild der pseudo-intim veröffentlichen Lebensweise der Prominenten projiziert werde und diese Ideologie der Intimität „alle politischen Kategorien in psychologische" verwandle (a. a. O. 226, 293). Die dadurch rituell produzierte „destruktive Kollektivpersönlichkeit" entspringe narzißtischen, echte Gemeinschaft verhindernden „destruktiven Gemeinschaftsphantasien", die an die Stelle früherer Allegorien (ζ. B. .Freiheit', ,Gerechtigkeit', ,Patria') traten {a. a. O. 271). K . U n m i t t e l b a r e A u s w i r k u n g der H o c h i n d u s t r i a l i s i e r u n g w a r eine Verä n d e r u n g u n d E x p a n s i o n der A n z e i g e n w e r b u n g
in Z e i t u n g e n
Z e i t s c h r i f t e n seit E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s ( H o h m e i s t e r 1 9 8 1 ) :
und Noch
weit ins 1 9 . J h . hinein h a t t e n W a r e n a n g e b o t e die schlicht i n f o r m a t i v e F o r m v o n Mitteilungen über eingetroffene und d o r t und d o r t zu Waren.
habende
Im L a u f e des 1 9 . J h . w u r d e n F o r m e n des Anzeigenteils
ent-
wickelt, die sich v o m N a c h r i c h t e n s t i l entfernten: E i n r a h m u n g , t y p o g r a phische Differenzierung,
l o c k e r e A n o r d n u n g der T e x t t e i l e mit
leeren
Z w i s c h e n r ä u m e n und kleinen bildlichen W a r e n d a r s t e l l u n g e n ; a u c h die kleine s c h w a r z e H a n d mit Zeigefinger als Mittel des Leseanreizes. In der 2 . H ä l f t e des 1 9 . J h . t r a t e n W a r e n a n p r e i s u n g e n mit lexikalischen M i t t e l n in den V o r d e r g r u n d , k a m e n t y p o g r a p h i s c h e und bildliche Reizmittel der N o t w e n d i g k e i t des selektiven Lesens im Ü b e r a n g e b o t v o n I n f o r m a t i o n e n und W a r e n entgegen. E n d e des 1 9 . J h . spielte d a s F i r m e n i m a g e , mit D a r stellungen v o n F a b r i k a n l a g e n und festen, p l a k a t i v w i r k e n d e n W a r e n b e zeichnungen eine g r o ß e Rolle, dazu p s y c h o l o g i s c h e Tricks professioneller W e r b e t e x t e r (s. 6 . 1 5 E F ) . D e r R ü c k g a n g des W a r e n a n g e b o t s im E r s t e n Weltkrieg, in der W e i m a r e r und Nazizeit zeigte sich in einem deutlichen
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
Rückgang der Quantität von Anzeigenwerbung und in einer gewissen Stagnation der Werbeformen. Die Aufdringlichkeit von Warenwerbung mußte zurückgenommen werden, was sich u. a. im allmählichen euphemistischen Ersatz der Bezeichnung Reklame durch Werbung seit den 20er Jahren zeigte, besonders nach 1945. Zur amerikanisierenden M o dernisierung des Werbestils in westlich beeinflußten Ländern nach 1945 s. 6.16F! L. Nach den starken Beschränkungen der Pressefreiheit im Ersten Weltkrieg, mit politisch vernebelnden optimistischen Heeresberichten, wurde in der W e i m a r e r R e p u b l i k die Zensur durch die Verfassung abgeschafft. Allerdings gab es viele publizistische und literarische Verbote durch Gerichtsprozesse wegen „Unzucht", „Gotteslästerung", „Gefährdung des deutschen Ansehens", usw., vorwiegend gegen linke Tendenzen, während kriegsverherrlichende oder nationalsozialistische Presseerzeugnisse meist unbehelligt blieben. Die totale Zensur der N a t i o n a l s o z i a l i s t e n ( G l e i c h s c h a l t u n g ) wurde schon vor der Machtergreifung (1933) vorbereitet durch die Wirksamkeit des mächtigen deutschnational und schwerindustriell orientierten Konzerns von Alfred Hugenberg, der seit 1927 offen (vorher anonym) die Propaganda der Nationalsozialisten gegen alle demokratischen und sozialistischen Richtungen (auch finanziell) unterstützte und damit der Beendigung der Pressefreiheit durch das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda von Joseph Goebbels vorarbeitete (Breuer 1982; Frei/Schmitz 1989; Abel 1968). Bei der spektakulären öffentlichen Bücherverbrennung durch NS-Organisationen am 10.5.1933 konnte auf ältere schwarze Listen (seit 1913 veröffentlicht) gegen „jüdischen Intellektualismus" und alle von den Nationalsozialisten schon in der Weimarer Zeit bekämpften Richtungen zurückgegriffen werden. Durch den Zwang zu Treuegelöbnissen und die streng kontrollierte Aufnahme oder Nichtaufnahme in die Reichspressekammer bzw. Reichsschrifttumskammer, die Goebbels direkt unterstanden, wurden zahlreiche deutsche Publizisten und Schriftsteller diszipliniert, ausgegrenzt, verfolgt und zur Emigration gezwungen. Diese totale Kontrolle wurde ergänzt durch Zeitungsverbote und Sprachregelungen in den täglichen Pressekonferenzen im Goebbels-Ministerium (Bork 1970; s. 6.16S). In der NS-Presse waren Nachrichten- und Meinungstexte meist miteinander vermischt. Nachrichten wie Kommentare kamen streng verbindlich vom zentralgelenkten Deutschen Nachrichtenbüro. Den Anfang eines Nachrichtentextes bildeten oft Reden von Naziführern, im Krieg die offiziellen Wehrmachtberichte. Eigentlich journalistische Arbeit war fast nur noch in affirmierenden Würdigungen, Betrachtungen, Besprechungen, im Feuilleton oder im Unterhaltungsbereich möglich (Schwitalla 1993, I f f . ; Schottenloher 1985, II, 138 ff.; s. 6.15B).
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Trotzdem gab es Unterschiede in der Wirksamkeit der journalistischen Repression infolge Kompetenzenkonkurrenz zwischen NS-Institutionen, aber auch medienpolitischer Differenzierungen und Kurswechsel (Frei/Schmitz 1989; Schütz 1995): Es gab noch einige Zeitungen, die ihre Distanzierung vom NS-Regime indirekt ausdrücken konnten durch Platzierung, Aufmachung, Konjunktive bei Redeerwähnung, Vermeidung des offiziellen Vokabulars, usw. Die Möglichkeiten des ,Zwischen den Zeilen'Ausdrückens waren gering und konnten nur von einer kleinen Minderheit Wissender dechiffriert werden. Wirkliche Kritik war nur mit illegalen Flugblättern möglich und wurde mit Verhaftung, Deportation, Hinrichtung und Lagertod verfolgt. Die Skala der Kompromißhaltungen weiterschreibender nichtkonformer Journalisten und Schriftsteller war sehr breit, die Grenze zwischen passivem Widerstand und Selbstanpassung durch Verführbarkeit sehr fließend. Eines der raffiniertesten, verschleiernden Presseinstrumente des einstigen Germanisten Goebbels war seit 1940 seine modernbelletristisch aufgemachte Wochenzeitung Das Reich mit einer Auflagenhöhe bis zu 1,5 Mill. Exemplaren, in der sogar einige zum Schweigen gebrachte liberale Publizisten wieder schreiben durften, um kompromißbereiten Gebildeten und der Funktionselite den Glauben an den Endsieg auf kultivierte Weise beizubringen („Nationalsozialismus im Frack", Frei/Schmitz 1989, 119). Goebbels beließ drei international renommierten Zeitungen aus Frankfurt, Berlin und Köln eine relative Eigenständigkeit als Scheinliberale Aushängeschilder für das Ausland; für die besetzten Gebiete erschien seit 1940 die Propagandaillustrierte Signal in 15 Sprachen mit ca. 1,6 Mill. Exemplaren (Schütz 1995, 134 f., 142).
M . In der frühen N a c h k r i e g s z e i t wurde die Medienpolitik unter Besatzungsrecht völlig neugeordnet (H. D. Fischer 1975, 41 f.; Straßner 1994; Schwitalla 1993): Während in der sowjetischen Besatzungszone und späteren D D R nach einer kurzen Scheinliberalen Übergangszeit wieder eine strenge Präventivzensur (auch durch politische Entscheidungen über Papierzuteilung) in der Regie der SED-Regierung eingeführt wurde, ordneten die westlichen Militärregierungen, besonders die britische und amerikanische, im Sinne des westlichen Aufklärungs-Rationalismus und eines reeducation-Programms eine pluralistische, dezentralisierte, überparteiliche Medienpolitik an, vor allem mit einer strengen journalistischen Trennung von Nachrichtentexten und Meinungstexten und mit amerikanischen Schulungskursen für deutsche Journalisten. Nach amerikanischem Vorbild wurde anstelle chronologischer Abfolge in Nachrichtentexten der Lead-Stil verbindlich (Pyramidenprinzip), wonach am Anfang ein Satz zu stehen hat, der das Wesentliche der Nachricht (nach 6 W-Fragen) kurz und allgemein zusammenfaßt, dann im Text weitere Details nach abnehmender Wichtigkeit folgen, so daß redaktionelle Kürzungen vom Ende her nur Unwesentliches betreffen (Straßner 1994, 252). Eine Parallele zu diesem adressatenzugewandten Prinzip ist im Bereich wissenschaftlicher Texte die aus den USA übernommene Gewohnheit, einer Abhandlung ein Abstract voranzustellen. Die Textsortenunterscheidung I n f o r m a t i o n vs. Meinung' wird in seriösen Tageszeitungen bis heute beachtet und von Journalisten wie ein berufsethisches Credo hochgehalten, obwohl sie weitgehend utopisch ist, da, meist unbewußt, schon durch Themenpräferenz, Textauswahl, Platzierung, Aufmachung, Art der Überschrift, Textsortenstil, Wortwahl usw. Wertungen unvermeidbar
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bei der redaktionellen Bearbeitung, oder schon in den Agenturtexten, einfließen. — Die strengere Ausgewogenheit der Pressepolitik wirkte sich auch als Rückgang der eigentlichen Parteipresse aus, verglichen mit der Weimarer Zeit (nur Bayern-Kurier und Vorwärts konnten sich behaupten), abgesehen von Randgruppen- und Alternativblättern. Andererseits wurde kultivierte Meinungsbildung im neuen Typ der Wochenzeitungen nach Vorbild des englischen Observer mit Analysen, Kommentaren, Kontroversen, Dossiers, Wissenschaftsjournalismus und Freizeitteil gefördert, auch mit starker Personalisierung politischer Themen durch die Tendenz, Informationen als Story zu geben (Straßner 1994, 227, 252). In der Zeit der Konkurrenz mit dem Hörfunk blieb die Stellung der Zeitung als Massenmedium der öffentlichen Information und Unterhaltung noch ungebrochen; der Verminderung der Zahl der Zeitungen durch monopolistische Pressekonzentration entsprach eine etwa gleichbleibende Gesamtauflage (Hadorn/Cortesi 1986, 2, 78 ff.): Ende der 20er Jahre gab es in Deutschland etwa doppelt so viele Zeitungen, vor allem lokale und regionale, als in den USA; in der NS-Zeit sank ihre Zahl von etwa 4.000 auf unter 1.000; 1949, am Ende der Besatzungslizenzperiode, gab es in der Bundesrepublik 156, in den 70er Jahren nur noch 125, wobei immer mehr Zeitungen von einem Verlagskonzern herausgegeben wurden. Trotzdem hat sich keine eigentlich ,nationale' Zeitung durchsetzen können. Im Laufe der Nachkriegszeit hat sich das Schwergewicht aber von den Zeitungen zunehmend auf Publikumszeitschriften verlagert: 1985 gab es in der Bundesrepublik 408 Zeitungen neben 4.077 Zeitschriften pro 1.000 Einwohner (Hadorn/Cortesi 1986, 2, 85). Das Zeitunglesen ist überhaupt, seitdem das Fernsehen in den Mittelpunkt alltäglicher Massenkommunikation gerückt ist, leicht zurückgegangen, besonders bei Jüngeren; es sei aber bei 80 % der Bevölkerung noch „fest in den Tagesablauf eingeplant" (Straßner 1994, 226).
Die zahlreichen in der Adenauerzeit weiterarbeitenden Journalisten aus der NS-Zeit haben den journalistischen Stilwandel nach 1 9 4 5 lernbereit mitgetragen, da Flexibilität und Pragmatismus offenbar zu den journalistischen Tugenden gehören (Frei/Schmitz 1 9 8 9 , 196). Dazu gehörte allerdings in der Wiederaufbau- und Wirtschaftswunder-'Ze.it eine weitgehende Ausklammerung der NS-Vergangenheit in der öffentlichen Diskussion (vgl. 6 . 1 6 T ) . So wurde seit der 1968er-Studentenbewegung eine nachträgliche publizistische Vergangenheitsbewältigung notwendig, die bis heute anhält und viel zur friedens- und bündnispolitischen Neuorientierung des westdeutschen Staates und des größten Teils seiner Bevölkerung beigetragen hat. Meinungsfreiheit und Zensurfreiheit ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert. Dieses Grundrecht wird jedoch stark relativiert durch den hohen Grad von Kommerzialisierung und Zentralisierung in Pressekonzernen. Eine Inhalt und Sprache von Pressetexten beeinflussende Folge der Pressekonzentration ist die immer stärkere Abhängigkeit der Redaktionen von zentralen bzw. autonomen Nachrichtenquellen (Straßner 1 9 9 4 , 2 3 1 ff.): Etablierte Medienkonzerne kontrollieren den Zugang zu den Informationsquellen und geben einer Gegenöffentlichkeit in alternativer Presse nur geringe Chancen. Durch den Übergang von Fernschreiber- zu Bildschirmübermittlung der Quellentexte werden etwa doppelt so viele Texte von Nachrichtenagenturen
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unbearbeitet ü b e r n o m m e n , einschließlich der Kommentierung, so daß die redaktionelle Arbeit auf Weitergabe, Selektion und Aufmachung reduziert wird und die G e f a h r besteht, daß „weite Teile der neudeutschen Pressesprache zur dpa-Sprache degenerieren k ö n n t e n " (Straßner 1 9 9 4 , 2 3 3 ff., 2 5 3 ) . Institutionen und Verbände stellen immer mehr fertige T e x t e zur Verfügung durch Pressekonferenzen, PR-Sprecher, Pressemitteilungen; auch hierdurch wird der Journalist immer mehr zum Vermittler vorgefertigter, eintöniger T e x t e degradiert (Biere 1 9 9 3 ) . N . Die rationalistische Aufteilung in ,sachlich' und ,emotional' k o n n t e nicht sehr populär werden. An den Kiosken wurden bald weitaus mehr Erzeugnisse der , B o u l e v a r d p r e s s e ' und der , R e g e n b o g e n p r e s s e ' gekauft, in der die traditionellen journalistischen Textsorten weitgehend vermischt und Informationen ,häppchenweise', als fastfood'-Lektüre dargeboten werden, ohne viel Hintergrundinformation, möglichst e m o tional, umgangssprachlich und mit einem wachsenden Anteil an Bildk o m m u n i k a t i o n (Straßner 1 9 9 4 , 2 2 6 ff.; Schwitalla 1 9 9 3 , 5 ff.): Privatisierende Unterhaltung wird für die meisten wichtiger als I n f o r m a t i o n , mit viel Fiktionalem, Skandalösem, Frivolem, E x o t i s c h e m , Spielerischem, mit viel Prominentenklatsch und alltäglichen Banalitäten, auch mit alltagspraktischer Belehrung und Beratung, von der Warenwerbung bis zu sozialen und moralischen Problemen. Zeitunglesen dient ζ. T. Bedürfnissen, die früher in der Regel von Beichtvätern, Seelsorgern oder älteren Verwandten und N a c h b a r n befriedigt werden konnten. Im Jahre 1967 wurde festgestellt, daß die Soraya-Presse von 20 % der Frauen und 11 % der Männer in der Bundesrepublik gelesen werde (Reger 1972, 150). Zur Dominanz der Bildkommunikation gehört auch die wachsende Beliebtheit von Comics in der Nachkriegszeit. Diese den Text oft auf knappe Bildunterschriften oder Sprechblasen beschränkenden bildlich erzählenden Fortsetzungsserien wurden noch bis in die 50er Jahre als amerikanisierende Subkultur öffentlich und pädagogisch diskriminiert, obwohl es Ähnliches in Deutschland in der Zwischenkriegszeit bereits gab, auch in der beliebten deutschen „Vater- und Sohn"-Serie von E. O. Plauen, und zu den frühesten Anregern der amerikanischen Comics der so bürgerliche deutsche Humorist Wilhelm Busch zählt. Auch in der seriösen Presse dringt die Tendenz zum ,infotainment' in den Nachrichtenteil mit Schlagzeilen nach amerikanischem Vorbild (eye catcher, Straßner 1994, 252), die immer weniger sachlich über den Textinhalt vorinformieren und immer mehr als emotionaler Leseanreiz die selektive Wahrnehmung und Interpretation des Inhalts beim Leser im Voraus steuern (s. 6.15CD).
O . Die W i r k s a m k e i t des H ö r f u n k s als M a s s e n m e d i u m begann in den deutschsprachigen Ländern in den 20er J a h r e n mit mehreren regionalen, staatlich konzessionierten privaten Sendeanstalten, im Deutschen Reich 1 9 2 3 nach Aufhebung des Empfangsverbots für Privatpersonen (Seeberger, in: D P h A 1 3 5 9 ff.; W. Brandt, in: B R S Nr. 150; Fluck 1 9 9 3 ) : Die
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
R a d i o p r o g r a m m e waren zunächst vorwiegend künstlerisch und pädagogisch orientiert, da in diesem neuen, ausschließlich akustisch zu rezipierenden M e d i u m nach jahrhundertelang schreibsprachlichem Literaturund Bildungsleben (das T h e a t e r war für obere Schichten) „Sprache in den Urzustand ihrer Mündlichkeit zurückkehrt" (Seeberger, a. a. O . , 1 3 6 7 ) . D e r v o m Reichspräsidenten E b e r t berufene Staatssekretär H a n s Bredow, bis 1 9 3 3 hochverdient um den Aufbau des deutschen Rundfunks, forderte 1 9 2 3 , der Rundfunk solle „nicht allein als Mittel der Unterhaltung, sondern auch volkserzieherischen Aufgaben dienen". Kritisch zu dieser bildungsbürgerlich etablierten R i c h t u n g gab es auch eine kommunistische Rundfunkbewegung, ζ. B. der Freie Radiobund, der besonders starke Empfänger mit guten Saallautsprechern zum kollektiven A b h ö r e n von R a d i o M o s k a u baute (Dahl 1 9 7 8 ) . P o l i t i s i e r t w a r der Rundfunk erst seit den 30er J a h r e n (Lerg/Steiniger 1 9 7 5 ) . Die Regierung Papen verstaatlichte 1 9 3 2 die 1 9 2 5 gegründete rein administrativ-wirtschaftliche Reichsrundfunkgesellschaft und stellte sie unter diktatorische Regierungskontrolle. Hitlers Propagandaminister G o e b b e l s hat den Rundfunk 1 9 3 3 sofort und zielbewußt zum wirksamsten Propagandainstrument der nationalsozialistischen D i k t a t u r gemacht. D i e gesamte Rundfunkarbeit wurde seinem Ministerium unterstellt; widerstrebende Rundfunkleiter wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. D a s gemeinsame Abhören der Rundfunkübertragungen der Reden von Hitler oder G o e b b e l s (einschließlich der für sie inszenierten Massenversammlungen) in Schulen, Behörden und in Dienststunden von N S Organisationen gehörte zu den wirksamsten, fast kultischen Anpassungsritualen des Nationalsozialismus; es wurde teilweise auch zuhause im Familienkreis vollzogen, w o die Neuheit und M o d e r n i t ä t des technischen M e d i u m s auch auf Kinder und Alte ausstrahlte. Die neuen, billigen Volksempfänger wurden im Volksmund hinter vorgehaltener H a n d (kleine/große) Goebbelsschnauze genannt. Die nationalsozialistische Medienpolitik hatte aber einen J a n u s k o p f , eine diktatorisch-repressive Seite im Sinne von Orwells Utopie „ 1 9 8 4 " und eine weiche, zu passiver Loyalität oder begeistertem M i t m a c h e n bewegende Seite als hochentwikkelte, sehr geförderte Unterhaltungsindustrie, die eher Aldous Huxley's „Brave N e w W o r l d " entspricht (Schütz 1 9 9 5 ) : Auf der einen Seite wurden im Jahre 1933 jede Woche mindestens eine Hitlerrede und NS-Veranstaltungen als Massenrituale im Rundfunk stundenlang übertragen, wurden Nachrichten und Kommentare systematisch und rigoros nach dem harten Stil der NSPropaganda instrumentalisiert. Auch in den letzten Jahren vor dem Krieg, in der Phase großdeutscher Expansionspropaganda, wurde oft das gesamte Rundfunkprogramm von früh bis spät in den Dienst der militanten und militaristischen Massenbeeinflussung gestellt (s. das Beispiel bei Dahl 1978, 118). Im Aufruf der Reichsrundfunkkammer im Oktober 1933 wurde gefordert, Rundfunkhören sei „keine Ange-
O: Hörfunk
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legenheit der persönlichen Unterhaltung", sondern eine staatspolitische Pflicht und Notwendigkeit (Schütz 1995, 133). Der Empfang ausländischer Sender wurde zu Kriegsbeginn verboten und mit Lagerhaft geahndet. Auf der anderen Seite erkannte Goebbels, nach dem „ T r o m m e l f e u e r " der ersten Monate, daß Propaganda durch allzu aufdringliche Wiederholung und Bewußtwerden wirkungslos werde, daß die Politisierung durch Symbole und Parolen durch eine Politik der Wünsche und Bedürfnisse zu ersetzen sei, daß man „das Volk nicht nur in seinen Sorgen, sondern auch in seinen Freuden, nicht nur in seinen Belastungen, sondern auch in seinen Entspannungen liebevoll und hilfsbereit zu begleiten" habe (n. Schütz 1995, 140f.). Diese populistische Förderung und Lenkung der F r e i z e i t k u l t u r habe als „Gratifikations- und Sedierungsmodell staatsdirigistisch auf die Wunschstruktur unter industriegesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts reagiert" (Schütz, a. a. O., 141). Sobald das Hitlersche Terrorregime einigermaßen konsolidiert, d. h. jeder Widerstand gebrochen war, ging es vordringlich um Beseitigung der Arbeitslosigkeit, um Konsumgüterproduktion, Erhöhung des Lebensstandards für alle, Sicherung der ,Normalität' für die industriegesellschaftlich anspruchsvolle Bevölkerung (Schütz 1995): Ähnlich wie mit der erfolgreichen, beliebten Urlaubs- und Freizeitorganisation „Kraft durch Freude" (KdF) der allergrößte Teil der den politischen Terror geistig rasch verdrängenden Bevölkerung für das Regime gewonnen wurde, so wurden — vor allem im Krieg, als man von Versorgungsengpässen und familiären Kriegsnöten abzulenken hatte — Rundfunk und Film mit hohem Aufwand für gefällige Unterhaltung eingesetzt. Im Hörfunk nahm der Musikanteil ständig zu, mit über 60 % Unterhaltungsmusik, auch im (gemäßigten) Swing-Rhythmus trotz des Verbots von Jazz (sog. Negermusik). Das seit 1936 mittwochs und sonntags von 17 bis 20 Uhr ausgestrahlte Wunschkonzert praktizierte im Ansatz moderne Hörerbeteiligung mit musikalischen Hörerwünschen (ohne Trennung von E- und U-Musik), mit Familiengrüßen und persönlichen Nachrichten von der Front zur Heimat und umgekehrt, mit Einschaltungen vom Nordkap bis Sizilien, von Brest bis Stalingrad. D a s neue M a s s e n m e d i u m wirkte also scheinbar unpolitisch mit Solidarisierungsfunktion.
D i e Anpassungsbereitschaft der meisten
Deutschen,
ihr , W e g s e h e n ' u n d , W e g h ö r e n ' a n g e s i c h t s d e r S c h i c k s a l e d e r m a s s e n weise Entrechteten,
Ausgegrenzten,
Gequälten
und G e t ö t e t e n
wurde
„ w e n i g e r d u r c h D r o h u n g u n d E r p r e s s u n g als v i e l m e h r d u r c h U n t e r h a l t u n g u n d A b l e n k u n g " b e w i r k t , und d e r Ü b e r g a n g zur (zusätzlich a m e r i kanisierten) massenmedialen Freizeitgesellschaft der Wirtschaftswunderzeit k o n n t e so, v o n den K ü n s t l e r n wie den R e z i p i e n t e n her, z i e m l i c h bruchlos erfolgen (Schütz 1 9 9 5 , 130, 148). — Die Entpolitisierung und D e z e n t r a l i s i e r u n g des H ö r f u n k s n a c h 1 9 4 5 d u r c h die B e s a t z u n g s m ä c h t e verlief ä h n l i c h w i e bei d e r Presse: ü b e r p a r t e i l i c h in r e g i o n a l e n A n s t a l t e n des ö f f e n t l i c h e n R e c h t s , n a c h L a n d e s g e s e t z e n m i t R u n d f u n k - und Verw a l t u n g s r ä t e n a u s g e w ä h l t e n V e r t r e t e r n v o n s o z i a l e n und
beruflichen
G r u p p e n u n d I n s t i t u t i o n e n . D a die B e s a t z u n g s z o n e n D e u t s c h l a n d s a u f der K o p e n h a g e n e r K o n f e r e n z k e i n e n L a n g w e l l e n b e r e i c h e r h i e l t e n , w u r d e 1 9 5 0 / 5 1 die U m s t e l l u n g a u f U K W f o r c i e r t , w a s den E m p f a n g sehr verb e s s e r t e u n d m e h r e r e P r o g r a m m e eines S e n d e r s , m i t a u c h k l e i n r e g i o n a len S e n d u n g e n , e r m ö g l i c h t e .
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
Das Radiohören verbreitete sich in einem Jahrzehnt in fast der gesamten Bevölkerung (Brandt, in: BRS Nr. 150): Von 467 angemeldeten Teilnehmern (1923) stieg es im Deutschen Reich auf 800.000 (1925), 2 Mill. (1928), 16 Mill. (1943), im 2. Weltkrieg in jedem Haushalt, in der Bundesrepublik von 15,2 Mill. (1959) auf über 30 Mill. (1983). Die Sendezeit stieg von 1 Stunde (1923) auf 12,5 (1929), 16 ( 1 9 3 3 - 4 5 ) , 24 Stunden heute. Die Relation zwischen Musik und Wortbeiträgen betrug 1930 noch 2:1, 1982 dagegen von 1,8:1 (Schweiz) bis zu 1:1,2 (DDR), in der alten Bundesrepublik etwa 1,5:1. Die Wortbeiträge entwickelten sich quantitativ abnehmend, von den langen Vorträgen und Lesungen der 20er und 30er Jahre bis zu den heute vorherrschenden 5 Minuten-Einheiten. Das Verhältnis zwischen den Inhaltsbereichen der Wortsendungen hat sich leicht verändert: 1930 standen 20 % Vorträgen und 13 % Literatur nur 2 % aktuelle Berichterstattung gegenüber. In der NS-Zeit standen die politischen Bereiche Nachrichten ( 9 , 1 % ) , Zeitfunk ( 3 , 1 % ) , Politik ( 3 % ) sehr im Vordergrund, gegenüber 9,3 % Hörspielen und Vorträgen, 3,1 % Schulfunk und 2,9 % Sport. In der Nachkriegszeit blieb Politisches und Kulturelles etwa im Gleichgewicht, mit einem wachsenden Anteil Unterhaltung, Sport und Werbung. Im DDRHörfunk waren Aktuelles und Wirtschaftspolitik (39,6 % ) und Nachrichten (6,9 % ) 1982 sehr stark vertreten. Während die Zeitungslektüre sich kaum verstärkte, ist der Hörfunk-Konsum von 1964 bis 1980 gestiegen: von 1 Std. 29 Min. auf 2 Std. 15 Min., ähnlich wie beim Fernsehen. Dieses unerwartete Bestehen in der Konkurrenz ist auf billigere, handlichere Radioempfänger zurückzuführen und auf die Begleitprogramm-Funktion des Hörfunks als Hintergrundschall (Geräuschkulisse). Der Hörfunkempfang am Abend (um 1960 noch vorwiegend) ist zwischen 1954 und Ende der 70er Jahre von 30—40 % auf 5 — 10 % zurückgegangen; heute hat er vormittags seine höchsten Einschaltquoten, dafür das Fernsehen abends (alles n. Brandt, a. a. O.). — Gegenüber der Familienrezeption des Fernsehens wurde der Hörfunk im Fernsehzeitalter zum ausgesprochen individuell rezipierten Massenmedium, das nach bestimmten persönlich bevorzugten Programmen eingeschaltet wird, vor allem von Jugendlichen (Reinke 1993): Abgesehen vom Empfang von Pop-, Rock- und anderer subkultureller Rhythmusmusik sind dabei vor allem Kürze, hektische, umgangssprachlich bis jargonhafte Wortbeiträge und übertriebene Lautstärke beliebt. Individuelles Radiohören als Hintergrundrezeption ist vor allem bei manuellen mechanischen Beschäftigungen sehr üblich, ζ. B. bei häuslicher Küchenarbeit, beim Handwerken, Auto- oder Traktorfahren. Typisch für den Hörfunk sind heute auch spezielle Minderheitenprogramme: für Kinder, für Gastarbeiter, für Jazzfans oder Freunde alter Musik, für Frühaufsteher oder Nachtdiensttuende usw. — Zur Sprache im Hörfunk s. 6.15G —I! P. E i n e den F o l g e n des B u c h d r u c k s v e r g l e i c h b a r e M e d i e n r e v o l u t i o n bed e u t e t die E i n f ü h r u n g d e r h e u t e d o m i n i e r e n d e n a u d i o v i s u e l l e n M e d i e n F i l m u n d F e r n s e h e n , m i t d e n e n in d e r R e z e p t i o n s w e i s e d a s V e r h ä l t n i s z w i s c h e n T e x t u n d B i l d p r o p o r t i o n a l u n d prinzipiell v e r ä n d e r t w u r d e ( B u r g e r 1 9 8 4 , 2 8 9 f f . ; M u c k e n h a u p t 1 9 8 6 ) : B i l d e r f a s z i n i e r e n j e d e n unm i t t e l b a r u n d sind für j e d e n o h n e spezielle B i l d u n g u n m i t t e l b a r rezipierb a r , so w i e in d e r Z e i t v o r der A l p h a b e t i s i e r u n g d e r S p r a c h b e v ö l k e r u n g B i l d e r b i b e l n , B i l d e r z y k l e n in K i r c h e n usw. ein , L e s e n ' o h n e o d e r m i t schwacher Schriftbeherrschung notdürftig ermöglichte. Gegenüber dem s t e h e n d e n B i l d g r a p h i s c h e r o d e r p h o t o g r a p h i s c h e r D a r s t e l l u n g e n in b e b i l d e r t e n Z e i t u n g e n u n d Z e i t s c h r i f t e n seit d e m 1 9 . J h . (s. 6 . 3 J ) ist die
PQ: Film und Fernsehen
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Wirkung der kinematographisch bewegten Bilder noch faszinierender und läßt die Notwendigkeit von sprachlichem Text noch weiter zurücktreten, da durch bildlich gezeigte Handlungsabläufe und Situationsveränderungen die interpretierende Phantasie der Rezipienten noch weniger in Anspruch genommen wird. Diese verstärkte Dominanz der Bild- über die Textwirkung in der modernen Massenkommunikation, mit der kulturpessimistischen Metapher der ,Text-Bild-Schere' angedeutet (je mehr Bild, desto weniger Text und umgekehrt), erfordert Überlegungen zu den grundsätzlichen „semiotischen Defiziten" der Bildkommunikation, besonders der kinematographischen, gegenüber der Kommunikation mit Sprache (n. Burger 1984, 299ff.): — Bilder informieren nur Individuelles, nicht Generisches, sind also offen für mißverstehende Verallgemeinerung. — Bilder sind potentiell unendlich deutbar, und es können Details beliebig fokussiert werden, bedürfen also textueller Monosemierung. — Bilder bieten in Massenmedien immer nur Konkretes, können also nur referieren und prädizieren, nicht argumentieren. — Bilder sind Zeit-indifferent, bedürfen der zeitlichen Fixierung durch Text. — Bilder in Massenmedien suggerieren immer Realität, Fiktion muß durch Text angezeigt werden. — Bilder wirken stärker konnotativ als denotativ; ihre Rezeption kann also leicht im Widerspruch zum Denotations/Konnotations-Verhältnis des zugehörigen Textes erfolgen. — Bilder sind (nicht immer) bestimmten Textelementen (ζ. B. Wörtern) zuordenbar, können sich also, besonders durch Kameraeinstellung und Schnitte, gegenüber dem Text in der Rezeption verselbständigen.
In der Entwicklung des K i n o f i l m s standen sich stets gegensätzliche Auffassungen vom Verhältnis zwischen Bild- und Sprachkommunikation gegenüber (Straßner 1981 a; 1985; Stepun, in: DPhA 1383 ff.): Im Stummfilm war die Dominanz des Bildlichen notgedrungen sehr stark, bis hin zur pantomimischen Dramatik. Doch bald konnte man auf handlungsund situationserklärende Zwischentitel und -texte nicht verzichten, die oft über die Hälfte der Laufzeit eines Films beanspruchten und künstlerisch störend wirkten, da sie nur stark verkürzend und ohne prosodische Sinnhilfen gegeben werden konnten. So bemühte man sich in Deutschland — wohl aufgrund der vielfältigen populären Theatertradition — in der Frühzeit des Tonfilms wieder mehr um Dominanz des Sprachlichen, vor allem Dialogischen, in zahlreichen Theaterverfilmungen und drehbuchnahen Spielfilmen, während die medienspezifische Dominanz des Bildlichen in künstlerisch-experimenteller Weise mehr in Frankreich und in der Sowjetunion blühte. Abgesehen vom Extremfall des „photographierten Theaters" (Stepun a. a. O.) ist beim Film jedoch mit einer breiten Skala von Möglichkeiten reduzierter oder filmisch-spezifischer Sprache zu rechnen, je nach den verschiedenen Einstellungsarten und Schnitt-
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
methoden; und trotz weiter Entfernung von traditioneller Literatursprache ist die Sprache von Filmdialogen mit Alltags- oder Umgangssprache nur scheinbar identisch (Straßner 1981 a; 1985). Nach einer Frühphase der Vorführung von Kinofilmen in Jahrmarktsbuden, Zelten oder Cafés seit 1895 fing man um 1905 an, feste Filmvorführräume in umgebauten Läden einzurichten. Die große Zeit der Gründung von Kinos oder Lichtspielhäusern waren die 20er und 30er Jahre, mit nun abendfüllenden Vorführungen, die den wöchentlichen Freizeitrhythmus der städtischen und kleinstädtischen Bevölkerung ähnlich beeinflußten wie früher der Wirtshausbesuch oder der Kirchgang. Bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren die trivialen Filmgattungen ähnlich ausgebildet wie heute: Kriminal-, Abenteuer-, Horror-, Lustspiel-, Heimatfilm usw. In Temposteigerung, extremer Dramatisierung und raffinierter Illusionstechnik wirkte nach dem Krieg amerikanischer Einfluß. Schon seit 1925 begann die Abwanderung deutscher Regisseure und Darsteller nach Hollywood. Einen weiteren Aufschwung des Kinobesuchs brachte die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise seit 1928.
Die spezifisch deutsche Richtung des frühen Kinofilms, sehr theaterorientiert von verfilmten Schauspielinszenierungen her, mit leitmotivischer Musikdramaturgie, konnte von der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Propaganda sehr wirkungsvoll zu einer bedeutenden Reihe von tendenziösen Monumental- und Unterhaltungsfilmen genutzt werden. Nach einer kurzen Phase sehr einseitiger, offen und repressiv agitierender NSPropagandafilme zur Verherrlichung der Partei, ihrer Organisationen, des Führers und des Dritten Reiches im Jahre 1933 und zur Olympiade 1936, schaltete Goebbels schon ab 1934 in seiner Filmpolitik erfolgreich auf eine mit allen modernen Mitteln perfektionierte tendenziöse Bildungs- und Unterhaltungskultur um (Schütz 1995, 139 ff.). Statt brauner Uniformen, Massenaufmärsche und Hakenkreuzfahnen bekamen die anpassungsbereiten Deutschen im Kino viele gutgemachte nationalchauvinistische und antisemitische Historienfilme zu sehen. Daneben gab es zu fast der Hälfte vom politischen Alltag ablenkende Unterhaltungsfilme, die nicht nur an deutsche Operetten- und Heimatkunst-Traditionen anknüpften, sondern durch Goebbels' persönliches Engagement auch an Welterfolge aus Hollywood mit Musicalcharakter, die er übertreffen wollte. Ab 1935 gab es zunehmend Farbfilme. All dies hat — neben den persuasiv inszenierten Deutschen Wochenschauen, besonders im Krieg, — viel zum illusionären Mitmachen, Stillhalten oder Wegsehen der Deutschen bis in die letzten Kriegswochen beigetragen. Hierbei ging „Ästhetisierung der Politik" (Walter Benjamin) Hand in Hand mit biedermeierlicher Entpolitisierung. Auch die Film-Propaganda für den Autobahnbau in den Vorkriegsjahren, im Medienverbund mit Büchern, Broschüren, Rundfunkreportagen, Plakaten, Feuilletons, Weihespielen usw. war ein modernes Medienspektakel. So ist in Deutschland, schon vor dem amerikanischen Nachkriegseinfluß, eine „Konsum- und Mobilitätsgesellschaft mit einer ausgeprägten populären Unterhaltungs- und Freizeitkultur" entstan-
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den (Schütz 1995, 130). — In der Nachkriegszeit sind Filmproduktion und Kinobesuch in der Bundesrepublik stärker zurückgegangen als in vergleichbaren europäischen Ländern, durch übergewichtiges, fast monopolistisches Angebot aus den USA, Italien und Frankreich, mit ζ. T. sprachlich schlechten, sehr stereotypen Synchronisationen, aber auch durch rasche Umstellung der Rezipienten auf das Fernsehen. Eigenständig war vor allem von 1945 bis 1950 die neorealistische, sozialkritische Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, mehr im episodisch-alltagskulturellen, oft verharmlosenden, politisch zu oberflächlichen Sinne, oder dogmatisch-sozialistisch wie in der bedeutenden Filmproduktion der DDR.
Q. Die Etablierung des F e r n s e h e n s war in Deutschland etwas verspätet im Vergleich zu England und den USA, da seine Konkurrenz mit dem Kino durch eine zunächst zu einseitig öffentliche Rezeptionsform verschärft wurde (Holly 1995, 341; Schütz 1995, 137): Regelmäßige Fernsehprogramme für wenige begannen 1935, vor allem als nationalsozialistisches Propagandamittel fürs Ausland zur Olympiade 1936, auch in öffentlichen Fernsehstuben. Im Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland nur etwa 500 Fernsehempfänger (gegenüber 20.000 in England). Erfolgreicher war der zweite Start des deutschen Fernsehens mit privatem Empfang im Familienkreis, rechtzeitig zur Krönung von Elisabeth II. 1953 (Brandt, in: BRS 1670): Die Zahl der mit einem Fernseher ausgestatteten Haushalte in der alten Bundesrepublik stieg von 2.000 (1953) auf 100.000 (1955), über 2 Mill. (1958), 15 Mill. (1968), über 22 Mill. (1983); ähnlich in den anderen deutschsprachigen Staaten. Im Programmangebot gab es, verglichen mit dem Hörfunk, einen Rückgang an reinen Musiksendungen, eine Zunahme der Sendungen mit hohem sprachlichem Anteil, vor allem Spielfilme, Unterhaltung, Sport, Werbung. Der Fernsehkonsum (ab 14 Jahre festgestellt) hat mit 2 — 4 Stunden täglich den Hörfunkkonsum nicht wesentlich überschritten, beansprucht aber vorwiegend die Abendstunden, wobei die Nutzung von Spielfilmen, Unterhaltung, Sport (weitaus mehr als Informationssendungen) bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten weit über deren Programmanteil geht. Fernsehen ist die beliebteste Freizeitbeschäftigung vor Radiohören, CD-Hören und Zeitschriftenlektüre (Wössner, in: H. Hoffmann 1994, 112); es wird spöttisch oder selbstironisch als vor der Glotze hocken, Flimmerkiste oder Pantoffelkino bezeichnet. Neuerdings werden zunehmend Kinder vom Fernsehen sprachlich beeinflußt, und zwar stark standardsprachlich durch Synchronisation zahlreicher amerikanischer Zeichentrickfilme für Kinder.
Nach den Erfahrungen der NS-Zeit sollte in der Bundesrepublik Deutschland mit der ARD (Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands) eine föderalistische Variante des BBC-Modells einen direkten Einfluß von Regierung und Parteien auf Bundesebene verhindern (Holly 1995, 342). Auch nach der Erweiterung durch ZDF und Drittes Programm war in dieser Hinsicht nur ein Kompromiß möglich: öffentlichrechtlich, Ausgewogenheit, präventive Selbstzensur, Proporz-Vertretung von Parteien und Institutionen in Kontroll- und Leitungsgremien. Nach-
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
dem seit der 1968 er Zeit teilweise ,linke' Tendenzen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bei Konservativen Anstoß und Ärger erregt hatten, wurde ein duales System entwickelt, das mit angeblich gleichen Chancen für öffentliche und private Sender über Finanzierung durch Werbesendungen, nach Einschaltquoten, Interessen der Wirtschaft (einschließlich Medienkonzerne) und dem breitesten Massengeschmack mehr Raum gab. Dies hat, zusammen mit neuen Kommunikationstechnologien (Verkabelung, Satelliten) eine Expansion der Programme und Kanäle zur Folge gehabt. Das daraus resultierende sehr pluralistische Programmangebot hat die Wahlfreiheit der Rezipienten gesteigert und vervielfältigt, so daß jeweils ein bestimmtes Zielpublikum berechenbar geworden ist und pauschale Aussagen über Wirkungen des Fernsehens auf Rezipienten nicht mehr möglich sind. Der institutionelle Gegensatz zwischen überparteilichem, dezentralisiertem, pluralistischem westdeutschem und streng parteistaatlichem DDR-Fernsehen wirkte stark beim allmählichen Abbau der politischen West-Ost-Konfrontation des Kalten Krieges und bei der großenteils von Massenmedienrezipienten zustandegebrachten Auflösung der DDR. Seit den späten 70er Jahren konnte die SED-Regierung den Empfang westlicher Fernsehsendungen nicht mehr verhindern. Die Wirkung auf das politische Bewußtsein der DDR-Bevölkerung widerspiegelte sich in der populärsatirischen Bezeichnung des (beim westlichen Fernsehempfang geographisch behinderten) Bezirks Dresden als Tal der Ahnungslosen oder doofer Rest der Rebublig. Diese verbreiteten Redensarten waren nicht nur scherzhafte Übertreibungen; westliche DDR-Besucher hatten sich in den 80er Jahren auf unterschiedliche Informationsgrade, Denkweisen, Redeweisen und Wortbedeutungen etwa zwischen Weimar und Bautzen einzustellen. Die friedlich-revolutionären Vorgänge im Herbst 1989 in Prag, Leipzig und Ostberlin usw. sind durch live-Fernsehübertragungen verstärkend beeinflußt und international beachtet worden.
R. Über W i r k u n g e n moderner audiovisueller Medien auf die Weiterentwicklung von Kommunikations- und Sprachkultur und Sozialverhalten können von beobachtbaren Entwicklungstendenzen her nur sehr unsichere Meinungen geäußert werden (vgl. auch 6.15K-N): — Die extreme Kürze und schnelle Abfolge von Text- und Bildeinheiten in Kinofilm und Fernsehen sei für Rezipienten im Schulalter nicht gerade eine gute Vorbereitung für die Fähigkeit und Bereitschaft, in Studium und Beruf geistig anspruchsvolle längere Texte (Vorträge, Vorlesungen, Verhandlungen, Verordnungen, Bücher, usw.) zusammenhängend verstehend zu rezipieren. — Die Gewöhnung ans Mikrophonsprechen bzw. -hören habe — verglichen mit der durch Schallplatten aus den 20er und 30er Jahren überlieferten alten rhetorischen Technik des lauten öffentlichen Sprechens in großen Räumen — das Sprechtempo (besonders Jüngerer) allgemein beschleunigt und, entgegen alten Anforderungen der Aus-
R : Medienwirkung, Medienzukunft
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drucksstärke und Sprechgenauigkeit, einen eher monotonen, rhythmisch ausdruckslosen, kaum von Mimik und Gestik unterstützten öffentlichen Sprechstil üblich werden lassen (vgl. 6 . 6 X —Z). — Die Tendenz zur Vermischung von Textsortenstilen in vielen Hörfunk- und Fernsehsendeformen lasse die Fähigkeiten zu wohlüberlegter, traditionellen Erwartungsnormen entsprechender situationsangemessener Formulierung von Texten zurückgehen, so wie Fähigkeit und Bereitschaft zum Briefschreiben und zu orthographischer Korrektheit allgemein schwächer geworden sei. — Die starke technische Spezialisierung und Vernetzung in neuen elektronischen Kommunikationsmedien habe mit dem Zwang zur Erlernung gemeinsprachferner Textverarbeitungscodes und Fachterminologien neuartige soziale Bildungsbarrieren und Herrschaft durch privilegierte Expertengruppen zur Folge. Es ist zwar offensichtlich, daß traditionelle Schreib- und Druckerzeugnisse nicht mehr so dominierend im Mittelpunkt öffentlicher Sprachkultur stehen und stehen werden. Die üblichen Äußerungen über das ,Ende von Gutenbergs Zeitalter' im Sinne eines allgemeinen Verfalls von Schreib-/Lesekultur und Sprachkultur überhaupt sind jedoch noch keineswegs durch empirische Nachweise gestützt und beruhen großenteils auf einseitig verzerrter Perspektive, wobei der Rückgang traditioneller Kulturnormen und -techniken überbetont, die Entwicklung neuartiger dagegen ignoriert wird. Es sind dieselben kulturpessimistischen Klagen, die schon beim Kinofilm, beim Radio, bei den Comics stereotyp zu hören und zu lesen waren (Böhme-Dürr 1995, 70). Wenn heute eine Zunahme des f u n k t i o n a l e n A n a l p h a b e t i s m u s auch in modernen Industrieländern festgestellt wird, ζ. B. in Deutschland (ohne Ausländer) zwischen 1 und 15 % (Maas 1992, 3; Eisenberg 1983; Giese, in: Günther/ Ludwig 1994, 883 ff.), so beweist dies noch nicht unbedingt eine objektive Zunahme der Illiteralität in der Gesamtgesellschaft, sondern möglicherweise nur immer stärkere Anforderungen spezieller Schriftlichkeit im beruflichen und öffentlichen Leben bei gleichbleibendem innerem Widerstand vieler gegen diese Anforderungen, und eine immer intensivere Praxis des Nachweisens und Überprüfens (Giese/Januschek 1990, 56). In Bezug auf den Rückgang von S c h r e i b l e i s t u n g e n muß berücksichtigt werden, daß viele Institutionen heute zunehmend halbliterales Verhalten (Ausfüllen von Formularen durch Ankreuzen oder mit stichwortartigen Ausdrücken) sowie bildliche K o m m u n i k a t i o n fördern (Grimberg 1 9 8 8 , 1 5 9 f . ) . Innerhalb eines schweizerischen Fabrikbetriebs hat Annelies Buhofer ( 1 9 8 3 ; s. auch Haecki-Buhofer 1985) festgestellt, daß Schreiben für die große Mehrheit der Mitarbeiter auf routinemäßige reduzierte Schreibtätigkeiten beschränkt ist (Formulare, Eintragungen, Notizzettel, kurze Meldungen), während das Verfassen stilistisch ausformulierter ,richtiger' T e x t e , mit sozia-
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
lem Beziehungsaspekt, Explizitheit und geschäftlicher Gültigkeit für Betriebsleitung, Kunden und Öffentlichkeit fast ausschließlich Sache spezieller Fachkräfte und Vorgesetzter mit höherer schriftsprachlicher Bildung ist. — Andererseits sei der Schluß vom Rückgang der Schülerleistungen in Rechtschreibung, Zeichensetzung und traditionellen Stilnormen auf einen Rückgang der Sprachkompetenz überhaupt nach Kübler (1985) voreilig: Der Eindruck einer (diachronisch-soziolinguistisch nicht überprüften) Verminderung' von Leistungen beruhe u. a. darauf, daß Schreibsprachfähigkeiten am Ende des 20. Jh. nicht mehr nur von einer bildungsbürgerlichen Minderheit beruflich und öffentlich verlangt, also überprüft werden, sondern vom größten Teil der Sprachbevölkerung. Weit über die Hälfte jedes Jahrgangs besucht heute eine höhere Schule (fast ein Viertel auf Gymnasien). Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit hatte 1961 jeder Zwanzigste, 1985 jeder Zwölfte einen Hochschulabschluß, Ende des Jahrhunderts voraussichtlich jeder Sechste. In der Dienstleistungsgesellschaft arbeitet fast die Hälfte aller Beschäftigten in Informationsberufen, die erhebliche mündliche und/oder schriftliche Sprachproduktion und -rezeption erfordern. Obwohl Jugendliche zum ausdauerndsten Fernseh- und Video-Publikum gehören, sei (nach Kübler 1985, 348 ff.) bei öffentlichen Schreibwettbewerben für Jugendliche weder in der Beteiligung noch in den sprachlichen Leistungen ein Rückgang festgestellt worden. Bei einer starken Spitzengruppe (über deren quantitatives Verhältnis zur früheren bildungsbürgerlichen Jugend nichts bekannt ist) gebe es vielfältige Schreib- und Leselust: mit Schülerzeitungen, Flugblättern, Leserbriefen, Hobby-Reportagen, literarischen Versuchen, Bildschirmtexten, aber auch neuartiges Vergnügen an kurzen, sprachspielerisch verfremdeten Sprüchen und Sprachbrocken als Graffiti, Buttons, Aufkleber, auf T-Shirts oder Demo-Transparenten, usw. Die neue jugendliche Subkultur ist keineswegs sprachfeindlich, sondern nur ,etwas anders', alternativ, exklusiv, kreativ und flexibel (vgl. 6 . 1 2 F - H ) .
Einwegkommunikation und Monologhaftigkeit in der modernen Massenkommunikation werden gern zum Anlaß für kulturpessimistische Befürchtungen genommen, der somit selbstentfremdete, vereinsamte Mensch werde zunehmend u n f ä h i g z u m G e s p r ä c h (vgl. Gadamer 1972). Was hypostasierend den technischen Medien und Apparaten angelastet wird, ist aber in Wirklichkeit eine Veränderung des Sozialverhaltens beim Umgang der technikbesessenen Menschen mit den Medien und Apparaten, die mangelnde Bereitschaft, dem direkten Umgang mit Menschen die Priorität zu geben, „auf den anderen zu hören" (Gadamer). Es wird beobachtet, daß man von Partnern in Dienstleistungssituationen, in denen man früher über die betreffenden Bedürfnisse, Erfordernisse oder Probleme hinreichend und hilfreich durch Gespräch orientiert wurde, heute, wenn sie vor ihrem PCBildschirm sitzen, keines wirklichen Gesprächs, ja kaum eines Blickkontaktes mehr gewürdigt und stattdessen mit lakonisch geäußerten oder roboterhaft ausgedruckten Expertendaten abgespeist wird, z. B. am Fahrkartenschalter, bei Behörden, in Materialausgaben von Werkstätten, sogar beim Arzt usw. Die Unterwerfung unter die faszinierenden Möglichkeiten moderner Kommunikationstechnik wirkt sich gesprächspartnerfeindlich aus, indem ein plötzlich hereinbrechendes Telefongespräch, vor allem seit man Telefonapparate handlich mit sich herumtragen kann, die unbedingte Priorität vor jedem gerade laufenden direkten Kommunikationskontakt hat. Telefonierende, Fernsehende und Computerbedienende sind für direkt Anwesende
R: M e d i e n w i r k u n g , Medienzukunft
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k a u m ansprechbar, stellen sich kommunikativ abwesend. Ein Buch oder einen Brief legte man früher selbstverständlich aus der Hand, wenn jemand k a m und mit einem reden wollte. D i e v i e l f a c h b e h a u p t e t e n e g a t i v e W i r k u n g des F e r n s e h e n s auf d e n S p r a c h e r w e r b i m K i n d e s a l t e r l ä ß t sich u n a b h ä n g i g v o m f a m i l i ä r e n Sozialverhalten nicht nachweisen (Böhme-Dürr 1 9 9 5 ) : E r w e r b v o n gramm a t i k a l i s c h e r u n d k o m m u n i k a t i v e r S p r a c h k o m p e t e n z ist g r u n d s ä t z l i c h nur aus dem interaktiven Sprachkontakt möglich. Fernsehsendungen für K i n d e r , die m e i s t s e h r s p r a c h l i c h o r i e n t i e r t sind, f ö r d e r n d u r c h a u s W o r t s c h a t z e r w e i t e r u n g m i t p o s i t i v e n Folgen f ü r die s p ä t e r e L e s e f ä h i g k e i t . N e g a t i v w i r k e F e r n s e h e n in dieser S p r a c h e r w e r b s p h a s e n u r d a n n , w e n n E r w a c h s e n e die K i n d e r a u s e g o i s t i s c h e r B e q u e m l i c h k e i t m i t d e m Fernsehen a l l e i n l a s s e n , d. h. i h r e A u f g a b e d e r s p r a c h l i c h e n Z u w e n d u n g u n d des R e d e n s ü b e r F e r n s e h s e n d u n g e n w ä h r e n d u n d n a c h d e r k i n d l i c h e n R e z e p t i o n v e r n a c h l ä s s i g e n . — Z u m E i n f l u ß des F e r n s e h e n s a u f die p a r l a m e n t a r i s c h e K o m m u n i k a t i o n s. 6 . 2 Z ! Z u T e x t s o r t e n u n d S p r a c h e i m F e r n s e h e n s. 6 . 1 5 J K !
Literatur Medienkunde, Publizistik: Ammon u . a . 1987 (Schmitz 820ff.). Bentele 1981. Brendel/Grobe 1976. Burkart 1987. Dovivat 1968/69. Faulstich 1979. Fröhlich u. a. 1988. Hess-Lüttich 1992. Holzer 1973; 1994. Horton/Wohl 1956. Hunziker 1988. Jarren 1994/95. Koszyk/Pruys 1981. LGL (Straßner 128 ff.). Maletzke 1972/75. Merten u. a. 1994. Neubauer 1980. Noelle-Neumann u. a. 1989. Postman 1985. S. J. Schmidt 1994. Sennett 1983. Silbermann 1982. Wilke 1981. — Mediengeschichte allgemein: Abel 1968. T. Behrens 1986. Bobrowsky u. a. 1987. Böhme-Dürr 1995. Bork 1970. Burger 1984, 7 ff. Fassler/Halbach 1997. Faulstich/Rückert 1993. Hadorn/Cortesi 1986. Hickethier 1980. H. Hoffmann 1994. H. Holzer 1980. G. Müller 1978. North 1995. Wilke 1984 b. - Textsortengeschichte allgemein: Belke 1973. BRS (Wimmer 1623 ff.). Burger 1991. Hinck 1977. Hopster 1987. Noelle-Neumann u. a. 1989, 69 ff. Püschel 1991 ab; 1998. Roloff 1982. Schenker 1977. Schwitalla 1993. Sennett 1983. Wehler 1987, 1, 303 ff.; 2, 520 ff. Winter/Eckert 1990. Öffentlichkeit, politische Publizistik, Medienpolitik, bis 1849: Brandes 1991. Breuer 1982. Breil 1996. Dowe 1972. H. D. Fischer 1975; 1981; 1982. Grewenig 1993. Günther/Ludwig 1994 (Karolak 893 ff.). H a a k e 1968. H a b e r m a s 1982. Hoefer 1983. Hofmeister-Hunger 1994. Koch 1991. Koopmann 1993. Lerg/Steiniger 1975. McCarthy/ v. d. Ohe 1995. Mattenklott/Scherpe 1975. Obenaus 1986/87. Püschel 1991c, 1993 ab, 1994. Schottenloher 1985. Tauschwitz 1981. Wehler 1987, 1, 519 ff.; 2, 540 ff., 547 ff. Weigel 1979. Wilke 1984 a. D. Wolf 1983. E. Ziegler 1983. - bis 1945: Arntzen 1964. Breuer 1982. Erdmann 1993 b, 201 ff. H. D. Fischer 1975, 1981, 1982. Frei/Schmitz 1989. Günther/Ludwig 1994 (Karolak 895 ff.). H a a k e 1968/81. Habermas 1982. Koch 1991. Kohlmann-Viand 1991. Kohnen 1995. Lerg/Steiniger 1975. McCarthy/v. d. Ohe 1995. G. Müller 1978. Obenaus 1991. Pross 1962. Sänger 1975. Schütz 1995. Sennett 1983. Wehler 1995, 445 ff., 1243 ff. Wilke 1984 a, 1991. - seit 1945: Arens 1971. Arntzen 1964. Breuer 1982. Bröder 1976. Bucher 1986. H a a k e
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6.3. Entwicklung der Massenmedien
1981. E. Herrmann 1963. Holly/Biere 1997. Hoppenkamps 1977. Hübsch 1980. Hurwitz 1972. Kienzle/Mende 1980. Kopper 1992. Lerg/Steiniger 1975. Marten-Finnis 1994. Moilanen/Tiittula 1994. G. Müller 1978. F. Schneider 1966. Sennett 1983. Tonnemacher 1994. Wittkämper 1992. Wulff-Nienhüser 1994. Buchmarkt, Lesergeschichte: Breuer 1982. Engelsing 1973. Faulstich/Rückert 1993, 3 6 5 f f . König 1977. H.Neumann 1978. Pflug 1983. Plaul 1983. Reincke 1978/89. Schenda 1970. Schmitt 1990. Schön 1987. Schulz 1990. Thauer/Vosodek 1978. Viehoff 1993. Wehler 1987, 1, 303 ff.; 2, 523 ff.; 1995, 429 ff., 1232 ff. Widmann 1975. Winckler 1986. R. Wittmann 1982; 1991. - Konsum-/Trivialliteratur: Engelsing 1973, 119 ff. Ferber 1982. Giesz 1960. Hartmann 1994. Killy 1964. Mackensen 1971, 154ff. v. Polenz 1983, 4 f f . Rischke 1982. Rudolph 1993. Rucktäschel/Zimmermann 1976. Schenda 1970. Schulte-Sasse 1971. Wehler 1995, 1233 ff. Wittmann 1982, 163 ff. Zeitungen: Biere 1993. Blühm/Engelsing 1967. Blum/Bucher 1998. BRS (Nail Nr. 149). Bucher 1986. Dovifat/Wilke 1976. DPhA (d'Ester III, 1245ff.). Engelsing 1966. Faulstich/Rückert 1993, 2, 564 ff. Fischer 1972; 1981. Good 1985. Hadorn/ Cortesi 1986, 2, 47 ff. Hoppenkamps 1979. Hurwitz 1972. Koszyk 1966; 1972. LGL (Straßner 333 ff.). Lindemann 1969. Lüger 1983/95. Mackensen 1971, 143 ff. Mittelberg 1967. Mogge 1980, 121 ff. Moilanen/Tiittula 1994. Nipperdey 1983, 587 ff. Presse und Geschichte 1977; 1987. Prutz 1845/1971. Pürer/Raabe 1994. Salomon 1900/73. Sandig 1971. Schottenloher 1985. Sengle 1972, 56 ff. Straßner 1997. Wallraff 1977. Wehler 1987, 2, 520 ff.; 1995, 434 ff., 1236 ff. Wilke 1991. - Nachrichten: Brendel-Grobe 1976, 50 ff. Burger 1984, 98 ff. Dovifat/Wilke 1976,1, 76 ff. Fluck u. a. 1975. Hoppenkamps 1977. Koszyk/Pruys 1981, 195ff. Lüger 1983, 6 4 f f . M . M ü l l e r 1989. Nail 1988 b. Püschel 1991 ab. Roloff 1982. Röper 1977. M . A. Schmidt 1979. Straßner 1975. Wilke 1984 b. — Andere Zeitungstextsorten: Böttcher 1961. Burger 1984, 3 ff. Camen 1984. Fix 1993. Hoppenkamps 1977. Klute 1985. H. Knobloch 1962. Lüger 1983, 6 4 f f . Noelle-Neumann u . a . 1989, 6 9 f f . Pfeil 1977. Püschel 1991 ab; 1993; 1994. Robling 1983. Roloff 1982. Todorow 1995. H . W e b e r 1991. Anzeigenwerbung: Brand/Schulze 1987. W. Brandt 1973. Buchli 1 9 6 2 - 6 6 . Dovifat/ Wilke 1976, II, 178 ff. Flader 1974. Gries u. a. 1995. Hartwig 1975; 1986. Haug 1971. Hauswaldt-Windmüller 1977. Hohmeister 1981. Kellner u . a . 1995. Kempe 1961. Koszyk/Pruys 1981, 14ff., 332 ff. Kriegeskorte 1992; 1994. Nusser 1975. D. Reinhardt 1993. Römer 1968/71. Sowinski 1998. - Unterhaltungszeitschriften, Boulevardisierung: Brandes 1991. Faulstich/Rückert 1993, 2, 553 ff. Ferber 1982. H. D. Fischer 1973. Glaser 1994, 117 ff. Hadorn/Cortesi 1986, 2, 83 ff. Haseloff 1977. Holly 1996 b. Jaene 1968. Kirchner 1958/62. Lerchner 1993. Mackensen 1971, 154 ff. Mittelberg 1967. Nutz 1971. Obenaus 1986/87. Püschel 1996. Reger 1972. Rischke 1982. Sengle 1972, 56 ff. St. Weber 1995. Wehler 1995, 1236 ff. M . Zimmermann 1963. Hörfunk: Bausch 1980. Behrens 1986. Bentele/Hess-Lüttich 1985, 351 ff. BRS (Brandt Nr. 150). Brühl 1979. Craig 1993, 433 ff. Dahl 1978; 1983. DPhA (Seeberger III, 1353 ff.). Faulstich/Rückert 1993, 2, 445 ff. Fluck 1992; 1993. Glaser 1994, 216 ff. Hadorn/Cortesi 1986, 2, 129 ff. Häusermann/Käppeli 1986. Holly 1992. Lerg/Steiniger 1975. Mogge 1980, 210 ff. Schenker 1977. Schmid 1960. Straßner 1978. Weinbender 1944. - Nachrichten: Böhm u. a. 1972. H. Burger 1984, 102 ff. Fluck 1989. Fluck u. a. 1975. Gorschenek 1970. Hardt-Mautner 1993. Harweg 1968. Lutz/Wodak 1987. Nail 1981. Straßner 1975. - Sonstige Hörfunk-Textsorten: Auer-Krafka 1980. Berens 1975. Brandt 1983. H. Burger 1984, 75 ff., 164 ff. Hauswaldt-Windmüller 1977. Keckeis 1973. Noelle-Neumann u . a . 1989, 6 9 f f . Nowottnik 1989. Reinke 1993. Schwitalla 1979.
Literatur
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Film: Behrens 1986. Bentele 1981, 2 4 3 - 7 2 . Bentele/Hess-Lüttich 1985, 277 ff. Betten 1977. DPhA (Stepun III, 1383ff.). Faulstich/Korte 1 9 9 0 - 9 5 . Faulstich/Rückert 1993, 2, 422 ff. Glaser 1994, 177 ff. Hadorn/Cortesi 1986, 1, 193 ff. M. H o f f m a n n 1995. Jacobsen u . a . 1993. Körte 1998. LGL (Straßner 330ff.). Metz 1973. Muckenhaupt 1986. Paech 1975. Prokop 1974. Siegrist 1986. Straßner 1981 a; 1985. Toeplitz 1972. Fernsehen: Behrens 1986. Bentele/Hess-Lüttich 1985. Besch u. a. 1983 (Straßner 1509 ff.). Böhme/Dürr 1995. BRS (Wolfgang Brandt 1669ff.). Faulstich/Rückert 1993, 393 ff. Fiske 1987. Hadorn/Cortesi 1986, 2, 159 ff. Häusermann/Käppeli 1986. Hermann/Heygster 1981. Holly 1992; 1995. Holly/Püschel 1991; 1993 a. Holly/Schwitalla 1995. Kreuzer 1980; 1982. Kreuzer/Prümm 1979. Kreuzer/Schanze 1991. Maletzke 1988. Meyrowitz 1985; 1987. Mogge 1980, 210 ff. Muckenhaupt 1986. Pörksen 1994 a. Rüden 1979. Schenker 1977. Straßner 1978; 1981. - Nachrichten: Bentele/ Hess-Lüttich 1985, 95 ff. Burger 1984, 153 ff. Fluck u. a. 1975. Friedrich 1977. Huth 1985. Keppler 1985. LGL (Straßner 333ff.). Muckenhaupt 1994. Neugebauer 1986. Püschel 1992; 1993 c. Rencksdorf 1980. M. A. Schmidt 1979. Schmitz 1990. Straßner 1975; 1982. Straßner u. a. 1982. Wittwen 1995. - Sonstige Fernsehtextsorten: Bentele/Hess-Lüttich 1985, 195 ff. Berens 1975. Burger 1984, 164 ff; 1991; 1995. Faber 1994. Frei-Borer 1991 a. Hallenberger/Foltin 1990. Hennig/Möhn 1983. H o f f m a n n 1982. Holly 1990 b; 1991a; 1992 b. Holly/Kühn/Püschel 1986; 1989. Holly/Schwitalla 1995. Huth/Krzeminski 1981. Kalverkämper 1980. Klein 1990. LGL (Straßner 333 ff.). Linke 1985. Mühlen 1985. Noelle-Neumann u. a. 1989, 69ff. Petter-Zimmer 1990. Pörksen 1994. Postman 1985. Rüden 1979. Rütten 1989. Schwitalla 1979; 1981; 1993. Steinbrecher/Weiske 1992. Straßner 1981. Sucharowski 1985. Thomas 1988. Wachtel 1988. Woisin 1989. Zu Textsortenstilen und Sprache in Massenmedien s. auch 6.15! Zu Sprache in neuen elektronischen Medien s. 6.2!
6.4. Sprachenpolitische Entwicklung: Unterdrückung und Tolerierung von Sprachminderheiten 6.4.0. In der traditionellen deutschen Sprachgeschichtsschreibung hat das Interesse für d e u t s c h s p r a c h i g e Minderheiten in Nachbarländern und fernen Ländern bis nach Übersee (Auslandsdeutsche, Volksdeutsche) meist im Vordergrund gestanden, siedlungs- und kulturgeschichtlich orientiert ebenso wie sprachenpolitisch gegenwarts- und zukunftsbezogen. Von f r e m d s p r a c h i g e n Minderheiten im geschlossenen deutschen Sprachgebiet war dagegen nicht oder nur wenig und fragmentarisch die Rede. Diese Einseitigkeit hängt mit dem traditionell herrschaftsgewohnten bzw. expansiven deutschen S p r a c h n a t i o n a l i s m u s zusammen, der bald nach der Reichsgründung 1871 und nach den Gebietsabtretungen der Kriegsniederlage von 1919 noch radikaler wurde: Die durch die Pariser Friedensverträge entstandenen Ungerechtigkeiten und Spannungen für neuartige deutschsprachige Minderheiten in Nachbarländern verstellten den Blick auf die Ursachen dieser ersten deutschen Sprachgebietskatastrophe, die Ursachen in den verhängnisvollen sprachenpolitischen Entwicklungen im preußischen Deutschland und in Österreich-Ungarn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die geschichtliche Entwicklung hat bewiesen, daß beides komplementär und kausal zusammengehört: Deutschsprachige im Ausland und Anderssprachige im Inland. Dieser einst politisch brisante Themenbereich soll hier in drei chronologischen Abschnitten (6.4.1, 6.4.2, 6.4.3) im gebührenden Zusammenhang behandelt werden, mit besonderer Berücksichtigung der Vorgeschichte im 19. Jahrhundert. Die notwendige Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf diesen gewichtigen Teil der beiden deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat ebenso wie die Erörterung künftiger nachbarlich-kooperativer Sprachenpolitik im neuen Europa (s. 6.5 Ο—T) Anlaß gegeben für eine enorme Expansion der Forschungsliteratur auf diesem Gebiet in den letzten 20 Jahren, so daß dieses Kapitel unvermeidlich sehr differenziert und umfangreich werden mußte. — Z u dem diffusen Begriff Sprach(en)politik s. 6.5 Ο—Τ und Bd. I: 4.9A! Neuerdings werden Probleme von Nachbar- und Minderheitensprachen unter dem Begriff Kontaktlinguistik behandelt, mit dem — über die traditionelle innersprachliche Auffassung von Sprachkontakten (Interferenz, Transferenz, Entlehnungen) hinaus — Sprecher(gruppen) innerhalb ihrer Lebenszusammenhänge nach Kommunikations-Chancen und -Rechten, Domänen, Rollen, Attitüden, Stereotypen, Vorurteilen, Konflikten usw. untersucht werden sollen (Neide u. a. 1985, 265 f.).
Sprachnationalismus
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Unterdrückung von Sprachminderheiten entwickelte sich im Laufe des 19. J a h r h u n d e r t s aus Widersprüchen im Verhältnis zwischen ,Staat' und ,Sprache', ,Gleichheit' und , N a t i o n ' (Eichinger 1 9 9 1 ; B o c h m a n n , in: Dow/Stolz 1 9 9 1 , I f f . ) : Nach der Ablösung des absolutistischen Systems (in dem Sprachenunterschiede für M o n a r c h e n , Aristokratie und Territorialverwaltung nur begrenzte Probleme praktischer Nützlichkeit darstellten) durch ein staatliches System mit Mehrheitsentscheidungen, die nach aufklärerischer Auffassung die Herrschaft der ,Vernunft' garantieren, wurde im (alle Bürger in staatliche Aktivitäten einbeziehenden) N a t i o n a l s t a a t das politische Gleichheitsgebot unvermeidlich eingeschränkt durch die Inkongruenz von zusätzlichen Eigenschaften wie ethnisch, religiös, kulturell, sprachlich, schließlich auch rassisch. So war der hier relevante Begriff , M i n d e r h e i t ' — ein Produkt der Französischen Revolution — langezeit mit den politischen Konfliktkomponenten Z w a n g und Unterdrückung, mit der sprachenpolitischen Tendenz zur Zwangsassimilation bis zum Sprachwechsel im R a h m e n des Nationalstaats verbunden. Besonders diskriminierend wirkt die Verwendung des Terminus Minderheit in Gegenden, w o die Nicht-Staatssprache auf lokaler oder regionaler Ebene von der Bevölkerungsmehrheit gesprochen wird. Die für konstitutiv gehaltene Beziehung zwischen ,Sprache' und ,Nation' ist vom theoretischen Ansatz her nicht nur eine deutsche Eigenheit von Herders Sprachphilosophie her (s. Bd. II: 5.10U). Die Französisierungspolitik der Französischen Revolution gegenüber Sprachminderheiten (Calvet 1978, 138 ff.) wurde von Abbé Gregoire in seiner berühmten Programmschrift (1794) mit ausdrücklichem Verweis auf Herder als Mittel der sprachlichen Identitätsstiftung für die revolutionäre französische Nation postuliert (Eichinger 1991, 100). Gemeinsame Sprache der ,Staatsnation' (im westlichen Sinne) wurde zur Sicherung von ,Freiheit' und ,Gleichheit' in der gemeinsam gewollten Republik für notwendig gehalten, was sprachlichen Minderheiten (mit patois oder fremden Sprachen) das Prinzip der Sprachunterdrückung und der Zwangs-Zwei- oder Einsprachigkeit einbrachte. Den Beginn der Realisierung der jakobinischen ,Staatssprache'-Forderung konnten die Deutschsprachigen dann weniger im Elsaß (s. 6.4.1D) als vielmehr im von 1794 bis 1814 französisch besetzten und annektierten Rheinland erleben, wo in der regionalen Verwaltung auf der oberen Ebene Französisch, sonst bis hinunter zu den Gemeinden französisch/deutsche Zweisprachigkeit für eine rein deutschsprachige Bevölkerung durchgesetzt wurde (vgl. Pabst 1983), was möglicherweise als Modell für Sprachimperialismus im preußischen Deutschland weiterwirkte.
Der deutsche ,Sonderweg' mit dem andersherum gewendeten Begriff der , S p r a c h n a t i o n ' (,Eine Sprache, also eine N a t i o n ! ' ) , der sich durch Herders Wirkung auch bei den ,unerlösten' Nationen im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa verbreitete, beruht nicht auf irgendeiner ethnisch vorgegebenen Mentalität der Deutschen, sondern auf der o b j e k tiven historischen Tatsache, daß die Sprachbevölkerungen in den zahllosen deutschsprachigen Territorien — im Unterschied zu Franzosen,
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6.4.0. Sprachminderheiten, Allgemeines
Engländern, Niederländern, Spaniern usw. — zur Zeit der Wirkungen der Französischen Revolution ihren Nationalstaat noch nicht besaßen, wohl aber eine um 1800 endlich literarisch konsolidierte potentielle Nationalsprache mit wachsendem gesellschaftlichem und internationalem Prestige, mit funktional berechtigtem Anspruch auf Ablösung der internationalen Kultur- und Herrschaftssprachen Latein und Französisch. Entsprechendes gilt für die ebenfalls an der Staatsbildung gehinderten Nationen im östlichen und südlichen Mitteleuropa. So wurde die französisch-angelsächsische Priorität ,Ein Staat — eine Sprache!' umgekehrt zu: ,Eine Sprache, also ein Staat!'. Dies war ein Nacheifern und überbietendes romantisches Ideologisieren des (eher rationalistischen) französischen Französisierungspostulats (s. 6.4.1D) zu einem den Nationalstaat erst herbeiführenden S p r a c h n a t i o n a l i s m u s . Durch das zeitliche Zusammentreffen der deutschen Nationalbewegung von 1813 bis 1848/49 mit der (ebenfalls sprachnationalistischen) dänischen Emanzipationsbewegung gegen deutsche Oberschichtsprache von 1810 bis 1864 wurde der deutsche Sprachnationalismus bis zum Eroberungskrieg im Namen des Deutschen Bundes politisiert (s. 6.4.1MN). In dem dabei besonders engagierten Preußen wurde er dann als ,Reichsnationalismus' seit der radikalkonservativen Wende von 1878/79 (s. 6.IM) zum zwangsgermanisierenden S p r a c h i m p e r i a l i s m u s radikalisiert. Im alten Österreich wirkten sich der seit der Romantik erwachende Sprachnationalismus in Böhmen und Ungarn und die in den 1840er Jahren beginnende Magyarisierung im ungarischen Reichsteil eher rückwärtsgewandt als fortschrittsfeindliche Germanokratiepolitik der Habsburgermonarchie auf der Grundlage der Sprachenpolitik Josephs II. aus. In beiden Fällen richtete sich deutscher Sprachzwang mit traditioneller abendländischer' Kulturarroganz vorwiegend gegen östliche und südöstliche Nachbarnationen, so bis 1945. Dabei zwangen bzw. unterdrückten die Großen, Mächtigen und historisch Fortgeschritteneren immer die Kleineren, Schwächeren, Zurückgebliebenen. Besonders rigoros verhielt sich der Sprachnationalismus gegenüber Minderheiten, deren Sprache nicht durch eine prestigehafte Nationalsprache eines Nachbarlandes überdacht ist (ζ. B. Sorbisch, Rätoromanisch). — Die seit 1878/79 wachsende Intoleranz gegenüber (dem deutschen Reichsnationalismus hinderlichen) Nationalbewegungen kleinerer, unterworfener bzw. noch nicht anerkannter Nationen erklärt sich auch aus einer allgemeinen Verbreitung und Radikalisierung des Sprachnationalismus fast überall in Europa gerade in der Zeit zwischen 1880 und 1914 (s. Hobsbawn 1991, 128 ff.). An einen M i n d e r h e i t e n s c h u t z (wofür in der absolutistischen Zeit wegen der neutralisierenden Funktion der Universalsprachen Latein und Französisch noch kein Anlaß war) dachte man erst seit der amerikanischen Revolution aufgrund naturrechtlicher Vertragstheorien von Locke und Rousseau her (Eichinger 1991, 100). Obwohl schon im 19. Jh. immer wieder in Friedensverträgen, auf internationalen Kongressen, in neuen Staatsverfassungen (Sprach)Minderheitenschutz garantiert wurde, hielten sich die Machthabenden und ihre Dienstbeflissenen im Verwaltungs-, Vereins- und Schulbereich nicht daran, sondern verschärften ihre Sprachminderheitenpolitik, vor
Sprachnationalismus
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allem seit der Mitte des 19. Jh. nach der gescheiterten deutschen Revolution. Dies geschah im Rahmen zentralistischer, antidemokratischer Staatsformen, besonders nach der (sprachnationalistisch inkonsequenten) deutschen Reichsgründung von 1871. Dabei spielte die (eingebildete oder berechtigte) Angst vor nationalen Separationsbewegungen der unterdrückten Minderheiten eine Rolle, wohl auch das angelsächsische und französische Vorbild, die Schule mit der Durchsetzung der Nationalsprache als sprachenpolitisches Zwangs- und Gewöhnungsmittel zur Herstellung zunächst asymmetrischer Zweisprachigkeit, dann einsprachiger ethnischer Assimilation zu benutzen.
Dieses sehr komplexe Kapitel ist in drei Zeitabschnitte gegliedert. Zugunsten eines besseren Überblicks über einzelne Phasen der sprachenpolitischen Entwicklung machen wir zwei historisch relevante Einschnitte bei den für Deutschsprachige ebenso wie ihre Nachbarn und Minderheiten schicksalhaften Jahren 1919 und 1945: In Kapitel 6.4.1 (Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs) wird die Entwicklung dargestellt von den sprachenpolitisch noch relativ toleranten, aufgeklärt-absolutistischen Zuständen um 1800 über den allmählich verstärkten Zweisprachigkeitszwang bis zur planvollen reichsnationalistischen Unterdrückung von Minderheitensprachen, also zur erzwungenen deutschen Einsprachigkeit im preußisch-deutschen Machtbereich seit der späten Bismarckzeit, mit Höhepunkten um 1900 und im Ersten Weltkrieg; dazu parallel, wenn auch etwas altmodisch-dynastiestaatlich und chaotisch, die zunehmenden sprachenpolitischen Spannungen in der Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn bis zu deren (teilweise sprachenpolitisch bedingten) Auflösung. Kapitel 6.4.2 (Von 1919 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs) behandelt — abgesehen von vorübergehenden Ansätzen zu toleranterer Sprachminderheitenpolitik in den 20er Jahren — die Folgen der sprachenpolitischen Wende der Pariser Friedensverträge. Durch sie ging das Zeitalter deutschsprachiger sprachenpolitischer Herrschaft über fremdsprachige Minderheiten mit einer korrigierenden Verschärfung des Nationalstaatsprinzips (neue Nationalstaaten, Abtretung deutschsprachiger Gebiete) in eine Epoche mit weitaus stärkeren deutschsprachigen Minderheiten in benachbarten Nationalstaaten über, mit neuen sprachenpolitischen Unzuträglichkeiten und Konflikten, die einen großen Teil der Ursachen für die zweite deutsche und europäische Katastrophe durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg darstellten, einschließlich der von Hitler und Stalin begonnenen Massenaussiedlungen und -Vertreibungen. Kapitel 6.4.3 (Von 1945 bis zur Gegenwart) beginnt in der Zeit des zweiten, diesmal totalen Zusammenbruchs des deutschen Sprachimperialismus durch großflächige Reduzierung des deutschen Sprachgebiets im Osten beim und nach dem Kriegsende 1945. Es hat weiterhin mit der
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6.4.0. Sprachminderheiten, Allgemeines
verstärkt fortgesetzten Distanzierung und Entfremdung mehrsprachigdeutschsprachiger Gebiete im Südwesten und Westen zu tun, aber auch in einigen Fällen mit postnationalistischen Ansätzen zu toleranteren, kooperativen Lösungen sprachenpolitischer Nachbarschafts- und Minderheitenprobleme in der späteren Nachkriegszeit. Innerhalb dieser drei Zeitabschnitte 6.4.1/2/3 beginnen wir den R u n d g a n g durch die Randgebiete des geschlossenen deutschen Sprachgebiets jeweils in der mehrsprachigen Schweiz und gehen dann im Uhrzeigersinn weiter herum bis nach Südtirol.
6.4.1. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs A. Relativ altertümlich und friedlich sind die sprachenpolitischen/ -rechtlichen Verhältnisse in der viersprachigen S c h w e i z . Sie haben allerdings ihre wechselvolle Geschichte, und die Schweizer haben es bis heute nötig, immer wieder neu um erträgliche und gerechte Lösungen von Sprachkonflikten und Einseitigkeiten miteinander zu streiten (Sonderegger, in: BRS 1875 ff.; Löffler 1994c): Die vier Landessprachen (Nationalsprachen) der Schweiz — Deutsch, Französisch, Italienisch, Bündnerromanisch — haben jeweils ihre mindestens 1500jährige autochthone Geschichte, in der es zwar vorpolitische Germanisierung und Romanisierung gab, aber niemals sprachenpolitische Verdrängungsmaßnahmen, dagegen grundsätzlich das Recht auf Eigensprachlichkeit nach dem Territorialprinzip: Gemeinden bzw. Kantone bestimmen mehrheitlich über die offizielle Sprache ihres Gebiets; Auswärtige und Zugezogene haben sich danach zu richten, und jeder hat die Pflicht, den Anderen in dessen Sprache zu verstehen (mehrseitige passive Mehrsprachigkeit). ,Staat' und ,Nation' sind in der Schweiz nicht identisch mit,Sprache', sondern beruhen auf freiwilligem Zusammenschluß und „gemeinsamer jahrhundertelanger Geschichtserfahrung im mehrsprachigen Raum rund um die europäischen Zentralalpen" (Sonderegger, in: BRS 1884). Der schweizerische Sprachenfrieden entsprach weitgehend dem allgemeinen Zustand im alten Europa unter der kulturellen Dominanz des alle partikulären Interessen neutralisierenden universalen Lateins: „Solange in Europa niemand die Identität von Staatsvolk und National- oder Sprachvolk forderte, war die viersprachige Schweiz lange Zeit nichts Besonderes. Viele andere staatliche Gebilde kannten in ihren Grenzen mehrere Sprachen und Nationen" (Löffler 1994 c, 78). Allerdings war die alte Eidgenossenschaft bis 1798 rein deutschsprachig, da die welschen Kantone erst nach und nach, zunächst als Untertanen, hinzukamen. Dreisprachigkeit (bis 1938 noch unter Ausschluß des Rätoromanischen) wurde seit Napoleon in der
A—C: Schweiz
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Helvetischen Republik zur Leitidee, erst 1848 in der Bundesverfassung mit garantierter Gleichberechtigung der National- und Amtssprachen Deutsch, Französisch, Italienisch. Das schweizerische Sprachenrecht wirkt sich nach bestimmten Bereichen verschieden aus (Löffler 1994c, 80ff.): Auf Bundesebene müssen alle normativen Texte mit Rechtskraft in alle Landessprachen übersetzt werden, also mit gültiger semantischer Identität. Die meisten werden aber zuerst auf Deutsch verfaßt, erst dann ins Französische übersetzt, viel später ins Italienische; die Mehrsprachigkeit der Bundesbeamten ist defektiv: die meisten können nur Deutsch und Französisch, viele sind einsprachig; Italienisch und Rätoromanisch sind unterrepräsentiert (Hauck, in: Born/Stickel 1993, 150f.). Die meisten Kantone sind einsprachig, es gibt nur drei offiziell zweisprachige Kantone mit Deutsch und Französisch: Wallis, Bern, Freiburg, einen dreisprachigen: Graubünden. Im Bundesparlament gilt theoretisch Drei-, praktisch aber weitgehend nur Zweisprachigkeit mit Deutsch und Französisch. In den meisten Kantonsparlamenten (Großen Räten) reden die Deutschsprachigen, zum kommunikativen Nachteil der Welschschweizer, meist nur Schwyzertütsch (s. 6.11T). Vor dem Bundesgericht müssen alle drei Amtssprachen vertreten sein. Auf- und Inschriften in Warenhäusern, im Bank-, Post- und Verkehrswesen sind dreisprachig. In der Schule gibt es obligatorisch Unterricht in der zweiten Landessprache: Französisch in der Deutschschweiz, Deutsch oder Italienisch in der Westschweiz, Deutsch oder Italienisch im Tessin und in Graubünden.
B. Die individuelle Mehrsprachigkeit ist bei den Schweizern nach Sprachgruppen ungleich verteilt (Sonderegger, in: BRS 1879; Löffler 1994c, 81): Nach Zählungen von 1860 bis 1920 bildeten die Deutschschweizer (ca. 7 0 % der Gesamtbevölkerung) die übergroße Mehrheit, sind aber nur zu etwa einem Drittel zwei- oder mehrsprachig, während die f r a n k o p h o n e n Schweizer (ca. 2 2 % ) zu über der Hälfte, die ca. 6 % Italienischsprachigen (Tessin, Graubünden) zu über 7 0 % , die ca. 1,5% Rätoromanen (Graubünden) zu weit über 9 0 % zwei- oder mehrsprachig sind. Diese Asymmetrie wird noch verstärkt dadurch, daß D i a l e k t s p r e c h e n bei Deutschschweizern (auch im Verkehr mit den anderen Schweizern) von jeher und zunehmend üblich und identitätsstiftend hochbewertet ist, bei den Italienischsprachigen nur wenig, bei den Frankophonen fast gar nicht und tiefbewertet, und daß die Bündnerromanen mit ihren sehr differenzierten Dialekten im Verkehr mit den anderen Schweizern fast ganz auf die anderen Sprachen, vor allem Schweizerdeutsch, angewiesen sind. Daß aus dem übergroßen Anteil der Deutschschweizer keine konfliktreiche Dominanz wird, scheint durch ihre extrem dialektfreudige Sprechsprachgesinnung garantiert zu werden. Diese ist mit wesentlich geringerem, .provinziellem' Sprachprestige gegenüber dem standardsprachfreudigen, eher ,weltmännischen' Französisch der Westschweizer erkauft und signalisiert die seit 1871 zunehmend erforderliche nationale Distanzierung vom sprachpolitisch dominanten Reichsdeutsch. Andererseits schützt das Festhalten am amtlichen und hochkulturellen Gebrauch der gemeindeutschen Schriftsprache vor Provinzialität und vor einem „Sprachenstreit belgischer Art" (R. Zimmer 1977, 149). Allgemeiner ausgedrückt: Der Schweizer Sprachenfrieden beruht auf einer natürlichen, vornationalistischen Einstellung zum Verhältnis zwischen
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6 . 4 . 1 . Sprachminderheiten, bis 1 9 1 9
Sprachen und gesellschaftlichen Gruppierungen und Grenzen: „Sprachen sind in der Regel staatsübergreifend, in ihren Grenzen unfest bis dynamisch, grundsätzlich kontaktfreudig, weniger hegemonial, oft gegenseitig durchmischt, ganz einfach menschlicher, humaner, persönlicher", so daß Schweizer das einseitig ethnisch bezogene Sprachdenken ablehnen und sich solidarisch zu den anderen Sprachgruppen verhalten, mit „Teilhabe an drei europäischen G r o ß s p r a c h e n bei gleichzeitigem Verständnis für die Kleinsprachen" (Sonderegger 1 9 9 1 , 37). — Z u r relativen Stabilität der Sprachgrenzen s. Kolde 1 9 8 1 ; Brohy 1 9 9 2 .
C. Sehr fließend, mit breiter Mischzone und viel Sprachwechsel zugunsten des Deutschen ist die Sprachgrenze zwischen Deutsch und R ä t o r o m a n i s c h in Graubünden. Das Rätoromanische ist das schwächste, heute sehr gefährdete Glied des schweizerischen Sprachenfriedens (Marti 1990; Pfister, in: BRS 879 ff.; Viletta 1984): Es ist als Bündnerromanisch ein Reliktgebiet eines alpenromanischen Zusammenhangs mit Dolomitenladinisch (s. 6.4.3U) und Friaulisch, der durch mittelalterliche und neuzeitliche Germanisierung und Italianisierung zerrissen ist, so daß längst kein Zusammengehörigkeitsbewußtsein mehr besteht; selbst unter Romanisten ist die historische Spracheinheit nicht unumstritten. Seit über tausend Jahren unter deutschsprachiger Herrschaft ist das Romanisch bereits im 15./16. Jh. im Norden vom Zürich- und Bodensee und Montafon bis südlich Chur verdrängt worden und schrumpft seit dem 19. Jh. weiterhin. D a s Bündnerromanische ist stark in Dialekte differenziert, von denen sich seit der Reformationszeit 5 Literatursprachnormen entwickelt h a b e n , die noch heute nebeneinander bestehen. In der zweiten Hälfte des 19. J h . ist die Sprecherzahl von 4 2 . 0 0 0 auf 5 1 . 0 0 0 gestiegen, wovon heute nur noch 3 6 . 0 0 0 in Graubünden leben, von 4 0 , 3 % der Kantonsbevölkerung (1880) auf 2 1 , 8 % heute zurückgegangen, vor allem durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und Zuwanderung. Im 19. J h . war die Assimilationskraft des Bündnerromanischen noch stärker, so daß fremdsprachige Zuwanderer romanisiert wurden, während heute nur ganz wenige Deutschschweizer R o m a n i s c h lernen (Willi/Solèr 1 9 9 0 , 4 5 5 f f . ) . Die politische Struktur der Bündnerromanen ist von jeher stark auf a u t o n o m e Gemeinden konzentriert; ein städtisches Z e n t r u m fehlt. Z w a r ist seit 1 7 9 4 und 1 8 0 3 R o m a n i s c h auf Kantonsebene formalrechtlich als Amtssprache zugelassen, aber meist hat nur der deutsche T e x t unbedingte Gültigkeit, und der mündliche Verkehr ist asymmetrisch-zweisprachig. Im kirchlichen Bereich wurde das R o m a n i s c h e seit der Reformationszeit in beiden Kirchen gefördert, von daher teilweise auch in der Grundschule, gegen die mehr deutschorientierte pädagogische Bewegung der Aufklärung. Um 1 8 3 0 drohte fast der Untergang des Bündnerromanischen durch freiwillige Germanisierung. N a c h 1848 entwickelte sich jedoch mehr Selbstbewußtsein der Bündnerromanen, das sich in literarischem Leben und emanzipatorischem Vereinswesen äußerte (Viletta 1 9 8 4 ) . — Z u sprachenpolitischen Aktivitäten und Erfolgen nach 1 9 1 9 s. 6 . 4 . 2 D , 6 . 4 . 3 C !
D. Sprachenpolitik gegenüber Minderheiten erhielt eine neue, ideologische Qualität seit der jakobinischen Phase der Französischen Revolution.
D —G: Elsaß, Ost-Lothringen
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Ihre langfristige Wirkung auf das zunehmend preußischer werdende Deutschland läßt sich konkret studieren an der sprachenpolitischen Entwicklung im E l s a ß und in O s t - L o t h r i n g e n (Hartweg 1987; 1988; in: B R S 1949 ff.; in: Wimmer 1991, 136 ff.): Bis zum Ende des Anden regime waren der alemannische bzw. fränkische Dialekt der Bevölkerung und deren oberschichtliche Teilhabe an deutscher Literatursprachkultur kein Problem. Die territoriale Zugehörigkeit zum französischen König (im Wesentlichen seit dem 30jährigen Krieg) war zwar mit Französisch als Amtssprache in hochoffiziellen Angelegenheiten verbunden, jedoch nicht mit sprachpolitischem Druck auf die Bevölkerung, die von den Kirchen auf Deutsch versorgt wurde. Französisch war nur Sprache des Königs, der modern Gebildeten und der sozialökonomischen Modernisierung. Vor 1789 war das Elsaß noch eine „weitgehend deutschsprachige Landschaft", auch im Straßburg der frühen Goethejahre, mit von Zeitgenossen unter 1 % geschätzten Französischkenntnissen (Hartweg 1988, 200). Die Revolution verlangte dann von den deutschsprachigen Elsässern und Ost-Lothringern ein gesinnungsmäßiges Bekenntnis zum Französischen als einzig richtiger Sprache der ,Freiheit', der ,Wahrheit' und ,Vernunft', als Sprache der république une et indivisible, als Sprache der nation. Nach Frédéric Hartweg (1988 und in: B R S 1953 ff.) wurde seit der jakobinischen Radikalisierung das Verschwinden des Deutschen und der Dialekte als Sprache des ,Feindes', des Feudalstaates, der ,Sklaverei', des ,Aberglaubens' (d. h. der Religion) und des Obscurantismus gefordert, wie überhaupt vom Pariser Normstandpunkt her regionale Varietäten und nichtfranzösische Sprachen der Republik als patois verächtlich gemacht wurden (Calvet 1978, 138 ff.). Die bis zu Massendeportationen und -guillotinierungen gehenden härteren Arten solcher Forderungen wurden dann aber nicht von Frankreich gegenüber den Elsässern in die Tat umgesetzt (Hartweg a. a. O . ) ; in der nachrevolutionären französischen Zeit fehlte es an geeigneten zweisprachigen Lehrern und Beamten und an Geldmitteln für eine erfolgreiche Durchsetzung der revolutionären Ziele. Sprachenpolitikgeschichtlich wesentlicher waren die Auswirkungen der Jakobinerideologie auf die Entwicklung des Sprachnationalismus in Deutschland in der Napoleonzeit. D i e französische M a x i m e ,Eine Nation eine Sprache!' wurde dabei umgekehrt zu ,Eine Sprache eine Nation!'. Der Gedanke, daß alle Deutschsprechenden in einem deutschen Nationalstaat leben müßten, auch die Elsässer, findet sich deutlich bei den Propagandisten der ,Freiheitskriege' und von da in der ganzen deutschen Nationalbewegung bis hin zum wilhelminischen Nationalchauvinismus und zum Nationalsozialismus (Hartweg 1 9 8 8 , 2 0 6 ) . Im frühen 19. J h . blieb jedoch auf offizieller deutscher Seite der von Intellektuellen propagierte Sprachnationalismus noch unwirksam. D i e Französisierung des Elsaß blieb auch weiterhin auf den höheren Behördenverkehr, teilweise das öffentliche Leben und den Schulunterricht beschränkt, mit viel Propaganda und Verordnungen, einschließlich französischer Straßenschilder. Wirkliche Zweisprachigkeit gab es nach 1 8 5 0 nur in höherer Verwaltung und Kultur, in höheren Gesellschaftsschichten, in Sekundärschulen, besonders höheren Mädchenschulen, in der Berufsausbildung, aber
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
Deutsch oder Dialekt in der Berufsausübung, fast nur Dialekt bei Arbeitern und Bauern (Hartweg, a. a. O.). Vielfach war die Beherrschung beider Standardsprachen nur mangelhaft in einer damals beklagten Halbsprachigkeit: verspottetes Pfarrerditsch bzw. accent alsacien. In beiden Kirchen, außer in Nonnenklöstern und deren Schulen, war die Haltung zum Französischen als Sprache der ,Irreligion' meist ablehnend; Deutsch und Dialekt galten als ,Sprache des Herzens' für fromme Christen als unentbehrlich. 1863/64 konnten im Unterelsaß 3 6 , 2 % der Kinder zwischen 7 und 13 Jahren weder französisch sprechen noch schreiben, 1 6 % nur sprechen, im Oberelsaß 1 7 , 3 % nicht französisch sprechen, 1 6 % nicht franz. schreiben (Hartweg 1987, 128). Doch war Französisch vor der deutschen Annexion für die Elsässer nicht nur Staatsund Herrschafts- sondern auch die prestigehafte Bildungs- und höhere Gesellschaftssprache, besonders bei Jüngeren und Frauen. Der Übergang zu französischer Einsprachigkeit war in Ost-Lothringen seit 1850 in den Schulen schon weiter vorangeschritten (Stroh 1993, 50ff.; Hoffmeister 1977,5).
E. Mit der deutschen Annexion des Elsaß und eines Teils von Ost-Lothringen als ,Kriegsbeute' im Friedensvertrag von 1871 begingen Politiker in Preußen zum zweiten Mal (nach der Annexion Schleswigs 1864/66) den sprachenpolitischen Fehler, der im 20. Jh. noch mehrmals wiederholt wurde: Die betroffene Sprachbevölkerung wurde überhaupt nicht gefragt. Beim deutsch-französischen Krieg 1870/71 handelte es sich um die Auseinandersetzung eines als konstitutionelle Monarchie neuzugründenden Nationalstaats Deutsches Reich mit dem längst etablierten Nationalstaat Frankreich mit bereits entwickeltem National- und Republikbewußtsein der Bevölkerung, auch der deutschsprachigen Elsässer und Lothringer. Dies wurde von der reichsnationalen deutschen Annexionsbewegung mit ihrem illusionären ,Sprach'- oder ,Kulturnation'-Begriff verhängnisvoll ignoriert. Der Protest der elsässischen Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung und 1874 im Deutschen Reichstag — ebenso wie die Opposition der deutschen Sozialdemokraten im Norddeutschen Reichstag — blieb wirkungslos. Die Annexion war keineswegs nur eine spontane und obrigkeitliche Entscheidung der Kriegssieger: Bereits einen Monat vor Beginn des Krieges gab es eine Flut annexionistischer Zeitungsartikel und Flugschriften, angeführt von bekannten deutschen Professoren wie Treitschke, Sybel, Mommsen, die teils großpreußische, teils ethnisch-nationalistische Ziele propagierten und am Beispiel Elsaß-Lothringen mit dem Ideologem „Rückkehr zur Natur" konkretisieren wollten. Erst aufgrund der öffentlichen Wirkung dieser militanten Pressekampagne gab Bismarck seine anfängliche Skepsis gegen die „Professorenidee" auf und nahm die Annexion in die offiziellen Kriegsziele auf (Wehler 1995, 324 f.).
F. Das Anachronistische, d. h. weder Verfassungskonforme noch R a t i o nale' an der Realisierung der Annexion war und blieb vor allem der diskriminierende Sonderstatus, den Elsaß-Lothringen als Reichsland innerhalb des eigentlich als Bundesstaat verfaßten Reiches erhielt. Unter landesfremder preußischer Beamtenschaft und Militäradministration
D —G: Elsaß, Ost-Lothringen
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(ζ. T. aus Berlin o d e r P o s e n - W e s t p r e u ß e n ) w u r d e den E l s a ß - L o t h r i n g e r n das S e l b s t v e r w a l t u n g s r e c h t in einer A r t K o l o n i a l h e r r s c h a f t '
vorenthal-
ten, so d a ß die E l s a ß - L o t h r i n g e r sich o h n e eigene B u n d e s s t a a t s g e w a l t als „ R e i c h s b ü r g e r zweiter K l a s s e " fühlen m u ß t e n (Wehler 1 9 9 5 , 1 0 1 4 ) . Trotz Unverändertheit der 1000jährigen germanisch-romanischen Sprachgrenze in den Vogesen und in Ost-Lothringen wurde die Zahl der mit sprachpolitischen Sonderrechten versehenen frankophonen Gemeinden offiziell ständig verringert. Die Sprachenverteilung veränderte sich nach 1871 durch starke Abwanderung nach Frankreich bzw. Zuwanderung aus Deutschland (Hartweg 1987, 128 ff.; Stroh 1993, 53). Der Anteil französischer Familiennamen sank in Straßburg von 1860 bis 1884 von 2 1 , 5 % auf 7 , 2 % . Während in Ober- und Mittelschichten gesellschaftliche Segregation herrschte, vermischten sich die Zugewanderten in der Arbeiterbevölkerung stärker. Die Universität und das altsprachliche Gymnasium blieben mit überwiegend Altdeutschen weitgehend Fremdkörper mit gesprochenem Hochdeutsch. Die reichsdeutsche, faktisch preußische Sprachenpolitik im Reichsland Elsaß-Lothringen bestand bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges in einer „raschen und weitreichenden Einführung der deutschen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die durch mancherlei Übergangsbestimmungen zugunsten des Französischen gemildert wurde" (Hartweg, in: BRS 1957). Abgesehen von den rein frankophonen Teilgebieten, wurde Deutsch zwischen 1872 und 1881 als Unterrichts- und Amtssprache durchgesetzt, obwohl viele einheimische Beamte nur mangelhaft Deutsch konnten. In kleineren Gemeinden wurde auf Elsässisch verhandelt. Als Schikane wurde von der Bevölkerung der Ubereifer vieler Beamten bei der Eindeutschung französischer Eigennamen, Schilder, Briefaufschriften, Visitenkarten empfunden. Widerspruch und Unzufriedenheit löste auch die Abschaffung des Französischen in der Volksschule aus, nicht gegen die Einführung des Hochdeutschen, sondern wegen des Verlustes einer „wertvollen und geschätzten Bildungsmöglichkeit, an die man gerade Anschluß gefunden hatte" (Hartweg 1987, 133). In den Sekundärschulen wurde Französisch auf den Status einer Fremdsprache reduziert, vor allem nach Ersetzung vieler abgewanderter Lehrer durch altdeutsche. Schulpolitische Forderungen von katholischer, liberaler und sozialdemokratischer Seite zur Wiedereinführung der Zweisprachigkeit stießen auf behördliche Unnachgiebigkeit in Schulkämpfen 1875 — 87 und 1908 — 12. Zweisprachigkeit wurde als Bildungsschwindel, Doppelzüngigkeit und Verwelschung disqualifiziert, ζ. T. mit dem Verweis auf Spionagegefahr (Hartweg 1987, 137). Die Ostlothringer, mit einem relativ größeren frankophonen Gebietsanteil, unter strengerer Militärverwaltung, ohne traditionelle Beziehung zu den Elsässern, gerieten in eine partikularistische „Identitätskrise" (Stroh 1993, 53). G . W i e sehr die b o r n i e r t e p r e u ß i s c h e Elsaßpolitik mit d e m i m m e r unverhüllter d e m o n s t r i e r t e n Sieg des wilhelminischen „militärischen Semia b s o l u t i s m u s " über den R e c h t s - und Verfassungsstaat w u r d e E n d e 1 9 1 3 in der Zaberner
Affäre
zusammenhing,
deutlich, die m i t „sozialmilita-
r i s t i s c h e n " Übergriffen a u f die elsässische Z i v i l b e v ö l k e r u n g o h n e gerichtliche K l ä r u n g nicht n u r bei der R e i c h s t a g s o p p o s i t i o n , s o n d e r n a u c h im A u s l a n d E m p ö r u n g auslöste (Wehler 1 9 9 5 , 1 1 2 5 ff.). N a c h d e m s c h o n 1 9 0 4 in einem Vereins- und V e r s a m m l u n g s g e s e t z das F r a n z ö s i s c h e ausgeschlossen w u r d e (mit A u s n a h m e des franz. Sprachgebiets), erhielt d a s
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
Reichsland Elsaß-Lothringen während des Ersten Weltkriegs quasi den Status eines Feindeslandes unter einem rücksichtslosen Militärregime. Damit hat die Reichsregierung gegen die Warnungen der Zivilverwaltung und der Reichstagsopposition aus Mißtrauen eingestehen müssen, daß die ideologisch geplante ethnische und politische Riickeindeutschung der elsaß-lothringischen Bevölkerung im Wesentlichen mißlungen war. Zur Zwangsverdeutschung französischer Inschriften, Schilder, Buchführungen und zum Verbot des Französischen im Ersten Weltkrieg s. Hartweg 1987, 144 f.; Stroh 1993, 55; Sperling 1997, 239). - Zur Weiterentwicklung nach 1919 s. 6.4.2EF! H. Etwas anders als in der territorial mehrsprachigen Schweiz, hat sich im Großherzogtum L u x e m b u r g gesamtterritoriale Zwei- bzw. Dreisprachigkeit als traditionelles sprachenpolitisches Prinzip behaupten und verstärken können. Dies hat im Laufe des 20. Jh. zur Etablierung einer standardisierten und kodifizierten Ausbausprache Lëtzebuergesch als neuer germanischer Nationalsprache geführt. Obwohl das Letzeburgische, trotz seiner Herkunft aus moselfränkischem Dialekt, nicht als Varietät der deutschen Standardsprache einzustufen ist (wie das luxemburgische Standarddeutsch), gehört wenigstens sein sprachenpolitischer Entstehungsweg noch zur deutschen Sprachgeschichte, auch als Beispiel für gegenläufige Wirkungen des einstigen deutschen Sprachimperialismus. Die Entstehung des Letzeburgischen hat eine Vorgeschichte in der traditionellen Zweisprachigkeitsentwicklung des Landes (Bruch 1953; Kloss 1978 a; F. Hoffmann 1979, 28 ff.; Scheidweiler 1988; Berg 1993, 9 ff.): Im 12. Jh. bildete die Grafschaft Luxemburg beiderseits der seit 1000 Jahren stabilen germanisch-romanischen Sprachgrenze ein Zweivölkerterritorium mit etwa gleichen Anteilen an germanophoner und frankophoner Bevölkerung. Trotz des Festhaltens vieler Institutionen am traditionellen Bilinguismus dominierte aber Französisch, verstärkt unter burgundischer, spanischer, österreichischer und französischer Herrschaft, als Amts-, Schul- und Oberschichtsprache, auch in Zeitungen bis zur Napoleonzeit. Nach dem Wiener Kongress (1815) wurde Luxemburg als Großherzogtum formal selbständig, aber in Personalunion mit dem Königreich der Niederlande. Wilhelm I. v. Oranien-Nassau förderte bewußt die französische Sprachkultur, in Abwehr des zunehmenden Einflusses Preußens, das 1815 luxemburgische Gebietsteile östlich von Our, Sauer und Mosel erhalten hatte. Nach der belgischen Revolution (1830) änderte er aber seine Sprachenpolitik, nun gegen belgische Ansprüche: So wurde Deutsch gleichberechtigte Amtssprache, 1837 auch Unterrichtssprache auf dem Athenäum (Gymnasium). Es kam hinzu, daß 1839 der wallonische Teil (mit dem letzeburgischdialektalen Gebiet um Arel/Arlon) zu Belgien kam, so daß das Großherzogtum von nun an in der dialektalen Grundschicht ein rein germanophoner Staat wurde. Dies änderte aber nichts an der starken Stellung des Französischen als Amts-, Politik-, Kultur- und Oberschichtssprache neben Deutsch als 2. Amtssprache, Alltags-Schriftsprache der Mittelschicht und Kirchensprache. Die Distanzierung der Luxemburger
H —J: Luxemburg, Ost-Belgien
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von der in der napoleonischen Zeit entstehenden deutschen Nationalbewegung entwickelte sich angesichts der unliebsamen Verpreußung im benachbarten deutschen Mosel- und Eifelgebiet. Auch war die preußische Garnison (1815 — 1867) in der zur Festung des Deutschen Bundes erklärten Hauptstadt Luxemburg nicht gerade förderlich für ein alldeutsches Nationalbewußtsein. Seit damals ist Preis das Schimpfwort für ,Deutsche'. Die 1848 offiziell bestätigte französisch-deutsche Zweisprachigkeit bildete — zusammen mit der populären Identifizierungsfunktion der luxemburgischmoselfränkischen Dialekte als gesprochene alltägliche Umgangssprache — eine wesentliche Komponente des sich seit der Restaurationszeit entwickelnden, sich nach allen Seiten hin distanzierenden demokratischen Nationalbewußtseins. Die territorialpolitischen Bindungen an den Deutschen Bund endeten 1866, die an die Niederlande 1890.
I. Der Weg zur eigenständigen letzeburgischen Sprache begann sehr allmählich und retardiert: Während man sich darüber streiten kann, ob die Ansätze zu letzeburgischer Dialektliteratur seit 1829 und zur letzeburgischen Lexikographie seit 1847 mehr waren als ähnliche Früchte der Romantik in allen deutschsprachigen Dialektgebieten, sind einige Versuche zur öffentlichen Verwendung des Nationaldialekts schon deutlicher als Vorzeichen des späteren politisch bedingten Sprachseparatismus zu werten (F. Hoffmann 1979, 34ff.; Scheidweiler 1988): 1848 meldeten sich zwei Abgeordnete der Ständeversammlung in der Debatte über die Deutschland-Frage erstmalig auf Letzeburgisch zu Wort, „um von jedermann verstanden zu werden". 1896 brachte ein Parlamentsabgeordneter in einer sprachpatriotischen Rede einen Antrag zur Verwendung des Letzeburgischen ein, der aber abgelehnt wurde, da es ein Irrtum sei, „que le patois luxembourgeois est une langue". Trotz einer als ,Klassik' bezeichneten letzeburgischen Dialektliteraturblüte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. blieb also der gesetzlich verbriefte französisch-deutsche Bilinguismus noch ein hinreichendes „politisches Instrument, mit dem man unsere Eigenstaatlichkeit gefährdende Übergriffe aus Ost und West abzuwehren gedenkt" (Scheidweiler 1988, 233). 1906 erschien in staatlichem Auftrag ein zweites, überregionales letzeburgisches Wörterbuch, mit einer schon als vorbildlich geplanten Orthographie. 1910 wurde die sprachpolitisch aktive Lëtzebuerger Nationalunion gegründet. 1912 wurde Letzeburgisch Unterrichtsfach in Volksschulen. Im Ersten Weltkrieg verstärkte sich die politische Distanzierung von der deutschen Standardsprache während der deutschen Besetzung, deren Völkerrechtsverletzungen unvergessen blieben. Seitdem werden öffentliche Inschriften in Deutsch abgelehnt. Die offizielle Etablierung der letzeburgischen Schriftsprache kam erst nach der deutschen Sprachaggression von 1940 bis 1944 zustande (s. 6.4.2GH, 6.4.3FG).
J. Die Zerstörung und komplizierende Neuordnung traditioneller Mehrsprachigkeit durch den Nationalismus des 19. und 20. Jh. ist auch für O s t - B e l g i e n kennzeichnend. Nach einer üblichen Benennungsweise germanistischer Experten ist zu unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Arten deutschsprachiger Gebiete in Ost-Belgien (Neide 1979, 8; Born/Dickgießer 1989, 39f.): Die „Altbelgien" genannten kleinen Gebiete um Montzen, Bocholz und Arel/Arlon gehörten seit 1839 immer zu Belgien. Hier ist die alte Mehrsprachigkeit allmählich zu einem stark
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
asymmetrischen Verhältnis zwischen Französisch als alleiniger Amtsund Bildungssprache und deutschsprachigen Dialekten als privater Sprechsprache in Familie und Nachbarschaft verkümmert. Dieser den Verhältnissen in Ost-Lothringen ähnliche Zustand ist in den „Neu-Belgien" genannten größeren, grenznahen Gebieten um Eupen und St. Vith nicht eingetreten, weil sie seit 1815 zu Preußen, 1871 bis 1919 zum Deutschen Reich gehörten. Z u r älteren Territorialgeschichte (Pabst 1995, 52ff.): Das heutige Ost-Belgien gehörte im Rahmen des Alten Reiches seit dem 13. Jh. zu den Herzogtümern Limburg und Luxemburg (die noch in die Westeifel bis Bitburg und Schleiden hineinreichten), war später burgundisch, spanisch und österreichisch. Im Anden régime galt Französisch als Amtssprache auf der oberen Ebene, in den deutschsprachigen Gebieten auf unterer Ebene teilweise Deutsch. Im Limburgischen gab es auch den Wechsel zwischen Französisch, Niederländisch und Deutsch je nach Empfänger oder abwechselnd von Jahr zu Jahr; Französisch war Sprache der Oberschichten. In der Umgangssprache gab es einen fließenden Übergang zwischen niederfränkischem bzw. ripuarischem Plattdeutsch bzw. Hochdeutsch und Flämisch/Niederländisch. Hochdeutsch wurde von der katholischen Kirche gefördert, auch in der zentralistisch-frankophonen französischen Zeit (1792—1814) und in der Zeit der Zugehörigkeit zum Königreich der Niederlande (1815-1839). Die sprachenpolitische Zerrüttung der gewachsenen Mehrsprachigkeit war eine Folge der auf dem Wiener Kongress (1815) willkürlich, ohne Rücksicht auf die Primärsprachen der Sprachbevölkerungen gezogenen neuen Territorialgrenzen: Der westliche Teil der Herzogtümer Limburg und Luxemburg kam zur niederländischen Krone und zum Herzogtum Luxemburg, der östliche zu Preußen, einschließlich des von jeher wallonischen Gebietes um die alte Reichsabtei Stablo-Malmedy. Die neuen Staatsgrenzen wurden im nationalistischen 19. und 20. Jh. allmählich zu Grenzen mit „mentaler Trennung" trotz sprachlicher Gemeinsamkeit zwischen den alt- und neubelgischen Gebieten (Pabst 1995, 57). Auf preußischer Seite wurde schrittweise, zentralistisch von Aachen und Koblenz her im Rahmen der Rheinprovinz, deutsche offizielle Einsprachigkeit durchgesetzt, in der Wallonie Prussienne um Malmédy jedoch erst seit Bismarcks Geschäftssprachengesetz von 1876 (Pabst, in: Neide 1980). In Altbelgien wurde Deutsch trotz formaler Anerkennung mit Sprachenverordnungen durch Französisch verdrängt, 1867 auch in der Volksschule. Deutsch sank zum Unterschichtendialekt herab (zum Niederfränkischen, Ripuarischen bzw. Moselfränkischen gehörend). Hochdeutsch gab es nur noch in der Kirche bis zum Ersten Weltkrieg (Eiserm a n n / Z e h 1979, 21; Kern, in: Jongen u. a. 1983, 70ff.; Neide 1979, 22). Für einen wirksamen Widerstand, analog zu dem der Flamen, war die Bevölkerungszahl Altbelgiens zu gering. Immerhin gründeten Lehrer und Pfarrer 1892 in Arel/Arlon den Deutschen Verein zur Hebung und Pflege der Muttersprache im deutschsprechenden Belgien, 1905 in Montzen den Deutschen Verein für die Provinz Lüttich. 1895 erreichten Petitionen zahlreicher Deutschsprachiger wenigstens zeitweise die Anerkennung von Deutsch als Amtssprache. Der Versuch des deutschen Besatzungsregimes 1914— 18, in Altbelgien in Verwaltung und Schule deutsche Einsprachigkeit durchzusetzen, scheiterte aber am belgisch-patriotischen Widerstand von Lehrern, Eltern und Behörden, die aus Protest in der Öffentlichkeit und in der Kirche ihr Recht auf die traditionelle Zweisprachigkeit durch Französischgebrauch demonstrierten (Pabst 1995, 58). — Zur weiteren Entwicklung in Neubelgien s. 6.4.21, 6.4.3HI!
Κ: Niederländisch
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Κ. Auf eine etwas ältere sprachenpolitische Entwicklung geht die allmähliche Entstehung der Sprachgrenze zwischen Deutsch und N i e d e r l ä n d i s c h zwischen Aachen und E m d e n zurück. Sie war mehr territorialabsolutistisch und konfessionell, noch nicht nationalistisch vorbereitet und deshalb k a u m mehr mit S p r a c h e n k ä m p f e n im 19. und 20. Jh. verbunden. In der Nachkriegszeit ist viel getan w o r d e n , u m d a s falsche, deutschnationalistische Bild des historischen Verhältnisses zwischen Deutsch und Niederländisch, vor allem in der traditionellen G e r m a n i stik, zu korrigieren (de Smet, in: B R S 923 ff.; M i h m 1992; L a d e m a c h e r 1990; K l o o s 1992; Vekeman 1993): D a s Niederländische ist weder nach seinen U r s p r ü n g e n noch in der jüngeren Zeit ein Teil des Deutschen oder Niederdeutschen, auch nicht ,Tochtersprache', sondern ein eigener, d e m H o c h - wie Niederdeutschen gleichrangiger Z w e i g des Kontinentalwestgermanischen ( G o o s s e n s 1971; vgl. Bd. I: 3B1). Z w i s c h e n den drei spätmittelalterlichen Schreiblandschaften Mittelniederländisch, Mittelniederdeutsch und Mittelhochdeutsch ist von einer eigenständigen „ r h e i n m a a s l ä n d i s c h e n und ijsselländischen" Schreiblandschaft auszugehen, auf die die m o d e r n e Zweiteilung N i e d e r l ä n d i s c h / N i e d e r d e u t s c h noch nicht a n w e n d b a r ist ( M i h m 1992, 105 ff.). Die Etablierung der beiden Schriftsprachen Niederländisch und N e u h o c h d e u t s c h geschah im gesamten Übergangsbereich v o m M a a s - und Niederrheingebiet bis z u m E m s l a n d auf ähnliche Weise (de Smet, in: B R S 926; Cornelissen 1986; 1988; T a u b k e n 1981): Im Laufe des 16. und 17. Jh. setzte sich von Köln und Münster her zunächst teilweise das Hochdeutsche gegen das Niederdeutsche als Schriftsprache durch. Im territorialen Einflußbereich der spanischen Niederlande und der niederländischen reformierten Kirche (auch durch Glaubensflüchtlinge) sowie der Handelsbeziehungen der Niederlande zur deutschen Nord- und Ostseeküste, trat im 17. und frühen 18. Jh. in diesen Übergangsgebieten, auch in Ostfriesland, eine obrigkeitlich und kirchlich geförderte schriftsprachliche Niederlandisierung ein, teilweise kommerziell auch in den Hafenstädten Emden, Bremen, H a m b u r g und, durch wirtschaftlich bedingte Auswanderung, auch im westlichen Holsteinischen (Menke 1992). In Handels- und reformiertkirchlichen Kreisen finden sich Spuren dieser niederländischen Sprachkultur bis ins 19. Jh., in Einzelfällen bis ins 20. Jh. Im deutsch-niederländischen Grenzbereich wird ein grundsätzlicher sprachenpolitischer Unterschied zwischen der Epoche der Territorialstaaten und der Epoche der Nationalstaaten deutlich: Im 18. Jh. herrschte noch viel Liberalität beim Neben- und Übereinander verschiedener Sprachen. Bei Fortdauer niederdeutscher Grundsprache im mündlichen Verkehr der Allgemeinheit wurden die Schriftsprachen Hochdeutsch und Niederländisch je nach Empfänger(kreis) und Sachd o m ä n e abwechselnd verwendet, selbst noch unter preußischer Herrschaft (ab 1713) im oberen Gelderland, wobei auch beide Kirchen das Niederländische gegen preußische Verhochdeutschung in Gottesdienst und Schule stützten (Cornelissen 1986,7 ff.; 1989; Mihm 1992, 1 1 7 f f . ; Wintgens 1982; Taubken 1981). Verschärfungen der Sprachenpolitik beginnen erst in der napoleonischen Zeit: Nachdem in der französischen Zeit (1794—1814) neben Französisch nur das Deutsche zugelassen war, also das Niederländische zurückgedrängt wurde (Cornelissen 1986; 1989), wurde im unteren Nie-
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
derrheingebiet seit dem Wiener Kongress (1815) die Schriftsprachentoleranz unter preußischer Herrschaft durch eine „forcierte Eindeutschungspolitik" beendet, „die teilweise zu erheblichen Turbulenzen führte, bis schließlich um 1860 die Schriftsprachgrenzen genau entlang der Staatsgrenzen verliefen" [...] „Aus den Rhein-Maasländern sind Belgier, Deutsche und Niederländer geworden, deren Erinnerung an die 1500-jährige gemeinsame Sprache und Geschichte verblaßt ist" (Mihm 1992, 119 ff.). 1815 begann in der Grafschaft Lingen, 1816 in Ostfriesland, 1824 in der Grafschaft Bentheim die obrigkeitliche Verhochdeutschung (Taubken 1981, 20ff., 392). Für die Oberschichten war der Schriftsprachwechsel kein Anlaß für Widerstand, da sie ohnehin zweisprachig lebten; Schwierigkeiten gab es für die breite Bevölkerungsmehrheit, die ζ. T. Hilfsdienste durch Fremdschreiber nötig hatte, auch für bereits Alphabetisierte, die im Deutschen unsicher waren (Cornelissen 1989, 9 ff.). Hochdeutsch war für die eingesessene Bevölkerung noch in der 1. Hälfte des 19. Jh. eine „nicht weniger leicht erlernbare Schriftsprache als es zuvor das Niederländische gewesen war" (Taubken 1981, 392). Die evangelische Kirche in Hannover-Preußen war an diesem Verhochdeutschungsprozeß aktiv beteiligt. — Zu niederländischem Spracheinfluß im Deutschen bzw. Niederdeutschen s. de Smet, in: BRS 923 ff.; Beke 1995! — Zur weiteren Entwicklung s. 6.4.2J! L . E i n e d e m R ä t o r o m a n i s c h e n u n d S o r b i s c h e n v e r g l e i c h b a r e , s e h r alte M i n d e r h e i t e n s p r a c h e in D e u t s c h l a n d ist d a s F r i e s i s c h e , h e u t e n u r n o c h in zwei R e l i k t g e b i e t e n : N o r d f r i e s i s c h a n d e r W e s t k ü s t e des L a n d e s t e i l s S c h l e s w i g u n d a u f N o r d s e e i n s e l n v o n H e l g o l a n d bis S y l t , S a t e r l ä n d i s c h im westlichen Ostfriesland. Diese aus dem sprachhistorisch erschließbaren N o r d s e e g e r m a n i s c h / I n g w ä o n i s c h h e r s t a m m e n d e , z w i s c h e n E n g l i s c h , D ä n i s c h u n d N i e d e r d e u t s c h e i n z u o r d n e n d e S p r a c h e ist s c h o n seit d e m S p ä t m i t t e l a l t e r , als es als R e c h t s s p r a c h e v e r s c h r i f t e t w a r
(Altfriesisch),
v o m N i e d e r d e u t s c h e n , seit d e m 1 7 . J h . z u n e h m e n d a u c h v o m H o c h d e u t schen
aus den F u n k t i o n e n
eines K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l s
für
höhere,
ü b e r r e g i o n a l e Z w e c k e , in w e i t e n G e b i e t e n a u c h als V o l k s s p r a c h e v e r drängt worden (Arhammar 1988): Eine besondere staatsrechtliche Stellung (,friesische Freiheit') hat seit früher Zeit eine exklusiv-defensive Haltung der Friesen gefördert, also die Gewohnheit, mit den Nachbarbevölkerungen und deren Obrigkeiten stets in deren Sprache zu verkehren, was von jeher starken niederdt. bzw. hochdt. Lehneinfluß im Friesischen gefördert und weithin zum Sprachwechsel geführt hat. Während sich das Westfriesische in den nördlichen Niederlanden am besten erhalten konnte (ca. 400.000), mit dem Ausbau zu einer staatlich anerkannten regionalen Standard- und Verkehrssprache seit dem 19. Jh., ist das O s t f r i e s i s c h e schon seit dem 14. Jh. allmählich vom Niederdeutschen, seit der Reformation auch vom Hochdeutschen und Niederländischen zurückgedrängt worden. Bis heute erhalten ist die kleine Sprachinsel des Saterländischen (Seeltersk), das mit Dialektstatus in 3 Gemeinden im Nordwesten des Kreises Cloppenburg gesprochen wird (Stellmacher 1993; Remmers 1994/95; Fort 1980). Bis Anfang des 20. Jh. gab es noch Reste des Friesischen auf Wangerooge, bis ins 17./18. Jh. auch im Harlingerland (w. Wilhelmshaven) und im Land Wursten (ö. der Wesermündung). — Auch das N o r d f r i e s i s c h e ist im 17./18. Jh. räumlich zurückgegangen durch prestigeorientierten Sprachwechsel zum Niederdeutschen in Eiderstedt und
L: Friesisch
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durch Sturmfluten und Neubesiedlung auf Pellworm und Nordstrand. Im 19. und 20. Jh. hat keinerlei sprachenpolitische Verdrängung des Friesischen stattgefunden. Das Land Schleswig hatte eine tausendjährige Tradition der Mehrsprachigkeit mit bis etwa 1920 ungeklärten und nicht umkämpften Sprachgrenzen. Als regionale Kleinsprachen haben das Nordfriesische und das Plattdänische/Südjütische (Senderjysk) so gut wie nie miteinander konkurriert (Walker und Wilts, in: Ureland 1978, 130, 150 ff.; Walker, in Kremer/Niebaum 1990, 407ff.). Es gab zwar seit dem 19. Jh. vereinzelte literarische Ansätze in Nordfriesisch, auch eine Friesische Bewegung mit Ortsvereinen zur Spracherhaltung und Heimatpflege (Steensen 1986) sowie zahlreiche lexikographische Veröffentlichungen (Árhammar 1988). Aber das allgemeine Desinteresse an einer Störung des funktionalen Gleichgewichts zwischen den Sprachen in Schleswig sowie die starke Differenzierung des Nordfriesischen in 10 Hauptdialekte standen immer einer orthographischen, grammatischen und lexikalischen Vereinheitlichung im Wege. Nordfriesen aus verschiedenen Teilgebieten können sich schwer im Dialekt miteinander verständigen und benutzen oft Nieder- oder Hochdeutsch als Verkehrssprache. — Zur Frage, ob Friesisch trotz Überdachung durch das Deutsche eine eigene Sprache ist, s. Goossens 1977, 50; Stellmacher 1993; Walker 1983; Ammon, in: Mattheier/Wiesinger 1994, 375 f. — Zum Friesischen heute s. 6.4.3K!
M. Eine lange Vorgeschichte hat das langezeit konfliktreiche Verhältnis zwischen Deutsch und D ä n i s c h (vor allem deren regionalen Varietäten) im Land Schleswig, das aufgrund einer im Mittelalter weiter südlichen Erstreckung des Königreichs Dänemark bis zur Eider noch heute auf Dänisch Senderjylland/Südjütland heißt (Zeh 1982, 132 ff.; HyldgaardJensen 1981, 126ff.): Bodenständige Volkssprache war das Südjütische/ Sonderjysk, auch Plattdänisch genannt, das sich stark vom Hochdänisch (rigsdansk) unterscheidet und durch norddeutsche Zuwanderung und Wirkung der mittelniederdeutschen Hansesprache stark niederdeutsch beeinflußt ist. Seit der Reformation wurde die niederdeutsche höhere Verkehrssprache allmählich in Kirche und gebildetem Bürgertum durch das Hochdeutsche verdrängt; Umgangssprache blieb, neben Plattdeutsch, bis heute großenteils das Südjütische, das erst seit 1920 vom Hochdänischen wirklich überdacht wurde. Seine Verbreitung reichte im 17. Jh. noch südwärts bis zur Linie Husum-Schleswig, reicht seit Mitte des 20. Jh. südlich der neuen Staatsgrenze von 1920 nur noch bis Niebüll-Medelby mit Minderheiten unter 20% bis westl. Flensburg (Selk 1986, 222). Die politischen Verhältnisse stimmten von jeher nicht mit den sprachgeographischen überein. Seit 1460 gehörten die Herzogtümer Holstein und Schleswig zu Dänemark; trotzdem blieb Holstein deutsches Lehen, kam also 1815 zum Deutschen Bund. So wurde der Sprachenkonflikt im nationalistischen 19. Jh. unausbleiblich. Es kam hinzu, daß das Königreich Dänemark in der Oberschichtkultur und zentralen Verwaltung seit der Reformationszeit zunehmend dänisch-deutsch zweisprachig wurde (Winge 1992): Bei Hofe, in der Verwaltung, in der Kirche und im Bildungsleben gaben deutschsprachige Adelige, Beamte, Offiziere, Geistliche, Gelehrte auf Deutsch den Ton an. In der 2. Hälfte des 18. Jh., vor allem seit 1770 regte sich eine dänisch-
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6 . 4 . 1 . Sprachminderheiten, bis 1 9 1 9
nationale, antideutsche (auch antiaristokratische) Stimmung, in der d e u t s c h s p r a c h i g ' von vielen polemischen Publizisten nun mit ,deutschgesinnt' gleichgesetzt wurde. 1 7 7 2 / 7 3 wurde die deutsche K o m m a n d o s p r a c h e des Militärs abgeschafft und das Deutsche als Amtssprache nur noch in schleswig-holsteinischen Angelegenheiten zugelassen. O b w o h l Zweisprachigkeit und literarische Beziehungen nach Deutschland in der 1. Hälfte des 19. J h . noch stark waren, begann die Danisierungs- d. h. Entdeutschungspolitik mit den Sprachreskripten von 1 8 1 0 und dem Schulgesetz von 1 8 1 4 , die einen deutlichen Rückgang des Deutschen in Schule, Kirche und Zeitungen zur Folge hatten (Rohweder 1 9 7 6 ; Winge 1 9 9 2 , 3 2 5 f f . ) . In den vorrevolutionären 1 8 3 0 e r und 1 8 4 0 e r J a h r e n gab es eine prodänische Studentenbewegung und Sprachenkämpfe. 1 8 4 0 wurde in Nordschleswig Dänisch als Verwaltungs- und Gerichtssprache verbindlich eingeführt. Deutschsprachige aus Mittel- und Unterschichten wurden so zur Sprachminderheit, o b w o h l Deutsch als 1. Fremdsprache in D ä n e m a r k weiterhin eine bedeutende Rolle spielte. Es gab puristische Ersetzungen deutscher Wörter im Hochdänischen.
N. In S c h l e s w i g eskalierten die territorial- und sprachenpolitischen Spannungen im Revolutionsjahr 1848. König Frederiks VII. zentralistischer Verfassungsentwurf und eine dänische Annexionsbewegung mit dem Wahlspruch ,Dänemark bis zur Eider' hatten eine separatistische deutschnationale Bewegung zur Folge. Im Krieg 1848 bis 1851 verschärften die siegreichen Dänen die Sprachenpolitik auch in Gebieten, wo Dänisch nicht Volkssprache war (Eriksen, in: Hinderling 1986, 155). Damit zusammenhängende Unruhen, politische Spannungen und deutschnationalistische Gegentendenzen im Streit in den Ländern des Deutschen Bundes über die „Schleswig-Holsteiniscke Frage" (Wehler 1987, 2, 400) führten dann zum Krieg von 1864, durch den Preußen und Österreich Holstein und Schleswig im Namen des Deutschen Bundes annektierten. Dieser erste national- und sprachenpolitisch ausgelöste und motivierte Krieg in Mitteleuropa war der erste sprachimperialistische Eingriff in sprachenpolitische Nachbarschafts- und Mehrsprachigkeitsverhältnisse. Das nun in die Rolle der norddeutschen Führungsmacht auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat hineingewachsene Preußen kopierte und überbot die dänische Sprachenpolitik in der Umkehrung gegen die neue dänische Minderheit. Deutsche Amtssprache wurde eingeführt, mit z. T. härteren M a ß n a h m e n gegen den Widerstand der Minderheit als in Elsaß-Lothringen (Wehler 1 9 9 5 , 9 6 1 ) . In der Volksschule wurde 1878 deutsche Unterrichtssprache durchgesetzt (außer dän. Religionsunterricht in Nordschleswig), wurden dänische Haus- und Privatschulen verboten. Durch das geheime Gravensteiner Protokoll (1898) wurden Ausweisungen von Personen angeordnet, die an „politischen Demonstrationen [ . . . ] die bezwecken, dänische Sympathien zu e r w e c k e n " , teilgenommen hatten (Eriksen 1 9 8 6 , 156; T h . P. Petersen 1 9 9 5 , 3 8 6 ) . Der im Prager Frieden (1866) enthaltene Artikel 5, wonach die Bevölkerung Nordschleswigs in einer Volksabstimmung optieren können sollte, wurde von Preußen nicht realisiert. Seit 1878 gab es Parallelen und Abhängigkeiten zwischen antidänischer und antipolnischer Sprachenpolitik Preußens, z. B. gegen dänischen
M N : Dänisch, Deutsch
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Gottesdienst und Religionsunterricht, gegen Dänisch als Versammlungssprache (1908). Im Ersten Weltkrieg wurde Dänischsprechen in der Armee verboten. Alles ging gegen heftigen Widerstand im Landtag und Reichstag, vor allem von sozialdemokratischen, freisinnigen und Zentrumsabgeordneten ( T h . P.Petersen 1 9 9 5 , 3 8 8 ff.). Die hastige Aufhebung vieler Verbote 1917/18 kurz vor Kriegsende war ein Zeichen dafür, wie sehr die Unrechtmäßigkeit und die möglichen negativen Folgen der preußischen Sprachenpolitik bewußt wurden. — Z u r Entstehung neuer Minderheiten nach 1 9 1 9 s. 6 . 4 . 2 L !
O . Z u n e h m e n d e sprachenpolitische Unterdrückung kennzeichnet auch die jüngere Geschichte der alten s o r b i s c h e n Minderheit in der Lausitz mit ihrer westslawischen Reliktsprache, die sich in einer seit etwa 1 0 0 0 Jahren unter deutscher Herrschaft auch folkloristisch eigenständigen Sprachinsel erhalten hat. Die traditionelle deutsche Bezeichnung Wendisch wird von den Sorben, historisch berechtigt, als abschätzige Variante abgelehnt. Im 18. Jh. wurde in sorbenfreundlicher Literatur ζ. T. die K o m p r o m i ß f o r m sorberwendisch benutzt. Das sorbische Sprachgebiet war schon im Spätmittelalter im Saale-Elbe-Gebiet stark zurückgegangen, mit letzten Zeugnissen in der Wittenberger Gegend zu Luthers Z e i t (s. Bd. I: 4 . 9 Q ) . M i t religiösen Schriften und Übersetzungen ins Sorbische seit der Reformationszeit waren beide Kirchen aus Gründen des konfessionellen Gegensatzes, auch die Oberlausitzer Landstände, meist an der Erhaltung und Kultivierung des Sorbischen interessiert, besonders nach dem 30 jährigen Krieg, die evangelische Kirche seit dem 19. J h . nicht mehr. So hat sich das Sorbische im katholisch gebliebenen west-oberlausitzischen Gebiet zwischen Kamenz und Bautzen (mit kirchlich-kulturellem Z e n t r u m im mehrheitlich deutschsprachigen Bautzen) bis heute am besten behaupten können, weitaus schlechter im niederlausitzisch-preußischen um Cottbus. Dies hing auch zusammen mit den starken dialektalen Unterschieden zwischen dem oberlausitzischen Obersorbisch und dem niederlausitzischen Niedersorbisch. Die west-obersorbische Schriftsprachtradition ist seit Ende des 16. J h . führend, ζ. T. nach tschechischem orthographischem Vorbild. N o c h heute gibt es eine gefestigte oberund eine mehr gefährdete niedersorbische Schriftsprache (Marti 1 9 9 0 ; Schuster-Sewc 1973; 1 9 8 3 ; Kasper 1987). In der 1. Hälfte des 19. J h . ging das Niedersorbische durch Sprachenwechsel in den nordwestlichen und nördlichen Randgebieten zurück. Der stärkere Rückgang des Niedersorbischen resultiert auch aus dem Unterschied zwischen einer im Allgemeinen etwas liberaleren sächsisch-oberlausitzischen Sorbenpolitik (der sächs. H o f zu Dresden war seit Augusts des Starken polnischem Königtum katholisch) und der besonders seit der B i s m a r c k - Z e i t härteren preußischen Germanisierungspolitik (Gessinger 1 9 9 1 , 106 ff.; Schuster-Sewc 1 9 7 3 ; Oschlies 1990 c; P. Kunze, in: Scholze 1 9 9 3 , 25 ff.): Nach der napoleonischen Zeit, in der alle Sorben für wenige J a h r e in einem einzigen Verwaltungsbezirk zusammen leben durften, endete die pietistisch-aufklärerische Toleranz. Durch die Gebietsabtretungen zugunsten Preußens auf dem Wiener Kongreß (1815) kamen 8 0 % der für damals auf 2 0 0 . 0 0 0 geschätzten sorbischen Sprachbevölkerung zu Preußen. D a m i t verfielen alte ständische Sonderrechte der Oberlausitz, die in Sachsen noch etwas länger galten, und wurden durch zentralistische Verwaltung ersetzt. Als vorsorgliche M a ß n a h m e gegen eine sorbische Nationalbewegung wurden die Kreise und Kirchenbezirke so eingerichtet, daß jeweils gemischtsprachige Einheiten mit großer deutschsprachiger Mehrheit
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
entstanden, zu Brandenburg, Schlesien oder Sachsen gehörig. Während in Sachsen seit 1835 wenigstens sorbischer Lese- und Religionsunterricht zugelassen war, wurden in Preußen zur offiziell beschlossenen Zurückdrängung des Wendischen systematisch deutschsprachige Lehrer und Pfarrer ζ. T. ohne Beherrschung des Sorbischen eingestellt, teilweise sorbische Publikationen verboten oder verhindert, sorbische Eigennamen verdeutscht. Der durch stärker deutschorientierte Schulbestimmungen seit der Bismarck-Zeit mit Hilfe der evangelischen Kirche bewirkte niedrige Alphabetisierungsstand der Sorben und ihr beharrliches Festhalten an ihrer slawischen Muttersprache wurde öfters als ,volksaufklärerisches' Argument für ihre ,Rückständigkeit' und ,Unvernunft' angeführt. P. I m U n t e r s c h i e d zur f r ü h e n P o l e n p o l i t i k in P o s e n w u r d e bei den S o r b e n s c h o n i m f r ü h e n 1 9 . J h . offiziell n i c h t Z w e i s p r a c h i g k e i t a n g e s t r e b t , s o n d e r n einseitig E r l e r n u n g des D e u t s c h e n u n d , Z u n e i g u n g ' zu i h m als n e u e , M u t t e r s p r a c h e ' , a l s o e n d g ü l t i g e t o t a l e A s s i m i l a t i o n s c h o n im K i n desalter (Gessinger 1 9 9 1 ) . D a s 1 8 4 8 e r Verfassungsgebot der Gleichber e c h t i g u n g v o n M i n d e r h e i t e n w u r d e p r a k t i s c h w e d e r v o n der p r e u ß i s c h e n n o c h d e r s ä c h s i s c h e n R e g i e r u n g b e a c h t e t . D e r U n t e r g a n g des S o r b i s c h e n w u r d e s c h o n im 1 9 . J h . v o n o f f i z i e l l e r Seite p r o p h e z e i t u n d f ü r w ü n s c h b a r g e h a l t e n . G e g e n die f o r t s c h r e i t e n d e
Germanisierungspolitik
h a b e n in d e r Z e i t der R o m a n t i k u n d des V o r m ä r z s o r b i s c h e G e b i l d e t e , vor allem Theologiestudenten,
mit Unterstützung
von Experten
und
P a n s l a w i s t e n in a n d e r e n s l a w i s c h e n L ä n d e r n , v o r a l l e m in P r a g , viel für die „ s o r b i s c h e n a t i o n a l e W i e d e r g e b u r t " g e t a n , a b e r a u ß e r Z u g e s t ä n d n i s sen in K l e i n i g k e i t e n n i c h t viel e r r e i c h e n k ö n n e n ( S c h o l z e 1 9 9 3 , 3 2 ff.; Oschlies 1 9 9 0 c , 20ff.): Ein bedeutender sprachpflegerischer Schritt war Arnost Smolers „Deutsch-Wendisches Wörterbuch" (1843), in dem nach tschechischem Vorbild zahlreiche deutsche Lehnwörter durch Ersatzbildungen nach tschechischem oder polnischem Vorbild ersetzt, die Kleinschreibung und slawische Konsonanten anstelle dt. Zischlaute eingeführt wurden. Bis 1849 entstanden in der sächsischen Oberlausitz 22 sorbische Sprach- und Kulturvereine. Die Mácica Serbska (,sorbischer Mutterverein', gegr. 1847) hat auf katholische Initiative hin viel zur Standardisierung und lexikalischen Reslawisierung der (west-) obersorbischen Schriftsprache beigetragen. Der neue kulturelle Aufschwung in den 1860er Jahren, mit sorbischen Zeitungen, Zeitschriften, Theaterstücken, Gesangsfesten, wissenschaftlichen Studien, auch im preußischen Teil, endete bald nach der Gründung des Bismarckreiches durch antisorbische Sprachenpolitik mit dem Ziel der Sprachverdrängung, in Preußen im Zusammenhang mit der Verschärfung der antipolnischen Maßnahmen in Schlesien seit 1872 (Oschlies 1990 c, 21 f.). Seit der Jahrhundertwende wurde sorbische Sprachkultur besonders in der Niederlausitz zusätzlich bedrängt durch den Braunkohlentagebau und die allgemeine Industrialisierung, mit viel Zuzug und Abwanderung, auch nach Übersee, und mehr Zwang zur Zweisprachigkeit gegenüber der nicht mehr traditionell-nachbarlich sich verhaltenden deutschsprachigen Umgebung (Michalk 1990 b, 430). Sorbische Intellektuelle reagierten mit verstärkten kulturpolitischen Anstrengungen: 1904 wurde das Wendische Haus in Bautzen aus Spenden gegründet, 1912 von Hoyerswerda aus die Domowina ,Heimat' / Bund lausitzer Sorben als Dachverband gegen die Germanisie-
OP: Sorbisch
127
rungspolitik Preußens u n d Sachsens, mit 31 Mitgliedsvereinen. 1913 g a b es im sächsischen Teil 58 sorbische Kulturvereine, zwischen 1900 und 1914 r u n d 250 sorbische Theatervorstellungen (Scholze 1993, 39). — Die zahlenmäßige E n t w i c k l u n g der sorbischen M i n d e r h e i t ist n u r unsicher zu rekonstruieren: W ä h r e n d Oschlies (1990 c, 22) u m 1900 noch mit r u n d 200.000 rechnet, also nicht viel weniger als u m 1800, gibt M a r t i (1990, 30 f.) nach einer W a c h s t u m s p e r i o d e a b M i t t e des 19. J h . ständige Abn a h m e an: nach privaten A n g a b e n 140.000 (1849), 166.000 (1880/84), 146.000 (1905), dagegen zu niedrige offizielle Angaben: 115.000 (1880er Jahre), 106.000 (1905), 57.167 (1933), 32.061 (1946). - Z u r E n t w i c k l u n g nach 1918 s. 6.4.2M!
Q. Im spracharealen Verhältnis zwischen Deutsch und P o l n i s c h ging im Laufe des 19. Jahrhunderts die Phase der noch ungeplanten, vorpolitischen, nur sozialökonomisch bedingten Germanisierung (Glück 1979, 38 f.), ζ. B. in westlichen Teilen Schlesiens, in Pommern und Masuren, in die der gezielten preußischen Sprachenpolitik über. Diese entwickelte sich von begrenzter aufklärerisch-völkerrechtlicher Toleranz (noch um 1800) allmählich zu harter Sprachunterdrückung mit allen staatlichen Mitteln im Bunde mit der evangelischen Kirche und dem radikalnationalistischen Deutschen Ostmarkenverein (Glück 1979; Gessinger 1991): Nach dem Wiener Kongreß wirkte in den nun preußisch gewordenen Teilen Polens aus außenpolitischer Rücksicht auf Rußland allerdings noch das staatsnationale Territorialprinzip im Sinne einer pragmatischen Zweisprachigkeit, die nach dem aufgeklärten Absolutismus von Friedrich II. her das reibungslose Funktionieren der staatlichen Institutionen und der ihnen zustehenden Einkünfte und Dienstleistungen durch ein Minimum an Rechtsverständnis der Untertanen, wenigstens in der adeligen Oberschicht, garantieren sollte. Bei der dritten Teilung Polens (1815) sicherte der preußische König im preußischrussischen Vertrag u n d d u r c h „Allerhöchsten Zuruf an die polnische Bevölkerung der neupreußischen Provinz Posen (auch Großherzogtum Posen genannt) Religionsfreiheit, Rechts- u n d Eigentumssicherung, G e b r a u c h der polnischen Sprache im a m t lichen Verkehr u n d vor Gericht zu. Diese tolerante H a l t u n g n a h m Rücksicht auf das russische , K o n g r e ß p o l e n ' , das bis 1831 eine a m französischen Vorbild orientierte Verfassung hatte, die „dem L a n d bzw. d e m polnischen Adel weitgehende politische Rechte und nationale A u t o n o m i e g e w ä h r t e " (Glück 1979, 2 0 0 f . ) . Solcher m o d e r n erscheinender M i n d e r h e i t e n s c h u t z blieb allerdings der schon länger preußischen slawisch- bzw. baltischsprachigen Bevölkerung O s t - u n d W e s t p r e u ß e n s u n d O b e r s c h l e s i e n s weiterhin v o r e n t h a l t e n . D a s P o m o r a n i s c h - K a s c h u b i s c h e an der Grenze zwischen P o m m e r n u n d dem nordwestlichen Westpreußen, das Masurische im südlichen O s t p r e u ß e n u n d polnische Dialekte im östlichen Schlesien w u r d e n — entsprechend d e m unterentwickelten Sprachbewußtsein der Sprachbevölkerungen — von Staat und Kirchen ü b e r h a u p t nicht als Teile des Polnischen a n e r k a n n t (was linguistisch allenfalls f ü r das Kaschubische zutrifft) u n d von jeglichem Einfluß der polnischen Schriftsprache ferngehalten; entsprechend behandelte m a n die litauische M i n derheit im nördlichen O s t p r e u ß e n . Diese archaischen S p r a c h e n / D i a l e k t e nichtalphabetisierter Bevölkerungen, f ü r die es n u r einzelne kirchliche Verschriftungsansätze seit
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
dem 16. Jh. gab, wurden als etwas Minderwertiges, Kulturloses eingestuft und ζ. T. pejorativ benannt: Polackisch, Wasserpolnisch, Schlonsakisch-, als ,Sprache' galt nur das Hochdeutsche, die Staats- und Kirchensprache (Glück 1979, 91, 106 ff.).
Sprachkolonialistische Verhältnisse bestanden im frühen 19. J h . im Grunde auch in der Provinz P o s e n , da die Tolerierung von Zweisprachigkeit im Wesentlichen nur die kleine feudale O b e r s c h i c h t der G r o ß grundbesitzer betraf, während die noch weitgehend leibeigene, nicht schreib- und lesefähige bäuerliche Bevölkerung am öffentlichen Leben noch k a u m Anteil hatte (Glück 1 9 7 9 , 2 0 8 f.). Auf der anderen Seite ging die 3. Teilung Polens zeitlich mit dem Entstehen der deutschen Nationalbewegung in der napoleonischen Z e i t zusammen, die — angeregt von der rigorosen nationalistischen Sprachenpolitik Frankreichs seit der Revolution — die radikalaufklärerische Idee der Verbreitung einer fortschrittlichen Kultursprache über vermeintlich kulturell,erlösungsbedürftige' Bevölkerungen in ö k o n o m i s c h und politisch zurückgebliebenen Einfluß- und Machtbereichen Schritt für Schritt in deutsch-romantischer, antiaufklärerischer Weise weiterentwickelte zu einem aus G e r m a n e n k u l t und Mittelalterbegeisterung gespeisten a n t i s l a w i s c h e n Ostexpansionismus. So wurde die liberale Phase der preußischen Polenpolitik ab 1 8 3 1 unter dem Posener Oberpräsidenten Flottwell beendet, als direkte Folge des bewaffneten Aufstandes in Kongreßpolen gegen R u ß l a n d , der vom Posener Adel finanziell und militärisch unterstützt worden war und nach seiner Niederschlagung auch dort die tolerante Sprachenpolitik des Wiener Kongresses beendete (Glück 1 9 7 9 , 2 1 2 f f . ) . So beginnt die Vorgeschichte harter antipolnischer Sprachenpolitik — mit noch sehr begrenzter Wirkung auf die Unterschichten — in den frühen 1830er Jahren mit der Reduzierung des Polnischen auf den mündlichen äußeren Amtsverkehr gegenüber der Bevölkerung und der fast völligen Verdrängung einsprachiger Polen aus Beamtenstellen. Die Germanisierung wirkte sich spätestens mit der Schulspracheninstruktion von 1842 auch auf das Schulwesen aus (Glück 1979, 219): Für polnischsprachige Kinder wurde der Deutschunterricht obligatorisch. In den oberen vier Gymnasialklassen mußte der Unterricht in allen Fächern außer Religion und Polnisch auf Deutsch erfolgen. So sollte der angestrebte kollektive Sprachenwechsel zum Deutschen gewissermaßen ,νοη oben her', von den mehr gebildeten Schichten, gefördert werden. Die nach den Aufständen von 1848/49 in die Frankfurter Reichsverfassung aufgenommenen, von Österreich eingebrachten Bestimmungen über ethnischen Minderheitenschutz blieben wirkungslos, sie fehlten in der preußischen Verfassung von 1850 (Gessinger 1991, 118). Schon 1849 wurden polnische Amtsdolmetscher abgeschafft und für zweisprachige Dokumente Sondergebühren zusätzlich zu den Übersetzungskosten eingeführt. Ab 1852 wurden öffentliche Bekanntmachungen, Verordnungen usw. in den Amtsblättern der Regierungspräsidien Posen und Bromberg nur noch in Deutsch veröffentlicht. Hauptverhandlungen in Strafsachen wurden nur noch auf Deutsch geführt; ab 1856 wurde der Polnischunterricht ab Quarta verboten, der Geographieund Geschichtsunterricht schon ab Sexta in Deutsch verordnet. Die Anforderungen an die Lehrer waren asymmetrisch: polnische mußten zweisprachig sein, deutsche nicht.
Q-T:
Polnisch
129
R. Nachdem in den reaktionären 1850er Jahren „die Sprachenfrage eindeutig und hochoffiziell als Frage der politischen Gesinnung aufgef a ß t " wurde (Glück 1979, 230), regte sich im folgenden Jahrzehnt starker Widerstand polnischer Intellektueller unter kirchlicher Führung. In Posen und Westpreußen fiel ja der Konfessionsgegensatz katholisch/ evangelisch mit dem politisch-ethnischen Gegensatz zwischen nationalpolnischer und reichsnationalistischer Gesinnung bevölkerungsmäßig zusammen, so daß — im Unterschied zu Ostpreußen und Schlesien — hier die katholische Geistlichkeit stärkste Stütze der polnischen Sprachminderheitenrechte wurde. Dies wurde vor allem seit der Reichsgründung 1871 wichtig, da diese den nichtdeutschen Sprachbevölkerungen ungefragt den Übergang von traditionellem territorialem Untertanengehorsam (polnische Preußen) zu nationalstaatlicher Reichszugehörigkeit ( p o l n i s c h e Deutsche) zumutete (Wehler 1995, 961 ff.; Glück 1979, 237). Die Unterdrückung der polnischen Reichsminderheit wurde ζ. T.
„Kampf gegen den Polonismus"
genannt.
Der immer stärker, ab 1 8 7 2 fast ausschließlich deutschsprachige Volksschulunterricht hatte für einsprachig polnische Schüler den Rückfall in einen faktischen Analphabetismus der polnischen Unterschicht zur Folge. Das preußische Schulaufsichtsgesetz und die Schulsprachenverordnungen von 1872 (Glück 1979, 2 6 0 ff.) hatten das mit pseudoaufklärerischem Sendungsbewußtsein begründete Ziel, die Erlernung des Deutschen im gesamten preußischen Osten zu erzwingen und die polenfreundliche klerikale Schulaufsicht abzuschaffen. N a c h kirchlichen Protesten aus der Provinz Posen seit 1 8 7 2 wurden zahlreiche Geistliche verhaftet, des Amtes enthoben, Klöster und Priesterseminare geschlossen. Im Geschäftssprachengesetz (1876) wurde das Deutsche zur einzigen Geschäftssprache aller Behörden erklärt, schriftlich und mündlich, auch mit dem Publikum. Gerichtsprozesse konnten bei Angeklagten, die des Deutschen nicht mächtig waren, in deren Abwesenheit weitergeführt werden. Eingaben in Polnisch konnten als rechtlich nichtexistent behandelt werden.
S. Die radikalnationalistische Wende der Bismarckschen ,Reichsfeinde'Politik (1878/79; s. 6 . I M ) wirkte sich in Posen und Westpreußen seit den 1880er Jahren als Übergang zu den brutalen Methoden des 20. Jahrhunderts aus: 1885 wurden in einer Nacht- und Nebel-Aktion rund 4 8 . 0 0 0 Polen mit „ungeklärter Staatsangehörigkeit" vertrieben, die meist schon seit Generationen in den preußischen Ostprovinzen gelebt hatten. Dieser früheste (nichtreligiöse) Fall von Massenvertreibung, der ζ. T. auch schon antisemitisch war, wurde damals von dem späteren Reichskanzler v. Bülow zynisch kommentiert, indem er die Hoffnung äußerte, ein Krieg werde die erwünschte Gelegenheit bieten, „um in unseren pol-
nischen Landesteilen
die Polen en masse zu exmittieren"
(Wehler 1995,
963). Diese selbst bei Konservativen umstrittene Aktion war Auftakt zur neuen „Ostmarkenpolitik", die sich im preußischen Ansiedlungsgesetz von 1886 als Kampf um die „Germanisierung des Bodens" (in Wirklich-
130
6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
keit als Sanierungsunternehmen für hochverschuldete Großagrarier) auswirkte: Eine königliche Ansiedlungskommission sollte mit einem hochdotierten Landtagsfonds polnischen Großgrundbesitz aufkaufen und an deutsche Neusiedler verteilen, allerdings mit wenig Erfolg (Wehler 1995, 963 f.; 1086). Gleichzeitig wurde die schulpolitische Zwangsgermanisierung weitergetrieben (Glück 1979, 269ff.): 1887 wurde auch der polnische Sprachunterricht in Volksschulen abgeschafft. Damit wurde die Muttersprache der preußischen Polen zum Dialekt degradiert. So kam es 1899 zum preußischen „ S c h u l k a m p f " (Glück 1979, 289ff.): Die Forderungen einer von 20.000 Personen besuchten achtstündigen „General-Volksversammlung" in Posen (Wiedereinführung aller polnischen Rechte in der Schule, Pflicht der Eltern, ihre Kinder zuhause im polnischen Lesen und Schreiben zu unterrichten) erlangten starke Publizität. Trotzdem verstärkten die deutschnationale Presse und der Ostmarkenverein (s. 6.IM) ihre Kampagne für Verdrängung des Polnischen auch aus seinem letzten Reservat, dem Religionsunterricht. In der Wreschener Affäre (1900) verweigerten polnische Schulkinder mit Unterstützung der Eltern, des niederen Klerus und der polnischsprachigen Bevölkerung den Gebrauch des Deutschen im Religionsunterricht, was harte Schulstrafen und den Polizeischutz der inzwischen völlig regierungshörigen Lehrerschaft nach sich zog. Dieser Fall erfolgreichen passiven Widerstandes der betroffenen Sprachbevölkerung wurde im In- und Ausland bekannt und zum Vorbild für weitere Schulstreiks in Posen und Westpreußen, besonders 1906/07, ζ. T. unter Einfluß der russischen Revolution von 1905/06. Mit Gefängnisstrafen für Eltern, Entziehung des Erziehungsrechts und Ostmarkenzulagen für Beamte für „Beweise schneidiger Germanisierung" war die preußische Sprachenpolitik schon weit weg geraten von alter preußischer Rechtsstaatlichkeit. Polnische Familien- und Vornamen wurden behördlich germanisiert. Bis 1912 wurden in der Provinz Posen die meisten Ortsnamen verdeutscht. Auch Straßenschilder, Firmennamen, Produktbezeichnungen, Grabinschriften durften nicht mehr polnisch sein (Glück 1979, 356 ff.). Der Erfolg der radikalen reichsnationalistischen Sprachenpolitik gegenüber den preußischen Polen war aber besonders in Posen und Westpreußen erstaunlich gering. Von einer Germanisierung bis zur totalen deutschen Einsprachigkeit kann vor dem Ersten Weltkrieg in den Gebieten stärkster sprachenpolitischer Aktivitäten keine Rede sein. Nach der offiziellen preußischen Nationalitätenstatistik hat im Gegenteil der Prozentsatz der nichtdeutschen Bevölkerung zwischen 1858 und 1910 zugenommen, am stärksten in Ostpreußen und Posen (Glück 1979, 429 ff.): Im südlichen Ostpreußen wurde jedoch ein Auseinandergehen sprachlicher und nationaler Identifizierung deutlich, indem sich hier zwischen 1890 und 1910 das Verhältnis zwischen dem Bekenntnis zum Polnischen und zum als Nicht-Polnisch empfundenen M a s u r i s c h e n umgekehrt hat. 1925 (mit neuem Gebietsstand ab 1919/20) ging Polnisch auf 5 , 5 % , Masurisch auf 11,3% herunter (Glück 1979, 434), nachdem sich die Bevölkerung Masurens in der Volksabstimmung 1920 zu 97,5% für den Verbleib beim Deutschen Reich entschieden hatte, mit Beteiligung von rund 130.000 angereisten stärker assimilierten Masuren aus dem Ruhrgebiet (Menge 1991, 132f.). — Zur Entwicklung nach 1919 s. 6.4.2N!
T. Ein Spiegelbild der antipolnischen Sprachenpolitik in den östlichen Provinzen war die Zwangsassimilation der R u h r p o l e n (Menge 1991; Kleßmann, in: Bade 1992, 303 ff.): Alle Arbeitsimmigranten, die seit
Q-T:
Polnisch
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1 8 7 1 , v e r s t ä r k t n a c h 1 8 9 0 d u r c h industrielle A n w e r b u n g a u s d e n p r e u ß i s c h e n O s t p r o v i n z e n ins R u h r g e b i e t k a m e n , o b sie nun P o l n i s c h , M a s u risch o d e r D e u t s c h s p r a c h e n , w u r d e n v o n d e n e i n h e i m i s c h e n W e s t f a l e n t r o t z i h r e r p r e u ß i s c h e n S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t p a u s c h a l als Polacken s c h i m p f t , v o n d e r Polizei als p o t e n t i e l l e Reicbsfeinde
be-
scharf kontrolliert,
v o n V e r w a l t u n g u n d K i r c h e g e r m a n i s i e r e n d r e g l e m e n t i e r t . D a b e i verhielten sich a b e r die l ä n g s t p r e u ß i s c h g e s o n n e n e n M a s u r e n , die m i t d e n eig e n t l i c h e n P o l e n n i c h t s zu t u n h a b e n w o l l t e n , so a s s i m i l a t i o n s b e r e i t , d a ß sie ihre s l a w i s c h e S p r a c h e a u f p r i v a t e s t e F u n k t i o n e n b e s c h r ä n k t e n u n d k a u m m e h r a n ihre K i n d e r w e i t e r g a b e n . O b w o h l d e r a n t i p o l n i s c h e Kult u r d r u c k e b e n s o s t a r k w a r w i e im O s t e n , hier n o c h v e r s c h ä r f t
durch
s t a a t s k o n f o r m e H a l t u n g der katholischen Kirche Westfalens, verhielten sich b e s o n d e r s die P o s e n e r P o l e n s e h r a k t i v s p r a c h l o y a l u n d n a t i o n a l p o l nisch, w a s b e s o n d e r s d u r c h ihre isolierte B e s c h ä f t i g u n g in b e s t i m m t e n B e t r i e b e n u n d A n s i e d l u n g in K o l o n i e n , v o r a l l e m im l ä n d l i c h e n E m s c h e r g e b i e t , g e f ö r d e r t w u r d e , allerdings a u c h i h r e n d e u t s c h e n
Spracherwerb
d e r a r t b e h i n d e r t e , d a ß d a m i t die V o r u r t e i l e d e r E i n h e i m i s c h e n v e r s t ä r k t wurden. Menge (1991, 127) rechnet im Jahr 1905 damit, daß von den rund 2,5 Millionen Bewohnern des Ruhrgebiets ca. 450.000 aus Posen und Ostpreußen stammten, größtenteils Polnisch/Masurisch sprechend, Kleßmann (in: Bade 1992, 305) mit 350 — 500.000 vor 1914. Es gab ein sehr aktives ruhrpolnisches Vereinsleben. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es auch polnische Zeitungen im Ruhrgebiet mit hohen Auflagen. Von der nächsten Generation beherrschten trotz der offiziellen Behinderungen noch etwa zwei Drittel das Polnische. Nach der Wiedererrichtung eines polnischen Nationalstaates 1917/18 gerieten die Ruhrpolen in einen Identitätskonflikt: Sie mußten sich zwischen deutscher und polnischer Staatsangehörigkeit entscheiden: Etwa ein Drittel von ihnen zog die Rückwanderung nach Polen vor, ein Drittel die Weiterwanderung in nordfranzösische Kohlenreviere. Die Verbliebenen assimilierten sich trotz der etwas toleranteren sprachenpolitischen Verhältnisse in der Weimarer Zeit relativ rasch. Wegen der subkulturellen Isoliertheit der Ruhrpolen ist polnischer Lehneinfluß im Ruhrdeutsch nur gering (Grimberg 1991). Die Ruhrpolen können nicht direkt als Vorläufer der heutigen Gastarbeiter angesehen werden, denn sie hatten ja formal die deutsche Staatsangehörigkeit, konnten also nicht abgeschoben werden. Wirkliche A r b e i t s i m m i g r a n t e n gab es im wilhelminischen Deutschland kaum, wohl aber Wanderarbeiter, auch Preußengänger, Sachsengänger, Hollandgänger genannt (Kleßmann, in: Bade 1992, 311 ff.): Diese Ausländer auf dem Arbeiterhandelsmarkt hatten kein Bleiberecht, sondern unterlagen dem Legitimations- und Rückkehrzwang, wurden in Barackenlagern gehalten, Männer und Frauen getrennt, polizeilich scharf kontrolliert, und öfters im Winter massenweise ausgewiesen. 1914 gab es in Deutschland 1,2 Millionen solcher Saisonarbeiter, vorwiegend in Preußen, größtenteils aus Osteuropa, weniger aus Italien und Böhmen/ Mähren in Süddeutschland. Nach dem Ende der deutschen Massenauswanderung nach Amerika (1893) wurde Deutschland zum T r a n s i t l a n d für ost- und südosteuropäische Massenauswanderung über deutsche Häfen (im Interesse deutscher Schifffahrtslinien), vor allem für Amerika-Auswanderer aus Russisch-Polen und Galizien,
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
darunter zahlreiche Juden. Deshalb wurden Ausländerkontrollen sehr scharf und systematisch gehandhabt, vor allem mit unerbittlicher Unterscheidung zwischen erlaubtem Saisonaufenthalt nach Regeln des industriellen Arbeitsmarktes einerseits und verbotener Einwanderung andererseits. So wurde das einstige Auswandererland Deutschland nicht zum Einwandererland, sondern zu einem Land mit weitverbreiteter Fremdenfeindlichkeit (Kleßmann a. a. O.). In beiden Weltkriegen wurden mit arbeitsverpflichteten Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen neokolonialistische Methoden angewandt.
U. Sprachenpolitische Verhältnisse, Maßnahmen und Unterlassungen gehörten im alten Ö s t e r r e i c h (ab 1869 Österreich-Ungarn) zu den Ursachen für die spätestens 1848 beginnende latente Staatskrise und schließlich den Untergang der Habsburgermonarchie. Die k.u.k. Monarchie/Doppelmonarchie, Donaumonarchie war in extremer Weise ein Vielvölkerstaat, das Gegenteil von einem Nationalstaat. Ihre Völker waren im Jahre 1910 über 12 Millionen Deutschsprachige, über 9 Mill. Ungarn, über 8 Mill. Tschechen und Slowaken, über 5 Mill. Polen (in Galizien), über 5 Mill. Serben und Kroaten, 1,5 Mill. Slowenen, 0,8 Mill. Italiener, ferner Rumänen, Ruthenen, Armenier, Griechen, Ladiner usw. Die altösterreichische Sprachenpolitik war illusorisch und kurzsichtig (Hutterer 1991): Durch das noch aufklärerisch gemeinte (noch nicht nationalistische) Sprachedikt Josephs II (1776) wurde im gesamten habsburgischen Herrschaftsgebiet das Deutsche {„die Universalsprache meines Reiches") statt des Lateins als Amtssprache verordnet (vgl. Bd. II: 5.3B). Was in der absolutistisch-monarchistischen Oberschicht noch kaum ein Problem war (Deutsch als Erst- oder Zweitsprache des Adels, der Offiziere und Beamten), wurde im Laufe des 19. Jh. durch die von Französischer Revolution und napoleonischen Kriegen ausgehende europäische Nationalismusbewegung und durch Herders besonders in Deutschland und Osteuropa wirkenden ,Sprachnations'-Begriff zum Hindernis für den nationalpolitischen und kulturellen Emanzipationsprozeß bei den nicht-deutschsprachigen Völkern der Monarchie. Die Regierung in Wien gab, mit starrem Festhalten an der Sprachenpolitik des Alten Reiches (aber nun ohne das sprachenpolitisch neutralisierende Latein!), dem Drängen nationaler Bewegungen nach einer konföderativen Lösung (etwa nach schweizerischem Muster) nicht nach und beschränkte sich auf gelegentliches Schlichten im Kampf aller gegen alle im seit 1848 meist nur noch als Völkerkerker empfundenen Habsburgerstaat. Die Forderung nach Erstellung eines nationalen Katasters aufgrund der Muttersprachen wurde nur gegenüber dem 1867 kronrechtlich privilegierten Ungarn erfüllt. Ansonsten wurden bei sprachenpolitischen Zählungen die muttersprachlichen Verhältnisse verschleiert und verfälscht durch die erfragte vage Bezeichnung „landesübliche Umgangssprache", mit der praktisch überall die verordnete Amtssprache Deutsch (allenfalls die geduldeten Amtssprachen Magyarisch oder Italienisch) zu verstehen
U: Österreich-Ungarn
133
war, zumal zwischen den verschiedenen slawischen Völkern, vor allem zwischen ihnen und den Ungarn, als Lingua franca nur Deutsch in Frage kam. Auch wurden die meisten Minderheitensprachen nicht als Sprachen „historischer Nationen" anerkannt, ζ. T. anderen Sprachen zugeordnet (Ladinisch und Friaulisch zum Ital., Jiddisch zum Dt.). In vielen Gegenden, besonders in Böhmen oder in Wien, wurden Arbeitnehmer gezwungen, sich zur Umgangssprache ihres Arbeitgebers zu bekennen, Mieter zu der ihres Hausherrn. Von einer Einhaltung der im Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes von 1867 zugesicherten Gleichberechtigung der Nationen bzw. Nationalitäten konnte keine Rede sein. Prodeutsche Sprachenpolitik wurde aber amtlicherseits nur für Verwaltung, Schule und Heer durchgesetzt, nicht für deutschsprachige Minderheiten in Böhmen, Mähren und Ungarn, die schon zwischen 1867 und 1918 teilweise in Bedrängnis gerieten (Hutterer 1991). Das Versagen der österreichischen Sprachenpolitik wurde noch verschärft durch die zunehmende Privilegierung U n g a r n s gegen die anderen Nationalitäten. Da Ungarn nach dem Ende der Türkenherrschaft (Ende des 17. Jh.) durch Bevölkerungspolitik so starken Zuzug von Deutschen, Slowaken, Ruthenen, Serben, Kroaten und Italienern erhielt, daß die magyarische Bevölkerung nur noch etwa die Hälfte betrug, entwickelte sich seit Ende des 18. Jh. in dem aristokratisch dominierten Land der Stephanskrone ein starker Sprachnationalismus im Zusammenhang mit einer magyarischen Literaturblüte und Sprachpflege, mit Magyarisch als Schulpflichtfach (1792), als Parlamentssprache neben Latein (1805), als Amtssprache analog zum verordneten Deutsch seit Joseph II. (Gogolák 1980; Steinacker/Walter 1959). Gegen den Widerstand von Kroaten und ungarischen Reformern wurde die Frage der Ausschließlichkeit dieser Staatssprache 1844 und im Bürgerkrieg 1848/49 noch verfestigt. Das ungarische Nationalitätengesetz von 1868 sicherte den nationalen Minderheiten zwar pro forma begrenzte Sprachrechte in Volksschule, Kirche und Presse zu, aber die Magyarisierungspolitik ging, z. T. verdeckt, weiter.
V. Diese Verdoppelung Österreich-ungarischer Ignorierung und Unterdrückung von Nationalsprachen provozierte den Widerstand der slawischen Staatsvölker in der panslawistischen Bewegung ( 1 8 4 8 internationaler Slawenkongreß in Prag, 1 8 6 7 panslawistischer Kongreß in Moskau), mit Wirkung besonders bei den Tschechen. In B ö h m e n und M ä h r e n hatte der sprachenpolitische Kampf zwischen Deutsch und Tschechisch eine alte Tradition mit mehreren Richtungswechseln: Die alte, unter dem Dach des Lateins erträgliche deutsch-tschechische Zweisprachigkeit, mit deutschsprachigen bäuerlichen Siedelgebieten und städtischen Oberschichten, war seit der Hussitenbewegung mit sprachenpolitischen Maßnahmen und hochentwickelter Sprachkultur zugunsten des erwachenden tschechischen Nationalbewußtseins verändert worden. Durch die Gegenreformation jedoch wurde das nun als ,ketzerisch' diskriminierte Tschechisch in den Untergrund verdrängt (s. Bd. I: 4.9S). Trotz starken Rückgangs der deutschsprachigen Zuwanderung seit dem Spätmittelalter betrug der deutschsprachige Bevölkerungsanteil (Deutschböhmen, erst nach 1900 gelegentlich Sudetendeutsche genannt) um 1900, vor allem in Randgebieten Böhmens und Mährens, noch immer fast ein Drittel (1918: 3.123.624, 2 3 , 3 6 % der Gesamtbevölkerung, davon 5 % in Sprachinseln der Slowakei) (Born/Dickgießer 1989, 219). Deutsche Standardsprache wurde mit Zentralisierungsmaßnahmen des absolutistischen Staates im 17. und 18. Jh. als Staatssprache durchgesetzt. Die Folge
6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
134
war ein asymmetrischer Zwangsbilinguismus sozial aufstiegsorientierter Tschechen bei bleibendem Monolinguismus der Deutschböhmen, auch der Beamten. Im 19. Jahrhundert wurde die tschechische Sprachkultur spätaufklärerisch-romantisch wiederbelebt („Wiedergeburt") und damit auch das tschechische Nationalbewußtsein. Eine sprachenpolitische Kompromißlösung war also dringend geworden. Doch alle Versuche der tschechischen Bewegung (jungtschechen) und reformerischer Kräfte auf deutsch-österreichischer Seite, Gleichberechtigung und echte Zweisprachigkeit zu erreichen, scheiterten am Widerstand der alte Reichsprivilegien verteidigenden Deutschböhmen. Die Wiener Zentralstaatsregierung reagierte auf Forderungen und Widerstand beider Seiten stets unsicher, inkonsequent, wenig kompromißbereit, mit zahlreichen halbherzigen, vage formulierten Sprachverordnungen, Verfassungsparagraphen, gerichtlichen Schlichtungen, mit Aufhebung früherer Beschlüsse aufgrund deutschnationalen Widerstandes, mit unterschiedlichen Lösungen für Gebiete mit deutschsprachiger Mehrheit bzw. Minderheit und für Sprachen mit verschiedenem Prestige. Deutsch blieb asymmetrisch dominante Herrschafts- und Verkehrssprache. Mit dieser angespannten sprachenpolitischen Situation hängen die besonderen sprachkulturellen Anstrengungen zusammen, die das , P r a g e r D e u t s c h ' seit dem 17. Jh., vor allem im 19. und frühen 20. Jh., als ein besonders ,reines' Deutsch erscheinen ließen und eine deutsche Literaturblüte hervorbrachten, die unter den Bedingungen des asymmetrischen Zwangsbilinguismus im Grunde beiden ethnischen Gruppen zuzuordnen, also auch als Teil der tschechischen Literatur aufzufassen ist (Skála 1966; Trost 1981). 1888 wurde die Prager Universität in eine tschechische und eine deutsche geteilt. Durch die Industrialisierung nahm das Tschechische bei städtischer Zuwanderung zu. — Zur Prager Motivation für Mauthners Sprachkritik s. 6.8G! Die chaotischen
und e m o t i o n a l
angeheizten
sprachenpolitischen
Ver-
h ä l t n i s s e in B ö h m e n h a t t e n im c i s l e i t h a n i s c h e n Teil d e r M o n a r c h i e a u f b e i d e n Seiten
radikalisierende
Gruppenaktivitäten
zur Folge
(Haider
1 9 9 8 , 1 3 5 ff.; H a m a n n 1 9 9 6 , 3 3 7 f f . ) : S o k a m es seit d e n 1 8 8 0 e r J a h r e n zu einer d e u t s c h n a t i o n a l e n B e w e g u n g u m G e o r g v. S c h ö n e r e r Programm"
1 8 8 2 ) , die sich g e g e n S l a w e n w i e g e g e n J u d e n
(„Linzer
rassistisch
verhielt. V o n i h r e n Z i e l e n u n d S c h l a g w ö r t e r n w u r d e H i t l e r in seiner J u g e n d z e i t g e p r ä g t . In d e r Badeni-Krise
v o n 1 8 9 7 l ö s t e n die S p r a c h v e r -
o r d n u n g e n des M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n G r a f B a d e n i , n a c h d e n e n in B ö h m e n u n d M ä h r e n d a s T s c h e c h i s c h e a u c h als i n n e r e A m t s s p r a c h e u n d v o r G e r i c h t bei P a r t e i e n b e d a r f d e m D e u t s c h e n gleichgestellt w e r d e n sollte u n d B e a m t e i n n e r h a l b 4 J a h r e n T s c h e c h i s c h lernen sollten (Sutter 1 9 6 0 ) , eine n e u e Welle d e u t s c h n a t i o n a l e n W i d e r s t a n d e s a u s , die die V e r o r d n u n g e n zu Fall b r a c h t e u n d bis zu H a n d g r e i f l i c h k e i t e n im R e i c h s r a t g i n g . So w u r d e n in p a n i s c h e r „ S l a v i s i e r u n g s " - A n g s t s p r a c h e n t o l e r a n t e L ö s u n g e n w e i t e r h i n v e r h i n d e r t , u n d irredentistiscbe deutschsprachiger
Teile
der
P r o p a g a n d a für d e n A n s c h l u ß
Habsburgermonarchie
an
das
Deutsche
R e i c h g e w a n n a n A n h ä n g e r n . — Z u r w e i t e r e n E n t w i c k l u n g s. 6 . 4 . 2 P ! W . E i n e b e g r e n z t g e d u l d e t e Z w e i s p r a c h i g k e i t b e s t a n d in B e z u g a u f d a s Slovenische Nach
in d e m seit 1 2 8 2 h a b s b u r g i s c h e n
der Begründung
einer slowenischen
Herzogtum
Kärnten.
Schriftsprachkultur
in
der
V—X: Tschechisch, Slovenisch, Südtirol
135
Bauernkriegs- und Reformationszeit brachte die Gegenreformation mit der Schließung der slovenischen Schulen einen starken R ü c k g a n g (s. Bd. I: 4 . 9 R ) . So war in dem relativ rückständigen, nach dem Niedergang der Eisenindustrie rein agrarischen Land die Analphabetenrate noch um 1 9 0 0 am höchsten in Österreich ( 2 0 , 6 % ) , und die deutschsprachige O b e r s c h i c h t tat alles, um die Entstehung einer slovenischsprachigen gebildeten Mittelschicht zu verhindern ( G . F i s c h e r 1 9 8 0 , 3 4 f f . ) : Sozialer Aufstieg w a r für die etwa 1,5 Millionen Slovenen identisch mit deutschsprachiger Assimilierung und Aufgeben oder Verstecken der slovenischen Muttersprache. Die jesuitisch-aufklärerische Förderung slovenischer Literatur und deren Blüte im 19. J h . , vor allem in Klagenfurt, konnten an dieser extremen Unterprivilegierung wenig ändern. Slovenischsprachige Bevölkerung w a r im 19. J h . noch weiter verbreitet: in mehr als einem Viertel Kärntens (Neweklowsky, in: K r e m e r / N i e b a u m 1 9 9 0 , 4 8 2 ) . Offenen S p r a c h e n k a m p f gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg (s. 6.4.2Q). X . In S ü d t i r o 1 begannen sprachenpolitische Schwierigkeiten erst M i t t e des 19. Jahrhunderts. Seit dem Frühmittelalter hatten der Brennerpass und seine Z u f a h r t e n eine bedeutende Brückenfunktion für die Italienorientierung des Alten Reiches; die Grafschaft T i r o l hatte von daher einen alten Sonderstatus im Reichsinteresse, mit reichstypischer Z w e i sprachigkeit. Beiderseits der seit dem 6. J h . bestehenden ethnischen Grenze bei Salurn an der unteren Etsch g a b es deutschsprachige Streusiedlung südwärts, romanische Restbevölkerung in Talschaften nordwärts bis ins Vintschgau und um Brixen (Pfister, in: B R S 8 8 0 ; Kühebacher 1 9 7 2 ) . S p r a c h e n k a m p f gab es erst seit 1 8 4 8 . Die Deutschsprachigen (mit südbairischer Mundart) dominierten im landwirtschaftlichen Bereich, vor allem in Hochtälern, an Berghängen und in der städtischen und territorialherrschaftlichen Oberschicht. Durch die Gegenreformation nahm im Süden das Italienische stärker zu, im Vintschgau das Deutsche, so daß am Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie deutsche Sprache im Trentino in der Minderheit war (vor allem mit den Sprachinseln Sieben und Dreizehn Gemeinden), in der Provinz Bozen das Italienische und das Ladinische (in Dolomitentälern um die Sella, s. 6.4.3U). Durch die beginnende Industrialisierung gab es Ende des 19. Jh. etwas italienische Zuwanderung im Etschtal um Bozen. Während im antinapoleonischen Kampf der Tiroler das Verhältnis zwischen Südtirolern mit deutscher, italienischer und ladinischer Muttersprache noch kein sprachenpolitisches Problem darstellte, wurde das dreisprachige Land seit dem Revolutionsjahr 1848 von deutscher ebenso wie italienischer Seite her durch gezielte, immer nationalistischer werdende sprachenpolitische Forderungen beunruhigt (Conrad 1993): Nachdem in der Frankfurter Paulskirchenversammlung, von Wien und vom klerikal-konservativen Tiroler Landtag alle Autonomie· und Sprachenrechtsforderungen der Minderheiten unnachgiebig zurückgewiesen wurden, radikalisierte sich die italienische Nationalstaatsbewegung (Risorgimento) antiliberal im Sinne der Irredenta, d. h. der ,Erlösung' italienischer Minderhei-
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
ten von Fremdherrschaft, vor allem gegen Österreich. Dabei wurden mit der Ideologie vom Brenner als natürlicher, historisch angemessener Grenze Italiens die Forderungen auch auf die überwiegend deutschsprachige Provinz Bozen ausgedehnt, so zuerst von Guiseppe Mazzini seit 1866 und in irredentistischen Vereinen. In Reaktionen darauf wurde in Deutschtumsvereinen die alte multikulturelle Identität Südtirols aufgegeben und einseitig sprachnationalistische Propaganda verbreitet, mit systematischer Diskriminierung der Waischen und mit Verfälschung von Landkarten durch Orts- und Bergumbenennungen (analog zu italienischen Namensänderungen bis zur Hochalpen-Wasserscheide hinauf). In die südtiroler Deutschtumsbewegung mischten sich auch reichsdeutsche Touristen und Vereine mit alldeutschen Zielen ein, ζ. Τ. ,großdeutsch' überhöht mit Forderungen nach „Rückverdeutschung" des Trentino oder gar nach Ausdehnung des „deutschen Volksbodens" bis zur Adria. Sehr einflußreich in diesem organisierten Sprachnationalismus wurde seit 1908 der reichsdeutsche „Verein für das Deutschtum im Ausland" (VDA), der später als Wegbereiter für die großdeutsche Propaganda der Nationalsozialisten wirkte, besonders im Schulbereich (Weidenfeiler 1976; Possekel 1986). Auch von selten der Wiener Zentralregierung wurden seit 1866 planmäßige sprachenpolitische „ M a ß n a h m e n gegen das italienische Element in einigen Kronländern"' angeordnet. In einer katholisch-konservativen Schulreform von 1869 wurden alle Schulen entprivatisiert, die Schulzeit von 6 auf 8 Jahre verlängert, so daß die Gemeinden finanziell überfordert und zunehmend auf Spenden der Deutschtumsvereine angewiesen waren, vor allem in Form von Schulbüchern, die zwar treukaiserlichkonservativ, aber gezielt germanisierend und italienfeindlich orientiert waren. So wurde mit sprachnationaler Ideologisierung von beiden Seiten innerhalb weniger Jahrzehnte ein jahrhundertelang multikulturelles Transitland so stark monolinguistisch radikalisiert, daß nach der Niederlage gegen Italien und dem Zusammenbruch der Monarchie durch internationales Friedensdiktat ohne Befragung der Sprachbevölkerung neue nationalstaatliche Grenzen gezogen wurden. Y. Ü b e r d a s geschlossene d e u t s c h e S p r a c h g e b i e t hinaus lebten und leben D e u t s c h s p r a c h i g e inmitten f r e m d s p r a c h i g e r B e v ö l k e r u n g . Bei diesen S p r a c h i n s e l n u n d Streusiedlungen im O s t e n und Südosten h a n d e l t es sich meist u m seit G e n e r a t i o n e n o d e r J a h r h u n d e r t e n d o r t ansässige D e u t s c h s p r a c h i g e , z. T. mit alten Privilegien und W o h n r e c h t e n zu territ o r i a l h e r r s c h a f t l i c h e n Z w e c k e n in S t a d t , L a n d o d e r B e r g b a u , teils seit d e m mittelalterlichen L a n d e s a u s b a u (s. B d . I: 4 . 9 N ) , teils aus der Z e i t der merkantilistischen Bevölkerungspolitik im 1 8 . J h . , teils d u r c h s t a a t lich g e f ö r d e r t e N e u b e s i e d e l u n g der v o n der T ü r k e n h e r r s c h a f t wiedere r o b e r t e n Gebiete im h a b s b u r g i s c h e n M a c h t b e r e i c h . Alle diese alten Außensiedlungen hier im einzelnen zu b e h a n d e l n , w ü r d e den R a h m e n dieses Kapitels sprengen. D i e sehr differenzierten E n t w i c k l u n g e n und Verhältnisse des A u s l a n d s d e u t s c h t u m s in aller Welt sind z u s a m m e n fassend dargestellt in: B o r n / D i c k g i e ß e r 1 9 8 9 ; W i e s i n g e r / K l o s s , in: B e s c h u. a. 1 9 8 2 , 9 0 0 ff.; L i p o i d u n d E i c h h o f f , in: B R S 1 9 7 7 ff., 1 9 9 0 ff.; W i e singer und Kloss, in: L G L 4 9 1 ff., 5 3 7 ff.; P r o t z e , in: A g r i c o l a u. a. 1 9 6 9 / 7 0 , 2 9 1 ff.; Thierfelder, in: D P h A I, 1 3 9 7 ff.; Bibliographie v o n B o r n / Jakob 1990.
Y: Deutsche Sprachminderheiten
137
Ein großer Teil der seit dem 12. Jahrhundert ost- und südostwärts ausgewanderten Deutschsprachigen hat sich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit völlig assimiliert. Dies war ein ebenso normaler, noch keineswegs sprachenpolitisch oder nationalideologisch bedingter sozialgeschichtlicher Vorgang wie etwa die allmähliche Eindeutschung westslawischer Bevölkerungen östlich von Elbe und Saale seit dem Spätmittelalter, von denen die Sorben (s. 6.4.1 OP) der letzte Rest sind. Auf der anderen Seite gibt es erstaunliche Beispiele der Spracherhaltung, ζ. B. beim Deutsch der S i e b e n b ü r g e r S a c h s e n , die ab 1141 von dem ungarischen König Geysa II. im Karpatenbogen um Hermannstadt, Bistritz und Kronstadt angesiedelt wurden und trotz Türkenherrschaft durch straffe Eigenorganisation und territoriale Privilegien als große, geschlossene Sprachinsel der Assimilation an ihre ungarisch-rumänische Umgebung fast bis heute widerstanden haben. Ihre mittelfränkische Sprache haben sie bis in die Mitte des 19. Jh. als gehobene Umgangssprache und Schriftsprache (Saksesch, gemeine Landsprache) gegen die seit der Reformation und vor allem Josephs II. Sprachedikt (1776) starke Konkurrenz des Neuhochdeutschen bewahren können, vor allem durch beharrliches Festhalten am universalen Latein für den auswärtigen Verkehr. Erst durch den starken Magyarisierungsdruck seit 1842, besonders seit 1867, sahen sie sich zur Präferenz des Hochdeutschen als Schriftsprache gezwungen, teilweise mit Anlehnung an das Reichsdeutsche gegen den Wiener Einfluß (Mummert 1995). 1918 gab es 234.000 Siebenbürger Sachsen, daneben etwa 3 2 3 - 3 3 3 . 0 0 0 Donau-Schwaben in Ungarn und Rumänien; die letzteren gehen auf österreichischungarische Ansiedlungen des 17. —19. Jh. zurück (Born/Dickgießer 1989, 173 f.). — Von den rund 2 Millionen U n g a r n d e u t s c h e n sind etwa 500.000 zwischen 1880 und 1910 durch Magyarisierungspolitik assimiliert worden, was seit dem Ende des 19. Jh. eine Minderheitsbewegung zur Folge hatte, die unter reichsdeutsch-a/WeMischem Einfluß radikal wurde (Schödl, in: Bade 1992, 80ff.). Zur Unterstützung des Auslandsdeutschtums wurde 1881 — nach Vorbild des Wiener „Deutschen Schulvereins zur Erhaltung des Deutschtums im Ausland" — in Berlin der „Allgemeine Deutsche Schulverein" gegründet, der sich u. a. zur Aufgabe machte, Deutschsprachige in Österreich-Ungarn gegen den Magyarisierungsdruck zu unterstützen, seit 1908 unter dem Namen „Verein für das Deutschtum im Ausland" (VDA), noch nicht so radikalnationalistisch wie der Alldeutsche Verband, dessen sprachimperialistische, ζ. T. rassistische Ziele erst in der NS-Zeit auch vom VDA verfolgt wurden (Wehler 1995, 951, 1073; Possekel 1986; Weidenfeiler 1976). Die r u ß l a n d d e u t s c h e Außensiedlung, seit dem bevölkerungspolitischen Aufruf der Zarin Katharina II. (1763), hatte in immer neuen Auswanderungswellen aus fast allen deutschsprachigen Landschaften vom Küstengebiet bis in die Schweiz, mit starker Bevölkerungsvermehrung und Tochtersiedlungen, zahlreiche deutsche Sprachinseln und Streusiedlungen in vielen Teilen des Zarenreiches, von Bessarabien und St. Petersburg bis hinter den Ural und den Kaukasus zur Folge, vielfach mit dialektalem Deutsch ohne Hochsprachüberdachung. 1897 gab es in Rußland 1,8 Millionen Deutschsprachige (vor dem 1. Weltkrieg etwa 1,5 Mill.), allein 2 3 % davon in einem geschlossenen, sehr eigenständigen Gebiet an der Wolga um Saratov (Dahlmann-Tuchtenhagen 1994), 2 1 % in Gebieten am Schwarzen Meer (Domaschnew, in: Born/Stickel 1993, 251 ff.). Auch von Ostpreußen über das Baltikum (mit deutschsprachiger Oberschicht) bis um St. Petersburg gab es ein wirtschaftlich fortschrittliches „ziemlich festes national-sprachliches Kontinuum" (Domaschnew), das auch mit dem traditionellen Ostseehandel und mit bedeutenden politischen, militärischen und administrativen Funktionen Deutscher in der Zarenherrschaft zusammenhing. Seit Ende des 19. Jh. wirkte Russifizierungspolitik in Schule und Öffentlichkeit (vgl. Jedig 1990).
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
Eine wesentlich andere Art von Auswanderung war der millionenfache Strom Deutschsprachiger nach N o r d a m e r i k a vom 18. bis 20. Jahrhundert. Territorialherrschaftliche Bevölkerungspolitik spielte dabei kaum mehr eine Rolle. Mit den Rußlanddeutschen lassen sich am ehesten noch die in ethnischen Siedlungskonzentrationen lebenden konservativen religiösen Gruppen vergleichen. Aber insgesamt ist das Amerikadeutschtum mehr eine Erscheinung der Industriegesellschaft, besonders aus ihren krisenhaften Anfangsjahren, zu 9 7 % mit den Ruhrpolen (s. 6.4.IT) oder dem zu vergleichen, was heute in Deutschland „Gastarbeiter" und „Wirtschaftsflüchtlinge" genannt wird, also Arbeitsimmigranten, zu drei Vierteln städtisch, zu 2 0 % mittelständisch, nur zu höchstens 3 % politisch/religiös „Asylsuchende" (Heibich 1994, 54 ff.). Allerdings kamen die Deutschamerikaner meist in relativ gute sozialökonomische Verhältnisse, als weitgehend Alphabetisierte, fachlich Ausgebildete in einem sich früh modernisierenden, politisch freiheitlichen Land, so daß „keine Umorientierung der Wertvorstellungen" erforderlich war (Heibich, a. a. O.). Nachdem im 18. Jh. schon einige hunderttausend Deutschsprachige nach Nordamerika ausgewandert waren, wuchs der Strom der Massenauswanderung in die USA im 19. Jh. auf etwa 5,5 Millionen; für Kanada ist mit einer weiteren halben Million zu rechnen. Die Amerika-Auswanderung war besonders stark in den Unruhejahren 1830 und 1848 — 54 und in der Zeit der Hochindustrialisierung Deutschlands bis zum plötzlichen Ende der deutschen Massenauswanderung in den frühen 1890er Jahren, als Deutschland zum hochindustrialisierten Land wurde. Seit den 1870er Jahren sind auch über 120.000 Deutschsprachige aus Ungarn, den Zipsen, Siebenbürgen und Rußland nach den USA und Kanada ausgewandert, besonders religiöse Gruppen. In Pennsylvanien war im frühen 19. Jh. Deutsch mit Englisch gleichberechtigt in einem zusammenhängenden Gebiet größer als die Schweiz mit etwa 200.000 Deutschsprachigen. Bei Erhebungen gaben schon 1790 fast 277.000 Amerikaner (8,7%) deutsche Abstammung an, 1910 über 8.646.000 (ca. 1 0 % ) (Born/Dickgießer 1989, 117ff., 245 ff.; Eichhoff, in: BRS 1990ff.). Die Spracherhaltung der ausgewanderten Deutschsprachigen in Nordamerika war sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gingen die Zahlen derer, die bei Volkszählungen deutsche Herkunft angaben und derer, die das Deutsche wirklich noch beherrschten und benutzten, im 19. und 20. Jh. immer weiter auseinander, was auf starke Assimilation, d. h. Sprachwechsel zur Staatssprache Englisch schließen läßt. Assimilationsdruck durch Schulzwang zum Englischen wirkte seit dem letzten Drittel des 19. Jh. Der Höhepunkt deutschsprachiger Publikationstätigkeit lag noch vor der Jahrhundertwende, ζ. B. mit über 800 deutschsprachigen Zeitungen in den USA, über 30 in Kanada. Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache gab es meist bis zum Ersten Weltkrieg. Das rege nordamerikanische Vereinsleben Deutschstämmiger pflegte deutsche Geselligkeit und Folklore oft über das Ende wirklicher Beherrschung des Deutschen hinaus, besonders in Städten und Stadtregionen. Auffällig lange und eigenständig wurde deutsche Sprache, oft nur Dialekt oder mündliche Umgangssprache, in den geschlossen siedelnden religiösen Gemeinschaften in den USA und in Kanada weitergepflegt (Rein 1977; Thiessen 1963). Dabei spielt eine vom Staat Pennsylvania her durch Amish people in mehreren Staaten des mittleren Westens und bis nach Kanada ausgebreitete Kolonialvarietät des Deutschen eine besondere Rolle: Pennsilfaansch / Pennsilvanisch Deitsch / Pennsylvania German (Enninger u. a. 1982; 1989; Helfrich 1993; Ness 1989; Meister-Ferré 1994; Moellecken 1983; Reed/Seifert 1954; Seel 1988; Wood, in: DPhA 1931 ff.), eine mündliche Ausgleichssprache auf rheinpfälzischer Basis mit Spuren auch aus Elsässisch und Schweizerdeutsch, mit vielen Entlehnungen aus dem amerikanischen Englisch. Standarddeutsch (meist als archaisches
Y: Deutsche Sprachminderheiten
139
Bibeldeutsch) mußte seit Mitte des 19. Jh. dem Englischen als Überdachungssprache weichen. Ende des 19. Jh. ist mit etwa 6 0 0 . 0 0 0 Pennsilfaansch-Sprechern in Pennsylvanien, insgesamt mit weit über 7 5 0 . 0 0 0 zu rechnen (Eichhoff, a. a. O.); schriftlich wurde P. in literarischen Texten weitergepflegt.
Wesentlich geringer und später war deutsche Einwanderung in L a t e i n a m e r i k a , in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg besonders in Brasilien, Chile, Uruguay, Venezuela (s. Born/Dickgießer 1989). Die Assimilation in romanischsprachiger Umgebung war schwieriger als in anglophoner. — In S ü d a f r i k a war schon Ende des 18. J h . über die Hälfte der Siedler deutschsprachig, von den Niederländern nicht als Fremde empfunden, also relativ bald assimiliert oder zweisprachig (Bodenstein 1993). Nur gering war die Zahl der deutschen Auswanderer in deutsche Kolonien in Afrika (1913: 2 3 . 0 0 0 , davon die Hälfte in Südwestafrika), da die expansiv imperialistische Phase der deutschen Kolonialpolitik erst in den 1890er Jahren begann (Κ. E. Born 1994, 123 ff.). Zur Entstehung eines ,Pidgin-Deutsch' mit Eingeborenen s. 6.121! — In A u s t r a l i e n war deutsche Einwanderung im 19. J h . quantitativ geringer, aber in Motiven und sozialen Verhältnissen ähnlich wie in Nordamerika (bis 1914 etwa 60.000). Durch lutherische zweisprachige Schulpolitik in den ländlichen Sprachinseln blieb Deutsch neben Englisch bis zum Ersten Weltkrieg trotz starker freiwilliger Assimilation besser erhalten als südeuropäische Einwanderersprachen und diente ζ. T. als Lingua franca zwischen nichtanglophonen europäischen Immigranten (Clyne, in: Berend/Mattheier 1994, 105 ff.; Born/Dickgießer 1989, 27 ff.). Nach dem ganz überwiegend englisch-mittelständisch kolonisierten Neuseeland wanderten in der 2. Hälfte des 19. J h . nur etwa 5 . 0 0 0 Deutsche ein, die sich rasch assimilierten (Voigt, in: Bade 1992, 220). Z . In diesem Kapitel über Deutsch und seine Minderheitensprachen darf das J i d d i s c h e nicht fehlen, obwohl es im 19./20. Jahrhundert nicht Objekt irgendeiner offiziellen deutschen Sprachenpolitik war (Juden waren in Europa traditionell längst zwei- oder dreisprachig). Die neben dem Hebräischen von den aschkenasischen Juden in Mitteleuropa gesprochene und geschriebene Alltagssprache wurde im 18. und frühen 19. J h . jidisch, jidischer sprach, seltener (und spezieller) teitscb genannt, in deutschen Texten Jüdisch, jüdische Sprache, Judensprache, seltener Judendeutsch, Jüdischdeutsch, Hebräischdeutsch (Hinweis v. Erika Timm), im amerikanischen Englisch seit um 1900 Yiddish, von daher später auch im Dt. Jiddisch. Sie kann in der Neuzeit nicht als Varietät des Deutschen betrachtet, also nicht unter sozialen Varietäten in Kap. 6.12 behandelt werden. Sie gehört vielmehr hierhin aus folgenden Gründen (vgl. B. Simon 1991; Kiefer 1991): — Unter Sprachenpolitik sind nicht nur offizielle sprachenrechtliche und -politische Maßnahmen zu verstehen, sondern auch das sprachenpolitische Kollektivverhalten
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6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
von Sprachbevölkerungen. In diesem Fall eines Spät- und Endstadiums jahrhundertelanger Diskriminierung und Unterdrückung einer sozialökonomisch ausgegrenzten Minderheit war die Herbeiführung eines ,Sprachtodes' besonders drastisch gekennzeichnet vom Zusammenwirken von ,Selbsthaß' der betroffenen Minderheit selbst (Gilman 1993), antisemitischem Sprachspott und literarischem sprachkritischem Verhalten, wobei die Sprachunterdrückung sogar nach dem fast vollendeten Untergang der Minderheitensprache als Kampf gegen ein rassistisches Phantom fortgesetzt wurde. Bereits im 17. Jh. ist das westliche Jüdischdeutsch durch Rückwanderer nach den Kosakenaufständen vom osteuropäischen beeinflußt worden, hatte also durchaus schon mit dem zu tun, was später Jiddisch genannt wurde (Landmann 1962/65, 52); die dialektalen Unterschiede zwischen West- und Ostjiddisch waren im 17./ 18. Jh. ohnehin relativ gering (Hinweis v. Erika Timm). Seit der industriezeitlichen Zuwanderung von Juden aus osteuropäischen Ländern wurde von deutschen Antisemiten das resthafte Benutzen oder ironische Zitieren von Elementen des west jiddischen Substrats beim Deutschsprechen assimilierter jüdischer Deutscher mit der nur sehr oberflächlichen schibbolethhaften Wahrnehmung des osteuropäischen Jiddisch pauschal identifiziert und unterstellend auf den Sprachgebrauch jüdischer Deutscher übertragen. Die sprachgeschichtliche Entwicklung des älteren Jüdischdeutsch in frühneuhochdeutscher Zeit ist einen eigenen Weg gegangen: durch hebräische Schrift, hebräisch-religiöse Standardsprachüberdachung, andersartige räumliche Sprach- und Sprecherbewegungen und soziale Isolierung (Gettobildung, Verfolgung), ohne Teilnahme an der bildungsbürgerlich-schreibsprachlichen Sprachkultivierung des Deutschen zum Neuhochdeutschen hin trotz vieler gegenseitiger Einflüsse (vgl. Bd. I: 4.9LM). Jüdisch(deutsch)/Jiddisch ist daher eine eigene Sprache (Nahsprache) neben dem Deutschen, mit rund einem Drittel nichtdeutscher sprachlicher, vor allem lexikalischer Merkmale. Die antisemitische Diskriminierung von Elementen des Jüdischdeutschen/Jiddischen stand zeitlich und argumentativ in einem gewissen Zusammenhang mit der reichsnationalistisch-sprachchauvinistischen Unterdrückung des Polnischen und Elsässerfranzösischen um 1900, wozu auch die antitschechischen und antislawischen deutschnationalistischen Strömungen in Österreich-Ungarn zu rechnen sind.
Das ältere westliche Judendeutsch hat in der frühen Aufklärungszeit (1. Hälfte des 18. Jh.) in einigen frühsprachwissenschaftlichen Dokumentationen noch ganz ernsthaftes Interesse bei einigen deutschsprachigen Gelehrten gefunden, und die ersten Vorkommen jüdischdeutscher Elemente in deutscher belletristischer Literatur bis zum frühen 19. Jh. waren noch nicht antijüdisch motiviert (Althaus 1993, 15 ff.). Abschätzige Beurteilung jüdischdeutscher Entlehnungen in deutscher Umgangs- und Vulgärsprache beruht zum großen Teil darauf, daß Wörter aus dem Bereich sozial diskriminierter Praktiken (ζ. B. mies, Mischpoche, Pleite, schachern, schmusen, mauscheln) großenteils als tatsächlicher Jargon über das Rotwelsch der Gauner und Landstreicher verbreitet worden sind, ζ. T. mit bewußter semantischer Entstellung für den geheimsprachlichen Gebrauch unter vagabundierenden Ausgestoßenen und Gesetzlosen (vgl. Landmann 1962, 414 ff.; Roll 1986).
Der Untergang des älteren westlichen Jüdischdeutsch/Westjiddisch im Laufe des 19. Jh. hängt sprachenpolitisch mit der puristisch-strengen nationalsprachlichen Standardisierung des Deutschen in der Aufklärungszeit und deren Wirksamkeit in der im 19. Jh. allmählich für alle obli-
Ζ: Jüdischdeutsch, Jiddisch
141
g a t o r i s c h g e w o r d e n e n V o l k s s c h u l e z u s a m m e n . „ M i t d e r A u f l ö s u n g des W e s t j i d d i s c h e n fällt d e r V e r n a t i o n a l i s i e r u n g des D e u t s c h e n eine S p r a c h e z u m O p f e r , die eine l a n g j ä h r i g e eigene S c h r i f t t r a d i t i o n b e s i t z t " ;
nach
d e n T h e s e n v o n U l r i k e K i e f e r ( 1 9 9 1 , 1 7 3 ) sind für d e n U n t e r g a n g des Westjiddischen folgende Faktoren anzusetzen: Das Jiddische war „als sprachliche Entität weder wahr- noch ernstgenommen": Staatliche Maßnahmen richteten sich auf den als niedrig geltenden sozialen Status der jüdischen Deutschen allgemein, mit dem — sowohl vom emanzipatorischen als auch antijüdischen Standpunkt — ihre eigenständige Sprache untrennbar, aber nur als zu verspottender, zu vermeidender, zu bekämpfender Jargon, verbunden war. „Entgegen der Selbsteinschätzung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa haben sich die westeuropäischen Juden zu Beginn der politischen Emanzipation der sie umgebenden Kultur gegenüber als unterlegen empfunden": Das damals stark bildungssprachlich standardisierte Deutsch erschien als das wirksamste Mittel der Emanzipation und gesellschaftlichen Integration, gegen das damals sprachwissenschaftlich als sehr variabel, verderbt und gemischt abgewertete Jüdischdeutsch, dessen weiträumige Verstreutheit damals keine Standardisierung zuließ. „Umwälzende demographische Entwicklungen im 19. Jh. begünstigen die sprachliche Assimilation ans Deutsche": Auflösung des Gettozwangs, explosive Bevölkerungszunahme, Urbanisierung und Verbürgerlichung im Industriezeitalter erhöhten die Mobilität auch der jüdischen Bevölkerung. Die Gesamtzahl der Juden betrug global Anfang des 19. Jh. ca. 2,25 Millionen (davon nur unter 300.000 in Deutschland), Ende des 19. Jh. ca. 7,5 Millionen (500.000 im Deutschen Reich 1871). Der Aufstieg jüdischer Deutscher ins Bildungs- und Besitzbürgertum war anteilsmäßig weitaus höher (etwa 2/3) als in der deutschen Gesamtbevölkerung. Die bewußte Selbstverdrängung des Jüdischdeutsch in Deutschland begann mit der Wirkung der Berliner Aufklärungsbewegung für Judenemanzipation (B. Simon 1991, 179; Katz, in: Besch u. a. 1983, 1025 ff.): Moses Mendelssohn hatte in seinem „Lesebuch für jüdische Kinder" (1779, zusammen mit David Friedländer) für seine Jüdische Freyschule in Berlin mit einer Bibelübersetzung „in reines Deutsch" in hebräischer Schrift den Weg zur modernisierenden Befreiung der Juden durch Erlernen des reinsten Bildungsdeutsch gewiesen. Dieser Sprachwechsel, der dem Sich-Abgewöhnen des Niederdeutschen in Norddeutschland seit Mitte des 16. Jh. (s. Bd. I: 4.9C — J) vergleichbar ist, hat einige Generationen gedauert. Noch um 1900 hat der Sprachkritiker Fritz Mauthner (s. 6.8GH) den emanzipatorisch-assimilatorischen totalen Sprachwechsel vom Judendeutsch zum korrekten Bildungsdeutsch zu rechtfertigen versucht; er stellte nach der strengen Bildungsdeutsch-Ideologie seines Vaters das Mauscheldeutsch jüdischer Handelsleute und einiger seiner Verwandten noch weit unter das verachtete Kuchelböhmisch (Althaus 1993, 87). — Reste des westlichen Jüdischdeutsch haben sich bis um 1900 (nur selten länger) im Rhein-Main-Gebiet und Südwestdeutschland in geschlossenen jüdischen Landgemeinden erhalten, vereinzelt auch in Randgebieten: Österreich, Schweiz, Lombardei, Elsaß, Belgien, Niederlande. A u c h w e n n j ü d i s c h e D e u t s c h e u n t e r sich im L a u f e des 1 9 . J h . n o c h teilweise J ü d i s c h d e u t s c h r e d e t e n , m i n d e s t e n s die Ä r m e r e n (ζ. T. a u c h spezielle S o z i o - u n d F u n k t i o l e k t e w i e K a u f m a n n s - , V i e h h ä n d l e r s - o d e r F u h r manns-Judendeutsch),
haben
sie a u s a l t e r
Selbstschutztradition
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P a r t n e r n d e r n i c h t j ü d i s c h e n U m w e l t a n d e r s " g e s p r o c h e n (B. S i m o n 1 9 9 1 ,
142
6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
182), so daß Jüdischdeutsch in den Ohren nichtjüdischer Deutscher weithin nur noch aus bestimmten Merkmalen des jüdischen Substrats in ihrem Deutschreden bestand, also nicht als eigene Sprache, sondern nur als Jargon empfunden wurde, in noch reduzierterem Stadium (Vorkommen nur noch vereinzelter Wörter oder sonstiger Merkmale) als Jüdeln oder Mauscheln. Alle drei Ausdrücke wurden sowohl von assimilationsfreudigen jüdischen Deutschen selbstironisch distanzierend als auch von Nichtjuden spöttisch, antijüdisch, schließlich antisemitisch benutzt. Die besonders häufigen stereotyp verwendeten Merkmale des Jüdelns oder Mauschelns waren im 19./20. Jh. in deutscher Literatur nur sehr wenige (Althaus 1993, 18 ff.): Neben lautlichen Einzelheiten wie ale für ein, en für einen, as für als, Umlautentrundung (e für ö, i für ü), gern mit der Schreibung ai für ei (daitsch, unsere Lait) wurden bald, d. h. zur Zeit der völligen Assimilierung, fast nur noch syntaktische Ausklammerungen und Umstellungen zur Typisierung jüdischer Personen benutzt, z. B. in Gustav Freytags „Soll und Haben": „leb wollte mich melden bei meinem Herrn Hirsch Ehrenthal zum Dienst noch heute Abend, wenn er mir hat zu geben einen Auftrag für morgen früh". Mit Jüdischdeutsch hatte dies nicht mehr viel zu tun; es war weithin eine an osteuropäisches Deutschsprechen aus slawischem Substrat angelehnte Zuweisung bildungssprachlich mißliebig gewordener umgangssprachlicher Wortstellungsvarianten zu vermeintlich jüdelnden Figuren, ohne zu beachten, daß solche locker aneinanderreihenden klammerlosen Satzgliedfolgen aus dem älteren Deutsch bis heute in spontaner Umgangssprache und in Dialekten wahlweise zur Verfügung stehen. Man gewöhnte sich daran, den altdeutsch-archaischen Satzbau des Jüdischdeutsch für antijüdische Typisierung umzuinterpretieren.
Abgesehen von der wachsenden Zahl aus Osteuropa zuwandernder nichtassimilierter Juden seit dem späten 19. Jh., gehen Kenner davon aus, daß „seit der Mitte des 19. Jh. die Menge der akzentfrei sprechenden Juden deutlich zugenommen hat. Ab 1870 waren sie die deutliche Mehrheit"; und um 1900 muß man „mit einer vollkommenen Sprachassimilation für die in Deutschland geborenen Juden rechnen" (Bering 1991 b, 335). Von daher ist die Fortsetzung der antisemitischen Sprachpolemik bis in die NS-Zeit auch gegenüber längst völlig assimilierten Deutschen jüdischer Herkunft (die großenteils keinerlei Kenntnisse des Jüdischdeutsch mehr hatten) als böswillige, die Wirklichkeit pseudolinguistisch verfälschende Menschenverfolgung einzustufen, ganz im Einklang mit der damit verbundenen ideologischen Unterstellung ethnischer oder rassischer Merkmale. Nicht erst seit der NS-Zeit ist es immer wieder vorgekommen, daß erst nach Bekanntwerden jüdischer Herkunft vielen jüdischen Deutschen plötzlich jüdelnde Merkmale ,in den Mund gelegt' wurden, die man vorher nie wahrgenommen hatte. Dabei hat Richard Wagners Ideologem von der Unfähigkeit von Juden zur völlig reinen Sprach- und Kulturassimilation eine Rolle gespielt (Das Judentum in der Musik, 1850). Assimilationsbereitschaft und -erfolg wurden von den Antisemiten als ,Tarnung' und »Täuschung' uminterpretiert: „Es wurde ein sprachlich fixiertes Vorurteilssystem eingeübt und festgeschrieben,
Ζ: Jüdischdeutsch, Jiddisch
143
das die Juden nicht mehr als das erscheinen ließ, was sie wirklich waren, sondern in das zwängten, was sie nach Meinung der Antisemiten waren oder: eigentlich sein sollten" (Bering 1991 b, 3 4 2 ) . — Z u Art und politischer Funktion antisemitischen Sprachgebrauchs und stigmatisierenden Namengebrauchs s. 6 . 1 6 L M ! Ein — auch zeitlich — paralleles sprachliches Vorurteilssystem war in der wilhelminischen Zeit die Sprachform der zahlreichen Antek- und Frantek-Witze, die in Preußen, besonders in der Armee, hämisch über noch nicht ganz eingedeutschte polnische Schlesier (abschätzig: Wasserpolacken) erzählt wurden, inhaltlich der späteren Serie von Ostfriesenwitzen vergleichbar, aber auch sprachlich diskriminierend mit wenigen Merkmalen, ζ. B. mit falschen sich-Wstben, Artikellosigkeit, falschen Kasus, verwandt mit dem Gastarbeiter-,Pidgin' und -Xenolekt (s. 6.4.3X, 6.121). Die Verschärfung und Popularisierung des deutschen Antisemitismus in der wilhelminischen Zeit ab 1880 (Treitschke, Stoecker, Wagner, Alldeutscher Verband, Ostmarkenverein, Bund der Landwirte usw.; s. 6 . I M ) hing mit der propagierten Furcht vor verstärkter Zuwanderung nichtassimilierter Juden aus Polen und Rußland zusammen (Blank, in: Bade 1992, 324 ff.): Zwischen 1880 und 1929 sind rund 3,5 Millionen Juden aus Osteuropa über deutsche Transitlager und Häfen vor allem nach den USA ausgewandert. Ansässig geworden sind in Deutschland jedoch bis 1921 nur knapp 100.000. Besonders Preußen hat harte Maßnahmen gegen weitere Zuwanderung ergriffen (Ostjudenfrage); 1885 — 87 gab es Massenausweisungen von über 30.000 Juden und Polen aus östlichen Grenzgebieten.
Die Entwicklung des O s t j i d d i s c h e n zur Literatursprache (Birnbaum 1 9 7 9 , 3 6 ff.) war vor der Aufklärung durch die religiöse M o n o p o l s t e l lung des Hebräischen in ähnlicher Weise behindert wie das Deutsche durch das Latein im Mittelalter. Die verdrängende Geringschätzung des Jiddischen durch die emanzipierten mitteleuropäischen Juden hatte in der 2. H ä l f t e des 19. J h . als R e a k t i o n eine säkularisiert-nationalistische Jiddisch-Bewegung in Polen und Rußland zur Folge. M i t einer Literaturblüte ab etwa 1 8 6 5 wurde, gegen den inzwischen alltagsfern-archaischen C h a r a k t e r des älteren hauptsächlich westlichen Judendeutsch, das O s t jiddische stärker modernisiert, mit Umgangssprachlichem, mit Slawischem, aber auch nach Vorbild der deutschen Standardsprache, was später als Dajtschmerismen abgelehnt und vermieden wurde (Katz, In: Besch u. a. 1 9 8 3 , 1 0 2 8 ff.). Die zionistische Bewegung ( T h e o d o r Herzl, D e r Judenstaat 1 8 9 6 ; 1. Zionistischer Weltkongreß, Basel 1897) war der kulturellen Entwicklung des Jiddischen nicht günstig, da die hebraistische Mehrheit für den zu gründenden Judenstaat die sozial minderbewertete G e t t o - und Diasporasprache aus dem Land des Assimilationszwanges ablehnten. Dagegen wandten sich erfolgreich die Jiddischisten mit der Forderung nach Kultivierung und Anerkennung des Jiddischen als jüdischer Nationalsprache (Prawer 1 9 8 6 , 9 8 ; Althaus 1 9 9 3 , 4 8 ) : Seit der Czernowitzer Konferenz (1908) wurde heftig um die Alternative zwischen Hebräisch und Jiddisch gestritten. Auch religiös-Konservative waren (und sind bis heute) ζ. T. für Jiddisch, um das Hebräische nicht durch profanen Gebrauch zu entsa-
144
6.4.1. Sprachminderheiten, bis 1919
kralisieren. 1916 forderten die Jiddischisten auch von den assimilierten Westjuden die (Wieder-) Erlernung des Jiddischen nach vom Deutschen möglichst weit entfernten Normen. Die jiddischistische Bewegung war gegenüber den bloß bürgerlich-nationalen Hebraisten mehr sozialpolitisch oder sozialistisch orientiert. Seit Ende des 19. Jh. wurde das Jiddische durch Auswanderung aus Osteuropa in alle Welt verbreitet, vor allem in die USA, besonders New York. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kann die Zahl der Jiddischsprecher nur sehr ungenau auf 4—10 Millionen geschätzt werden. In Deutschland wurde das literarisch kultivierte Ostjiddisch vor dem Ersten Weltkrieg in intellektuellen Kreisen durch Vorstellungen und Leseabende von Schriftstellern, Schauspielern und Kabarettisten bekannt, vor allem aber im Krieg durch die überraschende Feststellung deutscher und österreichischer Soldaten und Offiziere über die weite Verbreitung und kulturelle Lebendigkeit des Jiddischen in Osteuropa (Althaus 1993, 44). Dies regte 1916 sogar deutsche Kriegspropaganda zu Ostexpansions-Ansprüchen mit Vereinnahmung des Jiddischen für die deutsche Sprache an. — Z u r weiteren Entwicklung s. 6.4.2U!
6 . 4 . 2 Bis z u m E n d e des Z w e i t e n W e l t k r i e g s A. Die katastrophalen Veränderungen des Verhältnisses zwischen dem Deutschen und seinen Nachbar- bzw. Minderheitensprachen begannen mit dem Ende des E r s t e n W e l t k r i e g s , der nicht nur ein imperialistischer Krieg um unerreichbare Weltmacht war, sondern — sehr symbolisch ausgelöst durch das serbisch-nationalistische Attentat in Sarajewo — der längst fällige Z u s a m m e n b r u c h des mitteleuropäischen Staatensystems, in dem die Prinzipien ,Staat' und ,Nation' nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren. Das anachronistische Österreich-Ungarn war bereits seit 1848 in der Nationalitätenkrise in Schwierigkeiten geraten, ebenso das in Europa ohnehin unbeliebte wilhelminische Deutschland mit seiner zum Sprachimperialismus radikalisierten Sprachenpolitik gegenüber Polen, Dänen und Elsässern. Die von den Siegermächten ausgearbeiteten Friedensverträge von Versailles (1918) und St. Germain (1919) brachten auf der einen Seite Lösungen f ü r längst anstehende Nationalstaatsbildungen (Baltische Staaten, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien). Auf der anderen Seite wurde nach dem Gedanken des cordon sanitaire zur Eindämmung weiterer deutscher Aggressionen, aber auch dem eines ,Schutzschildes' gegen den russischen Bolschewismus, nach den Ideen von Clemenceau und Lloyd George ein labiler ostmitteleuropäischer Staatengürtel mit einer „Doppelrolle" geschaffen. Durch die Zuweisung deutscher Gebiete an Litauen und Polen und durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschsprachigen im alten ÖsterreichUngarn wurden „im Verhältnis zwischen Deutschland und den ostmitteleuropäischen Staaten planmäßig Gegensätze geschaffen", das Vertragssystem „trug den Keim neuer Kriege in sich." (Erdmann 1993 a, 102, 108). Das Deutsche Reich verlor ein Siebentel
AB: Sprachgrenzen, Staatsgrenzen, Sprachminderheiten
145
seines Gebietes und ein Zehntel seiner Bevölkerung, und der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat fiel auseinander. Während zahlreiche nicht-deutschsprachige Nationen die langezeit von Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland vorenthaltene Freiheit und Selbstbestimmung erhielten, gerieten einige Millionen Deutschsprachige in abgetrennten Gebieten Deutschlands und Österreichs, meist ungefragt, auch in Sprachinseln und Mischgebieten, in eine ähnliche Situation wie die vorher von Deutschland und Österreich (bzw. deutschsprachiger Oberschicht) unterdrückten oder ignorierten nichtdeutschen Sprachbevölkerungen bzw. Minderheiten.
B. Die allgemeine Unscharfe der S p r a c h g r e n z v e r h ä l t n i s s e , besonders im Norden, Osten und Süden des deutschen Sprachgebiets, weithin mit Gemengelage und vorgelagerten Sprachinseln, sowie die verschiedenartigen politischen Interessen der Siegermächte und der neuen Nationalstaaten ließen meist vernünftige, gegenseitig gerechte sprachenpolitische Lösungen nicht zu. Neben diktathaften Abtrennungen ohne Rücksicht auf die Interessen und Einstellungen der Bevölkerungsmehrheiten gab es — ζ. T. auch zugunsten Deutschsprachiger — Gebietskorrekturen durch nachträgliche Volksabstimmungen; diese führten aber im statistischen Ansatz wie in der Ausführungspraxis teilweise zu unzuträglichen, sprachenpolitische Spannungen verschärfenden Ergebnissen auf beiden Seiten. Die durch die Französische Revolution eingeführte m o n o l i n g u i s t i s c h e Tendenz der Sprachenpolitik wurde im Deutschen Reich und im neuen Rest-Österreich nach den Pariser Friedensverträgen verstärkt durch die asymmetrische Tatsache, daß nach der neuen Friedensordnung die beiden deutschsprachigen Nationalstaaten weitaus weniger anderssprachige Minderheiten hatten als ihre Vorgängerstaaten und als die östlichen und südlichen Nachbarstaaten, während umgekehrt die Zahlen deutschsprachiger Minderheiten in diesen Staaten (sog. Ausländsdeutsche/Volksdeutsche) insgesamt unverhältnismäßig hoch lagen. In der Zwischenkriegszeit (vor 1938) gab es in Deutschland und Österreich weniger als eine halbe Million Wohnhafte mit n i c h t d e u t s c h e r Muttersprache, weit unter 1 % der Gesamtbevölkerung von ca. 7 3 Millionen (vgl. Wiesinger, in: Besch u. a. 1983, 8 1 5 ff.): Im Deutschen Reich eine nicht feststellbare Zahl von (meist älteren) Einwohnern mit Polnisch in Oberschlesien und im südlichen Ostpreußen (Masuren), etwa 1 0 0 . 0 0 0 mit Sorbisch in der Lausitz, etwa 1 5 . 0 0 0 mit Friesisch im westlichen Schleswig-Holstein und im Saterland, ca. 5 0 . 0 0 0 mit Dänisch in Südschleswig, abgesehen von kleinen und/oder verstreuten Minderheitengruppen wie Litauisch, Jiddisch, R o m a und Sinti. In Österreich rund 8 0 . 0 0 0 mit Slowenisch in südlichen Randgebieten von Kärnten und Steiermark, ferner einige Ortschaften mit Kroatisch und Magyarisch im Burgenland. Bei allen fremdsprachigen Minderheiten in Deutschland und Österreich war die (mindestens begrenzte) Beherrschung des Deutschen durch Erwachsene als staatlich obligatorische Zweitsprache schon weit vorangeschritten. Die Zahlen der d e u t s c h s p r a c h i g e n Minderheiten in Nachbarländern lagen in der Zwischenkriegszeit etwa 2 0 mal höher, im Falle der Tschechoslowakei sogar über 2 3 % der Gesamtbevölkerung. Für die Z e i t um 1 9 3 0 sind folgende ungefähren Zahlen
146
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
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Das Deutsche, seine Nachbar- und Minderheitensprachen um 1930 (n. Wiesinger, in: Besch u.a. 1983, Karte 47.1; Steger 1987, Abb. 1, u.a. Quellen) deutsche Sprachgrenze Mi ^ MM M
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AB: Sprachgrenzen, Staatsgrenzen, Sprachminderheiten
147
von Deutschsprachigen in Nachbarländern im Osten und Süden anzusetzen (meist n. Erdmann 1993c, 365): über 200.000 (durch Umsiedlung und Abwanderung abnehmend) in den baltischen Staaten, 1,5 Millionen in der UdSSR, 380.000 in der Freien Stadt Danzig, 1.371.000 in Polen, 3.477.000 in der Tschechoslowakei, 623.000 in Ungarn, 536.800 in Jugoslawien, 786.000 in Rumänien, 250.000 in Italien. Z u den Siedlungsgebieten s. Wiesinger, in: Besch u. a. 1983, 814 ff., 900 ff.; Born/Dickgießer 1989. Darüber hinaus die neuen deutschsprachigen Minderheiten in den 1919 abgetrennten Gebieten im Westen und Norden: über 1 Million in Frankreich (Elsaß, OstLothringen), 40—50.000 in Ost-Belgien, ca. 35.000 in Dänemark (Nordschleswig), ferner weitere Ausländsdeutsche/Volksdeutsche, die schon vorher in Sprachinseln und Mischgebieten in Ost- und Südosteuropa und in überseeischen Ländern lebten, s. 6.4.2ST (Wiesinger, in: Besch u . a . 1983, 924ff.; BRS (Lipoid 1977ff., Eichhoff 1990 ff.); Kloss, in: LGL 537 ff.; Born/Dickgießer 1989).
Diese und andere Sprachunfrieden stiftenden Entscheidungen der Pariser Verträge haben in den folgenden zwei Jahrzehnten viel beigetragen zur politischen Schwäche der deutschen und der österreichischen Republik, zur wachsenden Popularität der deutschnationalen und nationalsozialistischen Propaganda in Deutschland und Österreich, zur (auch sprachenpolitisch) zielbewußten Herbeiführung des Zweiten Weltkrieges durch das Hitler-Regime. Dabei hat die Förderung des Auslandsdeutschtums im Deutschunterricht und im Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) ζ. T. eine sprachenpolitisch verschärfende Rolle gespielt, indem deutschsprachige Minderheiten in anderen Ländern bewußt nicht als großenteils zweisprachige Staatsbürger dieser Länder angesehen und propagiert wurden, sondern pauschal als erlösungsbedürftige Nationalmärtyrer (Irredentismus) und/oder als potentielle ,fünfte Kolonne' für sprachimperialistische Annexionsabsichten mißbraucht wurden, in vielen Ländern durch NSDAP-Sonderaktionen aktiv und militant vorangetrieben (s. ζ. B. Jaworski 1977). Das Verschweigen oder Ignorieren der teilweise längst praktizierten Zweisprachigkeit in deutschen Untersuchungen (ζ. T. auch in den betr. ausländischen Quellen) hat den falschen Eindruck erweckt, Deutsch sei in Gebieten mit mehr als 50% Deutschsprachigen die ,Mehrheitssprache' (Ammon 1991a, 86 f.). C. Unseren Rundgang durch die einzelnen Sprachgrenzgebiete beginnen wir wieder in der S c h w e i z . Wie der Wilhelminismus hat der Nationalsozialismus in der Schweiz die sprachenpolitischen Distanzierungstendenzen verstärkt. Zwischen 1860 und 1980 hat sich der Anteil Deutschsprachiger in der Schweiz zwar von 69,5% auf 65,0% der Gesamtbevölkerung verringert, aber hauptsächlich durch Zuzug von Gastarbeitern aus südlichen Ländern. In Bezug auf schweizerische Staatsbürgerschaft hat er sich dagegen erhöht auf 73,5%, auf nahezu 4 Millionen (Sonderegger, in: BRS 1879 f.). Also war in zweifacher Hinsicht eine Verstärkung der deutschschweizerischen Mundartbewegung als nationales Solidari-
148
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
sierungssignal opportun, was nach 1933 ζ. T. als „geistige Landesverteidigung" bezeichnet wurde. Die Deutschschweizer wären durch die erneute reichsdeutsche Bedrohung fast auf den Weg des Sprachseparatismus luxemburgischer Art gedrängt worden (s. 6.11 VW). D. Eine noch direktere Auswirkung der sprachenpolitischen Bedrohung durch den Nationalsozialismus war die schweizerische Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 — zur Zeit von Hitlers Verschärfung der Außenund Militärpolitik mit Hilfe Mussolinis, wenige Wochen vor der Annexion Österreichs —, durch die zur „Abwehr des italienischen Irredentismus und des deutschen Nationalsozialismus" (Viletta 1984, 151; Marti 1990, 37) mit überwältigender Mehrheit das R ä t o r o m a n i s c h e als 4. Nationalsprache anerkannt wurde. Dies war eine basisdemokratische Demonstration des Willens zur toleranten Mehrsprachigkeit gegen Hitlers monolinguistische Volkstums-Politik. Bemühungen um eine sprachenpolitische Gleichberechtigung des Romanischen traten in eine wirksamere Phase schon mit der Gründung der Ligia Romontscha / Lia Rumantscha in Chur (1919) als Dachverband aller romanischen Vereinigungen (s. weiter in 6.4.3C). E. Nach der déannexion genannten Rückkehr E l s a ß - L o t h r i n g e n s zu Frankreich (1918/19) wurden die sprachenpolitischen Maßnahmen zur réintégration der Elsaß-Lothringer in ähnlicher Weise wie vor 1871 fortgeführt, allerdings nun mit irredentistischen Illusionen auf französischer Seite, indem viele Innerfranzosen euphorisch glaubten, Deutsch sei überhaupt erst nach 1871 im Elsaß eingeführt worden, also mit der Beherrschung des Französischen in der Gesamtbevölkerung und mit begeisterter Unterordnung unter zentralistische Pariser Vorstellungen rechneten, zu wenig mit elsässischen Wünschen nach Selbstverwaltung und kultureller Autonomie (Hartweg, in: BRS 1961 ff.; Kettenacker 1973, 13 ff., 196). Ahnunglos rigoroses Vorgehen der aus Innerfrankreich hinzugezogenen Beamten und Lehrer und eine radikale antikirchliche Gesetzgebung ab 1924 hatten in den zurückgekehrten Gebieten eine Heimatrechtund Autonomiebewegung mit Widerstandskämpfen und Schulstreiks zur Folge, z. T. mit Beziehungen zu anderen regionalen Autonomiebewegungen Frankreichs und von den Kirchen unterstützt, regionalsprachlich orientiert, aber nicht politisch prodeutsch. 1927 wurde mit der PoincaréPfister-Reform Deutschunterricht ab der 2. Volksschulklasse und Deutsch im Fach Religion zugelassen. Das französische Bemühen, diesmal auch die Unterschichten für das Französische zu gewinnen, war nicht durchweg erfolgreich (Hartweg, in: BRS 1961 ff.): In den schulischen Erfolgsmeldungen wurde nicht die fehlende nachschulische Praxis berücksichtigt, die sich mehr im Dialekt abspielte. Es entstand in den unteren und Teilen der mittleren Schichten eine mehrfache „Teilsprachigkeit": Elsässisch als gesprochene,
EF: Elsaß, Ost-Lothringen
149
Deutsch als geschriebene Sprache, Französisch meist nur passiv beherrscht. Ein elsässischer Senator klagte 1936: „Die Kinder lernen heute eine Sprache, die sie nicht verstehen, und die Sprache, die sie verstehen, die lernen sie nicht". 1936 gaben noch immer nur knapp 60% Beherrschung des Französischen an, 87% Kenntnisse des Elsässischen, um 80% des Deutschen. — Z u Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden allein aus dem Departement Moselle über 300.000 als boches beschimpfte Deutschsprachige nach Innerfrankreich evakuiert (Stroh 1993, 57).
F. Das nationalsozialistische Besatzungsregime im Elsaß und in OstLothringen (1940—45) knüpfte einerseits an die rigorosen Willkürmaßnahmen der spätwilhelminischen Zeit an, verschärfte sie andererseits, mit zynischer Kritik an den „Halbheiten" der Sprachpolitik des Bismarckreiches, zu brutalem „Sprachterror" (Hartweg, in: BRS 1964 ff.; Kettenacker 1973; Wolfanger 1977): Noch ohne einen staatsrechtlichen Status der besetzten Gebiete betrieben die NSDAP-Gauleiter der benachbarten reichsdeutschen Gebiete (Saarland, Pfalz, Baden), von Hitler mit der Zivilverwaltung beauftragt, rücksichtslos und dilettantisch ehrgeizig eine Volkstums-Politik, bei der man die sprachliche Entwelschung (Verdrängung alles Französischen) gleich mit nationalsozialistischer Zwangsideologisierung verknüpfte, um aus (mit alten preußischen Erfahrungen) widerstrebenden Elsaß-Lothringern militante Grenzdeutsche zu machen. Aus Baden, Pfalz und dem Saarland versetzte Beamte, Parteifunktionäre und Lehrer halfen ihnen dabei ebenso wie kollaborierende Vertrauensleute aus einheimischen profaschistischen Gruppen, die sich seit Hitlers Erfolgen ab 1933 aus der elsässischen Autonomiebewegung abgespalten hatten. Bei der Entwelschungs-Kampagne des badischen Gauleiters Wagner spielte der Deutsche Sprachverein aufgrund seiner sprachpuristischen Tradition (s. 6.7E —G) von Pforzheim aus eine unrühmliche, in seiner Zeitschrift „Muttersprache" nur beschönigend dargestellte Rolle mit Schulungsveranstaltungen und menschenverfolgenden Einzelaktionen (G.Simon 1986ab). Ideologische Vorbereitung für die Rückeindeutschung leisteten oberrheinische Geographen und Historiker in einer Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (Kettenacker 1973, 45 ff.). Über die schon traditionellen Maßnahmen hinaus (Deutsch als alleinige Amts- und Unterrichtssprache, Verdeutschung von Ortsnamen (Sperling 1997), öffentlichen Inschriften und Schildern, Berufsverbote für Beamte und Lehrer, Deutschlehrgänge zwangsweise für Erwachsene) bestand die Entwelschung auch in Verbot und Verbrennung französischer Bücher, Zerstörung oder Umfunktionierung von Denkmälern, Zwangsverdeutschung von Vor- und Familiennamen und Grabinschriften, Beschlagnahme und Vernichtung von Personaldokumenten, Privatfotos, Wandbildern in Wohnungen, Verbot des Französischen auch als Predigtsprache und Schulfremdsprache, Bestrafung des Französischsprechens und des Gebrauchs von Fremdwörtern, sogar des Dialektsprechens und Tragens von Baskenmützen. Widerstrebende wurden denunziert und in Einzel- oder Säuberungs-Aktionen ins KZ-ähnliche Erziehungslager Schirmeck eingeliefert. Die meisten einheimischen Lehrer und Geistlichen wurden nach Innerfrankreich oder ins Reichsgebiet, sogar in das besetzte polnische Wartheland deportiert {umgesiedelt, abgesiedelt), auch in Massendeportationen bei Nacht und Nebel, insgesamt über 300.000, in Ostlothringen z. T. ganze Dörfer und Familien (Hartweg, Kettenacker, Wolfanger, Stroh, a. a. O.).
150
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
G . Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich in L u x e m b u r g die Unabhängigkeitsbewegung, da zu den unliebsamen Preußen- und Kriegserinnerungen nach Kriegsende expansionistische Bedrohungen von Frankreich und Belgien her hinzukamen. So betrieb Luxemburg als Völkerbundsmitglied schon sehr früh eine europäisch orientierte Verständigungspolitik zwischen den Großmächten. Spannungen mit Deutschland gab es seit Hitlers Besetzung des Rheinlandes (1935), auch durch Beeinflussungs- und Erpressungsversuche der NS-Regierung. Die symbolische Festigung des luxemburgischen Nationalbewußtseins in den Unabhängigkeitsfeiern (1939) war mit einer sprachpolitischen Statuserhöhung des Letzeburgischen verbunden, indem es im gleichen J a h r durch Gesetz zur Voraussetzung für die Einbürgerung gemacht wurde; dies hatte starke Nachwirkung im beispielhaften politischen und sprachloyalen Widerstand der Luxemburger gegen die rücksichtslose Annexions- und Sprachpolitik des nationalsozialistischen Besatzungsregimes im Zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1944 (Raths 1975; Spang 1982; Dostert 1985; F. Hoffmann 1993 und in: Dahmen u. a. 1992): Wenige Wochen nach der militärischen Besetzung im Zusammenhang mit dem Frankreichfeldzug erließ der sehr ehrgeizige, Hitler und Himmler hörige Gauleiter Simon vom Gau Koblenz-Trier (bald unter Einschluß von Luxemburg Moselland genannt) gleich am Tage seiner Ankunft in Luxemburg als Chef der Zivilverwaltung ein die Annexion einleitendes Sprachgesetz vom 6. August 1940, das durch 10.000 rote Plakate mit Frankreichhetze bekanntgemacht wurde. In völliger Ignoranz oder Mißachtung der jahrhundertelangen französisch-deutschen Zweisprachigkeit in Luxemburg sollte mit einer „Entwelschung", ähnlich wie im Elsaß und in Ostlothringen, der „ ä u ß e r e französische Firnis, jämmerliche Tünche" in wenigen Wochen spurlos zum Verschwinden gebracht werden. In Behörden, Volksschulen, Presse und Publikationen, Wirtschaft und Werbung wurde nur noch „ausschließlich Deutsch", und zwar nur „ H o c h d e u t s c h " zugelassen, Orts-, Straßen- und Firmenschilder mußten verdeutscht werden. Um „saubere Verhältnisse in volkstumspolitischer Beziehung zu schaffen" und als „Bekenntnis zum Deutschtum" wurden durch Zwangsmaßnahmen mit Geld- bzw. Gefängnisstrafen auch alle nicht ,deutsch' klingenden Vor- und Familiennamen verdeutscht oder durch deutsche ersetzt. Französische Lehnwörter und -floskeln wurden verboten und verfolgt, französische Bücher aus Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt. Durch die Rücksichtslosigkeit und Naivität dieser Aktionen wurden selbst anfangs kooperationswillige Luxemburger Gruppen von der Kollaboration abgehalten.
H. Der von Anfang an starke kollektive Widerstand der Bevölkerung, teils offen oppositionell, teils witzig parodierend, teils passiv, erzürnte den Chef der Zivilverwaltung derart, daß er die anfängliche großdeutscbe Volkstumspolitik sehr bald zu einer offenen ideologischen Zwangsnazifizierung und zum Terror durch SD und Gestapo verschärfte, was bei den meisten Luxemburgern eine zunehmend klare politische Bewußtseinslage bewirkte. In dieser prekären Situation nationaler Unterdrük-
151
G H : Luxemburg
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Die Sprache ¡>es Caniles Cuiemburg und feiner Bewohner i|i feit jeher deutfeh. Auf Grunft der mir a l s Chef t e r 3 i o i l o * r u > a l t u n g für t a · Cant Cuiemburg erleilten Ermächtigung oeroröne ich daher für das gefamte C o n i C u i e m b u r g : $ I. Die Ρ m ι s I ρ ι a di c ift ausfdilicfilidi tie t e u tI d| c 0 ρ r a d| c. ρ υ φ Die G t r i ή I s | ρ ι o di c i|t aus-
{ 5. {irmenfdiiltte u n t fiäufeeaufldiriften lint allein in tcut|dicc Sptadie juläffig.
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} 7. Deutfdie Sptadie Im Sinnt tiefee Deiaetnurg Ift Dos fiaditeutfdie. } B. Berftöße gegen tiefe Derartnung »erben mit Ge-
$ j. Tagesjeilungen, IDoditnfdieiflcn u n i alle lonftigen petiabifdi er[dicinenten 5dirifttn Dürfen einldilieSlidi Sei prioaten Pnjeigen letiglid) in teutfdiee Sptadie
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fflegneifer
hat unoeqSglidi ju erfalgen; fie muft
Ipäteftens bis 30. Septembec 1940 tuedigefühet fein. f 10. m i t ter DurdifQhtung tielet Detorbnung beauftragt id| tie Cantrsoetœaltung in Cuiembueg.
C u ι e m b u e g, ten 6. Pugufl 1940.
D e r Chef t e r 3 i o i l o e r i o a l t u n 9 f ü r i o s f o n ò C u i e m b u r g gez. G u s t a v S i m o n , Gauleiter Plakat zum Sprachverbot in Luxemburg 1940 (aus: Spang 1982, 74)
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
152
k u n g w i r k t e n sich die bereits ö f f e n t l i c h k e i t s w i r k s a m e n A n f ä n g e des A u s b a u s des N a t i o n a l d i a l e k t s z u r N a t i o n a l s p r a c h e in w i r k s a m e n B e k u n d u n gen a n t i d e u t s c h e r S p r a c h l o y a l i t ä t a u s . D i e E t a b l i e r u n g des gesch
Lëtzebuer-
als eigene S p r a c h e im Sinne v o n S p r a c h b e w u ß t s e i n s g e s c h i c h t e be-
steht a u s m e h r e r e n E r e i g n i s s e n : — Die Großherzogin Charlotte hielt aus dem Exil in England zum ersten Mal Ansprachen in Letzeburgisch, die von vielen Luxemburgern über BBC gehört wurden; das (traditionell frankophone) Großherzogshaus hat diese Sprachloyalitätsbekundung weiterhin beibehalten (N. Weber 1994, 148). — Nach Verbot und Entfernung französischer Bücher entdeckten viele Luxemburger ihr Interesse für letzeburgische Literatur, die sie vorher nie gelesen hatten; beschlagnahmte und eingesammelte Letzeburgica wurden im Schwarzhandel verbreitet und standen nach 1944 wieder zur Verfügung (Dostert 1985, 114). — Verbot und Bestrafung des Gebrauchs französischer Sprache hatte stärkeren Gebrauch des Letzeburgischen als Signal für Widerstand und Solidarität zur Folge, was dann 1942 auch ein Verbot letzeburgischer Schriftsprache und des Dialektsprechens im telefonischen Amtsverkehr, in Schulen und Behörden sowie des Singens letzeburgischer Lieder nach sich zog (Dostert 1985, 116). — In der „Personenstandsaufnahme" vom 10. 10. 1941 bekannte sich — obwohl im Fragebogen in einer Suggestiverklärung als „Muttersprache" nur Deutsch, aber „nicht Dialekte (Mundarten, ζ. B. luxemburgisch)" zugelassen waren — eine überwältigende Mehrheit der Luxemburger ( 9 6 % ) zu Luxemburgisch oder Lëtzebuergesch, und — trotz der Suggestiverklärung, ihre „Volkszugehörigkeit" sei „deutsch" — zu „ L u x e m b u r g e r " als Volkszugehörigkeit (F. Hoffmann 1979, 36). Dies bedeutete die praktische Anerkennung des Letzeburgischen als Nationalsprache. — S. weiter 6.4.3FG! I. D i e A b t r e n n u n g des G e b i e t e s E u p e n - M a l m e d y d u r c h d e n Versailler V e r t r a g w u r d e v o n b e l g i s c h e r Seite teils w i r t s c h a f t l i c h
(Reparationen)
u n d m i l i t ä r s t r a t e g i s c h , teils h i s t o r i s c h b e g r ü n d e t , a b e r v o n d e n d e u t s c h s p r a c h i g e n B e w o h n e r n d e s ü b e r 1 0 0 J a h r e p r e u ß i s c h e n Neubelgien
(wie
es f o r t a n d e u t s c h e r s e i t s hieß) als ü b e r r a s c h e n d e H ä r t e e m p f u n d e n , mit A u s n a h m e des f r a n k o p h o n e n M a l m e d y e r G e b i e t s ( E i s e r m a n n / Z e h 1 9 7 9 , 1 2 f . , 4 4 ) , d a d a s n a t i o n a l i s t i s c h e 1 9 . J a h r h u n d e r t eine bleibende „ M e n t a l i t ä t s g r e n z e " u n d u n t e r s c h i e d l i c h e n S t a t u s d e r d e u t s c h e n S p r a c h e zwis c h e n d e n alt-
u n d neubelgischen
Deutschsprachigen geschaffen
hatte
(Pabst 1 9 9 5 , 5 8 ) . Die Fragwürdigkeit der Volksbefragung von 1920 mit offen ausliegenden Listen, bei der nur 271 von etwa 33.000 Wahlberechtigten sich gegen die Abtretung des Gebiets an Belgien erklärten, wirkte für Jahrzehnte als heißes Polemikthema (Eisermann/Zeh 1979, 15). Trotz formeller Schutzgarantien wurde die anfangs zugestandene deutschfranzösische Zweisprachigkeit auch in Neubelgien nach 1925 immer mehr zugunsten der Staatssprache Französisch abgebaut, auch in der Kirche. Deutsch blieb nur Unterrichtsgegenstand. Der Integrationsprozeß wurde bereits ab 1930 gestört durch den Wahlerfolg der von den deutschen Nationalsozialisten beeinflußten revisionistischen Bewegung Heimattreue Front in Neubelgien, dann durch die deutsche Kriegsanne-
I —L: Ost-Belgien, Niederländisch, Friesisch, Dänisch
153
xión. Das NS-Besatzungsregime hat sich mit Z w a n g s m a ß n a h m e n und Kriegsdienstzwang in antideutscher Richtung ausgewirkt, ähnlich wie in Luxemburg, Elsaß und Ost-Lothringen. Auch in ,Neubelgien' wuchs ab 1942 der Widerstand, von der katholischen Kirche unterstützt. Am Kriegsende 1945, nach schwersten Zerstörungen im Gebiet der Ardennenschlacht, war etwa ein Viertel der Neubelgier wegen Kollaboration k o m p r o m i t t i e r t (Rosensträter 1985, 173). — S. weiter in 6.4.3HI!
J. In den N i e d e r l a n d e n gab es in der Zwischenkriegszeit zwar kein sprachenpolitisches Minderheitenproblem; auch nicht in der Zeit der deutschen Besetzung, die durch Zwangsmaßnahmen gegen politisch Mißliebige und rassistische Menschenverfolgung bei den Niederländern die traditionelle Abneigung gegen Deutsche bis zur Verachtung steigerte. Trotz starker propandistischer Beeinflussungsversuche durch deutsche Presse und Rundfunksendungen (Ch. Sauer 1989) blieb der Status des Niederländischen als National- und Staatssprache noch unangetastet. In noch nicht realisierten Plänen für eine ,großgermanische' Sprachpolitik nach dem Endsieg drohten den Niederländern jedoch deutsche Versuche, ihre Sprachloyalität zur niederländischen Standardsprache zu zerstören und das Niederländische (und Flämische) zu ,niederdeutschen' Mundarten herabzustufen (G. Simon 1979, 169 ff.; G. Hoffmann 1972; Ammon 1991 a, 536). — Zur Festigung der dt.-ndl. Sprachgrenze s. 6.4.3J! K. Die f r i e s i s c h e Minderheit ist bis zur Zwischenkriegszeit infolge der Verkehrserschließung, des Tourismus und des schulischen Hochdeutschzwanges von 2 5 - 3 0 . 0 0 0 j l . Hälfte 19. Jh.) auf etwa 15.000 (20er/30er Jahre) zurückgegangen (Arhammar 1988, 688). Das isolierte Friesisch von Wangerooge war um 1920 noch bei letzten Einzelpersonen anzutreffen, die es um 1950 nicht mehr gab (Stellmacher 1993). Im Gefolge der nationalistischen Politisierung der Sprachminderheitenverhältnisse im benachbarten Nord- und Südschleswig durch die Versailler Gebietsabtretung an Dänemark (1919/20) entstand in den 20er Jahren eine nordfriesische Nationalbewegung mit z. T. radikalen Sprachpflegezielen, z. B. Orthographieregelungen nach dänischem und westfriesischem Vorbild (Arhammar 1988, 700), doch mit ebensowenig breitem Erfolg wie die Ansätze zum Friesischunterricht in der Schule seit 1928, der z. T. von Eltern abgelehnt wurde (Walker, in: Kremer/Niebaum 1990, 410ff.). — S. weiter 6.4.3K! L. Für das d e u t s c h - d ä n i s c h e Mehrsprachigkeitsgebiet Schleswig wurde die von Preußen unterlassene Realisierung des Artikels 5 des Prager Friedens von 1866 im Versailler Friedensvertrag gefordert (Eriksen 1986, 157): In zwei Zonen wurden 1920 Volksabstimmungen durchgeführt, in der dritten (südlichsten) unterblieb sie, da dort die deutsche Option der großen Bevölkerungsmehrheit nicht zweifelhaft war.
154
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
In der nördlichen Zone votierten rund 7 5 % für Dänemark, wodurch dann in Nordschleswig die deutsch optierenden Mehrheiten in den Städten Tünder/Tondern, Senderborg/Sonderburg und Abenrä/Apenrade als neue deutsche Minderheiten zu Dänemark kamen. Die mittlere Zone (Mittelschleswig) stimmte mit rund 80% für Deutschland, wodurch die dänisch optierende Mehrheit in der Stadt Flensburg und in einem schmalen Streifen zwischen Flensburg und dem Nordfriesischen als dänische Minderheit bei Deutschland blieb. In der Weimarer Republik wurde die von der Verfassung gegebene „liberale und günstige Ausgangslage für den Interessenausgleich bei den Minderheiten [...] nicht genutzt"; es wurde nur „oft sehr von der Tagespolitik abhängig von Fall zu Fall entschieden", mit einer Einschätzung der dänischen Minderheit „sehr deutlich als Fremdelemente" (Eriksen 1986, 158). Für die d e u t s c h e Minderheit in Nordschleswig nach 1920 (etwa 35.000 i. J. 1935) war die dänische Sprachenpolitik liberaler (Zeh 1982, 134 ff.): Deutscher Unterricht an Volksschulen blieb großenteils möglich, auch an höheren Privatschulen eines nordschleswiger deutschen Schulvereins, deren Examina ab 1933 vom dänischen Staat anerkannt wurden. Von 1921 bis 1940 stieg die Schülerzahl von 3141 auf 3600. Im öffentlichen Leben spielte Deutsch keine Rolle mehr. Die Prädisposition der deutschen Minderheit für Mehrsprachigkeit war vor allem dadurch gegeben, daß sie größtenteils, wie die Dänischgesinnten, das stark niederdeutsch beeinflußte („hybridisierte") Südjütisch/Plattdänisch als Umgangssprache benutzte, das eigentlich erst seit 1920 wirklich vom Hochdänischen überdacht wurde, das sich nun alle, auch die dänische Mehrheit, aneignen mußten (Dyhr, in: Kremer/Niebaum 1990, 25 ff., 385 ff.). Die deutschen Willkürmaßnahmen während der Besatzungszeit 1940 — 45 machten jedoch die bescheidenen Fortschritte der 20/30er Jahre bei den deutschen Nordschleswigern wieder zunichte (Zeh 1982, 115). - S. weiter 6.4.3LM!
M . In der revolutionären Situation von 1918 reagierte die s o r b i s c h e Minderheit in der Lausitz zunächst gemäßigt mit vergeblichen Bemühungen um mehr Rechte in Preußen und Sachsen, dann separatistisch mit dem (auch sozialpolitisch radikalen) ,.,Wendischen Nationalausschuß". Dieser forderte zunächst eine Autonomie innerhalb des Deutschen Reiches, dann in Verbindung mit der tschechischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles den Anschluß an die Tschechoslowakei, mit Berufung auf Wilsons 12 Punkte. Dieser Versuch hatte jedoch wegen des brisanten Deutschböhmen-Vrobiems keinen Erfolg (Oschlies 1990 c, 22f.), bewirkte aber Unruhe unter den deutschsprachigen Lausitzern und eine Verschärfung der sächsischen und preußischen Sorbenpolitik (P. Kunze, in: Scholze 1993, 41 ff.), mit „Wendenabteilungen" bei oberen Behörden zur „Überwachung der Wenden", und „Förderung des Aufgehens der Wenden im Deutschtum" (Oschlies 1990 c, 24). Insgesamt aber verbesserte der Demokratisierungsschub der frühen Weimarer Republik die sprachenpolitische Situation der Sorben. Artikel 113 der Weimarer Verfassung untersagte für „fremdsprachige Volksteile des Reiches" die Beeinträchtigung der „freien, volkstümlichen Entwicklung" und „des Gebrauchs ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege". Obwohl dies wenig praktische Wirkung hatte, gab es immer-
M N : Sorbisch, Polnisch
155
hin zweisprachige Ausbildungsprogramme an einigen Schulen, zahlreiche sorbische literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen; 1924 fanden die Sorben Unterstützung in einem „Verband der nationalen Minderheiten Deutschlands", 1925 wurde ein „Wendischer Volksrat" gegründet (Oschlies 1990c, 24f.; Marti 1990, 42ff.). Trotzdem blieb Sorbisch weitgehend auf die Funktion einer Haus- und Nachbarschaftssprache beschränkt. In Behörden und Gerichten gab es zu wenige Amtsträger mit sorbischen Sprachkenntnissen und wenig Neigung, Sorbisch zu lernen. In der nationalsozialistischen Zeit gab es sofort nach der Machtübergabe eine Welle von Verfolgungen, Verhaftungen und Verboten gegen sorbische Sprach- und Kulturpatrioten, jedoch nach Protesten aus slawischen Ländern und Frankreich und aus Rücksicht auf den Vatikan ab Sommer 1933 eine gemäßigte Sorbenpolitik. Ab 1936 wurde aber die traditionelle preußisch-sächsische „Deutschtumsarbeit in den wendischen Gebieten" zur brutalen Unterdrückung mit dem Endziel des Sprachtodes durch Sprachwechsel oder Deportation verschärft (Oschlies 1990 c, 26 ff.; Kunze, in: Scholze 1993, 44 ff.; Marti 1990): 1937/38 wurden alle sorbischen Organisationen, Institutionen und Veröffentlichungen verboten, sorbische Bibliotheken und Archive zerstört, sorbisch sprechende Geistliche und Lehrer in entlegene Gebiete Deutschlands verbannt. Der Gebrauch des Sorbischen in Öffentlichkeit, Kirche und Schule wurde verboten. 1939 wagten es nur noch 474 Personen, sich zur sorbischen Sprache zu bekennen, im preußischen Teil niemand. Sorbische Sprachpatrioten wurden verhaftet und deportiert, einige starben in Konzentrationslagern. Für die Zeit nach dem Endsieg des Nationalsozialismus war eine Umsiedlung aller Sorben in Arbeitslager im Osten, zusammen mit anderen slawischen Minderheiten, geplant.
N. Eines der sprachenpolitisch wichtigsten Ergebnisse des Ersten Weltkrieges war die Wiederherstellung P o l e n s als Nationalstaat (1917). Die nationalpolitisch für Polen notwendige, für deutschsprachige Bevölkerungsteile jedoch überraschend nachteilige Abtretung östlicher Teile des Deutschen Reiches verlief auf sehr verschiedene Weisen (Erdmann 1993 a, 80ff.; Conze/Hentschel 1996, 251 ff.): Z u m ehem. russischen Kongreßpolen kam 1918 durch einen nationalen Aufstand die weit überwiegend polnischsprachige preußische Provinz Posen hinzu. Im Versailler Vertrag wurde Polen ohne Abstimmung Posen und der größte Teil Westpreußens zugesprochen, so auch das Gebiet des schon stark polonisierten Kaschubischen und die über 95 % deutschsprachige westpreußische Hafenstadt Danzig, während die Abtretung des südlichen Teils von Ostpreußen und Oberschlesiens von Volksabstimmungen abhängig gemacht wurde. Diese ergaben im Gebiet der politisch schon weitgehend preußisch assimilierten Masuren und im westpreußischen Gebiet um Marienburg und Marienwerder mit je über 90% die Entscheidung für den Verbleib bei Deutschland. Danzig blieb allerdings seit 1920 als Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes wirtschafts- und zollpolitisch mit Polen verbunden. — Nicht ohne militärische Unruhen verlief die Aufteilung Oberschlesiens: Nach mehreren polnischen Aufständen und Freikorpsaktionen 1919 — 21 ergab die Volksabstimmung 1921 insgesamt 59,6% für Deutschland, 40,3% für Polen; ein Genfer Schiedsspruch des Völkerbundes teilte jedoch 1922 das überwiegend polnischsprachige und industriewichtige Drittel Ostoberschlesien für Polen ab. — Mit militärischen Aktionen wurde auch das mehrheitlich deutschsprachige ostpreußische Memelgebiet (nördl. der Memel) vom Deutschen Reich abgetrennt und ohne Befragung der Bevölkerung und gegen deren
156
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
Protest von den Alliierten (franz. Besetzung) nach einem Einfall litauischer Freischärler an Litauen abgetreten. Die Abtretungen konfrontierten über 1 Million Deutschsprachige in Polen mit ebensolchen sprachenpolitischen Zwängen, denen Polen in Preußen seit Generationen ausgesetzt gewesen waren: Z w a n g zum Erlernen und zum Gebrauch einer ihnen fremden, bisher verachteten Sprache im öffentlichen Leben, Reduzierung der eigenen Sprache auf private Domänen. So begann — allerdings noch in weniger unmenschlicher und quantitativ begrenzterer Weise als ab 1945 — die Praxis von Auswanderung und Ausweisung: Von 1919 bis 1925 kamen über eine halbe Million Auswanderer und Ausgewiesene aus an Polen abgetretenen Gebieten nach Deutschland; als Reaktion auf eine entsprechende polnische Aktion sind 1925 polenfreundliche Optanten aus deutschen Grenzbezirken ausgewiesen worden. Die Zahl der deutschoptierenden Abwanderer nach 1919 lag im Sudetenland mit rund 40.000 wesentlich niedriger als in Polen (Erdmann 1993 c, 124 ff., 362; Conze/Hentschel 1996, 259; Steger 1987a, 155 f.). Als Reaktion auf die Namenpolonisierungen in den abgetretenen Gebieten wurden besonders von 1936 bis 1942 in Ostpreußen, Pommern, Schlesien Ortsnamen slawischer Herkunft verdeutscht, in Schlesien 2.700 (Sperling 1995).
O. Flucht, Aussiedlung und Vertreibung, als für das 20. Jahrhundert offenbar typische Arten der ,Lösung' von Minderheitenproblemen, sind zur totalitären Gewohnheit geworden schon seit den deutschen Ausweisungen von Tschechen aus dem annektierten Sudetenland ab 1938 sowie durch Hitlers Geheimabkommen mit Mussolini (1939) über die Umsiedlung von deutschen Optanten aus Südtirol und durch seine Verträge mit den baltischen Staaten, der Sowjetunion und Rumänien über die Umsiedlung von Volksdeutschen (1939/40), die mit der Vertreibung von über einer Million Polen aus besetzten westpolnischen Gebieten komplementär verbunden war (s. 6.4.2S). Hitlers Neigung zu Deportationen hängt mit seiner rassistischen Auffassung von .Nation' und N a t i o n a l s t a a t ' zusammen, die eine grundsätzliche Abwendung von der preußischen und österreichischen Art von Germanisierungspolitik darstellt (Hinweis v. Rainer Wimmer): In seinem damals viel zu wenig ernstgenommenen Buch „Mein Kampf" (651./655. Aufl. 1941, S. 427 ff.) polemisierte er gegen die traditionelle preußische und österreichische Staatsauffassung, nach der die Macht eines Nationalstaates vergrößert werden könne durch Germanisierung im Sinne von sprachenpolitischem Zwang der Bevölkerung zur Annahme der deutschen Sprache und Aufgabe der eigenen, ζ. B. gegenüber den slawischen Völkern: „[...] daß Germanisation nur am Boden vorgenommen werden kann und niemals an Menschen. [...] Da das Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache liegt, sondern im Blute, würde man von einer Germanisation erst dann sprechen dürfen, wenn es gelänge, durch einen solchen Prozeß das Blut der Unterlegenen umzuwandeln. Das aber ist unmöglich". Hitler bezeichnete es als „ein Glück, daß eine Germanisation im Sinne Josephs II. in Österreich unterblieb"; sie hätte nur zu einer „Niedersenkung des rassischen Niveaus der deutschen Nation" geführt. In dem durch Hitlers Blitzkrieg entstandenen Restpolen, Generalgouvernement genannt, wurde Deutsch als alleinige Amtssprache verordnet. Die Praxis war dann allerdings zweisprachig, aber nur der deutsche Text war maßgebend; nach rassistischen Gesichtspunkten nichteindeutschbare Bevölkerungsteile sollten
157
Ν—Ρ: Polnisch, Tschechisch und Deutsch
aber keine deutsche Schule besuchen (Hansen 1994; Ammon 1991 a, 535 f.). Mit einer solchen kolonialistischen Regelung wurde die preußische Sprachenpolitik noch überboten. P. D i e seit e t w a 1 9 1 9 s p r a c h e n p o l i t i s c h Sudetendeutsche
genannten
ü b e r 3 , 4 M i l l i o n e n D e u t s c h s p r a c h i g e n in d e r T s c h e c h o s l o w a k e i
(Born/
D i c k g i e ß e r 1 9 8 9 , 2 1 9 ) , die ü b e r w i e g e n d in g e s c h l o s s e n e n S i e d e l g e b i e t e n an den A u ß e n r ä n d e r n B ö h m e n s u n d M ä h r e n s i m A n s c h l u ß a n die ö s t e r r e i c h i s c h e und d e u t s c h e S t a a t s g r e n z e seit J a h r h u n d e r t e n e i n s p r a c h i g lebten (ein D r i t t e l d e r B e v ö l k e r u n g B ö h m e n s ) , h a t t e n z w a r E n d e O k t o b e r 1 9 1 8 d u r c h ihre V e r t r e t e r i m W i e n e r R e i c h s r a t ihren B e i t r i t t z u m restlic h e n d e u t s c h s p r a c h i g e n Ö s t e r r e i c h e r k l ä r t , w u r d e n a b e r d u r c h den Vert r a g v o n S t . G e r m a i n ( 1 9 1 9 ) u n g e f r a g t u n d u n g e w o l l t zu B ü r g e r n des neugegründeten zentralistischen Vielvölkerstaates Tschechoslowakei, der n u r e t w a zur H ä l f t e a u s T s c h e c h e n b e s t a n d , n e b e n D e u t s c h s p r a c h i g e n , S l o w a k e n und U k r a i n e r n ( E r d m a n n 1 9 9 3 a , 1 0 3 ff.; 1 9 9 3 b , 2 4 7 f f . ) . Diese nationalstaatswidrige, quantitativ dem Verhältnis zwischen Wallonen, Flamen und Deutschsprachigen in Belgien vergleichbare Lösung war schon während des Krieges vorbereitet durch den 1916 gegründeten „Tschechischen Nationalrat", den Kampf tschechischer Legionen auf der Seite der Entente und den Pittsburger Vertrag im Mai 1918. Das geschlossene tschechischsprachige Gebiet im Inneren Böhmens und Mährens wäre wahrscheinlich ohne die ökonomisch wichtigen deutschsprachigen Randgebiete als moderner Nationalstaat kaum lebensfähig gewesen. Trotz individueller staatsbürgerlicher Gleichberechtigung und formaler Minderheitenschutzbestimmungen seit 1919 (aber nicht nach schweizerischem Muster) fühlten sich die Sudetendeutschen politisch und wirtschaftlich benachteiligt, da sie gegenüber der Prager Zentralregierung im Minderheitsstatus bleiben mußten und ihnen aus traditioneller Einstellung die Eingewöhnung in eine tschechisch dominierte Zweisprachigkeit schwerfiel. Die Deutschböhmen sahen sich „nicht in erster Linie als unterdrückte Minderheit, sondern als unterdrücktes Staatsvolk des jungen Staates, dem ungerechtfertigt die gleichberechtigte Mitregierung versagt wird." (Scheuringer 1993, 75). So trat — mit Anknüpfung an den harten nationalistischen Sprachenkampf in der Monarchie (s. 6.4.1W) — bald eine extreme sprachenpolitische Polarisierung ein, die Schritt für Schritt zur nationalsozialistischen deutschen Annexion des Sudetenlandes (1938) hinführte. Sie wurde zwar weithin noch als vertretbare Korrektur einer Fehlentscheidung des Friedensdiktats von St. Germain hingenommen oder begrüßt, führte darüberhinaus aber auch zu Hitlers geplanter Zerschlagung der Tschechoslowakei an der Schwelle des Krieges mit erpreßter Hilfe der appeasement-Politik der Westmächte (Erdmann 1993 b, Kap. 18). Die kompromißbereiten deutschsprachigen Gruppen („Bund der Landwirte", „Deutsche Sozialdemokraten") waren den offen staatsfeindlichen deutschnationalen Gruppen zunehmend unterlegen, vor allem der „Sudetendeutschen Heimatfront" (ab 1933) und der „Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei" Konrad Henleins (1935 beide zusammengefaßt als „Sudetendeutsche Partei"), die mit zunächst radikalen Autonomieforderungen seit dem Erfolg Hitlers in Deutschland mit Anschluß-Forderungen der großdeutschen Annexionspolitik der deutschen Nationalsozialisten zuarbeiteten und schließlich von Hitler nur noch als Werkzeug benutzt wurden. Durch
158
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
das Münchener Abkommen (1938) wurden, ohne Mitwirkungsmöglichkeit der tschechoslowakischen Regierung, die Randgebiete Böhmens und Mährens, soweit sie mit über 5 0 % von Deutschsprachigen bewohnt waren, an das nationalsozialistische Deutschland abgetreten. Aus dem so entstandenen, militärisch besetzten Gau Sudetenland mußte fast die Hälfte der ca. 700.000 Tschechen fliehen oder wurde ausgewiesen (vgl. Plaschka u. a. 1997). In dem durch Hitler im März 1939 vertragsbrüchig besetzten tschechischen Restteil der Tschechoslowakei, der nun Reichsprotektorat Böhmen-Mähren hieß, wurde eine brutale Germanisierungspolitik eingeleitet und mit Verhaftungen und Erschießungen durchzusetzen versucht (Ammon 1991 a, 535): Tschechische Schulen und Universitäten wurden geschlossen bzw. ihr Besuch untersagt, Schul- und Hochschulausbildung blieb nur noch in deutschsprachigen Institutionen möglich; Deutsch wurde als Arbeitssprache für Regierung und Verwaltung verordnet. So wurde die traditionelle Intoleranz der österreichisch-ungarischen antislawischen Sprachenpolitik weit in den Schatten gestellt und damit die Hauptursache geschaffen für die nationaltschechischen Reaktionen gegen die Deutschsprachigen seit 1945 (s. 6.4.3R). Q . Z u u n g u n s t e n der f r e m d s p r a c h i g e n M i n d e r h e i t verlief in K ä r n t e n der S p r a c h e n k a m p f , der n a c h E n d e des E r s t e n Weltkriegs im n ö r d l i c h s t e n R a n d g e b i e t des S l o w e n i s c h e n e n t b r a n n t e . F ü r den g r ö ß t e n Teil der Slowenen w u r d e der j a h r h u n d e r t e l a n g e M i n d e r h e i t e n s t a t u s in der H a b s b u r g e r m o n a r c h i e d u r c h die Z i e h u n g neuer S t a a t s g r e n z e n im Friedensvert r a g v o n 1 9 1 9 als Teil des n e u g e g r ü n d e t e n Königreichs der Serben, K r o a ten und S l o w e n e n (ab 1 9 2 9 J u g o s l a w i e n ) beendet. E i n e u n b e k a n n t e Z a h l v o n ihnen (unter 1 0 0 . 0 0 0 ) blieb aber d u r c h S p r a c h e n k a m p f u n d A b s t i m m u n g im d e u t s c h - s l o w e n i s c h e n M i s c h g e b i e t in südlichen Teilen K ä r n t e n s und der S t e i e r m a r k bei Ö s t e r r e i c h u n d m u ß bis heute u m seine s p r a c h lichen M i n d e r h e i t e n r e c h t e k ä m p f e n (G. Fischer 1 9 8 0 , 3 4 ff.; K r i z m a n , in: D o w / S t o l z 1 9 9 1 , 9 1 ff.): 1918 besetzten serbische Truppen auch das dt./slow. Mischgebiet an der Drau einschließlich Klagenfurt, was in Südkärnten und Südsteiermark eine militante, ζ. T. durch Freikorps aus Bayern unterstützte deutschnationale Widerstandsbewegung zur Folge hatte. Eine Volksabstimmung (1920) ergab, auch mit slowenischen Stimmen, 5 7 % für Österreich gegen das serbisch dominierte Königreich. Dieses Ergebnis war ζ. T. weniger sprachlich als politisch motiviert, da man dabei auch zwischen einer neuen Monarchie und der neuen österreichischen Republik zu wählen hatte. Wegen traditioneller sozialer Diskriminierung und deutschnationaler Propaganda, Repressalien und Gewalttätigkeiten versteckten viele Slowenen auch weiterhin ihre Sprache und ihr Nationalbewußtsein, so daß auch das Ergebnis von 1923 (37.000 Slowenen) zweifelhaft erschien und in einem internen sozialdemokratischen Briefwechsel von 1926 mit rund 80.000 Kärntner Slowenen gerechnet wurde (G.Fischer 1980, 41 ff.). Zur Rechtfertigung der oberschichtlichen deutschen Sprachdominanz wurde seit den 20er Jahren eine pseudowissenschaftliche, sozialdarwinistische Wmdiscben-Theonc propagiert (G.Fischer 1980, 39ff.): Das seit um 1800 verdrängte pejorative Wort windisch für ,slawisch' wurde wiederbelebt; die .deutschfreundlichen' Windischen in Südkärnten hätten ethnisch nichts mit den Jugoslawenfreundlichen' Slowenen zu tun, sondern seien Nachkommen der Wenden. In der nationalsozialistischen Zeit wurde
Q R : Slovenisch, Italienisch und Deutsch
159
die deutschnationale Bewegung Kärntens faschistisch expansiv. Der schon vor der deutschen Okkupation Jugoslawiens geforderte Anschluß der Oberkrain an Kärnten wurde im Krieg mit der Eingliederung Unterkärntens und der Untersteiermark (mit Sonderstatus) realisiert; mit der Forderung deutscher Einsprachigkeit innerhalb von 3 Jahren wurden 1942 über Tausend widerstehende Slowenen (auch aus dem ehem. österreichischen Minderheitengebiet) in Lager ausgesiedelt (G.Fischer 1980, 43 ff.). Andererseits wurden noch während des Zweiten Weltkrieges fast alle Deutschsprachigen aus Sprachinseln in Slowenien umgesiedelt (Gottschee, Laibach). R . D i e E n t w i c k l u n g in S ü d t i r o l b e r u h t a u f d e r s e h r u n t e r s c h i e d l i c h e n historischen R o l l e Italiens im E r s t e n und Z w e i t e n Weltkrieg und
auf
einer n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n S p r a c h e n p o l i t i k , die sich g e g e n ü b e r Italien a n d e r s v e r h i e l t als g e g e n ü b e r d e r T s c h e c h o s l o w a k e i . A u f g r u n d e i n e s g e heimen L o n d o n e r A b k o m m e n s beim Kriegseintritt Italiens (1916) wurde durch den Friedensvertrag Tirols,
von St. G e r m a i n
(1919)
südwärts von Brenner- und Reschenpaß,
der südliche
Teil
ohne Befragung
der
B e v ö l k e r u n g von Ö s t e r r e i c h an Italien a b g e t r e t e n ; zur nen sprachnationalistischen deutschsprachigen
vorangegange-
E n t w i c k l u n g s. 6 . 4 . 1 X ! D i e e t w a
250.000
Südtiroler gerieten, trotz des italienischen
vertrag-
l i c h e n V e r s p r e c h e n s k u l t u r e l l e r A u t o n o m i e , b a l d u n t e r die r e v a n c h i s t i sche und zentralistische
Sprachenpolitik
des italienischen
Faschismus
(G. Klein 1 9 8 8 ) : Z u g u n s t e n einer möglichst hochkulturellen, disziplinierenden Nationalsprache mit altrömisch-imperialer Symbolfunktion wurden Dialekte, J a r g o n s und M i n o r i t ä t e n s p r a c h e n grundsätzlich verachtet und b e k ä m p f t . S o w u r d e auch die deutsche S p r a c h e der südtirolischen M e h r h e i t d i s k r i m i n i e r t , z u r ü c k g e d r ä n g t u n d s c h l i e ß l i c h in Ö f f e n t l i c h k e i t u n d S c h u l e v e r b o t e n ( K l o s s , in: L G L 5 4 0 f . ; E g g e r 1 9 7 7 ; A m m o n 1 9 9 1 a , 7 1 ff.; 1 9 9 5 a, 4 0 5 ff.): Städte und industrie- oder verkehrswichtige Talschaften wurden durch planmäßige Ansiedlung regionfremder italienischer Bevölkerung stark italianisiert, so daß der italienischsprachige Anteil von etwa 8 % (1910) auf etwa 3 5 % anstieg, in der Stadt Bozen sogar auf vier Fünftel. Deutschsprachige Bevölkerung konnte sich aus jahrhundertealter Tradition vor allem in der Landwirtschaft und im Fremdenverkehrsgewerbe behaupten, besonders in höher gelegenen Alpentälern. Orts- und Familiennamen, sogar Grabinschriften mußten italianisiert werden. Der Zwang zum Gebrauch des Italienischen in Schule und Öffentlichkeit hat schon in den 30er Jahren die individuelle Zweisprachigkeit der Deutschsprachigen gefördert, während die Italienischsprachigen kaum Deutsch lernten und die Ladiner dreisprachig wurden. Der von Österreich und Deutschland her kulturell geförderte passive Widerstand der deutschsprachigen Südtiroler gegen die faschistische Entdeutschungspolitik wurde jedoch seit Hitlers Zweck- und Gesinnungsbündnis mit Mussolini hinterhältig boykottiert und hätte beinahe zum Untergang des Deutschen als Minderheitssprache in Italien geführt. Als Kaufpreis für Mussolinis Stillhalten in der Österreichkrise, für seine Mitwirkung bei der Sudetenland-Annexion und Tschechoslowakei-Besetzung und seine künftige Kriegsbeteiligung Schloß Hitler im Juni 1939 ein Geheimabkommen mit ihm, nach dem die deutschsprachigen Südtiroler sich zu entscheiden hatten zwischen deutscher
160
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5
Staatsangehörigkeit und Italianisierung. Was bei der Abstimmung von der großen Mehrheit der Betroffenen arglos als Rettung des Südtiroler Deutschtums aufgefaßt wurde, ist dann aufgrund des Geheimabkommens teilweise als Zwangsumsiedlung nach dem annektierten Österreich realisiert worden. Von dieser geplanten Maßnahme wurde allerdings nur im Kanaltal (an der östlichen Grenze Südtirols nach dem österreichischen Osttirol hin) radikal Gebrauch gemacht: 5.880 von 6.600 wurden umgesiedelt, aus dem eigentlichen Südtirol aber nur 70.000, von denen etwa 23.000 nach dem Ende des Faschismus ab 1943, als Südtirol faktisch als Teil Deutschlands behandelt wurde, zurückkehrten (Kühebacher 1972, 45). S. Bei den A u s l a n d s d e u t s c h e n
a u ß e r h a l b des geschlossenen
deut-
schen S p r a c h g e b i e t s g a b es in der Z w i s c h e n k r i e g s z e i t nur sehr w e n i g e Beispiele eines v o r ü b e r g e h e n d e n F o r t s c h r i t t s zur S p r a c h e n t o l e r a n z : In R u m ä n i e n erhielten die Siebenbürger Sachsen, trotz des Zwangs zur Zweisprachigkeit mit Rumänisch als Staats- und Schulsprache, eine kulturelle Sprachautonomie in Kirche und Schule, aber mit einer weitgehenden Überdachung der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten und Umgangssprache durch Rumänisch als Schriftsprache, besonders auf dem Lande, wo Hochdeutsch den meisten wie eine Fremdsprache war (Rein, in: Ureland 1979, 125 ff.). In der S o w j e t u n i o n wirkte sich die nationalrevolutionäre Autonomiebewegung seit 1917 zunächst teilweise gegen die zaristische Russifizierungspolitik aus, indem in zahlreichen lokalen Sowjeträten in der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, auf der Krim, im Altaj-Gebiet deutschsprachige Kulturautonomie praktiziert wurde, vor allem in der 1924 eingerichteten „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen" (mit der Hauptstadt Engels), die eine zentrale kulturelle Bedeutung auch für andere Rußlanddeutsche hatte (Jedig 1990; Domaschnew, in: Born/Stickel 1993, 252 ff.; Born/Dickgießer 1989, 185 f.). Aber schon mit dem Beginn der stalinistischen Kollektivierung der Landwirtschaft (1929) wurde dieser räterepublikanische Ansatz durch zentralistisch-ideologische Diktatur gefährdet, durch die Massendeportationen seit 1941 zerstört. Im Allgemeinen ü b e r w o g seit E n d e des E r s t e n Weltkriegs die antideutsche T e n d e n z als v e r s t ä r k t e F o r t s e t z u n g der im 1 9 . J h . einsetzenden nationalistischen M a g y a r i s i e r u n g s p o l i t i k in U n g a r n bzw. Russifizierungspolitik im zaristischen R u ß l a n d , w o D e u t s c h w ä h r e n d des Krieges verb o t e n w a r . D e r S p r a c h e n k a m p f w u r d e a u c h v o n d e u t s c h e r Seite angeheizt, b e s o n d e r s in Siebenbürgen, w o d e u t s c h n a t i o n a l e Kulturpolitik und S p r a c h p f l e g e bald g a n z unter den Einfluß v o n H i t l e r s N a t i o n a l s o z i a l i s t e n geriet. D a b e i w u r d e — parallel zur nationalsozialistischen
Unterdrük-
k u n g des Elsässischen und L e t z e b u r g i s c h e n — das Siebenbürger sisch
und der N a m e Sachsen
Säch-
im A m t s v e r k e h r und in der Presse v e r b o -
ten, so d a ß d e m H o c h d e u t s c h W i d e r s t r e b e n d e auf U m g a n g s s p r a c h e ausweichen m u ß t e n ( M u m m e r t 1 9 9 5 , 3 8 ) . — Inzwischen h a t t e die radikalste Phase
europäischer
Sprachenpolitik,
die
der
massenhaften
Flucht,
A u s s i e d l u n g und V e r t r e i b u n g , schrittweise b e g o n n e n : Seit 1920 wurde der größte Teil der Baltendeutschen aus den baltischen Ländern mittels Staatsverträgen umgesiedelt. In der Zwischenkriegszeit sind etwa eine halbe
161
ST: Auslandsdeutsche
Million Deutschsprachiger aus östlichen Nachbarländern abgewandert (Steger 1987 a, 155). Während des Zweiten Weltkrieges hat Himmler als Reichskommissar zur Festigung des deutschen Volkstums in Hitlers Auftrag, mit Euphemismen wie Volkstumspolitik, Heim ins Reich!, Rücksiedlung, Umvolkung knapp 1 Million Volksdeutsche aus dem tatsächlichen oder potentiellen Machtbereich der Sowjetunion umsiedeln lassen (Benz, in: Bade 1992, 374 ff.; Conze/Hentschel 1996, 270 f.; Steger 1987 a, 156ff.): aus dem Baltikum, aus Galizien, Wolhynien, Bessarabien, aus der Ukraine, Bukowina und Dobrudscha, aus Rumänien und Jugoslawien (zu Südtirol s. 6.4.2R!), teils freiwillig aufgrund der Wirkung von VDA-Propaganda, teils unter militärischem Zwang von SS-Sonderkommandos. Durch ihre völkerrechtswidrige Gleichstellung mit den Reichsdeutschen wurden die Volksdeutschen ideologisch und rechtlich aus ihren realen staatlichen Bindungen herausgerissen, ihrer generationenlang gewohnten Heimat beraubt. Diese somit entwurzelten, meist bäuerlichen Opfer des Sprachimperialismus erhielten nach Himmlers Generalplan Ost Wohnsitz und Land (teils auch nur in Lagern) vor allem in den 1939 eroberten Westgebieten Polens (Danzig-Westpreußen, Wartheland, Ostoberschlesien), wo für sie — zwecks Verschiebung der Volkstumsgrenze des künftigen Germanischen Reiches nach Osten — durch Vertreibung von über 1 Million Polen nach dem restpolnischen Generalgouvernement Platz geschaffen wurde. Von ihrer provisorischen Umsiedlungsheimat mußten diese Volksdeutschen (zusammen mit zahlreichen dort ebenfalls nach NS-Prinzipien angesiedelten Reichsdeutschen) 1945 wieder fliehen. — Ein ideologisch-pseudowissenschaftliches Pendant zu Himmlers Volkstumspolitik ist die detaillierte Formulierung der menschenverachtenden Ziele des nationalsozialistisch brutalisierten deutschen Sprachimperialismus in den Forderungen des Sprachwissenschaftlers Georg SchmidtRohr für die sprach(en)politischen Aufgaben eines zu gründenden Geheimen politischen Sprachamtes (abgedruckt bei G. Simon 1979, 180 ff.): vor allem gegen „Scheinvölker wie Polen, Tschechen und Litauer", über „volkstumspolitische Aufgaben im Bereich der vorbedenkenden militärischen Planung", zur „Stärkung der eigensprachlichen" und „Schwächung der feindsprachlichen Position". — Ein zu den Hitler/ Himmlerschen Aktionen komplementärer Vorgang war seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (1941) S t a l i n s Deportation von mehr als der Hälfte der Sowjetbürger deutscher Nationalität in asiatische Teile der UdSSR, wo sie systematisch verstreut und als Faschisten geächtet stark russifiziert wurden (s. 6.4.3V).
T . In K a n a d a u n d d e n U S A w u r d e d a s D e u t s c h d e r E i n w a n d e r e r u n d ihrer N a c h k o m m e n seit d e m E r s t e n W e l t k r i e g , v e r s t ä r k t in d e r N S - Z e i t , in Ö f f e n t l i c h k e i t u n d S c h u l e d u r c h V e r b o t e u n d a n t i d e u t s c h e E i n s t e l l u n g s t a r k z u r ü c k g e d r ä n g t . N e u e i n w a n d e r e r w u r d e n in den 2 0 e r u n d
30er
J a h r e n n u r b e s c h r ä n k t z u g e l a s s e n . Sie assimilierten sich relativ schnell, w e n i g e r die z a h l r e i c h e n religiösen G r u p p e n , die a u s O s t - u n d S ü d o s t e u r o p a k a m e n ( v o r a l l e m M e n n o n i t e n ) . In d e r Z e i t d e r n a t i o n a l s o z i a l i stischen J u d e n v e r f o l g u n g w a n d e r t e n r u n d 1 3 2 . 0 0 0 j ü d i s c h e D e u t s c h e / Ö s t e r r e i c h e r u n d a n d e r e p o l i t i s c h e E m i g r a n t e n in die U S A ein, e b e n s o in mittel- u n d s ü d a m e r i k a n i s c h e S t a a t e n , w o h i n ζ. T. a u c h r u ß l a n d d e u t s c h e religiöse G r u p p e n a u s K a n a d a u n d U S A w e i t e r z o g e n 1989; C. Brandt 1992; Moelleken 1993). -
(Born/Dickgießer
Antideutsche Sprachverdrän-
g u n g w i r k t e seit d e m E r s t e n W e l t k r i e g a u c h in A u s t r a l i e n ,
ab
1938
162
6.4.2. Sprachminderheiten, 1 9 1 9 - 1 9 4 5 , U: Jiddisch
ebenfalls Z u f l u c h t s l a n d für p o l i t i s c h V e r f o l g t e a u s Ö s t e r r e i c h u n d d e m S u d e t e n l a n d ( C l y n e , in: B e r e n d / M a t t h e i e r 1 9 9 4 ,
108; Born/Dickgießer
1 9 8 9 , 2 7 f f . ) . — Z u N a c h w i r k u n g e n eines , K o l o n i a l d e u t s c h ' als „PidginD e u t s c h " im Pazifik s. M ü h l h ä u s l e r 1 9 7 7 ; 1 9 7 9 ; 1 9 8 0 ! -
Z u Südwest-
a f r i k a s. 6 . 4 . 3 W ! U . D i e 1 9 2 0 e r J a h r e w a r e n s e h r w i d e r s p r ü c h l i c h in B e z u g a u f d a s Verhältnis zwischen dem J i d d i s c h e n
u n d den j ü d i s c h e n bzw.
nichtjüdi-
s c h e n D e u t s c h e n : A u f d e r einen Seite w u r d e d a s J i d d i s c h e als e i g e n s t ä n dige o s t e u r o p ä i s c h e u n d i n t e r n a t i o n a l e S p r a c h k u l t u r s t ä r k e r b e w u ß t , für m a n c h e s o g a r v e r e i n b a r m i t d e r n e u e n p o l i t i s c h e n R i c h t u n g d e r einen eigenen j ü d i s c h e n S t a a t in P a l ä s t i n a a n s t r e b e n d e n z i o n i s t i s c h e n
Bewe-
g u n g , a u f d e r a n d e r e n h a t t e sich die völlige n a t i o n a l e I n t e g r a t i o n d e r meisten
längst
assimilierten
Deutschen
jüdischer
Herkunft
im
Krieg
b e s t ä t i g t . A n s t a t t d a r a u s r e a l i s t i s c h e r e U n t e r s c h e i d u n g e n in B e z u g nationale
Zuordnung
Deutschland
in
der
von
Menschengruppen
Hysterie
der
zu lernen,
unbewältigten,
nicht
hat
man
auf in
akzeptierten
K r i e g s n i e d e r l a g e bei d e r S ü n d e n b o c k s u c h e d e n a l t e n , p a u s c h a l e n A n t i semitismus weiterbetrieben und verschärft. Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieb Deutschland trotz starker Wanderungsbewegungen osteuropäischer Juden nur ein Transitland (Blank, in: Bade 1992, 326ff.): 1925 gab es knapp 108.000 nichtassimilierte Juden (Ostjuden) in Deutschland, 1933 nur 98.000. Anfang der 20er Jahre stand Deutschland in der jiddischen Buchproduktion an zweiter Stelle; jiddisches Theater, Kabarett und Leseabende hatten großen Erfolg. Deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft entdeckten das gesprochene Jiddische als gelegentliches literarisches Stilmittel und Identitätssymbol, ζ. B. Wolfskehl, Kafka, Kisch, Roth, Döblin (Althaus 1988; 1993, 45, 87 ff.). 1925 wurde das Jiddische Wissenschaftliche Institut gegründet, das im Zweiten Weltkrieg von Wilna (Litauen) nach New York verlegt werden mußte. Zahlreiche jiddische Literaturwerke wurden in den 20er Jahren ins Deutsche übersetzt. Trotz des relativ geringen Bevölkerungsanteils nichtassimilierter Juden wurde ab 1920, besonders in Preußen, der Antisemitismus agitatorisch und administrativ radikalisiert: Bereits von 1921 bis 1923 gab es für Massenabschiebungen nichtdeutscher Juden zwei Lager in Cottbus und Stargard, Konzentrationslager genannt, in denen Insassen von Wachmannschaften körperlich mißhandelt wurden. Selbst liberale und linke Repräsentanten scheuten sich vor rechtsradikaler Bloßstellung wegen Ostjudenbegünstigung (Blank, a. a. O., 328). So ist ein beträchtlicher Teil der in Antisemitismus erfahreneren Ostjuden schon während der Weltwirtschaftskrise vor Beginn der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Frankreich, Belgien oder USA weitergewandert. Vor dem Holocaust gab es in der Welt rund 12 Millionen Jiddischsprecher (Landmann 1962/65, 58), das waren etwa zwei Drittel aller Juden, davon mehr als 2 Millionen allein in Polen; Westjiddisch gab es nur noch in geringen Resten, ζ. B. im Elsaß und in Amsterdam (Beranek, in: DPhA 1, 1978 ff.). Von den etwa 550.000 jüdischen Deutschen (1933) haben die meisten das Jiddische erst in den Konzentrationslagern kennengelernt. Zur antisemitischen Personennamen-Stigmatisierung s. 6.16M! — Zur Bedeutung des Jiddischen in der Nachkriegszeit s. 6.4.3Y!
163 6.4.3 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs A. Nachdem die fragwürdige Versailler Lösung des mitteleuropäischen Problems verfehlter deutscher und österreichischer Sprachenpolitik zu neuen sprachenpolitischen Spannungen geführt hatte, vom nationalsozialistischen Regime gewaltsam rückgängig gemacht und durch einen menschenverachtenden Sprach- und Rassenimperialismus ersetzt worden ist, sahen sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, vor allem auf Betreiben Stalins zu einer in ihren Ausmaßen völlig neuartigen Totalreduzierung des deutschen Sprachgebiets im Osten veranlaßt: Ein rundes Viertel des deutschen Staatsgebietes (vor 1938) wurde an Polen bzw. die Sowjetunion abgetreten, das Sudetenland an die Tschechoslowakei zurückgegeben, mit der Folge der Flucht, Ausweisung und Vertreibung von rund 12 Millionen Deutschen bzw. Deutschsprachigen auch aus jahrhundertelang deutschsprachigen Gebieten bzw. Gemeinden. Volksabstimmungen der 1919/20 teilweise praktizierten Art wurden diesmal gar nicht in Erwägung gezogen. Gegenüber diesen politischen Straf- und Vergeltungsmaßnahmen ist es als sprachenpolitischer Fortschritt zu werten, daß in einigen regional begrenzten Fällen in der Nachkriegszeit Lösungen sprachenpolitischer Probleme gefunden und praktiziert werden konnten, die endlich mehr oder weniger an den berechtigten Interessen der Sprachbevölkerungen orientiert sind: Luxemburg (6.4.3FG), Ost-Belgien (6.4.3HI), Nord- und Südschleswig (6.4.3LM), sorbischer Teil der Lausitz (6.4.3NO), Südtirol (6.4.3T). Ein Stück Normalisierung bedeutet auch das neue intellektuelle Verhältnis Deutschsprachiger zum Jiddischen (6.4.3V). Eine wirksame Abkehr vom deutschen Sprachimperialismus bedeutet weniger die ängstliche Tabuisierung oder Marginalisierung des Themas Auslandsdeutschtum (s. 6.4.3VW) in der Nachkriegszeit als vielmehr die Tatsache, daß bei der zunehmenden Wiederbeschäftigung mit diesem brisanten sprachpolitischen Bereich, besonders seit den späten 70er Jahren, mit mehr soziolinguistischem Interesse zur Kenntnis genommen worden ist, daß Zwei- oder Dreisprachigkeit, auch auf Kosten der deutschen Sprachkompetenz, und ihr Endstadium, der Sprachwechsel, seit langem bei den Auslandsdeutschen weit vorangeschritten sind und keineswegs mehr als zu beklagendes oder zu korrigierendes Unglück zu bewerten sind, sondern als ganz normale, die individuellen sozialen Chancen der betroffenen Individuen als Staatsbürger moderner, postnationalistischer Staaten fördernde Entwicklungen. So haben der westliche staatsbezogene Nationsbegriff und die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit für Bildung, Völkerverständigung und übernationale Kooperation auch im Denken der Deutschsprachigen endlich mehr R a u m gewonnen (vgl. Ammon 1991 a,
164
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
85 ff.). — Weitgehend ungelöst bleiben jedoch die Probleme der neuen Sprachminderheiten aus Arbeitsimmigration und Asylsuche (s. 6.4.3Z). B. In der Nachkriegszeit verstärkte sich in der S c h w e i z weiterhin die Tendenz zum Abbau sprachenpolitischer Spannungen und Unausgeglichenheiten und zur Distanzierung von Dominanzansprüchen des ehemaligen Reicbsdeutsch, an dessen Stelle nun die bundesdeutsche Varietät mit ihrem Duden-Kodifizierungsmonopol getreten ist (s. 6.1 IE). Die zunehmende Dialektisierung des öffentlichen Lebens der Deutschschweizer — als verstärkte Z u m u t u n g an die f r a n k o p h o n e n Westschweizer, Schwyzertütsch statt Hochdeutsch zu verstehen — wirkte sich nachteilig auf deren Lernbereitschaft für Deutsch aus (Kolde 1986 a, 134ff.): Die Romands reagierten vielfach mit Spott, Nichtverstehen oder Kontaktverweigerung. Seit 1959 w a n d t e sich der Mouvement populaire romand sprachpatriotisch gegen Deutsch als obligatorische zweite Landessprache in der Schule, vor allem in den 70er und 80er Jahren, als stärker Schweizerdeutsch orientierte Lehrbücher und audiovisuelle Lehrmittel für den Deutschunterricht eingeführt wurden. Sozialökonomischer Widerstand der Westschweizer gegen die ökonomische D o m i n a n z des mittelländischen Industrie- und Bankenzentrums um Zürich k a m hinzu, ebenso eine alte f r a n k o p h o n e Kulturideologie der Ablehnung des Bilinguismus überhaupt. Die zunehmende Tendenz zu freier Wahl des Fremdsprachenunterrichts k a m natürlich vor allem dem Englischen zugute, das leichter, spielerischer gelehrt wird und sprachenpolitisch unbelasteter ist als Deutsch und Französisch, so daß man es schon spöttisch als „heimliche f ü n f t e Landessprache" bezeichnet hat. Tatsächlich wird in letzter Zeit Englisch auch im praktischen Verkehr zwischen den schweizerischen Sprachgruppen immer mehr als Lingua franca verwendet, statt eines schlechten Schweizerdeutsch bzw. Französisch und statt des unerwünschten Hochdeutsch (Kolde 1986 a, 140; H a u c k und Dürrmüller, in: Born/Stickel 1992, 161, 172ff.; W.Koller 1986), auch m a n c h m a l schon zwischen Deutschschweizern u n d Bundesdeutschen zu deren Erstaunen. Vgl. 6.11W!
C. Das ansonsten stabile Verhältnis zwischen den Sprachterritorien der Schweiz mußte nach sprachenpolitischen Spannungen im Nordwesten politisch-administrativ korrigiert werden, indem 1979 der f r a n k o p h o n e Kanton Jura durch Volksabstimmung vom Kanton Bern getrennt wurde. — Der sozialökonomisch bedingte weitere Rückgang des B ü n d n e r r o m a n i s c h e n weckt offenbar das „ethnopolitische Gewissen" der Schweiz (Viletta 1984): 1964 hat die Eidgenossenschaft Romanisch für Publikationen ihrer Amtsstellen zugelassen. Es gibt zwar viele romanische Buchpublikationen, aber noch zu wenig R o m a nisch als Unterrichtssprache, keine Gymnasien, kein Lehrerseminar, keine Zeitung, nur wenige Radiosendungen in Romanisch (Willi/Solèr 1990, 457; Marti 1990, 69). Der bisherigen schriftdialektalen Zersplitterung soll die seit 1982 wissenschaftlich entwickelte überregionale Standardschriftsprache Rumänisch Grischun (mit G r a m matik und Wörterbuch) abhelfen. Trotz Tolerierung der anderen b ü n d n e r r o m a n i -
Β—D: Schweiz, Elsaß, O s t - L o t h r i n g e n
165
sehen Schriftsprachen u n d Dialekte wird sie bisher m e h r von Behörden u n d von der W i r t s c h a f t s w e r b u n g als von der S p r a c h b e v ö l k e r u n g selbst akzeptiert (Marti 1990, 64). Auch die nach d e m schweizersprachlichen Territorialprinzip erforderliche e x a k t e Festlegung des r o m a n i s c h e n Sprachgebiets ist wegen zu komplizierter Mischungsverhältnisse noch i m m e r nicht z u s t a n d e g e k o m m e n . Die A n e r k e n n u n g des B ü n d n e r r o m a nischen als National-/Landessprache impliziert noch nicht die als Amtssprache auf Bundesebene. Auch auf K a n t o n s e b e n e sind nach wie vor amtssprachliche Rechte des R o m a n i s c h e n nicht realisiert (Viletta 1984).
D. Im 1945 zum zweiten Mal zu Frankreich zurückgekehrten E l s a ß (Alsace) und O s t - L o t h r i n g e n (Lorraine thioise) hatte die Rückdeutschungs- und Entwelscbungs-Politik genau das Gegenteil der beabsichtigten Ziele erreicht (Hartweg, in: BRS 1967ff.): Anfangs Tiefstand der Schulbildung und „diffuses kollektives Schuldempfinden", von daher endgültige innere Abkehr vom ,Deutschtums'-Bewußtsein und ,Kulturnation'-Begriff, „gestärkter Wille der Zugehörigkeit zum französischen Staatsvolk", „eindeutig dominante Position" des Französischen, auch im Zusammenhang mit sozialem Aufstiegsbewußtsein. Dies alles bedeutete die ideologische Beendigung des generationenlangen Sprachenkampfes, aber auch den bald zu erwartenden Untergang elsässerdeutscher Sprachkultur (Dobrinski 1987). Bei Jüngeren unter 40 ist das Ziel der französischen Sprachpolitik erreicht: Französisch als ,Muttersprache' fürs Denken und fürs Gesellschaftliche; Elsässisch und Lothringerfränkisch als nicht mehr zum Deutschen gehörig empfundenes, sprachstrukturell und -kulturell verfallendes Regional-paio/s für nur noch sehr begrenzte Zwecke; Deutsch nur noch als Fremdsprache. Der dachlos gewordene Dialekt verkümmert in „doppelter Halbsprachigkeit" (Hartweg) und gilt durch meist nur noch passive Beherrschung bei Schulkindern (Dobrinski 1987, 4) und zunehmenden Übergang zur einsprachigen Frankophonie als in seiner künftigen Existenz gefährdet. Einzelheiten nach H a r t w e g , a. a. O . u n d D o b r i n s k i 1987: D e u t s c h u n t e r r i c h t w u r d e seit 1945 auf ein F r e m d s p r a c h f a c h in Sekundärschulen b e s c h r ä n k t . Seit den 70er J a h ren ist Deutsch in den letzten Volksschulklassen wieder freiwillig zugelassen, aber mit geringer W i r k u n g , da es an k o m p e t e n t e n u n d zu Zusatzleistungen bereiten Lehrern fehlt. In Z e i t u n g e n w a r e n von 1945 bis 1984 Texte f ü r Werbung, Sport u n d J u g e n d u n t e r h a l t u n g nur auf Französisch zugelassen. Z a h l u n d A u f l a g e n h ö h e zweisprachiger Z e i t u n g e n gingen seit 1970 stark zurück; es gibt k a u m m e h r zweisprachige J o u r n a l i sten. Von einem Drittel der Bevölkerung w e r d e n noch sprachlich weniger anspruchsvolle deutsche Texte aus Illustrierten, S p o r t r e p o r t a g e n , U n t e r h a l t u n g , auch in H ö r f u n k · u n d Fernsehsendungen rezipiert. Die katholische Kirche ist fast ganz zum Französischen übergegangen, die protestantische hält noch in 5 — 1 0 % der L a n d g e m e i n d e n Gottesdienste auf Deutsch oder zweisprachig, in der Stadt deutsche f ü r Ältere, f r a n z ö sische f ü r Jüngere. D a s Deutsch in den M e d i e n u n d im aktiven G e b r a u c h Älterer ist ζ. T. veraltet, regional und f e h l e r h a f t (Becker-Dombrowski, in: Ureland 1981, 158 ff.). Deutsch oder Regionalsprache sind vor Gericht n o c h b e s c h r ä n k t zugelassen. Deutsch hat so gut wie keine öffentliche F u n k t i o n mehr.
166
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
E. Den Dialekt (langue régional/Alsacien/Elsässisch/Elsässerditsch bzw. Lorrain germanophone/Francique/Fränkisch/Platt) versucht man neuerdings in intellektuellen basisdemokratisch-ökopolitischen Initiativen (z. B. René-Schickele-Kreis) im Rahmen des neuen europäischen Regionalismus vom Verruf als patois oder als ,Sprache der Okkupation' oder ,des Feindes' zu rehabilitieren und wiederzubeleben in Vorschule, Volksschule und regionalkultureller Abschlußprüfung von Sekundärschulen, in Dialektliteratur, -theater und -kabarett. Dialektsprechen hat im Alltagsleben noch gewisse Restfunktionen in Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, nur noch wenig am städtischen Arbeitsplatz. Es steht in Konkurrenz (nicht mehr komplementärer Domänenverteilung) mit Französisch, mit starken Interferenzen und Transferenzen vom Französischen her (in der Stadt mehr als Code-switching). Dies hat zur Folge: „lexikalische Erosion und Heteronymieschwund", defizitäre Ausdrucksfähigkeit; Elsässisch ist also vielfach, besonders in der Stadt, nicht mehr Primärsprache/Muttersprache (Hartweg, a. a. O.; vgl. auch Ladin 1982). Es herrscht ein „Drei-Generationen-Modell" (Hartweg): Großeltern zweisprachig mit Dialektdominanz, Eltern zweisprachig mit Französischdominanz, Kinder mit nur noch passiver Dialektkompetenz, und eine „gespaltene Kommunikationspraxis": Ehepartner sprechen unter sich Dialekt, mit den Kindern aufstiegsorientiert Französisch (besonders Frauen). In immer mehr Domänen dominiert Französisch, sogar in der Vorschule (école maternelle) und als Koiné zwischen Dialektsprechern aus entfernten Gegenden. Die heutige Jugend wird später das Elsässische wohl nicht mehr an ihre Kinder weitergeben. In Straßburg sprechen etwa 8 0 % „(fast) immer" Französisch. Der Prozentsatz für „nur Französisch" ist von 1946 bis 1979 im Elsaß von 5,2 auf 23 — 27 gestiegen. Für 1982 werden ca. 1,2 Mill. Elsässer und Lothringer mit zumindest passiven Deutschkenntnissen angegeben (Born/Dickgießer 1985, 15; Ammon 1991a, 92 f.). — Infolge der fehlenden Hochdeutsch-Überdachung und fehlenden Umgangssprachschicht verstärken sich seit 1945 die Unterschiede zwischen dem zunehmend archaischen, lexikalisch stärker französisierten Elsässisch und den rechtsrheinisch benachbarten badischen Dialekten (Klausmann, in: Kremer/Niebaum 1990, 193 ff.). — Mundartabbau und Sprachwechsel zu französischer Einsprachigkeit bei Jüngeren scheinen im Ostlothringischen noch weiter vorangeschritten zu sein, ohne Mundartliteratur, ohne Geschlechtsdifferenz, so daß die Staatsgrenze innerhalb weniger Generationen mit der französisch-deutschen Sprachgrenze identisch werden dürfte (Hoffmeister 1977; J. P. Hoffmann 1990). — Zu Protestbewegungen für echte Zweisprachigkeit s. Carola Becker-Dombrowski, in: Ureland 1981, 155 ff.; Sperling 1997, 241 f. Obwohl (oder: gerade weil) die intolerante deutsche und französische Sprachenpolitik die Entwicklung eines echten Bilinguismus im Elsaß und in Ostlothringen verhindert hat, wird heute die Chance einer Mittlerfunktion dieser französischen Grenzländer für die kulturpolitische Förderung einer „Bilingua-Zone" im Rahmen eines Euregio-Programms lebhaft diskutiert in Bezug auf Vor- und Nachteile des beiderseits der Staatsgrenze sehr unterschiedlichen Verhältnisses zwischen Dialekten und Standardsprachen (Pelz 1989; J. P. Hoffmann 1990; Harnisch 1990; Weckmann 1991 ab; Bufe 1991). — Zu Sprachkontakten zwischen elsässer und badischen Jugendlichen s. Bister-Broosen 1997.
167
FG: Luxemburg
F. In L u x e m b u r g wurden seit 1945 die Konsequenzen aus der Bewährung des Letzeburgischen als nationales Widerstands- und Solidaritätssymbol gezogen (F. Hoffmann 1979, 36 ff.): Seine öffentlichen und schriftsprachlichen Funktionen galt es zu festigen und auszuweiten, zumal bis dahin fast nur Schriftsteller und Lehrer Interesse, Fähigkeit und Routine im Schreiben des Nationaldialekts hatten. In den ersten Monaten nach Ende der deutschen Besetzung wurde Deutsch aus öffentlichen Funktionen durch Französisch und Letzeburgisch verdrängt, aus dem mündlichen Verkehr verschwand es zunächst fast ganz. Letzeburgisch nahm vor allem im Parlament, im Schulunterricht (2 Unterklassen höherer Schulen), in Zeitungen und im Rundfunk zu. In der Verfassung von 1948 erhielt es den Status der Nationalsprache, mußte aber in Gesetzestexten und hochoffiziellen Texten noch stark hinter Französisch zurückstehen. Die Kirche ließ Letzeburgisch nur zögernd teilweise neben Deutsch zu. Deutsch erhielt in den ruhigeren 60er Jahren allmählich wieder seinen traditionellen Status als erste Schreiblernsprache in der Volksschule, teilweise in Zeitungen und in der Literatur. Die zu wenig intensive Beschäftigung mit Letzeburgisch im Volksschulunterricht ist öfters kritisiert worden. Erst im Sprachengesetz von 1984 wurde ,,/e luxembourgeois" nicht nur als Nationalsprache bestätigt, sondern auch als gleichberechtigte dritte Amts- und Gerichtssprache zugelassen, und zwar „sans préju-
dice des dispositions
spéciales
concernant
certaines matières",
wobei
amtliche Antworten möglichst in der Sprache des Antrags zu formulieren seien. Durch eine neue letzeburgische Literaturblüte seit 1970 wurde das Interesse an der nationalen Sprachkultur neu belebt (Scheidweiler 1988, 242). Für die längst fällige gesetzliche Regelung hat sich nach dem Krieg vor allem die Organisation ehemaliger Kriegsteilnehmer (Enrôlés de Force) eingesetzt; die Muttersprache war in Krieg und Gefangenschaft das letzte patriotische Refugium dieser in deutsche Uniformen gezwungenen jungen Luxemburger. Sehr einflußreich war dann die 1971 gegründete „Aktioun Lëtzebuergesch", die mit ihrer Zeitschrift „Eis Sproocb" und mit Textvorlagen für private Zeitungsanzeigen wirksame Anstöße gegeben hat (Clyne 1995 a, 51; F. Hoffmann, in: Goudailler 1987, 166f.). Die 1946 eingeführte strenger phonetische Orthographie erwies sich eher als Hindernis für eine Popularisierung des Letzeburgisch-Schreibens. Einen großen Fortschritt in der Kodifizierung und Standardisierung bedeutete das fünfbändige „Luxemburger Wörterbuch" (1950—77), das auch regionale Varianten (einschließlich des belgischen Randgebiets um Arel/Arlon) berücksichtigt und historische Erklärungen gibt. 1977 wurde eine gemäßigtere reformierte Orthographie eingeführt, die sich besser bewährt hat wegen weitgehender Anlehnung an gewohnte französische und deutsche Schreibweisen sowie diakritische Zeichen und Sondergraphien für eigentümlich Letzeburgisches. Insgesamt ist die Entwicklung bei der nationalen Identifizierungssprache Letzeburgisch progressiv, bei dem hochkulturell und hochoffiziell obligatorischen Französischen konstant, beim fast nur schriftsprachlich domänenspezifischen Deutschen regressiv (Berg 1993, 82). Der leichte Rückgang des Französischen zugunsten des
168
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
Letzeburgischen in immer mehr Domänen (außer Gesetzestexten), vor allem sprechsprachlich, auch in der Normbeherrschung, wird seit etwa 30 Jahren auf tieferem Niveau kompensiert durch alltagssprachliche Frankophonie der fast 3 0 % luxemburgischer Ausländer, von denen die meisten aus romanischsprachigen Ländern stammen und kaum Letzeburgisch lernen. Zu den etwa 7 5 % der Bevölkerung (ca. 400.000) mit Letzeburgisch als Erstsprache kommen 4 , 8 % mit Französisch, ca. 15% mit anderen romanischen Sprachen hinzu, von denen aber 2 8 % im Verwandten- und Freundeskreis teilweise Französisch sprechen, am Arbeitsplatz (vor allem städtisches Geschäftsleben, Restaurants) 12,1% ausschließlich Französisch sprechen, 17,2% schreiben (N.Weber 1994, 138ff.). 1992 waren in der überwiegend deutschsprachigen Tageszeitung „Luxemburger Wort" 1977 Anzeigen letzeburgisch, 616 französisch, 18 deutsch, wobei das Französische bei Todesanzeigen häufiger ist (N. Weber 1994, 150).
G. Die besondere Art von Trilinguismus und Triglossie sowie das Verhältnis zwischen Sprache und Dialekt ist bei der luxemburgischen Dreisprachigkeit sehr kompliziert (Clyne 1994b, 265 ff.): Französisch und Deutsch stellten als Lese- (und Schreib-)Varietäten die beiden b i g b - l a n g u a g e s in komplementärer Funktion dar, Französisch mehr für O berund Mittelschicht (so in höherer Schule, Geschäftsbriefen, privaten Zeitungsanzeigen), während die eigentliche Sprech-Varietät Letzeburgisch die Sprache für interaktive Funktionen und nationale Identifizierung sei. Diese „Diglossie mit Dreisprachigkeit" sei mehr nach soziopragmatischen Funktionen als nach Domänen organisiert.
öffentlich
Bereich
halböffentlich
privat
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Familie, Freundeskreis
Freizeit
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Militär
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Sprechsprachliche und schriftsprachliche Verwendung von Lëtzebuergesch, Französisch und Deutsch nach Sprachverhaltensdomänen m = mündlich s = schriftlich In der hier weggelassenen Spalte „Kulturproduktion" sind alle Felder mit X versehen, (n. Berg 1993, 83)
FG: Luxemburg
169
Vor Konsequenzen des Sprachengesetzes von 1984, die das bisherige komplementäre Verhältnis der drei Sprachen Luxemburgs stören könnten, warnt Fernand H o f f m a n n (in: Ammon u . a . 1987, 1334ff.; 1988a): Die konsequente Realisierung des unbedingte Gleichstellung herstellenden Gesetzes würde für das Letzeburgische einen höheren Grad an Normierung und Kodifizierung, mehr und strenger standardsprachlichen Schreib- und Leseunterricht erfordern, was aber auf lokalpatriotischen Widerstand stoßen und das komplementär-funktionale Verhältnis zu Französisch und Deutsch mit noch stärkeren gegenseitigen Interferenzen belasten oder bis zu seiner Auflösung verändern würde (s. auch Clyne 1994a, 267f.). Lëtzebuergesch ist eine Koiné (überörtliche Regionalumgangssprache) vor allem nach dem Dialekt des Alzette-Tales in und bei Luxemburg. Sein Verständlichkeitsgrad für Deutsche (sofern sie nicht aus dem benachbarten deutschen Mosel- und Eifelgebiet stammen) ist etwa zwischen Schwyzertütsch und Niederländisch anzusiedeln. Hier eine kleine Textprobe vom Anfang einer letzeburgischen lokalpolitischen Festansprache eines Abgeordneten des Kantons Vianden vom 11.4.1965 (aus: Vie Abens, Rieden op Lëtzebuergesch. Lëtzebuerg 1982, S. 11): Altesses Royales, Hèr Président vuan der Chamber, Excellenzen, Dir Dämmen an dir Hèren, Le'if Matbiérger vam Veiner Kanton, «Il n'y a ni belges, ni français ... Il y a les Etats-Unis d'Europe ...Je serai demain à Vianden ...» De'i poor Seetz de'i ech elo zitiert boon, stinn an em Bre'if vuam 5. Juni 1870 dèn èn vuan de bekanntesten a populärsten Lett aus dem 19ten Joorhonnert uan e Frend gericht hoot. Dè Mann, dèn an ¡"Weltliteratur agangen ass, dè fir se'int Land a stirmischer Ze'it de Symbol vuan der Freihèt verkiérpert hoot, war de Victor Hugo. De bere'imtesten an freisten Frend dè Veinen jé bât an dèm mir et ze verdanken boon, datt e'ist Veinen fir de'i Leit, de Verstästemich fir t'Literatur hoon, e Begreff ass. [...] Das luxemburgische Standarddeutsch ist von zahlreichen Interferenzen und Lehnwörtern französischer Herkunft und anderen Besonderheiten gekennzeichnet: z. B. Militär ,Soldat', Television ,Fernseher', Camion ,Lastkraftwagen', Athenäum/Lyceum Gymnasium', der Jury, Nachtstisch, Sportskritik, ... (s. Magenau 1964; F. H o f f m a n n 1969; 1979, 134ff.; N . W e b e r 1994, 156ff.; Ammon 1995a, 398ff.; Clyne 1995a, 56f.). Z u m wachsenden lexikalischen Einfluß im Letzeburgischen auch vom Deutschen her (neben Französisch und Englisch), vor allem durch Massenmedien, Reisen, Pendlerverkehr, Europapolitik, Computertechnik usw. s. Scheidweiler 1988, 245 ff.; N. Weber 1994, 146 ff., 157 ff.
H . In O s t - B e l g i e n hatte die deutsche Annexionspolitik nach Kriegsende zunächst eine weitgehende Verdrängung des Deutschen aus Öffentlichkeit und Schule zur Folge, eine Tabuisierung des Sprachenpoblems überhaupt bis in die 70er Jahre und eine Tendenz zur freiwilligen, politisch motivierten H i n w e n d u n g zum Französischen als Symbol für die Loyalität zum belgischen Staat (Pabst 1995, 59 f.). O b w o h l die politisch belasteten deutschen Bezeichnungen Alt- und Neubelgien von der Sprachbevölkerung selbst als überholte Symbole für unterschiedliche belgische Staatsloyalität heute mit Recht meist gemieden oder abgelehnt werden (Born/Dickgießer 1989, 39ff.), sind sie in der Forschungsliteratur (z. B. Neide 1979 ab; Neide, in: Oksaar 1984, 167 ff.; Cajot 1989) als hilfreiche sprachhistorische Oberbegriffe z. T. noch in Gebrauch für zwei
170
6 . 4 . 3 . Sprachminderheiten, seit 1 9 4 5
unterschiedliche Arten deutschsprachiger Minderheiten in Ost-Belgien, deren sprachenrechtlicher Unterschied sich in der letzten Zeit sogar noch verstärkt hat. Während in den ,neubelgischen' Gebieten um Eupen und St. Vith seit 1963 der Weg zu einer weitgehenden Autonomie der offiziell anerkannten „Deutschsprachigen Gemeinschaft" möglich wurde, ging in den ,altbelgischen' Gebieten Montzener Land, Bocholzer Ecke und Areler Land (Born/Dickgießer 1989, 39 ff.) die Deutschsprachigkeit sehr zurück, noch stärker als im Elsaß, bis zu einer von deutscher Standardsprache nicht mehr überdachten asymmetrischen Diglossie von Dialekten kontinentalwestgermanischer Herkunft und Französisch als Öffentlichkeitssprache im weitesten Sinne (Neide, in: Oksaar 1984, 167 ff.; Kern, in: Jongen u . a . 1983, 7 0 f f . ; Trim, ebda 1 5 6 f f . ; Eisermann/Zeh 1979, 124; Quix, in: Ureland 1981, 2 2 5 ff.): Von den ca. 7 5 . 0 0 0 Einwohnern der , a l t b e l g i s c h e n ' Gebiete sind heute zwischen 5 0 und 7 0 % noch als dialektal-germanophon einzuschätzen. Nur eine Minderheit von Älteren beherrscht Standarddeutsch noch etwas, meist nur passiv. Als lokales Identitätssymbol in Familie, Nachbarschaft und ländlichem Gemeindeleben spielt Dialektsprechen noch eine Rolle, aber im Unterschied zu ,Neubelgien' ohne Beziehung zu deutscher Standardsprache und mit völliger „sprachjuristischer Abstinenz" (Neide). Dialektsprecher aus dem (moselfränkischen) Gebiet um Arlon können sich mit solchen aus dem (niederfränkisch/ripuarischen) Dialektgebiet des Montzener Landes meist nur auf Französisch verständigen. Auch gegenüber den Deutschsprachigen in den ,neubelgischen' Ostkantonen besteht kein spezielles Gemeinschaftsbewußtsein. Im Areler Land gab es seit den 70er Jahren eine gewisse folkloristische Belebung des deutschdialektalen Sprechens mit kulturellen Aktivitäten, wobei aber im Vergleich zum benachbarten Luxemburg das Fehlen von Standarddeutsch hinderlich ist (Kern a. a. O.).
I. Im Rahmen des neuen, europabezogenen politischen Verhältnisses zwischen Belgien und der Bundesrepublik Deutschland ergab sich in den ,neubelgischen' Ostkantonen im Zusammenhang mit der allgemeinen sprachenpolitischen Entwicklung des dreisprachigen Belgien seit dem Verwaltungssprachengesetz von 1963 ein unerwarteter Fortschritt zu einsprachig-territorialem Sprachenrecht, faktisch zu postnationalistischer, basisdemokratischer partieller Zweisprachigkeit. Seit der Staatsreform von 1973 wurde, analog zum neugeregelten Verhältnis zwischen Wallonen und Flamen, schrittweise die Deutschsprachige Gemeinschaft mit eigenem Rat und eigener Verwaltung anerkannt, die seit 1989 auch das Unterrichtswesen eigenständig, aber behutsam neuregelt, also mit einer Autonomie ähnlich wie heute in Südtirol. Davon sind die immer schon mehrheitlich wallonischen 6 Gemeinden um Malmédy (Persoons, in: Ureland 1981, 2 5 1 ff.) und die altbelgischen Dialektgebiete ausgeschlossen worden. Das deutschsprachige Gebiet wurde 1963 offiziell festgelegt, es besteht aus zwei geschlossenen Gebieten an der belgisch-deutschen
H —J: Ost-Belgien, Niederländisch
171
G r e n z e u m E u p e n und St. Vith, als Teil der w a l l o n i s c h e n R e g i o n und der P r o v i n z L i è g e / L i i t t i c h , mit r u n d 6 8 . 0 0 0 E i n w o h n e r n , d a v o n 2 — 5 % zugewanderten Wallonen
(1%
der G e s a m t b e v ö l k e r u n g
Belgiens). Seit
1 9 9 5 k a n n es als Mitglied der 1 9 7 6 geschaffenen E u r e g i o M a a s - R h e i n (mit M a a s t r i c h t als Z e n t r u m ) eine vorbildliche B r ü c k e n f u n k t i o n übern a t i o n a l e r , ü b e r s t a a t l i c h e r M e h r s p r a c h i g k e i t erfüllen (Pabst 1 9 9 5 , 6 0 ff.). Die belgisch-sprachenrechtliche territoriale Einsprachigkeit ist im Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ost-Belgiens faktisch eine kompromißbedingte begrenzte (deutschsprachig dominierte) Zweisprachigkeit (Cajot, in: Kremer/Niebaum 1990, 125 ff.; Born/Dickgießer 1989, 39 ff.; Rosensträter 1985; Neide 1979; Eisermann/Zeh 1979): Deutsch ist territoriale Amts-, Gerichts-, Volksschul-, Kirchen- und Mediensprache. Für auswärtigen Verkehr in der Region Wallonien, für die wallonische Minderheit (auch in Behörden), für Wirtschaft, beruflichen Aufstieg und höhere Bildung ist Französisch als subsidiäre Verkehrssprache unerläßlich. Der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist autonom in Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik und hat eine eigene Exekutive mit einem Ministerpräsidenten und zwei Ministern. Trotz internen Meinungsstreits über Zwei- oder Einsprachigkeit und lebhafter kultureller Vereinstätigkeit gibt es kaum Sprachenkampf nach flämisch-wallonischer Art und keine separatistischen Bestrebungen, nur Bemühungen um etwas mehr kulturelle und administrative Autonomie im Rahmen des belgischen Staates. Der Dialektgebrauch geht, besonders im Gebiet von Eupen, vor allem bei Jüngeren, zugunsten der beiden Standardsprachen zurück. Trotz eigener grenzüberschreitender deutschsprachiger Zeitungen, Hörfunksendungen und beliebtem Empfang des deutschen Fernsehens entwickelt sich im deutschsprachigen Ost-Belgien eine eigene Varietät der deutschen Standardsprache mit Besonderheiten: franz. Lehnwörtern, Lehnprägungen, Archaismen, Phraseologismen, syntaktischen Abweichungen (Ammon 1995 a, 412 ff.; Neide 1974; 1977; in: Ureland 1979, 105ff., 121; Heinen/Kremer 1986; Magenau 1964). Im Norden tritt niederländischer Spracheinfluß neben den deutschen (Cajot 1989). Seit der Einführung von Deutsch als dritter Landessprache (nicht Nationalsprache) geht Deutsch als Fremdsprache in ganz Belgien stark zurück (Kern 1983). J. Seit d e m Z w e i t e n Weltkrieg w i r d die
deutsch-niederländische
S t a a t s g r e n z e i m m e r m e h r zur t r e n n e n d e n S p r a c h - und K o m m u n i k a t i o n s grenze ( K r e m e r / N i e b a u m 1 9 9 0 ; Cornelissen 1 9 9 4 ; K r e m e r 1 9 7 9 ;
1991;
1 9 9 3 ; C a j o t 1 9 8 9 ) : Seit alter Z e i t bildeten die Dialekte beiderseits der (erst seit 1 8 1 5 festen) S t a a t s g r e n z e ein K o n t i n u u m , das n o c h h e u t e in der G r e n z d i a l e k t f o r s c h u n g im alten F o r m e n - und W o r t b e s t a n d zu erkennen ist. Z u m i m m e r s t ä r k e r e n G e g e n e i n a n d e r beider S t a n d a r d s p r a c h e n
an
der S t a a t s g r e n z e seit d e m 19. J h . k o m m t nun — a u ß e r der politischen E n t f r e m d u n g seit der d e u t s c h e n Besetzung der N i e d e r l a n d e — die W i r kung des F u n k t i o n s w a n d e l s des D i a l e k t s p r e c h e n s in D e u t s c h l a n d d u r c h M o b i l i t ä t und M a s s e n m e d i e n hinzu. In i m m e r m e h r S a c h b e r e i c h e n w i r d nicht m e h r Dialekt v e r w e n d e t o d e r ist der Dialekt d u r c h W o r t s c h a t z e n t lehnungen aus der jeweiligen S t a n d a r d s p r a c h e hüben und d r ü b e n v e r ä n dert, w a s der gegenseitigen Verständlichkeit a b t r ä g l i c h ist. D a b e i ist der R ü c k g a n g des D i a l e k t s p r e c h e n s (Dialektverlust) a u f d e u t s c h e r Seite we-
172
6.4.3. S p r a c h m i n d e r h e i t e n , seit 1945
sentlich weiter vorangeschritten als auf niederländischer, wegen stärkerer Bevölkerungsmobilität und größerer struktureller Entfernung zwischen Dialekt und Standardsprache. Da also auf beiden Seiten Standardsprache zur grenzüberschreitenden Verständigung immer unentbehrlicher wird, ergibt sich eine politisch hinderliche Asymmetrie in der kommunikativen Kompetenz und Gruppeneinstellung: Während etwa 40% der Niederländer an der Grenze Deutsch sprechen, 60% verstehen können, waren es auf deutscher Seite nur 4 % bzw. 14% in Bezug auf Kenntnisse des Niederländischen (Kremer/Niebaum 1990, 101 f.). — Zur Zunahme des Niederländischlernens in deutschen Grenzgebieten s. 6.5M! — Z u m niederländischen Spracheinfluß auf das westliche Niederdeutsche und Hochdeutsche s. de Smet, in: BRS 924 ff.; Munske, in: LGL 668; Foerste 1938/75! K. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das F r i e s i s c h e durch Flüchtlinge, verstärkte Bevölkerungsmobilität und Tourismus weiter an Boden (Arhammar 1988): Heute wird mit nur noch rund 10.000 Friesischsprechern (etwa 2.000 im Saterland) gerechnet, also mit etwa 50% Rückgang gegenüber den 30er Jahren. Selbst in der noch am besten erhaltenen friesischen Gemeinde auf der Insel Föhr beherrschten 1975 nur noch 54% das Friesische als Muttersprache, gegenüber 74,5% (1909), 82,1% (1889) (Walker, in: Ureland 1978, 131 ff.). Von einem zusammenhängenden nordfriesischen Sprachgebiet und einem gesamtnordfriesischen Eigenbewußtsein könne keine Rede mehr sein (Wiltz, in: Ureland 1978, 155). Die Dialektzersplitterung behindert den Friesischunterricht in der Schule, indem Kinder über außerlokales Friesisch verunsichert, Eltern verärgert sind, so daß die Herstellung von Lehrmaterial mit unlösbaren Normproblemen verbunden ist (Walker a. a. O. und in: Hinderling 1986, 204). Die Chancen für das weitere Überleben des Friesischen, mindestens als lokales und regionales Identitätssymbol, sind unsicher. Seit den 70er Jahren wird in Nordfriesland (nicht im Saterland) als Folge des neuen basisdemokratischen Regionalismus ein stärkeres friesisches Sprachselbstbewußtsein beobachtet (Arhammar 1988, 689): Eltern und Behörden, auch Jüngere sind aufgeschlossener für eine moderne Sprachpflege für das Friesische, mit der traditioneller Sprachkonservatismus überwunden und das Friesische in seinen heutigen Verwendungsfunktionen gestärkt wird. Seit 1976 gibt es eine Professur für Friesisch und eine Wörterbuchstelle an der Universität Kiel (Arhammar 1988; Walker/Wilts 1979). Seit 1988 gibt es auch speziell für das Friesische Sprachschutzbestimmungen in der schleswig-holsteinischen Landesverfassung (Marti 1990, 72; Walker, in: Kremer/Niebaum 1990, 411). - Zum hochdeutschen Einfluß auf das Friesische s. Arhammar, in: BRS 934 ff!
Κ—M: Friesisch, Dänisch u n d Deutsch
173
L. In S ü d - und N o r d s c h l e s w i g wurde 1945 die Lage für beide Minderheiten zunächst schwierig (Eriksen 1986, 161 ff.): Die dänische Minderheit in Südschleswig hatte in den Nachkriegsjahren Schwierigkeiten mit deutschen Ostflüchtlingsmassen in ihrem Gebiet. Die deutsche Minderheit in Nordschleswig war zunächst sehr verunsichert und wurde wegen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht von dänischen Widerstandskämpfern in Bedrängnis gebracht. Sehr bald ergriff der im November 1945 gegründete „Bund deutscher Nordschleswiger" eine sprachfriedenstiftende Initiative mit einer Loyalitätserklärung gegenüber Dänemark im Artikel 1 seiner Gründungserklärung. Der erfolgreiche Weg zu einer staatsrechtlichen Regelung des Minderheitenschutzes setzte sich dann fort mit einer Erklärung des Kieler Landtags (1949) und führte über das Kopenhagener Protokoll (1949) und die Bonn-Kopenhagener Erklärung (1955) im Rahmen der europäischen Integrationspolitik zu einer vorbildlichen, für beide Seiten befriedigenden Lösung (Eriksen 1986, 165; Jäckel 1959): Die Kieler E r k l ä r u n g enthielt schon als w e i t e r f ü h r e n d e n P u n k t das Bekenntnisprinzip: „ D a s Bekenntnis zum dänischen Volkstum u n d zur dänischen Kultur ist frei. Es darf von A m t s wegen nicht bestritten oder n a c h g e p r ü f t w e r d e n " , u n d die Zielsetzung „friedliches Z u s a m m e n l e b e n " und „gut nachbarliches Verhältnis". Im Z u s a m m e n h a n g mit den Verhandlungen über den N A T O - B e i t r i t t der Bundesrepublik w u r d e auf Wunsch des dänischen Außenministers die Gleichstellung der beiderseitigen M i n d e r heiten in gleichlautenden E r k l ä r u n g e n (1955) quasi-völkerrechtlich festgelegt, wobei die A u f h e b u n g der 5 % - S p e r r k l a u s e l im Kieler L a n d t a g f ü r den „Südschleswigschen Wählerverband" eine A u s l ö s e f u n k t i o n hatte. Mit voller Gegenseitigkeit w u r d e n dabei die P r o b l e m e der Schulpolitik u n d der Gerichtssprache geregelt. Der Schulfrieden beiderseits der Grenze b e r u h t vor allem auf der großzügigen Z u l a s s u n g von Privatschulen mit E x a m e n s r e c h t und finanzieller Hilfe von den M u t t e r l ä n d e r n beider M i n derheiten. 1981 gab es 55 dänisch-deutsche Schulen (darunter 1 G y m n a s i u m ) mit 6.127 Schülern in Südschleswig, 18 deutsch-dänische Schulen (1 G y m n a s i u m ) mit 1.373 Schülern in Nordschleswig. L e h r k r ä f t e k o m m e n teils aus den M i n d e r h e i t e n , teils aus dem M u t t e r l a n d (Eriksen 1986, 176 ff.).
M . O b w o h l in Nord- und Südschleswig das Zeitalter der sprachenpolitischen Kämpfe und Annexionen beendet und durch liberale Kooperation eine im soziolinguistischen Sinne n a t ü r l i c h e ' Entwicklung der Minderheiten ermöglicht worden ist, bleiben doch Probleme, die mit dem dort sehr komplizierten, individuell und familiär bestimmten Verhältnis zwischen nationaler und sprachlicher Option und mit der grundsätzlich minderheitenfeindlichen Wirkung moderner Standardsprachen auf beiden Seiten zusammenhängen. Die q u a n t i t a t i v e E n t w i c k l u n g ist schwer nachzuweisen, da offizielle Bekenntnisse d u r c h Wahlverhalten hier grundsätzlich n u r über nationales Zugehörigkeitsgefühl, o f t von politischen Tagesfragen abhängig, nicht über S p r a c h k o m p e t e n z u n d -gebrauch etwas aussagen. Dänischgesinnte in Südschleswig sind nicht immer zugleich dänische
174
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
Muttersprachler und sprechen zu 80% Deutsch als Haussprache; andererseits sprechen Deutschgesinnte in Nordschleswig zu 63 % Südjütisch/Plattdänisch als familiäre Umgangssprache, nur zu 33% Hochdeutsch, nur zu 2 % Plattdeutsch, zu 2 % Reichsdänisch (Eriksen 1986, 160f.). Im nordwestlichen Südschleswig sprechen viele dänisch optierende mit ihren Eltern Südjütisch, mit ihrem Ehepartner Plattdeutsch, mit ihren Kindern (zugunsten von deren künftigen beruflichen Chancen) Hochdeutsch; Südjütisch geht als Muttersprache bei Informanten unter 40 Jahren stark zurück, bei Kindern und Jugendlichen auch Plattdeutsch, alles zugunsten von Hochdeutsch (Hyldgaard-Jensen 1981, 129). Das drohende Verschwinden des Südjütischen wird durch die Entstehung eines am Dänischen orientierten südjütischen Substandards aufgefangen (Dyhr, in: Kremer/Niebaum 1990, 10). Die dänische Minderheit wird auf etwa 50.000 Mitglieder, die deutsche auf 1 5 - 2 0 . 0 0 0 geschätzt (Eriksen 1986, 151; Born/Dickgießer 1989, 75 ff.; Ammon 1991a, 92). Der zunehmend beherrschende Einfluß beider Standardsprachen wird in absehbarer Zeit die deutsch-dänische Staatsgrenze — ähnlich wie schon heute die deutsch-niederländische — auch zur Sprachgrenze werden lassen (Eriksen 1986, 162). — Z u m dänischen und skandinavischen Lehneinfluß auf Deutsch und Niederdeutsch s. Naumann, in: BRS 921 ff.; Munske, in: LGL 669; Laur 1976!
N . Die Befreiung der S o r b e n durch sowjetische und polnische Truppen schien seit 1945 eine Wende zum Überleben dieser vom Untergang bedrohten Sprachminderheit einzuleiten (Marti 1990, 53 ff.; Ferguson 1984, 137ff.): Nachdem Versuche des „Sorbischen Nationalausschusses" in Prag, Moskau und bei der U N O , eine Autonomie oder den Anschluß an die Tschechoslowakei zu erreichen, fehlschlugen (und antisorbische Emotionen in der deutschsprachigen Mehrheit der Lausitz verstärkten), wurde 1948 in der sächsischen, 1949 in der DDR-Verfassung den „Bürgern sorbischer Nationalität" das Recht zur „Pflege der Muttersprache und Kultur" und staatliche Unterstützung dafür garantiert. Sorbisch als Amts- und Gerichtssprache und Parität bei der Besetzung staatlicher Stellen wurde formalrechtlich zugelassen. Die Domowina mit Sitz in Bautzen und dortigem „Sorbischem Volkstheater" konnte die Solidarität und Kontaktpflege zwischen ober- und niederlausitzischen Sorben fördern, mit vielfältigen kulturellen Aktivitäten, auch in Zusammenarbeit mit dem neuen Institut für Sorabistik an der Universität Leipzig. Sie hatte sich aber, wie alle nicht verbotenen Organisationen in der DDR, der unbedingten Führung durch die SED in „klassenbewußter Dankbarkeit" zu unterwerfen, so daß von 1949 bis 1989 die Sorbenpolitik der DDR nach außen hin als Aushängeschild scheinbar liberaler Minderheitenpolitik in einem sozialistischen Staat wirken konnte (vgl. Cyz 1979; Schuster-Sewc 1990; Ferguson 1984), nach innen aber von der sorbischen wie deutschsprachigen Bevölkerung großenteils als Mißbrauch einer sehr altertümlichen, religiösen, kleinbäuerlichen Volkskultur für Zwecke der Partei- und Regierungspropaganda und des Staatssicherheitsdienstes empfunden wurde, was erst nach der Wende 1989 öffentlich bekannt wurde (Marti 1990, 54 ff.; Oschlies 1990 c).
N O : Sorbisch
175
Zweisprachige Orts- und Straßenschilder, resorbisierte Vor- und Familiennamen, sorbische Grabinschriften, aufwendige, parteigelenkte sorbische Folklore-Festivale täuschten darüber hinweg, daß öffentliches Sorbischsprechen praktisch weiterhin kaum möglich oder nicht sehr erwünscht war und Sorbisch in Behörden, vor Gericht, bei Ärzten, in VEB-Betrieben und LPGs nur sehr selten gesprochen werden konnte, mangels Bereitwilligkeit der Deutschsprachigen, Sorbisch zu lernen. Fast alle Sorben waren so weit zweisprachig, daß sie damit in traditioneller Weise fertigwerden konnten, aber die Sprachstigmatisierung blieb bestehen. Seit dem Ende der 50er Jahre hatte die (auch dialektfeindliche) Parteilinie der einheitlichen „sozialistischen Gesellschaft" unbedingten Vorrang, und ein Bekenntnis zum Sorbentum wurde deutscherseits meist als Unterwerfungssignal für die SED-Herrschaft aufgefaßt. Naturwissenschaftlichen polytechnischen Unterricht und Staatsbürgerkunde gab es seit den 60er Jahren nur noch auf Deutsch, und der Sorbischunterricht war nicht mehr obligatorisch, so daß die Zahl der Sorbischlerner innerhalb eines Jahres von 110.000 auf 3.000 zurückging (Marti 1990, 58). Viele Sorben verzogen in andere Gegenden. Durch den Braunkohlentagebau in der Niederlausitz verschwanden 46 Sorbendörfer (insgesamt 60 seit Beginn dieser Industrialisierung). Ihre ausgesiedelten Einwohner wurden in städtischen Wohnblocks ethnisch und muttersprachlich entwurzelt. Deutschsprachige Zuwanderung (auch von Ostvertriebenen) förderte Mischehen, die für die Kinder meist Sprachwechsel zur deutscher Einsprachigkeit bedeuteten. Durch die neue Bezirksgliederung der DDR (1952) wurden die Gebiete des Ober- und Niedersorbischen verwaltungsmäßig wieder voneinander getrennt. Auch die Enteignung landwirtschaftlichen Besitzes und Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die antikirchliche SED-Politik haben der sorbischen Sprachkultur sehr geschadet (Oschlies 1990 c, 38 ff.).
O. Nach der Wende 1989/90, die schon einige Jahre vorher bei oppositionellen Sorben mit polnischer und katholischer Unterstützung vorbereitet wurde (Oschlies 1990c, 56ff.), stellte sich heraus, daß die Zahl der Sorbischsprachigen trotz der offiziell sorbenfreundlichen SED-Politik erstaunlich niedrig lag (60 — 80.000, davon über zwei Drittel in der Oberlausitz); auch der durchschnittliche Anteil sorbischer Bevölkerung in gemischtsprachigen Gemeinden ist auf 12—15% zurückgegangen, ebenso die Zahl der aktiven Sorbischsprecher unter den sich zum Sorbentum Bekennenden (Marti 1990, 30 f.; Oschlies 1990 c 4, 60 ff.; Kunze, in: Scholze 1993, 54ff.). Sorbische Mehrheiten in Gemeinden und aktive sorbische Sprachkompetenz finden sich fast nur noch im katholischen Gebiet zwischen Bautzen und Kamenz (Michalk 1990 b, 428; Zwahr 1996). Unter den führenden sorbischen Kulturförderern, vor allem in der bis zum Ende der DDR SED-beherrschten Domowina, gab es im Herbst 1989 scharfe politische Auseinandersetzungen und Gruppierungen, aber diesmal keine separatistischen Bemühungen, dafür internationale Kontaktpflege zu anderen Sprachminderheiten in Mitteleuropa (Oschlies 1990c, 61 ff.). Die Überlebens-Chancen für eine so kleine, isolierte Sprachminderheit in erdrückend asymmetrisch dominanter deutschsprachiger Umgebung im Industriezeitalter sind ähnlich unsicher wie beim Friesischen oder Rätoromanischen (Marti 1990, 80f.).
176
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
1990 wurde im Einigungsvertrag, Art. 35 (Zusatzprotokoll) nur die „Freiheit" zum Gebrauch und zur Pflege der sorbischen Sprache und Kultur gewährleistet, nicht deren Förderung und Schutz, da dies in den grundgesetzlichen Zuständigkeitsbereich der Länder verwiesen wurde (Marti 1990, 71 £.). 1991 gründete der Freistaat Sachsen eine „Stiftung für das sorbische Volk", die die Domowina in Bezug auf sorbische Bildungseinrichtungen und Publikationen finanziell unterstützt. Im sächsischen Schulgesetz von 1991 wurde Sorbisch als Unterrichtssprache oder Schulfach von ausreichender Schülerzahl, Muttersprachlichkeit und Elternwunsch abhängig gemacht, also für einsprachig Deutschsprachige erschwert. Seit 1990 gibt es ökopolitisch-sorbische Proteste gegen das Wegbaggern weiterer Sorbendörfer. — Das Deutsch der (seit dem 19. Jh.) zweisprachigen und der einsprachig deutsch gewordenen Sorben ist eine Halbmundart „Neulausitzisch", die — schon in den deutschen Sprachatlasaufnahmen um 1880 erkennbar — als wenig charakteristische, standardsprachnahe Umgangssprache zu kennzeichnen ist: Sorbisches Substrat in Phonetik und Syntax, wenig im Wortschatz, mit schwachen Anklängen an das von Dresden her ausstrahlende städtische Obersächsisch, kaum an den ebenfalls leicht rückläufigen, mehr eigenständigen, zum Schlesischen gehörigen Dialekt der deutschsprachigen Oberlausitz (Michalk 1990 b, 433 ff.; Bellmann 1961; Protze 1957). — Zu slawischen Lehnwörtern im Dt. vgl. Bd. I: 4.7 O; Michalk/Protze 1967/70; Eichler 1965; Bielfeldt 1962; Bellmann 1971!
P. Mit Hitlers Umsiedlungen in Ostmitteleuropa und Osteuropa von 1940 an „begann letztlich die Katastrophe der deutschen Sprache in diesem Raum" (Steger 1987 a, 158). Anstoß für die F l u c h t , A u s w e i s u n g , V e r t r e i b u n g (teilweise auch Ermordung) von nicht nur Volksdeutschen, sondern auch Millionen von Reichsdeutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und der Sudetendeutschen war also nicht nur der ,Umsiedlungs'-Beschluß der Alliierten-Konferenzen von Teheran, Jaita und Potsdam, mit dem nach den historischen Erfahrungen mit deutschem Sprachimperialismus und deutschen Sprachminderheiten künftig Bevölkerungsmischung beseitigt werden sollte. Die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze im Warschauer Vertrag (1990) als Teil der Bedingungen für die deutsche Neuvereinigung ist als übernational-politischer Schlußstrich auch in diesem weiteren sprachenpolitisch-historischen Zusammenhang zu verstehen; historisch bedenkenswert bleibt, daß die Mehrheit der seit 1945 davon Betroffenen an der diese Katastrophe verursachenden reichsdeutschen Sprachenpolitik keinen persönlichen schuldhaften Anteil hatte. In den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges kamen an Umsiedlern, Flüchtlingen, Ausgewiesenen, Vertriebenen in die beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches (Steger 1987 a, 159; Bade 1992, 381 ff.; Schieder 1957 ff.): aus Ostpreußen 1.950.000, aus Pommern und Ostbrandenburg 1.850.000, aus Schlesien 3.250.000; aus dem Baltikum 138.000, aus Polen 1.900.000, aus dem Sudetenland ca. 3 Millionen; weitere Hunderttausende aus Ungarn, Jugoslawien, Rumänien. Ins westliche Nachkriegsdeutschland kamen von 1945 bis 1990 insgesamt rund 15 Millionen Vertriebene, Flüchtlinge, Übersiedler, Aussiedler, also etwa ein Viertel der deutschen Wohnbevölkerung der alten Bundesrepublik, das aber nach Anfangsschwierigkeiten
Ρ —R: Flucht, Vertreibung, Aussiedlung
177
seit den 60er Jahren weitgehend integriert werden konnte (Bade 1992, 401). Aus dieser historisch zusammenhängend zu erklärenden massenhaften Bevölkerungsbewegung und aus der Verpflichtung der Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches zur Rettung, Versorgung und Unterstützung dieser Flüchtlinge/Vertriebenen/Umsiedler/ Neubürger ist der bis heute gültige Anspruch auf deutsche Staats- oder Volkszugehörigkeit herzuleiten, der noch heute bei der Einstufung von Aussiedlern aus Osteuropa und Asien eine problematische Rolle spielt (s. 6.4.3V). Er beruht auf lastender historischer Staatsschuld und Solidarität gegenüber den Opfern verfehlter deutscher Sprachenpolitik, nicht auf einem unsinnigen Festhalten der Deutschen an einem biologischen' Nationsbegriff, der besonders in westeuropäischer Kritik beanstandet wird. Nach dem Bundesvertriebenengesetz (§ 1,2) hat Anspruch auf deutsche Staatsangehörigkeit, wer aus den „Vertreibungsgebieten" kommt, nach § 6 nur auf „Volkszugehörigkeit", wer „sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird" (Bade 1992, 18 f.). Hierbei ist also Sprache nicht das einzige und nicht ein notwendiges Kriterium. Die Diskrepanz zwischen objektiver und selbstbekannter Nationalität beruht auf dem behördlichen Verzicht auf Überprüfung der Sprachkompetenz, der dem nicht unproblematischen, aber demokratischen Bekenntnisprinzip entspricht, das auch in Südtirol (s. 6.4.3T), Nord- und Südschleswig (s. 6.4.3LM) und anderswo angewandt wird.
Q. In P o l e n und in den polnisch gewordenen deutschen Gebieten östlich der O d e r u n d N e i ß e (die großenteils mit polnischen Umsiedlern aus sowjetisch annektierten ostpolnischen Gebieten neubesiedelt wurden) setzten sich Flucht, Ausweisung, Vertreibung und Tötung Deutscher bzw. Deutschsprachiger in stalinistischer Weise bis 1956 fort; die davon nicht Betroffenen waren Unterdrückungs-und Ausgrenzungsmaßnahmen ausgesetzt, die weitere Auswanderung zur Folge hatten (Born/Dickgießer 1989, 161 ff.; Ammon 1991a, 93 f.). Die Polonisierung geographischer Namen in den neupolnischen Gebieten wurde, gut vorbereitet, durch Namenkommissionen systematisch durchgeführt, die Verwendung der alten deutschen Namen tabuisiert (Sperling 1995). Ein Teil der Verbliebenen wurde als Autochthone eingestuft, mit polnischer Staatsangehörigkeit versehen und zwangspolonisiert, 1957 nach polnischen Angaben 1,1 Millionen. Polen sah sich bis 1990 als reinen Nationalstaat, in dem ethnische Minderheiten keine Rolle mehr spielen. Spätere Aussiedler nach der Bundesrepublik Deutschland, vor allem Jüngere, haben im Allgemeinen nur noch geringe deutsche Sprachkenntnisse. Seit den 60er Jahren herrscht etwas mehr Toleranz, seit den 80er Jahren haben sich etwa 470 deutschsprachige (oder für Deutsch optierende) Gruppen ohne offizielle Anerkennung örtlich organisiert, besonders in Schlesien. Es gibt aber bis heute kein Deutsch als Unterrichtssprache in der Schule, aber zunehmend viel Deutsch als Fremdsprache, Deutschkurse im Fernsehen, eine deutschsprachige Tageszeitung. Für 1992 wurden von der Bundesregierung etwa noch 1 Million .Deutsche' geschätzt; seit 1993 sind „deutsche Minderheiten" in Verträgen Polens mit Deutschland anerkannt (Berschin 1994, 311).
R. Die S u d e t e n d e u t s c h e n mußten die Einbeziehung ihres Nationalsprachproblems in den reichsdeutschen Sprachimperialismus seit dem
178
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
Kriegsende zu über 90% mit Heimatverlust oder Tod bezahlen. Die durch das Potsdamer Abkommen legalisierte Entfernung des siebenhundertjährigen Sudetendeutschtums hat indirekt auch etwas mit der verfehlten österreichisch-ungarischen Sprachenpolitik des 19. Jahrhunderts zu tun (s. 6.4.1UV). Vom Kriegsfrühjahr 1945 bis zum Herbst 1946 sind aus der CSR 3,3 Millionen Deutschsprachige (fast 3 Mill. Sudetendeutsche) nach Deutschland, weniger nach Österreich, geflohen, ausgesiedelt oder vertrieben worden (vgl. jetzt Plaschka u. a. 1997); die Schätzungen über in der CSR Verbliebene, vor allem Fachkräfte, besonders in West- und Nordböhmen, schwanken für die ersten Nachkriegs jähre zwischen rund 165.000 und 300.000, für die frühen 80er Jahre nur noch 6 2 - 6 5 . 0 0 0 (Skála 1983, 255; Kloss, in: LGL 541; Born/Dickgießer 1985, 15; Ammon 1991 a, 96), für 1991: 53.000 (Berschin 1994, 312). Das durch die Trennung von der Slowakei entstandene heutige Tschechien ist somit zu einem Staat mit etwa ebenso geringem Prozentsatz an autochthonen fremdsprachigen Minderheiten (0,4%) geworden wie Deutschland und Österreich, mit ebenso starkem Assimilierungsdruck. Einen formalen Minderheitenstatus gab es für die „tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität" erst 1968, aber keine deutschsprachigen Schulen; Deutsch ist ganz auf den privaten Bereich beschränkt, meist dialektal, meist nur bei Älteren, abgesehen von Deutsch als beliebter Fremdsprache in Konkurrenz mit Englisch (Born/Dickgießer 1989, 217ff.).
S. Nach Kriegsende wurden jugoslawische Gebietsansprüche auf Teile S ü d k ä r n t e n s von den Westmächten, aber auch der desinteressierten Sowjetunion 1947 abgewiesen. Die im österreichischen Staatsvertrag (1955) und im Volksgruppengesetz (1976) garantierten Minderheitenrechte für die etwa 1,1% fremdsprachiger „Volksgruppen" sind formal ausreichend, aber besonders bei den Slowenen in Südkärnten in ihrer vollen Realisierung umstritten und durch die allgemeine Tendenz zur Assimilation und zum Sprachwechsel gefährdet (G. Fischer 1980; Wiesinger 1990b, 507f.; 1996; Neweklowsky 1990; Szeberényi 1986): In Südkärnten gibt es, nach sehr auseinandergehenden offiziellen und privaten Angaben, 15.000-50.000 Slowenischsprechende (in Südsteiermark 100-1.000), im Burgenland 20 — 30.000 Kroatisch- und 5 — 14.000 Magyarischsprechende, jeweils mit altertümlichen, stark vom Deutschen beeinflußten ländlichen Dialekten, die wenig Kontakt zu den entsprechenden Schriftsprachen der Nachbarländer haben. Der harte Sprachenkampf in Südkärnten ist heute zwar einigermaßen beruhigt (Wiesinger), wirkt aber in latenten Spannungen und Einstellungsunterschieden weiter: Viele bekennen sich nicht zu ihrer nichtdeutschen Muttersprache aus Furcht vor sozialen Nachteilen, viele lehnen eine Identifizierung mit den jugoslawischen Slovenen ab und betrachten sich (nach dt. Sprachgebrauch) als österreichisch integrierte Windiscbe-, Eltern geben dem Deutschen für ihre Kinder den Vorzug für deren bessere Berufs-Chancen, das Wahlpflichtfach Slowenisch statt Englisch in höheren Klassen wird aus ähnlichen Gründen wenig gewählt; in Erinnerung an alte jugoslawische Gebietsansprüche behinderten deutschnationale Gruppen teilweise die Realisierung der Sprachminderheitenrechte, z. B. seit 1972 die Aufstellung zweisprachiger Ortsschilder in Gebieten mit mindestens 2 5 % slowenischsprachiger Bevölkerung (G. Fischer 1980).
S —U: Slowenisch, Deutsch/Italienisch, Ladinisch
179
T . In der N a c h k r i e g s z e i t w u r d e S ü d t i r o l zu einem vielbeachteten Beispiel einer t o l e r a n t e n S p r a c h m i n d e r h e i t e n p o l i t i k ,
allerdings erst
nach
h a r t e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n und A n s t r e n g u n g e n s o w o h l der S p r a c h b e v ö l k e r u n g als a u c h der italienischen u n d österreichischen
Regierung
s o w i e der Vereinten N a t i o n e n . In E r i n n e r u n g an zwei rücksichtslose int e r n a t i o n a l e s p r a c h e n p o l i t i s c h e D i k t a t e ( 1 9 1 9 und 1 9 3 9 ) h a b e n hier unb e u g s a m e S p r a c h l o y a l i t ä t , b a s i s d e m o k r a t i s c h e r , bis zu militanten A k t i o nen g e h e n d e r W i d e r s t a n d und d a s i n t e r n a t i o n a l e Bedürfnis n a c h N o r m a lisierung erfolgreich und vorbildlich z u s a m m e n g e w i r k t . So gilt heute der g e n e r a t i o n e n l a n g e S p r a c h e n k a m p f für die 2 7 9 . 5 4 4 ( 1 9 8 1 ) D e u t s c h s p r a chigen ( 6 4 , 9 2 % neben 2 8 , 7 2 % Italienischsprachigen und 4 , 2 1 % nern) des Tiroler
Etschlandes
/Alto
Adige
Ladi-
in der P r o v i n z B o z e n als eini-
g e r m a ß e n befriedet, da die C h a n c e n und L a s t e n geregelter
Zweispra-
chigkeit (bzw. D r e i s p r a c h i g k e i t ) jetzt wesentlich g l e i c h m ä ß i g e r verteilt sind ( A m m o n 1 9 9 1 a , 7 1 ff.; 1 9 9 5 a, 4 0 5 ff.; E g g e r 1 9 7 7 ; 1 9 9 0 ) . Südtirol ist das einzige d e u t s c h s p r a c h i g e M i n d e r h e i t s g e b i e t , w o neuerdings der d e u t s c h s p r a c h i g e Bevölkerungsanteil leicht im W a c h s e n ist, w ä h r e n d die sonstigen
deutschsprachigen
Minderheiten
in
Norditalien
(Trentino,
A o s t a t a l , P i é m o n t , K a n a l t a l , Friaul, meist nur Sprachinseln) a u f wenige Hunderte geschrumpft
bzw. völlig italianisiert sind
(Born/Dickgießer
1 9 8 9 , 1 0 5 ff.). Nachdem Österreichs Forderung nach Rückgabe der Provinz Bozen auf der Pariser Friedenskonferenz (1946) abgelehnt war, wurden im Gruber-De Gasperi-Abkommen zwischen Österreich und Italien (1946) den deutschsprachigen und ladinischen Sprachminderheiten Südtirols Autonomierechte in Aussicht gestellt. Da Italien deren Realisierung verzögerte und auf die ganze Region Trentino-Alto Adige anwandte, statt auf die mehrheitlich deutschsprachige Provinz Bozen, entwickelte sich starker sprachenpolitischer Widerstand, einerseits legal durch die 1945 gegründete „Südtiroler Volkspartei", die stets eine Mehrheit im Bozener Landtag sowie Sitz und Stimme im Parlament in Rom hat, andererseits illegal besonders in den 60er Jahren durch Bombenattentate von Extremisten auf öffentliche Einrichtungen. Nach österreichischen Interventionen mit Anrufung der UNO-Generalversammlung (1960) gab die italienische Regierung den Forderungen nach und verbesserte von 1969 bis 1972 das Autonomiestatut speziell für die Provinz Bozen. Obwohl diese Regelung von den längst seßhaften Italienischsprachigen, auch den in Südtirol geborenen und aufgewachsenen, natürlich als deprivilegierende Härte empfunden wird, wirkt sie sich auf die Dauer — zusammen mit der Forderung nach voller Zweisprachigkeit, mündlich und schriftlich, für alle Verwaltungsbeamten — als Förderung einer stabilen gegenseitigen Zweisprachigkeit aus. Sie hat das Prestige der deutschen Sprache (als Standardsprache) gehoben und weiteren Zuzug aus anderen Regionen Italiens stark reduziert. Deutsch ist nun als regionale Amts- und Unterrichtssprache neben Italienisch gleichberechtigt und hat seit 1972 viele verlorene Verwendungsdomänen wiedergewonnen. Die Schulen sind nach Sprachgruppen getrennt. Ab dem 2. Schuljahr kommen Italienisch bzw. Deutsch als Pflichtfach hinzu, jeweils von zweisprachigen muttersprachlichen Lehrkräften gelehrt. Die Proporzverhältnisse werden allerdings in der Statistik etwas verunklärt, indem die Volkszählungen nach dem Bekenntnisprinzip (nicht nach
180
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
Überprüfung) vorgenommen werden, so daß Opportunismus in Bezug auf den Proporz in öffentlichen Berufen und bei der Vergabe von Sozialwohnungen eine Rolle spielt. D a s Verhältnis zwischen Standardsprache und Dialekt ist ambivalent: Dialekt gilt einerseits vielen Deutschsprachigen als traditionelle Basis der noch immer als gefährdet geglaubten ethnischen Identität, ist aber gegenüber dem nicht dialektsprechenden anderen Bevölkerungsteil und gegenüber der allgemein zentralistischen Sprachpolitik Italiens von Nachteil, so daß Standardsprache in der Schule und deutschländische Sprachnormvorbilder neben den österreichischen eine gewisse Präferenz haben (vgl. 6.11Y). Deutsch ist neben Italienisch in Publizistik, Volksbildung und Massenmedien gut vertreten, mit natürlichen Domänenprioritäten für Italienisch (ζ. B. Politik, Sport, Wetter). U. Von d e m optimalen Minderheitenschutz des deutschsprachigen
Süd-
t i r o l p r o f i t i e r t a u c h d i e l a d i n i s c h e M i n d e r h e i t , e t w a 3 5 . 0 0 0 , in Provinz Bozen
17.736 (Born/Dickgießer
1 9 8 9 , 1 0 5 f f . ) , d i e in
tentälern u m die Sella, ö. B o z e n , lebt u n d a u c h v o n
der
Dolomi-
altösterreichischer
T r a d i t i o n g e p r ä g t ist. D a g e g e n b l e i b t a n d e r e n L a d i n e r n (z. B . P r o v . B e l luno, Cortina d'Ampezzo)
eine solche F ö r d e r u n g nach den
Prinzipien
der italienischen Sprachpolitik vorenthalten, w a s den Beziehungen s ü d t i r o l e r L a d i n e r zu jenen a b t r ä g l i c h ist ( M a x Pfister, V o r t r a g 1996). N u r
die Einbeziehung
in d i e d e u t s c h s ü d t i r o l e r
der
Bonn
Autonomie
be-
w a h r t sie v o r d e r a u c h v o n m a n c h e n S p r a c h e x p e r t e n geteilten E i n s t u f u n g als nur italienischer
Dialekt. Die Ladiner
leben dreisprachig
(J. B o r n
1 9 9 2 a): L a d i n i s c h als H a u s - u n d N a c h b a r s c h a f t s s p r a c h e , Italienisch u n d D e u t s c h in d e r Ö f f e n t l i c h k e i t u n d in d e r S c h u l e , n a c h F ä c h e r n v e r t e i l t . L a d i n i s c h ist jetzt a u c h dritte A m t s s p r a c h e S ü d t i r o l s ( A m m o n
1991 a,
7 2 ) . W e g e n b e r u f l i c h e r C h a n c e n f a s t n u r m i t I t a l i e n i s c h o d e r D e u t s c h ist d a s L a d i n i s c h e aber sehr gefährdet. F ü r einen A u s b a u zur Vollsprache, wie im engverwandten R ä t o r o m a n i s c h e n
normierten
(s. 6 . 4 . 3 C ) ist e s
w o h l z u s p ä t ; d e r d e u t s c h e ( m e i s t s t a n d a r d s p r a c h l i c h e ) E i n f l u ß ist s e h r s t a r k (J. B o r n , I n : M a t t h e i e r 1 9 9 1 b , 1 7 1 f . ) . V. Die Ausweisungspolitik ist in U n g a r n nur teilweise und gemäßigt durchgeführt worden. Von etwa 633.000 Ungarndeutschen sind etwa 270.000 geblieben, vor allem in West- und Südungarn, heute 2 0 0 - 2 5 0 . 0 0 0 (Born/Dickgießer 1989, 229 ff.; Bradean-Ebinger 1994, 93; A m m o n 1991 a, 96 f.; Plaschka u. a. 1997). Trotz gesetzlichen Minderheitenschutzes seit den 50er Jahren ist der Sprachwechsel zum Magyarischen weiter vorangeschritten, vor allem in der Stadt, bei sozialen Aufsteigern und Jugendlichen. Während Ältere mehr beim Dialekt bleiben, ist Standarddeutsch (mit Balance zwischen österreichischen und deutschländischen Varianten) seit den 80er Jahren wieder mehr gefördert worden als Unterrichts- und (allgemein beliebte) erste Fremdsprache. Der Verband der Ungarndeutschen wird dabei von der deutschen Bundesregierung unterstützt. D a s Angebot an deutschsprachigen Medien (Zeitungen, Bücher, Radiosendungen) ist relativ gut. Ausweisung hat in R u m ä n i e n so gut wie nicht stattgefunden. Die starke Verminderung der Zahl der Rumäniendeutschen, trotz weitgehender kultureller Minderheiten-
V: Deutschsprachige in Ostmitteleuropa und SU
181
rechte, von über 700.000 (vor 1944) auf 358.732 (1977) und kaum noch 60.000 heute (größtenteils in Siebenbürgen) hatte verschiedene Gründe: Starke Verluste, Umsiedlung und Abwanderung durch Krieg und Gefangenschaft, Enteignungen durch sozialistische Kollektivierung, Industrialisierung, Verstädterung, Mobilität und Rumänisierungsdruck (besonders seit den 80er Jahren), schwindende Sprachloyalität bei Jugendlichen, seit den 70er Jahren starke Abwanderung nach Deutschland (1950 — 88: 242.326), Abwanderungsbereitschaft zu etwa 8 0 % , besonders nach dem Sturz Ceaucescus und der Öffnung der Grenzen (Rein, in: Ureland 1979, 125 ff.; Born/Dickgießer 1989, 173ff.; M u m m e n 1995, 44; Bade 1992, 52f.; Amnion 1991a, 94). Aussiedler aus Rumänien haben wegen relativ guter Schulbildung in Standarddeutsch in Deutschland kaum Schwierigkeiten, müssen aber wegen Dialektintoleranz der Bundesdeutschen ihren Dialekt verdrängen oder verstecken (Mummert 1995, 44). Die in Rumänien Verbleibenden haben große Schwierigkeiten wegen schwindender Schülerzahlen deutschsprachigen Unterrichts (Helmut Protze briefl.). In der S o w j e t u n i o n (und ihren Nachfolgestaaten) hat sich seit der Zwischenkriegszeit die Zahl der Sowjetbürger deutscher Nationalität (Sowjetdeutsche, Rußlanddeutsche) von etwa 1,5 Millionen bis heute auf fast 2 Millionen vermehrt, aber der Prozentsatz derer, die Deutsch als Muttersprache angeben von über 90% auf unter 50% vermindert (Jedig 1990; Born/Dickgießer 1989, 186; Berend/Mattheier 1994, 251 ff., 319ff.; Ammon 1991 a, 95 f.). Durch die stalinistischen Deportationen seit 1941 leben sie zum allergrößten Teil in asiatischen Republiken, über ein Drittel in Kasachstan, weit verstreut, kaum noch in geschlossenen Sprachinseln, oft in sprachlichen Mischehen, mit starker Mobilität, durchweg zweisprachig mit Schwergewicht auf der Staatssprache Russisch. Erst nach Stalins Tod erhielten sie wieder begrenzte kulturelle Rechte, aber bis heute nicht den Status einer autochthonen Minderheit. Vom deutschsprachigen Schulunterricht, wo er überhaupt wieder möglich ist, wird nur wenig Gebrauch gemacht, da die Eltern russische Unterrichtssprache zugunsten besserer Berufschancen für ihre Kinder bevorzugen (Malinowski 1993, 106). Auch wo sich, meist im Anschluß an erhaltengebliebene ältere Sprachinseln östlich des Ural, wieder kleine mehrheitlich deutschsprachige Gemeinschaften gebildet haben, spielt Standarddeutsch eine noch geringere Rolle als früher, so daß (sehr archaische) deutsche Dialekte bzw. neue Dialektmischungen völlig vom Russischen überdacht werden, das bei Rußlanddeutschen oft stark von dt. Substrat beeinflußt ist (Berend/Mattheier 1994, 8, 319). Hochdeutsch ist für viele Rußlanddeutsche nur noch Fremdsprache. — Aus dieser doppelt-halbsprachigen Zweisprachigkeit der Rußlanddeutschen ergeben sich schwer lösbare Probleme bei der Integration von A u s s i e d l e r n (Worbs 1995; Rösch 1995; Berend/Mattheier 1994, 326 ff.; Rosenberg, in: Mattheier 1991 b): Von 1988 bis 1993 sind über 1.600.000 Aussiedler (seit 1990 vorwiegend aus den GUS-Staaten), weiterhin etwa 200.000 jährlich weiter abnehmend, nach Deutschland gekommen. Da sie das Deutsche nur mangelhaft, meist nur reduziert dialektal beherrschen, erleben sie im ersten Sprachkontakt mit Deutschen einen Kulturschock: In Rußland fühlten sie sich trotz reduzierter deutscher Sprachkompetenz als ,Deutsche' (Bekenntnisdeutsche), hier aber wieder mehr als Russen, da sie die russische Standardsprache besser beherrschen als die deutsche und bei den Deutschen (besonders Westdeutschen) auf sprachliche Intoleranz stoßen (vgl. Dederichs 1997). Hier wird die traditionell zu enge ideologische Bindung ethnischer Identität an Sprache (nach dem Muster des deutschen Sprachnationalismus) sehr fragwürdig; Dialekt als Identitätsschutz wird unwirksam. Die ,Deutschheit' der Aussiedler gerät in der Einschätzung durch die Deutschen auf das Niveau noch nicht assimilierter Gastarbeiter (Clyne 1995 a, 198 f.).
182
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
W. Die w e s t w ä r t i g e A u s w a n d e r u n g aus dem Nachkriegsdeutschland kam erstaunlich früh wieder in Gang, da westliche Länder an der Anwerbung fachlich ausgebildeter deutscher Vertriebener, Arbeitsloser und Kriegsgefangener interessiert waren. Nach einer OEEC-Schätzung gingen seit 1945 über 180.000 Deutsche in westeuropäische Länder; nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes bis 1961 384.700 in die USA, 234.300 nach Kanada, 80.500 nach Australien (Bade 1992, 387ff.). Das Verstecken deutscher Sprache und der Sprachwechsel zur Landessprache waren in der Kriegs- und Nachkriegszeit, nicht nur durch Diskriminierung und Zwang, stark vorangeschritten, so daß die Kinder von Neuausgewanderten schon im Elternhaus mit nur noch wenig Deutsch aufwuchsen. Von den Altauswanderern haben vor allem religiöse Gruppen in geschlossenen Siedlungen deutsche Sprache (meist Dialekt) bewahrt, neuerdings stark nachlassend (Rein 1977; 1984). Sie bilden aber kaum 10% derjenigen 1.68 Mill. US-Amerikaner (113.000 Kanadier), die 1980 (1971 in Kanada) den Gebrauch von Deutsch als Haussprache angaben (1990: 1.547 Millionen, Berschin 1994, 312). Der starke Fortschritt des Sprachwechsels ist daran zu erkennen, daß 1970/71 noch 6.093.054 US-Amerikaner (439.000 Kanadier) Deutsch als Kindheitssprache im Elternhaus bzw. Muttersprache angaben. Das Bekenntnis von 49,2 Millionen (26,1%) der US-Amerikaner (1.317.000 der Kanadier) zu deutscher Abstammung (1980, in Kanada 1971) sei dagegen eher als Zeugnis der gesellschaftlichen Höherbewertung nichtenglischer Herkunft zu werten. Trotz öffentlicher Tolerierung (nicht Förderung) kultureller Vielfalt in Kanada seit 1971 und trotz eines begrenzten deutschsprachigen Medienangebots ist die Zahl der Sprachwechsler und der Rückwanderer sehr hoch (Born/Dickgießer 1989, 117 ff., 245 ff.; Eichhoff, in: BRS 1990ff.; Ammon 1991a, 97f.). — Sehr vielfältig, aber rückläufig ist das restliche Auslandsdeutschtum in L a t e i n a m e r i k a (Born/Dickgießer 1989; Ammon 1991a, 99 ff.): insgesamt etwa 1,8 Millionen, davon 1,5 Mill, in Brasilien, 300.000 in Argentinien (mit guten dt. Schulen). In vielen Ländern, von Mexiko bis Argentinien, sind — meist über Nordamerika — Rußlanddeutsche eingewandert, die ζ. T. ihren Dialekt ohne Hochdeutsch (ζ. B. Mennonitenplatt aus der Urheimat im Weichseldelta) oder ein archaisches Hochdeutsch als exklusives Identitätssymbol bewahrt haben (Moelleken 1987; 1993); daneben auch stark assimilierte jüdische Verfolgte des Naziregimes. Alle beherrschen die Landessprachen (Spanisch, Portugiesisch) meist als Erstsprache. — In S ü d a f r i k a leben über 40.000 Deutschsprachige, mit deutschsprachigen Schulen, darüber hinaus zahlreiche längst Assimilierte deutscher Herkunft (Born/Dickgießer 1989, 207ff.; Ammon 1991a, 103). - In N a m i b i a ( 1 8 8 4 - 1 9 1 5 DeutschSüdwestafrika) finden sich die einzigen nennenswerten sprachlichen Nachwirkungen deutscher Kolonialherrschaft (Born/Dickgießer 1989, 145 ff.; Ammon 1991a, 75 ff.): Unter südafrikanischem Protektorat wurde, durch Bemühungen der „Interessengemeinschaft deutschsprachiger Südwester" und der Republikanischen Partei, in den 80er Jahren Deutsch als regionale Amtssprache (neben Englisch und Afrikaans) im Gebiet der Weißen zugelassen, aber wenig benutzt. Seit der Unabhängigkeit Namibias (1990) gilt nur noch Englisch als Amtssprache. Deutsch spielt aber in Kirche und Schule noch eine bedeutende Rolle. Die Zahl der (meist ökonomisch dominierenden) Deutschsprachigen beträgt heute noch, aber rückläufig: 20 — 35.000 (25% der weißen Bevölkerungsminderheit); Deutsch ist ζ. T. auch bei der dortigen schwarzen Minderheit der Hereros verbreitet, die vom deutschen Genocid (1904) übriggeblieben sind. — In A u s t r a l i e n gibt es noch rund 109.000 Deutschsprachige, fast nur in Städten. Viele der ca. 135.000 dt./österr. Neueinwanderer nach 1945 sind stärker assimiliert als südeuropäische. Nach Repressalien in und nach beiden Kriegen und strenger allgemeiner Assimilationspolitik wird seit den 70er Jahren Deutsch, wie andere Immigran-
W X : West- und Übersee-Auswanderung, Jiddisch
183
tensprachen, in der neuen Multikulturalismuspolitik: gefördert, ζ. B. mit Schulen für bestimmte Stadtteile (Born/Dickgießer 1989, 27 ff.; Clyne, in: Berend/Mattheier 1994, 105 ff.; Ammon 1991, 104). - Zum Pidgin-Deutsch im Pazifik s. Mühlhäusler 1977; 1979; 1980. — In I s r a e l , wo — einschließlich der frühen Einwanderung nach Palästina seit 1919 — schätzungsweise 71.000 deutschsprachige Juden eingewandert sind, ist das Deutsche seit dem nationalsozialistischen Völkermord öffentlich tabuisiert; trotzdem lebt es privat und literarisch noch bei Älteren, u. a. als Identitätssymbol gegenüber den (meist Jiddisch sprechenden) osteuropäischen Einwanderern, und zwar als traditionelles Bildungsdeutsch aus der Weimarer Zeit (Betten 1995; Born/Dickgießer 1989, 103f.; Ammon 1991a, 104; Löffler 1994, 75).
X . Durch die deutschen Massenmorde an Juden war die Zahl der Sprecher des J i d d i s c h e n um etwa die Hälfte auf 5 — 7 Millionen verringert (Landmann 1962/65, 58; Birnbaum 1979, 4 0 f f . ) , allein in Polen von mehr als 2 Millionen auf kaum 5 0 . 0 0 0 (Beranek, in: DPhA 1, 1959). Weitere antisemitische Strömungen in Polen in den 60er Jahren, in der Sowjetunion in den 80er Jahren (Althaus 1993, 122) hatten starke Auswanderung nach Israel und Amerika, nur wenig nach Deutschland, zur Folge. In Israel ist Jiddisch nach wie vor sprachenpolitisch nicht beliebt; doch sehr allmählich macht sich eine gewisse Nostalgie für Jiddisch bei nunmehr muttersprachlichen Hebräischsprechern bemerkbar, auch mit Jiddisch als Fremdsprache an Gymnasien u. ä. (Hinweis von Erika Timm). Es wird von vielen osteuropäischen und amerikanischen Einwanderern privat noch gesprochen, auch von Streng-Orthodoxen, die am traditionell nur sakralen Gebrauch des Hebräischen festzuhalten versuchen. 1951 ist an der Universität Jerusalem ein Lehrstuhl für jiddische Sprache und Literatur gegründet worden, ein Zeichen der Versöhnung zwischen Hebraisten und Jiddischisten (Prawer 1986, 98). Die wissenschaftliche Erforschung des Jiddischen wird am Jiddischen Wissenschaftlichen Institut in New York weiter gefördert, außerdem von einzelnen Forschern und Forschergruppen in der Bundesrepublik Deutschland, ζ. B. am Lehrstuhl für Jiddistik an der Universität Trier, seit 1997 auch an einem jiddistischen Lehrstuhl an der Universität Düsseldorf. Erstaunlich ist die Wiederentdeckung (oder Neuentdeckung) des Jiddischen als ,Nahsprache' des Deutschen seit den 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, besonders bei weltoffenen Jüngeren (Althaus 1993, 117ff.): Angestoßen durch die politische und moralische Reaktion auf die Kölner Synagogenschändung Ende der 50er Jahre, wich die anhaltende Verdrängung oder Tabuisierung des deutsch-jüdischen Problems einem neuartigen starken Interesse für traditionelle jüdische Eigenkultur und für Jiddisch. An die Stelle des traditionellen deutschen Vorurteilssystems trat ernsthafte, umfassende Information, ζ. B. durch die Gründung der Kölner „Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums" (Germanica Judaica) oder Israelreisen vor allem Jugendlicher, trat Begeisterung und emotionale Zuwendung für jiddische Literatur und Folklore. Noch in der Phase des unbewältigten Bewußtseins deutscher Nationalschuld, im Durchleben von Unfaßbarkeit, Verdrängung, Scham und Trauer, wurde unverhofft unbefangene Anteilnahme, sogar Lachen möglich über jüdische
184
6.4.3. Sprachminderheiten, seit 1945
Überlebenskunst, Sentimentalität und jüdischen Humor, vor allem durch zahlreiche deutsche Ausgaben jiddischer Witze, Sprichwörter, Erzählungen, Lieder, durch das Musical „Anatevka", nicht zuletzt durch den großen Erfolg des Buches von Salcia Landmann (1962/65). Bei der zunehmenden Verwendung von Jiddismen in der deutschen Presse, in Schlagzeilen, Kommentaren, Sportreportagen und im Feuilleton, auch in belletristischer Literatur, ist ein grundsätzlicher Funktionswandel zu beobachten (Althaus 1993, 147ff.; 1995, 177ff.; 1997): Sie werden nicht mehr mit den alten antijüdischen Konnotationen verwendet, nicht mehr als Stilbrüche im Bewußtsein ihrer Herkunft, auch nicht mehr im Dienst der ,Vergangenheitsbewältigung', sondern — in ähnlicher Weise wie Wörter und Wendungen aus Jugend-, Szene-, Fachjargon oder Dialekt — als stilistische Reizmittel der ,flotten Schreibe' zum Blickfang, zur Fokussierung, als witzige Pointen, als Wort- oder Lautspiele, zur Signalisierung intimer Kenntnis, Jugendlichkeit, Dynamik, Modernität, Urbanität, mit oft sehr vager, für weitere moderne Assoziationen offener Bedeutung. Dabei steht nur ein begrenztes Inventar von kaum 50 Jiddismen zur Verfügung, ein reichliches Dutzend in häufigerem Gebrauch: betucht, Chuzpe, dufte, Macke, Maloche, meschugge, mies, Reibach, Schlamassel, schmusen, Stuß, Tácheles, Zocker, Zoff, Zores; mit deutlichem historischem Bezug auf Judentum fast nur das positiv konnotierte Zentralwort Schtetl (Althaus, a. a. O.). Sogar mauscheln, das seit 1945 tabuisierte schlimmste antisemitische Kampfwort, das seit der Jahrhundertwende auch als innerjüdisches Polemikmittel verwendet wurde, ist seit der 1968er Studentenbewegung als (nicht-antisemitisches) politisches Enthüllungswort beliebt geworden (Althaus 1997, 430 ff.). Y. Neuartige Sprachminderheiten sind die A r b e i t s i m m i g r a n t e n , die in integrationsfeindlicher Weise Gastarbeiter oder ausländische Arbeiter genannt werden. Seit der Wirtschaftswunder-Zeit sind einige Millionen Arbeitskräfte aus südlichen Ländern eingewandert, vor allem nach Westdeutschland, wo der Ausländeranteil von 1960 bis 1988 von 1,2% auf 7 , 3 % (davon 3 3 % Türken) angestiegen ist (Bade 1992, 393 ff.). Diese faktische Immigrationsbewegung begann 1955 mit der Anwerbung durch die deutsche Industrie mit Regierungshilfe, steigerte sich sprunghaft nach dem Mauerbau (1961) und verringerte sich im Wesentlichen durch den Anwerbestopp (1973) mit der Folge einer Tendenz zum Daueraufenthalt trotz Ungeklärtheit des Einwanderungsstatus. Durch Nacheinwanderung von Familienangehörigen und im Wohnland geborene und aufgewachsene Nachkommen leben heute etwa 4 Millionen ,ausländische' Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik, über 800.000 in der Schweiz (Bade, a. a. O.; Löffler 1994, 68). Die sozialpolitischen Aspekte dieser ,nichtautochthonen' Fremdsprachminderheiten liegen in wesentlich anderer Richtung als bei den bisher in diesem Kapitel behandelten Minderheiten: Nicht ein ihnen fremder Nationalstaat, Sprachnationalismus und Sprachnormenzwang ist über sie gekommen und hat sie mit ihrer Primärsprache in Schwierigkeiten gebracht, sondern sie sind auf Arbeitssuche in die deutschsprachigen Länder gekommen, sind von deren Institutionen und der alteinheimischen Bevölkerung als Arbeitskräfte und Steuerzahler akzeptiert, aber sozial nicht oder nur unzureichend integriert worden. Den Bleibewilligen unter ihnen, selbst den bereits seit Jahrzehnten unter Deutschsprachigen Wohnenden und Steuernzahlenden und deren weitgehend deutschsprachig und bikulturell aufgewachsenen Nachkommen wird der Erwerb der Staatsangehörigkeit ihres Wohn- und Erwerbslandes und damit ihre notwendige und zustehende neue Identität vorenthalten oder erschwert und der Erwerb der deutschen Sprache ungenügend gefördert oder behindert. Es geht menschenrechtlich und soziolinguistisch bei den Arbeitsimmigranten also weniger um Förderung ihrer Primärsprachkultur als vielmehr um bessere
Y: A r b e i t s i m m i g r a n t e n
185
Bedingungen f ü r ihre Z w e i s p r a c h i g k e i t , ihre Selbstintegration u n d d a m i t ihre Gleichberechtigungs-Chancen. Ihr M i n d e r h e i t e n s t a t u s u n d die d a m i t v e r b u n d e n e n Probleme sind also vergleichbar denen bei den Millionen von deutschsprachigen industriezeitlichen A u s w a n d e r e r n n a c h Überseeländern (s. 6.4.1Y, 6.4.2ST, 6.4.3W). Die zahlreichen soziolinguistischen u n d sprachdidaktischen Ansätze zur E r f o r s c h u n g der S p r a c h p r o b l e m e bei A r b e i t s i m m i g r a n t e n k ö n n e n hier nicht referiert w e r d e n ; s. die Z u s a m m e n f a s s u n g e n mit Literatur bei Löffler 1994, 181 ff.; Clyne 1995 a, 194 ff.; Stölting-Richert, in: A m m o n u. a. 1988, 2, 1564ff.; H i n n e n k a m p 1998). Hinderlich f ü r angemessene Lösungen sind die ratlos-ängstliche B e h a n d l u n g dieses E i n w a n d e r u n g s p r o b l e m s mit dem A u s l ä n d e r r e c h t und die Verzerrung der öffentlichen Diskussion d u r c h Vermengung von A r b e i t s i m m i g r a t i o n mit Asylantenschwemme und Aussiedlerstrom (Bade 1992, 393 ff.). Eine Behinderung des vollgültigen E r w e r b s der deutschen Sprache w i r d — außer in u n z u r e i c h e n d e n Schulverhältnissen — darin gesehen, d a ß das reduzierte, n o t d ü r f t i g e Deutsch (Gastarbeiter-Pidgin), das viele Arbeitsi m m i g r a n t e n sich in ungesteuertem S p r a c h e r w e r b in der Arbeits- u n d N a c h b a r s c h a f t s u m g e b u n g a n g e w ö h n t h a b e n , bei vielen, angesichts der Ungewißheiten über Bleiberecht u n d Staatsangehörigkeit, zum lebenslänglichen, sozial diskriminierten Soziolekt zu w e r d e n d r o h t und d a ß alteinheimische Vorarbeiter, Arbeitskollegen u n d N a c h b a r n dieses H a l b d e u t s c h o f t imitierend gegenüber A r b e i t s i m m i g r a n t e n v e r w e n d e n (PseudoPidgin als Xenolekt) u n d d a m i t (ungewollt, unbewußt?) zur Verstärkung ihrer Unterprivilegierung beitragen (s. 6.121). In der Forschungsliteratur wird f r a g e n d darauf hingewiesen, d a ß noch nicht abzusehen ist, o b das Gastarbeiterdeutsch zu einer k ü n f tig bleibenden Unterschichtvarietät des Deutschen w e r d e n wird, z u s a m m e n mit d e m Aussiedler-Deutsch, oder o b es sich hierbei nur u m ein generationsbedingtes Überg a n g s s t a d i u m vor dem vollen S p r a c h e r w e r b der zweiten oder dritten G e n e r a t i o n h a n delt, ähnlich wie bei D e u t s c h a m e r i k a n e r n .
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6.4.
Sprachminderheiten
1 9 9 4 . H o r a k 1 9 8 5 (Farmer 3 5 ff.). Kotzian 1 9 8 7 , 4 5 ff. Rautenberg 1 9 8 8 . Reichling 1 9 7 6 . Ritter 1 9 8 8 (Karp 9 7 f f . ) . R . Schmitt/Stickel 1 9 9 7 . Sperling 1995. Steger 1 9 8 7 a . Stoll 1 9 8 9 . Wegner 1 9 8 7 . Österreich [-Ungarn] (allg.): Bodi 1 9 9 3 . B r i x 1 9 8 2 . Bundespressedienst 1 9 9 1 . Burger 1 9 9 5 . Gal 1 9 7 9 . G o g o l á k 1 9 8 0 . Haider 1 9 9 8 . H a m a n n 1 9 9 6 . Hinderling 1 9 8 6 . Hinderling/Eichinger 1 9 9 6 . Holzer/Münz 1 9 9 3 . Hutterer 1 9 9 1 . J o n g e n u. a. 1 9 8 3 (Ofner 1 0 5 f f . ) . Kahn 1 9 6 4 . Lehmann/Lehmann 1 9 7 3 . Maurer/Rupp 1 9 7 8 (Moser 6 2 4 f f . ) . Neweklowsky 1 9 7 8 . Palatin 1 9 9 0 . Steger 1987 a. Steinacker/Walther 1 9 5 9 . Szeberényi 1 9 8 6 . Suppan 1 9 8 3 . Sutter 1 9 6 0 . Veiter 1 9 7 9 . Wiesinger 1 9 9 0 b; 1 9 9 6 a. - Deutsch/ Tschechisch/Slowakisch: A m m o n 1 9 9 1 a , 9 6 . Besch 1 9 9 2 . Bezdeková 1 9 8 8 . Born/ Dickgießer 1 9 8 9 , 2 1 7 f f . B R S (Lipoid 1 9 8 2 f . ) . Brügel 1 9 6 7 . DPhA (Thierfelder I, 1 4 0 8 ff.). Erdmann 1 9 9 3 a, 103 ff.; 1993 b, 2 4 7 ff. Fischer 1 9 9 0 . Franzel 1 9 6 8 . Havránek/Fischer 1 9 6 5 . Herget 1 9 7 9 . Höhne/Nekula 1 9 9 7 . H o r a k 1 9 8 5 (Kalvoda 1 0 8 f f . ) . J a w o r s k i 1 9 7 7 . Kotzian 1 9 8 7 , 108 ff. Meier 1 9 9 3 . Nittner 1 9 6 7 . Piirainen 1 9 9 5 . Plaschka u. a. 1 9 9 7 . Povejsil 1 9 8 8 . R a k 1 9 9 4 . Ritter 1 9 8 8 (Kuhn 113 ff.). R o t h e 1992. E. Schwarz 1954/58; 1 9 6 2 ; 1965/66; 1 9 6 6 . Skála 1 9 6 6 ; 1 9 7 6 ; 1 9 8 0 ; 1 9 8 3 . Straka 1 9 7 0 (Kuhn 4 2 9 f f . ) . Sudetendeutsches Wörterbuch 1988/90. Trost 1 9 6 5 ; 1 9 8 1 . Wodak/de Cillia 1 9 9 5 (Maier 7 7 f f . ) . - Deutsch/Slowenisch: Barbour/Stevenson 1 9 9 0 , 2 4 6 f f . Dow/Stolz 1 9 9 1 (Krizman 91 ff.). G . Fischer 1 9 8 0 ; 1 9 8 8 . Flaschberger/Reiterer 1 9 8 0 . G L 124/125, 1 9 9 4 (mehrere Beiträge). Hafner 1 9 6 7 . Hafner/Prunc 1 9 8 2 . Hinderling/ Eichinger 1 9 9 6 (Jodlbauer 119 ff., Krizmann 167 ff.). H o r n u n g 1 9 9 4 a. Kärntner Slowenen 1 9 9 3 . Neweklowsky 1 9 9 0 . Reiterer 1 9 9 6 . Ureland 1 9 8 1 (Toporisic 6 9 f f . ) . Wakounig 1 9 9 0 . Wiesinger 1 9 9 6 , 3 3 9 ff. Deutsch/Italienisch (Südtirol): A m m o n 1 9 9 1 a , 7 1 ff.; 1 9 9 5 a, 4 0 5 ff. Barbour/Stevenson 1 9 9 0 , 2 3 7 ff. Born/Dickgießer 1989, 105 ff. Conrad 1 9 9 3 . DPhA (Thierfelder I, 1 4 1 9 f . ) . Egger 1 9 7 7 ; 1 9 7 9 ; 1 9 9 0 . Eisermann 1 9 8 1 . Freiberg 1989/90. G L 124/125, 1 9 9 4 . Grigolli 1997. Hartung/Staffler 1 9 8 5 . Hinderling 1 9 8 6 . Hinderling/Eichinger 1 9 9 6 (Eichinger 199 ff.). Hornung 1 9 8 0 ; 1 9 9 4 a b ; 1 9 9 5 . G . Klein 1988. K . K . Klein u . a . 1 9 6 5 - 7 1 . K r a m e r 1 9 8 1 . Kremer/Niebaum 1 9 9 0 (Mall/Plagg 2 1 7 f f . ) . Kühebacher 1972. Lanthaler 1990; 1 9 9 4 . H a n s M o s e r 1 9 8 2 . Moser/Putzer 1 9 8 0 . Neide 1 9 8 3 (Langer III, 171 ff., Egger IV, 1 4 8 f f . ) . Parteli 1 9 8 8 . Pernstich 1 9 8 4 . R i e d m a n n 1 9 7 2 . Rizzo-Baur 1 9 6 2 . Saxalber-Tetter 1985. Ureland 1 9 7 9 (Riedmann 1 4 9 f f . ) . Veiter 1 9 8 4 . Wodak/de Cillia 1 9 9 5 (Gruber-Kiem 2 6 5 ff.). Wurzer 1 9 7 3 . Z a p p e 1 9 9 6 . Deutsch/Ladinisch: A m m o n u . a . 1990 (Goebl 1 9 f f . ) . Belardi 1 9 9 1 . B R S (Pfister 8 7 9 f f . ) . J . B o r n 1 9 9 2 a. Dow/Stolz 1991 (Krizman 9 1 ff.). Hinderling/Eichinger 1 9 9 6 (Kattenbusch 3 1 1 ff.). Holtus/Kramer 1994. Mattheier 1991 b (Born 171 ff.). Messner 1 9 8 4 . H a n s M o s e r 1 9 8 2 (Runggaldier 2 1 5 f f . ) . Neide 1 9 8 3 (Kramer III, 1 1 5 f f . ) . Olt 1 9 9 1 . Pallabazzer 1 9 8 9 . Telmon 1992. Wodak/de Cillia 1 9 9 5 (Holtzmann 2 7 3 ff.). Zappe 1996. Ungarn: A m m o n 1 9 9 1 a , 96 f. Bade 1 9 9 2 (Schödl 7 0 ff.). Bassola 1 9 9 5 . Berend/Mattheier 1 9 9 4 (Erb 2 6 3 ff.). Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 2 2 9 ff. Bradean-Ebinger 1 9 9 4 . Dreihundert J a h r e ... 1 9 8 8 . Fôldes/Hécz 1 9 9 5 . Gehl 1 9 9 7 . Hutterer 1 9 6 0 . Jenninges 1 9 9 5 . M a n h e r z 1 9 7 7 . Neide 1 9 8 3 (Rein III, 1 4 2 f f . ) ; 1 9 9 0 b. Neide u. a. 1 9 9 1 . Paikert 1 9 6 7 . Plaschka u. a. 1 9 9 7 . Ritter 1 9 8 8 (Kimlósi-Knipf 183 ff.). Scherer 1966. Steger 1 9 8 7 a . Strauch u . a . 1 9 9 5 . Weidlein 1 9 8 1 . - Jugoslawien: Bade 1 9 9 2 (Sundhausen 5 4 f f . ) . Hornung 1 9 9 4 a; 1 9 9 5 . Neide 1 9 8 3 (Rein III, 142 ff.). Paikert 1 9 6 7 . Steger 1987 a. Rumänien: A m m o n 1 9 9 1 a , 9 4 . Bade 1 9 9 2 (Sundhausen 3 6 f f . ) . B a r b a 1 9 8 2 . Barcan/ Millitz 1 9 7 7 . Berend/Mattheier 1 9 9 4 (Schabus 2 2 1 ff., Melika 2 8 9 f f . ) . Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 173 ff. B R S (Lipoid 1 9 8 3 ff.). Ernst/Weber 1 9 9 2 . Gabanyi 1988. Gehl 1 9 9 7 .
189
Literatur Illyés 1 9 8 1 . Κ. Κ. Klein 1 9 6 3 . Κ. Κ. Klein u. a. 1 9 5 9 ; 1 9 6 1 ; 1 9 6 3 . Kotzian
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Kroner
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1973. Marin
1980. Maurer/Rupp
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Oschlies 1980; 1 9 8 8 . Protze 1 9 5 9 . Ritter 1 9 8 8 . Schabus 1 9 9 7 . Schuster 1 9 8 4 . Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch 1 9 2 4 ff. Steger 1 9 8 7 a. Ureland 1 9 7 9 (Rein 125 ff., Steinke 183 ff.). Wagner 1 9 9 0 . Wodak/de Cillia 1 9 9 5 (Huemer 2 8 5 ff.). Rußland, Sowjetunion, GUS: Aramon 1991 a, 95 f. Anders 1 9 9 3 . Bade 1 9 9 2 (Brandes 85 ff.). B a r o t o w 1 9 9 7 . Berend 1 9 9 6 . Berend/Jedig 1 9 9 1 . Berend/Mattheier 1 9 9 4 . B o h mann 1 9 8 5 . Boldt/Piirainen 1 9 9 6 . Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 185 ff. B R S (Lipoid 1985 ff.). Born/Stickel 1 9 9 3 (Domaschnew 2 5 1 ff.). Brunner/Kagedan 1988. Dahlmann/Tuchtenhagen 1 9 9 4 . Dietz 1 9 8 6 ; 1 9 9 5 . Dietz/Hilkes 1988; 1 9 9 2 . D o m a s c h n e w 1993; 1 9 9 4 a. Effern 1 9 9 7 . Eisfeld 1 9 9 2 . Fleischhauer 1 9 8 6 . Frank 1 9 9 2 . Glück u. a. 1995. Hilkes 1 9 8 8 ; 1 9 8 9 . Ingenhorst 1 9 9 7 . Jedig 1 9 9 0 . Kugler 1 9 9 2 . Kappeler u. a. 1 9 8 7 . M a l i n o w s k i 1 9 9 3 . Mattheier 1 9 9 1 b (Rosenberg 1 7 7 f f . ) . Maurer/Rupp 1 9 7 8 (Moser 6 2 9 ) . Meissner u. a. 1992. Melika 1993. Naiditsch 1996. Oschlies 1983. Pinkus/Fleischhauer 1 9 8 7 . Protze 1 9 6 9 . Risse/Roll 1 9 9 7 . R o t h e 1 9 9 6 . Schirmunski 1 9 9 2 . Steger 1 9 8 7 a. Stumpp 1 9 7 8 ; 1 9 8 0 . Wiens 1 9 9 3 . - Baltische Länder: B R S (Hinderling 9 0 8 ff.). Eckert 1 9 9 4 . Fleischhauer 1 9 8 6 . Kappeler u. a. 1 9 8 7 . Kiparsky 1 9 3 6 . Schönfeld 1 9 6 8 . Steger 1 9 8 7 a. Flucht, Vertreibung, Aussiedlung: Althammer/Kossolapow 1992. Bade 1 9 9 2 , 3 7 4 ff. Berend 1 9 9 1 ; 1 9 9 7 . Boll 1 9 9 3 . Dederichs 1 9 9 7 . D e m b o n 1 9 9 4 . Dietz 1 9 8 6 ; 1 9 9 5 . Dietz/Hilkes 1 9 9 4 . Effern 1 9 9 7 . Graudenz 1 9 9 5 . Herdegen 1989. Hilkes 1 9 8 9 . Kotzian 1 9 8 7 . Kusterer 1 9 9 0 . M a l c h o w 1 9 9 0 . Plaschka u. a. 1 9 9 7 . Reitemeyer 1 9 9 4 . Rösch 1 9 9 5 . Schieder 1957 ff. Steger 1987 a. Warkentin 1 9 9 2 . Worbs 1 9 9 5 . USA: Arter-Lamprecht 1992. Auburger u . a . 1979. Bade 1992, 1 3 5 f f . Berend/Mattheier 1 9 9 4 . R . B o r n 1 9 9 4 . Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 2 4 5 f f . B R S (Eichhoff 1 9 9 0 f f . ) . DPhA (Wood 1931 ff.). Enninger u. a. 1 9 8 2 ; 1989. Fröschle 1991. Gilbert 1971; 1 9 7 2 . Harvard encyclopedia . . . 1980. Heibich 1 9 9 4 . Helfrich 1 9 9 2 . Kaufmann 1 9 9 7 . Kelz 1 9 8 5 . Kloss 1 9 7 4 a ; 1 9 8 5 . Kurthen 1 9 9 7 . Maurer/Rupp 1 9 7 8 (631 ff.). Meister-Ferré 1 9 9 4 . Mertes 1 9 9 4 . Moelleken 1 9 8 3 . Neide 1 9 8 3 (Moelleken III, 2 9 5 f f . ) . Ness 1 9 8 9 . O k s a a r 1 9 8 4 (Enninger 2 2 0 f f . ) . Raith 1 9 9 1 . Reed/Seifert 1954. Rein 1977; 1 9 8 4 . Salmons 1993. Schultz 1 9 8 4 . Schwartzkopff 1987. Tolzmann 1 9 9 3 . T r o m m l e r 1 9 8 6 . Wacker 1 9 6 4 . - Kanada: A m m o n 1 9 9 1 a , 9 7 f . Auburger u . a . 1 9 7 7 . Bade 1 9 9 2 , 185 ff. Born/Dickgießer 1989, 117 ff. Fröschle 1 9 8 7 . Helling 1 9 8 4 . Moelleken 1 9 8 7 . Peter 1 9 8 7 . Thiessen 1 9 6 3 . Wacker 1 9 6 5 . - Lateinamerika: Altenhofen 1 9 9 6 . A m m o n 1991 a, 99 ff. Bade 1992, 197 ff. Berend/Mattheier 1 9 9 4 , 2 2 1 ff., 2 7 3 ff. Born/Dickgießer 1 9 8 9 . Born/Gärtner 1998. C. Brandt 1992. D a m k e 1997. Fausel 1 9 5 9 . Fröschle 1979; 1 9 9 1 . Harms-Baltzer 1 9 7 0 . Heyne 1978. W. H o f f m a n n 1 9 7 8 . Ilg 1 9 8 9 . Lasch 1 9 9 6 . Maurer/Rupp 1 9 7 8 (Moser 6 3 9 ff.), v. Metzen 1 9 8 3 . Moelleken 1 9 8 7 ; 1 9 9 3 . R o h k o h l 1 9 9 3 . Ziegler 1 9 9 6 . - Süd-, Südwest-, Ost-Afrika: Altehenger-Smith 1 9 7 9 . A m m o n 1 9 9 1 a , 7 5 ff., 103. Bertelsmann 1 9 7 9 . Bodenstein 1 9 9 3 . Born/Dickgießer 1989, 1 4 5 f f . , 2 0 7 f f . Gretschel 1 9 9 4 . Grünewald 1 9 9 2 . Interessengemeinschaft . . . 1 9 8 0 . Kadt 1 9 9 8 . Kleinz 1 9 8 4 . Kloss 1 9 7 8 b. Maurer/Rupp 1 9 7 8 (Moser 6 3 7 f.). Noeckler 1 9 6 3 . Pütz 1 9 9 1 . Schweizer 1 9 8 2 . Stielau 1 9 8 0 . Veiter 1 9 8 6 . Wacker 1 9 6 5 . - Australien, Neuseeland: A m m o n 1 9 9 1 a , 104. Bade 1 9 9 2 (Voigt 2 1 5 ff.). Berend/ Mattheier 1 9 9 4 (Clyne 105 ff., Pauwels 2 0 5 ff.). Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 27 ff. Clyne 1 9 8 1 ; 1 9 8 7 . Harmstorf/Cigler 1 9 8 5 . Pauwels 1 9 8 6 . Schulz 1 9 7 6 . Waas 1 9 9 4 ; 1 9 9 6 . Wacker 1 9 6 5 . - Pidgin-Deutsch im Pazifik: Mühlhäusler 1 9 7 7 ; 1 9 7 9 ; 1 9 8 0 . - Palästina, Israel: A m m o n 1 9 9 1 a , 104. Betten 1995. Born/Dickgießer 1 9 8 9 , 103 f. Ezel 1 9 8 3 . Löffler 1994, 7 5 . Maurer/Rupp 1 9 7 8 (Moser 6 3 7 f . ) . Pazi 1 9 7 9 . Wacker 1 9 6 5 .
190
6.4. Sprachminderheiten
Westliches Jüdischdeutsch/Jiddisch: Althaus 1965/68; 1968; 1972; 1981; 1986. Aptroot 1991. Beranek 1965. Bering 1991 ab; 1987. Besch u . a . 1983 (Katz 1018 ff.). Birnbaum 1996. DPhA (Beranek 1955 ff.). E. Eggers 1998. Erb/Bergmann 1989. Geipel 1982. Gilman 1993. Guggenheim-Grünberg 1973. Herzog et al. 1992 ff. Jakobowicz 1992. Jofe/Mark 1961 ff. Kiefer 1991; 1995. Landmann 1962/65. Lötzsch 1992. Prawer 1986. Römer 1995. B. Simon 1988; 1991. Starck 1994. Weinberg 1969; 1994. M . Weinreich 1980. Weissberg 1988. S. Wolf 1962. - Jiddismen im Dt.: Althaus 1963; 1965; 1969/70; 1988; 1993; 1995; 1997. Gelber 1986. König 1996. Matras 1991. Nachama 1995. Richter 1995. Roll 1986. Röll/Bayerdörfer 1986. Schnitzler 1966. Sprachprobleme bei Arbeitsimmigranten: Ammon u. a. 1988, 2 (Stölting-Richert 1564 ff.). Ayan 1995. Aytemiz 1990. Bade 1992, 393 ff. Barbour/Stevenson 1990, 192ff. Blackshire-Belay 1991. Cherubim/Müller 1978. Clahsen u . a . 1983. Clyne 1995 a, 194 ff. Cropley 1982. De Jong 1986. Dorfmüller-Karpusa 1993. Heidelberger Forschungsprojekt ... 1975. Hinnenkamp 1998. Karasu 1995. Keim 1984. Keim u. a. 1982. Kühlwein/Radden 1978. Kutsch/Desgranges 1985. Meisel 1975; 1977. MeyerIngwersen u. a. 1977. Neide u. a. 1981. Orlovic-Schwarzwald 1978. Pienemann 1981. Rath 1983. Rehbein 1987. Rieck 1989. Sari 1995. Schenker 1973. Schmalz-Jacobson/ Hansen 1995. Schramm 1996. Sivrikozoglu 1985. Stölting 1980. Tichy 1994. - Zu Pseudo-Pidgin, Xenolekt, Foreigner Talk s. Lit. zu 6.14...!
6.5. Deutsch in inter- und übernationalen Beziehungen A. Durch die weltpolitischen Veränderungen nach dem Ende der Nachkriegszeit, also dem Ende der Einfrierung nationalstaatlicher Politik im Ost/West-Gegensatz, wird heute über die Stellung Deutschlands und Österreichs in Europa und in der Welt neu und differenzierter nachgedacht, so auch über die Stellung der deutschen Sprache in Europa und in der Welt. Nach Ulrich Ammon, dem wir die neueste umfassende Monographie über dieses Thema verdanken (Ammon 1991a), ist die Status-Beziehung einer Sprache zu anderen Sprachen von „numerischer Stärke", „ökonomischer Stärke", „Prestige", gesellschaftlichen Funktionen sowie von Erlernung und Gebrauch als Fremdsprache abhängig (Ammon 1991 a, 33 ff.; 1989 a). Allein nach den S p r e c h e r z a h l e n hätte innerhalb Europas (ohne Rußland) die deutsche Sprache, mit etwa 90 Millionen Primärsprachsprechern und etwa 10 Millionen Sekundärsprachsprechern, den 1. Platz, aber in der Welt, mit fast 120 Millionen Primärsprachsprechern und etwa 40 Millionen Sekundärsprachsprechern, den 6. bis 11. Platz (Coulmas, in: Born/Stickel 1993, 11; Haarmann 1993, 53 ff.; Ammon 1991a, 40 ff.; 1991c, 71). Im Allgemeinen rangiert Deutsch nach seinem (nur abstrakt schätzbaren) Status in Europa aber weit hinter Englisch und etwas hinter Französisch, in der Welt jedoch mit großem Abstand hinter wirklichen ,Weltsprachen' wie Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch, Russisch. Nach der „ökonomischen Stärke" steht Deutsch etwa an dritter Stelle nach Englisch und Japanisch, vor Russisch, Spanisch und Französisch (Ammon 1991a, 47ff.). Die Sprecherzahl des Deutschen wuchs im 20. Jh. wesentlich langsamer als im 19. Jh. und geringer als die anderer international bedeutender Sprachen. In der nur fragmentarisch erkennbaren historischen Entwicklung ist ein „proportionales Schrumpfen" von Deutsch zu beobachten (Ammon 1991 a, 43 f.): Nach Otto Jespersens Schätzung von 1933 lag von 6 europäischen Sprachen (als Muttersprachen) Deutsch um 1500 noch zusammen mit Französisch an der numerischen Spitze, wurde um 1800 zahlenstärkste Sprache in Europa, während seit Ende des 19. Jh. Englisch weitaus die Oberhand gewann, Russisch im 20. Jh. das Deutsche überholte und Französisch seit dem 19. Jh. allmählich etwas hinter Deutsch zu liegen kam. Der numerische proportionale Rückgang hängt mit der in Deutschland stagnierenden Bevölkerungsvermehrung durch Hochindustrialisierung und Verstädterung zusammen, außerdem mit Deutschlands relativ spätem Eintritt in die Kolonialpolitik und deren frühem Ende im Ersten Weltkrieg.
192
6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Über solche quantitativen Gesichtspunkte — und solche der Lernschwierigkeit - hinaus ist der Rückgang der europäischen Geltung der französischen und der deutschen Sprache sprachenpolitische Folge einer „durch die Schulerziehung geformten nationalen Selbstisolierung der Franzosen und Deutschen" und eines „Uberangebots an nationalen Standardsprachen" in Europa (Haarmann 1993, 246f., 288). Viel mehr noch resultiert das Schwinden der europäischen und globalen Geltung des Deutschen aus dem allgemeinen politischen Prestigeverlust Deutschlands durch seine zwei mißglückten Versuche, sich militaristisch, sprachimperialistisch und totalitär mehr Macht und Einfluß zu verschaffen. Nicht allein „the atrocities committed by Nazi-Germany" (Clyne 1995 a, 6), sondern schon das wilhelminische System und sein Zusammenbruch in der Kriegsniederlage von 1918 leiteten prestigemindernde Entwicklungen ein wie die Reduzierung des deutschen Amtssprachgebiets durch neue Staatsgrenzen der Siegermächte und die Schwächung der Sprachloyalität bei deutschen Minderheiten im Ausland durch Zwang zur Zweisprachigkeit oder zum Sprachwechsel. So wurde im längst in Gang befindlichen Konkurrenzkampf mit der eigentlichen Weltsprache E n g l i s c h auch die stärkste Position des Deutschen, als Wissenschaftssprache, bereits seit der Zwischenkriegszeit geschwächt, während sein Status im diplomatischen Verkehr schon immer (hinter Französisch, später Englisch) sehr begrenzt war. Deutsch bleibt aber vielfältig leistungsfähige e u r o r e g i o n a l e Verkehrssprache auf mittlerer und unterer Ebene, seit 1989/90 zunehmend im östlichen Mitteleuropa als „a link language between East and West" (Clyne 1995 a, 19). Überhaupt ist in der europäischen sprachenpolitischen Entwicklung nach Ebenen zu unterscheiden: „Homogenisierung auf oberster, auf europäischer Ebene, Heterogenisierung auf unterster Ebene, mit Bezug auf regionale und Minderheitensprachen, auf Kosten der Amtssprachen der einzelnen Nationalstaaten" (Clyne, in: Born/Stickel 1993, 28). B. Bei der verschiedenartigen Verbreitung deutscher Sprache als Sekundärsprache haben sich in den an das geschlossene deutsche Sprachgebiet angrenzenden Ländern „Regionen bevorzugter Verwendung von Deutsch als Fremdsprache" entwickelt (Ammon 1991a, 121): Hier wird Deutsch als g r o ß r e g i o n a l e ü b e r n a t i o n a l e V e r k e h r s s p r a c h e verwendet, sei es infolge intensiver nachbarschaftlicher Wirtschaftsbeziehungen, sei es infolge historischer Herrschaftsverhältnisse im Rahmen eines alten Territoriums mit Deutsch als Amtssprache. In einem nördlichen Bereich — von den Niederlanden über Dänemark und Schweden zu den baltischen Ländern — war die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit verbreitete Verwendung von Deutsch als Verkehrssprache (durch NordOstseehandel, Hansestädte, Ritterorden usw.) im 19. Jh. schon stark
Β —D: Deutsch als euroregionale Verkehrssprache
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rückläufig. In einem östlichen Bereich — von Polen über Böhmen bis Ungarn und Jugoslawien — ist Deutsch als ehemalige Amtssprache im Rahmen der sprachimperialistischen Politik Preußens, des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie im öffentlichen Leben und in einigen Kulturbereichen so unentbehrlich oder hilfreich geworden, daß bis heute, verstärkt seit dem Ende des Systems der Ostblockstaaten, für Deutsch als inter/übernationale Verkehrssprache ein Bedürfnis besteht. Dabei sind zweierlei Verwendungsweisen zu unterscheiden (Ammon 1991a, 121 ff.): Deutsch wird als L i n g u a f r a n c a verwendet zwischen Sprechern anderer Primärsprachen, die also beide Deutsch nur als Sekundärsprache gelernt haben, mit symmetrischer Verteilung von Kommunikations-Chancen (d. h. ohne Muttersprachvorteil), ähnlich wie beim Latein unter Juristen, Geistlichen, Gelehrten noch bis um 1800 in Europa. Deutsch ist dagegen a s y m m e t r i s c h d o m i n a n t e Verkehrssprache, wenn es zwischen Sekundärsprachsprechern des Deutschen (mit anderer, ζ. B. slawischer Primärsprache) gegenüber Deutschsprachigen verwendet wird, die aber die Primärsprache solcher Kommunikationspartner nicht gelernt haben bzw. nicht verwenden. Asymmetrisch dominante Verwendung hängt oft kausal mit (historischen oder gegenwärtigen) politisch-sozialen oder ökonomischen Herrschafts- und Unterlegenheitsbeziehungen zusammen, kann aber auch aus der kommunikativen Wirkung von Mischsiedlung, städtischen Oberschichten oder Jiddischsprechern resultieren, so in Ost(mittel)europa (Földes, in: Born/Stickel 1993, 217ff.). C. Die zunehmende Verwendung asymmetrisch dominanter V e r k e h r s s p r a c h e n in Europa hängt mit der Ablösung des universalen L a t e i n s durch verschiedene emanzipierte Volkssprachen zusammen: Niederdeutsch als Geschäftssprache in Nordeuropa in der Hansezeit (s. Bd. I: 4.4H), im 16./17. Jh. teilweise durch Niederländisch ersetzt (s. 6.4.1K), Hochdeutsch als lutherisch-protestantische Kirchensprache in Nordeuropa (resthaft bis ins 19. Jh.), Italienisch und Spanisch als südeuropäische Hof- und Handelssprachen in der Renaissancezeit, mit Ausstrahlung bis nach Süddeutschland und Österreich, Französisch als Sprache der höfischen und aufklärerischen Bildung im 17. und 18. Jh. (im diplomatischen Verkehr und im Adel bis um 1900) (s. Bd. II: 5.3L —Q), Deutsch als Wissenschaftssprache vom späteren 19. Jh. bis in die 1920er Jahre (s. 6.5U). Da solche Sprachdominanz sich meist auch als freiwillige Übernahme zwecks Weitläufigkeit und Modernisierung auswirkte, setzte sich asymmetrisch dominante Verwendung häufig auch als Lingua-franca-Verwendung fort, ζ. B. wenn Nicht-Frankophone auch nach dem Ende politi-
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6.5. Inter- und ü b e r n a t i o n a l e Beziehungen
scher Dominanz weiterhin miteinander auf Französisch, Nicht-Anglophone auf Englisch, Angehörige verschiedener ost(mittel)europäischer Völker auf Deutsch kommunizieren, so auch bei Auswanderung nach Übersee. Dabei spielt auch der Grad der Sprachverwandtschaft und Lernschwierigkeit eine Rolle: Da Finnisch, Estnisch, baltische Sprachen und Magyarisch jeweils mit den slawischen Nachbarsprachen nicht oder nur sehr entfernt verwandt, also ihnen extrem unähnlich sind, besteht für Sprecher solcher Sprachen ein verstärktes Bedürfnis nach Deutsch als Lingua franca gegenüber ihren Nachbarn (und umgekehrt). Auch unter den slawischen Völkern war Deutsch nach einem Wort Lenins „die allgemeine Slawensprache", die viel zu den revolutionären Bewegungen beigetragen hat. Deutsch als Verkehrssprache war im Laufe der politischen Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg schon in Dänemark und den baltischen Ländern zurückgegangen, hatte sonst aber zugenommen durch die wachsende Machtposition des Deutschen Reiches und die Zwänge der preußischen und österreichischen Sprachenpolitik (s. 6.4.1Q —X). Seit dem Zusammenbruch des wilhelminischen Imperialismus und der Habsburgermonarchie wird Deutsch in Europa Schritt für Schritt zurückgedrängt durch eine andere Lingua franca. Dies konnte nicht mehr das seit der napoleonischen Zeit rückläufige Französisch sein. An dessen Stelle trat seit der Spätaufklärung in Mitteleuropa ganz allmählich das E n g l i s c h e , das zunächst von Intellektuellen, Experten und Handeltreibenden freiwillig gelernt wurde als Sprache der ,Freiheit', der Demokratisierung, der Modernisierung, des ökonomischen und technischen Fortschritts, wobei man hier von seiner (in Europa weniger relevanten) überseeischen historischen Rolle als kolonialistische Herrschaftssprache absehen kann (s. Fishman u. a. 1977; 1996). Französisch und Deutsch blieben trotzdem weithin nützlich. Der Rückgang beider Sprachen als Verkehrssprachen in Europa verstärkte sich seit der noch radikaleren Veränderung der weltpolitischen Konstellation durch Ersten Weltkrieg, Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg. So hat Englisch als unbestritten erstrangige Weltsprache heute fast die Rolle des Lateins im alten Europa erreicht und läßt dabei auch das Französische und Russische hinter sich. D. Das neue Interesse für Deutsch als o s t ( m i t t e l ) e u r o p ä i s c h e Verkehrssprache seit der politischen Wende 1989/90 (F. Stark 1993) wird zwar am Verhältnis zur Weltsprache Englisch nichts ändern; aber gegenüber anderen teileuropäischen Verkehrssprachen, vor allem Französisch und Russisch, sei seit dem Ende der Ost/West-Teilung Europas eine dem Deutschen günstige „starke Veränderung" im Gange, die als „Kontinui-
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tätsbruch" gesehen werden könne (Berschin 1994, 313 kritisch zu Amnion 1991a). Pessimistischer urteilt Helmut Glück (in: FAZ 14.12.1996, S. 11): „Ein Statusverlust des Deutschen in Mittel- und Osteuropa ist unübersehbar. Die Anfang der 90er Jahre überschäumende Nachfrage stagniert"; künftig werde auch das Russische in der Nachfrage wieder steigen, auf Kosten des Deutschen. Kritisch sieht der Anglist Konrad Schröder (in: Wodak /de Cillia 1995, 108) die neue Rolle des Deutschen in Ostmitteleuropa: Sie hänge mit dem „ökonomischen Machtgefälle" zusammen, und mit dem Anspruch des Deutschen als „eine der dominierenden Sprachen der Europäischen Union (neben Englisch, Französisch, Spanisch)" nehme man teil am „Verdrängungswettbewerb gegenüber den ,kleineren' europäischen Sprachen". Nach der Befreiung vom (weitgehend erfolgsarmen) Z w a n g zu Russisch als übernationaler Verkehrssprache seit 1989/90 richtet sich die Rückbesinnung auf die alte Rolle des Deutschen als k.u.k. Amts- und Verkehrssprache teilweise auch auf die ö s t e r r e i c h i s c h e Varietät des Deutschen (s. 6.IIP—S). Zugleich regte sich in Österreich selbst nach der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik ein verstärktes sprachliches Selbstbewußtsein (vgl. z.B. Pollak 1992; 1994; Muhr 1994; 1996ab), da mit dem Ende der staatlichen Varietät DDR-Deutsch das Bewußtsein von vier nationalen/ staatlichen Varietäten des Deutschen geschwächt und neue ,binnendeutsche' (neubundesdeutsche) Sprachdominanz befürchtet wird (vgl. v. Polenz 1988; 1990; HessLüttich 1990 b; Clyne 1993, 5). Es entstand auch die auf das alte übernationale Kulturzentrum Wien orientierte „Alpen-Adria"-Länderkooperation. So prognostiziert Michael Clyne eine künftige Verschiebung des Gleichgewichts der Machtverhältnisse hinsichtlich der Sprachen und auch der nationalen/regionalen Sprachvarietäten des Deutschen: „Nach den heutigen politischen Verhältnissen zu urteilen wird eine mitteleuropäisch-alpenländisch-süddeutsche Norm (Mittelpunkt Wien) einen Platz in der sprachlichen Landschaft in einem vergrößerten integrierten Europa haben" (Clyne, in: Born/Stickel 1993, 32 ff.; in: Muhr 1993, 5). — In den Beitrittsverhandlungen mit der EG (Protokoll 10) hat Österreich die Amtlichkeit von 23 gastronomischen Austriazismen (z. B. Faschiertes, Karfiol, Topfen) vorsorglich angemeldet und hält sich gegenüber den bundesdeutschen Forderungen nach mehr Deutsch als EG-Arbeitssprache bewußt zurück (Ammon 1995 a, 209, 474). Nachdem in der Tschechoslowakei seit 1938/39 unter deutscher Okkupation der Deutschunterricht stark reichsdeutsch orientiert wurde, was sich nach 1945 durch einseitige sozialistische' DDR-Orientierung (Lektoren, Studienaufenthalte) fortsetzte, wendet man sich in Tschechien seit 1989 wieder mehr der alten engen Beziehung zum österreichischen Deutsch zu (L. Spácilová, in: Muhr 1993, 99 ff.). Hier wie in den anderen slawischsprachigen Nachbarländern Österreichs und in Ungarn erinnert man sich wieder an die Herkunft vieler deutscher Lehnwörter aus dem österreichischen Deutsch (Muhr 1993, 67 ff.). Bei einer stärkeren Österreich-Orientierung von Deutsch als Fremdsprache ist man sich aber der größeren internationalen Reichweite deutschländischer Varianten durchaus bewußt. Als neues plurizentrisches Programm für DaF soll gelten: „Vermittlung überregionaler Produktionsnormen und regionaler Rezeptionsnormen" (Muhr 1996 a, 231).
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6 . 5 . Inter- und übernationale Beziehungen
E. Für das Erlernen von D e u t s c h a l s F r e m d s p r a c h e (DaF) gibt es im frühen 19. Jahrhundert Zeugnisse, die heute, nach einem politischhistorisch bedingten Rückgang, erstaunlich wirken: Nach einer Stelle in E c k e r m a n n s Gesprächen mit G o e t h e sei um 1 8 0 0 das Interesse an der deutschen Sprache in England so g r o ß gewesen, „daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist, der nicht Deutsch lernte" (n. A m m o n 1 9 9 1 a , 4 7 ) . Seit der Spätaufklärung gab es eine gegenseitige Sprachlernbeziehung zwischen intellektuellen Engländern und Deutschen. Ein hervorragendes Beispiel für deutschen geistigen Einfluß in England war T h o m a s Carlyle, ähnlich wie die M a d a m e de Staël in Frankreich. Von der bis 1 8 3 7 dauernden Personalunion zwischen G r o ß b r i t a n n i e n und H a n n o v e r her war das englische Königshaus im 19. J h . stark deutsch versippt, was sich auf zahlreiche Reisen und Aufenthalte von Angehörigen der englischen O b e r schicht in Deutschland bis in die wilhelminische Zeit auswirkte. Auch die wirtschaftlichen und technischen Beziehungen waren seit dem Beginn der deutschen Industrialisierung lebhaft. D a Englisch in Deutschland noch wenig verbreitet war, ist in dieser Z e i t mit einer stärkeren Neigung vieler Briten zum Deutschlernen zu rechnen (vgl. O r t m a n n s 1 9 9 3 ) , noch stärker in den USA, wo Deutsch mit Abstand die meistgelernte Fremdsprache ( 6 5 % ) war (Ammon 1 9 9 1 a , 4 2 0 f f . ) . Auch in Frankreich und Polen lag D a F um 1 9 0 0 weit vor Englisch und allen anderen Fremdsprachen (Ammon 1991 a, 4 2 8 , 4 3 1 ) . In J a p a n erlangte Deutsch vor etwa 1 0 0 J a h r e n eine beachtliche Bedeutung, z. B. in Medizin, Rechtsprechung, Musikleben (Ammon 1 9 9 4 b).
Auf dem Höhepunkt seiner internationalen Geltung vor dem Ersten Weltkrieg war Deutsch zwar nicht eigentlich ,Weltsprache', aber doch in der Welt 3. Fremdsprache, oft annähernd gleich mit Englisch oder Französisch, in Nord- und Osteuropa sogar teilweise 1. oder 2. Fremdsprache. In der Habsburgermonarchie war Deutsch — neben der Rolle als territorialer Muttersprache, Sprache ländlicher Minderheiten und städtischer Oberschichten — dynastisch verordnete Amtssprache, also Herrschaftssprache, und wichtigste Verkehrssprache, auch weil die Ungarn gegenüber slawischen Nachbarn Deutsch als Lingua franca verwenden. Selbst im nationalsprachlich früh emanzipierten Ungarn (s. 6.4.1U—Y) herrschte stets deutsch-magyarische Zweisprachigkeit, besonders in Städten und in Gebieten deutscher Minderheiten (Földes, in: Born/Stickel 1993, 2 1 7 f f . ) . F. Der P r e s t i g e v e r l u s t von Deutsch als Fremdsprache und damit die Abnahme der Neigung Deutsch zu lernen, begann in Frankreich schon vor dem Ersten Weltkrieg, sonst aber in größerem Ausmaß und sprunghaft während des Ersten Weltkriegs, z. B. in allen anglophonen Ländern, besonders stark in den USA, wo D a F meist durch Französisch und Spanisch ersetzt wurde (Ammon 1 9 9 1 a , 4 2 0 ff.; Classen 1988; Holl 1974; Lauwer-Rech 1995; Eg. Schwarz 1996). Deutsch blieb weiter wichtig in Nord- und Osteuropa. In den 20er Jahren konnte sich DaF in einigen Ländern zwar etwas erholen, aber der allgemeine Rückgang war schon in der Zwischenkriegszeit deutlich komplementär verbunden mit gleich-
Ε—I: Deutsch als F r e m d s p r a c h e
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zeitigem Rückgang des Französischen und Zunahme des Englischen in Europa und in der Welt (Ammon 1991a, 428 ff.). Verschärft wurde die negative Entwicklung seit dem Beginn der Naziherrschaft und nach dem Zweiten Weltkrieg, nun auch in Nordeuropa. Ulrich Ammon (1991 a, 431 ff.) konstatiert zusammenfassend: Während in Europa DaF vor dem Ersten Weltkrieg noch mit Englisch fast gleich war, nach Französisch, ging es in den 30er Jahren allgemein auf 23,1 % zurück, jedoch nicht in Polen und Ungarn. In der Nachkriegszeit war Deutsch so gut wie nirgends mehr 1. Fremdsprache, meist nicht mehr Schulpflichtfach. In der westlichen Welt fällt Deutsch auch hinter Spanisch zurück. 1982/83 w a r D a F in insgesamt 88 L ä n d e r n S c h u l f r e m d s p r a c h e , in 89 L ä n d e r n (meist kleineren) nicht. Die G e s a m t z a h l der Deutschlerner w i r d auf 15 — 20 Millionen in der Welt, d a v o n zwei Drittel in O s t ( m i t t e l ) e u r o p a geschätzt ( A m m o n 1991 a; Schirmer, Földes, in: Born/Stickel 1993, 130, 2 2 2 f f . ) . Die Tendenz ist in 41 L ä n d e r n steigend, vor allem seit der E r w e i t e r u n g der E G (z. B. in G r o ß b r i t a n n i e n , Irland, Schweden, U n g a r n , J u g o s l a w i e n , Spanien, Türkei, Ägypten, China), in 28 L ä n d e r n fallend (z. B. in Frankreich, Belgien, N o r w e g e n , Finnland, K a n a d a , Chile, Peru, J a p a n ( A m m o n 1991 a; Born/Stickel 1993; vgl. die z. T. a b w e i c h e n d e n A n g a b e n in: Auswärtiges A m t ... 1985, 6 2 f f . ) . In den USA sank die Z a h l der D e u t s c h l e r n e n d e n an Colleges u n d Universitäten von 1990 bis 1995 u m 2 8 % , zugunsten von Chinesisch, Arabisch und Spanisch (Glück, in: F A Z 14. 12. 1996, S. 11). In J a p a n wird d u r c h A u f r e c h t e r h a l t u n g des traditionellen Interesses f ü r Deutsch in Universitäten und in der W a r e n w e r b u n g die Tatsache verdeckt, d a ß die Z a h l der japanischen D e u t s c h l e r n e n d e n , trotz Z u n a h m e der Z a h l der F r e m d s p r a c h l e r n e n d e n ü b e r h a u p t , stark zurückgegangen ist, da d u r c h D o m i n a n z des Englischen seit d e m Z w e i t e n Weltkrieg, auch bei japanischen Auslandsvertretungen deutscher Firmen u n d bei japanischen Firmen in D e u t s c h l a n d , die beruflichen A n w e n d u n g s m ö g l i c h k e i t e n gering g e w o r d e n sind ( C o u l m a s , in: A m m o n 1994 b).
G. In E G - L ä n d e r η ist das Verhältnis zwischen Deutsch, Französisch und Englisch als Schulfremdsprache (nach der Literaturauswertung bei Ammon 1991 a, 440) mit 1:3,1:6,3 für Deutsch günstiger als in der Welt (1:3,4:7,8), aber das Interesse für Deutsch stagniert oder geht zurück (Glück, in: FAZ 14. 12. 1996, S. 11). In E G - L ä n d e r n u n d ost(mittel)europäischen L ä n d e r n ist Deutsch überall Schulfremdsprache, in der Welt n u r in etwa der H ä l f t e der Länder. D o c h von 1973/74 bis 1985/ 87 h a t sich in E G - L ä n d e r n der Anteil von Deutsch gegenüber Französisch und Englisch e t w a s verschlechtert: von 1:2,2:4 zu 1:3,1:6,3. Absolute Z a h l e n von Fremdsprachenschülern f ü r 1 9 8 5 - 8 7 : Englisch 18.133.320, Französisch 9.088.163, Deutsch 2.888.011, Spanisch 1.385.801, Italienisch 215.840, Niederländisch 212.214, P o r t u giesisch 13.709 ( A m m o n , a. a. O.). In Frankreich ist von 1976 bis 1996 Deutsch als 1. S c h u l f r e m d s p r a c h e von 16 auf 1 1 % gesunken, als 2. S c h u l f r e m d s p r a c h e von 36 auf 2 7 % , zugunsten von Spanisch (Glück, in: F A Z 14.12.1996, S. 11).
Seit der weltpolitischen W e n d e 1 9 8 9 / 9 0 hat sich zunächst die Nachfrage nach DaF verstärkt. Die Zahl der vom Goethe-Institut (Gl) und
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
anderen Mittlerorganisationen betreuten Deutschlehrer ist von etwa 70.000 (1987) auf etwa 160.000 (1992) angestiegen (Eichheim, in: Born/ Stickel 1993, 262ff.). Diese Tendenzwende zeigt sich vor allem in den angrenzenden o s t m i t t e l e u r o p ä i s c h e n Ländern, die nach Auflösung des Eisernen Vorhangs ihre Zugehörigkeit zu ,Mitteleuropa' wiederentdeckten (Ammon 1991 a, 138 ff.): Der in der Ostblockzeit obligatorische Russischunterricht wurde wahlfrei oder abgeschafft; zahlreiche arbeitslos gewordene Russischlehrer wurden zu Deutschlehrern umgeschult, z. T. mit Unterstützung des Goethe-Instituts und der Bundesregierung. Die Aktivitäten der DDR, die beträchtlich und erfolgreich waren (Herder-Institut Leipzig) wurden in den ost(mittel)europäischen Ländern weitgehend durch zusätzliche Mittel des Auswärtigen Amtes indirekt fortgeführt, nicht aber in westlichen Ländern, wo z. T. durch Wegfall des DDR-Programms und Schließung von 9 Instituten des Gl Rückschläge zu verzeichnen sind, z. B. in Spanien (Ruiz-Ayúcar, in: Born/ Stickel 1993, 193 ff.). 12 neue deutsche Kulturinstitute des Gl wurden seit 1989 u. a. in Budapest (schon 1988), Moskau, Warschau, Krakau, Prag, Preßburg, Sofia eingerichtet. — Zu österreichischen DaF-Aktivitäten in Ostmitteleuropa s. Ammon 1991 a, 559 ff.; Scheuringer 1993, 84 f.; Clyne 1995 a, 24 f.; Muhr 1996 c; Clyne, in: Muhr u. a. 1995, 7 ff.; Fasch 1997! H . Auch in den ost(mittel)europäischen Ländern, besonders in den nicht unmittelbar angrenzenden, steht Deutsch als Fremdsprache in starker K o n k u r r e n z m i t E n g l i s c h , das ebenso aktiv durch den British Council gefördert wird. Da man in formelleren Situationen und in modernen, städtischen Bildungs- und Berufsbereichen stärker zu Englisch als zu Deutsch tendiert, vor allem Jüngere, wird eine heute noch zu beobachtende Bevorzugung von Deutsch vor der Weltsprache Englisch, bzw. annähernde Gleichstellung, in diesen Ländern in absehbarer Zeit schwinden, außer vielleicht in Ungarn. Deutsch ist nur t e i l e u r o p ä i s c h e übernationale Verkehrssprache für mehr alltägliche, nicht gerade innovative Zwecke. Ammon (1991 a, 149) warnt vor einer Überschätzung der ost(mittel) europäischen Chancen für DaF, weist auf die langfristigen Nachteile des nur asymmetrisch dominanten Gebrauchs zwischen Ost(mittel)europäern und Deutschen ohne Gegenseitigkeit hin und hält es für unwahrscheinlich, daß „Deutsch in Osteuropa seine ehemalige Position als vorherrschende lingua franca in vollem Umfange wiedererlangt", obwohl es gegenüber Französisch und Russisch als teileuropäische Verkehrssprache zunimmt (Berschin 1994). Durch eine Expertenbefragung kurz vor der Auflösung des Ostblocks erhielt Ammon (1991a, 126 ff.; auch in: G M 32, 1990, 67—81) Hinweise auf Entwicklungstendenzen des Gebrauchs von Deutsch als Verkehrssprache in Ost(mittel)europa: Deutsch wurde
Ε —I: D e u t s c h als F r e m d s p r a c h e
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Häufigkeit in
Deutsch
u
Russisch
Englisch
H ä u f i g k e i t als L i n g u a f r a n c a in O s t e u r o p a 1 9 8 8 / 8 9 (n. A m m o n 1 9 9 1 a , 137)
43 mal, R u s s i s c h 3 9 , 5 mal als a s y m m e t r i s c h d o m i n a n t e S p r a c h e (also mit M u t tersprachvorteil des einen Partners) genannt, bei Deutsch deutlich häufiger für die ältere G e n e r a t i o n , bei Russisch u m g e k e h r t . In informellen Situationen ist diese A s y m metrie viel häufiger als in mehr formellen, b e s o n d e r s bei J ü n g e r e n . Bei L i n g u a f r a n c a - V e r w e n d u n g (Fremdsprache für beide Partner) sei eine erstaunliche T e n d e n z sichtbar g e w o r d e n : „ d a ß die nicht-deutschen und die nicht-russischen N a t i o n a l i t ä t e n mit den D e u t s c h s p r a c h i g e n auf R u s s i s c h und mit den R u s s i s c h s p r a c h i g e n auf D e u t s c h k o m m u n i z i e r e n " , vielleicht eine innere A b w e h r gegen historische bzw. bestehende Herrschaftsverhältnisse durch „ S p r a c h v e r k e h r u n g " als Verweigerung des Muttersprachvorteils. In der jüngeren G e n e r a t i o n w e r d e Englisch d e m Deutschen als L i n g u a f r a n c a deutlich vorgezogen.
I. Die weitere Entwicklung seit der Westöffnung der ost(mittel)europäischen Länder ist noch nicht abzusehen. Anders als Ammon weist Scheuringer (1993) darauf hin, daß Deutsch in früherer Zeit in Ostmitteleuropa weniger Lingua franca als vielmehr „Herrscher- oder Siegersprache" gewesen sei, von 1945 bis 1989/90 „Sprache eines sozialistischen Bruderlandes", und erst nach der Wende 1989/90 erstmalig die Chance habe, als „Sprache der Freiheit" und Sprache der westmittel-
200
6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
europäischen Vermittlungsregion des ersehnten politisch-wirtschaftlichkulturellen Weges nach Europa zu einer echten großregionalen Lingua franca zu werden. In dieser Frage darf der Unterschied zwischen Lingua franca (symmetrisch) und asymmetrischer Dominanz (Ammon) nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn seit der Wende 1989/90 immer wieder von ost(mittel)europäischen Experten und von eigenspracheuphorischen Deutschsprachigen zu hören ist, viele Deutsche und Österreicher arbeiteten der neuen ostmitteleuropäischen Nachfrage nach Deutsch als Verkehrssprache entgegen, indem sie mit ost(mittel)europäischen Kommunikationspartnern, vor allem in offiziellen Situationen, trotz deren Deutsch-Angebot das Englische benutzen, so ist bei einer voreiligen sprachenpolitischen Beurteilung dieser Erscheinung Vorsicht geboten: Ist es nur mangelnde Sprachloyalität und prestigebetonte Ausnutzung der größeren Routine in der westlichen Weltsprache, verbunden mit Geringschätzung des nicht fehlerfreien Deutsch der Partner, oder ist es Höflichkeit durch Verzicht auf Ausnutzen des Muttersprachvorteils? Vielleicht haben Deutschsprachige, vor allem Österreicher (s. Gellert-Novak 1993, 130) aus der sprachenpolitischen Entwicklung seit 1919 und seit 1945 so etwas wie ,gebremsten Sprachstolz' gelernt und ahnen intuitiv etwas von den politisch-moralischen Schattenseiten einer asymmetrisch dominanten Verwendung des Deutschen? Hier sind weitere, differenzierende Untersuchungen erforderlich. In T s c h e c h i e n wurde 1990 in Volksschulen zu 50% Deutsch als Fremdsprache gewählt, zu 40% Englisch, zu 10% Russisch, zu 1% Französisch, an mittleren und höheren Schulen zu 40% Englisch, zu 30% Deutsch, fast zu 30% Russisch, zu unter 3 % Französisch, an Hochschulen noch mehr Englisch als Deutsch (Ammon 1991a, 143; Maier, Vlcková, in: Wodak / de Cillia 1995, 75 ff., 131 ff.), ebenso in den Hauptstädten Praha/Prag und Bratislawa/Preßburg, während in den Provinzstädten eine stärkere Neigung zu Deutsch besteht (Skála, in: Born/Stickel 1993, 185). — In U n g a r n , das stark unter deutschsprachigem (nicht nur österreichischem) Medieneinfluß steht (Fernsehen, Presse, Fachbücher) liegt nach Stellenanzeigen die Nachfrage nach Deutschkenntnissen mit 39,97% über der nach Englisch (36,68%) und Französisch (3,35%) (Ammon, in: Born/Stickel 1993, 43); 1996 noch stärker: 41,58% Dt., 38,46% Engl. (Glück 1995 b, 44). 1986 lag Deutsch bei Fremdsprachkenntnissen Erwachsener in Ungarn an der Spitze: 7,8% Deutsch (55,9% innerhalb der Fremdsprachkundigen), 3 % Russisch, 1,9% Englisch, 1,4% Slowakisch (Földes, in: Born/ Stickel 1993, 220 ff.). In allgemein- und berufsbildenden Schulen dominiert in Ungarn Deutsch als 1. Fremdsprache vor allem auf dem Lande und in praktischen, ortsund regionalbezogenen Berufen, dagegen Englisch in höheren Schulen und in den Wissenschaften, wobei aber Intellektuelle und Handeltreibende gegenüber ihren slawischen Nachbarn (außer Russen) gern Deutsch als Lingua franca verwenden (Földes, a. a. O.; Eichinger, Hessky, in: Wodak/de Cillia 1995, 53 ff., 63 ff.). — In P o l e n war nach Ergebnissen eines polnischen Meinungsforschungsinstituts 1993 Deutsch die beliebteste Fremdsprache mit 40% vor Russisch (18%), Englisch (17%), Französisch (2%) (Debus 1994, 57). Andererseits war bei Stellenangeboten die Nachfrage nach Englisch mit 46,42% weitaus höher als die nach Deutsch (25,55%) und Französisch
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Ε—I: Deutsch als Fremdsprache
( 6 , 5 9 % ) (Ammon, in: Born/Stickel 1993, 43). In Polen soll sich von 1988 bis 1992 die Zahl der Deutschlerner auf 1.444.000 verdreifacht haben (Berschin 1994, 313). Z u Deutsch als „internationaler Sprache" in Polen (nicht Fremd-, nicht Muttersprache) s. Grucza 1998! — In der S o w j e t u n i o n , mit der weltweit größten Auslandsgermanistik, war Deutsch bis in die 60er J a h r e die meistgelernte Fremdsprache; im praktischen Gebrauch ist es aber seit dem Zweiten Weltkrieg stark zurückgegangen und wird hauptsächlich für Lesen, Textverstehen und Übersetzen gelernt, mit etwa 9,4 Millionen Deutschlernern 1989/90 (Domaschnew, in: Born/Stickel 1993, 2 5 4 f f . ) . Seit den 60er Jahren, verstärkt seit der Perestrojka, wird Deutsch in internationaler Kommunikation vor allem bei Jüngeren durch Englisch zurückgedrängt, mit 5 4 , 7 % Englisch (steigend) und 3 3 , 6 % Deutsch (fallend) (Ammon 1 9 9 1 a , 146 ff.); nach D o m a schnew (a. a. O.) nur 4 5 - 5 0 % Englisch, 2 5 - 3 0 % Deutsch, 1 5 - 2 0 % Französisch, 1 0 % Spanisch.
Deutsch ist also heute in O s t ( m i t t e l ) e u r o p a noch die zweitwichtigste, in W e s t e u r o p a allenfalls noch die drittwichtigste F r e m d s p r a c h e nach d e m feststellbaren B e d a r f , und zwar vor allem für traditionellere, alltäglichere Bedürfnisse. Proportionale Z a h l e n für einige westeuropäische L ä n d e r nach A m m o n (in: Born/Stickel 1993, 43 ff.): (n. Ammon)
Englisch:
Französisch:
Deutsch:
Spanisch:
Großbritannien: Frankreich: Spanien: Italien:
—
15,28%
71,09% 60,1% 68,83%
6,94% 10,64% 7,48% 6,17%
5,56% 5,39%
-
20,99% 9,42%
-
Die relative Schwäche des Deutschen in interlingualer Kommunikation zeigt sich in der relativ geringen Zahl von ins Ausland vergebenen Lizenzen für Übersetzungen deutschsprachiger Titel auf dem Buchmarkt im J a h r e 1987: nur 2.391 gegenüber 9.325 Übersetzungen aus dem Englischen, 1.108 aus dem Französischen ins Deutsche (Coulmas, in: Born/Stickel 1993, 18).
J . Der R ü c k g a n g der internationalen Stellung der deutschen Sprache hat mindestens indirekt auch etwas zu tun mit dem zunehmend kritischen Bewußtsein in nichtdeutschsprachigen L ä n d e r n in Bezug auf d a s stark m o n o l i n g u a l e Verhalten der meisten D e u t s c h s p r a c h i g e n , d. h. ihre N e i g u n g , gegenüber Anderssprachigen nach M ö g l i c h k e i t die deutsche Sprache a s y m m e t r i s c h d o m i n a n t zu verwenden, also ihnen nicht in deren S p r a c h e zu begegnen, sondern deren Bereitwilligkeit, Deutsch zu lernen, als eigenen Vorteil zu nutzen. D i e E r f o l g s - C h a n c e n der Verbreitung von Deutsch als F r e m d s p r a c h e sind heute vor allem in westlichen L ä n d e r n auch v o m M a ß der Gegenseitigkeit a b h ä n g i g . D e s h a l b ist auch nach der Entwicklung des F r e m d s p r a c h e n l e r n e n s und -benutzens auf der Seite der D e u t s c h s p r a c h i g e n , vor allem der Deutschen, zu fragen. In der Goethezeit war d a s praktische Sprachenlernen bis in die unteren Mittelschichten als Mittel des sozialen Aufstiegs und der Bildung eine
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Selbstverständlichkeit (Schreiner 1992). Der deutsche Sprachnationalismus hat sich seit der napoleonischen Zeit auf das Verhältnis der Deutschen zum Fremdsprachenlernen negativ ausgewirkt. Die nationalistische Emanzipation vom Französischen als absolutistischer Herrschafts- und Standessprache und als Okkupationssprache im frühen 19. Jh. ist zu einer Tendenz pervertiert worden, moderne Fremdsprachen geringzuschätzen, in „einem für das deutsche höhere Schulwesen wenig rühmlichen Klima aus neuhumanistisch-idealistischer Halbbildung, teutonischer Kraftmeierei und nationalem Dünkel [...], das Rassenhaß begünstigt und das Dritte Reich von langer Hand vorprogrammiert" hat (K. Schröder 1989, 58). Nach beachtlichen Ansätzen zu deutsch-französischer Zweisprachigkeit in deutschsprachigen Ländern — wie weithin in Europa — in der Zeit des späten Absolutismus, der Aufklärung und der französischen Besatzungsherrschaft von 1792 bis 1813, von Fürstenhöfen und Gelehrten bis ins gebildete Bürgertum, fragmentarisch bis zu Handwerkern und Bediensteten (s. Bd. II: 5.3L—S), wurde von deutschnationalistischen Publizisten in den Befreiungskriegen der Sieg über Frankreich zu einem Sieg über die anderthalb Jahrhunderte gesellschaftspolitischer und kultureller Dominanz des Französischen über das Deutsche propagandistisch instrumentalisiert. Französisch wurde einseitig — d. h. mit ideologischer Ausklammerung der Funktion als Sprache der Modernisierung und Aufklärung — als Sprache des Ancien Régime und als nationale Feindsprache verteufelt und im Bildungsprogramm der Schulen stark reduziert. Französisch ,nach Waterloo' wurde nur noch als dritte oder vierte Fremdsprache, ohne zentralen Bildungswert, für speziell Interessierte, nicht mehr von frankophonen Spracbmeistern, sondern nur als Lesesprache von literarisch gebildeten Philologen gelehrt. Gut gesprochenes Französisch wurde zur Konversationssprache höherer Töchter degradiert, allerdings mit strenger Überwachung des nicht mehr erwünschten französischen Kultur- und Sitteneinflusses. An die Stelle der frankophonen Grundlegung modernisierender, aufgeklärter Bildung trat die deutsche neuhumanistische Bildungsreligion mit ihrer Überbewertung der klassischen Sprachen Latein und Altgriechisch (was bis heute irreführend Griechisch genannt wird) im altsprachlichen Gymnasium, der gesellschaftlich höchstbewerteten Schulform. Mit idealistischem Sendungsbewußtsein wurde eine geistige Wesensverwandtschaft des Deutschen vor allem mit dem Altgriechischen behauptet, so daß neben der Verbindung von nationalistisch-muttersprachlicher und klassischer Bildung das Erlernen und das Studium der modernen Fremdsprachen, also auch der Nachbarsprachen des Deutschen, als bloß utilitaristisches Sprachenlernen beiseitegeschoben wurde. „Die Aufspaltung des Bildungswesens in einen (höher bewerteten) allgemeinbildenden und einen (niedriger
J—Ν: Fremdsprachenlernen der Deutschsprachigen
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bewerteten) berufsbildenden Bereich leitet eine Fehlentwicklung ein, deren Folgen bis heute nicht ü b e r w u n d e n sind" (K. Schröder 1989, 62). Nach dem ersten Prestigeverlust des Französischen in Deutschland aus Enttäuschung über die Radikalisierung und Militarisierung der Französischen Revolution Mitte der 1790er Jahre, hatten sprachnationalistische Schriften von Friedrich Ludwig Jahn (1808), Ernst Moritz Arndt (1814), Friedrich Gottlieb Welcker (1814), J o h a n n Gottlieb Radlof (1814), T h e o d o r Heinsius (1814), Bernhard Joseph Docen (1814) usw. große W i r k u n g (K.Schröder 1989; Spillner 1989; Ahlzweig 1994, 132ff.): Französische Sprach- und GeistesTyrranney und deutsche Afferei und Zwitterei seien der deutschen Sprache geistig schädlich gewesen und hätten die Niederlage gegen N a p o leon verursacht; eine f r e m d e Sprache in Deutschland sei der Entwicklung des Volksthums im Wege. Das Französische sei keine alte Stammsprache und habe keinen Bildungswert; es solle in Deutschland nur noch gelesen, nicht mehr gesprochen und aus dem obligatorischen Schulunterricht verbannt werden. Das Deutsche solle als Muttersprache (im emotionalisierten Sinne) in seine natürlichen und wohlverdienten Rechte wiedereingesetzt werden, denn es sei dem Französischen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Die Verdrängung moderner Sprachen aus dem Unterricht war besonders stark in der Restaurationszeit mit einer „auf den H u n d gekommenen Auffassung von Allgemeinbildung, die den Bildungswert einer Sprache an ihrem Formenreichtum, gemessen in den Kategorien der lateinischen G r a m m a t i k , und an dem Grad ihrer praktischen Unverwertbarkeit abliest" (K. Schröder 1989, 62). Franzosen als Sprachlehrer wurden an deutschen Gymnasien nicht mehr geduldet. Die Aussprache des Französischen und Englischen bei nur noch philologisch ausgebildeten deutschen Gymnasiasten w u r d e so schlecht, daß in der 2. H ä l f t e des 19. Jh. sogar deutsche Professoren der Neuphilologie ihre Gattinnen um Rat fragen mußten, die als höhere Töchter bei f r a n k o p h o n e n und anglophonen Gouvernanten Französisch und Englisch gelernt hatten (K. Schröder 1989, 64). Der Widerstand liberaler Bürger gegen die neuhumanistische Vormachtstellung der alten Sprachen im Vormärz k a m allenfalls dem Englischen zugute, das in den neuartigen Realschulen seit den 1850er Jahren, allmählich auch an preußischen Gymnasien eingeführt wurde.
Durch m o d e r n e n Verkehr und deutsche Weltmachtambitionen seit der Reichsgründung gewann das Französische in Deutschland wieder etwas an Ansehen; aber die Vorrangstellung des Englischen gegenüber dem immer mehr vernachlässigten Französisch w u r d e noch stärker und damit die zunehmende Festlegung internationaler K o m m u n i k a t i o n auf nur e i n e Fremdsprache, die noch dazu bis weit ins 20. Jh. hinein in Deutschland mehr literarisch und mit sehr ,teutonischer' L a u t u n g und Stilistik gelernt wurde. Trotz erfolgreicher Wiederbelebung des Französischunterrichts in den 20er Jahren in einigen deutschen Ländern w u r d e Englisch in Bayern 1923 erste Fremdsprache, d a n n in weiteren Ländern, im Reich 1937. Im humanistischen G y m n a s i u m bedeutete dies für Französisch meist einen dritten oder vierten Platz, nach Latein, Griechisch und Englisch, mit oft nur 2 Jahren Französischunterricht in der Oberstufe.
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Κ. Im N a c h k r i e g s d e u t s c h l a n d gab es im Westen verbesserte Voraussetzungen für das Fremdsprachenlernen durch Schüleraustausch, Städtepartnerschaften, Auslandsstudium, Tourismus, fremdsprachige Hörmedien, auditive Lehrmedien usw. Seit dem Kriegsende wurde in zahlreichen Empfehlungen, Abkommen und Verordnungen gefordert: Modernisierung und Vermehrung des Fremdsprachenunterrichts in Europa und Deutschland (Christ/Liebe 1981; Gellert-Novak 1993, 42ff.): Vom Erlaß des Alliierten Kontrollrates (1947) über die Schlußakte der KSZEKonferenz (1975) und Entschließungen europäischer Institutionen bis zu Kulturabkommen der Bundesregierung mit vielen Staaten, Verlautbarungen und Lehrplänen deutscher Kultusministerien und dem Abschnitt „Lehre und Pflege fremder Sprachen in der Bundesrepublik Deutschland" in: Auswärtiges Amt ... 1985. Z u entsprechenden Bemühungen in Österreich s. Sprachen Lernen ... 1994; de Cillia, in: Wodak/de Cillia 1995, 37 ff. Zur Förderung der Völkerverständigung und der achtungsvollen Begegnung mit anderen Kulturen wird es in diesen Texten für richtig gehalten, im Unterrichtsangebot, in der Wahlpflicht und -freiheit über die Beschränkung auf nur e i n e bestimmte Fremdsprache bzw. auf Englisch und Französisch hinaus durch „ D i v e r s i f i k a t i o n " auch weniger verbreitete Sprachen und Minderheitensprachen (auch von Arbeitsimmigranten) zu berücksichtigen, den Fremdsprachenunterricht in allen Schultypen für alle möglichst früh beginnen zu lassen, auch in Sachfächern als Unterrichts- und Arbeitssprache zu verwenden und auch für Erwachsene fortzusetzen, besonders die mündliche Fremdsprachkompetenz für praktische gesellschaftliche Zwecke zu fördern. Entsprechend solle der Englischunterricht nicht über die gesamte Schulzeit fortgeführt, sondern teilweise der Berufsausbildung überlassen werden. In den Kulturabkommen mit anderen Ländern ist ζ. T. von „Begegnung" und „Gegenseitigkeit" die Rede. Dem entsprechen die von Fachleuten erarbeiteten „Homburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft" von 1980 (Christ u. a. 1980) mit ihrer Unterscheidung in „Begegnungssprache", „Fundamentalsprache", „Verkehrssprache", „Erschließungssprache" als differenziertere, für das zusammenwachsende Europa angemessene Form, den Umgang mit Anderssprachigkeit zu lernen und nationale/ethnische Vorurteile abzubauen. Weitergehende Ziele sind: „interkulturelles Lernen", „bilinguale Schulen", „multikulturelle Gesellschaft" (Sprachen Lernen ... 1994).
L. Trotz dieser zahlreichen institutionellen Vorgaben zur Verbesserung des Fremdsprachenlernens wirken sich die historischen Versäumnisse und Fehlentwicklungen des Fremdsprachenlernens in Deutschland aber noch immer aus, vor allem durch das faktische Festhalten deutscher Schulbehörden an traditionellen Präferenzen mit Monopolstellung des Englischen. So bleibt, nach einer Warnung von Harald Weinrich (1985 a, 311 ff.), die einseitige deutsche Sprachenpolitik zur Verbreitung von Deutsch als Fremdsprache in anderen Ländern wirkungslos, sofern sie nicht mit gleichzeitiger erfolgreicher Förderung des Fremdsprachenlernens in Deutschland über Englisch und Latein hinaus verbunden ist und
J —Ν: Fremdsprachenlernen der Deutschsprachigen
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der offizellen Forderung nachGleichberechtigung aller europäischen Sprachen als Identifikations- und Nachbarsprachen nicht genügt. Der Übergang vom nationalstaatlichen Monolinguismus zur begrenzten, professionell nützlichen, erfolgsorientierten Beherrschung der Weltsprache Englisch als Zweitsprache ist nur der erste Schritt. Z u r Überwindung des Nationalismus und zur besseren Völkerverständigung bedarf es auch der Sprachbegegnung mit den Nachbarn. Ein Beispiel für direkte Folgen von Vernachlässigung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit ist nach Weinrich ( 1 9 8 5 , 3 2 3 f.) die Einschränkung von Deutsch als Schulfremdsprache in Frankreich als Reaktion auf den Rückgang des Französischen als Schulfremdsprache in Deutschland im 2 0 . J h . Trotz des H a m b u r g e r A b k o m m e n s von 1 9 6 4 ging der Französischunterricht zurück, vor allem dadurch, daß seit der bundesdeutschen Oberstufenreform Französisch von den meisten Schülern abgewählt wird. So ist es verständlich, daß D a F in Frankreich von 1 9 7 0 / 7 1 bis 1990 stark zugunsten von Englisch und Spanisch zurückging, als 1. Fremdsprache von 1 4 % auf 1 2 % , als 2. Fremdsprache von 3 7 % auf 2 9 % , wobei es als schwierige Sprache zunehmend zum elitären Reservat H o c h b e g a b t e r wird (David, in: Born/Stickel 1 9 9 3 , 2 3 6 ff.; vgl. auch Z a p p , in: Kleinschmidt 1 9 8 9 , 10 f.; Auswärtiges A m t ... 1 9 8 5 , 4 5 , 113 ff.). Nach einer Umfrage bei deutschen, belgischen und finnischen Studierenden (K. Schröd e r / M a c h t 1 9 8 3 , 2 3 4 ) halten Belgier und Finnen zur Lösung des europäischen Vielsprachigkeitsproblems eine breite Förderung des Fremdsprachenunterrichts zu 2 4 — 3 6 % für erforderlich, Deutsche nur zu 7 — 1 9 % ; Deutsche seien sich der europäischen Sprachenprobleme kaum bewußt und seien mehr für Regelungen auf der Verwaltungsebene (mehr Amtssprachen) ohne Einbeziehung des Durchschnittsbürgers. An Vielfalt der Beherrschung und des Gebrauchs von Fremdsprachen sind die Deutschen nach wie vor ihren N a c h b a r v ö l k e r n , einschließlich der Schweizer (s. 6 . 4 . 1 B ) , unterlegen. Bei der Nachfrage nach Fremdsprachkenntnissen in Stellenausschreibungen in europäischen Ländern liegt Deutschland mit 1 3 , 9 5 % weit unter dem Durchschnitt ( 1 9 , 8 1 % ) , nach Frankreich (über 3 0 % ) , Italien, Spanien, Ungarn, Niederlande, G r o ß britannien, nur vor Polen ( 1 0 , 9 6 % ) (Glück 1 9 9 5 b , 4 4 ) . - Z u r Kritik an der Unbeweglichkeit deutscher Kultus- und Schulbehörden s. auch Freudenstein, in: Kleinschmidt 1 9 8 9 , 14 ff. — Eine ständige Gewöhnung an das Hörverstehen in fremden Sprachen wird im deutschen und österreichischen Fernsehen und H ö r f u n k und in Kinofilmen nicht gefördert durch die Gewohnheit, fremdsprachige Reden, Dialoge und Interviews gesprochen ins Dt. zu übersetzen bzw. zu synchronisieren, anstatt den Originalton hören zu lassen und mit dt. Untertiteln zu versehen wie häufiger in fremdsprachoffeneren Ländern wie den Niederlanden, D ä n e m a r k usw. (Sprachen Lernen ... 1 9 9 4 , 2 6 9 ) .
M . Seit den 80er Jahren gibt es aber positive Beispiele für mehr Gegenseitigkeit mit N a c h b a r s p r a c h e n , vor allem im Westen und Norden (meist Ergebnisse einer kleinen Umfrage bei 2 2 Kollegen/innen und Bekannten, denen hiermit für ihre freundlichen Auskünfte gedankt sei): In Euroregionen im Südwesten Deutschlands fördert das Projekt „Lerne die Sprache des N a c h b a r n " den F r a n z ö s i s c h u n t e r r i c h t an Grundschulen in Baden-Württemberg und den Deutschunterricht an Grundschulen im Elsaß, wobei ζ. B. Südbadener
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6 . 5 . Inter- und übernationale Beziehungen
wesentlich mehr N a c h h o l b e d a r f in Französisch haben als die benachbarten Nordwestschweizer (Gellert-Novak 1 9 9 3 , 85; Pelz 1989). Im Mosel-Saar-Grenzgebiet hat der Französischunterricht in letzter Z e i t zugenommen, von Grund- und Hauptschulen bis zur Möglichkeit eines in Frankreich anerkannten teilweise französischen Abiturs. Im Saarland konnte an die frankreichorientierte Kulturpolitik aus der Z e i t vor 1956 angeknüpft werden. In Rheinland-Pfalz wurde seit 1 9 9 0 die „Integrierte Fremdsprachenarbeit in den Grundschulen" gefördert und nach einem erfolgreichen Modellversuch ab 1 9 9 5 in 5 0 Grund- und Hauptschulen des Landes eingeführt, und zwar kindgemäß ohne Leistungsdruck ab dem 3. Schuljahr, vorwiegend mündlich, handlungsorientiert, situations- und themenspezifisch, fächerübergreifend, teilweise mit ausländischen Partnerschaftsbeziehungen. Im Regierungsbezirk Trier gab es 1 9 9 6 nach diesem Modell 11 Schulen mit Französisch, 7 mit Englisch, außer freiwilligen Arbeitsgemeinschaften (Auskunft von Karl Schirra). — In der Saar-Lor-Lux-Euregio gibt es europäisch ausgerichtete Studiengänge und Institute an den Universitäten Trier, Kaiserslautern, Saarbrücken, M e t z , Nancy und Arlon; seit 1998 werden zweisprachige Kindergärten eingerichtet. Anders als bei den Luxemburgern, finden sich aber sowohl auf deutscher wie auf lothringischer Seite zu wenige Zweisprachige für berufliche Tätigkeiten (FAZ, 6 . 1 1 . 1 9 9 6 , S. 6). D a s Erlernen des N i e d e r l ä n d i s c h e n n i m m t deutlich zu aufgrund ministerieller Verordnungen und lokaler Initiativen in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Seit den 60er, besonders den 80er Jahren ist Niederländisch zu einer „ernsthaften Alternative im F r e m d s p r a c h e n a n g e b o t " zahlreicher Schulen in den Niederlanden benachbarten Gebieten geworden, auch wenn die Z a h l der dafür ausgebildeten Lehrer hinter dem wachsenden Bedarf noch zurückbleibt (Hülsdünker, in: Kleinschmidt 1 9 8 9 , 2 6 8 f f . ; Gellert-Novak 1 9 9 3 ; Novak 1 9 9 4 ) . In den Grenzgebieten wirken Einkaufsbeziehungen, Urlaubsaufenthalte, Euregio-Austauschprogramme und Partnerschaften motivierend, aber auch wiederbelebtes oder fortlebendes reformiertes Kirchen-Niederländisch (vgl. 6 . 4 . 1 K ) . N a c h Zeitungsmeldungen in der „Rheinischen P o s t " (Hinweis von Georg Stötzel) lernten in Nordrhein-Westfalen im J a h r e 1 9 9 6 5 . 7 5 5 Schüler Niederländisch, doppelt so viele wie 1 9 9 0 , in 83 Schulen, wobei in Grenzgebieten an Grundschulen Niederländisch auf spielerische Weise im R a h m e n des Programms „Begegnung mit S p r a c h e n " gelernt, an Gymnasien und Realschulen z. T. zeitweilig auch Erdkunde- und Geschichtsunterricht in Niederländisch gegeben wird. In Volkshochschulen besonders im nordwestlichen Deutschland gab es 1 9 9 1 8 4 0 Niederländisch-Kurse mit steigender Tendenz als Zertifikatsfach, an zweiter Stelle hinter Englisch, vor Französisch, Italienisch, Spanisch. Ein Z e n t r u m der deutschen Niederlandistik bildet an der Universität M ü n s t e r Lehrpersonal aus, mit einer Steigerung der Z a h l der Studierenden von 3 5 auf 3 5 2 von 1 9 7 3 bis 1 9 9 3 . Für D ä n i s c h gibt es in nördlichen Teilen Schleswig-Holsteins seit den 6 0 / 7 0 e r J a h r e n ein deutlich steigendes Angebot und ebenso steigende Nachfrage (Alastair Walker und Elin Fredsted brief].): an 3 5 Realschulen als mögliche 2. Fremdsprache, an 15 Gymnasien als 3. Fremdsprache, mit steigender Teilnehmerzahl von 2 2 6 1 (1988) auf 3 7 2 7 (1996) jährlich, sowie an 18 Haupt- und Grundschulen in Arbeitsgemeinschaften, seit 1 9 9 6 ein Pilotprojekt mit Dänisch an 5 Grundschulen; Schulpartnerschaften mit dem dänischen Nordschleswig; die Nachfrage kann wegen Lehrer- und Lehrbuchmangel sowie finanziellen Engpässen nicht ganz gedeckt werden; dänische Studiengänge gibt es an der Pädagogischen Hochschule Flensburg und Universität Kiel. An Volkshochschulen gab es 1 9 9 0 3 6 2 Dänischkurse mit 4 . 1 6 6 Teilnehmern, ferner an einigen Wirtschafts- und Berufsakademien und -hochschulen und in einigen grenz-
J —Ν: Fremdsprachenlernen der Deutschsprachigen
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überschreitenden Projekten gemeinsam mit dänischen Institutionen. Außer beruflichen und touristischen Beziehungen spielt bei der Förderung des Dänischlernens auch die politisch aktive dänische Minderheit in Südschleswig eine Rolle. In MecklenburgVorpommern wird Dänisch nur an Volkshochschulen angeboten, S c h w e d i s c h auch an einigen Gymnasien in der Oberstufe, mit Gymnasiallehrerausbildung für beide Sprachen an der Universität Greifswald (Dietmar Gohlisch briefl.).
Das Erlernen des P o l n i s c h e n und T s c h e c h i s c h e n ist schon im Deutschen Reich und in der D D R auf offizielle und berufliche Kontakte im Grenzverkehr beschränkt gewesen — Polen und Tschechen haben von jeher viel mehr Deutsch lernen müssen und tun dies mit Deutsch als ostmitteleuropäischer Lingua franca mit beträchtlichem Erfolg. Nach der Wende 1 9 8 9 / 9 0 hat sich dieses asymmetrisch-dominante Sprachenverhältnis in den n e u e n B u n d e s l ä n d e r n eher noch verstärkt (briefl. Auskunft von Klaus-Dieter Gansleweit, Dietmar Gohlisch, Rudolf Große, Margot Heinemann, Karlheinz Hengst, Werner Holly, Hans v. Polenz): Einer stärkeren Neigung, Polnisch oder Tschechisch zu lernen, stehen hier hinderlich entgegen: — Kommunikative Überlegenheit vieler Polen und Tschechen in Deutschkenntnissen. — Starker N a c h h o l b e d a r f in der 1. Fremdsprache Englisch, zu starke Konkurrenz durch die 2. Fremdsprache Latein oder Französisch. — Allgemeine Lernschwierigkeiten und Abneigung der Deutschen gegenüber slawischen Sprachen von jeher, verstärkt durch den Überdruß am jahrzehntelangen wenig erfolgreichen Zwangsunterricht in Russisch. — Fast völliges Fehlen von grenzüberschreitenden Privatbeziehungen infolge der ethnographischen Veränderungen nach Kriegsende. — Neue Vorbehalte wegen zeitbedingter Schwierigkeiten (grenzüberschreitende Kriminalität, Wirtschafts- und Währungsgefälle). Sowohl an Schulen als auch in Volkshochschulen sind in den neuen Bundesländern Angebot und Nachfrage nach Polnisch oder Tschechisch nicht sehr stark, für wirtschaftliche Bedürfnisse örtlich in Grenznähe ein wenig mehr. Aufgrund offizieller Bemühungen gibt es an einigen Grundschulen Polnisch als „Begegnungssprache" (in Sachsen 1 9 9 6 an 18 Schulen mit insgesamt 9 5 5 Tschechischlernenden, briefl. Mitt. v. sächs. Kultusministerium), an höheren Schulen hie und da als 2. oder 3. Fremdsprache oder in Arbeitsgemeinschaften in besonderen Fällen (Gymnasien, Hochschulen) bilinguale Klassen aufgrund von Partnerschaften, die aber meist mehr dem Deutschlernen der Polen/Tschechen zugutekommen als umgekehrt. In Grenzregionen des Landes B a y e r n wird seit 1 9 8 9 Tschechisch in der Oberstufe als Wahlfach angeboten, ζ. T. mit tschechischen Partnerschaften (Mitt. d. Ministeriums, durch Lenka Bayer, Axel Schneider über Horst H . Munske, Helmut G l ü c k , briefl.): Bis 1 9 9 6 an 11 O r t e n , mit insgesamt 183 Teilnehmenden (1993 — 96), außerdem an 7 Volksschulen (67 Teilnehmende). Trotz offizieller Bemühungen bleibt das Interesse für Tschechisch an Schulen gering. An den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Regensburg ist in den 90er J a h r e n die Slawistik weiter ausgebaut worden (Klaus Trost über Albrecht Greule briefl.). Auch an Volkshochschulen ist die nach 1 9 9 0 angestiegene Nachfrage nach Tschechischkursen zurückgegangen (Beatrix Dürrschmidt über R o b e r t Hinderling briefl.).
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Ν . In Ö s t e r r e i c h verkümmerten die alten vielfältigen Beziehungen zu Nachbarsprachen nach 1919, 1938 und 1945; ζ. T. wurden sie politisch inopportun gegenüber dem Italienischen wegen des Südtirolproblems, gegenüber dem Slowenischen wegen der deutschnationalen Unterdrükkung der slowenischen Minderheit in Südkärnten und Südsteiermark, gegenüber dem Tschechischen und Magyarischen wegen der deutschsprachige Minderheiten betreffenden Ereignisse nach dem Kriegsende 1945 und durch den Eisernen Vorhang (Muhr 1994). Daß in grenzüberschreitenden Euregio-Beziehungen von Vertretern österreichischer Institutionen gelegentlich das Englische gern verwendet wird, hängt wahrscheinlich nicht nur mit der Vermeidung der alten Rolle von Deutsch als Herrschaftssprache in der Habsburgermonarchie zusammen, sondern auch mit dem großen Mangel an Unterricht in Nachbarsprachen (Novak 1994, 116 ff.). Die Isolierung Österreichs endete jedoch in den 80er Jahren gegenüber Italien und Jugoslawien durch lebhafte Handels- und Tourismusbeziehungen und die 1978 gegründete „Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria", gegenüber den ehemaligen Ostblockländern seit 1 9 8 9 / 9 0 durch die weltpolitischen Veränderungen, die Österreich eine neue Mittlerfunktion zu den ostmitteleuropäischen Ländern und in der AlpenAdria-Euregio zuwiesen. D e r Wiederbelebung des Interesses für Deutsch (vor allem auch österreichisches Deutsch) als Nachbar- und übernationale Verkehrssprache in Nachbarländern sollten die Österreicher durch Erlernen von deren Sprachen begegnen (Muhr 1994). Dies geschieht vor allem in Volkshochschulkursen, besonders in Grenzregionen, auch an der Universität Wien, weniger an Schulen (Peter Wiesinger briefl.). Nachbarsprachen werden, trotz starken wirtschaftlichen Bedarfs, an österreichischen Schulen noch immer vernachlässigt (de Cillia, in: Wodak / de Cillia 1 9 9 5 , 4 1 ff.): Z w a r haben Fremdsprachkenntnisse allgemein von 1 9 7 4 bis 1 9 9 0 von 4 4 % auf 6 2 % zugenommen, bei 15—24jährigen auf 8 8 % , aber 1 9 9 1 / 9 2 lag als Pflichtfach Italienisch bei 1 , 9 % , andere Nachbarsprachen unter 0 , 5 % , als 2. Fremdsprache ab 7 . Schulstufe stehe die „Monopolstellung des L a t e i n s " im Wege. Nur in der Oberstufe gebe es ein wenig R a u m für Nachbarsprachen. Erhebungen über Erwachsenenbildung (Volkshochschulen u. a.) haben ergeben (Muhr 1994): D a s Angebot an Italienisch ist „überall sehr hoch und nimmt in der Steiermark und Wien sogar den zweiten Platz hinter dem Englischen ein". Das Ungarische ist „mit 2 0 % aller Fremdsprachenkurse an ostösterreichischen Erwachsenenbildungseinrichtungen" an die dritte Stelle aufgestiegen, besonders stark im Burgenland. M i t 1 2 , 4 % hat auch das Interesse für Tschechisch zugenommen, besonders in Wien und Niederösterreich, während das Angebot für Slowakisch noch sehr gering geblieben ist. Erst an fünfter Stelle steht Slowenisch mit relativ geringem Angebot. In der Erwachsenenbildung ist, nach dem Ebis Informationsservice, von 1 9 9 4 bis 1996 die Anfrage nach „ O s t s p r a c h e n " um 7 , 8 % gleichgeblieben (Hermann Scheuringer briefl.). — Inzwischen sei die Bereitschaft, „die Sprachen der kleineren N a c h b a r n " zu erlernen, „nach einem ersten B o o m zurückgegangen und sehr von Nützlichkeitserwägungen geprägt" (Rudolf M u h r briefl.). Eine wirtschafts- und sprachbezogene Kooperation wird an der Universität G r a z mit H o c h schulen in der Slowakei und Ungarn aufgebaut (Muhr briefl.). — In Wiener Schulen
J—Ν: Fremdsprachenlernen der Deutschsprachigen
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ist das Erlernen des Magyarischen in den 90er Jahren leicht angestiegen, das des Tschechischen (im „Komenski-Schulverein") etwa gleich geblieben, mit leichter Z u n a h m e einsprachig-deutschsprachiger Kinder (Scheuringer briefl.).
Insgesamt scheint das Erlernen von Nachbarsprachen im Osten und Südosten des deutschen Sprachgebiets auf einem niedrigeren Stand geblieben zu sein als im Westen, Norden und Süden. Auch ein Vorsprung Österreichs etwa vor Bayern läßt sich nach bisher vorliegenden Daten nicht erkennen. Trotz der Forderungen nach Diversifikation des Fremdsprachunterrichts und zunehmender Nachfrage in der Wirtschaft ist das (insgesamt deutlich gestiegene) Fremdsprachenlernen auch in Österreich nach wie vor in der Praxis beschränkt auf „sprachliche Monokultur des Englischen mit lateinischen und französischen Einsprengseln" (de Cillia, in: Wodak/de Cillia 1995, 50). Mit 99% Englisch im Pflichtschulwesen (außer der Oberstufe des Gymnasiums) bleibe Österreich in Bezug auf Nachbarsprachen weit hinter dem seit 1989 belebten Bilingualschulwesen in Ungarn, Tschechien und Slowakei zurück (de Cillia, in: Sprachen Lernen ... 1994, 259ff.; Koschat/Wagner 1994). O. Kenntnis und Gebrauch deutscher Sprache in nicht-deutschsprachigen Ländern können außenpolitisch beeinflußt werden durch Regierungsmaßnahmen, die intern S p r a c h p o l i t i k genannt werden (Sprachenpolitik im engeren Sinne), nach außen hin meist „ F ö r d e r u n g / P f l e g e der deutschen Sprache im Ausland". Ammon (1985, 229; 1991 a, 524 ff.) nennt diesen Bereich, nach Vorbild von engl, language spread, frz. diffusion linguistique, pauschal S p r a c h v e r b r e i t u n g s p o l i t i k , im Sinne von intendierter Verbreitung einer Sprache auf neue Sprecher(gruppen) oder Sach-/Situationsdomänen. Diese Definition schließt aber bloße S p r a c h e r h a l t u n g aus (language maintenance), z.B. für alte Sprachminderheiten im Ausland, die durch Assimilationszwang gefährdet sind. Beides kommt zusammen bei weitgehend assimilierten Minderheiten, die ihre verminderte Muttersprachkompetenz wieder verbessern wollen/sollen. Ammon verwendet „Sprachverbreitungspolitik" für dies alles als „Oberbegriff" (dagegen Berschin 1994, 321 f.). Die deutsche Sprachförderung und Sprachverbreitungspolitik war von der wilhelminischen bis zur nationalsozialistischen Zeit teilweise und zunehmend s p r a c h i m p e r i a l i s t i s c h . Darunter sind aber sehr verschiedene Arten und Grade von Sprachegoismus, Sprachpropaganda, Sprachhegemonie, Sprachunterdrückung und -Verdrängung zu verstehen, so wie der Ubergang von national über nationalistisch, nationalchauvinistisch zu kolonialistisch und imperialistisch fließend ist. A m m o n (1991 a, 527) definiert sprachimperialistisch sehr allgemein: „Auf der G r u n d lage von Idealen der Gleichheit zwischen den Sprachgemeinschaften liegt es nahe, Sprachverbreitungspolitik zumindest dann als „sprachimperialistisch" zu verurteilen,
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
wenn sie von mächtigen Sprachgemeinschaften oder Staaten betrieben wird [...] Wenn die anderen die eigene Sprache erlernen, so erspart dies den eigenen Aufwand für das Erlernen der Sprache der anderen. Überdies bindet es die anderen hinsichtlich ihrer Kommunikationsmöglichkeiten, und damit womöglich auch hinsichtlich ihrer Wirtschaftskontakte, an die eigene Sprachgemeinschaft". — Michael Clyne ( 1 9 9 5 a, 31) verwendet andererseits „linguistic imperialism" intralingual als kausalen Komplementärbegriff zu „linguistic eringe" in Bezug auf unterschiedliche Bewertung und Dominanzbeziehung zwischen nationalen Varietäten des Deutschen: „Austria — caught between linguistic cringe and linguistic imperialism". Hier ist aber nur asymmetrische Dominanz gemeint (s. 6 . 1 1 E ) . Wieder etwas ganz anderes ist bei dem metaphorischpolemischen Gebrauch von Sprachimperialismus für die Dominanz des (amerikanischen) Englisch als Weltsprache gemeint (s. 6 . 5 U —W). Hierbei handelt es sich aber weder um staatlichen Z w a n g noch um sprachnationalistische Unterdrückung, sondern um erfolgsorientiertes Kollektivverhalten von Interressierten aufgrund eines weltweiten Trends (vgl. Fishman u. a. 1 9 9 6 ) .
Im Folgenden soll die — an den politisch-historischen Epochenbegriff Imperialismus anknüpfende — Bewertung sprachimperialistisch über Sprachegoismus, -propaganda und -hegemonie hinaus eingeschränkt werden auf Fälle, in denen eine asymmetrische Zweisprachigkeit machtpolitisch durchgesetzt und zwecks Zwangs-Einsprachigkeit eine Minderheiten· oder Nachbarsprache zurückgedrängt oder verdrängt werden soll (v. Polenz 1998 a), auch in Epochen vor der imperialistischen Phase des 19./20. Jahrhunderts. Zwar noch aufgeklärt-absolutistisch motiviert, aber in der Wirkung eine Frühform von Sprachimperialismus war die Ersetzung der alle Nationalitäten gleichberechtigenden Universalsprache Latein durch Deutsch als Amtssprache in der H a b s b u r g e r m o n a r c h i e von Joseph II. bis zu ihrem Ende, wodurch alle Nationalitätensprachen außer Deutsch und Magyarisch unterdrückt und zu unterprivilegierten Minderheitensprachen gemacht wurden, mit der Folge nationaler Befreiungsbewegungen, beginnend mit der Magyarisierung gegen deutsche Minderheiten in Ungarn seit etwa 1840 (s. 6.4.1U—X). Eine modernere, Sozialrevolutionäre und nationalistische Art bewußten rigorosen Sprachimperialismus ist die G l o t t o p h a g i e (,Sprachenfresserei', Calvet 1978, 138 ff.), beginnend mit dem ideologisch erhobenen, aber in der Praxis noch nicht durchzusetzenden Anspruch der Jakobiner, in der französischen Republik nur noch das Pariser Französisch als Sprache der Freiheit', ,Wahrheit' und ,Gleichheit' zuzulassen, also jegliches patois und andere Sprachen zu verdrängen (s. 6.4B, 6.4.1D), was sich außenpolitisch in gemäßigter Form im französischen Zwang zur Zweisprachigkeit der Verwaltung im besetzten Rheinland 1794—1814 auswirkte (s. 6.4.1B; Bd. II: 5.3R). Noch nicht nationalistisch, sondern lutherisch-protestantisch motiviert war die Verdrängung des Niederdeutschen im 1 7 . / 1 8 . Jh. (s. Bd. I: 4 . 9 C — J ) und des Niederländischen in westlichen Teilen Preußens seit der napoleonischen Zeit (s. 6 . 4 . 1 K ) , ebenso
Ο —Τ: Sprachförderungs- und -Verbreitungspolitik
211
die mit dem lutherischen Protestantismus zusammenhängende starke Stellung des Deutschen als Staats-, Kirchen- und Oberschichtsprache in D ä n e m a r k , die im frühen 19. Jh. durch eine nationale Emanzipationsbewegung zurückgedrängt wurde (s. 6.4.1MN), eine durch Ideen der Französischen Revolution angeregte Aktivität in Richtung auf den Nationalstaat, ähnlich wie in Ungarn.
P. Der eigentliche Beginn sprachimperialistischer Tendenzen des d e u t s c h e n Sprachnationalismus waren die annexionistische Reaktion Preußens und des Deutschen Bundes in den Kriegen um S c h l e s w i g - H o l s t e i n (1848 — 64, S.6.4.1M) und der sprachnationalistisch initiierte Entschluß des anfangs noch zögernden Bismarck zur Annexion E l s a ß L o t h r i n g e n s (1871); allerdings wurde Sprachpolitik gegenüber der frankophilen Oberschicht und der frankophonen Minderheit zunächst noch zurückhaltend betrieben (s. 6.4.ID — G). Eine Verschärfung des Sprachnationalismus zum innerstaatlichen Sprachkolonialismus, also ein deutscher Beitrag zur Glottophagie (Calvet 1978) war die preußische Amts- und Schulsprachenpolitik gegen p o l n i s c h e Mehrheiten und Minderheiten in den Ostprovinzen seit den 1880er Jahren. So wurde der theoretische jakobinische Sprachnationalismus im Rahmen des neuartigen preußisch-deutschen Reichsnationalismus auf nichtdeutschsprachige preußische Untertanen angewandt, die durch die staatsstreichähnliche Reichsgründung von 1871 ungefragt zu Angehörigen eines neuerrichteten deutschen Nationalstaats gemacht und nun zur asymmetrischen Zweisprachigkeit und schließlich deutschen Einsprachigkeit gezwungen werden sollten und teilweise auch wurden (s. 6 . 4 . I Q —T). Dieser preußisch-deutsche Ansatz zum Sprachimperialismus wurde auch im Ausland bekannt durch Presseberichte über Kampfdebatten im Reichstag und polnischen Widerstand und durch ihren zeitlichen Zusammenhang mit antiliberaler, antipolnischer, antisemitischer, militaristischer und kolonialistischer Vereinstätigkeit seit der radikalnationalistischen ,Wende' um 1880 (s. 6 . I M , 6.4.1S). In der gleichen Zeit des Übergangs zu imperialistischen Tendenzen, aber wesentlich vorsichtiger, im nationalegoistisch-hegemoniepolitischen Vorstadium von Imperialismus, begann das Deutsche Reich auch mit auswärtiger S p r a c h v e r b r e i t u n g s p o l i t i k und S p r a c h f ö r d e r u n g (Amnion 1989 b; 1991a, 530ff.; Düwell 1976, 269ff.): 1878 wurde ein Reichsschulfonds gegründet zur staatlichen Förderung der schon länger existierenden, sich aber durch massenhafte deutsche Auswanderung und deutschen Außenhandel stark vermehrenden deutschen A u s l a n d s s c h u l e n , die bis dahin von deutschen Auslandsgemeinden und privaten Vereinen unterhalten wurden und allein der Erhaltung und Förderung deutscher Sprachkenntnisse und kultureller Traditionen bei emigrierten Minderheiten und kommerziell im Ausland tätigen Reichsdeutschen dienten, noch keiner Sprachverbreitung. Ihre Zahl stieg von 96 (1870) auf 163 (1890) und 700 (1912). Seit 1881 gab es auch den „Allgemeinen deutschen Schulver-
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
ein", der 1901 in „Verein für das Deutschtum im Ausland" (VDA) umbenannt wurde. Seit der Reichsgründung kam die national-politische Absicht „Stärkung des deutschen Nationalgefühls" hinzu.
Q. Die Reichsinitiativen zur Förderung der Auslandsschulen waren teilweise von Erfolgen der britischen und französischen auswärtigen Kulturpolitik angeregt. Die anfangs private, später staatliche Alliance française für diffusion et propagation de la culture française gab es seit 1883. Erst in den 1890er Jahren wurde die Bedeutung der Auslandsschulen „für die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches" erkannt (Düwell 1976, 268 ff.). 1906 entstand in der Reichsregierung ein eigenes Schulreferat für die Auslandsschulen. Von da an wurde neben die bisherigen Schulen für das Auslandsdeutschtum der neue Typ der „Propagandaschulen" gestellt, in denen deutsche Sprache und Kultur auch an einheimische Nicht-Deutschsprachige im Rahmen landesüblicher Schulordnungen verbreitet werden sollte. In der „geheimen Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandsschulwesen" (1914, Düwell 1976, 268 ff.) wurde über die Ziele der „Propagandaschulen" formuliert: „... da diese Schulen in größerem Umfang als bisher die Kenntnis der deutschen Sprache und richtige Vorstellungen von Deutschland in fremden Völkern verbreiten und möglichst weite einheimische Kreise mit deutscher Art und Bildung vertraut machen könnten, um sie dadurch zu Freunden Deutschlands zu gewinnen". Es gehe um „Erhöhung des deutschen Ansehens im Ausland", um „der deutschen Sprache und Kultur die von unseren Auslandsinteressen gebotene Stellung in der Welt zu verschaffen". Für die durch Auswärtiges Amt, Botschaften und Konsulate an die Auslandsschulen vermittelten Lehrer sei dieser Dienst „vaterländische Pflicht".
Zwar gehört diese Expansion auswärtiger Sprachförderung und -Verbreitung in den Rahmen der imperialistischen, nach Weltmacht strebenden Politik des wilhelminischen Deutschland (vgl. in marxistischer Sicht: Zorn 1980). O b aber die Praxis dieser Auslandsschulen schon ,sprachimperialistisch' war, erscheint fraglich. Überhaupt mußten die deutschen Kolonialverwaltungen wegen der festen Etablierung von Französisch und Englisch als kolonialistische Weltsprachen (s. Calvet 1978) vorsichtig vorgehen und hatten mit der Durchsetzung von Deutsch wenig Erfolg. Im Ersten Weltkrieg wurden die deutschen Auslandsschulen von den Siegermächten meist geschlossen und enteignet, erst viel später oder nie wieder eröffnet. Eine deutliche Gegenbewegung gegen die kriegsorientierte wilhelminische Machtpolitik noch in den Vorkriegsjahren erkennt Jürgen Kloosterhuis (1981) in den Bemühungen eines wirtschaftsliberalen Kreises um Friedrich Naumann, weltmachtorientierte Außenpolitik nur mit wirtschaftlichen Zielen zu betreiben und dies mit K u l t u r p o l i t i k als Werbemittel einzuleiten, vor allem mit Hilfe von (ab 1906, besonders 1912 — 14 gegründeten) zahlreichen Vereinen für spezielle, handelspolitisch interessante Entwicklungsländer, vor allem in Ostasien, Südamerika, im Nahen Osten (z. B.
Ο—Τ: Sprachförderungs- und -Verbreitungspolitik
213
„Deutsch-Türkische Vereinigung", „Deutsch-Chinesischer Verband"). In diesen vom preußischen Kultusministerium, vom Reichsmarineamt und vom Auswärtigen Amt unterstützten Aktivitäten sei noch kein ,Kulturimperialismus' zu sehen, sondern eine fortschrittliche Position, „zwischen kultureller Selbstinterpretation, kultureller Expansion und Kulturpropaganda", auch mit begegnungsförderndem Austausch von Professoren, Lehrern, Studenten mit Amerika, England und Frankreich, also ein staatlich noch nicht eigentlich institutionalisierter Vorlauf für den „kulturpolitischen" Neuansatz nach 1919 (Kloosterhuis 1981).
R. In der W e i m a r e r R e p u b l i k war für die wieder- und neueingerichteten Auslandsschulen wegen des Prestigeverlustes der deutschen Sprache im Ausland ein Wandel der Aufgabenstellung unvermeidbar: Der Anteil der Muttersprachler sank von 9 8 , 5 % auf 1 2 , 5 % , d . h . diese Schulen durften nicht mehr Fremdkörper sein, sondern hatten sich in Lehrpläne des Gastlandes zu integrieren und mehr der internationalen Kommunikation zu dienen, wobei Deutsch als Unterrichtssprache meist auf den Deutschunterricht beschränkt werden mußte (Ammon 1991a, 442 ff.; Düwell 1976, 124ff.). Überhaupt war es „der große Machtverlust des Deutschen Reiches, der jetzt eine Besinnung auf neue und andere Wege zur Gestaltung auswärtiger Beziehungen erzwang" (Düwell 1976, IX, 276 ff.): Im bildungsbürgerlichen Geist wurden machtpolitische Ziele offiziell durch kulturpolitische ersetzt; Kunst, Wissenschaft, Literatur und Bildung sollten autonom sein und nicht außenpolitisch instrumentalisiert werden, auch das Konzept partnerschaftlicher ,Begegnung' wurde empfohlen. Doch die Übertragung des Gedankens der kulturellen Autonomie auf die nun gefährdeten, ζ. T. erst 1919 durch Gebietsabtretungen entstandenen deutschen Sprachminderheiten in anderen Ländern war mit Rückfällen in expansionistisch-propagandistische Vorstellungen und Praktiken verbunden. Nach Vorbild der Alliance française wurde Förderung deutscher Sprache im Ausland als wichtiger Bestandteil der Außenpolitik weiterentwickelt, aber, im Unterschied zu Frankreich, in der nach außen hin politisch neutraleren Verbindung mit privaten, staatlich unterstützten und koordinierten Mittlerorganisationen, die großenteils noch heute bestehen (Ammon 1991a, 532): 1920 wurde im Auswärtigen Amt die „Abteilung für Deutschtum im Ausland und kulturelle Angelegenheiten" (später, bis heute: „Kulturabteilung") eingerichtet. Seit 1917 gab es das „Deutsche Auslandsinstitut" in Stuttgart, seit 1925 den „Deutschen Akademischen Austauschdienst" (DAAD), die „Alexander-von-Humboldt-Stiftung", die „Deutsche Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums" in München (mit fö/fe('scfc-expansionistischen Zielen, 1945 von den Alliierten verboten), aus deren „Praktischer Abteilung" 1932 das „Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache und Kultur im Ausland" hervorging, das 1952 neugegründet wurde. Auch der V D A wirkte weiterhin. Die Politisierung der gemäßigten kulturpolitischen Ziele schritt im Laufe der 20er J a h r e voran, besonders in der Weltwirtschaftskrise. Der Vorkriegsstand der Auslandsschulen war 1931 so gut wie wieder erreicht.
214
6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
S. In der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Zeit verloren die privaten Institutionen ihre Autonomie und wurden unter Kontrolle des Auswärtigen Amtes gleichgeschaltet. Die NS-Sprachverbreitungspolitik verfolgte offen und rücksichtslos sprachimperialistische Ziele. Um Deutsch als Weltsprache durchzusetzen, wurde auch die Förderung und Betreuung deutscher Sprachminderheiten im Ausland mißbraucht, die teilweise als ,Fünfte Kolonne' deutscher Machtpolitik und Kriegshetze instrumentalisiert wurden und mit deren Hilfe dann im Krieg in besetzten und annektierten östlichen Gebieten — in Anknüpfung an den Sprachimperialismus der preußischen Schulpolitik und des Ostmarkenvereins — zur Erweiterung des deutschen Lebensraums nach Osten Deutsch als Amts-, Schulund Kindergartensprache durchgesetzt, rassistisch mißliebige Anderssprachige ausgewiesen und Volksdeutsche Umsiedler angesiedelt wurden (s. 6.4.2 O). Ein ideologiegeschichtlicher Höhepunkt des deutschen Sprachimperialismus — ganz im Sinne der „Glottophagie" Calvets — sind die von Gerd Simon veröffentlichten geheimen Denkschriften „Volkstumspolitische Aufgaben im Bereich der vorbedenkenden militärischen Planung" und „Vorschläge zur Pflege und Nutzung geistig-seelischer Kraftmöglichkeiten für die Machtpolitik" des Sprachwissenschaftlers Georg Schmidt-Rohr von 1940 (G.Simon 1979, 180ff.): Schon im Rahmen militärischer Planung während des Krieges, in Truppenteilen und in besetzten Gebieten, sollten nach Schmidt-Rohrs an den „Stab des Stellvertreters des Führers" gerichteten Empfehlungen „eingreifende" Maßnahmen gegen „Scheinvölker wie Polen, Tschechen, Litauer" und gegen Englisch und Russisch als Weltsprachen rechtzeitig eingeleitet werden, mit Mitteln wie „Umvolkung", „Einsprachung", „Zersetzungstendenzen", „Schwächung der feindsprachlichen Position", um „das Gruppenbewußtsein der fremdvölkischen Gruppen zu zerstören", um „den selbstsicheren Stolz aller deutschen Menschen auf ihre Sprache zu stärken", zur „Sicherung und Vergrößerung des Machtpotentials der eigenen Sprache"·, Sprache sei „neben der Rasse als ein heiliger Volkstumswert" zu verstehen; es solle „Politische Neuordnung aufgrund der sprachlichen Rangordnung mit allen Mitteln der Propaganda zu deutschem Nutzen über die Erde getragen werden". Z u alledem solle ein „geheimes politisches Sprachamt" mit stärksten Vollmachten geschaffen werden. Entsprechend den Vorstellungen des Alldeutschen Verbandes der wilhelminischen Zeit sollten Sprachen wie Niederländisch und Flämisch zu „deutschen Mundarten" uminterpretiert und so propagiert werden (s. 6.4.2J). Schmidt-Rohrs Vorschläge hatten zwar keinen direkten institutionellen Erfolg, entsprachen aber ganz der Hitler-Himmlerschen Praxis (s. 6.4.2 O) und sind als „die dunkelste Stunde in der Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft" bedenkenswert (G. Simon 1979, 7). So wurden die ursprünglichen, menschenrechtlich begründeten Ziele der privaten Institutionen der Weimarer Zeit und des VDA sprachimperialistisch pervertiert (vgl. v. Goldendach/Minow 1995). — Mehr auf die Interessen der deutschen Wirtschaft hin orientiert, im Sinne eines „funktionalen Faschismus" waren die (nach 1945 fortgesetzten und intensivierten) Bemühungen um „Deutsch für Ausländer" von Franz Thierfelder (s. Schümer, in: G. Simon 1979, 207 ff.).
T. In der N a c h k r i e g s z e i t wurde in der Bundesrepublik Deutschland in bewußt vorsichtiger Weise an die Ansätze der Weimarer Republik
215
Ο—Τ: Sprachförderungs- und -Verbreitungspolitik
a n g e k n ü p f t . D a b e i sind d r e i U n t e r s c h i e d e zu K o n z e p t i o n e n u n d P r a x i s sprachimperialistischer
Vergangenheit
festzustellen
(Ammon
1 9 9 1 a,
5 3 8 f f . ; A m m o n / K l e i n e i d a m 1 9 9 2 , 3 3 f f . ; W i t t e 1 9 8 4 ; W i t t e , in: S t u r m 1 9 8 7 , 1 5 9 f f . ; vgl. A u s w ä r t i g e s A m t ... 1 9 8 5 ) : — Grundsätzliche Öffentlichkeit der „Förderung der deutschen Sprache im Ausland", — Bereitschaft zur Gegenseitigkeit durch „Lehre und Pflege f r e m d e r S p r a c h e n in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d " u n d
„internationale
kulturelle Z u s a m m e n a r b e i t " zur „Völkerverständigung", — V e r b e s s e r u n g des d u r c h d e n N a t i o n a l s o z i a l i s m u s i m A u s l a n d r u i n i e r ten D e u t s c h l a n d b i l d e s . Im Rahmen eines grundsätzlichen Konsenses gibt es gewisse kulturpolitische Meinungs- und Richtungsunterschiede zwischen den Parteien (Ammon 1 9 9 1 a , 540ff.): Während die SPD/FDP-Regierung mehr differenzierend 1970 in „Leitsätzen für die auswärtige Kulturpolitik" den partnerbezogenen Grundsatz betonte, in bestimmten Teilen der Welt „zweckmäßiger [...] sich der gebräuchlichsten Sprache als Kommunikationsmittel zu bedienen" (Christ/Liebe 1981, 75), wurde von seiten der CDU/CSU (und der FDP als deren Koalitionspartner), auch in jeder Regierungserklärung, eine entschiedenere Sprachverbreitungspolitik befürwortet („[...] die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten" (Regierungserklärung 1982), bis hin zum unrealistischen Vorschlag, deutsche Wissenschaftler in Bezug auf das Verfassen englischsprachiger Texte und das Übersetzen ihrer Texte ins Englische zu kontrollieren (Bericht 1967; nicht mehr in: Auswärtiges A m t . . . 1985), und zur Forderung, von der „Bedarfsdeckung" zur „Bedarfsweckung" durch „Werbung" für die deutsche Sprache überzugehen. Die Grünen dagegen seien „nicht beunruhigt über den Rückgang der deutschen Sprache im Ausland"; Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik, Völkerverständigung und Friedenspolitik bedürften nicht unbedingt deutscher Sprache im Ausland (n. Ammon 1 9 8 9 b , 262). Die Mittel für deutsche Sprachförderung im Ausland sind seit den 50er Jahren, besonders in den 80er Jahren und nach der Wende 1989/90, kontinuierlich gesteigert worden; sie betragen etwa 5 0 % des Etats der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, die 1988 ein besonderes Referat „Deutsche Sprache" erhalten hat. Die Realisierung dieser auswärtigen Kulturpolitik liegt in den bewährten Händen der privaten, durch Richtlinienkompetenz, Aufsicht, Kontrolle und Mittelzuweisung vom AA abhängigen Mittlerorganisationen, vor allem des G o e t h e - I n s t i t u t s , mit 16 Inlands- und 150 Auslandsinstituten in 78 Ländern (1996), des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), des Pädagogischen Austauschdienstes, der Alexander v. HumboldtStiftung, der 242 Auslandsschulen, der Medienprogramme bei Inter Nationes usw. (Schirmer, in: Born/Stickel 1993, 130 ff.). Die Förderländer sind weit und relativ gleichmäßig gestreut, wobei nur 35 der 167 Länder nicht berücksichtigt sind, jedoch seit 1990, aufgrund verstärkter Nachfrage, mit neuem Schwerpunkt in O s t ( m i t t e l ) e u r o p a , mit ζ. T. neuen Methoden, ζ. B. mehr praktische Anwendbarkeit, weniger Hochkulturbildung, gegen ζ. T. konservative Germanistik in den Gastländern, „Tandemkurse" zur Förderung auch kleinerer Sprachen gegen die Dominanz des Englischen als Weltsprache (Eichheim, in: Born/Stickel 1993, 268 ff.).
216
6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Die bundesdeutsche Sprachverbreitungspolitik ist jedenfalls bei weitem nicht so politisch aktiv, staatsautoritär, neokolonialistisch und antianglophon wie die französische (vgl. Trabant 1995; Ammon/Kleineidam 1992, 1 ff.); sie kann, anders als die übernationale Frankophonie (Calvet 1978, 182 ff.), kaum mit entsprechenden Institutionen anderer deutschsprachiger Länder zusammenarbeiten, ist wegen des ständigen Nachwirkens der Erinnerung an den deutschen Sprachimperialismus der Vergangenheit unsicher und vorsichtig und hat bisher nur begrenzte Erfolge erreichen können: die Etablierung von Deutsch als „Arbeitssprache" im Europarat (1970) und als „Dokumentensprache" bei der U N O (1975), kaum aber in Bezug auf die Arbeitssprachen in der EG (s. 6.5Y). Im Widerstand gegen Englisch als internationale Wissenschaftssprache ist die Bundesregierung sehr zurückhaltend geworden, sie muß sich auf die bevorzugte Förderung deutschsprachiger Publikationen und Veranstaltungen beschränken (s. 6.5W). Der Gebrauch des Deutschen als Lingua franca oder asymmetrisch dominante Verkehrssprache bei den Nachbarn Deutschlands, vor allem im Osten und Südosten, ist keineswegs durch kulturpolitische „Bedarfsweckung", schon gar nicht durch institutionelle „Werbung" zu fördern; er liegt in der autonomen, soziolinguistisch und sozialpsychologisch erklärbaren Sprachwahlzuständigkeit der betreffenden Sprachgemeinschaften und Individuen und wird geschwächt durch die wachsende Fremdsprachkompetenz der Deutschsprachigen in Englisch. In den Goethe-Instituten weiß man sehr wohl, daß der Erfolg von Sprachverbreitungspolitik viel stärker von jeweiligen sonstigen Informationen über Deutschland und Einstellungen zu Deutschland abhängt. Die teilweise komplementäre auswärtige Sprachförderungspolitik der D D R durch das Leipziger Herder-Institut, mit Kulturinstituten und Lektoren in 26 sozialistischen und neutralen Ländern war umfangreich und sprachdidaktisch erfolgreich. Stärker als beim Goethe-Institut stand aber mehr die Vorbereitung auf das Ausländerstudium und die Weiterbildung ausländischer Deutschlehrer in der DDR (Ferienkurse) im Vordergrund. — Die ö s t e r r e i c h i s c h e auswärtige Sprachförderung durch 5 Kulturinstitute und zahlreiche Lektorate, Lehrer, Sprachassistenten in vor allem ostmitteleuropäischen Ländern ist seit der Wende 1989/90 belebt worden und legt Wert auf stärkere Berücksichtigung des österreichischen Deutsch (s. 6 . I I P — S), verhält sich aber europäischer und zurückhaltender als die deutsche: Nicht Verbreitung als solche, nicht Statusverbesserung, sondern eher vielsprachiges Auftreten der Österreicher (mitunter Verwendung des Englischen gegenüber den Nachbarländern) soll im Vordergrund stehen, aus Erinnerung an die Schwierigkeiten mit Deutsch als Herrschaftssprache im alten Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und zur Beschwichtigung der Befürchtungen westeuropäischer Länder über drohende deutschsprachige Dominanz in der erweiterten EG (Ammon 1991a, 559 ff.; Muhr, in: Ehnert/Schröder 1990, 53 ff.; Földes 1995 a, 314; Schallenberg, in: Sturm 1987, 191 ff.; Muhr, Wagner, in: Wodak / de Cillia 1995, 83 ff., 139 ff.). — Z u Österreichs Engagement für die Erhaltung des Deutschen in Südtirol s. 6.4.3T! — Der sprachenrechtlich konsequent viersprachigen S c h w e i z liegt „hegemonische" Förderung des Deutschen im Ausland grundsätzlich fern (Merkt, in: Ehnert/Schröder 1990, 41 ff.).
U—W: Deutsch als Wissenschaftssprache
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U. Die stärkste Veränderung in der internationalen Bedeutung der deutschen Sprache ist im 19. und 20. Jahrhundert der Aufstieg des Deutschen zum ersten oder zweiten Platz als W e l t w i s s e n s c h a f t s s p r a c h e , mit Höhepunkt um 1920, und sein Abstieg zum dritten oder vierten Platz mit sehr weitem Abstand zu dem seit etwa 1930 dominierenden E n g l i s c h , parallel zum Rückgang des Französischen seit den 1920er Jahren (Amnion 1998 b; 1991a, 212ff.). Z u m Verständnis dieser Veränderung, die dahin zu gehen droht, daß Deutsch bald nur noch in einigen geisteswissenschaftlichen ,Nischen' als vollgültige Wissenschaftssprache überlebt (Skudlik 1990), muß von den Grundprinzipien wissenschaftlicher Kommunikation und von der Entwicklung in der vorangegangenen Epoche ausgegangen werden. Wissenschaftler stehen unter einem weltweiten Publikations-, Rezeptions- und Kritikgebot, d. h. wissenschaftliche Erkenntnisse müssen allen Mitexperten verständlich zugänglich sein und von allen rezipiert werden, und zwar in kooperativer Weise weit über den provinziellen oder nationalen Bereich hinaus (H. Weinrich 1985 a, 42 ff.; Kalverkämper/Weinrich 1986, 183 ff.). Diesen Geboten entsprach das universale W i s s e n s c h a f t s l a t e i n vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit, seit der Aufklärungszeit das F r a n z ö s i s c h e als Oberschichtund modernisierende Bildungssprache (s. Bd. II: 5.3). Die fortschrittsfreundliche Abkehr vom dogmatisch erstarrten Latein im 18. Jh. vollzogen auch die deutschen Bildungseliten nicht nur mit der Hinwendung zur Volkssprache (aus Gründen der aufklärerischen Verbreitung des Wissens), sondern auch zu neuer Z w e i s p r a c h i g k e i t Französisch/Deutsch oder Dreisprachigkeit Latein/Französisch/Deutsch. Bis um 1800 galt auch in Deutschland Französisch als die Sprache des wissenschaftlichen Fortschritts; selbst Englisches wurde oft in französischen Übersetzungen gelesen, und mit britischen Kollegen sprach man noch lange Latein oder Französisch. Erst durch den Beginn des Nationalismus in der Zeit französischer Besetzung deutscher Territorien von 1794 bis 1814 wirkte in Deutschland die Tendenz zum muttersprachlichen M o n o l i n g u i s m u s , indem das aufklärerische Gebot zur demokratisierenden Zugänglichkeit des Wissens für alle zunehmend auf die Wissenschaft selbst verallgemeinert wurde, auch für die wissenschaftliche Kommunikation mit Fachkollegen anderer Muttersprache, denen somit zugemutet wurde, Deutsch zu lernen. Im nicht mehr europäisch oder kosmopolitisch denkenden Deutschland herrschte die Illusion, allein mit der Muttersprache dem Gebot internationaler Wissenschaftskommunikation genügen zu können. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. waren deutsche Universitäten so führend in der Welt, daß Nachwuchswissenschaftler aus vielen Ländern nach Deutschland und Österreich zum Studieren gingen und ζ. T. bestimmte Fachdisziplinen in ihren Ländern nach deutschen Vorbildern begründeten. Noch in den 1920er und 1930er Jahren war Deutsch auf internationalen Kongressen ζ. B. der Physik oder der Sprachwissen-
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
schaft führende Weltwissenschaftssprache; und in den USA, in den Niederlanden, in skandinavischen und ost(mittel)europäischen Ländern, in Portugal und Japan sollen Deutschkenntnisse wissenschaftlich erforderlich gewesen sein, auch in Naturwissenschaften (Ammon 1991 a, 251 ff.): Nach einem relativierenden Vergleich verschiedener Untersuchungen nach amerikanischen, deutschen, französischen und russischen Referatenorganen seit um 1880 über wissenschaftliche P u b l i k a t i o n e n gehörte Deutsch zu den drei herausragenden Weltwissenschaftssprachen, auf dem Höhepunkt um 1920 teils vor, teils nach Englisch, vor Französisch, weit vor Russisch. Der Abstieg begann um 1930, bei Französisch um 1920, der rasante Aufstieg des Englischen zur gleichen Zeit. Bei internationalen K o n f e r e n z e n lag Deutsch in den 20er Jahren mit 132 auf dem dritten Rangplatz nach Französisch (220) und Englisch (160) in weitem Abstand vor Italienisch (22), Spanisch (13) und anderen Sprachen, unter denen Russisch und Japanisch noch kaum vorkamen (Ammon 1991a, 242 ff.). Heute hat Englisch als internationale Konferenzsprache das Deutsche wie auch das Französische weit hinter sich gelassen, was aus einer Befragung an den Universitäten München und Bielefeld durch Skudlik (1990, 296—298) hervorgeht, wobei auch in deutschsprachigen Ländern der Anteil von Englisch beträchtlich ist: Frankreich Italien Spanien Portugal
Skandinavien
Englischsprachige Länder
BRD Österreich Schweiz
DDR
Sonstige sozialist. Länder
Deutsch
56%
61%
16%
7%
6%
5%
Englisch
42%
33%
61%
60%
87%
93%
Sprachenanteile der Referate auf internationalen Kongressen (n. Skudlik 1990, Tab. 17) In den N a t u r w i s s e n s c h a f t e n und M e d i z i n rangiert heute Deutsch in der Welt auf dem 4. oder 3. Platz, hinter Englisch und Russisch, oft auch hinter Japanisch, Französisch, in einigen Fächern vor Japanisch bzw. Französisch, jedoch mit einem beträchtlichen Abstand zu Russisch und einem gewaltigen Abstand zur führenden Weltwissenschaftssprache Englisch: z. B. nach folgenden prozentualen Mittelwerten von A b s t r a c t s aus verschiedenen Fachzeitschriften: Englisch 73,58, Russisch 12,02, Deutsch 3,88, Französisch 3,10, Japanisch 2,56 (Ammon 1991 a, 221). Auch in osteuropäischen Ländern spielt Deutsch als Sprache naturwissenschaftlicher Veröffentlichungen nur noch eine geringe Rolle. Selbst an den deutschen Universitäten München und Bielefeld publizieren die Naturwissenschaftler zu 100% auf Englisch, nur noch zu rund 80% daneben auf Deutsch (Skudlik 1990, 269). — Etwas stärker ist die Position von Deutsch (und Französisch) in den G e i s t e s - und S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n : Mittelwerte: Englisch 45,75, Französisch 18,30, Deutsch 9,45, Russisch 7,48, Japanisch 7,10, wahrscheinlich wegen eines geringeren Grades an weltweitem internationalem Interesse und an Formalisierung (Ammon 1991a, 228 ff.). In manchen Fächern, z. B. theoretische Linguistik, wird in anglophonen Ländern deutschsprachige Forschungsliteratur kaum mehr zur Kenntnis genommen. Untersuchungen ausschließlich für E u r o p a würden für Deutsch und Französisch höhere Werte ergeben (Ammon 1988, 82). Besser ist die Stellung des Deutschen auch in den Ingenieurwissenschaften (Berschin 1994, 314).
U—W: Deutsch als Wissenschaftssprache
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V. Der Versuch, wissenschaftliche Mehrsprachigkeit in Deutschland durch deutsche E i n s p r a c h i g k e i t zu ersetzen und Deutsch zu einer auch für die Welt unentbehrlichen Wissenschaftssprache zu machen, ist also ebenso gescheitert wie der Versuch deutscher Weltmachtgeltung der wilhelminischen Zeit, aber nicht nur aus politischen Gründen. A m m o n (1991a, 255 ff.) führt den Rückgang deutscher Wissenschaftssprache nicht auf „geringeres Wachstum von Deutsch" zurück, sondern auf einen „Verdrängungsprozeß des Deutschen, wie auch des Französischen, durch das Englische". Dabei sei es sekundär von Einfluß gewesen, daß „die Wissenschaftler der kleineren Sprachgemeinschaften, die das deutsche Sprachgebiet umgeben: Niederländer, Dänen, Tschechen, Skandinavier usw. nach dem II. Weltkrieg in großem Umfang von Deutsch als Publikations- und Vortragssprache auf Englisch umgestiegen sind". Die Zeitangabe könnte wohl modifiziert werden in: seit der Wirkung der Erfahrungen mit der verhängnisvollen deutschen Entwicklung seit 1933. Verstärkend kann auch die Auswanderung deutscher Wissenschaftler nach den USA und Großbritannien in der NS-Zeit gewirkt haben. Es bleibt aber zu erklären, w a r u m der Abstieg des Deutschen und des Französischen und der Anstieg des Englischen bereits in den 20er Jahren begann. Der Rückgang der Zahl der Nobelpreisträger aus deutschsprachigen Ländern (in den 30er Jahren rund 1/3) begann zwar erst zwischen 1940 und 1950, der steile Anstieg der Zahlen naturwissenschaftlicher N o b e l p r e i s t r ä g e r aus anglophonen Ländern dagegen schon zwischen 1920 und 1930 mit hohem USA-Anteil (Ammon 1991 a, 259 n. Skudlik 1990, 319). Historisch-chronologisch sind also primär i n n e r w i s s e n s c h a f t Prozent 80Ί
α Deutsch ^ Englisch • Nobelpreise deutschsprachiger Länder Hobelpreise englischsprachiger Länder Jahre
o-t— 1310
1320
1330
1940
1350
1360
1970 1980
Anteil der deutschsprachigen u n d englischsprachigen L ä n d e r an den naturwissenschaftlichen Nobelpreisen im Vergleich z u m Anteil von Deutsch u n d Englisch in den naturwissenschaftlichen Publikationen (n. A m m o n 1991 a, 259)
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
l i e h e , erst sekundär (und verstärkend) politische Ursachen anzunehmen, die neben der zweiten deutschen Katastrophe auch im allgemeinen Rückgang der politischen und ökonomischen Bedeutung Europas in der Welt durch beide Weltkriege zu sehen sind (Ammon, in: Mattheier 1991 b, 52). Mit dem Rückgang von Deutsch als Weltwissenschaftssprache muß noch nicht Deutsch als Wissenschaftssprache überhaupt betroffen sein. Es heißt, nur in der „ S p i t z e n f o r s c h u n g " sei Englisch völlig dominant. „Spitzenforschung" ist ein vager, elitärer Begriff. Publizieren auf Englisch kann bei deutschen und anderen nichtanglophonen Wissenschaftlern auch durch Geltungssucht motiviert sein, auch durch Cliquenbildung (Zitierkartelle) oder durch „Schutzbehauptung derjenigen, die angesichts einer ohnehin beängstigenden Informationslawine nur zu gerne nach einem einfachen Kriterium suchen, um große Teile dieses Informationsangebots a limine abweisen zu können, ohne sich deswegen dem Vorwurf unvollständiger Dokumentation aussetzen zu müssen", mit einem Verhalten ähnlich wie das des deutschen und russischen Adels des 18./19. Jh. in Bezug auf Französisch (H. Weinrich 1985 a, 310). Die euphorische Hinwendung zu Englisch als Publikations-, Vortrags- und Diskussionssprache ist häufig erkauft mit (weithin unbewußt) mangelhaftem, nichtidiomatischem Englisch deutscher Wissenschaftler (Ammon 1991a, 266 ff.), allerdings im Rahmen der weltweiten Gefahr der ,Pidginisierung' des Englischen, die Anglophone heute zu sprachpuristischer Überempfindlichkeit und Abwehrhaltungen verleiten kann. So kann auf internationalen Kongressen mit internationalem WissenschaftsEnglisch als Vortrags- und Diskussionssprache die Anwesenheit Anglophoner peinlich ,störend' wirken. Die Nichtanglophonen sind mit nur fachbezogenen Englischkenntnissen, mit wenig eleganter Stilistik den Anglophonen in Bezug auf den Ausdruck von Beziehungsaspekt, Witz, Ironie usw. oft hoffnungslos unterlegen und gehemmt.
Daraus kann nur die Konsequenz höher entwickelter Mehrsprachigkeit deutschsprachiger Wissenschaftler gezogen werden: Jede Sprache ist ein neues Repertoire, also eine geistige Bereicherung; „Es schadet also nichts, in fremden Sprachen auch zu denken" (Oksaar, in: Kalverkämper/Weinrich 1986, 157 f.). Der Rückgang von Deutsch als internationale Wissenschaftssprache durch die Etablierung von Englisch als wichtigste Weltwissenschaftssprache ist, historisch langfristig gesehen, nur die Rückkehr zu der bis zum 18. Jh. selbstverständlichen latein- oder französischorientierten Mehrsprachigkeit wissenschaftlicher Arbeit, also das Ende nationalistischer monolingualer Beschränkung auf Deutsch. Von daher gesehen droht eher den nur anglophonen Wissenschaftlern monolinguale Beschränktheit. W. Das domänen- und textsortenspezifische heutige Verhältnis zwischen D e u t s c h und E n g l i s c h bei deutschsprachigen Wissenschaftlern ist an Grundsätzen des Verhältnisses zwischen Fach- und G e m e i n s p r a c h e zu messen: Da Fach- wie Wissenschaftssprachen stets ökonomisierende, institutionalisierende Kommunikationsweisen zwischen routinierten
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Experten sind, kann extrasoziale Fehlentwicklung (,Elfenbeinturm', l'art pour l'art, ,Glasperlenspiel') nur durch ständigen Rückgriff auf eine Gemeinsprache/Umgangssprache, durch ein ständiges Geben und Nehmen beiderseits vermieden werden, besonders in interdisziplinärer Kommunikation. Der Weg von Fachsprache zu anderer Fachsprache ist nicht immer der kürzeste, und Wissenschaftsethik verbietet es, die Weitervermittlung den bloßen Anwendern zu überlassen (H. Weinrich 1985 a, 46; Kalverkämper/Weinrich 1986, 17, 78). In der Tat ist Englisch als Publikationssprache deutschsprachiger Wissenschaftler vorwiegend in der Grundlagenforschung, in aktuellen Orginalbeiträgen, in Theoriebildung, Kurzmitteilungen, Abstracts und (fast ausschließlich) in modernen Datenbanken üblich, Deutsch dagegen in anwendungsbezogenen Disziplinen, Lehrbüchern, Fallstudien, ,grauer' Literatur, populärwissenschaftlicher Publizistik. Deutsch bleibt Redesprache in akademischen und schulischen Lehrveranstaltungen, so daß wenigstens in diesem Vermittlungsbereich die kreative Beziehung zwischen Fach-und Gemeinsprache und die Weiterentwicklung deutscher Wissenschaftsterminologie gewährleistet ist (Ammon 1991 a, 233 ff.; Steger, in: Kalverkämper/Weinrich 1986, 64ff.; Skudlik 1990, 75 ff. vgl. jetzt auch Ammon 1998 b). So fordert Harald Weinrich (1985 a, 55), entsprechend dieser Domänenverteilung: Möglichst alle relevanten Forschungsergebnisse in (gutem!) Englisch, aber interdisziplinäre Diskussion und Vermittlung von Wissenschaft an Lernende und Nichtexperten a u c h in (gutem) Deutsch, und zwar nicht durch sekundäre Vermittler, da deutschsprachige Wissenschaftler „nicht aus der Verantwortung für die deutsche Wissenschaftssprache entlassen" werden können. In großen Handbüchern und in Fachzeitschriften drängen allerdings große Verlage aus Geschäftsinteressen stärker zum Englischen hin, geben aber den Autoren so gut wie keine Hilfen. — Vor allem seit der weltpolitischen Wende 1989/90 gibt es zunehmend Konflikte und Irritationen beim Zusammentreffen der Anglophilie (westlicher) deutschsprachiger Wissenschaftler und dem traditionellen Bedürfnis ost(mittel)europäischer Kollegen nach Deutsch als europäischer Wissenschaftssprache auf internationalen Kongressen. Wenn Deutschsprachige, vor allem Jüngere, auch gegenüber östlichen Partnern, die Deutsch reden, beim Englischen bleiben, können die Motive sehr verschieden sein: Geltungssucht, oder übereifriges Einüben in die erforderliche Englischpraxis (so wird oft behauptet), oder Fairness, um nicht einseitig den Muttersprachvorteil auszunutzen? (Ammon 1991 a, 241; Skudlik 1990, 299). — Zu Sprachmischung, englischem Spracheinfluß und Eurolatein s. 6.10! Zu stilistischen Unterschieden zwischen deutscher und englischer Wissenschaftssprache s. 6.14F!
X. Am schwächsten war und ist die internationale Stellung des Deutschen in der p o l i t i s c h e n Kommunikation auf höheren Ebenen. Im Sprachgebrauch der D i p l o m a t i e und der V e r t r ä g e hat Deutsch niemals eine bedeutende Rolle gespielt (Ammon 1991a, 282 ff.; Ostrower 1965; Rudolf 1972): Das Heilige Römische Reich hielt am Latein fest, das noch bis 1918 offizielle Briefsprache am Wiener Hof blieb. Bis Mitte
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
des 18. Jh. gab es daneben auch Deutsch als Vertragssprache mit und zwischen skandinavischen Ländern und zwischen diesen und Rußland, in Wien auch Türkisch als obligatorische Diplomatensprache für Balkan und östlichen Mittelmeerraum. Latein wurde ab Mitte des 17. Jh., stärker seit um 1800, in der europäischen Diplomatie durch F r a n z ö s i s c h verdrängt, sowohl durch französische sprachenpolitische Aktivitäten seit dem Westfälischen Frieden (1648) als auch durch freiwillige Frankophilie der deutschen Fürstenhöfe und der aufgeklärten Bildungselite in Deutschland (s. Bd. II: 5.3L—Q). Trotz der Niederlage des napoleonischen Frankreich war noch auf dem Wiener Kongreß (1815) Französisch ausschließliche Verhandlungs- und Vertragssprache, zumal die alternativ möglichen Sprachen Deutsch, Englisch, Russisch den jeweils anderen Delegationen nicht vertraut waren. Ein Engagement für die deutsche Sprache war auf dieser höchsten außenpolitischen Ebene noch unter Bismarck sehr zurückhaltend, der 1871 die Friedensverhandlungen mit dem besiegten Frankreich persönlich auf Französisch führte, wie auch der Friedensvertrag einsprachig in Französisch formuliert war. Bismarck führte als preußischer Ministerpräsident 1862 Deutsch als Berichtssprache ein, nachdem er selbst als Gesandter in Petersburg noch auf Französisch hatte berichten müssen (Zechlin 1960, 179, 195). Im Reichstag achtete er streng auf Einhaltung deutscher Amtssprache (Nass 1978, 14f.). Der Versuch, im Verkehr mit den diplomatischen Vertretungen in Berlin das Deutsche durchzusetzen, mißlang: Die ausländischen Botschaften antworteten darauf in ihrer jeweils eigenen Sprache, was man im Auswärtigen Amt erst recht nicht wollte. Es blieb in der wilhelminischen Zeit grundsätzlich bei Französisch als diplomatischer Lingua franca; aber man antwortete deutscherseits auf Deutsch als Reaktion auf den Gebrauch anderer Sprachen als Französisch, während man gegenüber Frankreich zur Durchsetzung der Gleichberechtigung auf Deutsch antwortete (Rudolf 1972, 27f.). Man wollte also Symmetrie durchsetzen, so auch in englisch/deutschen Vertragstexten mit England; nach 1900 gab es auch asymmetrisch dominante Vertragstexte, ζ. B. 1905 mit Rußland französisch/deutsch und nicht russisch, so auch im Ersten Weltkireg (Ammon 1991 a, 288).
Nach dem E r s t e n W e l t k r i e g wurde Deutsch als Sprache der Diplomatie noch mehr ausgeschlossen, so in den Versailler Friedensverträgen (1919), wo von Wilson und Lloyd George Englisch als zweite Verhandlungs- und Vertragssprache gegen französischen Widerstand durchgesetzt wurde, und im Völkerbund, dem Deutschland zunächst nicht angehörte. Auch nach seiner Aufnahme (1926) wurde Deutsch nie als offizielle Sprache des Völkerbundes in Betracht gezogen, was großen Einfluß auf die Dominanz von Französisch und Englisch in der U N O bis heute hat. Die der führenden Stellung des Englischen nach 1919 zugutekommende Fürsprache dritter Länder „hat der deutschen Sprache jedoch in wichtigen Phasen der Etablierung internationaler Sprachen der Diplomatie so gut wie gänzlich gefehlt" (Ammon 1991 a, 290). Die Chancen für mehr Anerkennung des Deutschen in der Diplomatie wurden dann im Dritten
X Y : Deutsch in inter-/übernationaler Politik
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Reich vollends verspielt durch die diktatorische Einseitigkeit, daß H i t l e r s Münchener Abkommen mit Großbritannien, Frankreich und Italien (1938) zwar auch ins Englische, Französische und Italienische übersetzt wurde, aber nur in der deutschen Fassung gültig sein sollte. Y. Inder N a c h k r i e g s z e i t zeigte sich die Tendenzwende von versuchter Sprachdominanz zu sprachlicher Dominiertheit nach dem katastrophalen Ende des Deutschen Reiches deutlich im Sprachverhalten ausländischer Missionen gegenüber der Bonner Regierung (Ammon 1991 a, 322 ff.): In der frühesten Phase der Bundesrepublik antworteten ausländische diplomatische Vertretungen meist nicht auf Deutsch, sondern in ihrer Landessprache, während bundesdeutsche Missionen im Ausland sich der dortigen Landessprache bedienten, auch gegenüber anderen Missionen. N a c h A m m o n s eigener Umfrage 1988 sei diese asymmetrisch dominante Konstellation später nur noch bei der Bonner amerikanischen Botschaft festzustellen, wo offenbar „unzureichende Sprachkenntnisse geradezu zu einem T o p o s von amerikanischen Diplomaten g e h ö r e n " und, historisch gesehen, ein ähnliches Sprachverhalten vorliege wie das der französischen D i p l o m a t e n zur Zeit der Vorherrschaft des Französischen in der Diplomatie. Die britische Botschaft k o m muniziere immerhin „überwiegend" auf Deutsch mit der Bundesregierung; die sowjetische/russische tat sich meist durch gute Deutschkenntnisse des Botschafters und ihres Personals hervor.
In internationalen Organisationen ist die Sprachenwahl von vornherein, nach der Arbeitspraktikabilität, strenger geregelt als im diplomatischen Verkehr (Ammon 1 9 9 1 a , 300ff.): Auch in der Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, den V e r e i n t e n N a t i o n e n , blieben Englisch und Französisch als Arbeitssprachen dominierend. Dazu kam ab 1948 auch Spanisch. Formal rechtlich gibt es darüber hinaus official languages (Amtssprachen): Anfangs 5 (Engl., Frz., Span., Russ., Chin.), ab 1973 auch Arabisch. Der Unterschied zwischen Arbeits- und offiziellen Sprachen wurde später zunehmend verwischt, was einen hohen Aufwand für Dolmetschen, Übersetzen und Publizieren zur Folge hatte. Trotz der Aufnahme Österreichs (1955), der BRD und DDR (1973) und Liechtensteins (1990) in die UNO ist Deutsch bisher weder als Amts- noch Arbeitssprache anerkannt worden. Dafür gibt es mehrere Erklärungen über die politisch-moralische Nachwirkung der katastrophalen Folgen des Nationalsozialismus hinaus. Nach A m m o n (1991 a, 3 0 4 ff.) wirkt erstens der Ausschluß Deutschlands aus dem Völkerbund noch ebenso nach wie der Verlust seiner (ohnehin nur wenige J a h r e bestehenden) Kolonien und damit der M ö g l i c h k e i t , daß Deutsch woanders in der Welt hätte Amtssprache werden können (Ostrower 1 9 6 5 , 4 0 6 ) . Zweitens sei die Anzahl der deutschsprachigen Mitgliedsländer und deren Sprecherzahl ( 1 1 0 — 1 2 0 Millionen) relativ gering im Verhältnis zu den Anzahlen der U N O - L ä n d e r . Bei einer Z u w a h l von Deutsch als offizieller Sprache stünden mindestens auch Portugiesisch und Japanisch zur Z u w a h l an. Immerhin ist
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
1974 Deutsch auf Antrag der deutschsprachigen Mitgliedsländer als „Dokumentensprache" anerkannt worden, d. h. die wichtigsten offiziellen Texte der zentralen Gremien und einiger Teilorganisationen werden auf Kosten der Antragsländer ins Deutsche übersetzt.
In europäischen Organisationen ist die Stellung des Deutschen nicht ganz so gering. Im E u r o p a r a t sind Deutsch und Italienisch 1973 als Arbeitssprachen neben Französisch und Englisch anerkannt worden. In der Europäischen Sicherheitskonferenz (KSZE, 1973—75 in Helsinki und Genf) hatte Deutsch als eine der 6 Verhandlungs- und Dokumentensprachen eine Brückenfunktion über die drei Blöcke (West, Ost, Neutrale) hinweg. Problematischer ist Deutsch als nur wenig benutzte Arbeitssprache neben dominierendem Französisch und Englisch in den Organen der E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t (Ammon 1991 a, 308 ff.; Coulmas 1991 b; Debus 1994): In der EG sind alle 9 Mitgliedersprachen als „offizielle" Sprachen formal gleichberechtigt. Faktisch werden aber als Arbeitssprachen meist nur Englisch und Französisch verwendet. Französisch hat gegenüber Englisch noch eine relativ starke Position, weil die meisten europäischen Institutionen ihren Sitz in frankophonem Gebiet haben. Seit dem Beitritt Großbritanniens und Irlands (1973) wurde Deutsch vom 2. auf den 3. Platz (in Konkurrenz mit Spanisch) zurückgedrängt, Englisch auch durch den Beitritt Dänemarks, Portugals und Griechenlands gestärkt; auch Französisch ging etwas zurück. Der quantitative Abstand von Deutsch zu Englisch und Französisch als EG-Sprache ist weitaus größer als zu anderen EG-Sprachen. Auch seit der Vergrößerung der Bundesrepublik Deutschland durch die Neuvereinigung mit der ehemaligen DDR und seit dem EG-Beitritt Österreichs hat sich die — angesichts der Sprecherzahl, Wirtschaftskraft und finanziellen Beitragshöhe — erstaunlich geringe Position des Deutschen in europäischen Institutionen kaum verbessert. Außer vergangenheitsbezogenen politischen Ressentiments steht dem die pragmatische Abneigung der anderen Mitglieder gegen den mit einer Vermehrung der Arbeitssprachen verbundenen zusätzlichen Aufwand entgegen. Schon bei 9 Amtssprachen ist mit 72 Dolmetsch- und Übersetzungskombinationen und rund einem Drittel des Gesamtetats für Spracharbeit die Grenze des Erträglichen erreicht; Französisch oder Englisch verstehende Beamte und Abgeordnete verzichten deshalb großenteils auf Dolmetschen oder Übersetzungen. Meist muß man Tage oder Wochen mit den frz./ engl. Originaltexten zurechtkommen, bis offizielle Übersetzungen vorliegen. Einer Statusanhebung des Deutschen stünde aber die Interessenkonkurrenz mit den ebenso oder noch stärker benachteiligten Mitgliedssprachen Niederländisch, Dänisch, Spanisch, Griechisch entgegen. Gelegentliche sprachenpolitische Vorstöße der deutschen Regierung und ihrer Vertreter oder des Bundestages seit 1988, mit quantitativen und wirtschaftspolitischen Argumenten, können im Grunde fast nur das Gegenteil erreichen; das europäische Presseecho darauf war meist scharf polemisch. Interne Anweisungen des Auswärtigen
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Amtes, mehr Deutsch zu sprechen oder zu schreiben, sind praktisch kontraproduktiv. Die Haltung Österreichs ist darin eher zurückhaltend. Ohne Fürsprache Anderer ist das Fordern einer Aufwertung der eigenen Sprache nutzlos, da entsprechende Sprachkompetenz und Bereitschaft auf der Partnerseite unerläßlich ist. Deutschsprachige Dominanz in der sich künftig erweiternden EG ist zumindest bei den westlichen, nördlichen und südlichen Nachbarn aus historisch erklärbaren Gründen nicht erwünscht. Gegenüber ost(mittel)europäischen Kandidaten für die Aufnahme in die EG gab es EG-seits schon deutliche Signale gegen Deutsch als Arbeitssprache. 1993 ist ein Antrag deutscher, ungarischer und polnischer Abgeordneter des Europarats, Deutsch zur 3. Amtssprache des Europarates zu machen, abgelehnt worden (Berschin 1994, 315).
Die Minimallösung der pragmatischen Beschränkung auf fast nur zwei Arbeitssprachen steht im Widerspruch zur erklärten EG-Absicht, die Sprachenvielfalt in Europa zu fördern. Andererseits steht die Nichtberücksichtigung von Minderheitensprachen im Widerspruch zur geforderten sprachlichen Gleichberechtigung aller EG-Bürger; und die Privilegierung der traditionellen Nationalsprachen steht im Widerspruch zum Geist der EG, die „eine supranationale Organisation, nicht lediglich ein internationaler Zusammenschluß" ist (Coulmas 1991b, 34). Abgesehen von mehrsprachiger Kommunikation auf regionaler Ebene (GellertNovak 1993), ist die Beschränkung auf nur eine oder zwei Arbeitssprachen für die Nichtfrankophonen bzw. Nichtanglophonen mit dem politischen Nachteil verbunden, daß sie als Fremdsprachler nur leicht übersetzbare, also langweilige, hölzerne Reden und Texte, ohne Rhetorik, ohne Humor, ohne Bürgernähe produzieren können (Coulmas 1991 b, 32), weshalb zur Abhilfe ein dänischer Abgeordneter einmal ironisch vorgeschlagen hat, die Franzosen sollten in der EG Englisch, die Briten Französisch reden. Nach Schloßmacher (1994, 107ff.) ist im mündlichen Gebrauch der E G - B e a m t e n und - A n g e s t e l l t e n Französisch mit 59% dominierend vor Englisch (33%) und Deutsch (6%) und anderen Sprachen (2%), wobei Deutsch als Fremdsprache nur zu 3% benutzt wird (Niederländer, Flamen, Dänen). Im inneren Verkehr mit EG-Organen führt Französisch noch stärker (69%) gegenüber Englisch (30%), wobei Deutsch nur zu 3 % eine Rolle spielt. Im Verkehr mit Nicht-EG-Staaten ist das Verhältnis zwischen Französisch und Englisch umgekehrt (30% : 6 9 % ) , wobei Deutsch nur noch mit 1 % vertreten ist. Etwas stärker ist die Stellung des Deutschen im Europäischen P a r l a m e n t : mehr Englisch (46%) als Französisch (38%) und immerhin 8% Deutsch (als Fremdsprache nur 4 % ) . Im schriftlichen Gebrauch ist die Position von Französisch und Englisch noch stärker, die von Deutsch noch schwächer. Schloßmachers Prognose (1994, 122): Weiterhin Französisch und Englisch als Arbeitssprachen mit weitem Abstand vor Deutsch und anderen Sprachen, aber Freiheit der Parlamentsrede in allen Sprachen, jedoch aus Kostengründen nur noch Übersetzung in einige Sprachen mit einem System von „Amtssprachen erster, zweiter und dritter Wahl".
Bei internationalen politischen Besuchskontakten ist mit den das deutsche Sprachgebiet umgebenden nichtdeutschsprachigen Ländern (außer
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6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Frankreich) a s y m m e t r i s c h d o m i n a n t e r Gebrauch des Deutschen vorherrschend (Ammon 1991 a, 315 f£.) : Beispielsweise zwischen Niederländern und Deutschsprachigen wird Deutsch gesprochen, nicht Niederländisch, da Niederländer viel Deutsch lernen, Deutschsprachige aber selten Niederländisch, usw. (vgl. aber 6.5M). Mit Anglophonen wird umgekehrt meist Englisch asymmetrisch dominant verwendet, mit Frankophonen teils beide Sprachen symmetrisch, aber wegen stark zurückgegangener Französischkenntnisse deutscher Politiker, verglichen mit der Bismarckzeit, zunehmend auch Englisch als L i n g u a f r a n c a , ζ. Β. zwischen den einstigen Regierungs-Chefs Guiscard d'Estaing und Schmidt. Englisch als Lingua franca wird in letzter Zeit, besonders von Deutschschweizern und Österreichern, gelegentlich auch gegenüber Nichtdeutschsprachigen verwendet, auch wenn diese zur asymmetrischen Verwendung des Deutschen in der Lage und bereit sind, da „die Bemühung um wenigstens gelegentliche Verwendung der Sprache des Partners beträchtliche Symbolkraft besitzen kann und unter Umständen auch dem Unterschied zur früheren deutschen Politik Ausdruck verleihen kann", auch im „Bestreben nach Fairness, insofern als ihr Partner, um keine kommunikativen Vorteile zu haben, eine auch für ihn fremde Sprache wählt" (Ammon 1991 a, 318, 320). Dieses Argument aus dem Bereich kooperativer Sprachpragmatik sollte gegenüber voreiliger nationalsprachlich orientierter Kritik an solchem ,sprachilloyalem' Verhalten Deutschsprachiger berücksichtigt werden.
Z. Daß die deutsche Sprache im Bereich auswärtiger W i r t s c h a f t s b e z i e h u n g e n starke Konkurrenz hat und teilweise von einer anderen Sprache dominiert wird, ist nichts grundsätzlich Neues: Italienisch und Niederländisch im 16./17. Jh., Französisch in der Zeit des Absolutismus spielten auch in Deutschland und für deutsche Kaufleute eine bedeutende Rolle. Seit Beginn der Frühindustrialisierung um 1800 mußte man für technische Neuerungen E n g l i s c h lernen, und auf wirtschaftlich-technischem Gebiet war im 19. Jh. der englische Spracheinfluß stark (s. 6.10.). So waren Englischunterricht und englische Sprachpraxis schon generationenlang für Deutsche in Außenhandelsberufen unerläßlich. Dieses Erfordernis hat sich seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in die Weltpolitik seit dem Ersten Weltkrieg noch verstärkt. Erst recht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Englisch zur führenden Welthandelssprache. So ist es nicht verwunderlich, daß in der internationalen wirtschaftlichen Kommunikation die Stellung der deutschen Sprache bei weitem nicht der zweitrangigen Position der deutschsprachigen Länder entspricht (Ammon 1991a, 150ff.): Die Sprachenwahl ist in der Weltwirtschaft in erster Linie adressaten-und erfolgsorientiert: Im Verkauf hat stets die Sprache des (potentiellen) Kunden Vorrang, bei kleineren' Sprachen eine ihm zumutbare Lingua franca. Deutsch ist im bundesdeutschen Außenhandel mit 26 Ländern neben anderen Sprachen anwendbar, Englisch mit 122, Französisch mit 57, Spanisch mit 26 (Ammon
Ζ: Deutsch in Wirtschaftsbeziehungen
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1991 a, 170). Die Nachfrage nach Deutschkenntnissen bei Stellenausschreibungen in der Wirtschaft in europäischen Ländern liegt jedoch an zweiter Stelle mit 17,53% nach der nach Englisch (55,42% u. mehr), Französisch (11,58%), Niederländisch (5,03%), Spanisch (2,97%), Italienisch (2,49%) (Glück 1995b, 44). Mit ost(mittel)europäischen und nordeuropäischen Ländern, mit Italien, Griechenland und der Türkei ist Deutsch in auswärtiger Korrespondenz möglich. Die seit 1945 sehr verbesserten Englischkenntnisse der meisten Deutschen, vor allem in der alten Bundesrepublik, machen es sogar möglich, daß ζ. B. japanische Geschäftsleute ohne Deutschkenntnisse in Deutschland erfolgreich arbeiten können; nur ihre nichtberufstätigen Familienmitglieder müssen Deutsch lernen (Ammon 1991 a, 200 f.). Englisch als Weltwirtschaftssprache ist seit langem so selbstverständlich, daß Beschwerden deutscher Politiker darüber, daß deutsche mittlere und kleine Betriebe im internationalen Wettbewerb benachteiligt seien (da sie neue Bestimmungen der EG-Kommission zunächst nur in Englisch oder Französisch, erst viel später in deutschen Übersetzungen erhalten könnten), wirken also wirtschaftssprachenpolitisch weltfern und dazu blauäugig, da sich niederländische, dänische, italienische usw. Betriebe ja in der gleichen Lage befinden, aber längst an das Welthandelsenglisch gewöhnt sind (Ammon 1991 a, 176 ff.).
Über die internationale Stellung von Deutsch und Englisch im Tourismus, in Massenmedien, Vokalmusik und Jugendleben s. Ammon 1991 a, Kap. 10 und 11!
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228
6.5. Inter- und übernationale Beziehungen
Fremdsprachenlernen in deutschsprachigen Ländern: Auswärtiges Amt ... 1985. Baumgratz 1980. Bodenstein 1981. Brunot 1934. Bureau International ... 1979. Christ 1980; 1991. Christ u. a. 1980. Christ/Liebe 1981. Christ/Schwarze 1985. Combecher 1960. Dahmen u. a. 1993. Digeser 1993. Dürrmüller 1991. Finkenstaedt/Schröder 1990; 1992. Gellert/Novak 1993; 1994. Glück 1995 Kleinschmidt 1989. Kommission der EG ... 1988. Koschat/Wagner 1994. Kramer 1992. Muhr 1994. Neide 1994. Novak 1994. Oksaar 1996. Pelz 1989. K. Schröder 1969; 1980; 1989. Schröder/Macht 1983. Schreiner 1992. Spillner 1989; 1997. Sprachen Lernen ... 1994. Walter 1982. Weckmann 1991 ab. Weller 1980. Weinrich 1985, Kap. III. Z a p p 1979. Z a p p u . a . 1981. Zapp/Schröder 1983. — Vgl. auch Lit. zu einzelnen Ländern in 6.4! Sprachverbreitungspolitik: Abelein 1968. Ammon 1989 b; 1991a, Kap. 13. Ammon/ Kleineidam 1992. Arnold 1980. Beirat Deutsch ... 1992. Bericht der Bundesregierung ... 1967. Bohrer 1988. D . B r a u n 1966. Calvet 1978. Coulmas 1985. Der Rektor ... 1987. DPhA (Thierfelder 1, 1441 ff.). Düwell 1976. Düwell/Link 1981. Emge 1967. Földes 1995. Glück 1986/87; 1995c; 1998. Goethe-Institut ... 1988. v. Goldendach/ Minow 1995. G. Klein 1984. Kloosterhuis 1981. Peisert 1978. Raasch 1997. Sartorius 1996. K. Schröder 1992. Thierfelder 1938; 1956/57. Trabant 1995. H. Wegner 1987. Witte 1984. Wittmann 1990. Wodak / de Cillia 1995. Zorn 1980/82. Deutsch als Wissenschaftssprache: Aldenhoff u . a . 1987. Ammon 1988; 1990b; 1991a, Kap. 8; 1998b. Gauger 1991. Kalverkämper/Weinrich 1986. Oksaar u . a . 1988. Skudlik 1990. Weinrich 1985 ab. Deutsch in inter-/übernationaler politischer Kommunikation: Ammon 1991 a, Kap. 9. Nass 1978. Ostrower 1965. Paqué 1987. Rudolf 1972. Wodak u. a. 1997. Zechlin 1960. - in Europa: Ammon 1991c; 1997 b. A m m o n / H a a r m a n n 1991. J. Born 1993; 1994. J. Born/Schütte 1995. J. Born/Stickel 1993. de Cillia 1997. Clyne 1995 a, 15 ff. Coulmas 1985; 1991 ab. Debus 1994. Décsy 1973. Ermert 1994. Fishman u. a. 1996 (Ammon 241 ff.). Földes 1995. Gellert-Novak 1993. H a a r m a n n 1973; 1975; 1993. Hagége 1996. Haselhuber 1991. Helfrich 1994. Kern 1989. Mattheier 1991b. Mohr/ Schneider 1994. Paula 1995. Posner 1992. Quell 1995. Schloßmacher 1994; 1995; 1996. K. Schröder 1992. Schumacher 1976. Spillner 1994. Weckmann 1991 ab.
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen Α. Sprache entwickelt sich nicht nur auf natürliche, unreflektierte Weise hinsichtlich ihrer innersprachlichen R e g e l n (die nur Spezialisten erkennen und abstrahierend als ,Sprachsystem' beschreiben können). Die Anwendung der grammatikalischen und lexikalischen Regeln unterliegt teilweise bestimmten, oft nur punktuellen, unsystematischen N o r m e n , die über die bloße Verständnissicherung durch Konventionen hinaus auf gesellschaftlichen Bewertungen nach ,richtig'/,falsch', ,hoch'/,niedrig', ,angemessen'/,unangemessen', ,altmodisch'/,modern', ,national'/,international' usw. beruhen. Sie sind nicht ohne Berücksichtigung historischer Traditionen des sozialen und politischen Umfeldes zu erklären. Mit ,Norm' sind hier also nicht rein statistische Größen (wie etwa in den Naturwissenschaften) gemeint. Bei den Sprachnormen ist weiterhin zu unterscheiden zwischen s u b s i s t e n t e n und s t a t u i e r t e n Normen (Gloy, in: BRS 281 ff.): Subsistente Normen haben eine selbständige Existenz und bedürfen keiner speziellen Setzung, Bewußtmachung und Verbreitung durch Normierungstätigkeiten. Sie werden durch die normale Sozialisation und Erfahrungen in der alltäglichen Umwelt erworben und funktionieren weitgehend unreflektiert durch Routine und Vorbilder. Diese G e b r a u c h s n o r m e n bilden die Hauptmasse der Verbindlichkeiten in der Sprachpraxis; ihre Veränderungen gehören in die allgemeinen Entwicklungstendenzen (s. 6.9), der Diskurs darüber in die Bereiche Sprachkultur, Sprachkritik und Sprachpflege (s. 6.7, 6.8). Was in diesem Kapitel — im Anschluß an die sprachenpolitischen Kapitel sozusagen als i n n e r e S p r a c h p o l i t i k — herausgehoben werden soll, sind die s t a t u i e r t e n (präskriptiven) Sprachnormen, die durch institutionellen Diskurs und legalisierende Maßnahmen Zustandekommen bzw. verändert werden, die man mit dem Tätigkeitsbegriff S p r a c h n o r m i e r u n g (auch Sprachstandardisierung) bezeichnet. Sie spielen im 19. und 20. Jahrhundert aufgrund soziokultureller und politischer Entwicklungen eine viel größere Rolle als in früheren Epochen. Dabei werden in diesem Kapitel zunächst nur die a l l g e m e i n e n Sprachnormierungen behandelt, die nicht mit der Konstituierung spezieller Diskurswelten zu tun haben, also v o r s e m a n t i s c h sind in dem Sinne, daß das Verhältnis zwischen Varianten noch nichts mit semantischen Unterschieden oder semantischen Teilsystemen zu tun hat. Die semantischen Normierungen werden später in ihrem jeweiligen Zusammenhang behandelt: fach-
230
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
sprachliche und institutionelle Terminologisierung (s. 6.14), politische Sprachregelungen (s. 6.16); zu amtlichen ,Fremdwort'-Verdeutschungen s. 6.7D —I! Zwischen statuierten/präskriptiven und subsistenten/Gebrauchsnormen ist der sich damit überschneidende Begriff k o d i f i z i e r t e Sprachnormen anzusiedeln: Manche Kodifizierungen (Wörterbücher, Grammatiken) werden durch offizielle Empfehlungen oder Verordnungen zu statuierten Normen. B. Da statuierte (präskriptive) Normen aus Handlungen von Personen oder Gruppen entstehen und durch ebensolche bestehen, sollte bei ihrer Beschreibung und Erklärung stets berücksichtigt werden, w e r bei diesen sozialen Integrationsprozessen die B e t e i l i g t e n sind (Gloy, in: BRS 282 ff.): N o r m v e r f a s s e r sind Sprachnormenformulierende Sprachexperten als Wissenschaftler, Didaktiker, auch Berufsverbände, ζ. T. auch als sprachkritische Publizisten, ζ. B. Lexikographen wie Adelung oder Duden, Expertengruppen wie die Dudenredaktion oder Reformkommissionen, Germanisten- und Lehrerverbände. — N o r m s e t z e r sind funktionelle oder institutionelle Autoritäten, die von Normverfassern ausgearbeitete sprachnormerische Regelwerke oder Wörterbücher empfehlen, für verbindlich erklären oder ihnen Gesetzeskraft geben, vom preußischen Kultusminister v. Zedlitz in Bezug auf Adelung, Maria Theresia und Joseph II. in Bezug auf Gottsched, Adelung und österreichische Lehrbuchverfasser (s. Bd. II: 5.6M11, 5.6NRS), bis zur bundesdeutschen Kultusministerkonferenz und entsprechenden Autoritäten anderer deutschsprachiger Länder für die Rechtschreibreform. — N o r m v e r m i t t l e r verbreiten formulierte und offiziell gesetzte Normen als Lehrer, Verlage oder Redaktionen, wobei Verlage in manchen Fällen (ζ. B. der DUDEN-Verlag) über die Vermittlung der bereits ,gesetzten' Normen hinaus als unauffällige Vermehrer der Normen wirken, indem sie durch immer vollständigere Kodifikation die meist nur pauschal oder ungenau formulierten offiziellen Regelwerke materialreich konkretisieren und ergänzen. — N o r m e n ü b e r w a c h e r und (oft zugleich) - s a n k t i o n i e r e r sind lobende oder tadelnde Lehrer, die die Normbeherrschung als symptomatisches Kriterium für Qualifizierungsurteile, Schulerfolg und Berufs-Chancen benutzen, aber auch Verlagskorrektoren oder Personalchefs (bei der Beurteilung von Bewerbungsanträgen), sprachkritische Publizisten usw. Nur in Ausnahmefällen gibt es überindividuelle, prinzipielle Sprachnormenüberwacher, ζ. B. Akademien oder Kontrollkommissionen. — Zu den N o r m e n b e f ü r w o r t e r n gehören, außer den bisher genannten, gesellschaftlich einflußreiche Gruppen ζ. B. Bildungseliten oder aber reformerische Interessengruppen in der Öffentlichkeit, deren emotional politisierte Kontroversen die Bemühungen der gesellschaftspolitisch oft naiven Normenformulierer und -setzer wirksam beeinflussen, sie zu Kompromissen zwingen oder Reformen verhindern können. — Die Befürworter sind oft zugleich N o r m e n b e n e f i z i a r e , nämlich Begünstigte, denen eine Normenveränderung oder -beibehaltung Vorteile bringt, ζ. B. Grundschullehrer in Bezug auf die Abschaffung von didaktisch besonders zeitaufwendigen alten Normen oder aber Verlage, die kostenscheuend Interesse an der Beibehaltung alter Normen haben, Bildungseliten, die konservatives Interesse an der Beibehaltung von soziokulturellen ,Sprachbarrieren' durch Auslese fördernde komplizierte traditionelle Normen haben. — N o r m e n o p f e r sind vor allem Lernende, deren Primärsoziolekt extrem
A—C:
Sprachnormentheoretisches
231
weit von den geforderten Standardnormen entfernt ist, so daß ,Standardsprache' für sie den Status einer quasi-Fremdsprache hat, ζ. B. Deutschschweizer, standardsprachferne Unterschichtbevölkerung, Aussiedler.
C. Allgemeine institutionelle präskriptive Sprachnormen — im Unterschied zu inhaltlich speziellen Normierungen wie in Politik- und Fachwortschätzen — dienen primär nicht der geistigen Bildung, Ideologisierung oder Verständnissicherung, sondern vor allem der sozusagen parasitären Sprachfunktion der Symbolisierung sozialer Einheit bzw. Verschiedenheit, auch s o z i a l e S y m p t o m f u n k t i o n genannt (vgl. v. Polenz 1985/88, 3 0 2 f f . ) . O b man beispielsweise Theater groß- oder kleinschreibt, mit oder ohne h schreibt, das [i] mit oder ohne Behauchung spricht, ob man st am Zeilenende trennt oder nicht, hat mit dem Inhalt der betreffenden Textstelle normalerweise nichts zu tun. Solche Varianten sind nicht mit semantischen Unterschieden verbunden, wohl aber mit Nebenbeiinformationen (Konnotationen) wie ,richtig'/,falsch', g e bildet'/,ungebildet', ,konformistisch'/,eigenwillig', ,modern'/, veraltet' usw. Sprachformen werden hier in ,uneigentlicher' Weise dazu benutzt, soziale Einschätzungen nahezulegen. Mit Sprachnormierung in diesem Sinne betreibt man V a r i a n t e n r e d u z i e r u n g wider das bessere Wissen davon, daß nichtnormative Varianten die inhaltliche Verständigung keineswegs behindern. Offizielle Sprachnormierungen betreffen deshalb teilweise sehr periphere, nebensächliche Erscheinungen des Sprachsystems, manchmal seltene Einzelheiten, für die sich ein Umlernen eigentlich nicht lohnt (ζ. B. Gemse/Gämse, Hämorrhoiden/Hämorriden). Wenn Sprachnormierer (und die bei ihnen Rat Suchenden) dazu neigen, nur eine Variante zuzulassen und alle anderen für ,falsch' zu erklären, ignorieren sie die Zumutbarkeit der natürlichen Existenz von Varianten. Varianten dienen auf natürliche Weise der flexiblen Anpassung von Sprache an verschiedene soziale, funktionale und situative Kommunikationsbedingungen. Durch Variantenreduzierung werden sprachliche Ausdrucksformen bewußt aus der Vielfalt soziopragmatischer Determinanten isoliert mit abstrakten Pauschalbegriffen wie ,Standard', ,Hochsprache', ,gutes Deutsch'. Die Natürlichkeit und Legitimität von Normenkonflikten wird ausgeblendet. So erweisen sich manche Normierungskonflikte als unlösbar, da Normierungen oft nur einseitig begründet werden und die Unvereinbarkeit gegensätzlicher Normierungsstandpunkte ignoriert wird, ζ. B. die Schreiblern-Perspektive gegen die Vielleseperspektive, Sprachökonomie gegen Allgemeinverständlichkeit, Hoch- und Expertenkultur gegen alltagspraktische Lebenswelten, nationale gegen internationale, rationale gegen emotionale Einstellung usw. Manche Sprachnormierungen beruhen auf „Problemen, die sich Linguisten oder Sprachnormer selbst machen und die in der gesellschaftlichen
232
6.6.
Allgemeine Sprachnormierungen
Wirklichkeit keine Entsprechung, keine Relevanz haben". (Resümee, in: v. Polenz/Erben/Goossens 1986, 159). Professioneller Reformeifer führte ζ. T. zu „Betriebsblindheit" und „Selbstüberschätzung" der Reformer (Munske 1995 a). Der im Grunde sprachpolitische Zusammenhang von Sprachnormierungen ist mit der Gefahr kompromißbedingter Halbheiten und des opportunistischen ,Herumkurierens an Symptomen' verbunden, ähnlich wie bei Gesetzestexten aus parlamentarischen Kompromissen. D a ß Sprache grundsätzlich ein sehr heterogenes System darstellt und zu jeder r e g e l h a f t e n Erscheinung auch zahlreiche A b w e i c h u n g e n und V a r i a n t e n gehören, wissen Sprachexperten längst aus der historischen Sprachforschung; sprachliche Abweichungen sind „für die Sprachwissenschaft keine r a n d p h ä n o m e n e " , sondern müssen als „normale bestandteile sprachlicher praxis e r n s t g e n o m m e n " werden, Abweichungen „bestätigen und problematisieren die regeln nicht n u r " , sondern „entwerfen auch neue möglichkeiten regelhaften sprachverhaltens" (Cherubim 1 9 8 0 b, 1). Abweichungen können auch zu bestimmten soziopragmatischen Z w e c k e n bewußt produziert werden, wie z. B. die gemäßigte Kleinschreibung in dem soeben Zitierten, dessen R e c h t s c h r e i b u n g ' von den geltenden . N o r m e n ' der deutschen Standardsprache abweicht und von professionell bewertenden Personen als ,Fehler' angestrichen werden könnte, z. B. auch von einem Verlagslektor, wenn nicht die Herausgeber der Zeitschrift, in der Cherubims T e x t erschienen ist, mit Tolerierung durch den Verlag den Autoren diese Abweichung
als sprachpolitisch
gemeintes
(allerdings
erfolgloses)
Experiment freigestellt hätte. In der R o m a n i s t i k ist die systematische Relevanz von angeblichen ,Fehlern' der konkreten Sprachpraxis erstmalig von Henri Frei in seiner „La G r a m m a i r e des fautes" (1929) demonstriert worden. D a ß es auch im Deutschen trotz umfangreicher Versuche, die A b w e i c h u n g e n ' , , D o p p e l f o r m e n ' oder ,Hauptschwierigkeiten' durch normsetzende Kodifizierung einzuschränken, eine k a u m überschaubare Z a h l von Varianten der S t a n d a r d s p r a c h e ' gibt, zeigen Sammlungen wie die von D r o s d o w s k i u. a. ( 1 9 6 5 ) , Dückert/Kempcke (1984), M u t h m a n n ( 1 9 9 4 ) .
D. Das im 19. und 20. Jahrhundert gestiegene Bedürfnis nach Sprachnormierung, nach Ersetzung von Variantentoleranz durch immer strengere Variantenreduzierung hat nicht nur sprachliche, sondern vor allem p o l i t i s c h - s o z i a l e Ursachen: — Die deutschsprachige Bildungselite war vom traditionellen Kulturmonopol des Lateins und des Französischen her an einen festen, sozial und regional kaum variablen Sprachstandard der Hochkultur und des öffentlichen Lebens gewöhnt; Deutsch an deren Stelle sollte also ähnlichen Prinzipien genügen. — Das alte natürliche Prinzip der intersozialen und überregionalen Verständigung mit großer Variantentoleranz im direkten Kommunikationskontakt in der Alltagspraxis genügte nicht mehr im Zeitalter der Industrialisierung, Verstädterung, Bevölkerungsmischung, des Fernverkehrs, der weitgehenden Verschriftlichung des täglichen Lebens.
DE: Normierungsbedürfnisse
233
— Die durch die Französische Revolution angeregte Idee des Nationalstaates war mit dem Ziel der möglichst zentralistisch bestimmten einheitlichen Sprache für alle Bürger verbunden; so ist die Verstärkung sprachnormierender Aktivitäten gerade bald nach der Reichsgründung (1871) erklärlich. — In den sozial aufsteigenden mittleren und unteren Schichten der bis um 1900 fast ganz alphabetisierten Bevölkerung gehörte sprachliche Korrektheit, Richtigschreiben, Richtigsprechen (anstelle ästhetischer und körperlicher Verhaltenswerte der feudalen Oberschicht) zu den wichtigsten Sozialsymbolen für Sozialprestige und soziale Abgrenzung nach unten (Cherubim 1983 b; Mattheier 1991 a; Linke 1996 a), was sich u. a. darin zeigt, daß in der Textproduktion des Kleinbürgertums im 1. Drittel des 19. Jh. noch starke orthographisch-grammatikalische Varianz, im 2. Drittel große Unsicherheit und zahlreiche hyperkorrekte Formen, im letzten Drittel Stabilisierung und Variantenreduktion festzustellen sind (Schikorsky 1990; vgl. 6.2IJ, 6.12H). Nationalstaatlich-emanzipatorische Sprachstandardisierung als Instrument des Widerstandes gegen kulturelle Hegemonieansprüche und Einflüsse von dominierenden Nachbarstaaten gab es im 19. und 20. Jh. anderswo in Europa: antinorwegisch für das Isländische, antidänisch für das Norwegische, antideutsch für das Dänische, Tschechische, Slowenische und Letzeburgische. Auch die für das Niederländische in den Niederlanden und in Belgien unternommenen Bemühungen um Sprachnormung und Sprachpflege enthalten gegen französischen und deutschen Einfluß gerichtete Komponenten (de Smet, in: Sprachnorm, Sprachpflege ... 1968, 246).
E. Für den 1871 neugegründeten kleindeutschen Nationalstaat konnte es sich bei der Verstärkung offizieller Sprachstandardisierung nicht mehr um nationalstaatliche Emanzipation oder Defensive handeln (zum Sprachpurismus s. 6.7D-I!). Das kulturelle Prestige der deutschen Sprache war seit der Weimarer Klassik und dem Aufstieg deutscher Wissenschaftssprache vor-nationalstaatlich längst gesichert. Mehr Sprachstandardisierung wurde aus anderen Gründen für erstrebenswert gehalten: Für den noch nicht gefestigten noch nicht sehr populären ,Reichsnationalismus' (s. 6.IM) brauchte man zusätzliche solidarisierende Einheitssymbole, vergleichbar den Bismarckdenkmälern und Sedanfeiern, dem Flottenbau und dem Erwerb von Kolonien. Für die zum autoritären Zentralstaat tendierende Reichsverwaltung und die hochindustrialisierte Wirtschaft war es nützlich, auch strengere sprachliche V e r e i n h e i t l i c h u n g zu erreichen. Die Maßnahmen in dieser Richtung waren aber keineswegs so staatsautoritär und halbdiktatorisch wie die Gründung des Bismarckreiches und dessen imperialistische Politik von um 1880 bis 1918. Im Gegenteil, sie waren von Zögern, Zurückhaltung, Kompromissen und Halbheiten gekennzeichnet; auch war der Widerstand der anderen deutschsprachigen Länder eher schwach bis gemäßigt. Das Deutsche
234
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
war und ist eine plurinationale Sprache, keine Nationalsprache (vgl. 6.11). Das in Österreich seit dem Reformabsolutismus wachsende Sprachnormenbewußtsein war immer flexibler, variantenfreudiger (s. Bd. II: 5.6RS). F. Erfolglose Versuche zur Schaffung einer sprachnormerischen I n s t i t u t i o n für das Deutsche gab es seit dem 17. Jahrhundert, ζ. T. nach den Vorbildern anderer europäischer Länder. Das extreme Vorbild für eine staatsautoritäre Institution zur Kontrolle, Setzung oder Aufhebung von Sprachnormen war die 1635 von Richelieu gegründete Académie Française, deren ,40 Unsterbliche' le bon usage festzustellen hatten, der in der absolutistischen Zeit am Sprachgebrauch des Königshofes orientiert war, auch sprechsprachlich, nach der Revolution am Sprachgebrauch der Oberschicht in Paris und in der Isle de France. — Die deutschen DUDEN-Kodifikationen „are less normative than the dictionary of the Académie Française or the Oxford English Dictionary" (Clyne 1995 a, 177). — Z u italienischen und niederländischen Vorbildern s. Bd. II: 5.5G!
Für die deutschsprachigen Länder konnte sich eine zentralistische Institution nicht entwickeln. Gründe dafür: — Fehlen eines Paris oder London vergleichbaren sprachkulturellen Zentrums. — Nachwirken eines traditionellen Desinteresses von Teilen der Oberschichten an sprachlicher Vorbildhaftigkeit im Deutschen durch das kulturelle Monopol von Latein und Französisch in Deutschland bis um 1800. — Starkes Bewußtsein von einer durch freie, nicht reglementierte Entwicklung entstandenen sprachlichen Hochkultur im Deutschen seit um 1800. — Achtung vor Sprachverschiedenheit, Sprachwandel und funktionaler Differenzierung durch den Einfluß der historischen Sprachwissenschaft auf Deutschunterricht und Sprachnormenbewußtsein Gebildeter am Ende des 19. Jh. (Schieb 1981, 16; H. Weinrich 1985 a, 15). — Planlosigkeit und Uneinigkeit zwischen den eine ,Deutsche Akademie' anstrebenden Gelehrten, Schriftstellern usw. (Flamm 1994). — Diskreditierung des Nachdenkens über Sprachnormen bei deutschen Sprachwissenschaftlern aus Abneigung gegen die starke sprachchauvinistische Tradition des deutschen Sprachpurismus (H. Weinrich 1985 a, 16). Es gab aber mehrere Ansätze zur Schaffung einer sprachnormierenden Institution (Flamm 1994; Weithase 1961, 485 ff.; G. Simon 1990): Diese Versuche waren bis zur Reichsgründung (1871) kulturpatriotisch und frühnationalistisch motiviert, teilweise aufklärerisch, von der Fruchtbringenden Gesellschaft über Leibniz und die Berliner Akademie (s. Bd. II: 5.5) über Pläne von Einzelpersonen wie Gottsched, Klopstock, Herder, Uhland bis zu vier Entwürfen des Historikers Leopold v. Ranke seit 1858,
FG : Institutionalisierungsversuche
235
dessen Eingabe an Bismarck (1871) am Widerstand der Berliner Akademie der Wissenschaften (Gutachten von Droysen) scheiterte. Das Desinteresse von Fürsten und Regierungen hatten schon Gottsched und Klopstock erlebt. Alle Vorschläge waren ungenügend vorbereitet und heterogen nach verschiedenen Interessen. Seit der Erreichung des Ziels eines deutschen Nationalstaats verlor der Akademiegedanke an zwingender Notwendigkeit; auch die Abneigung gegen rigorose Praktiken der französischen Akademie und das Bewußtsein vom rein literarisch erreichten Kulturprestige der deutschen Sprache standen dem Plan einer autoritären Zwangsinstitution entgegen. Weder ein Artikel von Daniel Sanders (1886) noch seine Eingabe an den Kaiser (1892) hatten Erfolg, ebensowenig das Angebot einer Stiftung von 100.000 Mark mit Erhöhung auf 500.000 Mark von dem vermögenden Kaufmann Heinrich Krohn an Bismarck für eine Deutsche Akademie zur „Normierung der deutschen Sprache und ihrer Weiterentwicklung zu einer Weltsprache" (Flamm 1994, 240), von der Berliner Akademie modifiziert zu Reichsanstalt für deutsche Sprache, vom preußischen Kultusminister v. Gossler zu Heinrich-Krohn-Stiftung für deutsche Sprache und Literatur. 1895 wurden die Verhandlungen darüber endgültig abgebrochen. Schon 1889 wurde in den Preußischen Jahrbüchern von 41 Philologen und Schriftstellern eine Erklärung gegen Pläne zu einer Sprachbehörde veröffentlicht, auch gegen Versuche des 1885 gegründeten Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Regierungsstellen für seine Zwecke einzuspannen. Zu den entschiedensten Gegnern des autoritären Sprachakademiegedankens gehörte der Germanist Otto Behaghel, der in der Zeitschrift des Sprachvereins (H. 20, 1901, 327 f.) eine „Akademie der deutschen Sprache nach Art der französischen Akademie" scharf ablehnte und eine rein wissenschaftliche, für die Allgemeinheit nur beratend tätige „gelehrte Körperschaft, die der deutschen Sprachforschung wissenschaftliche Aufgaben stellt, ihre Durchführung in die Wege leitet und überwacht" befürwortete (Schieb 1981, 141). — Zu den für Auslandsarbeit bestimmten halboffiziellen Institutionen Deutsche Akademie (ab 1925 in München) und Goethe-Institut (seit 1932) s. Flamm 1994, 294 ff. (vgl. 6 . 5 R - T ) ! Die ursprüngliche Idee des Sprachvereinsgründers Hermann Riegel (1883, 1888) eine Reichsanstalt für deutsche Sprache mit Machtbefugnis einer Behörde wie Gesundheitsamt oder Patentamt auszustatten, wurde kurz nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten vom Sprachverein in Verbindung mit der Gesellschaft für deutsche Bildung (dem damaligen Germanistenverband) und der Reichsrundfunkgesellschaft wiederaufgegriffen, was 1935 zur Gründung eines Sprachpflegeamtes führte, mit Zielen wie: „Überwachung der Sprache [...] im persönlichen und öffentlichen Leben, besonders auch im Rundfunk und in der Presse, mit Rügen, aber auch mit Lob", „Bekämpfung von Schäden im Wortschatz und Wortgebrauch, von Fremdwörtern, Modewörtern, Abkürzungswörtern" usw. (G. Simon 1990, 74). Diese sich dem Nationalsozialismus andienende sprachchauvinistische Institution konnte aber nur ebenso „vor sich hin vegetieren" (G. Simon) wie zahlreiche regionale und lokale Sprachämter in der NS-Zeit, vor allem wegen der Kampagne von Goebbels und Hitler gegen den Sprachverein und seinen Sprachpurismus (s. 6.7M). Um so schlimmer hat sich auf lokal-regionaler Ebene die menschenverfolgende Entwelschungs-Kampagne in Elsaß-Lothringen und Luxemburg ausgewirkt (s. 6.4.2F —H, 6.7P). Mehr Machtbefugnisse unter Goebbels' Einfluß erhielt seit 1943 das Sprachamt der Deutschen Akademie für sprachpflegerische und sprachpolitische Aufgaben als Sprachwerbung im Ausland und als allgemeine Auskunfts- und Forschungsstelle, auch unter Mitwirkung von Georg Schmidt-Rohr (vgl. 6.5S); aber dessen Arbeit ist durch Absagen und Tod von Beteiligten „in der Planungsphase steckengeblieben" (G. Simon 1990, 77).
236
6 . 6 . Allgemeine Sprachnormierungen
G. In der Nachkriegszeit gab es erst recht keine allgemeine Akzeptanz für eine staatliche Sprachnormeninstitution. Neben den publizistisch wirksamen privatkollektiven Aktivitäten des neuen Sprachvereins, der Gesellschaft für deutsche Sprache, die unter den nichtoffiziellen Begriffen Sprachpflege', ,Sprachkritik' zu behandeln sind (s. 6.7R —V, 6.8Z) und zahlreichen partikulären Institutionen für „Sprachförderung" und „Sprachkultivierung" (s. Bickes/Trabold 1994) gab es offizielle sprachkulturelle Neugründungen ohne präskriptive oder kontrollierende Funktionen: — „Deutsche Akademie für Sprache und D i c h t u n g " , D a r m s t a d t , 1 9 4 9 gegründet von den deutschen Schriftstellerverbänden als Nachfolgerin der „Sektion für Dichtk u n s t " der Preußischen Akademie, für Repräsentation des literarischen Lebens im In- und Ausland, mit Preisverleihungen, Preisfragen und sprachkritischen Aktivitäten. — „Institut für deutsche S p r a c h e " (IdS), M a n n h e i m , 1 9 6 4 gegründet von H u g o Moser, Leo Weisgerber und einem Kreis von an der Gegenwartssprache interessierten Germanisten. Aufgaben: Wissenschaftliche Erforschung der heutigen deutschen Sprache und ihrer jüngsten Geschichte; mit zahlreichen eigenen Publikationen sowie Förderung der Begegnung und Kooperation fachspezifisch interessierter Forscher und Hochschullehrer des In- und Auslandes, mit themaspezifischen Tagungen, Kommissionen und Projektgruppen, finanziert von Stiftungen, Bundesregierung und der Baden-Württembergischen Landesregierung; in keiner institutionalisierten Verbindung mit der Dudenredaktion des Verlags Bibliographisches Institut, M a n n h e i m . S. auch 6 . 7 W ! — „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft" an der Akademie der Wissenschaften der D D R , mit teilweise ähnlichen Aufgaben wie das Ids. Nach Auflösung der D D R wurde ein großer Teil der Mitarbeiter vom IdS übernommen und in dessen alten und in neuen Projekten weiterbeschäftigt (s. ζ. B. Herberg u. a. 1997).
Die einzigen Bereiche, in denen Sprachnormen durch Kodifikation und offizielle Festsetzung verbindlich gemacht werden konnten, sind — die Orthographie/Rechtschreibung, mit offiziellen Regelungen in den Jahren 1901, 1955 und 1996/98, großenteils unter halboffiziellem Einfluß des DUDEN-Verlags (s. 6 . 6 H - W ) — die Orthoëpie/Orthophonie/Hochlautung, mit einer offiziellen Empfehlung im Jahre 1922, nur in Deutschland wirksam (s. 6 . 6 X — Z ) . Zur fachsprachlichen und institutionellen Terminologienormung s. 6.14! H. Für die deutsche Sprachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert ist es kennzeichnend, daß — nach allmählicher Entwicklung traditionell g e wachsener' Normen — im Zusammenhang mit den nationalideologischen Folgen der Reichsgründung (1871) das Bemühen um R e c h t s c h r e i b r e f o r m sich sehr emotional entwickelt hat und bis heute heiß umstritten geblieben ist. Was in dieser Beziehung für das Deutsche getan worden ist, liegt etwa in der Mitte der verschiedenen Entwicklungsrich-
H — L : Rechtschreibregelung bis zum D U D E N
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tungen bei anderen vergleichbaren Sprachen (Nerius, in: Günther/Ludwig 1994, 730ff.): Bei schon längere Zeit verschrifteten Kultursprachen ist es zunächst n o r m a l , daß das System des literarisch-praktisch gewachsenen Orthographie-Usus widersprüchlich ist nach miteinander konkurrierenden Prinzipien (phonographisch, morphemisch, semantisch, traditionsbewahrend, usw.) und daß es nur mit dem Blick auf Einzelfälle durch Variantenaussonderung in der Praxis der Drucker, Autoren, Kanzleibeamten usw. entwickelt, nachträglich notdürftig durch Gelehrte und Didaktiker in Regeln gefaßt wurde, so im Deutschen bis zu Adelung (s. Bd. II: 5.6). Im Englischen ist es seit der 1. Hälfte des 18. J h . im Wesentlichen dabei geblieben; Versuche zur O r t h o g r a phiereform scheiterten immer wieder daran, daß sie — ähnlich wie deutsche Reformvorschläge bis in die 1 9 5 0 e r J a h r e — vorwiegend starke Eingriffe in die (im Englischen noch weitaus kompliziertere) Beziehung zwischen Phonemen (Lautwerten) und G r a phemen (Buchstabenwerten) forderten. Eine andere Art von Orthographieentwicklung liegt im Französischen vor: Die auf kursorisch-praktischem Wege entstandene Orthographie (mit einem — mindestens ebenso schwierigen G r a p h e m - P h o n e m Verhältnis wie im Engl.) wurde nach der Festschreibung im Akademiewörterbuch (1641) bis heute nur durch Einzelfalländerungen in jeder Neubearbeitung (insgesamt 5 5 , 3 4 % ) ohne Änderung von Regelwerken stillschweigend reformiert, so wie in der Arbeit der deutschen D U D E N - R e d a k t i o n von 1 9 0 2 bis 1 9 9 6 . Der bis zur Veröffentlichung im Gesetzblatt vorangeschrittene kleine französische Reformversuch von 1 9 9 0 scheiterte durch scharfen Widerstand in der konservativen Presse und darauf erfolgte R ü c k n a h m e bzw. Variantenfreigabe durch Regierung und Akademie. Erfolgreicher und radikaler waren ζ. B. die (politisch motivierte) Abschaffung der Substantivgroßschreibung in Norwegen ( 1 9 0 7 , als Distanzierung gegen das Dänische) und in D ä n e mark ( 1 9 4 8 , gegen das Deutsche) und die weitgehende Ersetzung von pb durch f, weniger th durch t in Lehnwörtern im Niederländischen ( 1 9 5 5 , gegen das engl., frz. und dt. Prinzip). Im Norwegischen, Dänischen und Niederländischen ist in mehreren Reformen auch sonst in die Phonem-Graphem-Beziehungen eingegriffen worden.
I. Die Entwicklung der deutschen Orthographie vollzog sich in unserem Zeitraum in zwei prinzipiell unterschiedlichen Phasen: Bis um 1900 war die Kodifizierung und ,nationale' V e r e i n h e i t l i c h u n g der bereits literarisch, akademisch und journalistisch üblichen Praxis dominierend, obwohl es auch schon eigentliche Reformdiskussion unter Experten gab, während im 20. Jahrhundert Experten und Institutionen durch immer differenziertere Regelformulierungen, immer vollständigere normative Kodifizierung und immer neue R e f o r m v e r s u c h e in die Orthographieentwicklung eingriffen (Nerius 1987, 238 ff.; Veith, in: BRS 1482ff.). Noch weit ins 19. Jh. hinein wirkte die Adelungsche Orthographie im immer verbindlicher werdenden Schulunterricht und im Druckgewerbe vorbildlich; aber es gab noch zahlreiche Schwankungsfälle, da die Schreibungsregeln oft nur an wenigen Beispielen exemplifiziert waren, also viele Einzelwörter noch nicht nachschlagbar waren, die Aussprache regional sehr verschieden war und die ersten Schulorthographiebücher nur für einzelne Territorien galten, also teilweise voneinander abwichen.
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6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
Wie unsicher und ungeübt in der Orthographie man zu Anfang des 19. Jh. in der Feudalaristokratie noch war, zeigt eine Probe aus einem Brief des Generals Blücher an den (hochgebildeten) Freiherrn v. Stein vom April 1807 (Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. II, 1, Stuttgart 1959, 369): „/...] indessen finde ich unseren gemeinschaftligen Froindt an der spitze der gescheffte, und daß macht mich muht und gewehrt eine frohe aus sieht, der zweite unsrer Froinde in Königsberg soll morgen hir komen, diese beiden Ehdlen Patrioten Harmoniren, ich schliße mich an sie an, der Herr v. Zrow und Herr Bme musten absitzen, der letzste hat noch den linken Fuß im biigell, aber by gott er wird nicht wieder auf sitzen; der keißer Alexander bezäugt mich vile gnade, beweist ein unbegränztes sutrauen an unsren Froindt Hberg, daß ist den vihle wehrt [...]" ~ Selbst bei guten Schriftstellern finden sich im 19. Jh. oft im gleichen Werk Varianten wie wol/wohl, beide/beyde, Verhältnis/ß, gibt/giebt, Hilfe/ Hülfe, Bureau/Büro, Censuri Zensur, Brochure/Broschiire, -iren/-ieren, unterschiedliche Worttrennungen am Zeilenende (z. B. ha-cken/hak-ken, La-sten/Las-ten, Atmosphäre! Atmosphäre), Zusammen- oder Getrenntschreibung mit Bindestrich bei Komposita (z. B. statt finden/stattfinden, Preß-Freiheit/Pressfreiheit), Groß- oder Kleinschreibung (z. B. Heinesche/bernesche Reisebilder, im Allgemeinen/allgemeinen), sehr variable Praxis der Kommasetzung nach rhythmischen, textsemantischen oder syntaktischen Prinzipien. Rechtschreibung war in Zweifelsfällen mehr als heute eine freie, intuitive Variantenwahl der Schreibenden. In Briefstellern des 18./19. Jh. spielte Orthographie vor allem in Bezug auf Bildungsbeweis und Ehrerbietung eine Rolle, z. B. hinsichtlich Abkürzungen, Großschreibung, Interpunktion (Kucharska 1997).
J. Über die Verwaltung und Vereinheitlichung der üblichen Praxis hinaus begannen die Grammatiker und Didaktiker J o h a n n Christian August Heyse und Karl Ferdinand Becker im frühen 19. Jh., sich mit den Widersprüchen und dem Mangel an systematischer Regelbeschreibung zu beschäftigen. Ihnen ging es nicht mehr nur — wie den Orthographielehrern des späten 18. Jh. — um die Beseitigung barocker „Letterhäufelung", die noch weit ins 19. Jh. hinein fortgesetzt wurde (z. B. tz für t in gantz, reitzend usw., dt für t oder d in Brodt, Todt). Sie neigten vielmehr dazu, abstrakten Prinzipien wie Schreibung nach der Aussprache, nach der Wortstammidentität oder nach Bedeutungsunterschieden den Vorrang vor dem Prinzip des Schreibgebrauchs zu geben. Dagegen wandten sich die Philologen der neu etablierten Germanistik. Seit 1822 vertrat Jacob G r i m m Positionen der h i s t o r i s i e r e n d e n R i c h t u n g aufgrund der historisch-vergleichenden Methodik der damaligen, sich von der synchron-deskriptiven Sprachwissenschaft der Spätaufklärung abwendenden philologischen Forschung. Da alle jüngeren Entwicklungen seit dem Mittelhochdeutschen gern als ,Sprachverfall' angesehen wurden, empfahl die historistische Schule, die deutsche Rechtschreibung möglichst auf die vermeintlich klareren Verhältnisse der älteren Sprachstufen zurückzuführen, besonders einflußreich formuliert in dem Grundsatzartikel „Über deutsche Rechtschreibung" (1852) von Karl Weinhold. So wurde z. B. die Beseitigung des Dehnungs-^, der vokalkürzenden Doppelkonsonanten, der Umlautsbezeichnungen ö und ü, der i/j-Schreibun-
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g e n , d e r S u b s t a n t i v g r o ß s c h r e i b u n g e m p f o h l e n . In d e r l e b h a f t e n D i s k u s sion in L e h r e r k r e i s e n h a t t e a b e r b a l d die w i r k l i c h k e i t s n ä h e r e , d i d a k t i s c h p l a u s i b l e r e G e g e n r i c h t u n g m e h r E i n f l u ß , die p h o n e t i s c h e
Richtung,
die R u d o l f v . R a u m e r in s e i n e m g e g e n W e i n h o l d u n d seine A n h ä n g e r gerichteten Aufsatz „Über deutsche Rechtschreibung" ( 1 8 5 5 )
propagierte
m i t d e m G r u n d s a t z „ B r i n g e d e i n e Schrift u n d d e i n e A u s s p r a c h e in Ü b e r einstimmung!". Der radikale Zweig dieser Richtung (F. W. Fricke: „Abriß der vereinfachten Volksorthographie" 1885) forderte eine dialektfreie l:l-Entsprechung zwischen Lauten und Buchstaben, also nur noch 1 Graphem für 1 Phonem, 1 Phonem für 1 Graphem, ζ. B. nur noch k statt k, c, ch, g, Dehnungsstrich über dem Vokalbuchstaben statt Dehnungs-^; usw., Kleinschreibung aller Substantive, usw. Einfluß hatte jedoch nur die gemäßigte Richtung, führend vertreten durch Raumer, Wilmanns und Duden, die mit weitgehendem Anschluß an das Übliche, Bewährte doch Verbesserungen und Systematisierungen anstrebten, ζ. B. Einschränkung des Gebrauchs von Dehnungszeichen, Ersatz von th, dt durch t in alten deutschen Wörtern, k für c in eingebürgerten Lehnwörtern, daneben Berücksichtigung des Stammprinzips (synchronische Morphemidentität), territoriale Vereinheitlichung und nur als allerletztes Mittel das historische Prinzip. Die gemäßigt-phonetische R i c h t u n g w u r d e durch das „Berliner Regelb u c h " v o n 1 8 7 1 v e r b r e i t e t , a n d e m W i l h e l m W i l m a n n s beteiligt w a r , u n d d u r c h K o n r a d D u d e n s „ D i e d e u t s c h e R e c h t s c h r e i b u n g " ( 1 8 7 2 ) , die beide s o w o h l die t h e o r e t i s c h e E r ö r t e r u n g als a u c h p r a k t i s c h e R e f o r m v e r s u c h e a n r e g t e n . D e r A n s t o ß zu k o n k r e t e n M a ß n a h m e n z u r Vereinheitlic h u n g d e r in d e n B u n d e s l ä n d e r n teilweise u n t e r s c h i e d l i c h e n S c h u l o r t h o g r a p h i e n w a r eine d i r e k t e F o l g e d e r R e i c h s g r ü n d u n g ( 1 8 7 1 ) : D a s n e u e ,Reichsnation'-Bewußtsein w a r d u r c h öffentliche Symbole der Einigkeit s o w i e die Effizienz v o n V e r w a l t u n g u n d W i r t s c h a f t im n e u e n N a t i o n a l s t a a t zu f ö r d e r n . D a b e i m u ß t e n R e f o r m b e s t r e b u n g e n h i n t e r d e m o b e r sten E r f o r d e r n i s d e r V e r e i n h e i t l i c h u n g des Ü b l i c h e n z u r ü c k t r e t e n . Aufgrund einer entsprechenden Entschließung auf einer Tagung in Dresden (1872) wurde Räumer vom preußischen Kultusminister Falk beauftragt, ein Regelwerk auszuarbeiten. Dieses wurde Grundlage für die I. Orthographische Konferenz in Berlin (1876), auf der nur Vertreter der gemäßigten phonetischen Richtung und Vertreter von Schule und Druckgewerbe beteiligt waren. Raumer bezog bei seinem Entwurf auch das Berliner Regelbuch und die Veröffentlichungen Dudens mit ein. Weitergehende, ergänzende, damals nicht zu realisierende Reformvorschläge Raumers (ζ. B. Einschränkung des Gebrauchs von Dehnungszeichen) wurden von Germanisten (Daniel Sanders, Wilhelm Scherer) abgelehnt und in der Öffentlichkeit heftig attakkiert, so daß die Mehrheitsentscheidung der Konferenz von den Behörden nicht realisiert wurde. Während die Radikalen (Verein für vereinfahte rechtsreibung) die Reformdiskussion weiter anheizten, zogen sich Duden und Wilmanns in ihren weiteren Bemühungen weitgehend auf das Ziel der Vereinheitlichung ohne Reform zurück. 1879 erschien auf der Grundlage von Raumers Entwurf (ohne die Ergänzungen) die bayerische Schulorthographie, 1880 die preußische von Wilmanns, danach weitere in anderen Bundesländern.
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6 . 6 . Allgemeine Sprachnormierungen
Κ . Ein entscheidender Schritt zur deutschen Rechtschreibeinigung war Konrad D u d e n s weithin einflußreiches „Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache" (1880). So wurde auf unauffällige Weise im Schulgebrauch und im allgemeinen Gebrauch die Rechtschreibvereinheitlichung ein gutes Stück weiter vorangebracht, trotz des Widerstandes preußischer Konservativer und Bismarcks. 1 8 9 2 übernahmen 15 Schweizer Kantonsregierungen die preußischen Regeln. 1899 wurden in Deutschland bereits fünf Sechstel aller Bücher und drei Fünftel aller Zeitschriften nach der preußischen Norm gedruckt. In den Jahren 1 8 9 9 und 1 9 0 0 forderten die „Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner" und der „Börsenverein deutscher Buchhändler" die allgemeine amtliche Durchsetzung der Schulorthographie ohne weitere Veränderungen. Auf Einladung des Reichsinnenministeriums trat 1901 die „ I I . O r t h o g r a p h i s c h e K o n f e r e n z " in Berlin zusammen, aus 2 6 Vertretern von Reichsbehörden und Länderregierungen, des Buchhandels, der germanistischen Sprachwissenschaft (Brenner, Duden, Lyon, Wilmanns). Veränderungen (ph, th, rh -* f, t, r in Fremdwörtern, Trennung von st als s-t, neue s/f/ß-Regelung, vereinfachte Großschreibung) wurden ohne lange Diskussion abgelehnt. Nur schwankender Gebrauch wurde auf eine Variante festgelegt: t für th in indigenen Wörtern, k für c in eingedeutschten Lehnwörtern, Trennung von tz, ck, pf, Kleinschreibung in Zweifelsfällen. Das Konferenzergebnis wurde von allen Ländern akzeptiert, auch von Österreich und der Schweiz, obwohl auf der Konferenz aus Österreich nur 1 Beobachter, aus der Schweiz gar keiner anwesend war. K o n r a d D u d e n s Verdienste auf dem Weg bis zur II. Berliner Konferenz lagen — neben der umsichtigen Koordination der verschiedenen Schulorthographien — vor allem auf dem Gebiet der lexikographischen Kodifizierung für eine möglichst große Z a h l häufig gebrauchter Wörter (Nerius 1 9 8 7 , 2 5 1 f.; Nerius/Scharnhorst 1 9 9 2 , 2 3 9 ff.). Wegen Bismarcks Verbot und wegen Schwerverständlichkeit von Regelformulierungen für Laien war dies die einzige wirksame Möglichkeit für die Verbreitung der Einheitsorthographie bei D r u c k e r n , Lehrern, Beamten und darüber hinaus. M e h r und mehr fügte der Schleizer Gymnasialprofessor Angaben über Bedeutung, Gebrauch und Herkunft hinzu und nahm Fachwortschatz auf. Sein Wörterbuch hatte in der 6. Auflage (1900) schon 3 8 4 Druckseiten mit mehr als 3 2 . 0 0 0 Stichwörtern. 1 8 8 2 veröffentlichte er auch einen „Orthographischen Wegweiser" für den außerschulischen praktischen G e b r a u c h .
L. Die praktische Verlagerung der Rechtschreibregelung vom R e g e l w e r k auf das W ö r t e r b u c h hatte einerseits für die Ratsuchenden die Erwartung zur Folge, für jede Zweifelsfrage im Wörterbuch erfolgreich nachschlagen zu können, die Entscheidung also aufgrund der Exemplifizierung in jedem Einzelfall fällen zu können, andererseits für die neubearbeitenden Lexikographen den wachsenden Vollständigkeits- und damit kasuistischen Normungszwang in immer neuen Einzelfällen. D a dieses
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Verfahren meist nur kursorisch, d. h. ohne ausreichende theoretische Grundlage und ohne genügende Berücksichtigung systematischer Zusammenhänge betrieben werden konnte, hat es wesentlich zur wachsenden Problematik der Rechtschreibleistungen und -benotungen, also zur zunehmenden Unzufriedenheit mit der bestehenden Regelung beigetragen. Duden hat bereits vor der Konferenz die Zahl der Varianten aufgrund der Gebrauchsbeobachtungen sehr vermehren müssen. Auch das Konferenzergebnis, das nur aus einigen allgemeinen Regeln bestand, half darin nicht weiter, sondern überließ den Lexikographen die weitere Differenzierung der Regeln durch ergänzendes Exemplifizieren. So verlangten die durch allzuviele Doppelformen überforderten Buchdrucker der drei deutschsprachigen Länder von Duden die Herausgabe eines die Varianten reduzierenden Nachschlagwerkes: „Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache" (1903). Dieser B u c h d r u c k e r d u d e n hat wesentlich zur Neigung zu immer neuen Normsetzungen beigetragen, die als Einzelentscheidungen vielfach amtlich nicht speziell autorisiert sind. Der begrenzte Freiheitsspielraum der Schreibenden in bestimmten Unsicherheitsbereichen wurde so bis heute in der Erwartungshaltung der Nachschlagenden immer mehr eingeschränkt; die Zahl der Varianten („Doppelformen") ist von Auflage zu Auflage immer mehr verringert worden (Gabler 1991). Seit der 7. Auflage (1902) halfen Duden Mitarbeiter des Leipziger Verlags Bibliographisches Institut, woraus sich die „ D u d e n r e d a k t i o n " als halbamtlich normenverbreitende, Varianten registrierende und Einzelnormen setzende Institution entwikkelte. Nach Konrad Dudens Tod (1911) erschienen beide Rechtschreibwörterbücher seit der 9. Auflage (1915) vereinigt. Ebenfalls zur Vermehrung der Normierung in Einzelfällen hat die Funktion der Dudenredaktion als Beratungsstelle für zahlreiche Anfragen in Zweifelsfällen beigetragen, da aus gesammelten Anfragefällen in Neubearbeitungen neue Variantenentscheidungen vorgenommen wurden (vgl. Mentrup, in: Kommission für ... 1985, 13 ff.). 1955 sah sich die Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland veranlaßt, die Regelungen von 1901/02 als nach wie vor und „bis zu einer eventuellen Neuregelung" verbindlich zu erklären, wobei sie mit dem Zusatz „In Zweifelsfällen sind die im ,Duden' gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich" dem DUDEN-Verlag einen quasi-amtlichen Status zuerkannten, dessen Übereinstimmung mit Verfassung und Gesetzen seit den 80er Jahren bezweifelt wurde (profitorientierte Privatinstitution ohne Konkurrenz). Die p o l i t i s c h e Beeinflussung in der nationalsozialistischen Zeit und bei der Trennung in einen Leipziger und Mannheimer DUDEN seit 1961 betraf nur Wortbestand und Bedeutungserklärungen (s. Müller 1994; Betz 1960), nicht die orthographische Normierung. Durch zunehmende Aufnahme von Fachwörtern, Fremdwörtern, Eigennamen, politischem und administrativem Wortschatz, Gebrauchs- und Bedeutungsangaben wurde „der Duden" über die Funktion als Nachschlaghilfe für Rechtschreibung hinaus zu so etwas wie einem kleinen , V o l k s W ö r t e r b u c h ' (vgl. W. W. Sauer 1988), das man auch für begrenzte semantische und enzyklopädische Zwecke benutzt und das in den meisten Haushalten und Büros das einzige Nachschlagbuch für Sprachund Sachwissen darstellt. In der Aufnahme umgangssprachlicher, journalistisch-witziger und jugendsprachlicher Wörter war die Mannheimer Ausgabe toleranter und innovativer als die Leipziger. Eigenmächtige Eindeutschungsvorschläge für ,Fremdwörter' (ζ. B. Kontainer) waren seit der Nachkriegszeit nicht mehr erfolgreich und mußten ζ. T. zurückgenommen werden.
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6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
M . Die weiteren Bemühungen um eine deutsche Rechtschreibreform ziehen sich durch das ganze 2 0 . J a h r h u n d e r t (Nerius 1 9 8 7 , 2 6 0 f f . ; Veith, in: BRS 1 4 8 8 ff.): D a ß die Regelungen von 1 9 0 1 / 2 keine wirkliche ,Reform' waren, sondern im Wesentlichen nur eine Vereinheitlichung üblicher Varianten, war allen Interessierten klar. So wurden in der Zwischenkriegszeit und ersten Nachkriegszeit radikalere Vorschläge bzw. Forderungen ausgearbeitet, die zum großen Teil bis heute nicht akzeptiert worden sind und den Experten inzwischen als teils nicht durchsetzbar gelten, teils als nicht wünschbar von Geschichte und System der deutschen Rechtschreibung her oder wegen der Unvereinbarkeit der Gruppeninteressen und der Schreiber-/Leserstandpunkte. Es gab von 1921 bis 1958 mehrere Reformansätze (Nerius, Veith a. a. O.): Expertenausschuß des Reichsinnenministeriums (1921), Erfurter Rechtschreibungsprogramm des Buchdruckerverbandes (1931), Leipziger Lehrerverein (1931), Vorausschuß für Rechtschreibungsreform bei der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (1946), Schweizer „bund für vereinfachte rechtschreibung" (1946), Stuttgarter „Empfehlungen zur Erneuerung der Rechtschreibung" von der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege" aus Vertretern von BRD, DDR, Österreich, Schweiz (1954), „Wiesbadener Empfehlungen" des „Arbeitskreises für Rechtschreibregelung" im Auftrag der westdeutschen Kultusministerkonferenz und des Bundesinnenministeriums (1958). Da aus alter populärer Erfahrung bei der Länge- und Kürzebezeichnung von Vokalen am meisten Unsicherheit bestand (vgl. Schikorsky 1990, 249), empfahlen die verschiedenen Reformvorschläge meist Vereinfachung oder Entfallen der Vokaldehnungszeichen, Vereinfachung der Kürzezeichen (ζ. B. kk statt ck, zz statt tz), Ersatz von β durch ss, ν durch f , χ durch ks, ζ durch ts, qu durch kw, ä durch e, ai durch ei, Ersatz von Lehnwortgraphien: ph durch f , tb durch t, rb durch r, y durch i, υ durch wlf\ gemäßigte Kleinschreibung, Silbentrennung nach Sprechsilben, mehr Getrenntschreibung, freiere Kommasetzung, usw. Am radikalsten war der Leipziger Lehrerverein (1931) mit absoluter Kleinschreibung, freier Worttrennung je nach zur Verfügung stehendem Raum, Wegfall von Apostroph und Semikolon, rein rhythmische Kommasetzung, Ersatz von ng und sch durch die API-Transskriptionen rj und /, usw. Das Programm einer rücksichtslosen Reform im nationalsozialistischen Geiste stellte Fritz Rahn 1941 in Goebbels' Wochenzeitung Das Reich vor (Maas 1994, 155).
Die (auch in der D D R von Experten akzeptierten) " W i e s b a d e n e r E m p f e h l u n g e n " (1958) hatten bei Experten weitere Wirkung, wurden aber nicht offiziell beschlossen, da die österreichische Kommission 1 9 6 1 / 6 2 teils zustimmend, teils mit gespaltener Meinung, teils ablehnend dazu Stellung nahm, die schweizerische 1963 vorwiegend ablehnend. In der Entwicklung der Reformvorschläge bis 1 9 5 4 fällt auf, daß nur bis zu den „Stuttgarter Empfehlungen" die Vereinfachung der Phonem-GraphemBeziehungen stark im Vordergrund stand, während danach semantische Prinzipien wichtiger wurden (Kleinschreibung, Getrenntschreibung, Interpunktion) (Nerius 1 9 8 7 , 2 6 6 ) . Von einer Vereinfachung der VokalLänge-/Kürzebezeichnungen ist schon nach 1 9 4 6 nicht mehr die Rede.
Μ — Ρ : Rechtschreibreformversuche bis 1996
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Ersatz von Graphemen/Graphemverbindungen in indigenen Wörtern wagte man nach 1954 nur noch bei β vorzuschlagen. Als radikaler, sich auf das Textbild stark auswirkender Eingriff in die Struktur der deutschen Orthographienormen blieb nur noch die Forderung nach gemäßigter Kleinschreibung (s. 6.6S); und gerade diese wurde zum heißumkämpften ,roten Tuch' der Reformer und ihrer Gegner und schließlich zur Hauptursache für die opportunistische Trendwende von starken Reformversuchen zu kleinen, auf das gerade noch Durchsetzbare beschränkten Reförmchen. N. Der N e u a n s a t z zur R e c h t s c h r e i b r e f o r m ging 1972 von Westdeutschland aus, von Lehrerverbänden, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, dem Deutschen Germanistenverband, der Gesellschaft für deutsche Sprache und schließlich den Kultusministern, die — aufgrund der mit „Bildungskatastophe" und „Sputnik-Schock" propagierten Herausforderung — einen Wandel in ihrem Selbstverständnis durchmachten, indem sie sich „nicht mehr als vollziehende Ordnungsverwaltungen, sondern als Planungsinstanzen begreifen" (Gloy, in: B R S 285). Engagierte Befürworter verschärften die Bewegung ins Sozial- und Bildungspolitische, vor allem Interessengruppen für eine Erleichterung des Schreibunterrichts in der Grundschule und für einen Abbau sozialer Sprachbarrieren. So gerieten die westdeutschen Initiativen seit 1973 durch heftige öffentliche Auseinandersetzungen — vor allem um die Kleinschreibung und um die Zurückstufung von „Hochsprache" und Rechtschreibzensuren in den „Hessischen Rahmenrichtlinien" — in politischen ,Kulturrevolutions'-Verdacht, so daß die Kultusminister und die Sprachgesellschaft einen verängstigten Rückzieher machten. Rechtschreibreform wurde zum heißen Eisen, und so wurde sie in der Öffentlichkeit des westdeutschen Staates zunächst für einige Jahre tabuisiert. Der schließlich zur N e u r e g e l u n g von 1 9 9 6 / 9 8 hinführende Neuansatz ging dann schrittweise von Expertengruppen aus allen deutschsprachigen Ländern aus, woran die alte Bundesrepublik Deutschland mehr inoffiziell mit der „Kommission für Rechtschreibfragen" des Instituts für deutsche Sprache, Mannheim, seit 1977 beteiligt war, die nie einen so amtlichen Status erhalten hat wie die Kommissionen der D D R , Österreichs und der Schweiz (Mentrup, in: Kommission für ... 1985, 9 f f . ) . Inzwischen wurde die wissenschaftliche Erforschung der theoretischen Grundlagen und didaktischen Aspekte von Orthographiereformen in der D D R offiziell gefördert, vor allem von der „Arbeitsgruppe O r t h o g r a p h i e " am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften seit 1 9 7 5 , und von der Forschungsgruppe Orthographie der Universität R o s t o c k (Nerius 1 9 7 5 ; 1 9 8 7 ; Nerius/Scharnhorst 1 9 8 0 ) , auch durch verschiedene österreichische Aktivitäten. Fehlerstatistische Untersuchungen haben ergeben, daß Rechtschreibfehler am meisten den Bereich der Laut-Buchstaben-Beziehung und die Interpunktion betreffen, etwas weniger den der G r o ß - / K l e i n -
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6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
Schreibung, Zusammen- und Getrenntschreibung, am wenigsten den der Fremdwortschreibung und Silbentrennung (Mentrup a. a. O. 21 ff.). 16 Umfragen von 1955 bis 1982 ergaben „eine eindrucksvolle und stabile Mehrheit der Befragten für eine vereinfachte Neuregelung der heutigen Rechtschreibung", aber starke Ablehnung von Änderungen in der Laut-Buchstaben-Beziehung, außer bei den 5-Schreibungen (Mentrup a. a. O. 43 ff.). Z u r Forschung in der BRD vgl. auch die Arbeiten von Gerhard Äugst!
O. Die ü b e r n a t i o n a l e Kooperation wurde mit intensiver wissenschaftlicher Arbeit auf Tagungen und Arbeitsberatungen in Mannheim (1979), Wien (1979), Basel (1980), Wien (1982), Rostock (1984), Wien (1986, 1990, 1994) fortgesetzt. Das innenpolitisch bedingte Desinteresse von Regierungsstellen in Westdeutschland seit 1973 wurde 1984 gebrochen durch eine Verbalnote der Bonner Botschaft Österreichs an das Auswärtige Amt mit der Bitte um „Bekanntgabe des Meinungsstandes der offiziellen Stellen der Bundesrepublik Deutschland zur Frage der Neuregelung der Groß- und Kleinschreibung" und zum Regelvorschlag der Wiener Konferenz von 1982. Diese Verfahrensweise stellt sprachgeschichtlich ein deutliches Symbol dar für das Aufgeben des traditionellen Hegemoniestatus Deutschlands gegenüber Österreich in Bezug auf Deutsch als monozentrisch aufgefaßte Sprache (vgl. 6.11). Die Schweiz hat auf dem Wege zur Neuregelung wiederholt ihre Bereitschaft signalisiert, aber als viersprachiges Land die Vorreiterrolle vermieden, die dann nach dem zeitweisen Versagen Deutschlands Österreich übernahm (Looser/Sitta, in: Äugst u. a. 1997, 37ff.). Die DDR-Regierung hatte niemals ein ernsthaftes Interesse an einer Rechtschreibreform, verhielt sich schwankend je nach politischer Opportunität, bis hin zu zeitweisem Verbot von Publikationen darüber (Hilliger/Nerius, in: Äugst u. a. 1997, 15 ff.). Zwischen den zögernden bzw. abwartenden offiziellen Stellen der deutschsprachigen Länder hat 1980 der Baseler Germanist Heinz Rupp als Präsident des Internationalen Germanistenverbandes (mit engen Beziehungen zum Mannheimer Institut für deutsche Sprache) das Eis gebrochen durch eine internationale Expertensitzung am Rande des Baseler IVG-Kongresses und durch persönliche Initiative bei der DDRRegierung. Der plurinational-posthegemoniale Entscheidungsweg kommt auch zum Ausdruck in der nach der Wiener Konferenz von 1994 endlich möglich gewordenen „Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung", ausgefertigt in Wien am 1. Juli 1996, worin zu Anfang die beschließenden, von Regierungen autorisierten Vertretungen folgender Länder alphabetisch aufgelistet sind: Deutschsprachige Gemeinschaft (Belgien), Deutschland, Südtirol (Italien), Liechtenstein, Österreich, Rumänien, Schweiz, Ungarn. Neben der Berücksichtigung von Ländern, in denen deutsche Minderheiten einen mehr oder weniger offiziellen Status haben (Belgien, Italien, Ungarn, Rumänien) ist hier besonders hervorzuheben, daß für Ungarn der „Dekan der Philosophischen Fakultät und Direktor des Germanistischen Institutes der Eötvös Loránd Universität Budapest" von der Regierung mit der Vertretung beauftragt war, was darauf hinweist, daß hier auch der Status von Deutsch als Fremdsprache und übernationale Kontaktsprache mitgemeint ist. Auf Michael Clyne's Frage „Who owns the German Language?" (Clyne 1993) wird hieraus die Teilantwort
Μ —Ρ: Rechtschreibreformversuche bis 1 9 9 6
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deutlich: in hohem M a ß e gehört sie auch den Ungarn stellvertretend für andere ostmitteleuropäische Länder, die aus alter österreichisch-ungarischer Tradition, und verstärkt seit der weltpolitischen Wende 1 9 8 9 / 9 0 , Deutsch gern als Lingua franca benutzen, wobei die Ungarn eine entscheidende Funktion hatten und haben, weil sie keine slawische Sprache haben und deshalb viel dazu beitrugen, das Deutsche zur „allgemeinen Slawensprache" (Lenin) zu machen (vgl. 6 . 5 C D ) .
P. Die 1996 beschlossene Neuregelung wurde am 1. August 1998 wirksam, mit einer Übergangszeit bis zum 31. Juli 2005. Bis dahin können die Neuschreibungen zwar gelehrt, aber ihre Unterlassung in Schülerarbeiten nur als „überholt", noch nicht als Fehler bewertet werden. Für Probleme der Durchführung und Weiterentwicklung ist eine Expertenkommission aus 6 deutschen, 3 österreichischen und 3 schweizerischen Vertretern mit Geschäftsstelle am Institut für deutsche Sprache in Mannheim eingerichtet worden. Der mögliche Beitritt weiterer Länder soll über das österreichische Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten angemeldet werden. Die neue internationale Kommission am IdS hat mit neuartiger Richtlinienkompetenz die Funktion der Normensetzung und Entscheidung über Zweifelsfälle zu übernehmen, die die westdeutschen Kultusminister 1955 in rechtlich anfechtbarer Weise dem DUDEN-Verlag übertragen hatten. Das Ende des D U D E N - M o n o p o l s wurde sehr bald öffentlich signalisiert durch das eilige Erscheinen mehrerer konkurrierender Rechtschreibwörterbücher aus verschiedenen Verlagen. Über geringfügige Unterschiede bei einzelnen Wörtern kann es Konflikte geben, die von der Kommission oder von Gerichten gelöst werden müssen (dazu kritisch D. E. Zimmer 1996; H. Günther 1996; Menge 1996). Q . Obwohl die Reformvorschläge bereits seit 1992 publiziert, in den Medien lebhaft diskutiert und im Grundschulbereich relativ früh und erfolgreich praktiziert worden sind, erhob sich erst nach dem endgültigen Beschluß 1996 emotionaler G r u p p e n w i d e r s t a n d , z . B . von Schriftstellern, Parlamentariern und Spezialinitiativen. Es gab Gerichtsprozesse, die ζ. T. abschlägig beschieden wurden mit dem Hinweis darauf, daß sich ja niemand, außer Lehrern und Beamten, nach der Neuregelung zu richten brauche. Das Neuartige und für die künftige Durchsetzbarkeit Relevante daran ist die gegenüber 1 9 0 1 / 0 2 veränderte sozialpolitische Situation: Staatlichen Institutionen und wissenschaftlichen Expertengruppen wird nicht mehr mit gleicher Folgsamkeit begegnet wie in der wilhelminischen Zeit. Umstritten ist auch die Umgehung fachöffentlicher und parlamentarischer Mehrheitsentscheidung durch eine Expertengruppe und die Kultusminister. Gegner des neuesten Reformversuchs gibt es auch unter Linguisten, auch soziolinguistische Erklärun-
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6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
gen für den immer wieder ausbrechenden emotionalen Widerstand von Journalisten, Schriftstellern, Verlegern, Juristen und anderen Textprofessionellen (Munske 1993 a, 133 ff.): Berufliche Textproduzenten stehen in einer besonderen Loyalität zu Orthographienormen, die „soziale Normen besonderer Art" sind, „in der Regel keine gesetzten, sondern tradierte und in Tradition gewachsene' Normen", während die Linguisten als Reformer durch „Unsensibilität in Fragen der Schrifttradition", „Berufs-" und „Betriebsblindheit" nicht davor bewahrt sind, Inkonsequentes oder „Verschlimmbesserungen" vorzuschlagen und „im Spagat zwischen Reformüberzeugung und Nachgeben aus Opportunitätsgründen keine gute Figur machen" (Munske, a. a. O.). Reformer greifen in ein System ein, das „sich bei genauerer Analyse als systematischer erweist als es schien" (Stetter 1995, 316; ähnlich Maas 1994 a). Es wird von den meisten Reformern nicht berücksichtigt, daß das deutsche Orthographiesystem eine seit dem Althochdeutschen mühsam betriebene Adaption des in weiten Teilen für das deutsche Phonemsystem eigentlich schlecht geeigneten Graphemsystems des Lateins ist (Maas 1994 a, 154). Mit der Priorität der vermeintlichen Schreiberleichterung in der Grundschule, also der Kultusministerhoheit, schätzt man den traditionsgebundenen Identifikationsstandpunkt der professionell Schreibenden zu gering ein. Linguistisch gesehen „behandelt man hier die Orthographie auf einem Niveau, das auf der Ebene der Soziolinguistik, wo man die kommunikative Funktion dialektaler Ausdrucksweisen längst erkannt hat, definitiv überholt ist. Auch in der Schreibung kann man Einstellungen wie Achtung bestimmten Traditionen gegenüber zum Ausdruck bringen, und dies ist kein Traditionalismus, sondern so legitim wie der Respekt, den ich in meiner Wortwahl sozialen Konventionen gegenüber zum Ausdruck bringe" (Stetter 1995, 320).
Die im Verlauf des Reformstreites sich ergebenden kompromißbedingten H a l b h e i t e n und I n k o n s e q u e n z e n sind mit der Gefahr verbunden, die Grundfunktion der deutschen Orthographie seit dem 17./18. Jahrhundert zu schwächen (Maas 1994 a): Besonders Bereiche wie Großschreibung, Getrennt-/Zusammenschreibung, Interpunktion sind vor allem Mittel, das schnelle Erfassen komplexer syntaktischer Zusammenhänge beim Lesen zu erleichtern. Zu starke Orientierung am Phonographiekonzept für die Schreibenden statt an „graphischer Repräsentation" für den „grammatischen Durchdringungsprozeß" bedeutet für die Lesenden „fahrlässigen Verzicht auf wertvolle Ressourcen". „An die Stelle der traditionellen irreführenden Losung ,Schreib, wie du sprichst!' sollte eine Maxime treten, die der spezifischen Schriftfunktion gerecht wird: ,Schreib, wie du willst, daß man dich liest'!" (Maas 1994a, 187). Die neuen Richtungen „vermehrte Großschreibung" und „Getrenntschreibung" als opportunistische Reformertaktiken zur Rettung ihres Berufungsbewußtseins nach dem Scheitern der Kleinschreibungsreform sind sprachgeschichtlich fragwürdig, da hiermit „die eindeutige Tendenz zur Univerbierung der letzten 500 Jahre per Federstrich ausgelöscht werden soll" (H. Günther 1996, 3). Der unklare Zwischenbereich zwischen ,Substantiv' und ,Nichtsubstantiv' ist durch die vermehrte Großschreibung (mit wieder vielen Ausnahmen) keineswegs beseitigt (Fuhrhop u. a. 1995, 205). Die
Q R : Streit um die Neuregelung 1 9 9 6 / 9 8
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Flucht in regelfreudige Großschreibdidaktik, mit viel Flickwerk und „ H e r u m d o k t e r n " hat das System der alten „wortorientierten satz- und textsemantischen Beschränkung der G r o ß s c h r e i b u n g " ebenso zugedeckt wie die Regelvermehrung in den D U D E N Auflagen seit 1 9 0 2 ; die R e f o r m e r haben einen „Pyrrhussieg" errungen (Munske 1 9 9 5 a, 68). - Vielleicht wird der Streit über die Neuregelung 1 9 9 6 / 9 8 auf lange Sicht dazu führen, sich auf diesem Gebiet mehr Variabilität und Toleranz anzugewöhnen, so wie es in anderen Bereichen der Gesellschaftsentwicklung der Fall ist. Der wachsende Einfluß der Computerarbeit fördert zwar neue Normenstrenge in Programmierung, Textgestaltung und Informationszugriff; in einigen immer beliebter werdenden Bereichen der Internetkommunikation wirkt aber eher der Trend zu sehr eigenwilliger, kreativer, witziger, sprechsprachlicher, veränderlicher Wortschreibung und G r a m m a t i k . Auch ist die Schreibnormenherrschaft der Verleger, Drucker, Lektoren und Herausgeber dadurch geschwächt, daß Autoren heute ihre Texte zunehmend als druckfertige Disketten an den Verlag einzusenden haben, der Verlag also nicht mehr bei Reinschrift und Korrekturlesen mitwirkt und verantwortlich ist. Wer traditionell oder eigenwillig schreiben will, kann dies am Ende des 2 0 . Jahrhunderts leichter tun als an seinem Anfang.
R. Die Neuregelung 1 9 9 6 / 9 8 ist weitaus gemäßigter als die meisten Reformvorschläge seit 1902. Sie entstand mit der Zielsetzung einer behutsamen Vereinfachung und Systematisierung für die Schreibenlernenden bei nur geringer Veränderung des gewohnten Textbildes. Eine Neuerung, die auf jeder beliebigen Textseite vorkommt, ist nur der teilweise Ersatz von β durch ss, weniger häufig kommen vor: neue Silbentrennungen am Zeilenende bei st und ck, Getrenntschreibungen, Groß-/Kleinschreibungen, Kommaweglassungen, Dreifachkonsonanten in der Wortfuge. Viele Neuerungen sind ausgesprochene Seltenheiten (ζ. B. Känguru, Katarr, behände). Vereinfachung bestand vor allem in der Verringerung der Regelzahl, Verständlichmachung von Regelformulierungen, Beseitigung von Ausnahmen und Besonderheiten. Fast alle beschlossenen Neuerungen waren schon in früheren Reformvorschlägen enthalten, aber der größte Teil früherer Reformvorschläge wurde nicht übernommen, so daß Experten der durch immer neue Kompromisse und Rückzieher kleingewordenen Neuregelung das Prädikat ,Reform' nicht zuerkennen wollen (Munske 1993 a; Fuhrhop u. a. 1995; Stetter 1995). Im Bereich der L a u t - B u c h s t a b e n - Z u o r d n u n g sind die nicht durchsetzbaren älteren Vorschläge für Änderung der Länge/Kürzebezeichnung von Vokalen vermieden worden. Übriggeblieben ist der vor allem von österreichischer Seite seit 1 9 6 1 vorgeschlagene Ersatz von β durch ss nach kurzem Vokal, wodurch die alte Inkonsequenz Fluß/ Flusses aufgehoben, aber den Schreibenden die neue Unterscheidung zwischen Langvokal und Diphthong einerseits und Kurzvokal andererseits zugemutet werden mußte (was durch regionalsprachliche Vokalkürzungen gestört wird); der schweizerische Vorschlag, auf das β ganz zu verzichten (wie in der Schweiz längst üblich, ohne daß es auffällt), hat sich nicht durchgesetzt. Die eigenbrötlerisch deutsche Barockligatur β (die nicht aus s und ζ entstanden ist, sondern aus l a n g e m / und Schluß-s der Frakturschrift) hätte längst ganz abgeschafft gehört. — Das Prinzip der S t a m m s c h r e i b u n g
248
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
ist in der Neuregelung über das Nützlichkeitsprinzip hinaus mit etymologischen Spitzfindigkeiten gefördert worden, wobei unter ,Ableitungsbeziehung' synchrone Wortbildungsbeziehung, etymologische Herkunft und dialektale Variation miteinander vermischt wurden (Furhop u. a. 1995, 202; Stetter 1995, 314), ζ. B. ä statt e in seltenen Wörtern wie Stängel, behände, Gämse, mit neuen Widersprüchen wie aufwändig neben Aufwendung. — Widersprüchliches ergibt sich bei der Erhaltung des stammauslautenden Konsonanten in Rohheit, Zierrat usw. neben dem Wegfall des stummen h in rau (aber nicht bei roh), so daß nun Rohheit und Rauheit befremdlich gegeneinanderstehen. Fragwürdig erscheint die Durchsetzbarkeit und der Sinn der neuen Tendenz zur G e t r e n n t s c h r e i b u n g in dem bisher mit Recht nicht geregelten fließenden Übergangsbereich zwischen Verbkomposita und analytischen Prädikatsausdrücken, für den ein Festschreiben von Einzelfällen in Rechtschreibwörterbüchern als unnötig erscheint (Maas 1994 a, 168 f.): An die Stelle der früheren semantischen Entscheidung der Schreibenden wurden grammatikalische Regeln gesetzt, z. B.: groß schreiben / großschreiben, sitzenbleiben / sitzenbleiben, leicht fallen / leichtfallen usw., je nachdem, ob der nichtverbale Teil erweiterbar, steigerbar usw. ist oder nicht. Konflikte sind bei juristisch terminologisierten Zusammenschreibungen zu erwarten (z. B. schwerbehindert / schwer behindert). Dieser Bereich hätte besser ebenso freigegeben werden sollen wie die Alternative zwischen Zusammenschreibung und Bindestrichschreibung bei substantivischen Komposita im leserorientierten Sinne. Zur Entwicklung der Zusammenschreibung vgl. Herberg, in: Nerius 1983, 96ff.! — Im Bereich der W o r t t r e n n u n g am Zeilenende war konsequent die Aufhebung des 1901/02 passierten, vom alten Unterschied zwischen langem / und rundem s der Fraktur- bzw. deutschen Schrift abhängigen (Maas 1994 a, 156) Trennungsverbots für st, das nun systemkonform als s-t getrennt wird. Ebenso erscheint es auf den ersten Blick sinnvoll, daß ck nicht mehr als k-k getrennt werden muß: pa-cken statt pak-ken. Aber wegen der vielfältigen Inkonsequenzen des gewachsenen Normsystems kamen die Reformer mit diesem nur halben Schritt nicht aus der Zwickmühle heraus: Die Systemwidrigkeit der traditionellen Orthographie bestand ja nicht in der Trennung von ck als k-k, sondern in der Verwendung von c statt k im ungetrennten Wort (Furhop u. a. 1995, 206). Durch die neue Trennung „führt man genau die dem (morphematischen) Grundprinzip der Worttrennung zuwiderlaufende Idiosynkrasie wieder ein, die man bei der si-Trennung gerade abgeschafft hat" (Stetter 1995, 318). Konsequenter wäre es gewesen, das systemwidrige ck durch kk zu ersetzen (wie im Niederländischen) und systemgerecht zu trennen als pak-ken, wie gehabt.
S. Die G r o ß s c h r e i b u n g der Substantive war im Laufe des 18. Jahrhunderts zur praktischen und durch Grammatiker kodifizierten Norm geworden, wiewohl noch bis ins 19. Jahrhundert einzelne Gelehrte und Schriftsteller sich die intellektuelle Freiheit der Kleinschreibung nahmen (s. Bd. II: 5.9D); das Folgende nach Nerius 1987, 148 ff.; Mentrup 1980, 279 ff.: Seit um 1740 ging die verbreitete Tendenz, auch Adjektive großzuschreiben, in der Praxis und bei Grammatikern stark zurück und wurde auf ehrenhafte Titel und Anreden beschränkt, bei Adelung insgesamt als veraltet bezeichnet (Wegera 1996, 390ff.). Im 19. Jahrhundert hatten die Grammatiker hauptsächlich damit zu tun, die Regeln
ST: Groß- und Kleinschreibung
249
zur Entscheidung, ob ein Wort als ein Substantiv zu behandeln sei oder nicht, immer detaillierter zu formulieren, vor allem in Grenzbereichen wie Pronomina, Zahlwörter, Adjektivierungen, Pseudosubstantivierungen, mehrgliedrige Eigennamen, feste Wortverbindungen usw. Auch nach der systematischen Regelformulierung der II. Orthographiekonferenz (1901/1902), die bisherige Toleranzfälle beseitigte, ist weiter heftig darüber diskutiert worden. Wegen der zunehmend bewußtwerdenden Zweifelsfälle sind die Regeln für Groß- und Kleinschreibung bis heute noch zahlreicher und komplizierter geworden. Groß-/Kleinschreibungsfehler in Schülerarbeiten nehmen mit über 1 5 % den dritten Platz nach Laut-Buchstabenbeziehung und Zeichensetzung ein (Äugst, in: Kommission für ... 1985, 115). D a s w a c h s e n d e R e f o r m b e d ü r f n i s h a t sich im L a u f e des 2 0 . J a h r h u n d e r t s in R i c h t u n g a u f drei verschiedene L ö s u n g e n entwickelt: R a d i k a l e Kleins c h r e i b u n g , g e m ä ß i g t e Kleinschreibung,
modifizierte
Großschreibung.
Alle, a u ß e r den Verfechtern der radikalen R i c h t u n g , wollen die G r o ß s c h r e i b u n g der S a t z a n f ä n g e , Ü b e r s c h r i f t e n , Werktitel, A n r e d e p r o n o m e n , Eigennamen
und
Abkürzungen
Kleinschreibung"
nicht
antasten.
Unter
„gemäßigter
w i r d also im Wesentlichen A b s c h a f f u n g nur der
Substantivgroßschreibung verstanden. Argumente dagegen, vor allem von dem Züricher Germanisten Rudolf Hotzenköcherle (1955), in neuerer Zeit Munske 1995 ab, Maas 1994 a, 182 ff., gehen meist vom Standpunkt des leichteren Lesens von Texten mit sehr komplexem Satzbau aus, mit dem Hinweis auf bessere Erkennbarkeit der großgeschriebenen Kerne der gerade für die deutsche Schriftsprache typischen mehrgliedrigen Nominalgruppen mit Linksversetzung und Klammerbildung, auf schnellere Erfaßbarkeit des referenziellen Textinhalts beim Schneilesen oder ,Diagonallesen'. Manche Gegner warnten auch vor doppeldeutigen Sätzen (ζ. B. In hamburg hatte er liebe genossen), auf die Gefahr des Traditionsverlustes oder des ,Kulturbruchs' durch Nicht-mehr-Lesen-Wollen älterer Texte mit Substantivgroßschreibung. Vom Schreiberstandpunkt aus wurde gegen die gemäßigte Kleinschreibung eingewandt, daß die Beibehaltung der Eigennamen-Großschreibung das Problem nur verlagere, da die Unterscheidung zwischen Eigennamen und Gattungsbezeichnungen in bestimmten Grenzbereichen (Warennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen ohne Artikel, übertragene Namenverwendung, mehrgliedrige stereotype Benennungen usw.) ebenso schwierig sei wie die zwischen Substantiven und Nicht-Substantiven. Für und gegen alle Argumente konnten Experten Beweise und Gegenbeweise ausarbeiten und präsentieren (Äugst, in: Kommission für ... 1985, 116 ff.; Mentrup 1986; Back 1979; Wimmer 1977, 52 ff.). Einziger konkreter Anhaltspunkt für die Abschaffung der Substantivgroßschreibung sind die Erfahrungen der D ä n e n , die 1948 — nach vorangegangenen spontanen Umstellungen von Autoren, Medien und Institutionen seit dem 19. Jh., besonders aber seit der deutschen Besetzung (1940) — ihre Großschreibung, die vorletzte neben der deutschen, aus sprachenpolitischen Gründen (nordische Solidarisierung, antideutsche Distanzierung) in der Schule abschafften, mit freiwilliger Umstellung von Medien und Öffentlichkeit in Drucktexten bis 1965 (Hamburger 1981). Der Prozentsatz der Groß-/Kleinschreibfehler in der Schule sei dabei zwischen 1939 und 1978 in Schülerarbeiten von 35 auf 12 zurückgegangen (Äugst, a. a. O. 129). Leseschwierigkeiten mit alten Texten in Großschreibung hatten Schulkinder keineswegs; zweideutige Sätze entstanden nur verschwindend wenige; Verlagsverluste gab es nur bei Schulbüchern (Hamburger, a. a. O.).
250
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
In W e s t d e u t s c h l a n d stieg der Umfrage-Prozentsatz der Befürworter der gemäßigten Kleinschreibung von 28,5% (1961) auf knappe bis gute Mehrheiten ab 1971 an (Äugst, a. a. O. 44f.). In der Schweiz akzeptierten bei einer Umfrage (1972) 54% die gemäßigte Kleinschreibung, 17% waren dagegen (Looser/Sitta, in: Äugst u. a. 1997, 40). Bemühungen um die Abschaffung der Großschreibung gab es seit den 20er Jahren (s. oben 6.6M) bis zu den „Wiesbadener Empfehlungen" (1958), dem Deutschen Germanistentag Trier (1973), den Experten-Konferenzen von Frankfurt (1973) und Wien (1973). Diese vor allem von Grundschullehrern, Soziolinguisten, bildungs- und sozialpolitischen Gruppen ausgehende Bewegung erhielt starken W i d e r s t a n d von Seiten der an der Massenproduktion und -rezeption von Texten Interessierten (Verleger, Schriftsteller, Publizisten, Gymnasiallehrer), wurde entscheidend geschwächt durch österreichische und schweizerische Ablehnung (1962/63), danach und vor allem durch die kulturpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik seit 1973, in denen die Kleinschreibung bei konservativen Mehrheiten in ,Links'-Verdacht geriet und im großen Roll-back bis heute öffentlich diffamiert und tabuisiert wurde. So konnte sich auch die Befürwortung der gemäßigten Kleinschreibung aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse auf der internationalen Expertentagung in Wien (1982) gegenüber Öffentlichkeit und offiziellen Institutionen, aber auch gegenüber moderaten Expertenmeinungen nicht durchsetzen. T. Die Trendwende von der Expertenmehrheit für „gemäßigte Kleinschreibung" zur offiziellen Förderung des Konzepts „ m o d i f i z i e r t e G r o ß s c h r e i b u n g " ist von der deutschen Kultusministerkonferenz 1993 ausgelöst worden und hat (nach Munske 1995 a, 59 f.) mit „berufsbedingter Überschätzung ihrer Rolle" auf der Seite der Reformer zu tun, auf der anderen Seite mit „Widerstand der Sprachgemeinschaft" aufgrund der Rolle von Schriftkultur als „Gedächtnis neuerer Kulturnationen", als „ein Stück Spezifik der eigenen Sprache, ein Stück ihrer historisch bedingten Identität". Gerade die Großschreibung der Substantive hat mit „sozialer Demarkation" in „spezifischer nationaler Tradition" zu tun (Maas 1992, 9 f.): Ihre Durchsetzung symbolisierte seit dem 16. Jh. Protestantismus, später Deutschheit; ihre Vermeidung und Abschaffung diente der Abgenzung des Niederländischen vom Deutschen, des Isländischen vom beherrschenden Dänischen, schließlich des Dänischen vom Deutschen. Die reformerisch gewollte Abgrenzung des Deutschen vom ,Deutschen' ist also nicht gelungen. Diese Absage an eine wirkliche Reform führte, um wenigstens ein bißchen Reform zu retten, dazu, daß „nun die Mehrheit jener, die zuvor für die Substantiv-Kleinschreibung gefochten hatte, in einer didaktischen Kehrtwende für eine vermehrte Großschreibung eintritt" (Munske, a. a. O., Fußnote 1).
251
UV: Fremdwortorthographie
U. In der F r e m d w o r t o r t h o g r a p h i e sind die Sprachreformer heute vorsichtiger geworden mit orthographischer Eindeutschung (Integration, Assimilation), verglichen mit der weitgehend unreflektierten und unkontrollierten Praxis der Eindeutschung im 19. J h . (Heller/Walz 1 9 9 2 ) . D i e deutschsprachige Bildungselite verhielt sich seit der Humanistenzeit, genauso wie die französische und englische, relativ loyal und respektvoll in der Bewahrung der Originalschreibung von Latinismen und G r a e cismen im Gegensatz zu Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und noch stärker integrierenden nordeuropäischen Sprachen ( M ö c k e r 1 9 7 5 , 3 8 9 ) , ζ. B.: Deutsch:
Französisch:
Englisch:
Italienisch:
Schwedisch:
Philosophie
philosophie
philosophy
filosofia
filosofi
Chlor
chlore
chlorine
cloro
klar
Rhythmus
rythme
rhythm
ritmo
rytm
Der von der Schwedischen Akademie durch die Orthographiereform von 1801 eingeschlagene Weg einer vorwiegend a m indigen-phonographischen Prinzip orientierten Lehnwortschreibung wäre für das Deutsche eine radikale Abkehr von der jahrhundertealten westeuropäischen Entwicklung.
D a die Deutschsprachigen im Fremdsprachenunterricht neben Latein mit den Weltsprachen und europäischen N a c h b a r s p r a c h e n Englisch und Französisch am meisten zu tun haben, heute ζ. T. schon in der Grundschule (s. 6 . 5 J — N ) , wäre ein grundsätzliches Abgehen von der „primär internationalen Schreibung" ( M ö c k e r ) nicht nur ein Verstoß gegen das System der deutschen Sprache als „ M i s c h s p r a c h e " (Munske 1 9 8 6 a), sondern auch gegen günstige sprachliche Lern- und M e r k c h a n c e n beim Fremdsprachenlernen der allermeisten Deutschsprachigen ( M ö c k e r 1 9 7 5 , 3 9 0 ff.). Bei Internationalismen (vgl. 6.101) widerspricht die Neigung zur ,Eindeutschung' mit graphemischer Integration sowohl den traditionellen sprachpuristischen Forderungen nach ,Fremdwörter'-Vermeidung und -Ersetzung als auch der gegenteiligen modernen Tendenz zur Internationalisierung und internationalen Verständlichkeit der Sprache; Eindeutschung und Sprachpurismus „ragen wie einander höchst inkongruente seltsame Relikte nationalstaatlich-nationalsprachlichen Denkens aus dem 19. in unser 2 0 . J a h r h u n d e r t herein" ( M ö c k e r 1 9 7 5 , 3 9 5 ) . Die Befürworter einer „moderaten Anpassung an die indigene O r t h o g r a p h i e " (Munske 1 9 8 8 , 7 1 ) erhoffen sich dagegen für den Muttersprachschüler und -benutzer „Gebrauchserleichterung", indem sie auf die Tatsache verweisen, daß die im Lehnwortschatz vorhandenen und bei nichtintegrierender Neuentlehnung sich weiter vermehrenden Fremdgrapheme weitaus zahlreicher, umfangreicher und komplizierter sind als die ohnehin schon zahlreichen indigenen G r a p h e m e (Munske 1 9 8 6 ; 1 9 8 8 , 5 7 ff.):
252
6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
Nach Wörterbüchern (Heller 1981) stehen den 78 indigenen Graphemen (davon 5 1 % aus 1 Buchstaben bestehend, 4 4 % aus 2, 5 % aus 3) 293 Fremdgrapheme gegenüber, davon 2 1 % aus 1, 4 9 % aus 2, 2 3 % aus 3, 7 % aus 4—5 Buchstaben (z. B. < e a u x ) für [o:]). Der hohe Lern- und Merkaufwand ist nicht zu bestreiten. Eine sprachplanerisch gezielte Reform wäre aber nicht schwierig, da die Hauptmasse der Fremdgrapheme ( 8 2 , 3 % ) sich auf zentrale (nicht periphere) Phoneme bezieht und aus einer relativ überschaubaren Gruppe recht häufiger Zeichen besteht: y, ph, th, rh, t (für [fi]), d ch (für k), c (für ts), Vokal+rc (für Nasalvokal). Viele Fremdgrapheme kommen nur in wenigen Wörtern vor, z. B. th für engl. [θ, δ] in Thriller und in Eigennamen. Da eine Radikalreform der ,Fremdwortschreibung' nach Horst H. Munske (1986, 58) die Einrichtung einer „ständigen Reformakademie" als „Anfang einer Art orthographischer Planwirtschaft mit der Notwendigkeit ständiger Überwachung und Korrektur" wegen weiterer Neuentlehnungen erfordern würde, kommen nur in Betracht: „Teilreformen in erster Linie im Bereich des nicht mehr erweiterungsfähigen Bestandes von Fremdmorphemen und -lexemen, d. h. von Latinismen, Graezismen und Romanismen, welche einen festen Bestandteil des deutschen Wortschatzes ausmachen" (Munske a. a. O.). Aber selbst solche Teilreformen (als Regeln für ganze Gruppen von Lexemen) haben sich in der jüngsten deutschen Sprachgeschichte als undurchführbar erwiesen, da Bildungsbürger und Schreibprofessionelle gerade diesen theoretisch leicht reformierbaren Teil des deutschen Lehnwortschatzes wie ein unantastbares Kulturgut verteidigen und darum emotionale Pressekampagnen vor allem Beispiele liebgewordener Bildungslehnwörter in ihren Polemiken als Abschreckungsmittel herausheben, vom zunehmenden Trend zur Internationalisierung gestützt. Bestimmte Fremdgrapheme, vor allem ph, th, rh, c, ν haben im traditionellen Bildungswortschatz „beinahe ikonischen Wert" (Munske 1993 a, 144). Die Entwicklung des integrierenden Ersatzes von Fremdgraphemen durch eingedeutschte' haben Heller/Walz (1992) durch einen exemplarischen Wörterbuchvergleich von Campe (1801) bis zur Gegenwart analysiert: Dabei ergaben sich als Grundprinzipien: — Es gab keine gelungenen Versuche, für bestimmte Fremdgrapheme generelle Regeln (für alle Lexeme) durchzusetzen. — Es wurden schon seit um 1800 eben jene Fremdgrapheme assimiliert, die auch heute noch in der Diskussion sind; neue Arten von Substitutionen haben nur in extremen Ausnahmefällen eine Chance. — Die Aussprache blieb relativ stabil. — Leseaussprachen (Fremdgrapheme deutsch ausgesprochen, ζ. B. \jats] für Jazz) wurden immer seltener und kamen nach 1945 kaum mehr vor wegen verbreiteterer Fremdsprachkenntnisse und -kontakte. — Behindert sind in vielen Fällen Assimilationen, wenn das betreffende Wort mehr als 1 Fremdgraphem enthält, ζ. B. Cousine, Clique, Cognac. Besonders früh beginnen die Belege für die Substitution von c durch k bzw. z, aber mit viel Schwanken bis Ende des 19. Jh. und Bevorzugung von c im Kanzleistil. Die I. Orthographische Konferenz (1876) empfahl nur den Ersatz durch k, nicht den durch z, die II. Orthographische Konferenz (1901) empfahl beides und brachte diesen Integrationsfall im Wesentlichen zum Abschluß, mit Restfällen bei c ζ wie Citat, Censur, cirka, Circus, usw. Ebenso gab es schon viele Ersetzungen von frz. -euse durch dt. -ös(e) bei Campe (1801). Erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. gewinnt -ieren
UV: Fremdwortorthographie
253
statt -iren die Oberhand. Die allermeisten heute gültigen ,Fremdwortschreibungen' sind Ende des 19. Jh. schon belegbar. Die Ersetzung von ph durch f entwickelt sich erst im 20. Jh., fast nur im Bereich von -phon, -phot-, -graph- als alltagssprachliche Wortfamilien modernen Technikkonsums. Keine Integrationsversuche gab und gibt es beispielsweise bei g für [j] (z. B. Genie, Regisseur, Blamage)·, nur wenige aus au für [o:] aus dem Französischen (Epauletten, aber Soße).
V. E n g l i s c h e Entlehnungen wurden im 19. J a h r h u n d e r t und bis in die 1930er J a h r e graphemisch stärker als heute integriert, z. B. cokes —>
Koks, strike -» Streik, club -* Klub/Klubb,
cakes
Keks, frock -* Frack,
nach 1 9 4 5 so gut wie nicht mehr (abgesehen von eurolateinischen Suffi-
xen, z. B. -istn -* ismus, -ity -* ität und ss
β, ζ. Β. Streß). Die Zahl
der graphemischen Eindeutschungen ist bei Entlehnungen aus dem Englischen weitaus geringer als bei solchen aus dem Französischen (vgl. 6 . 1 0 L ) . D e r verstärkte englische Spracheinfluß hat auf die D a u e r die graphemische Integrationstendenz im Deutschen insgesamt zurückgehen lassen. N a c h der Phase stärkerer orthographischer Integration in der 2. Hälfte des 19. J h . , teilweise bis in die 1 9 2 0 / 3 0 e r J a h r e , ist Schreibeindeutschung seit 1 9 4 5 wesentlich geringer geworden. Die 16. Auflage des Rechtschreibungs-DUDEN (1961) hat zahlreiche Eindeutschungen wieder rückgängig gemacht, vor allem Wörter mit k oder ζ aus c in der chemischpharmazeutischen Fachterminologie im Zusammenhang mit der angloamerikanisch dominierten Internationalisierung der Wissenschaften. Auch in der Werbesprache signalisieren graphemisch rückverfremdete Lehnwörter seit der WirtschaftswunderZeit westliche Modernität mit „orthographischem Snobismus" (Möcker 1975, 386):
ζ. Β. Cigarette, Centrum, special, Ski, Yacht.
Auf starken öffentlichen Widerstand stieß deshalb die radikale Forderung der Stuttgarter Empfehlungen ( 1 9 5 4 ) , ph, th, rh generell durch f , t, r zu ersetzen, kurzes unbetontes y durch i, Sensation als Sensazion, Station als Stazion zu schreiben usw. ( M ö c k e r 1 9 7 5 , 3 8 3 , 3 8 7 f . ) . Bei der Neuregelung 1 9 9 6 / 9 8 war man bei der „Fremdwortschreibung" sehr zurückhaltend. In der ersten Informationsbroschüre des Dudenverlags (Sitta/Gallmann 1994) hieß es zwar „Die Neuregelung [ . . . ] will mehr Fremdwörter als bisher in das Deutsche integrieren und damit das Schreiben ein wenig erleichtern", mit der Einschränkung „im Sinne einer ,gezielten Variantenführung'", worunter zu verstehen ist: „in Bereichen, wo sie bereits angebahnt ist, vorsichtig gefördert" [ . . . ] , „In den zukünftigen (orthographischen) Wörterbüchern erscheint die traditionelle Schreibweise als Haupteintrag, die neue, eingedeutschte Schreibung als N e b e n e i n t r a g " , „Wenn sich im Laufe der Z e i t eine eindeutschende Schreibung beim überwiegenden Teil der Schreibenden durchgesetzt hat, kann die Variantenführung umgekehrt ausgerichtet w e r d e n " , so daß die alte Schreibung „nicht von einem Tag auf den anderen falsch w ü r d e " . Die Brisanz des Reformversuchs gerade in diesem Bereich wird daran
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6.6. Allgemeine Sprachnormierungen
deutlich, daß infolge heftiger Proteste von Journalisten und einigen Kultusministern (die Schriftsteller beklagten sich meist erst später) gerade ein großer Teil der in der Broschüre (und in der Extraausgabe des IdS, in: SR 1994) genannten Beispiele dann im neuen Orthographie-Duden (1996) doch wieder ohne Neuschreibvariante gebucht wurde. So wurden beispielsweise stillschweigend zurückgenommen: Alfabet, Apoteke, Asfalt, Frefel, Katastrofe, Ortografie, Packet, Restorant, Reuma, Rytmus, Strofe, Tron, Videotek, Zigarrette; es handelt sich großenteils um internationale Bildungs- und Konsumwörter, deren Neuschreibungen auch in Pressekampagnen in Schlagzeilen als Reizmittel dienen. Nicht zurückgenommen wurden Neuschreibvarianten, die sich regelhaft bzw. reihenweise erklären lassen und bereits weithin üblich sind: t/z in potent! ziell usw., Plural englischer Wörter auf -y: Partys statt Parties, ph/f in Wörtern mit grapb/f-, -ph/foto-, -ph/fort-, elee in Exposelee usw., seltene, nebensächliche Fälle wie Delfin, Tunfisch, Panter, Jogurt, Portmonee, Nessessär, Hämorriden, Katarr, meist als „Nebenvarianten". Weniger umstritten war, daß die bildungselitäre fremdsprachliche Silbentrennung nicht mehr obligatorisch ist, sondern nur eine Variante neben assimilierter deutscher Sprechsilbentrennung: He-li-ko-pterlHe-li-kop-ter, lnter-es-se/ln-te-res-se, Päd-ago-gik/Pä-da-go-gik.
W. Die I n t e r p u n k t i o n (Zeichensetzung im Satz) wurde relativ spät normativ geregelt. Vom Frühneuhochdeutschen her war sie bis ins 19. Jh. hinein vorwiegend rhetorisch-stilistisch, also satzrhythmisch orientiert (wie noch heute z. B. im Englischen), diente also der hörbar zu machenden Textgliederung beim Vorlesen oder lauten Selbstlesen. Aufgrund von Grammatiktraditionen seit der Humanistenzeit wurde erst durch Grammatiker und Didaktiker des 18. und 19. Jh. dieses satzrhythmische System durch ein rein syntaktisch-grammatikalisches abgelöst (s. Bd. II: 5.9E), konnte aber erst im Laufe des 19. Jh. im Zusammenhang mit der Ausarbeitung einer wirklich vom ,Satz' ausgehenden Syntaxlehre von Konrad Ferdinand Becker (1839) bis Konrad Duden lehrbar gemacht werden (Nerius 1987, 178 f.): Duden hatte noch die Illusion, die Interpunktion trage wesentlich dazu bei, „die gesprochene Rede genau schriftlich wiederzugeben" (1876), entwarf aber ein fast ausnahmslos syntaktisch begründetes System, das er langezeit nur in Schulbüchern veröffentlichte, dann 1903 im Buchdrucker-DUDEN, erst 1915 im Orthographie-DUDEN. Die Orthographische Konferenz von 1901 lehnte eine Einbeziehung der Interpunktion in die Orthographienormung ab. Abgesehen von den wissenschaftlichen und didaktischen Kodifizierungsansätzen seit Adelung (1781), gab es also bis zur Neuregelung 1996/98 keine amtliche Regelung der Interpunktion, wiewohl die immer ausführlicher werdende lexikographische DUDEN-Kodifizierung (mit Interpunktionsregeln) allgemein als quasi-amtlich verstanden und normativ angewandt wurde (vgl. Böhme 1995). Der nichtoffizielle Status verleitete die DUDEN-Bearbeiter von Auflage zu Auflage zur Vermehrung und Differenzierung der Satzzeichenregeln, allein bei den Komma-
W: Interpunktion
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regeln von 2Vi Seiten (1915) auf 14 Seiten (Leipzig 1985) bzw. 11 Seiten (Mannheim 1973), mit immer größerer Anzahl von Regeln (53 im Leipziger DUDEN, 51,9% aller Interpunktionsregeln, Nerius 1987, 184) und immer komplizierteren Begründungen, im Mannheimer DUDEN dann reduziert auf 9Vi Seiten (1980), 7 Seiten (1996). Zur Verworrenheit und Schwerverständlichkeit der DUDEN-Interpunktions-Regelbeschreibungen und zu ihren Auswirkungen auf Fehlerstatistiken, Sprachberatung usw. s. Mentrup 1983; in: Kommission für ... 1985, 70ff.; Berger 1968; Ströbl 1969; Eisenberg 1979; Baudusch 1981; Primus 1993. Die Vermehrung und Verkomplizierung der Zeichensetzungsregeln beruhte einerseits auf der objektiven Schwierigkeit, Regeln in diesem Bereich nur mit Hilfe abstrakter syntaktischer Kategorien und Termini erklären zu können, die den meisten Schreibenden schwer verständlich sind, andererseits auf der Gewohnheit, gutgemeinte empfehlende bzw. warnende Hinweise auf Praktiken konsequenter Satz- und Textgliederung in Kurzform so zu formulieren, daß sie im kodifizierenden Ergebnis wie Muß-Bestimmungen aussehen, deren Nichtbefolgung man als ,Fehler' bestrafen kann, ζ. B. mit hypostasierenden Formulierungen wie „ein Komma steht, wenn ...", „Das Komma gliedert/trennt/zeigt an...". In den Neubearbeitungen wurden ζ. T. ältere Hinweise auf Widersprüche zwischen rhythmischintonatorischem und grammatikalischem Prinzip oder auf „eine gewisse Freiheit des Schreibenden" gestrichen. Nur selten wurden alte Regeln aufgehoben, ζ. B. 1941 Wegfall des Apostrophs bei Vokalelision (z. B. beil'ge, geh'n), 1967 vor flexivischem 5 bei Abkürzungen (ζ. B. Lkw's), Wegfall des Punktes nach Ordnungszahlen und Überschriften (1915, 1929) (Mentrup, in: Kommission für ... 1985, 76f., 82f.). Auch die mehr textsemantischen Zeichen (Semikolon, Doppelpunkt, Gedankenstrich) erhielten mehr Raum.
Die Neuregelung 1996/98 enthält im Bereich der Zeichensetzung fast nur Liberalisierungen bei der Kommasetzung zwischen Sätzen und Satzteilen, mit Formulierungen wie „man kann ..." oder „... ist freigestellt", meist in Verbindung mit leserorientierten Zwecksetzungen für die freie Entscheidung der Schreibenden: „um die Gliederung des Satzes deutlicher zu machen oder um Mißverständnisse auszuschließen", o. ä., vor allem bei längeren, komplexeren Teilsätzen. Damit wird, als Rücksichtnahme auf die Lesenden, etwas von dem alten rhetorisch-intonatorischen Prinzip in die im 19. Jh. allzu einseitig grammatikalisierte Zeichensetzung wieder hineingenommen und die strafende Sanktionierungslust der Lehrenden und Prüfenden etwas gebremst. Zeichensetzung gehört eigentlich gar nicht zur normierbaren Orthographie, sie ist zwischen Grammatik und Stilistik anzusiedeln (vgl. auch Maas 1992, 46ff.). X. Für die deutsche A u s s p r a c h e n o r m u n g (Hochlautung, Orthoepie, Orthophonie, Lautungsnorm) gab es Anfang des 19. Jahrhunderts kaum konkrete traditionelle Normvorbilder, die etwa den früher genannten besten Schriftstellern, Gelehrten und Verwaltungstexten als Maßstäben für die Orthographie vergleichbar wären. Selbst Gebildete, auch viele hochgeachtete Autoren der Klassik, hatten um 1800 eine weitgehend regionale Aussprache, wie sich an Reimen und biographischen Zeugnissen erkennen läßt (B. Naumann 1989; vgl. Bd. II: 5.8B). Fürsten und
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Adel waren eher schlechte Lautungsvorbilder, da es kein sprachlich gesamtdeutsch wirkendes höfisches Zentrum (wie Paris oder London) gab und sprachliche Standesrepräsentation fast ganz auf Französisch ausgeübt wurde (s. Bd. II: 5.8F). Noch um 1900 kokettierten Fürstlichkeiten situationsspezifisch mit regionaler Lautung, wie ζ. B. der sprichwörtlich sächselnde letzte König von Sachsen oder der leicht berlinernde Kaiser Wilhelm II. als Vorbild des preußischen ,Leutnantstons'. Auch die meisten Pastoren und Gymnasialprofessoren (weniger die norddeutschen) konnten noch um 1900 bei ihrem Bemühen um eine reine Aussprache nach der Schrift ihre regionale Lautfärbung kaum selbst objektiv einschätzen. Als Lautungsvorbilder kamen nur Schauspieler in Betracht, die durch ihren häufigen überregionalen Ortswechsel viel Erfahrung mit dem Vermeiden mißliebiger regionfremder Lautungen hatten. Die deutsche Orthophonie konnte also nur professionell als B ü h n e n a u s s p r a c h e entwickelt werden (Weithase 1961; Kurka 1980). Schon im letzten Drittel des 18. Jh. hatten Theaterreformen die Vorbildrolle der Schauspieler vorbereitet (s. Bd. II: 5.2Q; 5.6GE). Goethe hat sich als Theaterdirektor praktisch und mit seinen Schriften „Weimarisches Hoftheater" (1802), „Regeln für Schauspieler" (1803) um die Durchsetzung überregionaler und überindividueller Aussprache, Gestik und Mimik gekümmert (Weithase 1949), ebenso die 3 bedeutenden Intendanten und Direktoren Ekhoff, Schröder und Iffland, die norddeutscher Herkunft waren und viel auswärts wirkten.
Aus der Bühnenpraxis entstand epigonenhaft ein oft gekünstelter, invarianter, langsamer, die Endsilben und Silbenfugen überdeutlich lautierender pathetischer Sprechstil, besonders an den Residenztheatern, in der klassischen Verstragödie fast wie Sprechgesang wirkend. Orthophonieexperten kritisierten ihn als Weimarer Sprechstil, Silbenstecherei, Konsonantenspucker usw. Diese Lautierungsrichtung hing auch mit der Gesangsdidaktik zusammen und hatte ihren Höhepunkt in der musikdramatischen Reformbewegung Richard Wagners, die mit dem großbürgerlichen Repräsentationsbedürfnis zusammenhing. Vorbildlich wirkten vor allem Theater in Berlin, Dresden, Düsseldorf und das Wiener Burgtheater. Seit dem frühen 19. Jh. wurde der gehobene Bühnensprechstil auch durch herumreisende Schauspieler, professionelle Deklamatoren und Rezitatoren sowie mit Dichterlesungen im Bildungsbürgertum popularisiert, in höheren Schulen noch bis zur Rundfunkzeit (Weithase 1961, 490 ff.). In Anstandsbüchern für gutbürgerliches Wohlverhalten ist eine Entwicklung vom alten Ideal des (mehr körperlichen und ästhetischen) Wohlklangs im 18. Jh. zum Ideal der Ausspracherichtigkeit im 19. Jh. zu erkennen, nach sprachlichen Kriterien wie ,dialektfrei', ,deutlich' und ,langsam', letzteres als Symptom für vornehmes Zeit-Haben (Linke 1996, 151 ff.). Aus praktischen politischen Bedürfnissen wurde die gute Aussprache als rhetorisches Mittel auch in der Arbeiterbewegung gefördert, besonders unter August Bebel, da der Erfolg von Rednern in Massenversammlungen und Parlamentsdebatten gerade für Arbeiterführer
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von dialektdiskriminierenden bourgeoisen Bewertungshaltungen abhängig war. — Während sich Schauspieler und Theaterfachleute seit dem Naturalismus ζ. T. von der übertriebenen Sprachidealisierung des traditionellen Bühnenstils abwandten und einen freieren, individuelleren, ζ. T. kabarettistischen Sprechstil entwickelten, blieb die akademische Sprechkunde noch lange bei der hochgestochenen Elite-Sprechkunst.
Das Interesse für eine K o d i f i z i e r u n g von Lautnormen wurde in der 2. Hälfte des 19. Jh. sowohl durch wissenschaftliche als auch politischsoziale Entwicklungen gefördert. Seit Ende der 1860er Jahre wurde die Wissenschaft der P h o n e t i k im akademischen Lehrbetrieb etabliert (Kurka 1980, 14ff., 24ff.). 1886 wurde die internationale Lautschrift der Association Phonetique Internationale (API) eingeführt. Von der Phonetik her wurden für die noch nicht kodifizierte und regional sehr unterschiedliche deutsche Standardaussprache abstrakte, typisierende, variantenfeindliche Grundprinzipien wirksam: ,Reinheit' der Vokale, starke Unterschiede zwischen Monophthong und Diphthong, ,gerundet' und ,ungerundet', ,stark' und ,schwach', ,stimmhaft' und ,stimmlos', ,behaucht' und ,unbehaucht' sowie bestimmte reihenbildende Merkmalskombinationen (ζ. Β. ,stark' + ,behaucht' + ,stimmlos' für Ipl, Iti, Ikl). Statt der exemplarischen Selbstbeobachtung und stark typisierender Unterscheidungen (ζ. B. Eduard Sievers) bemühten sich andere Phonetiker aus der neusprachlichen Reformbewegung, vor allem Wilhelm Viëtor (Aussprachewörterbuch, 1885), um Berücksichtigung der Gebrauchsvarianten und um empirisch-statistische Untersuchung (Kurka 1980, 21 f., 27 ff.). Diese eher bürgerlich-demokratische, nichtelitäre Richtung, die auch von dem Deutschdidaktiker Rudolf Hildebrand befürwortet wurde, konnte sich in den 1880er/ 1890er Jahren leider nicht durchsetzen.
Vor allem seit der Reichsgründung (1871) war in Deutschland die mehr n a t i o n a l p o l i t i s c h e Motivation für Vereinheitlichung und Variantenintoleranz stärker, mit öffentlichen Aktivitäten und Publikationen, parallel zu den ebenso monozentrischen Bemühungen um Rechtschreibung, Fremdwortverdeutschung und konservative Sprachkritik (Kurka 1980, 43 ff.). Z u m p o m p h a f t e n Repräsentationsstil der wilhelminischen Oberschicht gehörte, neben Uniformen, Orden, Titeln und Denkmälern, auch die Praxis möglichst strenger, überdeutlicher, theatralisch zelebrierter , H o c h l a u t u n g ' , die so sehr als Autoritäts- und Herrschaftsmittel instrumentalisiert worden ist, daß sie bald von Kabarettisten zur Karikierung schneidig auftretender Offiziere, Beamten, Geheim- und Kommerzienräte benutzt wurde; sie ist bis heute f ü r Schauspieler in historischen Stücken über jene Zeit unentbehrlich. Y. Die durch den Breslauer Germanistikprofessor Theodor S i e b s („Deutsche Bühnenaussprache" 1898) geschaffene erste Kodifizierung der deutschen Lautnormen war, von den dahinterstehenden Beteiligten und Auftraggebern her, eine extrem hochkulturelle, der alltäglichen Praxis öffentlicher Kommunikation weitgehend ferne Anlehnung an hoch-
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ste, idealisierende Normen der Bühnenlautung in ihrer am meisten hochstilisierten Variante für die klassische Verstragödie (Kurka 1980, 32ff.). Siebs selbst stammte von der ostfriesischen Insel Wangerooge, auf der damals noch viel Friesisch gesprochen wurde, kannte das Hochdeutsche also eher wie eine Bildungs-Fremdsprache. Berater und Befürworter von Siebs waren meist norddeutsch-preußisch orientierte Repräsentanten von Hoftheatern, Schauspieler, der Deutsche Bühnenverein, Sprach- und Gesangspädagogen, Sänger, Philologen (Karl Luick, Eduard Sievers), und der (für die höheren Schulen zuständige) Philologenverband. Viëtor war zwar eingeladen, war aber in der entscheidenden Kommissionssitzung im Berliner Königlichen Schauspielhaus (1898) nicht anwesend. Die Entscheidungen für bestimmte Normsetzungen beruhten auf bildungselitären Geschmacksurteilen, nur aufgrund subjektiver auditiver Eindrücke, nicht auf statistischem Material (Mangold, in: BRS 1496 ff.; Veith 1986 a): Ein Beispiel für ideologiegesteuerte, an Gruppeninteressen gebundene Normsetzung bei Siebs war die einseitige Präferenz des Zungen-r mit mehrmals gerolltem Anschlag, gegen das weitverbreitete, weniger gerollte Zäpfchen-r, gegen r-Vokalisierungen und r-Schwund in bestimmten Stellungen (Kurka 1980, 31 f.). Schon der Phonetiker Trautmann hatte 1886 die These aufgestellt, das Zäpfchen-r sei nur eine zu bekämpfende Modegewohnheit der alten französisch sprechenden Oberschicht seit dem 17. Jh.; ebenso beklagte Friedrich Theodor Vischer 1882 die Verstümmelung des „Trommeltons der Sprache" (des Zungen-r) durch „unbefugten, unwissenden" Gebrauch des „weiblichen" Zäpfchen-r der „Majorität". Es wirkten hier also auch „frankreichfeindliche", „konservative", „antidemokratische" Einstellungen, in Verbindung mit den raumakustischen Erfordernissen des „deklamatorisch-pathetischen Hoftheaterstils" (Kurka 1980, 32). Auch eine androzentrisch-militaristische Komponente war dabei: Männer mit üblichem Zäpfen-r in ihrem Dialekt oder Regiolekt bevorzugen mehrmals gerolltes Zungen-r beim Kommandieren von Soldaten über weite Distanz (Kasernenhof) und bei der Pferdeführung mit dem Haltesignal brrr!. Noch heute ist Zungen-r als Signal für Registerwechsel zum männlich-autoritären Schreistil zu beobachten. — Ein anderes Beispiel für Variantenreduzierung gegen besseres Wissen von der Sprachwirklichkeit ist die Nichtzulassung des durchaus beobachteten Tieftonvokalschwunds in den Endsilben -el, -er, -en für den „höheren Vortrag" bei Siebs ebenso wie schon bei Trautmann (Kurka 1980, 31). Auch in der akademisch-elitären Fremdaussprache vieler Fremdwörter war der Siebs strenger als manche Vorgänger, die in Wörterbüchern übliche eindeutschende Lautsubstitutionen zugelassen hatten (Kurka 1980, 39). Fremdaussprachen, die dem deutschen Lautsystem widerstreben, wirken als soziolinguistisch zu erklärende Bildungs- und damit Herrschaftssymptome. — Rein hypothetisch vom theoretischen Standpunkt der konsequenten Phonemopposition in allen Stellungen, teilweise nach graphemischen Kriterien, waren die hyperkorrekte Unterscheidung von auslautendem d und t, z. B. in Rad, Rat (also gegen die spätmittelhochdt. Auslautverhärtung) und die ebenso künstliche orthographieabhängige Unterscheidung zwischen [e:] und [f.·] bei Opposition zwischen e und ä, z. B. in Ehre, Ähre, während bei der Schreibung e beide als Varianten zugelassen waren, z. B. leben mit [e:] oder [ε:] (Mangold, in: BRS 1496f.).
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Die starke Bevorzugung n o r d d e u t s c h e r (nicht niederdeutsch-dialektaler) Lautungen im Siebs war zeitgemäß preußisch-dominant, beruht aber auf alter Lautungspräferenz des norddeutschen Sprechens nach der Schrift seit Luther (s. Bd. I: 4.4M, Bd. II: 5.6G). Die überwiegend norddeutsche Zusammensetzung des Siebs-Ausschusses und die zu starke Bevorzugung norddeutscher Varianten, der „Ausschluß Süddeutschlands", ist schon damals in der Mehrheit der germanistischen Fachgutachten für den Allgemeinen Deutschen Sprachverein kritisiert worden (Besch 1990 b). Seit dem Ende der preußischen Hegemonie wirkt sich die sehr norddeutsche Orientierung — neben der übertrieben hochkulturellen und expertenhaft pedantischen Tendenz — als Belastung der gesamtdeutschsprachigen Lautungsstandardisierung aus, vor allem in Lautnormen, die in Süddeutschland, Österreich und Schweiz, ζ. T. auch im Mitteldeutschen (vom Rhein-Moselland bis Schlesien), auch bei gebildeten Sprechern unrealistisch waren und ζ. T. noch sind (vgl. W. König 1989; O. Schmidt/Vennemann 1985). Die Merkmalsbündelung von ,stark' ,stimmlos' und ,behaucht' für p, t, k und von ,schwach' ,stimmhaft' und ,unbehaucht' für b, d, g ist regional im Wesentlichen auf Norddeutschland beschränkt und die Bündelung dreier Merkmale eine übertreibende Überlautung mit phonologischer Redundanz: Im größten Teil des deutschen Sprachgebiets genügt auch in der Standardlautung die auf nur einem Merkmal beruhende Unterscheidung ,stark' vs. ,schwach' (Fortis vs. Lenis). Norddeutscher Herkunft ist auch die Stimmhaftigkeit von an-/inlautend s als [z]. Auch die Festlegung der Kurzvokale lei und loi auf ,offene', der Langvokale le:l und lo:l aufgeschlossene (enge) Aussprache entspricht nicht dem süddeutschen (und z. T. mitteldeutschen) Standard. Die im Siebs vorgeschriebene frikative Aussprache (Reibelaut) des g als [f] im Suffix -ig (z. B. wenig, König) ist nur nord- und mitteldeutsch allgemein üblich. Österreicher wunderten sich hocherfreut, als sie feststellten, daß der (aus dem Bayerisch-Fränkischen stammende) Bundespräsident Herzog in diesem umstrittenen Fall sprach wie sie selbst. — Zur Erklärung des hohen Ausspracheprestiges von Hannover seit dem 18. Jh. s. H. Blume 1987, 23.
Z. Als sehr verständlich und konsequent erscheint also die in vielen Einzelheiten abweichende oder widersprechende Haltung ö s t e r r e i c h i s c h e r und d e u t s c h s c h w e i z e r i s c h e r Experten gegen die teilweise norddeutsche Lautungsnorm des Siebs. Schon der schweizerische Dialektologe und Lexikograph Friedrich Staub lehnte die „nach preußischem Schnabel geschliffene Aussprache" ab, da er die „Rettung des immer mehr gefährdeten Nationalbewußtseins" über „Utilitäts- und Opportunitätsprinzip oder Eitelkeit" stellte (Ammon 1995 a, 123 f., 150 ff., 231 ff., 255 ff.). Zwar gab es auch in Deutschland Widerstand und Warnungen in Bezug auf die gemeinsprachliche Anwendung dieser Bühnensprachkonstruktion (Besch 1990 b, 94 ff.). Man versuchte sie jedoch ganz unkritisch bald nach Erscheinen des Siebs (Mangold, in: BRS 1496 ff.):
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1899 empfahl die „Versammmlung deutscher Philologen und Schulmänner" (germanistische Sektion) in Bremen die Übernahme der Siebsschen „ B ü h n e n a u s s p r a c h e " in den Schulunterricht. Trotz geringer Akzeptanz, Desinteresses und Kritik wurde sie auf der Berliner Konferenz (1922) mit Beteiligung von Regierungsvertretern zur offiziellen deutschen „ H o c h s p r a c h e " mit Rechtsgeltung für das Reichsgebiet erklärt, weshalb der Titel in der 13. Auflage (1922) ergänzt wurde zu „Deutsche Bühnenaussprache — Hochsprache". Inhaltliche Änderungen wurden bis zur 15. Auflage (1930) jedoch nicht für erforderlich gehalten, ebensowenig in Siebs' im Auftrag der „Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" verfaßter „Rundfunkaussprache" (1931), in der die Bühnenaussprache für das Mikrophonsprechen einfach unverändert übernommen wurde. In der deutschen Schule fand der Siebs ebensowenig Beachtung wie im „Allgemeinen Deutschen Sprachverein". Das „Deutsche Aussprachewörterbuch" von Viëtor (1912), das phonetisch und empirisch genauer war als der Siebs und schon manche im Siebs erst in späteren Neubearbeitungen zugestandene Varianten enthielt, hatte nur auf den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache Einfluß. Für die regional stark differenzierte Praxis des Muttersprachunterrichts, in der die API-Lautschrift ebensowenig bekannt war wie in der traditionellen Germanistik, war die Siebssche Lautnormung einfach zu ,hoch' und wirklichkeitsfremd.
In den 20er Jahren begann die Vorbildrolle der professionellen R u n d f u n k s p r e c h e r und Filmschauspieler die der Theaterfachleute abzulösen. Das Mikrophonsprechen in schallarmen kleinen Räumen (ζ. B. Studios) steht unter anderen Bedingungen als das Deklamieren in großen Räumen. Lautreduktionen, leiseres und schnelleres Sprechen wurden jetzt ohne Minderung der Verständlichkeit zumutbar. Trotzdem hielt sich pathetischer Sprechstil von der Bühnentradition her noch bis in die frühe Nachkriegszeit bei Nachrichtensprechern und Reportern. Jedenfalls wurde nun eine tolerantere Lautnormung oder wenigstens die Aufhebung allzu unrealistischer Variantenverbote überfällig. In der 16. „völlig neubearbeiteten" Auflage des Siebs (1957) wurde im Titel der Anspruch „Deutsche Hochsprache" vorangestellt, der ursprüngliche Titel „Bühnenaussprache" kleiner gedruckt nachgestellt und die API-Lautschrift eingeführt, aber sonst wenig geändert, außer Neuaufnahmen von Wörtern ins Wörterverzeichnis. Die Unterscheidung zwischen b, d, g und p, t, k in der Auslaut-Neutralisierung und das Monopol des Zungen-r wurden aufgehoben.
Der nach wie vor empiriefern-elitären Lautnormung des Siebs wurde — in der Nachfolge der zu wenig berücksichtigten Leistungen Viëtors — seit den 50er Jahren in der D D R eine Alternative entgegengestellt durch umfangreiche Tonbanduntersuchungen ost- und westdeutscher geschulter Rundfunksprecher beim Verlesen von Nachrichtentexten, die Hans K r e c h (s. Krech 1961) an der Universität Jena, später in Halle, durchführte. Das Ergebnis war das „ W ö r t e r b u c h d e r d e u t s c h e n A u s s p r a c h e " (WdA), Leipzig 1964, in Neubearbeitung als „Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache" Leipzig 1982 (GWdA). In dieser Alternative zum Siebs war nicht mehr von „Bühnenaussprache" die Rede, sondern von „allgemeiner deutscher Hochlautung". Obwohl die
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Materialgrundlage auf eine bestimmte Textsorte in einer bestimmten Berufsrolle beschränkt war (die aber der Sprachbevölkerung alltäglich präsent ist) und aus dem festgestellten Variantenspektrum bestimmte Varianten normativ herausgehoben wurden, brachte das WdA doch wesentliche Annäherungen an die Sprachwirklichkeit dialektfreien öffentlichen Redens, weshalb es im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache bald weltweit dem Siebs vorgezogen wurde. Im WdA wurde die Vokalisierung bzw. Reduzierung des auslautenden r in unbetonten Endsilben, nach langem Vokal und vor Konsonant (ζ. B. Wasser, Uhr, warten) nicht nur bedingt zugelassen, sondern empfohlen; als Varianten wurde der Vokalschwund in unbetonten Endsilben vor Liquida und Nasal genannt, auch mit konsonantischen Assimilationen, ζ. B. silbisches l in Löffel [-fl], [m] in Leben [-bm], [9] in tragen [-grj], sowie eindeutschende Lautsubstitutionen bei entlehnten Wörtern, ζ. B. {-ül-αη} in Reglement, [st-/ft-] in Fremdwörtern. Auf diesen liberalisierenden Vorstoß reagierte, ohne auf Krech und sein WdA hinzuweisen, die 19. Auflage des Siebs (1969) mit einer weiteren Titelmanipulation: „Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung". Mit der immer noch elitären Unterscheidung zwischen „rein" und „gemäßigt" wurden sehr zögerlich einige der im WdA zugelassenen Varianten geringerbewertend angeführt: nur schwach behauchte p, t, k, stimmlose b, d, g, wenig gerolltes Zäpfchen-R. Aber für „Fremdwörter" (nichteingedeutschte Lehnwörter) wird „gemäßigte Hochlautung" nicht zugelassen. Einige schweizerische und österreichische Varianten werden als „Besonderheiten" genannt. Von der „gemäßigten Hochlautung" werden in der Einleitung „Alltagslautung" (d. h. „Nichthochlautung"), „landschaftliche Besonderheiten" und „Überlautung" unterschieden (Veith 1986a, 67f.). - Das „DUDENAussprachewörterbuch" von Max Mangold (2. Aufl. 1974), mit Untertitel „Wörterbuch der deutschen Standardaussprache" übernahm, mit ausdrücklichem Hinweis auf die 3. Aufl. des WdA, wesentlich mehr aus den Krechschen Untersuchungen und subsumierte unter „Hochlautung" die „Standardlautung" und die „Bühnenaussprache" gegenüber der „Nichthochlautung", die aus „Umgangshochlautung" und „Überlautung" bestehe, eine „normtheoretisch nicht ausreichend abgesicherte Differenzierung" ohne praktische Konsequenzen für das Wörterbuch" (Veith 1986 a, 68).
Heute ist ü b e r r e g i o n a l e Lautung zunehmend verbreitet, vor allem im öffentlichen Leben, in der Schule, in den Hörmedien, infolge Medieneinfluß, stärkerer Bevölkerungsmischung und -mobilität seit 1945. Die Vorlesesprache ist heute wesentlich einheitlicher als um 1900 (W. König 1989, Bd. 1, 11). Andererseits ist die Lage in der Normenfrage weithin unübersichtlich und ungeklärt: Selbst die besten Schauspieler und Rundf u n k · oder Fernsehsprecher stimmen in ihrer Praxis nicht mit den kodifizierten Lautnormen völlig überein. Seit der 1968er-Kulturrevolte sind, nicht nur durch ungeschulte Sprecher, in diesen vorbildgebenden Sprechberufen etwas mehr Variationsbreite, mehr Alltagsumgangssprache, mehr Regionallautung üblich geworden. Modernität wird gern mit Normabweichung signalisiert. Vgl. 6.9BC! Die drei konkurrierenden Aussprachewörterbücher weichen in vielen Fällen voneinander ab (Veith 1986 a, 69 ff.; Stellmacher 1975). Sie sind auch deshalb methodisch
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ungenügend, weil sie nicht nach Textsorten und Situationen unterscheiden, nicht zwischen Langsam- und Schnellsprechen (Veith 1986 a, 79). Für österreichisches und schweizerisches Deutsch wird das Problem, trotz einiger wirkungsloser Versuche, mit Recht offengelassen. Man wird auch in Deutschland das Prinzip einer rigiden, binären, nach ,hoch' und ,nicht-hoch', ,richtig' und ,falsch' unterscheidenden Lautnormung relativieren müssen.
Der bildungsbürgerlich-nationalstaatliche Versuch um 1900 war eine soziolinguistisch und sprachpragmatisch auf die Dauer unhaltbare Illusion, die der deutschen Sprache als plurizentrischer und plurinationaler Sprache in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr angemessen ist. Allenfalls für den Unterricht in öffentlicher Rhetorik und Deutsch als Fremdsprache wäre eine idealisierte Lautnormung im Sinne von ,gutes Deutsch' didaktisch zu rechtfertigen, wenn sie mit ausreichender Information darüber verbunden ist, daß die meisten Deutschsprachigen dieses ,gute Deutsch' nicht oder nicht immer sprechen und daß die schweizerischen und österreichischen ,Besonderheiten' zu gleichberechtigten nationalen Varietäten gehören (vgl. 6.11). Im Unterschied zur Orthographie und Grammatik ist Lautung mit unmittelbar körperlicher Tätigkeit in praktischen Handlungszusammenhängen verbunden, also für differenzierende soziale und funktionale Identifikation offen und unentbehrlich.
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6.7. Fremdwortpurismus und Sprachpflege Sprachvereine und Sprachinstitutionen A. Die Kritik am Gebrauch fremdsprachiger Wörter sowie eines großen Teils des deutschen Wortschatzes mit dem Hauptargument, diese Wörter seien aus einer anderen Sprache ,eingedrungen' und gehörten damit nicht zur deutschen Sprache, müßten also aus ihr entfernt und durch aus altdeutschen Elementen bestehende Wörter ersetzt werden, könnte als Teil des umfassenderen Kapitels „Sprachkritik" (6.8) behandelt werden. Nicht nur aus quantitativen Gründen soll dieser Fremdwortpurismus, auch als Fremdwörterverdeutschung, Fremdwörterjagd, Sprachjakobintsmus (Wieland) bezeichnet, hier als eigenes Kapitel vorangestellt und nicht stückweise in die vielfältige Entwicklung von Sprachkritik eingearbeitet werden. Er stellt zwar durchaus eine typische Art von Sprachkritik dar: Kritik am Sprachgebrauch Anderer (bzw. an Systemteilen der Sprache) mit der Forderung nach und eigenen Ansätzen zum Ersatz dieses Wortschatzbereichs durch andere Sprachmittel, und zwar nach einer bestimmten politischen Ideologie im Bereich von Nationalismus, die zur gleichen Zeit auch mit anderen als sprachkritischen Mitteln zu verwirklichen versucht wurde. Insofern ist der Fremdwortpurismus eine Art p o l i t i s c h e r S p r a c h k r i t i k , grundsätzlich etwas Ähnliches wie beispielsweise heute die teilweise erfolgreiche ökopolitische oder feministische Sprachkritik (s. 6.8V—Y), wenn auch mit ganz anderer sprachpolitischer Motivation. Seine gesonderte Darstellung als politisch-historisch orientiertes Kontinuum im Zusammenhang mit anderen Arten von Sprachpflege' ist auch zu begründen mit seinem sprachhistorischen Zusammenhang mit dem a l l g e m e i n e n S p r a c h p u r i s m u s seit der Humanistenzeit und als eine einflußreiche sprachnationalistische Triebkraft bei der Entstehung von Nationalbewußtsein und Nationalstaat in Deutschland bis zu dessen Pervertierung im radikalnationalistischen Wilhelminismus und rassistischen Nationalsozialismus. Sowohl durch eigene Begriffsbildung als auch durch vorwiegende personale Differenzierung hat sich der Fremdwortpurismus durch spezielle Politisierung aus dem allgemeinen Bereich von Sprachkritik herausentwickelt, hat sich so verselbständigt und ist durch Verstrickung in die katastrophale deutsche Geschichte von der Bismarckzeit zur NS-Zeit heute derart ins Abseits geraten, daß kaum ein Germanist, Linguist oder Bildungspolitiker in deutschsprachigen Ländern es wagen kann, im Rahmen der Erörterung verschiedener Arten
A: Sprachpurismus, Fremdwortpurismus
265
und Ziele von Sprachkritik und Sprachpflege auch nur gemäßigte Ziele der Fremdwortverdeutschung positiv zu vertreten (s. Pogarell 1993), ganz anders als ζ. B. in Frankreich. Die Verselbständigung des Sprachpurismus aus der allgemeinen Sprachkritik wird auch daran deutlich, daß das gebräuchliche Vorgängerwort von Sprachkritik vor dem 19. Jh. eigentlich Sprachreinigung war. Nach den Untersuchungen von Alan Kirkness (1975 und in: BRS 290 ff.) verstand man unter dem Ziel der Reinheit (puritas) der Sprache im 17. und 18. Jh. über die Kritik am Gebrauch von Wörtern fremdsprachiger Herkunft hinaus auch die Vermeidung von Sprachvarianten, die den humanistisch-aufklärerischen Idealen von ,Nationalsprache' (richtig, grundrichtig, gesetzmäßig, analog, normgerecht, elegant, zierlich usw.) widersprachen, also die Kritik an und das Engagement gegen Provincialismen, Pöbelsprache, Neuerungssucht, Archaismen, Unlogisches, Unsystematisches, Widersprüchliches, für Laien Unverständliches, Unmoralisches, Zweideutiges usw. (s. Bd. II: 5.5 — 5.7). Obwohl es auch in dieser Zeit schon Beispiele frühnationalistischer Fremdwortjagd gab (z. B. Klopstock, s. Kirkness 1975, 54f.), war doch die Haltung der meisten Grammatiker, Lexikographen und Sprachpfleger vom Späthumanismus bis zur Spätaufklärung abwägend gemäßigt: gegen Sprachmengerey ebenso wie gegen übertriebene pauschale Fremdwortjagd. Der bedeutendste Fremdwortverdeutscher, Joachim Heinrich C a m p e , war keineswegs ein Nationalchauvinist, sondern wollte in demokratisch-volksaufklärerischer Absicht die Bildungs- und Offentlichkeitssprache den von höherer Bildung ausgeschlossenen Staatsbürgern leichter verständlich machen (s. Bd. II: 5 . 5 Q — W). So muß der weitere Begriff S p r a c h p u r i s m u s , der dem modernen umfassenden Begriff Sprachkritik nahekommt, nach Kirkness (in: BRS 290) begrifflich und historisch unterschieden werden vom engeren Begriff F r e m d w o r t p u r i s m u s , der somit für den seit der Napoleonzeit frühnationalistisch belebten, nach der Reichsgründung 1871 vereinspolitisch institutionalisierten ideologischen Kampf gegen sog. ,Fremdwörter' reserviert wird, zumal die Bezeichnung Fremdwort auch erst in dieser Zeit entstanden ist. Nachdem im älteren Sprachreinigungsdiskurs bis ins frühe 19. Jh. nur von fremdes/ ausländisches/undeutsches Wort, Welschwort usw. die Rede war, finden sich die beiden frühesten Belege für die Zusammensetzung Fremdwort 1816 und 1819 bei einem der Ideologen des frühen deutschen Nationalismus in der Napoleonzeit, Friedrich Ludwig Jahn, und bei dem Dichter Jean Paul: „Fremdwörter gehen als solche, und wenn sie hunderttausend Mal eingebürgert heißen, nie in Gut und Blut über. Ein Fremdwort bleibt immer ein Blendling ohne Zeugungskraft; es müßte dann sein Wesen wandeln und selber als Urlaut und Urwort gelten können. Ohne ein Urwort zu werden, läuft es als Aechter durch die Sprache" (F. L. Jahn/E. Eiselen, Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin 1816, S. X X I I ; zit. n. Kirkness 1975, 199). Über das erwünschte Schicksal der Fremdwörter: [daß] die aus unsern forttreibenden Wurzelwörtern aufgegangene Waldung die nur als Flugsame aufgekeimten Fremd-Wörter ersticken und verscbatten muß" (Jean Paul, Vorrede zu Hesperus 1819; zit. η. H. Paul, Dt. Wörterbuch, 9. Aufl. 1992). In beiden Erstbelegen wird Fremdwort bereits als Kampfwort kontextuell definiert; mit biologischer und rechtsgeschichtlicher Metaphorik wird bereits ,Ausgestoßensein' und ,Vertilgung' thematisiert, was für den (ebenfalls durch Jahn angeregten) rassistischen Diskurs in Deutschland typisch ist. In beiden Fällen wird die weitverbreitete, für den Fremdwortpurismus konstitutive traditionell-sprachwissenschaftliche Fiktion deutlich, Einflüsse aus anderen Sprachen ,kämen' irgendwie ,selbsttätig' nur von außen her in die deutsche Sprache, nicht durch Aneignungshandlungen Deutschsprachiger.
266
6.7. Fremdwortpurismus, Sprachpflege
Β. Die Geschichte des deutschen Fremdwortpurismus beginnt nach Alan Kirkness (in: BRS 290) mit einer " Ü b e r g a n g s p h a s e von etwa 1789 bis 1819", in der nach vollendeter Durchsetzung des Deutschen als Prestigesprache gegen Latein und Französisch in Rechtswesen, Wissenschaft und belletristischer Literatur das Problem der schriftsprachlichen Norm als gelöst und die Gefahr einer Existenzgefährdung des Deutschen als nicht mehr gegeben erschien, so daß viele an Sprachpflege und Sprachkultur Interessierte von der allgemeinen ,Sprachreinigung' zu spezielleren Aufgaben der Sprachkritik (vgl. 6.8) übergingen. Französische Revolution, Zusammenbruch des Alten Reiches und französische Besetzung deutschsprachiger Territorien förderten die Politisierung der ,Sprachreinigung' im Sinne des den alten Kultur- und Reichspatriotismus allmählich ablösenden deutschen Nationalismus, der ein S p r a c h n a t i o n a l i s m u s mit primärer Symbolfunktion von ,Sprache' (vor ,Staat' und ,Gesellschaft') war. Viele Sprachreiniger konzentrierten sich nun auf Wörter fremdsprachiger Herkunft, zumal die in der alten Sprachreinigung noch eine negative Rolle spielenden mundartlichen, veralteten und neuen Wörter durch Sturm und Drang, Romantik und Historismus jetzt eher positiv beurteilt wurden im Sinne einer „natürlich gewachsenen, reingebliebenen Sprache des Volkes" (Kirkness, a. a. O. 294). Diese schon recht emotionale sprachkritische Richtung zeigt sich schon 1801 in der Titelformulierung von Joachim Heinrich C a m p e s Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, mit dem er (vor allem in der 2. erweiterten Auflage 1813) trotz lebhafter Kritik doch auf die Dauer großen Einfluß auf den Fremdwortpurismus des 19. Jh. hatte (vgl. Bd. II: 5.5U—W). In bisherigen deutschen Fremdwörterbüchern hieß es meist im aufklärerischen Sinn „erklärend", noch nicht „verdeutschend" (Greule/Ahlvers-Liebel 1986, 21). Doch in der Zeit des nationalen Aufbruchs' gegen Napoleon blieb der Fremdwortpurismus „zwar ohne großes Echo in der breiten Öffentlichkeit, er wurde aber in akademisch gebildeten Kreisen, besonders in Berlin und Braunschweig, wie kaum ein anderes sprachwissenschaftliches Thema intensiv diskutiert" (Kirkness, in: BRS 294). Die alte kulturpatriotische Theorie der Unvermischtheit der deutschen Sprache und ihrer Überlegenheit über die romanischen Sprachen (vgl. Bd. II: 5.5B—D) blieb bei Herder und Fichte Teil des neuen Sprach-und Kulturnationalismus (Stockinger 1996). Die noch volksaufklärerische Zielsetzung (Verständlichmachung der Bildungssprache für Alle) verband sich bei C a m p e mit rationalistischer Radikalität: An eine Unterscheidung zwischen ,Fremdwort' und ,Lehnwort' dachte er nicht. Alles nicht innersprachlich Analoge, also alle nicht nach ihrer Wortbildungs-Motiviertheit durchsichtigen' Wörter galten ihm als durch Verdeutschung ersetzenswert, auch viele längst gemeinsprachlich bekannte Lehnwörter (vgl. Bd. II: 5.5U—W; Kirkness 1975, 139 ff.). — Franzosenhaß um nationaler Ideologiebildung willen gehörte zum Programm Ernst
BC: Romantisch-nationalistischer Fremdwortpurismus
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Moritz A r n d t s ; er erwog die Gründung einer Gesellschaft für die „Verbannung und Vertilgung der französischen Art und Sprache, Belebung und Erhaltung teutscher Art und teutschen Sinnes, Erweckung teutscher Kraft und Zucht" (zit. n. Olt 1991 b, 34). — Diesem frühen Nationalismus der antinapoleonischen Stimmung entsprach der Turnvater und Sprachfeger Friedrich Ludwig J a h n , der seinen auf niedrigem sprachwissenschaftlichem Niveau betriebenen Fremdwortpurismus „gleichsam als sprachlichen Befreiungskrieg in den Dienst der nationalen Erhebung gegen die französische Vorherrschaft stellte" (Kirkness, in: BRS 295): Er radikalisierte den Sprachnationalismus zum militanten, auslandsfeindlichen ethnischen Sprachdeterminismus; Volkstum verpflichte zur Sprachreinigung: „Doch müssen mit strengem Ernst und unerbittlicher Sprachpflege in Bann und Acht getan ewig verfolgt werden: ]ene Wälschworte, so Seelengift einschwärzen, unsere Grundansicht verdüstern, die Lebensverhältnisse verwirren, und durch andersartige, sittliche, rechtliche, und staatliche Begriffe das Deutschtum verunstalten, entstellen und schänden" (F. L. Jahn. Merke zum deutschen Volkstum. 1833; n. Kirkness 1975, 198). Wegen dieser ,Volksgeist' und ,Sprachgeist' identifizierenden Kampfhaltung lehnte Jahn auch Lehnübersetzungen ab, das seit dem Althochdeutschen bewährteste Mittel der Verdeutschungspraxis, und empfahl dafür Ersatz aus urdeutschen Quellen: Mundartwörter, neubelebte altdeutsche Wörter, Wörter aus Sondersprachen, Bedeutungswandel üblicher Wörter, sehr eigenwillige Neuwortbildungen aus indigenen Wortstämmen, ζ. B. Merke für Anmerkung, Nenne für Titel, Mangzeit für ,Zeit der Sprachmischung', gausässig für ,regional', Prahlplatz für Paradeplatz usw. Viel von seinen Verdeutschungen ist in der Sprache der Turnbewegung bis heute geblieben, ζ. B. Barren, Dauerlauf, Grätsche, Hantel, Reck, Riege, Schwebebalken, stabspringen (s. Kirkness 1975, 196 ff.; Bartz 1936; Trögel 1928; Olt 1 9 9 1 b , 3 4 f . ) : Den höfisch-mhd. Lehnwortstamm turn (Turnier) hielt er irrtümlich für ,urdeutsch' und bildete turnen, Turner, turnerisch, Turnwart usw.
C. Es gab in der Napoleonzeit und in der Restaurationszeit viele andere Fremdwortpuristen und entsprechende Sprachvereine in Deutschland, die aber meist eigenwillig, weltfremd und ohne feststellbaren Erfolg waren (s. Kirkness 1975; Olt 1991 b, 36 ff.). Seit den Karlsbader Beschlüssen (1819) galten solche Bestrebungen als aufruhrverdächtig. Im Vormärz regten sich wieder Versuche, mit Fremdwortpurismus einen Beitrag zur Nationalbewegung zu leisten, die aber wenig Erfolg hatten und in der Reaktionszeit der 1850er Jahre wieder in Vergessenheit gerieten. Bemerkenswert, als historisches Bindeglied zwischen Jahn und dem späteren Allgemeinen Deutschen Sprachverein, sind die Bemühungen des der Reformbewegung Deutschkatholizismus nahestehenden Heidelberger Priesters J. D. B r u g g e r (s. Kirkness 1975, 313 ff.): Seit 1844 engagierte er sich, mit seinem Verein für deutsche Reinsprache (1848—1865), mit seiner Zeitschrift Die deutsche Eiche (1850—51), mit Aufrufen sowie eigenen Vorträgen in Lesegesellschaften und Publikationen für den Fremdwortpurismus. Für das Ziel „deutsche Reinsprache" sollte durch Erziehung, Propaganda und offizielle Verbote allen „vaterländisch" Gesinnten zur Pflicht gemacht werden, „die Fremdwörter mit Kraft und Gewalt aus dem Heiligthume unserer Sprache hinauszujagen". Die Paulskirchen-Nationalversammlung (1848) hat seinen Antrag, man möge nur deutsche Wörter gebrauchen und alle Fremdwörter übersetzen, nicht behandelt. Der Verein hatte anfangs 477 Mitglieder (Ende 1848), später
268
6.7. Fremdwortpurismus, Sprachpflege
etwa 2 5 0 0 (1861) in 7 2 Bezirken in allen deutschsprachigen Territorien, Zweigstellen in Frankfurt und Darmstadt. Nach dem T o d e Bruggers (1865) löste er sich auf. — Z u anderen Sprachvereinen der ersten Jahrhunderthälfte in Berlin, Potsdam, Frankfurt, Nürnberg s. Kirkness 1 9 7 5 , 2 3 7 ff., 2 4 8 ff., 2 9 6 ff., 3 4 2 ff.; Greule/Ahlvers-Liebel 1 9 8 6 , 27 ff.!
Da sich die fremdwortpuristischen Bestrebungen immer einseitiger auf die pauschale Verdrängung aller Fremdwörter um ihrer selbst und nationalistischer Ideologisierung willen beschränkten (von älteren Motiven war immer weniger die Rede), stießen diese dilettantischen und politisch extremistischen Aktivitäten bei den allermeisten G e r m a n i s t e n auf Ablehnung. Jacob Grimm äußerte sich in seiner Berliner Akademierede Über das Pedantische in der deutschen Sprache (1847) abfällig: „Deutschland pflegt einen schwärm von puristen zu erzeugen, die sich gleich fliegen an den rand unserer spräche setzen und mit dünnen fühlhörnern sie betasten" (vgl. 6.8C). In den p o l i t i s c h e n Vereinen und werdenden Parteien seit 1848, die konkrete sozialökonomische und/oder demokratische Ziele hatten (ζ. B. Arbeiterbewegung, Liberale) bestand kein Bedürfnis nach einer solchen den Erfordernissen der Industriegesellschaft wirklichkeitsfremd fernstehenden politischen Ersatzideologie. Fremdwortschatz und internationale Sprachbeziehungen waren Teil dessen, worauf man politischen Einfluß erstrebte und erkämpfte. Auch der demokratische Journalismus „läßt sich vom privilegierten Puristen nicht gängeln. Nur einer kann jetzt Purist sein [...] der denkende Journalist an tonangebenden Blättern" (Ferdinand Kürnberger, Sprache und Zeitungen 1866/77; n. Dieckmann 1989 a, 315; vgl. 6.8F). D. In seiner Höhepunktsphase, von der R e i c h s g r ü n d u n g (1871) ausgelöst, wurde der deutsche Fremdwortpurismus staatlich und halboffiziell i n s t i t u t i o n a l i s i e r t (Kirkness 1975, 360ff.; in: BRS 296ff.; Greule/Ahlvers-Liebel 1986, 29ff.): Nachdem einzelne Ansätze zur offiziellen Fremdwortverdeutschung vorher in Heer, Verwaltung, Justiz wenig Erfolg und Breitenwirkung gehabt hatten, gab die Notwendigkeit, für den neugegründeten Nationalstaat neue, vereinheitlichende Verordnungen für den Sprachgebrauch in Behörden zu erlassen, Gelegenheit zur Durchsetzung staatlicher Sprachregelungen. So wie die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung (s. 6.6H—K) durch die Reichsgründung vorangetrieben wurde, so hatte diese neuartige Staatsgründung auch umfangreiche behördliche Fremdwortverdeutschungen zur Folge, die wiederum wegen Nichtbeteiligung der Schweiz, Österreichs und Luxemburgs die Zahl der sprachlichen Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Staaten im öffentlichen Wortschatz vermehrte, also Merkmale einer neuen staatlichen Varietät,Reichsdeutsch' entstehen ließ (vgl. 6 . 1 1 H - J ) .
D — I: Reichsnationalistische Politisierung
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Der später (1887) zum ersten Ehrenmitglied des Sprachvereins ernannte Generalpostmeister Heinrich v. S t e p h a n ließ im Auftrag des Reichskanzlers bei der Neubearbeitung der P o s t o r d n u n g des Reiches zahlreiche ,Fremdwörter' durch Verdeutschungen ersetzen, in der ersten Verordnung (1874) etwa 65, in der zweiten (1875) über 700. Die Postbeamten wurden angewiesen, im dienstlichen Verkehr nur noch die Verdeutschungen zu benutzen (Kirkness 1975, 362ff.): z.B. [Brieflumschlag (Couvert), durch Eilboten (per express), Einschreiben (recommandiert), Fahrschein (Passagierbillet), Postkarte (Correspondenzkarte), postlagernd (poste restante), Rückschein (Retour-Recepisse), Fernsprecher (Telefon)). Entsprechende Verdeutschungen setzten sich seit dem Krieg 1870/71 auch in der Heeressprache durch, später auch vom Kaiser unterstützt (Kirkness 1975, 363 ff.): z. B. Fahnenjunker (Offizier-Aspirant), Oberleutnant (Premier-lieutenant), Dienstgrad (Charge), Beförderung (Avancement), Dienstalter (Anciennität). Durch die Arbeit des Ausschusses für das Bürgerliche Gesetzbuch sind seit 1871 in G e s e t z e n und V e r o r d n u n g e n zahlreiche Rechts- und Verwaltungstermini verdeutscht worden, z. B. Abschrift (Kopie), Reinschrift (Mundum), Ruhegehalt (Pension), Urschrift (Original), Zustellungsurkunde (Insinuations-Dokument). Im Bereich des B a u w e s e n s und der E i s e n b a h n setzte sich der Oberbaurat Otto S a r r a z i n (1900—1921 Vorsitzender des Sprachvereins) in seiner Zeitschrift, dem Sprachrohr des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten in Preußen, wiederholt für Verdeutschungen ein, was zwischen 1886 und 1893 mit fast 1300 Fachtermini dieses Bereichs durch den Ausschuß des Verbandes deutscher Architekten- und IngenieurVereine realisiert wurde (Kirkness 1975, 366 f.): z. B. Schranke (Barriere), Gang (Korridor), Fahrrad (Velo), Abteil (Coupé), Bahnsteig (Perron), Nebenbahn (Sekundärbahn), Stellwerk (Signalhäuschen), Rückfahrkarte (Retourbillet).
Gegen die behördlichen Verdeutschungen regte sich vereinzelt grundsätzlicher Widerstand, der aber nicht wirksam wurde wegen der öffentlichen Protektion der Fremdwortverdeutschung durch Fürstlichkeiten, Regierungen, Landtage, Stadtverwaltungen, Synoden usw. (Kirkness 1975, 367ff.). Im Allgemeinen haben die behördlichen Sprachregelungen über den Amtsgebrauch hinaus stark auf den allgemeinen Sprachgebrauch im Reichsgebiet gewirkt und sind großenteils bis heute in Gebrauch geblieben. Allerdings hat sich in manchen Fällen eine ungewollte Differenzierung zwischen amtlichem und privatem Gebrauch ergeben, z. B. bei Fernsprecher /Telefon, Anschrift/ Adresse, Postwertzeichen/Briefmarke, Kraftfahrzeug/Auto(mobil) usw. Viele der alten ,Fremdwörter' sind in Österreich und/oder der Schweiz noch heute in Gebrauch (z. B. Kupee, Kuvert, Perron, Retourbillet, Waggon, Velo usw.), obwohl reichsdeutscher Spracheinfluß und (in Österreich) eigene Verdeutschungen den Unterschied bis heute zunehmend verringert haben. E. Der Erfolg amtlicher Fremdwortverdeutschung wurde vor allem von einer halboffiziellen ideologischen Bewegung gefördert, die durch den deutsch-französischen Krieg 1870/71 ausgelöst wurde. Er endete mit einer deutschen Siegeseuphorie, die sich als antifranzösische Propagie-
270
6.7. Fremdwortpurismus, Sprachpflege
rung eines neuartigen R e i c h s n a t i o n a l i s m u s fortsetzte, der über das bisherige kulturell oder territorial orientierte deutsche Nationalbewußtsein hinausging. Die Preußen, Sachsen, Bayern usw. sollten sich jetzt an den neuen ,Nationalstaat' als Vaterland gewöhnen, für den man gegen das alte landesfürstliche Untertanen-Bewußtsein ebenso wie gegen ein neues demokratisches Staatsbürgerbewußtsein im Geist von 1848 eine neue Legitimationsbasis brauchte. Für dieses ideologische Unternehmen waren Verehrungssymbole (politische Miranda) wie Fahnen, Uniformen, Denkmäler, Flotte, Feiern und Umzüge ebenso wie ,Feind'-Bilder {Reich s feinde) sehr hilfreich und nützlich: Franzosen, Elsässer, Dänen, Polen, Engländer, Katholiken, Juden, Sozialdemokraten usw., und so auch zu bekämpfende Fremdwörter, besonders seit der „konservativen Wende von 1 8 7 6 " (Wehler; s. 6 . 1 M , 6.4.1): So fügt sich der den Fremdwortpurismus ideologisch und praktisch vorantreibende Allgemeine deutsche Sprachverein zusammen mit anderen radikalnationalistischen Vereinen der Bismarckzeit sinnvoll in die politische Ideologiegeschichte des kleindeutschen Reiches ein. Abgesehen von manchen sonstigen Themen und Aktivitäten, von inneren Gegensätzen zwischen Gemäßigten und Radikalen (s. Bernsmeier 1977; Olt 1 9 9 1 b ) , waren die radikalen Ziele des Sprachvereins dominierend: — Trotz der ab und zu thematisierten Vielfalt von Sprachpflege' konzentrierte sich der Verein immer wieder und zunehmend auf den Fremdwortpurismus. — Von den traditionellen Motiven für Fremdwort-Ersatz wurde das volksaufklärerische (bessere Verständlichkeit auch für weniger Gebildete) nur noch selten erwähnt, oft ausdrücklich ausgeschlossen, sprachwissenschaftliche Prinzipien und Grundkenntnisse beiseitegelassen und dafür das nationalpolitische Ziel als „nationalerzieh erischesii ganz in den Vordergrund gestellt, zusammen mit wiederholtem Anspruch auf staatliches Eingreifen. — Innerhalb des Fremdwortpurismus konzentrierte sich die Vereinsarbeit vor allem auf Französisches, später auch auf Englisches, in der NS-Zeit auch auf Jüdisch-Hebräisches. — Trotz häufiger Erklärungen und Dementis über maßvolles, differenziertes Vorgehen wurde der Unterschied zwischen zu ersetzendem Fremdwort und unentbehrlichem Lehnwort zwar postuliert, aber niemals definitorisch geklärt oder auch nur diskutiert, so daß Zweigvereine oft über die gleichen Sachgebiete völlig unterschiedliche Listen von Verdeutschungen, ζ. T. mit ganz unakzeptablen, vorlegten (Bernsmeier 1977, 395). — Über der Fremdwort-Jagd an der Oberfläche der Sprache (Ausdrucksseite) wurde der viel größere innere Lehneinfluß auf den ,Geist' der deutschen Sprache seit dem Frühmittelalter völlig ignoriert.
D —I: Reichsnationalistische Politisierung
271
— Sprache wurde abstrakt als zu verteidigendes Denkmal, Schatzhaus, Heiligtum, eben als Nationalsymbol verstanden; alle dagegen angeblich verstoßenden Bedürfnisse und Sprachgebräuche der Sprechenden/Schreibenden wurden moralisch verworfen, von Sittenverfall bis Verbrechen. Damit war die vom Sprachverein behauptete Anknüpfung an und Berufung auf die späthumanistisch-barocken Sprachgesellschaften und auf Grammatiker und Lexikographen von Schottelius bis Campe (s. Bd. II: 5.5) nur eine politisch-ideologische Legitimationsfiktion vom extremistischen Standpunkt sprachwissenschaftlicher und sprachgeschichtlicher Dilettanten. Sie projizierten ihre radikalnationalistisch-antifranzösischen Ziele auf diese vermeintlichen Vorgänger zurück und beachteten nicht, daß sie im Unterschied zur Frühgeschichte der ,Sprachreinigung' von einer etablierten nationalen Schriftsprache bereits ausgehen konnten, sie nicht erst zu entwickeln hatten (H. Blume 1991).
F. Die Gründung des Sprachvereins ging von dem Kunsthistoriker Hermann R i e g e l aus, der von 1871 bis zu seinem Tode in Braunschweig Direktor des Herzoglichen Museums und Professor für Geschichte der Baukunst war (Kirkness 1975, 369ff.; Bernsmeier 1977). Riegel war, geprägt vom Schicksal seines von französischer Besatzung geschädigten, einst revolutionsbegeisterten südbadischen Vaters, nach dem Zeugnis seiner handschriftlichen Memoiren lebenslang Radikalnationalist mit aggressiver antifranzösischer, ausländerfeindlicher, großpreußischer, germanophiler Gesinnung (H. Blume 1998). Er hatte raschen Erfolg als radikaler Wortführer und Organisator des Fremdwortpurismus in Deutschland mit seiner Schrift Ein Hauptstück von unserer Muttersprache. Mahnruf an alle national gesinnten Deutschen (1883) und seinem Aufruf zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (1885), mit den beiden Leitsprüchen „Gedenke auch, wenn du die deutsche Sprache sprichst, daß du ein Deutscher bist" und „Kein Fremdwort für das, was deutsch gut ausgedrückt werden kann". In beiden Schriften waren konkretere Forderungen enthalten: „ H i l f e des Staates" zur Einwirkung auf die Sprache der von ihm beeinflußten Institutionen, entsprechende Spracherziehung in der Schule, Gründung einer „Akademie der deutschen Sprache von Reichswegen". Die (erst später realisierte) menschenverfolgende Radikalität wurde bereits in Riegels Hauptstück deutlich als Wunsch formuliert: „O, könnte man doch die Sprachwälscher und Sprachfälscher mit Geldbußen, Gefängniß und Vernichtung ihres Machwerkes bestrafen, wie die Fälscher von Nahrungsmitteln und Getränken! Verdient hätten sie es reichlich. Denn ihr Verbrechen an dem nationalen Gute des deutschen Volkes ist wahrlich viel größer und folgenschwerer als das der Butterund Bierfälscher an der Gesundheit einiger Bevölkerungskreise" (zit. n. G. Simon 1986a, 83).
G. Der Allgemeine Deutsche Sprachverein als Gesamtverein hat vielfältige Aktivitäten unternommen (Dunger 1910; Steuernagel 1926; Kirkness
Ill
6 . 7 . Fremdwortpurismus, Sprachpflege
1975, 360ff.; Bernsmeier 1977): Preisausschreiben, Aufrufe, Eingaben bei Behörden, seit 1889 eine eigene Vereins-Zeitschrift (ab 1925 Muttersprache) mit allgemeinverständlichen, auch praxisbezogenen Beiträgen, mit Sprachhilfe und Briefkasten, Zeitungsschau, kurzen Mitteilungen und Hinweisen „zur Schärfung des Sprachgefühls", seit 1891 auch Wissenschaftliche Beihefte in zwangloser Folge mit mehr wissenschaftlichen, ζ. T. sprachgeschichtlichen Arbeiten. Seit 1903 versandte der Verein an Zeitungen im ganzen deutschen Sprachgebiet Aufsätze und Sprachecken (1916 in 2.900 Zeitungen). Von Behörden wurde der Sprachverein öfters um Beratung gebeten für die Formulierung oder Neufassung von Schriften und Verordnungen auf vielen Gebieten. Er gab Verdeutschungsbücher heraus für die Sachbereiche Speisekarte, Handel, häusliches und geselliges Leben, Namengebung, Amtssprache, Berg- und Hüttenwesen, Schule, Ärzte und Apotheken, Tonkunst, Sport, Versicherungswesen, Buchgewerbe (Greule/Ahlvers-Liebel 1986, 30). Die große Wirkung des ADSV ist nach Herbert Blume (1998) weniger im Erfolg bestimmter Verdeutschungen, mehr in der allgemeinen Verbreitung deutschtümelnder Gesinnung zu sehen. Im Bereich des S c h u l u n t e r r i c h t s wurden ζ. B. folgende Verdeutschungen bis in
die 30er Jahre, ζ. T. bis heute üblich: Beugung (Konjugation, Deklination), Bücherei (Bibliothek), Erdkunde (Geographie), Fürwort (Pronomen), Geschlechtswort (Artikel), Gliederung (Disposition), Mitlaut (Konsonant), Keifeprüfung (Abitur), Satzgegenstand (Subjekt), Schrifttum (Literatur), Selbstlaut (Vokal), Versuch (Experiment), wahlfrei (nicht obligatorisch), wiederholen (repetieren), usw. (Steuernagel 1 9 2 6 , 48 ff.).
Den ersten Zweigverein gründete 1885 Hermann D u n g e r , ein als Fremdwortverdeutscher gemäßigter, sachkundiger Germanistikprofessor, in Dresden. 1886 wurde Riegel in der ersten Ausschußsitzung des Gesamtvereins zum Vorsitzenden und Schriftleiter gewählt. In der Satzung wurde der nationalpolitische Zweck des Vereins eher zurückhaltend formuliert: „[...] die Reinigung der deutschen Sprache von unnöthigen fremden Bestandteilen zu fördern, die Erhaltung und Wiederherstellung des echten Geistes und eigenthümlichen Wesens der deutschen Sprache zu pflegen — und auf diese Weise das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen." D e r Gesamtverein hatte zu Anfang 91 Zweigvereine mit 6 . 5 0 0 Mitgliedern, 1 9 1 5 : 3 2 7 Zweigvereine mit 3 7 . 7 9 0 Mitgliedern; der größte Z u w a c h s lag zwischen 1 8 9 4 und 1 9 0 5 , mit H ö h e p u n k t 1 9 1 9 ; die Mitglieder setzten sich 1 8 9 0 zusammen aus 5 4 , 6 % Handel und Gewerbe, 2 0 , 8 % Lehrer und Hochschullehrer, 7 , 5 % Behörden, 7 , 5 % T e c h n i k / B a u w e s e n , 6 , 7 % Juristen, 4 , 2 % Mediziner, 3 , 3 % Militär, 2 , 8 % Buchhandel, Druckgewerbe, 2 , 2 % T h e o l o g e n , usw. und nur 1 , 8 % Journalisten, Schriftsteller, Künstler, nur 2 , 5 % Frauen (Hillen 1 9 8 2 , 3 3 f.). Unter den Beitragsverfassern der Sprachvereinszeitschrift ( 1 8 8 5 - 1 9 4 3 ) dominierten natürlich die akademisch Gebildeten: 7 5 % waren Promovierte, 3 3 , 8 % Lehrer, 1 9 , 4 % Juristen, 1 0 , 3 % Philologen (Hil-
273
D —I: Reichsnationalistische Politisierung
len 1982, 83). — Zu deutschschweizerischen Sprachvereinen s. 6.12UV! — Die Breitenwirkung des Sprachvereins (auch im Ausland bei Auslandsdeutschen) war in der wilhelminischen Zeit bedeutend: Andere Vereine, Firmen, Lehrerseminare, Einzelpersonen machten Preisausschreiben, forderten einen „SprachSchutzzoll" oder kassierten in internen Gruppen Geldstrafen in Höhe von 5 Pfennigen für den Gebrauch eines Fremdworts, wovon ein Rettungsboot für die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gestiftet wurde. Es gab eine Fülle von Aufsätzen in Zeitungen und Zeitschriften, Flugschriften, Verdeutschungswörterbüchern usw. (Kirkness 1975, 372ff.). Eine örtliche Fallstudie über den Zweigverein Darmstadt (Olt 1991) zeigt, daß der Allgemeine deutsche Sprachverein im Ganzen nicht autoritär-zentralistisch arbeitete. In den Zweigvereinen, die manchmal ein gespanntes Verhältnis zum Gesamtvereinsvorstand hatten, ging man auch eigene Wege. Die Darmstädter/ beschäftigten sich, neben der Hauptaufgabe der Fremdwortverdeutschung, auch m-it anderen Bereichen von Sprachpflege: Fachsprachen, Rechtschreibung, Eigennamen, Aussprache, Abkürzungen, Mundart, schwülstiger Satzbaustil, übermäßige Substantivierungen, Schriftarten usw.; sie waren nicht so sehr wie der Gesamtverein auf nationalstaatlichen Einfluß aus, sondern übten sich auch in provinzieller Vereins-Demokratie, ζ. B. durch Streit mit Presse, Behörden und großherzoglichem Hof, hatten (mit über die Hälfte Lehrern als Mitgliedern) aber ein gutes Verhältnis zur Schule als „Multiplikator"Institution (Olt 1991). — Als hintergründige Motivation für den Fremdwortpurismus des ADSV sieht Herbert Blume (1998) einen „Korrekturversuch innerhalb der bildungssprachlichen Zielsetzungen des deutschen Bürgertums" gegen „seinen freudigdemonstrativ betriebenen Umgang" mit als Sozialsymbole zur Schau gestellten altsprachlichen und vor allem französischen Wörtern, Floskeln und Zitaten aufgrund des philologisierten Fremdsprachenunterrichts im Gymnasium (vgl. 6.5J). H . D i e Beteiligung d e r U n i v e r s i t ä t s g e r m a n i s t e n a r / d e r f r e m d w o r t p u r i s t i s c h e n B e w e g u n g u n d an d e n A k t i v i t ä t e n des S p r a c h v e r e i n s
war
relativ z u r ü c k h a l t e n d , vielfach a b l e h n e n d , o b w o h l eine g e w i s s e s p r a c h puristische Einstellung v o m alten Kulturpatriotismus und v o n der R o m a n t i k h e r w e i t v e r b r e i t e t w a r u n d sich ζ. B . im A u f b a u v o n W o r t b i l d u n g s l e h r e n ä u ß e r t e ( L e h n s u f f i x e u n d - p r ä f i x e , w e n n ü b e r h a u p t , n u r als A n h a n g ) , o d e r in d e r t r a d i t i o n e l l e n g e r m a n i s t i s c h e n L e x i k o g r p a h i e ,
wo
(ζ. B . im G r i m m s c h e n , T r ü b n e r s c h e n o d e r a l t e n P a u l s c h e n W ö r t e r b u c h ) , F r e m d w ö r t e r ' u n d s o g a r sehr ü b l i c h e L e h n w ö r t e r , F a c h w ö r t e r , sche W ö r t e r weitgehend a u s g e k l a m m e r t und den überlassen wurden. Eine direkte Z u s a m m e n a r b e i t leuten,
Oberlehrern,
Beamten, Amtsrichtern,
politi-
Fremdwörterbüchern mit den
Postdirektoren
Geschäftsusw.
des
S p r a c h v e r e i n s , die d o r t die g r o ß e M e h r h e i t d e r M i t g l i e d e r bildeten, k a m für die G e r m a n i s t e n k a u m in B e t r a c h t . E i n i g e (ζ. B. F r i e d r i c h
Kluge,
O t t o B e h a g h e l , W i l h e l m W i l m a n n s , T h e o d o r Siebs, A l f r e d G ö t z e ) hielten a b e r F e s t v o r t r ä g e a u f d e n J a h r e s v e r s a m m l u n g e n und in Z w e i g v e r e i n e n o d e r s c h r i e b e n f a c h k u n d i g e A u f s ä t z e in den Wissenschaftlichen
Beihef-
ten des S p r a c h v e r e i n s , a b e r n i c h t im d i r e k t e n Z u s a m m e n h a n g mit seinen p r a k t i s c h e n T ä t i g k e i t e n . E i n i g e e n t s c h i e d e n e G e g n e r des S p r a c h v e r e i n s (ζ. B . E r i c h S c h m i d t , G u s t a v R o e t h e ) w a r e n j e d o c h , z u s a m m e n mit a n d e -
274
6.7. Fremdwortpurismus, Sprachpflege
ren G e l e h r t e n u n d Schriftstellern (ζ. B . F o n t a n e , F r e y t a g , W i l d e n b r u c h ) u n t e r d e n 4 1 U n t e r z e i c h n e r n einer Erklärung die 1 8 8 9 in d e n Preußischen
gegen den Sprachverein,
e r s c h i e n ; w e g e n d e r s c h o n ge-
Jahrbüchern
festigten ö f f e n t l i c h e n R e s o n a n z des S p r a c h v e r e i n s h a t t e sie a b e r e b e n s o w e n i g E r f o l g w i e d e r n a c h l a s s e n d e s o n s t i g e W i d e r s t a n d gegen d e n i m m e r chauvinistischer
werdenden
Wilhelminismus
(Kirkness
1975,
3 8 6 ff.;
B e r n s m e i e r 1 9 7 7 , 3 9 0 ff.; G . S i m o n 1 9 8 6 a , 8 9 f.). Dieser professionelle Protest wurde provoziert durch eine Eingabe des Sprachvereins 1888/89 an den preußischen Kultusminister und an die Schulverwaltungen der meisten Bundesländer, in der ersucht wurde, die Lehrer an den Schulen auf die Bestrebungen des Vereins hinzuweisen und ihnen „nationale Erziehung" der Jugend im Sinne der Fremdwortersetzung zu empfehlen. Die 41 Unterzeichner verwahrten sich dagegen, daß „Sprachbehörden", „Reichssprachämter und Reichssprachmeister" mit Sprachregelungen „von oben" durch „staatliche Autorität", aufgrund der „hebenden Geschäftigkeit der Puristen, die nach Jacob Grimms Wort in der Oberfläche der Sprache herumreuten und wühlen", einen „Vernichtungskrieg gegen das Fremdwort" führen und daß dies „zum Gebot des Nationalstolzes erhoben" werde, wobei „durch sprach- und sinnwidrige Schnellprägung von Ersatzwörtern Schaden angerichtet und Unwillen herausgefordert" werde. Sie beriefen sich dabei auf das „gute Recht unserer führenden Schriftsteller, die ihre Worte mit Bedacht wählen", und „auf Grund der deutschen und ausländischen Erfahrungen mancher Jahrhunderte solche Bevormundung entschieden zurückweisen", auf die „Entwicklung und Bedürfnisse der weltbürgerlichen Aneignungsfähigkeit und der nationalen Widerstandskraft [...] unserer durch die Freiheit gedeihende Sprache", die „nach jeder Hochflut von Fremdwörtern allmälig das ihrem Geist Fremde wieder ausgeschieden, aber die Wortbilder neuer Begriffe als bereichernden Gewinn festgehalten" habe. Zu den Initiatoren der Erklärung gehörten als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher die Historiker Heinrich v. Treitschke und Hans Delbrück. Bei Treitschke erscheint es von der Sache her schwer verständlich, daß dieser ,Chefideologe' des Wilhelminismus, der sich durchaus heftig gegen „französische Verbildung", „verwälschte Sprache" und „Sprachmengerei" geäußert (Bernsmeier 1977, 392) und 1879 die radikale Politisierung des Antisemitismus ebenfalls in den Preußischen Jahrbüchern propagandistisch eingeleitet hatte (s. 6 . I M ) , zu den Gegnern der radikalnationalistischen Tätigkeit des Sprachvereins gehörte. Dies kann wohl nur aus politischer Konkurrenz erklärt werden: Näher an der Macht stehende akademische Professionelle duldeten offenbar nicht den staatlichen Einfluß eines Dilettantenvereins, zumal Vereine im staatsautoritären Bismarckreich als nützliche quasidemokratische Zutat nur geduldet waren, aber als zu bremsende Bewegung ,νοη unten' galten. Einige Unterzeichner haben sich später von ihrer Beteiligung an der Erklärung distanziert. I. B e i m A u s b r u c h u n d w ä h r e n d d e s E r s t e n W e l t k r i e g e s s t e i g e r t e sich der Sprachpurismus
des Allgemeinen
Anhänger und Sympathisanten
deutschen
Sprachvereins,
seiner
zu i m m e r d r ä n g e n d e r e n E i n g a b e n
bei
R e g i e r u n g s s t e l l e n , zu ö f f e n t l i c h e r A g i t a t i o n , a u f l o k a l e r E b e n e a u c h zu menschenverfolgenden
Aktionen,
nicht
nur
in
Elsaß-Lothringen
(s.
6 . 4 . I D — G ) , s o d a ß sich d a s p r e u ß i s c h e I n n e n m i n i s t e r i u m in e i n e m E r l a ß ( 1 9 1 6 ) , d e m a n d e r e B u n d e s l ä n d e r f o l g t e n , b e s c h w i c h t i g e n d „unter
Ab-
275
D —I: Reichsnationalistische Politisierung
ig. Japtgang Hi. 9.
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bíe geben
Xiei © e l b ift ber S í u t j e f j n t e , ber » o n b e m Çetb beò G o l f e é g e ' nommen w i r b . E i n 7 0 0 , 0 0 0 2Jlenfd)ert f d j n r i ç e n , fiôtjnen u n b tjungèrn b a f i i r . 3 m S î a m e n beé © t a a t e é w i r b ei e r p r e g t , bie T r e f f e r b e r u f e n ltd) a u f bíe ^Regierung u n b bie R e g i e r u n g j a g t , b a $ j e p n o t i n g bie O r b n u n g t m © t a a t j u erhalten. 2 S a é ifl b e n n nuit b a é f u r geroalti» geé 3 > i n g : b e r © t a a t ? SSofynt eine S t n j a b í S K e n f é e n i n einem 8 a n b u n b eä jínb S e r o r b n u n g e n ober © e f e $ e » o r b a n b e u , nari) benen jeber (ici) richten m u g , fo f a g t m a n , fíe 6tlben einen © t a a t . 3 ) e r © t a a t a l f o flnb « l i e ; bie O r b n e r i m S t a a t e finb bie © e f e & e , burd» » e l d j e b a ¿ 3 3 o f > l ? í í l e r gejídjert w i r b , u n b bie a u é b e m Ï Ï B o ' ^ i S i l i e r l ) e r » o r g e h e u f o l i e n . — @ e f ) t n u n , m a é m a n in bem © r o g b e r | o g t l ) u m a u é bem © t a a t gemacht ^ a t ; fel)t » a ö e i ^ e i g t : bie O r b n u n g i m © t a a t e e r h a l t e n ! Flugschrift von Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig Seite 1 der ersten Fassung, mit Weglassung der Aufstellung der einzelnen Abgaben an den Staat (Hessisches Staatsarchiv Marburg)
DE: Restaurationszeit, Vormärz
529
weise angesprochen werden sollten, vor allem die Bauern und die ländliche Bevölkerung. Trotz scharfer Verfolgung und Auflösung dieser vorsozialistisch-basisdemokratischen Bewegung und umfangreicher Beschlagnahme (bzw. vor Verfolgung schützender Ablieferung von Exemplaren) dieser Flugschrift ist doch mit einer bei Freund und Feind aufsehenerregenden Wirkung dieser von den Behörden als hochverräterisch und unzweifelhaft revolutionär eingeschätzten Schrift zu rechnen; sie wurde später zum frühsozialistischen Lektürekanon gerechnet (Schaub 1976, 142 ff.). Der Formulierungsstil ist geprägt von einer wohlüberlegten, zweckangemessenen Anlehnung an die antike Rhetorik der Parteirede und von Büchners (in seiner Schülerund Studienzeit gerühmten) Rednergabe und -praxis (Schaub 1976, 153 ff.): in alternierender Mischung aus sachlicher Belehrung (docere) und emotionalem Adressatenbezug {movere), mit harten Übergängen zwischen hoher und niedriger Stilebene, Predigtton, scharfer Polemik und Persuasion, mit einfachem, meist parataktischem Satzbau, Stilfiguren der Wiederholung, Parallelisierung und Gegenüberstellung, rhetorischen Fragen, Ironisierungen. Mit stark expressivem, volksnahem Wortschatz wird die inhaltliche narratio (Schilderung der absolutistischen Knechtschaft, mit Angaben über Steuereinnahmen des fürstlichen Hofes) in den Predigtstil eingebettet — die für die ländliche Unterschicht damals noch einzig gewohnte Art persuasiver Sprache —, der immer wiederkehrt mit Bibelzitaten und Redewendungen wie der Allmächtige, Furcht des Herrn, Paradies, sehet, Dornenkrone, Gesalbte des Herrn, Heerde, Hirten, Götzendienst, Reich der Finsterniß, ... Nur wenige positive politische Schlüsselwörter kommen vor, aber mit Erklärungen: Wahrheit, Freiheit, Menschenrechte, Freistaat, das Wohl Aller, der Wille Aller, Gewählte, Volksfreunde. Problematisiert werden: Staat, Ordnung, Gesetze, Verfassung, Justiz. Die Gegner werden volkstümlich-emotional benannt: Tyrannen, Presser, Schinder, der Blutzehnte, Knechtschaft, Volksverräter und feige Memmen, ... Die kritisierten Zustände, zu deren revolutionärer Beseitigung aufgerufen wird, werden meist volkstümlich metaphorisch oder metonymisch benannt: Hütten, Pallaste, Gewürm, Dünger, Henkerskrallen, Raubgeyer, Hure, Schweiß, Schwielen, ... — Dem Textanfang wurden praktische Vorsichtsmaßregeln für die von Verfolgung und Bestrafung bedrohten Leser vorangestellt. An Setzfehlern erkennt man die hastige Art des heimlichen Druckvorgangs in der politischen Dunkelheit der Metternichzeit. In der (nur teilweise überlieferten) Flugschriftenliteratur des Vormärz, meist von Akademikern kleinbürgerlicher oder mittelständischer Herkunft verfaßt, finden sich neben moderneren Textsorten wie Bekanntmachung, Dokumentation altbewährte Muster, die schon in der Agitation der ,Bauernkriegs'-Zeit und der Französischen Revolution üblich waren (vgl. Bd. I: 4 . 8 K - N , Bd. II: 5 . 1 2 S - U ) : Versammlungsbeschlüsse, Statuten, Aufrufe, Dialoge, Predigt- und Gebetsparodien (D. Wolf 1983). Typische Konsequenzen der rigorosen Unterdrückung der Meinungsfreiheit waren s a t i r i s c h e K u r z t e x t e , die im Gewand altgewohnter Sprachrituale ein scheinbares Lob der herrschenden Verhältnisse auf ironische Weise mit entlarvenden Konkretisierungen kombinieren, so in einem parodierten Vaterunser (n. Wolf 1983, 164): Unser Landesvater, der du bist in der Residenz, Hochgeehrt sei dein Name; Zu uns komme dein Steuereinnehmer;
530
6 . 1 6 . Politische Sprache Dein Wille geschehe also auch in der Unser trockenes Vergiß uns unsere
wie in der ersten
Kammer
zweiten; Brod laß uns
heute;
Forderungen
wie auch wir vergessen
deine
Versprechungen.
F. In der sich steigernden Emotionalisierung des allgemeinen politischen Bewußtseins bis zur M ä r z r e v o l u t i o n 1 8 4 8 spielte das gemeinsame Singen p o l i t i s c h e r L i e d e r eine bedeutende Rolle (Reisner 1975; Hinderer 1978). Mit dieser poetisch-musikalischen Verpackung politischer Inhalte in eine Form, deren gruppenstabilisierende Funktion von Kirchen- und Volksliedern, auch Arbeitsliedern her vertraut war, machte man nicht nur aus der Not der restaurationszeitlichen Öffentlichkeitsverhinderung eine Tugend; sie war auch eine bewußte zeittypische „Literarisierung" politischer Kommunikation durch bekannte und weniger bekannte Dichter, als „gleichzeitiger Ausdruck der beiden zentralen kulturhistorischen Erscheinungen Lyrikbegeisterung und politisches Engagement" (Kämper-Jensen 1989, 199). Über das vormärzliche Motiv der leichteren Versteckbarkeit kritischer Aussagen (gegenüber dem konfiszierbaren Flugblatt) hinaus konnte man durch Liedersingen eine Gruppe, ja auch zufällig Anwesende durch Mitmachen und Weiterverbreitung zur Solidarisierung bringen. Fast die Hälfte der von Heidrun Kämper-Jensen (1989) untersuchten und abgedruckten politischen Lieder von 1848 enthält K e h r r e i m e , also Liedteile zum Mitsingen fürs Publikum und zum auswendigen Reproduzieren, von Liedschlüssen aus wenigen Wörtern bis zu Refrains aus mehreren Versen, ζ. T. nach jeder Strophe erweitert. Teilweise sind diese Kollektivtexte ideologische Parolen, ähnlich wie in späteren Zeiten getragene oder aufgehängte Spruchbänder: Die Revolution! Die deutsche Republik! Der Freiheit eine Gasse! Es sei ein Bund des Volkes und nicht ein Fürstenbund! Teilweise sind sie Klagen über soziale N o t : ... wie thut der Hunger weh! Wir weben, weben, weben (Heine), teilweise rein emotionale Kampfaufrufe: Trotz alledem! Knüppel aus dem Sack! Auf zum Sturme! Und wollen endlich hassen! Eisen, Eisen bricht die Noth.'; geradezu hymnisch mit Anspielung auf die Farben der Revolutionäre: Pulver ist schwarz, Blut ist rot, golden flackert die Flamme! (Freiligrath). — Z u m politisch-fatalistischen Sprichwörtergebrauch im Vormärz s. 6 . 9 X !
Die Märzrevolution 1848, angeregt vom Pariser Vorbild, stellte ziemlich plötzlich eine ungewohnte politische Öffentlichkeit für alle Bevölkerungsschichten her: Pressefreiheit wurde in fast allen Ländern zugelassen, und an den revolutionären Aktionen beteiligten sich Männer und Frauen aus sehr verschiedenen sozialen Gruppen, vom Tagelöhner und Industriearbeiter bis zum Besitzbürgertum und Gewerbetreibenden. Durch rasche Vervielfachung des Angebots an politischen Zeitungen, satirischen Zeitschriften und Flugschriften wurde die gesamte Bevölkerung, erstmalig auch in den Unterschichten, vorübergehend politisiert.
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Revolution 1 8 4 8 / 4 9
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Man las und hörte die während der Restaurationszeit nur heimlich verbreiteten Kurztextformen, Gedichte, Lieder, Aufrufe, kleine Heftchen, nun aber auch öffentliche Agitationsreden und szenische Aufführungen an Straßenecken, auf Plätzen und in Theatern. Statt rationaler Kritik und Aufklärung traten in den revolutionären Wochen ζ. T. sehr emotionale, alltagsnähere Agitationsformen und Gruppenrituale mehr in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist die neuartige Verwendung des B e r l i n e r S t a d t d i a l e k t s als Mittel politischer Publizistik soziolinguistisch interessant (Berliner Straßeneckenliteratur ... 1977; Lasch 1927, 131 ff.; Führer 1982; Schildt 1986; Townsend 1988): Verfasser aus der Mittelschicht verwendeten in solchen Flugblättern und Flugschriften Elemente des Berlinischen meist nach dem Vorbild der seit 1833 erscheinenden sozialkritischen Serie „Berlin, wie es ist und — trinkt" von Adolf Glaßbrenner, also nicht mehr romantisch verklärend und nur scherzhaft, sondern politisch provozierend für mittelständisches Publikum. Außer dem kulturrevolutionären Reiz des Sprachnormenverstoßes wirkte als Motiv auch politische Solidarität mit der Unterschichtbevölkerung, auf deren politische Betroffenheit, Politikfähigkeit und neue Rolle für die Revolution hingewiesen werden sollte. Mit sympathisch-sozialkritisch dargestellten Charaktertypen Glaßbrenners, ζ. B. dem Eckensteher Nattte oder der Madam Püseke, wurden Tagesereignisse satirisch kommentiert, nicht nur in einer bestimmten politischen Richtung, mehr von Fall zu Fall, mitunter auch zur ironischen Darstellung der zerstrittenen und erfolglosen Revolutionärsgruppen, oft dialogisch oder als Strafpredigten mit komischen Anreden an bestimmte Adressaten. Dieses agitatorische Berlinisch war — schon um die Leseschwierigkeiten möglichst gering zu halten — kein reiner Dialekt, sondern nur „der gesprochenen Sprache sehr nahestehend [...] natürlich gebrochen durch die Verschriftlichung und möglicherweise stilisiert" (Schildt 1 9 8 6 , 180). Wie in der späteren publizistischen und umgangssprachlichen Verbreitung von Berolinismen im weithin imitierten, saloppen Umgangston (s. 6 . 1 2 B ; 6 . 1 2 F ) spielten einzelne lautliche und morphologische Merkmale und Redewendungen eine besondere Rolle für die neue subkulturelle Art, über Tagespolitik zu reden: Wie der Kram abloofeti wird; Se werdend noch so doli machen, daß ...; des de Brüderlichkeit in'η vollen Jange is; eklich werden; madig machen; zeigen wat ne Harke is; so'n Denkzettel jeben; son jroßet Wort führen; man immer druf!, ... Populäre falsche Aussprachen politischer Schlagwörter und Losungen wurden dabei gern verwendet: Constution, Kostitution, Depentirter, Fief la Repoplik, ... Es gab darunter auch Flugschriften in Berliner Jüdischdeutsch, vermutlich gegen die in der Revolutionszeit verstärkte Judenfeindlichkeit in verschiedenen Kreisen, auch des Königs (Denkler 1 9 7 7 ) .
G. Noch vor der militärischen Niederschlagung der lokalen Revolutionsversuche haben politisch weiterdenkende, aber auch von der Gewalt auf den Straßen aufgeschreckte reformwillige Liberale und Konservative, sehr rasch und zunächst relativ erfolgreich das erste gewählte gesamtdeutsche Parlament, die Nationalversammlung in der Frankfurter Pauls-
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6 . 1 6 . Politische Sprache
kirche ins Leben gerufen. So ist das Jahr 1848 mit dem Beginn des P a r l a m e n t a r i s m u s in Deutschland verbunden, auch wenn dieser Versuch zunächst noch keinen praktischen politischen Erfolg hatte. Politische Rede ist in dieser Versammlung aber nicht aus dem Nichts entstanden, sondern aus jahrzehntelangen rhetorischen Erfahrungen aus Vereinen, gelegentlichen überregionalen Treffen (ζ. B. Wartburgfest 1817, Hambacher Fest 1832) und ständischen Landtagen einiger Bundesländer. Die von der Enttäuschung über die restaurative politische ,Friedhofsruhe' in der ersten Hälfte des 19. Jh. beeinflußte häufige Kritik von Zeitgenossen und späteren Publizisten am ,Verfall' der politischen Rhetorik in Deutschland (s. 6.2U, 6.8C, Bd. II: 5.12Z) ist nach Textuntersuchungen von Gregor Kalivoda (1986; 1991) zu relativieren: Es gab in der Restaurationszeit durchaus politisch aufsehenerregende Rednertalente der bürgerlichen Opposition gegen den Fürstenstaat und Ansätze zu p a r t e i s p r a c h l i c h e m Zeicheninventar. Die jahrzehntelange politische Folgenlosigkeit dieser Aktivitäten resultiere nicht aus einem Fehlen politischer Beredsamkeit, sondern primär aus den staatlichen Repressionsmaßnahmen. Langfristig habe der begrenzt geführte, aber durchaus weiterverbreitete politische Diskurs sehr wohl bewußtseinsbildend für die spätere Parteienbildung und parlamentarische Praxis gewirkt (vgl. 6.2V). Der Sprachgebrauch des 1. Vereinigten Landtags in P r e u ß e n (1847) war nach Kalivoda (a. a. O.) diszipliniert altständisch und höflich. Angesichts des sehr repressiven, halbherzigen monarchischen Parlamentarisierungsangebots wurde der Verfassungskonflikt durchaus offen, argumentativ und sachkundig ausgetragen: Absolutismus vs. Konstitutionalismus, Untertan vs. Bürger, Ständesystem vs. Repräsentationssystem, Konservatismus vs. Liberalismus. Die absolutistische Geheimhaltung wurde dadurch diskursiv aufgebrochen und durch Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle bloßgestellt, mit Rückwirkungen aus der Öffentlichkeit auf Rollenverständnis und Fraktionsbildung der Redner. Sowohl in der Thronrede als auch in oppositionellen Reden gab es deutliche lexikalische Differenzierungen. Dem mutigen kritischen Argumentieren mancher Redner widersprach allerdings a m Ende doch ein ängstlich angepaßtes Abstimmungsverhalten. Vertreter radikaler Richtungen gab es in diesem vorrevolutionären frühen Parlament noch nicht.
H. Das politische Handeln und die politische Bedeutung der Nationalversammlung in der P a u l s k i r c h e vom 31. März 1848 (Vorparlament) bis zum 18. Juni 1849 ist unterschiedlich, oft negativ beurteilt worden (iSchwatzbude, leeres Stroh, Spiegelfechterei, ...), sei es aus konservativer oder radikaler Ablehnung des parlamentarischen Systems, sei es aus Enttäuschung über die faktische tagespolitische Erfolglosigkeit dieses von den fürstlichen Regierungen nur zeitweise geduldeten und nach Niederschlagung der Revolution aufgehobenen und vertriebenen ersten gesamtdeutschen Parlaments (vgl. 6.2W). Auch wenn die besitzlosen und altständisch rechtlosen Unterschichten wegen des Wahlrechts darin noch nicht vertreten waren, konnte es doch als repräsentativ gelten für die
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damals politisch aktiven und interessierten Mittel- und Oberschichtgruppen, deren Funktionseliten da als gewählte Vertreter saßen (Wehler 1987, 2, 737ff.): Rund 56% waren staatliche und kommunale Beamte, 95% hatten höhere Schulbildung, 87% Hochschulstudium, 5 0 % waren Juristen, 7 % Unternehmer und Kaufleute, 6 % Universitätsprofessoren, 5,7% Großgrundbesitzer, nur 0,5% Handwerker. Die bildungsbürgerliche Mehrheit ist ganz offensichtlich; die übliche Abwertung als Professorenparlament ist eine Übertreibung. „Nur eins waren diese aktiven Bildungsbürger gewiß nicht: apolitische Exponenten geistesaristokratischer Innerlichkeit" (Wehler 1987, 2, 740). Es war viel Sachverstand aus Rechtsleben, Verwaltung und Bildungsinstitutionen vorhanden, auch vielfältige Erfahrungen in politischer Rede und Verhandlung aus der Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, Landtagen, Vereinen. Mit mehrheitlicher Kompromißbereitschaft im Mittelweg zwischen Revolution und konstitutioneller Monarchie hat die Paulskirchenversammlung trotz enormer tagespolitischer Störungen doch in zehn Monaten eine Reichsverfassung ausgearbeitet, mit einem demokratischen Grundrechtekatalog, der bis zur Beratung über das Grundgesetz 1949 vorbildlich geblieben ist. Wegen meist sehr unterschiedlicher, teils fehlender Erfahrungen in Verfahrensspraktiken war es allerdings unausbleiblich, daß in der Anfangsphase der Paulskirchenarbeit, noch ohne eigene Geschäftsordnung, mit einem ungeschickten einleitenden Alterspräsidenten, der Sitzungsverlauf noch etwas chaotisch war, allerdings von Anfang an mit wohlorientierter Verfahrenskritik vieler bereits routinierter Abgeordneter; die parlamentarische Arbeit in der Paulskirche war auch dadurch erschwert, daß die Bildung von Fraktionen noch unterentwickelt war (Holly 1982), vgl. 6.2W. — Das für Germanisten natürlich liebenswerte Bild Jakob Grimms, der in der Paulskirche Polemik, partei- und tagespolitische Interessengebundeneit ablehnte und mit besonnen liberaler vaterländischer Gesinnung sich u. a. „mit seinen rechtshistorischen und philologischen Erfahrungen als Persönlichkeit einbringt", ist eher ein Sonderfall (Erben 1986; vgl. Grünert 1987; Holly 1991 c). Nach Wehler (2, 741) sträubte sich etwa ein Drittel der Abgeordneten gegen eine dauerhafte Fraktionsbindung. Es gab aber Ansätze zu über ad-hoc-Absprachen hinausgehender politischer Gruppenbildung, mit regelmäßigen, die Parlamentssitzungen vorbesprechenden Treffen in bestimmten Hotels und Restaurants: Rechte (12%), Rechtsliberale (40%), liberale Mitte (11 %), Linksliberale (19%), gemäßigte Linke (12%), äußerste Linke (6%).
Das Paulskirchenparlament war nach Horst Grünerts Untersuchungen (1974 a) durchaus schon mit der Einübung in die aus der späteren Parteiengeschichte bekannten grundsätzlichen politiksprachlichen Handlungsmuster und polarisierenden ideologischen Zeicheninventare beschäftigt. Aus den zahlreichen von Grünert untersuchten Begriffsfeldern sei hier als Beispiel für verschiedene Begriffsbesetzungen bei rechts- und linksgerichteten Gruppen das N a t i o n a l i t ä t s p r i n z i p im Bereich der zukunftsbezogenen „prospektiven Konsekution" herausgegriffen (Grünert 1974a, 285 ff., 309 ff.): Für die r e c h t e Seite war der Nationsbegriff ein m i t , M a c h t ' und elitärem Überlegenheitsbewußtsein verbundenes Selbsterhaltungs- und Selbstentwicklungsprinzip: große Nation, welthistorische Macht, Großmacht, Reich, Seeherrschaft, 'Wahrung deutscher
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6.16. Politische Sprache
Interessen, Nationalstolz, gesunder Volksegoismus, Standarte Hermanns, .... Für die linke Seite war er mehr mit der Dichotomie von Reaktion und Fortschritt, von altem Recht und neuer Gerechtigkeit, alter Herrschaft und Demokratisierung aller Völker verbunden. Bestehender alter Völkeregoismus, altes Eroberungssystem, alte Beamtenherrschaft, Länderfresserei wurden abgelehnt, wenn sie nicht dem nationalen Selbstbewußtsein der Völker, dem Recht der nationalen Entwicklung, der Humanität und den Gründen der Vernunft entsprechen. So machten die R e c h t s g e r i c h t e t e n deutliche Unterschiede zwischen dem eigenen Volk und anderen Völkern: Für die Deutschen hieß es da: großes Volk, herrschendes Volk, Recht des Stärkeren, Pflicht der Eroberung, natürliches Recht, Kultur, Bildung, Gesittung, Fleiß, edles Streben, deutsche Mühe, deutscher Geist, deutscher Ernst, ...; für andere, vor allem deutschbeherrschte slawische Völker hieß es: beherrschte Völker, geringere Völker, Nationalitätchen, eiserne Notwendigkeit der Geschichte, barbarischer Osten, asiatischer Despotismus, rohe Gewalt, leichtsinnige Verschwendung, ..., für deren Nationalbewegungen: fanatische Ultraczechen, (Pan)slawismus, Polonismus, Polonisierung, Separatismus, Wühlerei, frevelhafter Übermut, Schmarotzergewächs, Unwesen, Unfrieden, Raub und Gewalttätigkeit, Aufruhr, ...; Auf der linken Seite galt dagegen: die Nationalität des anderen achten, die Völker und ihre heiligsten Rechte, nationales Selbstbewußtsein der Völker, große Frage der Slawenbefreiung, Verbrüderung mit den Slawen, das bekannte Germanisierungssystem, die lang fortgesetzte Unterdrückung der slawischen Völker, ... Diese deutliche Differenzierung des „ideologischen Zeicheninventars" (Grünert) erweist sich jedoch als aufgehoben, wo Emotionen über brisante tagespolitische Ereignisse eine vernünftige politische Perspektive trübten: In Bezug auf die kriegerische Auseinandersetzung um Nord- und Südschleswig (s. 6.4.1MN) redeten die linken Abgeordneten, vor allem vom linken Zentrum und aus Schleswig-Holstein, nicht anders als die rechtsgerichteten: die fanatische nationale Partei, dänische Fremdherrschaft, erklärter Feind des deutschen Reiches, dänische Willkür, unser eigenes Fleisch und Blut, den mit deutschem Blut getränkten deutschen Boden. Nach den statistischen Untersuchungen von Dieter-W. Allhoff (1975) war der Satzbau der Paulskirchendebatten keineswegs überdurchschnittlich komplex und langatmig, sondern — für ein allgemein sehr gebildetes Publikum — durchaus hörerfreundlich. Die Argumentation war zunehmend polemisch, moralisch, emotional, manchmal auch witzig und ironisch. Das häufige appellative Pathos war vom bildungsbürgerlichen Zeitstil bedingt, diente aber auch der Verdrängung des politischen Ohnmachtsbewußtseins. Durch das Fehlen von Regierungsgewalt entsprach das Debattieren mit dem reinen Glauben an die ,Macht des Wortes' noch einem aufklärerischen, vorrevolutionären Ideal. Im übrigen gab es starke persönliche (weniger altersbedingte) Unterschiede im Redestil (Allhoff 1975, 569): typische Volksredner des Vormärz (Blum), pathetisch-honorig im Zeitstil (Gagern, Riessner, Löwe), ironisch, antipathetisch, intellektuell (Vogt, Vincke, Lichnowsky), nüchtern argumentativ im Stil späterer Parlamente (Hildebrand). Die Reden waren durchschnittlich kürzer als im späteren Reichstag, oft sehr kurze spontane Einwürfe.
I. Die sozialen Unterschichten, in denen Industriearbeiter, verarmte Handwerker und Massen von Arbeitslosen in Stadt und Land (das eigentliche Proletariat) für die sich entwickelnde Industriegesellschaft eine brisante Rolle spielten, waren in den ersten Parlamenten so gut wie noch nicht vertreten, obwohl es bereits Gesellen- und Arbeitervereine
I: Arbeiterbewegung
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gab und ein großer Teil dieser Schichten aktiv an den revolutionären Vorgängen beteiligt war. Es gab für die Durchsetzung ihrer Interessen auch noch keine klare, öffentlich wirksame politische Sprache. Sofern die soziale Frage überhaupt öffentlich thematisiert wurde, verstand man darunter sehr Verschiedenes; neue sozialpolitische Vokabeln wie
Prolet(arier), Arbeiter, sozialistisch, kommunistisch
wurden, vor allem
im polemischen Sprachgebrauch der Konservativen, mehrdeutig und vage verwendet, ζ. T. als pauschale Schimpfwörter kriminalisiert. In der Paulskirche verstanden nach Grünerts Untersuchungen ( 1 9 7 4 a, 2 8 3 ff.) r e c h t s g e r i c h t e t e Abgeordnete unter soziale Frage teilweise die Abschaffung der Standesprivilegien zwischen Adel und Bürgertum. Wenn sozial in Bezug auf die handarbeitenden Volksclassen verwendet wurde, benannte man die zu ändernde soziale Lage mit sehr allgemeinen, moralisierenden oder metaphorischen Bezeichnungen: Minderung des Pauperismus, soziale Notstände, krankhafte soziale Zustände, große Masse brotloser, gedrückter, hungernder Leute, die Ärmsten unserer Mitbürger, ... Als Lösungen für diese rational kaum begriffenen Probleme hatten die Rechten fast nur Moralisches vorzuschlagen: Erziehung des Volkes, Stärkung des sittlichen Willens, Kräftigung der politischen Gesinnung, Begründung von Wahrheit und Treue, Ordnung und Mäßigkeit, heilige Gottes- und Menschenliebe, Vaterlandsliebe, ... Politische Lösungen der sozialen Frage der Unterschichten lehnten sie grundsätzlich ab und diskriminierten die Forderungen der Linken als Begierlichkeit, Lähmung des Fleißes, Sanctionierung der Faulenzerei, Bummlerorganisationen, Massenherrschaft, Vertreter dieser Forderungen Hetzer, Volksverführer, Volksagitatoren, Volksschmeichler, ... Z u den wesentlich positiveren, verständnisvolleren Redeweisen der l i n k e n Minderheit in der Paulskirche s. Grünert 1 9 7 4 a, 3 0 6 ff.!
Um dieser politischen »Sprachlosigkeit' abzuhelfen und für den bisher ignorierten vierten Stand den rationalen Veränderungsdiskurs nachzuholen (Zur längst erfolgten begrifflichen Grundlegung der bürgerlichen Politik in der Spätaufklärung s. Bd. II: 5 . 1 2 K - 0 ) , war es für die (bürgerlich gebildeten) Theoretiker und Führer der A r b e i t e r b e w e g u n g unerIäßlich, neue politische Begriffe im sozialökonomischen Bereich einzuführen bzw. zu klären. Dabei ließen sie sich großenteils von Vorbildern aus dem französischen utopischen Sozialismus und aus der englischen Ökonomie des Industriekapitalismus leiten, ehe sie ihr Begriffssystem aus Erfahrungen von Arbeitskämpfen und politischen Unterdrückungen in Deutschland weiter entwickelten (Adelberg 1981; Fleischer 1981; Schildt 1991; ergänzt nach B C K 1972; Paul/Henne u. a. 1992): Aus dem Französischen wurde schon zur Zeit der Franz. Revolution das Wort Proletarier (frz. prolétaire) entlehnt, das durch die Saint Simonisten um 1 8 3 0 zum Schlagwort wurde. Durch M a r x und Engels wurde Proletarier/-ariat/-arisch eingeengt von ,Klasse der Armen, Elenden, Besitzlosen, Abhängigen' zu ,Klasse der vom Kapitalismus Ausgebeuteten'. 1 8 4 8 w a r es schon Solidarisierungswort politisch aktiver Arbeiter, wurde später marxistisch-revolutionär zukunftsorientiert verwendet für ,Klasse der Errichter der künftigen Diktatur des Proletariats'. Während Proletarier von Engels 1 8 4 5 noch mit Arbeiter synonym verwendet, im „kommunistischen Manifest" (1848)
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6.16. Politische Sprache
danebengestellt wurde (Proletariat und Arbeiterklasse), differenzierte man in der Arbeiterbewegung weiterhin: Proletariat überwiegend im politisch-agitatorischen Sinn, Arbeiterklasse mehr in ökonomischen Schriften. Wegen des verächtlichen bürgerlichen Gebrauchs trat Proletariat in der Arbeiterbewegung zwischen 1860 und 1890 hinter Arbeiterklasse zurück, die Kurzform Prolet gab es erst seit Ende des 19. Jh., zuerst in der Arbeiterlyrik, im 20. Jh. abschätzig, auch im nichtpolitischen Sinn. Arbeiter, im Grimmschen Wörterbuch (1854) noch in sehr allgemeiner, unpolitischer Bedeutung (auch für ,Handwerker'), erhielt seine industriegesellschaftliche politische Bedeutung nach Vorbild von frz. ouvrier (oder engl, working man) erst durch die ebenfalls lehngebildete politische Zusammensetzung Arbeiterklasse, das marxistische Konkurrenzwort zu liberal-bürgerlichem Arbeiterstand (so auch bei Lassalle). Arbeitnehmer und Arbeitgeber waren seit den 1840er Jahren üblich, wurden aber von Engels als sozialökonomisch irreführend sprachkritisch abgelehnt (ebenso Unternehmer). In der Vorrede zur 3. Aufl. von Marx's „Kapital" (1883) kritisierte er den „landläufigen Jargon" und das „Kauderwelsch" der deutschen Ökonomen, „worin z. B. derjenige, der sich für bare Zahlung von anderen ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird". In der sozialistischen Arbeiterbewegung setzten sich dafür agitatorisch durch: Lohnarbeiter, Lohnabhängiger bzw. Kapitalist, Ausbeuter. Das anfangs auch im Dt. gebrauchte Exploitation (a. d. Frz.) wurde zwecks besserer Verständlichkeit durch Ausbeutung ersetzt, während die schon länger im bürgerlichen Gebrauch üblichen Lehnwörter Revolution, Bourgeoisie beibehalten wurden. Streik, seit 1844 aus dem Engl., seit 1865 auch auf Arbeitskämpfe in Deutschland bezogen, wurde bis um 1890 noch Strike geschrieben, im bürgerlichen Gebrauch oft als Ausstand verdeutscht. Gewerkschaft wurde aus dem Bergbauwesen übernommen (wo es eine sehr allgemeine, mehr zünftische Bedeutung hatte) und seit 1868 im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen nach Vorbild von engl, trade union auf ,Arbeitnehmerorganisation' spezialisiert. Ende des 19. Jh., nach Bismarcks Sozialistenverfolgung, wurde der Wortschatz der Arbeiterbewegung Teil der öffentlichen Gemeinsprache. Da er dadurch teilweise auch metaphorisch, bürgerlich-polemisch und entterminologisiert verwendet wurde, hatten marxistische Gruppen zunehmend dogmatische Definitionen nötig. In den scharfen politischen Auseinandersetzungen um die Arbeiterbewegung seit 1 8 7 8 wurden polemische Metaphern üblich: auf sozialistischer Seite Lohnsklave, Joch, Polyp, Aussaugung, Schlotbaron, Krautjunker, . . . , auf antisozialistischer: Sekte, Scharfmacher, Drahtzieher, Brandstifter, Banditen, Köder, Krankheit, sich einnisten, ... Für eine Verbesserung des öffentlichen Redens und Argumentierens von Arbeitervertretern hatte die von den Sozialdemokraten seit August Bebel und Wilhelm Liebknecht geförderte Rednerschulung große Bedeutung (s. 6 . 2 J ) . J. Die verschiedenen Persönlichkeiten, Vereine und Richtungen der frühen F r a u e n b e w e g u n g konnten noch keinen spezifisch emanzipatorischen Sprachgebrauch entwickeln. Im Vormärz und in der Revolution 1 8 4 8 / 4 9 waren Frauen entweder nur Publikum oder feurige Patriotin-
J: Frauenbewegung
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nen, Volksfreundinnen als aufmunternde, helfende Begleiterinnen der revolutionären Männer. Meist waren sie, ζ. T. in lokalen Vereinen, bemüht, frauengemäß, mit den allein uns wohlanstehenden Waffen, mit Liebetätigkeit beizutragen und mitzuwirken zu Wohlthätigkeitspflege, Freiheit und Völkerwohl, allgemeinem Menschenglück, verbesserten Volkszuständen, zur Einigkeit zwischen Brüdern und Schwestern (Textbeispiele bei Asche 1 9 8 8 ; vgl. 6 . 2 L ) . Die patriarchalisch-ständische Auffassung der traditionellen Geschlechterrollen wurde dabei noch nicht in Frage gestellt. Dem noch bis 1908 bestehenden Verbot politischer Betätigung und Vereinsmitgliedschaft von Frauen (als Gleichbehandlung mit Minderjährigen) entsprach die vorwiegende Beschränkung auf Ideale wie hohe Idee der Weiblichkeit, Menschenliebe, Aufopferung, Sittlichkeit, Familie, Erziehung. Das revolutionäre Schlüsselwort Emanzipation war infolge des Widerstands der Männer in allen Bevölkerungsschichten selbst bei mutigen Publizistinnen der frühen Frauenbewegung diskreditiert. Auf Engagement für Veränderung der rechtlichen und sozialen Stellung der Frauen wurde mit Spott und Hohn reagiert, ζ. B. in einem linken Berliner Flugblatt von 1848: „Eulalia, wat willste? Mitgliedin willste weren bei'n „demokratschen Frauensklub" ì Ick sage Dich, det unterstehste Dir, denn soliste mir kennen lernen. So lange haste mir undern Fantoffel jehabt; jetzt hört det uf! Ick will Dir zeigen, det ick die Hosen habe, un nich Du! [...] (abgedruckt in der Zeitschrift „Emma" 12/1983, 16). Es gab andererseits schon seit dem Vormärz intelligent schreibende mutige Frauen, die sich in Zeitschriften für grundsätzliche Veränderungen der minderberechtigten Stellung der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft einsetzten, besonders für höhere Bildung, Gleichberechtigung in Ehe, Familie und Beruf, vereinzelt auch schon für politisch-öffentliche Rechte (vgl. 6 . 2 L ) , vor allem Mathilde Franziska Annecke, Louise Aston, Louise Dittmar, Louise Otto-Peters, am radikalsten seit den 1 8 7 0 e r Jahren Hedwig D o h m , Ehefrau des Kladdaradatsch-Redakteurs (s. Susanne Asche 1 9 9 8 ; Ute Gerhard 1 9 9 0 , Gerlinde Hummel-Haasis 1 9 8 2 ; Renate M ö h r m a n n 1 9 7 7 ; Hannelore Schröder 1 9 7 9 / 8 1 ) . Da diese schreibenden Frauen, um im Öffentlichkeitsmonopol der Männergesellschaft überhaupt ernstgenommen zu werden, auf einen hochgebildeten, intelligenten, witzigen Formulierungsstil angewiesen waren, konnten sie sich gruppenorientierte sprachliche Eigenwilligkeiten kaum leisten, hatten sie auch nicht nötig; sie kämpften ja nur für die nachholende Verwirklichung der Frauen immer noch vorenthaltenen, seit der Spätaufklärung formulierten Menschenrechte; ihre frauenrechtsbezogenen Zielwörter waren daher vorwiegend längst geläufige wie Emanzipation, Freiheit, Fortschritt, Gleichheit, Humanität, Menschenwürde, Mündigkeit, freie Persönlichkeit, Recht, Selbständigkeit, Wahrheit, ..., ihre auf die herrschenden Verhältnisse der Frauen in Ehe, Familie und Gesellschaft bezogenen negativen Kampfbegriffe: Abhängigkeit, Anmaßung, Eigentumsverhältnis, Entwürdigung, Hochmut, Krämergeist, Lüge, Männerrecht, Philistermoral, Unmündigkeit, Unnatur, Vorurteil, ..., mitunter scharf polemisch: Daumenschrauben, Fesseln, Galeerensträflingsanstalt, Gefängnis, Meineid, Sklaverei, Tretmühle, Tyrrannen, Unterdrückung, Versorgungsanstalt, ... Die frühe
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6 . 1 6 . Politische Sprache
Frauenbewegung hat zwar noch wenig öffentlichen Erfolg gehabt, trug aber wesentlich zur Vorbereitung der Arbeit von Frauenvereinen seit den 1860er Jahren bei. Der Aufschwung der Frauenbewegung in den 1890er Jahren, nach Aufhebung der Sozialistengesetze, war von sehr konkreten Vereinsaktivitäten, aber auch heftigen Richtungskämpfen gekennzeichnet (Ute Gerhard 1 9 9 0 , 163 ff.; Elisabeth Berner 1 9 9 8 ) : Gegen die „Frauertrecbtelei" und „ H a r m o n i e d u s e l e i " (Clara Zetkin) der liberalen, an die Gutwilligkeit der Männer appellierenden Richtungen, entschieden sich sozialistische Frauen für eine strenge Integration in den sozialdemokratischen Klassenkampf gegen den Kapitalismus, stark angeregt durch August Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus (1879, bis 1 9 0 9 5 0 Auflagen) und die dogmatisch-intolerante Agitation der Sozialdemokratin Clara Zetkin gegen die bürgerliche Frauenbewegung, trotz der Vermittlungsversuche von Lilly Braun. Spezifische bürgerliche Frauenrechtsziele sollten nach Zetkin zurückgestellt werden im „Befreiungskampf der proletarischen Frau [...] Hand in Hand mit dem Mann ihrer Klasse" (n. Gerhard 1 9 9 0 , 178 ff.). Inwieweit auch die bürgerlichen Frauenrechtsgruppen und Autorinnen jeweils v o m Sprachgebrauch politischer Parteien beeinflußt oder sprachlich eigenständig waren, ist nicht untersucht; die Entwicklung vom Jahrhundertende bis zum sprachkritischen Feminismus der späteren Nachkriegszeit (s. 6 . 8 W — Y ) bleibt ein Desiderat der Forschung.
K. Auf der r e c h t e n Seite des Spektrums politischer Sprache wurde der in der Napoleonzeit aufkeimende N a t i o n a l i s m u s im Laufe des 19. Jh. aus einer kulturorientierten fortschrittlich-elitären politischen Ideologie immer mehr zu einer politischen ,Ersatzreligion' für breitere Schichten. So traten „Begriffsfetische wie Nation, Volkstum, Volksgeist, Deutschheit in der ersten Hälfte des 19. Jh. an die Stelle der für das 18. Jh. noch bestimmenden Begriffe Vernunft, Humanität und Menschheit" (Straßner 1987, 129). Nicht mehr nur abstrakte Größen wie Kultur, Sprache, Denken, Ursprünglichkeit, deutsche Art (so bei Herder, den Publizisten der Befreiungskriege', Jacob Grimm) standen im Mittelpunkt des nationalen Denkens und Strebens seit der Jahrhundertmitte, sondern auch materielle und machtpolitische aus wirtschaftsliberalen Kreisen, „für die eine wachsende Identifizierung mit der Einheit der Nation eher als Garant wirtschaftlicher Wohlfahrt galt" (Straßner a. a. O.), auch in Verbindung mit Hegels antiaufklärerischer Überhöhung des Staates als dem „höchsten Prinzip der Sittlichkeit". Durch den Erfolg der Hochindustrialisierung und der machtpolitischen kleindeutschen Reichsgründung war der alten kulturdeutschen Legitimation des Nationalstaates der ideologische Boden entzogen. So ging der deutsche Nationalismus um 1880, auch ausgelöst durch die ökonomische Gründer-Krise, in einer „konservativen "Wende" (Wehler; s. 6.IM) in das Stadium des „Abwehr-Nationalismus" (Straßner 1987, 130) über, in dem Begeisterung für das halbdiktatorisch entstandene preußisch-deutsche Reich durch politisch-ideologische Verteufelung sog. Reichsfeinde propagiert wurde, vor allem gegen Franzosen, preußenfeindliche Elsässer, preußische Polen und Dänen, Katholiken, Sozialisten und Juden, auch gegen den politischen Liberalismus, die
Κ: Radikalisierung des Nationalismus
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alle als vaterlandsfeindlich/-los verdächtigt wurden. Damit verband sich gegen Ende des 19. Jh. auch verschiedenartige Kritik an Verstädterung und Industrialisierung, also Zivilisationskritik und Kulturpessimismus. Die antidemokratische Radikalisierung des deutschen Nationalismus wurde — außer von Regierungsseite im Bismarckreich — vor allem durch eine Bewegung gefördert, die zwar erst um 1927 „Konservative R e v o l u t i o n " oder „revolutionärer Konservatismus" genannt wurde, aber ihre Wurzeln in der wilhelminischen Zeit hatte (Clason 1981; 1991; Straßner 1987, 82ff., 131 ff.)· Diese Vorläuferrichtung der Sprache des Nationalsozialismus (ζ. T. auch des heutigen Neokonservatismus) geht zurück auf die Abwertung liberaler Begriffe durch Schriften von Paul de Lagarde (1891), Arthur Moeller van den Bruck (1918), Oswald Spengler (1918 — 22) und anderen: Begriffe wie Aufklärung, Individuum und Humanität hätten die Deutschen sich selbst entfremdet, seien undeutsch, hätten Europa zersetzt, entartet, widersprächen dem Gesetz der Volksgemeinschaft, der Auslese der Besten. Gegen Westler und Bourgeoisie wurde Germanentum gesetzt, Blut gegen Geist, Instinkt gegen Vernunft, Kultur gegen Zivilisation, Gemeinschaft gegen Gesellschaft. Das Wunschziel Drittes Reich erscheint zuerst 1923 in einem Buchtitel Moeller van den Brucks. In diesen ideologischen Bereich gehört auch die Verherrlichung des Krieges als Stahlbad der Nation und seelisches Erleben der Volksgemeinschaft seit 1914 und in der Weimarer Zeit (ζ. B. bei Ernst Jünger; s. Hoffend 1987, 293 ff.), ebenso die Verwendung des Wortes Intellektueller seit 1903 als beliebig orientierbares vages Diffamierungswort (Bering 1978; 1984). Historisierende Mystifizierung der Gemeinschafts-ldeoiogie betrieben auch die Turner· und die Jugendbewegung und andere Bündische der spätwilhelminischen und Weimarer Zeit, von denen die Nationalsozialisten einen großen Teil ihres Hitlerjugend-, Feier- und Organisationswortschatzes übernahmen: Führer, Gefolgschaft, Stamm, Gau, Heil, Thing, Fahrt, Horde, Schar, ... (s. 6.12L). — In Preußen ist seit den 1880er Jahren in nationalchauvinistischen Vereinen, besonders dem „Ostmarkenverein" (s. 6. IM) der völkisch-sprachimperialistische Sprachgebrauch üblich geworden, der bis zu Hitlers und Himmlers antislawischer Ostsiedelpolitik eine menschenverachtende Rolle gespielt hat: Fremdvölkische, Entpolonisierung, Polenkrebs, slawische Flut, Trichinen, Polypen, Bazillen, Parasiten, vernichten, ausrotten, ausmerzen, Lebensraum, Germanisierung des Bodens, ... (Glück 1979; Wehler 1995, 961 ff.; vgl. 6.4.1Q—S). Radikalnationalistisches Vokabular war seit den 1880er Jahren auch in der deutschnationalen Bewegung Georg Schönerers in Österreich üblich, ζ. B. Führer, deutsche Gaue, Gefolgschaft, Heil!, Mission, Ostmark, Schildwache, Sendung, viele biologisierende Metaphern und Stereotype (Haider 1998; Hamann 1996, 337 ff.; vgl. 6.4.1V). Z u r politischen Sprache gehört neben den einflußreichen Sprachgebräuchen und -regelungen der Regierenden und der öffentlichen und halböffentlichen Gruppen und Institutionen auch das, was davon bei den Objekten politischer Persuasion ankommt, bei den für künftiges politisches Verhalten Beeinflußten. Dafür bieten S c h u l a u f s ä t z e aus der Oberstufe und dem Abitur an höheren Schulen in den Monaten nach dem Kriegsbeginn 1 9 1 4 Hinweise ( H o h m a n n / L a n g e r 1 9 9 5 ) : Verglichen mit den entsprechenden Gesinnungsaufsätzen, die in der NS-Kriegszeit geschrieben werden mußten, war der Anteil des traditionellen ethischen Erziehungswortschatzes gegenüber dem aktuellen politischen Propagan-
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ϋ δ Wahlplakat zu Reichstags wählen 1932 (aus: G. Müller 1978, 281)
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Ν: Weimarer Republik, Nationalsozialismus
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geprägt w a r und noch Nebenfunktionen hatte, die seit den späten 60er Jahren mehr mit Zeitungsanzeigen, Postwurfblättern, Broschüren oder Reden-Übertragungen und Diskussionen im Fernsehen erfüllt werden. Wahlplakate enthielten noch auffällig viel ausführliche Information über die eigene Programmatik und noch mehr Polemik gegen die der politischen Gegner, spezielle Reaktionen auf aktuelle Ereignisse, mit gruppenspezifischen Anreden, expliziter Wahlaufforderung im Imperativ, oft Slogans in rhythmisierter Form mit Stab- oder Endreimen (zum Weitersagen!), vor allem mit viel mehr Ansprechen von Angstgefühlen als in der Nachkriegszeit. Für große Teile der Wählerbevölkerung waren damals Plakate an Litfaßsäulen und Holzwänden die einzige Form von publizistischer Beeinflussung durch die vielen Parteien.
Über politische Sprache in der Zeit der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Diktatur 1933—1945 ist seit der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr viel, vielfältig und kontrovers geschrieben worden. Im Anschluß an die neueste kritische Übersicht von Konrad Ehlich (1998) ist zunächst darauf hinzuweisen, welche methodischen und politisch-historischen Erfordernisse bei der sprachgeschichtlichen Untersuchung und Erklärung der deutschen Variante des Faschismus zu beachten sind: — Es ist zu unterscheiden zwischen Sprache d e s Nationalsozialismus (eigenständiger Sprachgebrauch der NSDAP seit 1920) und Sprache i m Nationalsozialismus (NSDAP-Sprache plus verschiedene Traditionen politischer Sprache, die 1933 bis 1945 im Deutschen Reich wirksam waren). — Es ist auch zu erklären, warum und durch welche Art von Sprache insgesamt (Sprache z u m Nationalsozialismus hin) die Nationalsozialisten mit so großen Mehrheiten an die Macht gewählt, danach von einer breiten Bevölkerungsmehrheit anhaltend freiwillig unterstützt wurden. — Die Vielschichtigkeit und Heterogenität des Sprachgebrauchs des/im/ zum Nationalsozialismus bedarf der Erklärung aus politisch-sozialen Entwicklungen in Deutschland und Österreich mindestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. — Die von vielen Sprachexperten und Publizisten mit Entsetzen beobachtete ,Weiterbenutzung' mancher als nationalsozialistisch berüchtigter Wörter und Ausdrucksweisen nach 1945, ζ. T. bis heute, bedarf wesentlich differenzierterer sprachhistorischer Erklärungen als es mit den üblichen pauschalen Klassifizierungen „NS-Deutsch", „Sprache des Dritten Reiches", „faschistisch", „Wörterbuch des Unmenschen" möglich war. — Bei der Erklärung semantischer und kognitiver Wirkungen politischer Sprache ist die traditionelle hypostasierende Ausdrucksweise mit Subjektschub (vgl. v. Polenz 1980 b; 1981; 1985/88,186 ff.) zu vermeiden: Nicht eine ,Sprache' oder ,Wörter' haben verführt, Denken gelenkt, gelogen usw., sondern ihre Benutzer („Unschuld der Sprache und Schuld der Sprechenden", Ehlich 1998).
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— Unter politischem Sprachgebrauch ist nicht nur Propaganda und M a nipulation' von ,oben' nach ,unten' zu verstehen, sondern auch das Sprachverhalten der eine politische Richtung mittragenden Massen aufgrund sprachlicher und politischer Prädispositionen und Erwartungen. Als irreführende Wunschvorstellung hat sich die nachträglicher Rechtfertigung dienende Vorstellung erwiesen, der nationalsozialistische Sprachgebrauch sei gewissermaßen als etwas ,Fremdes' über die Deutschen und Österreicher gekommen und habe sie zu etwas ,verführt', was sie vorher nicht kannten und nicht wollten. Dies gilt nur für die große Zahl der nach 1933 bzw. 1938 durchgesetzten institutionellen Bezeichnungen, die das gesamte öffentliche Leben rasch gleichschalteten. Auf dem Wege zur Macht ist es eher umgekehrt gewesen: Hitler, Goebbels und ihre Parteigenossen hatten in den letzten Jahren vor der Machtübergabe gerade deshalb so raschen Erfolg, weil sie in Propagandaveranstaltungen verschiedenen Gruppen von Unzufriedenen sehr geschickt ,nach dem Munde' redeten: den Arbeitslosen ebenso wie den Jugendbewegten, den über Versailles Grollenden, den Militaristen, den antiliberalen Konservativen, den neue Konjunktur witternden Großindustriellen, den das Weimarer parlamentarische System Verachtenden, den Deutschtümlern, Nationalchauvinisten, Sündenbock-Suchern, Fremdenhassern, Rassisten und Antisemiten. Dabei konnten sie sich weitgehend des längst gewohnten, teilweise sogar in der Schule gelernten politischen Sprachgebrauchs der entsprechenden Diskurswelten bedienen, der in rechts- wie (ζ. T. auch) linksgerichteten Gruppen üblich und zugkräftig war. Hitler hat ebenso wie Goebbels den demagogisch-rhetorischen Wechsel zwischen Stilarten jeweils nach Publikum oder T h e m a raffiniert beherrscht, oft im dynamischen Code-Switching mehrmals im Verlauf einer Rede. Orientierung der Propaganda an speziellen Adressatengruppen spielte in der Weimarer Republik noch eine weitaus größere Rolle als in der Nachkriegszeit, z . B . in Wahlplakaten ( G . M ü l l e r 1978, 6 6 f f . , 253). In dem sehr heterogenen Ideologie-Konglomerat des deutschen Faschismus gab es traditionsorientierte Komponenten, die besonders in der letzten Kampfzeit vor der Machtergreifung und in der Stabilisierungsphase bis 1938 taktisch instrumentalisiert, aber später von den obersten Naziführern fallengelassen wurden, ζ. B. neuromantische Deutschtümelei, Frakturschriftmonopol (s. 6.2C—F), Fremdwortpurismus (s. 6 . 7 D — N ) , nachdem deren Verfechter als nützliche Mitläufer ihren freiwilligen Dienst geleistet hatten. O . Für einen groben Überblick über die verschiedenen Schichten und Funktionsbereiche nationalsozialistischen Wortgebrauchs soll im Folgen-
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den die Strecke A-Ε aus Cornelia Schmitz-Bernings neubearbeitetem „Vokabular des Nationalsozialismus" (1998) als Testmenge dienen. Da ihre Dokumentation teilweise auch partei-und institutionsinterne Texte auswertet, ist zu erwarten, daß nicht alle Stichwörter damals im allgemeinen öffentlichen Gebrauch waren und daß umgekehrt in dieser Zusammenstellung spezifisch nationalsozialistischen Wortschatzes viele Ausdrucksweisen nicht enthalten sind, die als Sprache i m Nationalsozialismus und Sprache z u m Nationalsozialismus hin eine Rolle spielten. Von den 170 Stichwörtern mit den Anfangsbuchstaben A bis E bei Schmitz-Berning (1998) sind 79 primär politische Ideologiewörter, 89 primär Wörter, mit denen die Propagandaziele mit institutionellem Benennungszwang durch die NSDAP, NSDAPabhängige Organisationen und die Verwaltung durchgesetzt wurden. (In dem Glossar von Brackmann/Birkenhauer (1988) ist der institutionalisierte NS-Wortschatz noch stärker vertreten). Von den 79 Ideologiewörtern waren mir fast alle in meiner Schülerzeit 1934—1945 bekannt (z. B. Achse Berlin-Rom, Anschluß, Arier, arteigen, Blut und Boden, Blutschande, Defätismus, entartete Kunst, ...). Von den 89 Organisationsund Verwaltungswörtern war der größte Teil allen Zeitunglesern und Rundfunkhörern geläufig (z. B. Ahnenpaß, Arbeitslager, BDM-Mädel, Blockwart, Deutsche Christen, mit deutschem Gruß, Dienstverpflichtung, Erbhofbauer, evakuieren, ...); etwa 12 waren aber so speziell, daß mit ihnen nicht alle zu tun bekamen (z. B. Amt „Feierabend", Arbeitsdank, Deutsche Glaubensbewegung, ...), vor allem spezielle Ausdrücke des Rassen-, Erbgesundheits- und Erbhöfe-Rechts. Die zwei berüchtigten Wörter des staatlichen Massenmords, Endlösung und Euthanasie, sind mir erst 1945 bekanntgeworden. — Von den 170 Stichwörtern von A—E gehören 54 in den Bereich Rassismus/Antisemitismus, 8 in den Bereich Euthanasie. Nach 1938, als verfolgte Bevölkerungsgruppen durch Staatsterrormaßnahmen in der Öffentlichkeit zunehmend unsichtbar gemacht worden waren, wurden diese Wörter in der Alltagskommunikation immer seltener; da wirkte die „Sprachlosigkeit im Dritten Reich" (G. Bauer 1988), in der das Reden über politische und rassistische Menschenverfolgung so gut wie tabuisiert war und man außer Schweigen fast nur noch Andeutendes vernahm, z. B. daß jemand nicht mehr da, abgeholt, weggebracht worden sei. In Bezug auf Herkunft und Alter der Wörter und Wortverbindungen sind nur 77 der 170 Schmitz-Bemingschen A-E-Stichwörter Neubildungen der NS-Zeit 1933—1945, davon 53 Organisations- und Verwaltungswörter, die z. T. per Gesetz eingeführt wurden; weitere 26 sind bereits in der Weimarer Zeit, meist bei der NSDAP oder politisch nahestehenden Gruppen nachgewiesen. Aus der Bismarckzeit und wilhelminischen Zeit bzw. aus dem altösterreichischen Deutschnationalismus stammen (n. SchmitzBerning) etwa 50, darunter die meisten Schlagwörter des Radikalnationalismus, Rassismus und Antisemitismus, vor allem die Basiswörter der in der NS-Zeit stark ausgebauten Wortfamilien mit Ahn, arisch, Art, Blut, deutsch, erb-, weitere 13 aus dem früheren 19. Jh.; weitere 13 sind Wiederbelebungen altdeutscher Wörter, z. T. schon seit der Romantik (z.B. abmeiern, Ahn, Anerben, Bann, -waiter, -wart, ...). Nur Weniges ist aus dem religiösen Bereich übernommen (z. B. blind(lings), Blutfahne, Blutzeuge, Bonze, Erbsünde, ewig), oder nach dem Vorbild des Sprachgebrauchs der italienischen Faschisten (Arbeitsschlacht, Erzeugungsschlacht, Braunhemd), der Kommunisten (Betriebszelle), des Militärs (Alte Garde, ausrichten, Dienst, einsetzen, Einsatz, -schlackt), der Technik (ausschalten, Achse, evakuieren). Religiöse,
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militärische oder technische Metaphern sind nichts Besonderes; sie gab es seit der Französischen Revolution ganz allgemein im politischen Sprachgebrauch aller radikalen Richtungen. Die biologisch-pathologischen Metaphern sind ebenfalls älter als der Antisemitismus des späten 19. Jh. (s. oben 6 . 1 6 L M ) .
P. Für die große Zahl der neugebildeten NS-Verwaltungs- und Organisationswörter war die sehr wirksame politische Funktion in der Alltagskommunikation die Stabilisierung bzw. permanente unausweichliche Erzwingung von Kollaboration, Unterwerfung oder wenigstens widerstandsloser Hinnahme der Zwangsmaßnahmen. Dagegen sind für die H e r b e i f ü h r u n g der faschistischen Diktatur durch massenhafte Nachfolge und Wahlverhalten sowie für das viele Jahre anhaltende Mitmachen in der großen Bevölkerungsmehrheit im Wesentlichen andere Teile des sog. NS-Vokabulars wirksam gewesen. Für politisch beliebig verführbare Unzufriedene und Radikale war der forsche Wortschatz der Arroganz und Rücksichtslosigkeit attraktiv, da viele sich ein Aufräumen mit chaotischen Zuständen und ungelösten Problemen des Systems erhofften, nämlich der politisch dahinsiechenden, von vielen rechten wie linken Gruppen nicht akzeptierten Weimarer Republik. Z u diesen den Radikalismus befriedigenden Wörtern gehören aus der Strecke A—E bei Schmitz-Berning (1998) z. B. Aufbruch, Ausmerze, Ausrichtung, Ausschaltung, behandeln, Einsatz, entartet, erfassen, ewig, . . . , auch die typisch faschistischen Umwertungen herkömmlich negativer Wertwörter ins Positive durch neue Kontexverbindungen: blind, blindlings in Verbindung mit Gehorsam, Glaube, Disziplin, Überzeugung, Treue, oder brutal (z. B. Entschlossenheit), meist aus Hitlers „Mein Kampf" belegt. Ins Positive gewendet wurden auch fanatisch, Propaganda, rücksichtslos, stur.
Für politisch konservative, traditionell gebildete, tendenziell unpolitisch lebende Bevölkerungsgruppen wurde die NSDAP wählbar nicht durch ihren Radikalwortschatz, sondern mehr durch geschickte Verwendung und damit semantische ,Besetzung' von vordergründig Vertrauen erwekkenden t r a d i t i o n e l l e n S c h l ü s s e l w ö r t e r n wie Art, Arbeit, Charakter, Ehre. Während die NS-Organisations- und Verwaltungswörter und der totalitäre Radikalwortschatz nach dem Ende der NS-Diktatur größtenteils rasch außer Gebrauch gekommen sind, wurden solche bedeutungsverschobenen Traditionswörter wegen ihrer altgewohnten Polysemie vielfach weiterbenutzt, wenn auch meist in anderer als der faschistischen Bedeutung. Aber nach der populären Semantikideologie, daß die ,Bedeutung' in den Wörtern ,drinstecke', unabhängig von dem, was die sie Benutzenden jeweils damit meinen, daß also eine Sprache ,nie vergessen' könne, waren solche Wörter in der Nachkriegszeit sprachkritisch heftig umstritten (vgl. 6.8M—O zur antifaschistischen Sprachkritik). So sah sich Victor Klemperer 1945 veranlaßt, aus der ,Weiterbenutzung' von Elementen der „LTI" (Lingua Tertii Imperii) in seinem
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Tagebuch warnend auf eine „ L Q I " hinzuweisen (s. Ehlich 1 9 8 9 , 2 8 7 ff.); Sternberger/Storz/Siiskind (1968) stellten in ihrer „Vorbemerkung 1 9 5 7 " erschrocken fest: „Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben". Urs Widmer (1966) korrigierte anhand literarischer Texte der Nachkriegszeit die gängige Vorstellung von der ,Stunde Null' oder des ,Kahlschlags' in Bezug auf die Entwicklung der deutschen Sprache im Jahre 1 9 4 5 . Ein vieldiskutiertes Beispiel in dieser Hinsicht ist das institutionssprachliche Verb betreuen (Schmitz-Berning 1998, 89 ff.; Sternberger u. a. 1968, 31 ff.; v. Polenz 1963 c; Stötzel, in: StW 359 ff.; vgl. 6.8Q): Das seit dem späten Mittelhochdeutschen vorkommende Wort für Pflege- und Fürsorgetätigkeiten gegenüber Menschen, Tieren, Pflanzen war im 19. Jh. nicht sehr häufig, ist aber schon ab 1912 für das dienstliche Verhältnis zwischen kaufmännischen oder technischen Vorgesetzten gegenüber ihren Angestellten in einer Firma belegt. In der NS-Zeit wurde dieses in privaten wie offiziellen oder geschäftlichen Beziehungen sehr polysem verwendete Wort plötzlich „in maßloser Häufigkeit und Überspannung angewandt" (Klemperer), in sehr vager Bedeutung für verschiedenartige offizielle Maßnahmen gegenüber Menschen, von Beratung und Hilfe für Kranke, Urlauber, Jugendliche, Flüchtlinge usw. über kulturelle Freizeitgestaltung, weltanschauliche Schulung bis zu Straf- und Verfolgungsmaßnahmen wie Verhaftung, Deportation, Euthanasie oder Lagertod. Betreuen war ein typischer institutioneller Vagheits-Euphemismus, ähnlich wie behandeln, erfassen, organisieren, mit dem man alles oder gar nichts sagen konnte, mit Sprechhaltungen von amtlich über ängstlich, getarnt bis zu zynisch. Trotz der wohlbegründeten sprachkritischen Warnung, man könne das Wort nie wieder unschuldig verwenden (Sternberger), wurden betreuen und Betreuung — meist wohl aus sprachgeschichtlicher Ahnungslosigkeit — „in der heutigen Sprache [...] nahezu universal verwendbare Ausdrücke zur Bezeichnung von versorgender, pflegender, beratender, unterweisender, beaufsichtigender, verwaltender, steuernder, regelnder Tätigkeit" (Schmitz-Berning 1998, 93). — Für Charakter, charakterlich traten seit Hitlers „Mein Kampf" Vernunft, Intellekt und Wissen zurück hinter rassistisch verstandenen Kriterien wie Instinkt, Willensstärke, Entschlußkraft, gesunder Körper, in sehr vager Weise als Leitziele der NSPädagogik (n. Schmitz-Berning 1998, 131 ff.). — Ebenso wurde Ehre, eines der Schlüsselwörter der spätfeudalen Elitebildung der wilhelminischen Zeit, rassistisch umgedeutet: An die Stelle ständischer Regeln in interpersonalen Beziehungen und sozialem Status traten Bewußtsein der eigenen Art, Bekenntnis und Sichopfern für Blut und Rasse, worunter immer nur nordisch, germanisch, deutsch verstanden wurde (n. Schmitz-Berning 1998, 163 f.). — Zum Sprachgebrauch der Hitlerjugend s. 6.12L! Q . Als „Vokabular des Nationalsozialismus" hat Cornelia Schmitz-Berning mit Recht vor allem spezielle, in der NS-Zeit sehr konkret verwendete Wortzusammensetzungen dokumentiert, von denen ein Bestandteil, der ideologische und stark persuasive, im politischen Diskurs rechtsgerichteter Gruppen bereits seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielte: So ist ihren Stichwörtern Artbewußtsein, artecht, arteigen, artfremd, artlos, artvergessen, artverwandt, Aufartung, entarten das Basislexem Art gemeinsam, das allen national oder nationalistisch gesonnenen NSDAP-Wählern (nicht nur den Rassisten) seit
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Generationen als ethisch p o s i t i v e s S c h l ü s s e l w o r t in zahlreichen stereotypen Wortverwendungen und Redensarten vertraut war. In einem Vokabular der Sprache im Nationalsozialismus und des Sprachgebrauchs, der zum Nationalsozialismus hingeführt und seine breite Akzeptanz in fast allen Bevölkerungsschichten stabilisiert hat, müßten weitaus mehr solcher bewährter Schlüsselwörter als Basislexeme von Zusammensetzungen und Ableitungen verzeichnet sein. Im Bereich der positiv konnotierten Schlüsselwörter zur Erzeugung von Euphorie und Affirmation habe ich aus meiner Schulzeit ( 1 9 3 4 — 1 9 4 5 ) folgende Reihe von Wörtern in Erinnerung, mit denen wir bei unseren Deutsch- und Geschichtslehrern (besonders bei solchen mit Parteiabzeichen und auffällig exakt artikuliertem Hitlergruß am Unterrichtsbeginn) beste Aussichten auf gute Zensuren hatten und die wir uns ab 1 9 4 5 in politischer Verwendung bewußt abzugewöhnen bemühten und denen wir fortan mißtrauten (mit * für die bei Schmitz-Berning 1998 behandelten): Abstammung, * Ahnen, *arisch, Art, Begeisterung, *Bewegung, *Blut, * Boden, *Charakter, *Dienst, ''Ehre, Einigkeit, *Einsatz, Entschlossenheit, Erbe, *ewig, *Führer, Ganzheit, *Gefolgschaft, Gehorsam, *Gemeinschaft, germanisch, gestalten, gesund, *Glaube, Größe, *Härte, Heil, heilig, Held, *heroisch, Hingabe, Kampf, Kraft, Kultur, *LeistungMacht, Mut, Mythos, Nation, neuer Mensch, *nordisch, Ordnung, Opfer, Pflicht, *Raum, *Rasse, Reich, Reinheit, Ruhm, sauber, Schicksal, Scholle, Sendung, Sieg, Stärke, Stolz, tapfer, Treue, Verantwortung, *Volk, Vorsehung, Wesen, Weltanschauung, Zucht, ...
Ein Teil dieser Liste gehört zu den seit der wilhelminischen Zeit beliebten Begriffsfeldern des Nationalismus und Militarismus, ζ. B. Dienst, Einsatz, Ehre, Gehorsam, ein anderer Teil zum weithin popularisierten Erbe der nationalromantischen Germanistik, die zur „Anhäufung stereotyper Wert- und Unwertvokabeln" (Lämmert, In: Germanistik ... 1967, 7ff.) und „zur Entleerung des deskriptiven Gehalts und zum Übergang in eine vorwiegend präskriptive Wortsemantik" beigetragen hat (Stötzel, in: StW 365), z . B . Art, Erbe, Gemeinschaft, germanisch, nordisch, ... Ein weiterer Teil ist nach Hugo Steger (1989 a) Produkt eines bei zahlreichen Kultur- und Lebensphilosophen vom Ende des 19. Jh. bis in die 30er Jahre nachzuweisenden begriffsgeschichtlichen „Paradigmenwechsels um 1920, der vor allem durch das Erlebnis des Krieges bewirkt ist" und durch Flucht vor dem kulturkritischen ,Verwirrungs'-Bewußtsein der Jahrhundertwende die meisten Deutschen in euphorischen Zukunftshoffnungen als „ G a n z h e i t s my t h e n " in antiliberalistischer Haltung den Nationalsozialisten in die Arme hat laufen lassen, bis zum ungeahnten „ E r w a c h e n im T o t a l i t a r i s m u s " (Steger 1989a, 83ff.). Kulturkritiker wie Friedrich Nietzsche, Julius Langbehn, Rudolf Eucken, Oswald Spengler, Fritz Mauthner hatten (nach Steger 1 9 8 9 a) das Bewußtsein von Verfall, Untergang, Orientierungslosigkeit, Schrankenlosigkeit, Beliebigkeit, Entwurzelung, Nivellierung, Decadence usw. verbreitet, was bei vielen Halbgebildeten als allgemeine Verunsicherung wirkte angesichts der erlebten „Überheblichkeit", „optimistischen Oberflächlichkeit, Saturiertheit und moralischen Doppelbödigkeit" des Wilhelminis-
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mus und der damals beängstigenden „funktionalen Spezialisierung" und Normierung der Sprache als Folge der Industrialisierung und Bürokratisierung, der Spaltung in ein traditionelles und ein naturwissenschaftliches Weltbild. Das „Gegenmodell" dazu kam aus dem neugewonnenen Selbstbewußtsein der Geisteswissenschaften mit zukunftsorientierten „Ganzheitsmythen", die sich in (noch in der NS-Zeit beliebten) begrifflichen Gegensatzpaaren äußerten: das Ganze, Totalität vs. Zivilisation, Seele vs. Geist, Gefühl vs. Verstand, Gesundheit vs. Entartung, Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Gestalt vs. Auflösung, ... (Steger 1989a, 92). Zu einer ähnlichen Erklärung, allerdings mehr sozialökonomisch-historisch, kommt Utz Maas (1984), indem er den „Faschisierungs"-Diskurs in Texten von und für Jugendliche, meist aus dem Dienst in der Hitlerjugend, und aus dem Alltagsleben von Frauen während der Stabilisierungsphase des Nationalsozialismus 1933—1938 kulturund argumentationsanalytisch untersucht: Stegers publizistisch-begriffsgeschichtlicher Weg von „Verwirrung" über „Ganzheitsmythen" zum „Erwachen im Totalitarismus" findet hier seine Entsprechung in der „Verunsicherung" durch Widersprüche des sozialökonomischen Systems seit der wilhelminischen Zeit: Hochindustrialisierung, Verstädterung und Modernisierung von ,oben', aber „Ausschluß der Massen aus der politischen Geschäftsführung", staatlicher Zwang zur kulturellen Homogenisierung und zunehmende Militarisierung. Der gescheiterte Demokratisierungsversuch in der Weimarer Republik hinterließ bei bündischen ebenso wie linken Jugendgruppen ein starkes Bedürfnis nach Gemeinschaft, Massenaufmärschen, Uniformierung, Lieder-Brüllen, um mit vorpolitischen, vor- und antibürgerlichen, rein ethisch-emotionalen Vorstellungen endlich kollektiven Anteil an der staatlichen Macht zu erhalten. Der sprachliche Diskurs dieser jugend-und frauenorientierten Alltagstexte, die ausgesprochen „polyphon" waren (d. h. bei Anhängern wie Gegnern oder Unentschlossenen auf verschiedene Weisen rezipierbar) und ebensolche bewährte Schlüsselwörter wie die obige Liste enthielt, „fungierte als Fähre, die die Menschen von ihren konkreten Erfahrungen, ihren Hoffnungen und Ängsten, aber auch ihrem opferbereiten Elan in die integrativen Organisationsformen des Machtapparates transportierte" (Maas 1984, 11). R . Im Bereich der Argumentationsformen und der Prosodie (Rhythmus, Lautstärke, Stimmton, vgl. Schwitalla 1994) ist es fraglich, ob es einen spezifisch nationalsozialistischen Sprach- und Sprechstil gab. Es ist zwar immer wieder darauf hingewiesen worden, daß politische Propaganda in der Nachkriegszeit merklich ruhiger, weniger emotional und pathetisch geworden ist. Dies hängt jedoch zum großen Teil mit der besseren Gewöhnung ans Mikrophonsprechen im Studio zusammen. Nachrichtensprecher und Reporter haben noch bis in die 6 0 e r Jahre z. T. den pathetischen Rundfunk- und Filmstil weiterbenutzt. Der übliche Verweis auf eine besonders verführerische, suggestive, manipulative Redebegabung von Hitler und Goebbels muß mit der allgemein übertriebenen, verwilderten Art des Redens in großen Freiräumen ohne bzw. mit noch primitiver Mikrophon- und Übertragungseinrichtung in der Weimarer Zeit, besonders bei radikalen Parteien, in Beziehung gesetzt werden. In freien, emotionalen Wahlkampfreden und in der Straßenagitation gibt es bis heute, thema-, situations- und publikumspezifisch, mitunter Redestile,
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die bei Älteren unliebsame Erinnerungen wecken. Typisch faschistisch oder faschistoid ist jedenfalls die halbgebildete, rationales Denken verhindernde Stilmischung, die mehr mit dem arbeitet, was schon der italienische Soziologe Vilfredo Pareto musica di vocabuli genannt hatte, nicht mit systematischen gedanklichen Zusammenhängen, sowie mit der auf Parteitagen und anderen Massenveranstaltungen theatralisch inszenierten Volksgemeinschaft' (vgl. Hopster 1994). Ein besonderer Stilzug der Sprache d e s Nationalsozialismus waren die Adjektive, Adverbien und Verben des T o t a l i t a r i s m u s , mit denen die höchste Graduierungsstufe absolutgesetzt und damit jede Abschwächung, Relativierung oder Kritik ausgeschlossen wurde: absolut, ein für alle Mal, einmalig, einzigartig, energisch, fanatisch, gewaltig, gigantisch, großartig, kompromißlos, nie dagewesen, niemals, restlos, rücksichtslos, schlagartig, stur, total, unabdingbar, unvergleichlich, vernichtend, voll und ganz, ausschalten, behandeln, gleichschalten, säubern, ... Dazu der häufige Gebrauch von Superlativen, entsprechend die Vermeidung von abwägenden, relativierenden Z u sätzen; Bevorzugung der militärisch-bürokratischen Form des Modalitätsausdrucks für undiskutable Notwendigkeit und Verpflichtung mit Infinitivkonstruktion statt Modalverben ( * hat y zu tun, y ist zu tun)·, typisierender Singular für stereotype Gruppenbegriffe (der Jude, der Russe, die deutsche Frau, ...), die vage Ideologisierung durch Negationspräfixe (undeutsch, nichtarisch, entartet, . . . ) . — Aus pervertiertem Wissenschaftsstil stammt im totalitären Sprachgebrauch die Gewohnheit, abstrakte Substantive als ,Leerformeln' ohne ihre satzsemantischen Bezugsgrößen zu verwenden: unser Glaube (woran?), unsere Pflicht/Entschlossenheit (wozu?), die Zersetzung (wessen? wodurch?). Diese Leerformelhaftigkeit ist allerdings ein potentielles Merkmal politisch-persuasiver Sprache überhaupt.
S. Eine besondere Art totalitärer Massenbeeinflussung sind die zahlreichen S p r a c h r e g e l u n g e n , mit denen, meist durch explizite Gebote und Verbote, in regelmäßigen Pressekonferenzen in Goebbels' Ministerium für Propaganda und Volksaufklärung, mit systematischer Weiterverbreitung durch regionale Presseämter, der politische Sprachgebrauch in Presse, Rundfunk und Publizistik je nach aktuellen Erfordernissen der Diktatur bzw. Kriegführung gelenkt wurde (Glunk 1966—71; Bork 1970; Straßner 1987, 48 ff.). Die Wirkung der punktuellen Sprachregelungen auf die ,Eintönigkeit' des monopolisierten Informationsflusses war ganz offensichtlich. Auch der alltägliche Sprachgebrauch in der Bevölkerung ist davon weitgehend beeinflußt worden, sogar bis in interne Kreise der Verfolgten, wie Victor Klemperer in seinem Tagebuch „LTI-Lingua tertii imperii" bezeugt. Die Fähigkeit, in offiziellen Situationen und gegenüber potentiellen Denunzianten den verlangten Propagandaton wortwörtlich zu reproduzieren, d. h. alternative Ausdrucksweisen zu unterlassen, ist dadurch ebenso gefördert worden wie die Gewohnheit, im vertrauten Kreis gerade die Sprachregelungen zur (ohnmächtigen) Signalisierung von innerem Vorbehalt, Spott und Kritik ironisch-zweideutig zu benutzen (vgl. G. Bauer 1988).
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Die sprachregelnden Presseanweisungen gingen von verschiedenen Personen und Stellen aus: Goebbels, Hitler, Auswärtiges Amt, O b e r k o m m a n d o der Wehrmacht usw. Bestimmte Wörter sollten durch andere ersetzt werden: Ersatzstoff durch Kunststoff, Flüchtlinge durch rückgeführte Volksgenossen, Krieg durch Kampf, Ostmark durch Alpen-Donaugaue, Partisanen durch Heckenschützen/Banden/Mordbrenner, Rückzug durch Frontbegradigung, Versorgungskrise durch Engpaß, Volkstrauertag durch Heldengedenktag, ... Manche Wörter wurden ersatzlos verboten: Alliierte, Anschluß (Österreichs), Drittes Reich (Zahl verträgt sich nicht mit Ewigkeitserwartung!), liquidieren, Sonderbehandlung, vaterländisch, Völkerbund, ... Für viele Wörter wurden Referenzdifferenzierungen oder -beschränkungen vorgeschrieben: Autobahn nur noch für die deutschen, Führer nur noch für Hitler, Schulung, Kongreß, Parteigenosse nur noch für die NSDAP, Mischehe nicht mehr konfessionell, nur noch rassistisch, Propaganda nur noch für die eigene Seite, (Greuel-)Hetze für die feindliche, Kampfflugzeug nur für eigene, Bomber nur für feindliche Flugzeuge, ... (s. Glunk, Bork, Straßner, a. a. O.)
T. Über die Entwicklung des öffentlichen, besonders politischen Sprachgebrauchs in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d (einschließlich der ersten Nachkriegsjahre) verdanken wir einer Düsseldorfer Projektgruppe um Georg Stötzel gezielte empirische Untersuchungen nach Texten aus Printmedien, in politisch-historische Diskursbereiche gegliedert (Stötzel/ Wengeler 1995 (abgek.: StW); M . J u n g 1994; Böke/Liedtke/Wengeler 1996; Jung/Wengeler/Böke 1997). Es könnten, je nach dem Wechsel vorherrschender und einflußreicher politischer Richtungen, mehrere Zäsuren der Entwicklung angesetzt werden, allerdings mit vielen Überschneidungen und Phasenverschiebungen (Steger 1983/1989; dazu Stötzel 1993 und in: S t W 4 f f . ) . Am einschneidendsten erscheint der Übergang von der restaurativ-integrativen Adenauer-Zeit zur stark innovativen, kontroversen, pluralistischen politischen Sprachkultur seit der sozialliberalen Koalition Brandt/Scheel und dem Beginn der Protestbewegungen in den späten 60er Jahren. Für die Zeit davor war besonders innenund wirtschaftspolitisch ein Harmonisierungsstil vorherrschend, in dem politisch-soziale Gegensätze gern verhüllend und beschönigend ausge-
drückt wurden: Integration, Wiedergutmachung, Lastenausgleich, Wohlstandsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat, Wirtschaftswunder, soziale Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung, Vollbeschäftigung, Betriebsklima, Mitarbeiter, konzertierte Aktion, Freiheit von Forschung
und Lehre, ... (s. Wengeler, in: Boke u. a. 1996, 3 7 9 ff.); zu Euphemismen der sozialen Aufwertung s. 6 . 9 V ! — Anders als die gründliche politische Neuorientiertung in den Bereichen Verfassung, Wirtschaft, Außenpolitik in den 50er und 60er Jahren, war in der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik der politisch-sprachliche Umgang mit der deutschen V e r g a n g e n h e i t und der deutschen Z u k u n f t eher gestört, retardiert und blieb problematisch, wenn auch folgenreich im Sinne einer zunehmenden sprachlichen Sensibilität.
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6.16. Politische Sprache
Als sprachgeschichtlichen Vorgang mit institutioneller Fehlsteuerung hat Heidrun Kämper (1998) die Entnazifizierung in den westlichen Besatzungszonen aufgrund einschlägiger Texte erklärt: Die Westalliierten hatten zur „Wiederherstellung der ethischen Norm" im besiegten Deutschland die überfällig gewordene Schuldreflexion der ,Täter' in der Weise institutionalisiert, daß sie mit dem „Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus" (5.3.1946) versuchten, die rational eigentlich nicht erfaßbaren zahllosen NS-Verbrechen gegen Juden, Kommunisten, Kranke, Sinti usw. individuell justiziabel zu machen. Dabei wurde, zur Ausführung durch deutsche Spruchkammern, die festzustellende persönliche Schuld begrifflich dadurch verunklärt, daß die Täter als Betroffene die Beweislast selbst zu erbringen hatten, sich in Entlastungs-Texten selbst einzustufen nach den vorgegebenen Kategorien Verantwortliche, Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete. In zahllosen apologetischen Texten (einschließlich entlastender Erklärungen von Zeugen, ironisch Persilscheine genannt) wurde so vor den Spruchkammern wie im öffentlichen Diskurs der Schuld-Begriff entleert, was in der frühen Nachkriegszeit ein öffentliches Klima des Leugnens, des Verdrängens, der Kaltschnäuzigkeit entstehen ließ, bis hin zu späteren Forderungen nach 'Wiedergutmachung für Entnazifizierungsgeschädigte. Diese mit Schwamm drüber, Strich drunter, Schlußstrich ausgedrückte politische Mentalität (Kämper 1998, 324 f.) ist vor allem durch die Ansätze zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit seit Mitte der 60er Jahre — ζ. B. in der Germanistik zuerst in Wiese/ Henß (1967) und Germanistik ... (1967) — und durch die 1968 er Studentenbewegung öffentlich in Frage gestellt worden. Die „geschichtliche Selbstinterpretation" der Deutschen in Bezug auf ihre Rolle bei den Zeiteinschnitten von 1933 und 1945 ist nach Georg Stötzels Quellenrecherchen (Stötzel 1998) an der Entwicklung des Befreiungs-Diskurses exemplarisch zu verfolgen: Von Befreiung sprachen die Westalliierten seit 1944 nur in Bezug auf die durch Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg von Krieg und Besatzungsherrschaft betroffenen europäischen Völker. Entsprechend haben die meisten besiegten Deutschen in allen Besatzungszonen die militärische Vernichtung des Nazi-Staates und Auflösung des Deutschen Reiches als Kapitulation, Niederlage, Zusammenbruch, usw., den 8. Mai 1945 als Tag der Trauer empfunden. In der sowjetischen Besatzungszone wurde die historische Zeitwende zwischen Mai 1947 und Mai 1949 von der KPD und dann der SED-Regierung der DDR als Befreiung Deutschlands vom Joche des HitlerFaschismus durch die Rote Armee neu interpretiert, der 8. Mai ab 1953 als Tag der Befreiung begangen, mit weiterer Ideologisierung als Befreiung vom Imperialismus und Kapitalismus, bis zu einem Höhepunkt aufgrund der Anerkennung der DDR, nach der der stellvertretende Ministerpräsident Abusch am 10. 5. 1970 in einem Leitartikel die DDR sozusagen in die Reihe der Sieger von 1945 aufnahm. In den westdeutschen Medien wurde die Vokabel Befreiung (die bei uns jugendlichen PoWs im amerikanischen Gefangenenlager schon im Sommer 1945 von den meisten akzeptiert war) bis in die 70er Jahre als ideologisch ,östlich' stigmatisiert. Obwohl bereits Thomas Mann am 10. 5. 1945 in einer Rundfunkrede den deutschen Zusammenbruch als „Befreiung von außen" erklärt, Theodor Heuss am 8. 5. 1949 im Parlamentarischen Rat von „erlöst und vernichtet in einem" gesprochen hatte, wurde in der Bundesrepublik bis zur Regierung Brandt von maßgebenden Politikern erbittert gegen eine Anwendung des Wortes Befreiung auf den 8. Mai 1945 angekämpft, auch im Zusammenhang mit der vorherrschenden Ablehnung einer Kollektivschuld der Deutschen am Hitlerfaschismus. Seit 1965 wurde allenfalls die Kompromißformel Wiedergewinn der Freiheit und nationaler Zusammenbruch toleriert. Vorherrschend blieb
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für den 8. Mai 1945: Niederlage, Vertreibung, Spaltung. Noch Brandt und Heinemann wagten 1970 wegen des heftigen Einspruchs von CDU/CSU-Abgeordneten nicht, das Wort Befreiung zu benutzen. Ein Wendepunkt in der Semantik von Befreiung war der FAZ-Kommentar des Politologen Graf Kielmannsegg 1970, in dem Befreiung nicht nur in Bezug auf Opfer und Unschuldige, sondern auch auf schuldbewußte Täter für politisch sinnvoll erklärt wurde, mit der unerläßlichen historischen Komponente, daß zum 8. Mai 1945 ursächlich immer der 30. Januar 1933 hinzuzudenken ist. Dadurch wurde der Weg frei für eine Entkrampfung der umkämpften Semantik von Befreiung, so daß Bundeskanzler Schmidt 1975 und Bundespräsident v. Weizsäcker 1985 den Jahrestag des Kriegsendes offiziell als „Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und Chance zu einem demokratischen Neubeginn" interpretieren konnten. Dennoch ist der Befreiungs-Diskurs der Deutschen „prinzipiell unabschließbar" wegen fortbestehender gruppenbedingter Meinungsverschiedenheiten (Stötzel 1998, 264 f.). Das gesamte Diskursfeld kann noch nicht als aufgearbeitet gelten, solange ζ. B. der entscheidende, mit großen Opfern erreichte Einleitungsakt der Befreiung, die verlustreiche Truppenlandung der Westalliierten in der Normandie, von den Deutschen meist noch immer gedankenlos mit dem NS-Propagandawort Invasion bezeichnet wird, der Beginn der Hitlerdiktatur mit der nationalsozialistischen Selbstbenennung Machtergreifung (es war eine ,Machtübergabe' durch Wahl) oder die Brutalisierung des verstaatlichten Antisemitismus in den Pogromen vom 9./10. 11. 1938 noch immer mit dem Zynismus Reichskristallnacht (dafür seit etwa 1990 öfters Reichspogromnacht). Die anfangs gestörte, später hochsensible sprachliche ,Aufarbeitung' der deutschen Vergangenheit hat Stötzel (in: StW 3 5 5 ff.) anhand der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über die Weiterverwendung von Wörtern aus dem Nationalsozialismus exemplarisch dokumentiert. In der Adenauer-Zeit stand der „gründlichen institutionellen Verdrängung dieser Vergangenheit" durch Restitution der Verwaltung und Kalten Krieg eine zunächst wirkungslose und methodisch umstrittene antifaschistische Sprachkritik in der Publizistik gegenüber (dazu s. 6 . 8 M — O ) , die aber auf die Dauer die öffentliche Sensibilität von Politikern, Journalisten und Germanisten merklich verstärkt hat, auch gegen weitere Verharmlosungs- und Rehabilitierungsversuche in den frühen 80er Jahren (Stötzel, in: StW 3 6 6 ff.). Ähnlich war die Entwicklung von leichtfertiger Verwendung zu größerer Reflektiertheit bei polemisch instrumentalisierten N a z i - V e r g l e i c h e n , die sich bis heute eher als nur „rhetorischer Antifaschismus" zugunsten von „Geschichtsverdrängung und Verbrechensrelativierung" auswirken (Stötzel, in: StW 3 6 9 ff.): Die erst im Bundestagswahlkampf 1987 und im sog. Historikerstreit öffentlich bewußtgewordene Verwendung von Nazi-Vergleichen zur pauschalen Diffamierung von Gegnern spielte in der frühen Nachkriegszeit von Anfang an eine Rolle. Völlig unreflektiert in „Tiefschlagpraxis" (Stötzel) wurden Wörter wie Ermächtigungsgesetz, Machtergreifung, Quislinge, Nazi-Methoden, Goebbels, Gestapo, KZ, ... von westdeutschen wie ostdeutschen Politikern und Journalisten für die jeweils andere Seite im Diskurs über die zunehmende politische und staatliche Spaltung Deutschlands verwendet, besonders in der Zeit der Gründung der BRD und der DDR, der sowjeti-
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6 . 1 6 . Politische Sprache
sehen Berlin-Blockade ( 1 9 4 8 / 4 9 ) und des Mauerbaus ( 1 9 6 1 ) . Seit der SPIEGEL-Affäre (1962), der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel und der staatlichen Anerkennung der D D R ( 1 9 6 6 — 7 2 ) wurden solche Nazivergleiche als Nazismus-Vorwiirfe in der westdeutschen Öffentlichkeit weniger gegen die D D R benutzt, mehr innenpolitisch zwischen SPD und C D U , zwischen linken Terroristen und Establishment. Auch hier ist seit den 7 0 e r Jahren mehr sprachliche Sensibilität im Umgang mit solchen historischen Erinnerungen, mehr Kritik an solchen Vergleichen festzustellen, allerdings nach wie vor mit meist nur einseitiger Instrumentalisierung von Fall zu Fall und nach nur eigenen Gruppeninteressen (Stötzel, in: StW 3 7 4 f f . ) . — Im Fall des Bundestagspräsidenten Jenninger hat die unsensible Benutzung (und mißverstehende Rezeption) von Elementen des NS-Deutsch in der Redeerwähnung und Narration in einer wohlgemeinten antifaschistischen Gedenkrede am 9. 11. 1 9 8 8 sogar einen Politiker durch öffentlichen Meinungsdruck um A m t und Würden gebracht (L. Hoffmann/ J. Schwitalla, in: SR 1 / 1 9 8 9 ; v. Polenz 1 9 8 9 b; Kopperschmidt 1994).
Dieser bundesdeutsche Weg vom gestörten Entnazifizierungsprozeß über antifaschistische Sprachkritik zu gesteigerter öffentlicher Sprachsensibilität hat in der DDR und in Österreich nicht stattgefunden. Im Sozia-
listischen Arbeiter- und Bauern-Staat wurde der Hitler-Faschismus
aus
marxistischen Entwicklungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft, des Kapitalismus und Imperialismus erklärt, nicht aus dem spezifisch deutschen Nationalismus, so daß ein Bewußtsein von Vergangenheit und Schuld für die DDR-Bevölkerung nicht in Betracht kam, also ideologisch allein der BRD und den Westdeutschen zugeschoben wurde. In Österreich wirkt seit der Alliierten-Erklärung von 1943 (die Österreicher seien „die ersten Opfer des Nationalsozialismus") und dem Staatsvertrag (1955) ein neues Nationalgefühl, in dem (n. Wodak u. a. 1990; Mitten u. a. 1989) die Unschuld an allem, was zwischen 1938 und 1945 geschehen ist, und das diffuse, vom Katholizismus geprägte Geschichtsbewußtsein (das Schicksal der Österreicher sei seit Sarajewo 1914 nur Leiden und Fremdbestimmung gewesen) eine wichtige Komponente darstellte. So werde bis heute — trotz Bundeskanzler Vranitzkys Erklärung von 1991: „sowohl Opfer als auch Täter" — im offiziellen Diskurs der in Österreich kontinuierlich weitverbreitete Antisemitismus geleugnet, der sich 1986 in der Waldheim-Affäre zur Kampagne gegen eine ,jüdische Weltverschwörung' gegen Österreich steigerte (Wodak u. a. 1990; Mitten u. a. 1989; Nationale und kulturelle Identitäten ... 1995). So erklärt sich auch der ganz andere Stellenwert des Nationalismus und die politische Begriffsstruktur in der mit Deutschland schwer vergleichbaren österreichischen Parteienlandschaft (Clyne 1995 a, 158 ff.) in einer „Proporzdemokratie" (Lehmbruch 1967). — Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung in der Schweiz sind erst in den 90er Jahren mit dem Thema Nazigold von den USA aus angeregt worden. U. Während im Bereich des Vergangenheits-Komplexes von einer ,Stunde Null' im Jahre 1945 nicht gesprochen werden kann, bedeutet
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die frühe Nachkriegszeit doch eine Zäsur durch den d e m o k r a t i s c h e n N e u a n f a n g in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands (Stötzel, in: StW 19ff.): Seit 1946 gab es einen vielfältigen freien Pressemarkt, parteilich oder pluralistisch, auch kontrovers, zu Anfang nicht ohne demokratische Prinzipien sichernde Vorschriften und Eingriffe der westlichen Besatzungsmächte. Durch intensive diskursive Auseinandersetzung in den neugegründeten Parteien und im Parlamentarischen Rat wurden Grundrechte und zentrale Schlüsselbegriffe des Verfassungsrechts, des föderativen Staates, der Wirtschaft, der europäischen Beziehungen, der Bildungspolitik neu definiert: Demokratie, Freiheit, sozial, Marktwirtschaft, konservativ, reaktionär, fortschrittlich, sozialistisch, humanitär, ... In der D e u t s c h l a n d p o l i t i k stellen die Bezeichnungskonkurrenzen und semantischen Kämpfe in beiden deutschen Staaten eine progressive Mischung aus traditioneller und innovativer politischer Sprache dar (nach der Presse-Dokumentation von Silke Hahn, in: StW 285 ff.): Während die traditionelle Bezeichnung Reich in der frühen Nachkriegszeit relativ rasch fast ganz verschwand, mit Rücksicht auf unliebsame Erinnerungen der Nachbarvölker und Siegermächte, blieb deutsch, Deutschland zentrales Element dieses Diskursfeldes. In der frühen Nachkriegszeit warfen sich west- und ostdeutsche Politiker gegenseitig die Schuld an der Spaltung Deutschlands vor; selbst in der DDR-Verfassung von 1968 ist noch von den beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung die Rede (in der Revision von 1974 gestrichen), und im Staatsnamen der DDR wurde die Komponente deutsch bis zum Ende beibehalten. In der Bundesrepublik entbrannte seit 1948 innenpolitischer Streit über die Bezeichnungen Ostdeutschland und Ostzone für die Sowjetische Besatzungszone bzw. Deutsche Demokratische Republik; sie wurden, da sie angeblich den ,Verzicht* auf die durch die Siegermächte an Polen bzw. die Sowjetunion abgetrennten Oder/Neiße-Gebiete implizierten, seit Ende der 50er Jahre in amtlichen Sprachregelungen durch Mitteldeutschland ersetzt, was stets umstritten blieb (nicht nur in der DDR). Daneben blieben die populären westlichen Bezeichnungen für die DDR (Zone, russische Zone, Ostzone, drüben) noch lange üblich. Mitteldeutschland konnte sich nur teilweise offiziell durchsetzen; es störte die Konkurrenz mit dem alten geographischen Begriff Mitteldeutschland für das wirtschaftlich traditionsreiche Gebiet zwischen Harz und Erzgebirge (H. Wolf 1967). Von bundesdeutschen offiziellen Stellen wurde der als politsemantische ,Lüge' diffamierte Name Deutsche Demokratische Republik nicht zugelassen; in der Vollform wurde er tabuisiert, in der Abkürzung D D R noch bis in die 80er Jahre (Springer-Presse bis 1990) nur mit distanzierenden Zusätzen wie „sog." oder Anführungsstrichen toleriert. Polemisch hieß es ohnehin meist nur metonymisch Pankow bzw. Bonn, mit Zusätzen wie Machthaber, Regime, Satellitenstaat, ... Diese Namenstabuisierung hatte Rückwirkungen auf die Benennung des westdeutschen Staates: Daß die Abkürzung BRD im Westen in den frühen 50er Jahren ohne Anstoß üblich, wenn auch nicht häufig war, hatte man vergessen, als die Abkürzung in den 70er Jahren in der DDR offiziell und privat sehr üblich wurde, worauf sie in der Bundesrepublik als deutschlandfeindliche kommunistische Propagandaformel amtlich verboten und öffentlich als heißes Eisen behandelt wurde (Hellmann 1997a).
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6.16. Politische Sprache
Ein wirklicher Verstoß gegen das Verfassungsgebot der Wiedervereinigung war dann eher die in den 80er Jahren zunehmende gedankenlose Verwendung von deutsch, Deutschland bei Sportereignissen für westdeutsche Mannschaften, also unter Ausschluß der DDR. — Nur kurz hingewiesen werden kann hier auf weitere Wort- und Bedeutungskonkurrenzen in der Entwicklung vom Kalten Krieg über die neue Ostpolitik zur Vereinigung (Hahn, in: StW 297ff.): Demarkationslinie/Zonengrenze/Staatsgrenze West/innerdeutsche Grenze, (Berliner) Mauer/Schandmauer/antifaschistischer Schutzwall, Gesamtdeutschland/geteiltes Deutschland/die beiden deutschen Staaten, gesamtdeutsch/interzonal/innerdeutsch/deutsch-deutsch, Entspannung/Annäherung/ Normalisierung/besondere Beziehungen/friedliche Koexistenz/de facto Anerkennung/ de jure Anerkennung, Wiedervereinigung/Vereintgung/Konföderation/Neuvereinigung/ Zusammenwachsen/Beitritt/Anschluß, ...
V. Nach der Adenauer-Ära, der „Sattelzeit für bundesrepublikanische Diskussionen und Begrifflichkeiten", in der sich zur Konsolidierung der neuen Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, ihres wirtschaftlichen Aufschwungs und ihrer Westorientierung im Kalten Krieg eine Diskurswelt „politischer Leitvokabeln" etabliert hatte (Böke/Liedtke/Wengeler 1996), gab es eine zweite sprachgeschichtliche Zäsur politischer Sprache der alten Bundesrepublik durch die Wirkung des Sprachgebrauchs der Neuen Linken, insbesondere der 1968er-Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) (Wengeler, in: StW 383 ff.; Stötzel 1995; Steger 1983/89; J . Klein 1989; Behrens/Dieckmann/Kehl 1982). Die sprachkritische Aktivität der Neuen Linken (s. 6.8S) hatte Einfluß auf die sprachliche Bewußtseinsarbeit der sozialliberalen Koalition ebenso wie auf die konservative Gegenkritik (Schelsky, Biedenkopf, Maier usw.). Auch die unerwartet in die Opposition verwiesene CDU/CSU erkannte es als etwas Neues, daß „Begriffe besetzen" (Biedenkopf) eines der wirksamsten modernen Mittel politischer Herrschaft ist (mit Leugnung dieser Herrschaftstechnik für die eigene Regierungsmacht). Man bemühte sich erfolgreich, gegen die Sprachherrschaft der Neuen Linken durch die gleiche semantische Tätigkeit des Begriffebesetzens den verlorenen sprachlichen Einfluß bis zur Trendwende 1983 zurückzuerobern, zumindest die sprachliche Chancengleichheit wiederherzustellen und damit nachträglich mit beizutragen zum „Beginn einer offeneren demokratischen Gesellschaft", zur „erhöhten Sprachsensibilität in vielen politischen Bereichen" und zu „einem erhöhten auch sprachlichen Einfluß nicht-traditioneller, nicht-konservativer Strömungen, wie es ihn in den ersten 15 bis 20 Jahren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht gegeben hat" (Wengeler, in: StW 384, 401). Aufgrund gesellschafts- und sprachkritischer Anregungen von der Frankfurter Schule neomarxistischer Sozialphilosophie sowie der amerikanischen Bürgerrechts- und Friedensbewegung wurde der in Wirtschaftswunder- und NS-Verdrängungs-Mentaiität restaurativ erstarrten Kriegsgeneration ein „geschlossenes Gegenmodell" (Wengeler, in: StW 385) provozierend entgegengesetzt: Der herrschende Sprachgebrauch wurde
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als Sprache der Herrschenden erklärt, revolutionäre Haltung durch bewußte Verstöße gegen die konventionellen Sprachnormen signalisiert, bis hin zur Enttabuisierung umgangssprachlicher Ausdrucksweisen und fäkalischen oder obszönen Wortschatzes (vgl. 6.12M). Neuartig ist seit der 1968 er-Bewegung auch die Verwendung ironischer und zweideutiger Ausdrücke in öffentlicher politischer Polemik (ζ. B. Feuer und Flamme für diesen Staat! Entrüstet Euch!). Ganz offensichtlich hat die Neue Linke große Wirkung auf den politischen Sprachgebrauch bis heute gehabt, mit Neubildungen, Neudefinitionen, kreativen Denkanstößen, aber — in politischer Sprache unausbleiblich — auch mit neuen Leerformeln, mit Fahnenwörtern wie antiautoritär, Basisdemokratie, Freiräume, Gegengewalt, Ideologiekritik, Legitimation, Marsch durch die Institutionen, Systemüberwindung, Weigerung, ..., mit Feindwörtern wie elitär, Entfremdung, Establishment, faschistoid, Frustration, diese Gesellschaft, Konsumterror, Leistungszwang, Manipulation, repressiv, scheißliberal, Triebunterdrückung, Umarmungstaktik, Warencharakter von ..., usw. Etwas Neues, Modernistisches war vor allem in der Studentenbewegung ein in unterprivilegierten Bevölkerungsschichten kaum verständlicher fachakademischer Soziologen- und Pädagogen-Jargon, der vor allem als „Erkennungs- und Abgrenzungssymbolik allgemeiner subkultureller Gruppierungen" wirkte (Steger 1983/89, 12): an/ausdiskutieren, artikulieren, sich einbringen, Erkenntnisinteresse, hinterfragen, internalisieren, Lernstrategien, reflektieren, umfunktionieren, Verdinglichung, verunsichern, ... Angesichts der weitgehenden oberflächlichen Verwissenschaftlichung' des Sprachgebrauchs im allgemeinen Berufsleben des technokratischen Zeitalters erscheint dieses neuartige politische ,Bildungsdeutsch' durchaus zeitgemäß. In der konservativen Kritik an der Sprache der Neuen Linken wurde aus politisch-taktischen Gründen nicht unterschieden zwischen der eigentlichen APO-Sprache und den gemäßigteren, aber ebenfalls auf Veränderung hin orientierten H o c h w e r t w ö r t e r n der sozialliberalen Koalition (Wengeler, in: StW 3 8 8 ff.; J. Klein 1 9 8 9 , 2 9 f f . ) : Aussöhnung, Chancengleichheit, mehr Demokratie wagen, Emanzipation, Entspannung, Erneuerung, Friedenspolitik, Lebensqualität, Lernprozeß, Miteinander, mündiger Bürger, Reformen, Selbstverwirklichung, Sozialstaat, Wandel durch Annäherung, ... — Seit der Zeit um 1 9 7 0 ist im politischen Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland sehr viel in Bewegung gekommen, trotz des Abgleitens einiger linker Gruppen in die Fortsetzung der Politik mit anderen, nonverbalen Mitteln, trotz der arbeitsmarktbedingten Ernüchterung der nächsten Studentengeneration, trotz der neokonservativen Wende in den 80er Jahren. Die basisdemokratische Belebung kritischen politischen Sprachgebrauchs ist von anderen politischen Richtungen, nicht nur den ,linken' und alternativen im eigentlichen Sinne, vielfältig weitergeführt worden, auch in innerparteilichen Auseinandersetzungen der etablierten Parteien. Hier müßten nun eigentlich noch mindestens 50 Seiten hochinteressanter Ausführungen folgen über die politsprachliche Entwicklung in verschiedenen in neuerer Forschungsliteratur untersuchten Diskursfeldern wie Auf-/Nach-/Abrüstung, Friedensbewegung, Europa, Neokonservatismus, Neuer Rechtsextremismus/Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Immigration, Asyl, Atomenergie, Umwelt, Bildung, Familie, Partner-
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6.16. Politische Sprache
schaft, Jugend usw. D a aber die geplante und sinnvolle Umfangsbegrenzung dieses Kapitels und dieses Bandes überhaupt schon längst überschritten ist, muí? hier leider darauf verzichtet und auf die detaillierten Literaturhinweise am Ende des Kapitels verwiesen werden, vor allem auf die Sammelbände von Böke/Jung/Wengeler 1996, Burkhardt u . a . 1989, Heringer 1 9 8 2 a , Heringer u . a . 1994, Jung/Wengeler/Böke 1997, J. Klein 1989, Liedtke/Wengeler/Böke 1991, Stötzel/Wengeler 1995, Strauß/ H a ß / H a r r a s 1989. — Zur Sprachkritik in der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung s. 6.8T—Y! Z u r Inszenierung von Politik im Fernsehen s. 6.15J—N! — Z u r institutionalisierten Arbeitsteilung im medienabhängigen Parlament s. 6 . 2 X !
W. Der politische Sprachgebrauch in der D e u t s c h e n d e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k (DDR), einschließlich seines Vorlaufs in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), war zum großen Teil keineswegs nur eine Sowjetisierung der deutschen Sprache. Zum relativ geringen russischen Lehneinfluß, der mehr aus Lehnprägungen als Lehnwörtern bestand, s. 6.10R! Er war auch nicht nur eine separatistische ,Abspaltung' von einer in der Bundesrepublik unverändert oder ,heil' gebliebenen deutschen Sprache, wie man in der westdeutschen Germanistik in der Zeit des Kalten Krieges manchmal meinte (vgl. 6.1 IL). Die Zahl der sprachlichen Innovationen war in beiden deutschen Staaten, schon von der Besatzungszonen-Zeit her, vermutlich annähernd gleich groß. Im institutionellen Wortschatz war seit 1945 die Ersetzung der nationalsozialistischen Verwaltungs- und Organisationstermini durch solche aus der Weimarer Republik bzw. durch Neubildungen im Westen wie im Osten ähnlich selbstverständlich, nur daß man im Westen teilweise etwas mehr an Sprachgebräuche vor 1933 anknüpfte als im Osten. Im politisch-ideologischen Bereich gab es im Westen etwas mehr Kontinuität als im Osten, wegen Beibehaltung oder Rückgriff auf das bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftssystem auf der einen, allmählicher Einführung eines sowjetisch orientierten sozialistischen auf der anderen. Es wäre aber eine grobe Vereinfachung, zu behaupten, daß im Westen immer die alten, ,nichtideologischen' Bezeichnungen und Bedeutungen erhalten geblieben seien und nur im Osten ein ideologischer Wortschatzwandel eingetreten sei. Die meisten dieser Unterschiede bestanden schon früher, etwa in den 20er Jahren zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberalen, Konservativen und Nationalsozialisten in verschiedenen Abstufungen. Selbst innerhalb der Bundesrepublik bestehen wesentliche Unterschiede im Gebrauch politischer Begriffe zwischen den Politikern und Anhängern der verschiedenen Richtungen von rechtsaußen bis linksaußen. Die Meinung, ein Wort könne nur eine einzige ,Bedeutung' haben und nur die der eigenen Gruppe bewußte und von ihr praktizierte sei die ,richtige' und ,nicht-ideologische', ist selbst eine Ideologie, die als sehr wirksames, weil vordergründig nicht erkennbares Machtmittel des Kollektivverhaltens gehandhabt wird. Das DDR-spezifische Deutsch beruhte nur zum
WX: Deutsche Demokratische Republik
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Teil auf politischer Ideologisierung; mindestens zur Hälfte war es Folge der zunehmenden Durchsetzung von Eigenstaatlichkeit auch in von Ideologisierung nicht direkt betroffenen Alltagsbereichen (vgl. 6 . 1 1 L - N ) . Für den DDR-spezifischen Wortschatz können wir einen ähnlichen Teilmengen-Test machen wie für den NS-Wortschatz (6.16 OP) nach den Stichwörtern der Strecke A bis E in Manfred W. Hellmanns Ost-West-Vergleich ( 1 9 9 2 ; daraus die nur oder mit mehr als 8 0 % Frequenz in der S B Z / D D R vorkommenden) und bei Hans H . Reich (1968): Von den 121 A—E-StichWörtern bei Hellmann und Reich sind mir etwa 100 als in meiner Leipziger Studienzeit 1947—1952 schon geläufig in Erinnerung. Mindestens 27 von den 121 stammen bereits aus dem ideologischen und Organisationswortschatz der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jh., des Marxismus und der KPD der Weimarer Zeit (z. B. Abweichung, Agitation, Arbeiterklasse, Ausbeutung, Basis, Bourgeoisie, Dialektik, Errungenschaft, ...), 33 sind Neubildungen aus der SBZ/DDR-Zeit (z.B. Arbeiterfestspiele, Bezirksleitung, Blauhemd, Erfahrungsaustausch, ...), davon 3 nach russischem Vorbild (Abenduniversität, Arbeiter- und Bauern-Staat, Bruderland). 11 von den 121 sind (meist eurolateinsch gebildete) Lehnwörter aus dem Russischen: administrieren, Agronom, Aktiv, Aktivist, Aspirant, Brigadier, Dispatcher, Dispensaire, Diversion, Estrade, Exponat. 36 sind SBZ/DDR-spezifische Neubedeutungen üblicher deutscher Wörter mit auffälliger Frequenzsteigerung, davon 5 nach russ. Vorbild (Abschnitt, Agent, Akademiker, Brigade, brüderlich). Ähnlich wie beim NSWortschatz, gehört der größte Teil der 121 Stichwörter (65) in den Bereich der konkreten, parteistaatlich gelenkten Ordnungen und Maßnahmen der Verwaltung, Wirtschaft und Organisationen (von Parteien bis zu Freizeitaktivitäten): Aktion, Aktivist, Bestarbeiter, Brigade, Bezirk, Blauhemd, Delegation, DTSB = Deutscher Turn- und Sportbund, Etappe, Exponat, ...; dazu gehören zahlreiche stereotype Tätigkeitsbezeichnungen, die in der BRD so nicht verwendet werden (anleiten, aufzeigen, Aussprache, beauflagen, erfüllen, Erfahrungsaustausch). — Zum DDR-spezifischen Wortschatz in Verwaltung, Bildung, Recht, Sport s. Fleischer 1987, 117 ff., 232 ff.; M. Schröder/U. Fix 1997! — Kaum 50 der 121 A—E-Stich Wörter sind politische Sprache im engeren Sinne, von theoretisch-ideologischen Begriffen des MarxismusLeninismus (Arbeit, Arbeiterklasse, Basis, Bourgeoisie, demokratisch, Dialektik, Diktatur des Proletariats, ...; vgl. Fleischer 1987, 242ff.), über Feindwörter (Abweichung, abwerben, Agent, Aggression, Anarchosyndikalismus, Atomrüstung, Ausbeutung, Bonner (als Adjektiv), Brandstifter, Diversion, ...) bis zu politischen Aktions- und Persuasionsvokabeln (Agitation, allseitig, Avantgarde, Beifall, bewußt, bestrebt, breit, Bruderland, entfalten, entwickeln, Errungenschaft, ...). Ein Beispiel für kontextbedingte Bedeutungsunterschiede zwischen DDR- und BRDGebrauch ist demokratisch (Reich 1968, 55f.; Hellmann 1992, 273ff.; Fleischer 1987, 246, 257f.): Gemeinsam ist beiden deutschen Staaten fast nur die politischsemantische Opposition gegen faschistisch/nationalsozialistisch, rassistisch, imperialistisch, militaristisch, diktatorisch. Während aber in der DDR demokratisch auch in Oppositionsbeziehung zu kapitalistisch, westlich, verwendet wurde (so im Staatsnamen oder in Demokratischer Sektor von Berlin, demokratische Massenorganisationen), sind in der BRD auch sozialistisch, kommunistisch, sowjetisch Gegenbegriffe (z. B. in freiheitlich-demokratische Grundordnung). DDR-Kollokationen zu demokratisch im Sinne von kompatiblen Merkmalen waren (z. T. nach Marx und Engels):
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6.16. Politische Sprache
sozialistisch, kommunistisch, werktätige Massen, fortschrittlich, Zentralismus, volksdemokratisch, ...; BRD-Kollokationen dagegen Freiheit, Mitbestimmung, individuelle Rechte, Pluralismus, Privateigentum, parlamentarisch, ... Seit 1955 wurde in der DDR demokratisch weniger häufig verwendet, ζ. T. durch sozialistisch ersetzt (Fleischer, a. a. O.). Das Verhältnis zwischen alten, in beiden deutschen Staaten üblichen Altbedeutungen und politisch-ideologischer DDR-Neubedeutung kann am Beispiel Arbeit demonstriert werden: In Hellmanns Ost-West-Dokumentation (Hellmann 1992, 1, 58 ff.) sind aus dem ostdeutschen NEUEN DEUTSCHLAND [ND] 1693 Belege zu finden, aus der westdeutschen WELT nur 506. Dieses ungleiche Verhältnis erklärt sich daraus, daß der Begriff Arbeit im sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Staat einen zentralen Stellenwert im sozialökonomischen System hatte (schon im „Kommunistischen Manifest" 1848), vergleichbar etwa dem Stellenwert des Begriffs Wachstum im bürgerlich-kapitalistischen. Der spezifisch marxistische Begriff Arbeit von Marx und Engels her enthält (nach dem in der DDR halboffiziellen „Philosophischen Wörterbuch" von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 1964; vgl. jetzt auch Hermanns 1993 b.) u. a. folgende Komponenten: Arbeit sei Naturrecht und notwendige Existenzbedingung des Menschen, also immer gesamtgesellschaftlich bestimmt. Die kapitalistische Trennung von Arbeit und Produktionsmittelbesitz sei Entfremdung der Arbeit durch Verkauf der Arbeit an den Eigentümer der Produktionsmittel, also Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Im Sozialismus und Kommunismus sei Arbeit nicht nur Mittel zur Erlangung lebensnotwendiger Güter (mit vom Produzenten zu leistender Überproduktion zur Vermehrung von Privateigentum Anderer), sondern Mittel der „Selbstbetätigung und Selbstbestätigung des Menschen", es gebe nicht mehr den Gegensatz zwischen geistiger und (diskriminierter) körperlicher Arbeit, zwischen als notwendiges Übel aufgefaßter Lohnarbeit und Freizeitbetätigung. „Die schöpferische Arbeit der sozial gleichen und hochgebildeten Arbeiter kennzeichnet die zum ersten Lebensbedürfnis gewordene Arbeit im Kommunismus" (Klaus/Buhr, a. a. O. 102). Von den bei Hellmann (a. a. O.) abgedruckten 79 Belegstellen aus dem ND sind bestenfalls 38 auf den ersten Blick an der marxistischen Begriffsdefinition orientiert. Davon sind aber 19 als nicht DDR-spezifisch abzuziehen, da diese Verwendungsweisen im Prinzip auch in der westdeutschen Belegsammlung vorkommen, nämlich Arbeit als Tätigkeit in politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Institutionen, denen in der WELT 8 Belege entsprechen (nur mit anders benannten Institutionen). Auch die im ND beliebte Verbindung schöpferische Arbeit und ähnlich positiv bewertende Ausdrücke kommen in der westdeutschen Quelle ebenfalls vor. Als eigentlich DDR-spezifisch bleiben danach nur 15 Belege wie Recht auf Arbeit, gesellschaftlich erheischte Arbeitszeit, jede Arbeit gehört dem Volke, Arbeit mit den Kadern, genossenschaftliche/kollektive Arbeit, Massenarbeit und die festen Titel Held/ Banner der Arbeit, Brigade/Kollektiv/Aktivist der sozialistischen Arbeit, die teilweise russische Vorbilder haben (Reich 1968, 30f.). — Zum West/Ost-Wortschatzvergleich s. auch 6 . 1 1 K - 0 ! X . Die ideologische Festlegung von Wortverwendungen wurde in der D D R nicht mit den (vom Goebbelsministerium bekannten, s. 6.16S) Methoden der metasprachlichen punktuellen Sprachregelung von Fall zu Fall erreicht, sondern durch die Verwendung eines Wortes bzw. einer neuen Wortbedeutung in einem gültig definierenden Kontext und dessen
WX: Deutsche Demokratische Republik
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ständige, in Nominalgruppen komprimierte Wiederholung in sachlich entsprechenden Kontexten, gelegentlich mit explizitem intertextuellem Rückverweis auf die primäre Verwendung, ζ. B. in einem Beschluß des Zentralkomitees oder eines Parteitags der SED. Der offizielle, die Massenmedien stark beherrschende Sprachgebrauch der D D R war deshalb ausgesprochen trocken und systematisch bis zur Pedanterie, stark r i t u a l i s i e r t mit vielen Wiederholungen, Verweisen und festen Formeln, mit langatmigem, sehr komplexem und komprimiertem Satzbau (vgl. Fix 1 9 9 2 ab; 1 9 9 4 ab; 1 9 9 8 ) . Formales Stilvorbild war eine stark normative, explizit ausformulierende Wissenschafts-, Fach- und Verwaltungssprache im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus, ein Erbe des deutschen 19. Jahrhunderts in sowjetischer Perfektionierung. Dazu als Beispiel Sätze eines Nachrichtentextes aus der parteieigenen Tagespresse: „Durch das Referat des Genossen Walter Ulbricht zieht sich wie ein roter Faden: Die Lösung der Aufgaben zur Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus, des ökonomischen Systems und zur Meisterung der wissenschaftlichtechnischen Revolution bedarf ständig einer eindeutigen Position des konsequenten ideologischen Kampfes. [...] Genösse Honecker hat sich in seinem Diskussionsbeitrag prinzipiell mit der Konvergenztheorie auseinandergesetzt, die den Klasseninhalt der gesellschaftlichen Entwicklung verleugnet und damit den Stoß gegen die historisch objektiv notwendige führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse und der sozialistischen Ideologie führt." (Neues Deutschland, 27. 10. 1968) Dieser Staatsparteistil war weit entfernt von der emotionalen ,Vokabelmusik' der Nationalsozialisten und ebenso vom gefälligen Harmonisierungsstil der frühen Bundesrepublik. In nur 2 Satzgefügen mit nur 5 finiten Verben häufen sich hier mit ζ. T. mehrfacher Unterordnung 14 Adjektivattribute, 11 Genetivattribute und 3 Präpositionalattribute, wie im trockensten Gelehrten- oder Bürokratenstil. Diese Häufung sekundärer Syntagmen enthält aber kein einziges überflüssiges Epitheton. Die meisten Wörter und Phraseologismen — von entwickeltes gesellschaftliches System bis historisch objektiv notwendig, führende Rolle und sozialistische Ideologie — sind terminologisch genormt, d. h. im Sprachbesitz der SED-Mitglieder und der bewußtseinsmäßig entwickelten DDR-Bürger und -Bürgerinnen mit feststehenden offiziellen Definitionen versehen, die bei Bedarf angewandt werden können. Diese Art von Sprachlenkung arbeitete mit einem entwickelten Begriffssystem, das noch dazu weithin mit einer gegenüber der bürgerlich-kapitalistischen Welt stark veränderten Wirklichkeit verbunden war. Gelernt wurde es regelmäßig in Schulunterricht, Schulungen und rituellen Aussprachen. Der Orthographie-Duden wurde in seiner Leipziger Ausgabe als Instrument der Sprachlenkung benutzt, indem zu den wichtigsten politischen Termini die jeweils offiziellen Definitionen nach Klassikerzitaten (Marx, Engels, Lenin, Stalin) hinzugesetzt und bei jeder Neuauflage nach dem jeweiligen parteiideologischen Stand überprüft und geändert wurden (Betz 1960; Bergsdorf 1979, 10 ff.; Reich 1968, 333 ff.). Dieser politische Sprachstil förderte auf der einen Seite viele semantische Differenzierungen in Oppositionspaaren, ζ. B. bürgerliche Demokratie Φ sozialistische Demokratie, (sozialistischer) Gewinn Φ (kapitalisti-
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6 . 1 6 . Politische Sprache
scher) Profit, (soz.) Leistungslohn Φ (kap.) Akkordlohn, schaftswissenschaft
Φ (bürgerl.) Soziologie.
(soz.) Gesell-
Auf der anderen Seite wurde
mit dieser sprachlichen Meinungssteuerung das Denken dualistisch festgelegt auf unausweichliche Entscheidungen nach ,Freund' und ,Feind', fortschrittlich' und Reaktionär', ,gut' und ,schlecht', auf ganz bestimmte Wortbedeutungen auf Kosten der anderen, nach dem dogmatisierten Marxismus-Leninismus, der jeweiligen Parteidoktrin und den Erfordernissen des Prosowjetismus. Im Vergleich mit der sprachlichen Verführungsmacht des faschistischen Stils, die rationales politisches Denken gar nicht erst aufkommen ließ, bedeutete dieser DDR-Sprachgebrauch eine formale Politisierung der Staatsbürger, die so mit einem in sich systemhaften Vorrat von Formeln und Argumenten für systemkonformes politisches Reden und Schreiben versorgt wurden, als Anleitung zum kollektiven, unkritischen Denken. So wurden die eigenen Oppositionellen durch semantische Festlegung der Wörter ziemlich Sprach-los gemacht und die Bürger und Bürgerinnen der D D R gegen die eher unsystematische, emotionale und individualistische Redeweise der Westdeutschen ideologisch immunisiert. Dies implizierte aber auch für den sozialistischen Staat selbst die schwer kontrollierbare Gefahr, daß Sprachlenkung und Meinungslenkung in der Weise auseinandergingen, daß viele innerlich Widerstrebende, Gleichgültige oder Angepaßte die Pflichtübung in dieser politischen Terminologie und Argumentationsart nur als ,Sprachritual' zu ihrem eigenen politischen Schutz absolvierten. Die Menschen in der D D R wußten genau, in welchen Situationen und gegenüber welchen Personen sie zu ihrem individuellen Vorteil ζ. B. statt der Abkürzung D D R die Vollform des Staatsnamens mit dem gruppensymbolischen Zusatz unsere zu sprechen, die Anreden Genösse/Genossin, Kollege/Kollegin, Jugendfreund/-freundin oder emphatische Adjektive und Adverbien wie allseitig, breit, konkret, umfassend, vorbildlich, wahrhaft zu benutzen hatten, oder die üblichen Beschwichtigungsformeln: zunehmend, noch mehr, noch nicht konsequent genug, ... (Oschlies 1 9 9 0 b , 4 1 ; Fix 1 9 9 2 bc). — Im Propaganda-und Festredestil gab es Relikte aus dem revolutionären Pathos der Arbeiterbewegung des 19. Jh., ζ. B. Archaismen wie Banner, Bastion, Bollwerk, brüderlich, flammend, groß, hehre Ziele, heroisch, kämpferisch, Kerker, kühn, leidenschaftlich, Patriot, ruhmreich, Schergen, schmachvoll, stolz, stürmisch, ... — Nicht zur politischen Sprache im eigentlichen Sinne gehört der erst nach der Wende 1 9 8 9 bekanntgewordene Geheimcode des DDR-Staatssicherheitsdienstes (Das Wörterbuch ... 1 9 9 3 ; Fix 1 9 9 5 b ; Henne 1 9 9 5 ; Ch. Bergmann 1 9 9 6 ) .
Y. Die schließlich zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten hinfüh-
rende stille, friedliche, gewaltlose
Revolution in der DDR im Herbst
1 9 8 9 hatte viel mit Sprache zu tun. Abgesehen von der Wirkung nicht öffentlich-sprachlicher Auslöseereignisse wie der Ausreisewelle im Sommer 1989, der massenhaften ,Besetzung' von Straßen und Plätzen im Herbst und der geheimen Stillhaltebefehle an die Rote Armee und die
Y: Wende 1 9 8 9 / 9 0
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Nationale Volksarmee, gilt nach Wolf Oschlies (1990 b, 9), daß nach einhelliger Kommentierung in Ost und West die Revolutionen in der DDR, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, „durch die Sprache vorbereitet, ausgelöst, umgesetzt und fortgeführt" wurden. Der Weg zur „Deutschen Diskutierenden Republik", wie die DDR damals in Bulgarien genannt wurde (Oschlies 1990 b), begann mit den Auslösewörtern Perestroika und Glasnost, die in der DDR „fast nur konspirativ" gebraucht werden konnten (Hopfer 1991, 119), wurde öffentlich mit Gorbatschows hintergründiger Spruchweisheit „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", mit der er beim 40-Jahre-Jubiläum der DDR ein für die erlernte Sprachsensibilität der DDR-Bürger verständliches implizites Aufbruchsignal gab, und steigerte sich im Oktober und November in zahlreichen s p r a c h r e f l e k t i e r e n d e n Äußerungen von Mitwirkenden und Betroffenen in Demosprüchen, Reden und publizistischen Kommentaren mit Formulierungen wie den folgenden (n. Oschlies 1990 b): Glasnost statt Pbrasnost — Befreiung der Köpfe und der Zungen — Wir haben unsere Sprachlosigkeit überwunden — Das Volk hat seine Sprache wiedergefunden — Der Damm ist gebrochen, hinter dem das Wort, das freie, das wahre, das eigene Wort, so lange gestaut und eingemauert war, bis ein ganzes Volk an seiner Sprachlosigkeit buchstäblich zu ersticken drohte, ... Ein Höhepunkt dieser öffentlichen Sprachreflexion war der (teilweise spontane) Redebeitrag der Schriftstellerin Christa Wolf auf der Alexanderplatzkundgebung am 4. November, vor allem an drei Stellen (n. Volmert 1992, 108 ff.): „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen, wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben, was wir uns jetzt zurufen [...] soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel Zorn und Trauer, und mit soviel Hoffnung. [...] Ja: Die Sprache springt aus dem Amter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter." Diese Ansprache erklärte Reinhard Hopfer (1992, 111) sprachpragmatisch: „Die Revolution in der DDR zeigte sich nicht zuletzt in dem massiven Protest gegen die Orwellschen Verhältnisse in der Sphäre der gesellschaftlichen Kommunikation. In früheren Zeiten mag es so etwas wie Hungerrevolten gegeben haben. In der DDR revoltierte auch die Sprache".
Die neuartigen öffentlichkeitssprachlichen Ausdrucks- und Handlungsformen im Herbst 1989 kamen keineswegs plötzlich ,aus der Luft' oder ,über Nacht' oder nur aus den Westmedien. Die DDR-Bürger und -Bürgerinnen waren an sprachliche Flexibilität, situationsbedingtes CodeSwitching, ironisches, parodistisches, zweideutiges Sprechen und an einen vom staatlich ritualisierten offiziellen Sprachgebrauch unterschiedenen halböffentlichen und privaten Diskurs gewöhnt, auch an politisches Kabarett und satirische Publizistik (R Braun 1992; Schiewe 1997; vgl. 6.1 IN). Die ,Sprachrevolte' bestand hauptsächlich in dem kollektiven Wagnis, Sprachmittel des vorher halböffentlichen und privaten Diskurses in einen neuartigen öffentlichen Diskurs einzubringen und in bestimmten Handlungsformen wirksam zu machen, so daß nun in einer
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6.16. Politische Sprache
diskursrevolutionären Umkehrung die auf eine völlig unflexible, humorlose Staatsparteisprache festgelegten Betonköpfe und Hundertfünfzigprozentigen Sprach-los wurden. Sprachpragmatisch vollzog sich die Befreiung der öffentlichen politischen Rede aus unerträglich gewordenen Zwängen der totalitären Institutionalisierung von Politik als eine „ E n t r i t u a l i s i e r u n g " , wie sie ζ. B. Ulla Fix am Beispiel von Losungen und Jugend-Textsorten erklärt hat (Fix 1990; 1992ab; 1994 b). Der „neue Diskurs" als Protest gegen den „alten Herrschaftsdiskurs" konstituierte sich nach Hopfer (1992, 113 ff.) — außer aus der neuen historischen Konstellation — aus Veränderungen der Kommunikationskonstellation, des Diskursinstrumentariums und der Intertextualität: Auf Kundgebungen und in Demonstrationen galt M e h r f a c h a d r e s s i e r u n g (Oppositionelle, Unentschiedene, Opportunisten (Wendehälse), Verteidiger des alten Systems, aber auch Medienvertreter aus Ost und West), mit einem neuartigen ,wir', mit ungewohnter symmetrischer Interaktion und Fairness. Themen wurden enttabuisiert (Massenflucht, wirtschaftlicher Niedergang, Umweltschäden, ...). In Bezug auf das D i s k u r s i n s t r u m e n t a r i u m wurden sprachliche Stilformen erprobt, alte Muster abweichend oder kreativ verwendet, Muster vermischt oder spielerisch neue Muster entwickelt (Fix 1990, 332ff.; Volmert 1992): Kurztextsorten wie Diskussionen in Kirchen, Stehgespräche auf der Straße, spontane Kurzansprachen, Sprechchöre, Zwischenrufe, Spruchbandtexte, Mauersprayschriften, Autoaufkleber, Karikaturen, brennende Kerzen, getragene Särge, Fahnen ohne DDR-Emblem, usw. I n t e r t e x t u e l l e Verfahren waren anspielendes Zitieren und Neuformulieren von Wörtern oder Sätzen aus früheren Texten des Gegner-Diskurses: „Vorschlag für den ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei" (nach der Brechtschen Umkehrfigur „... soll sich die Regierung ein anderes Volk wählen")·, „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!"·, „Proletarier aller Länder, verzeiht mir! (Karl Murx)", oft in weiterlaufenden Reihen: „Stasi in die Volkswirtschaft!", „Stasigelder in die Wälder", „Mielke in die Janka-Zelle", „Schnitzler in die Muppet-Show!" (über den Staatssicherheitsdienst, dessen Minister und den offiziellen Fernsehkommentator), ... Solche s p i e l e r i s c h e n Formen wirkten gemeinschaftsbildend, nach dem von Ironie, Phraseologie, Floskeln und jargonhaften Anspielungen bekannten soziopragmatischen Prinzip, daß solche indirekten Ausdrucksweisen nur mit einem hohen Maß an vorausgesetztem gemeinsamem Wissen verständlich sind (Fraas/Steyer 1992, 174; Fix 1990, 340). Der Erprobungscharakter solcher Demo-Sprüche ist auch aus dem Dilemma zu erklären, sich vom alten Diskurs ebenso wie von der Imitation westdeutscher Muster politischen Sprachgebrauchs fernhalten zu wollen (Volmert 1992, 68). Verglichen mit den früher zum 1. Mai jeweils vorher bekanntgegebenen offiziellen SED-Losungen, enthielten die neuen Demo-Sprüche eine größere Vielfalt an Sprachhandlungstypen (Fix 1990, 338 f.). Wie in westdeutschen Protestbewegungen seit 1968, aber mit fester Tradition im halböffentlichen und privaten Diskurs in der DDR, waren im Herbst 1989 spielerische sprachliche Ausdrucksweisen beliebt: Umgangs- und Vulgärsprachliches {„Immer nur SEDi Nee!", „Tschüs, Egon!" (über den Honnecker-Nachfolger Egon Krenz), „Wir lassen uns nicht mehr verarschen, ..."), Wortspiele mit hintergründiger Bedeutung („Eure Politik ist zum Davonlaufen", „Reiht Euch ein in die Einheizbewegung", ...), variierte Sprichwörter („Bleibet im Lande und wehret Euch täglich", „Oft sah man den Wald vor Zäunen nicht", ...), graphemische Wortspiele („Weder beKRENZT noch verKOHLT", „Laßt Euch nicht BRDigen!",...), Reimsprüche („Mit dem Fahrrad durch Europa / Aber nicht als alter Opa!", „Egon Krenz / Wir sind nicht deine Fans!", ...).
Y: Wende 1989/90
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Die gewohnten politischen S c h l ü s s e l w ö r t e r der DDR wurden im Herbst 1989 vermieden oder tabuisiert: Aufgaben, Errungenschaften, Fortschritt, Genösse, Gestaltung, die Partei, der Plan, Überzeugungsarbeit, ... Alte Schlüsselwörter wurden in neuer Bedeutung verwendet, also für den neuen Diskurs ,besetzt', teilweise durch Zusätze markiert: Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wirkliche Reformen, echter Dialog, wahre/volle Demokratie, Demokratie von unten nach oben, Wir sind das Volk, ... Sprachkritisch wurden alte Bezeichnungen durch neue, ehrlichere ersetzt: Mauer statt befestigte Staatsgrenze; Mangel, Mißwirtschaft statt Engpaß; Abwanderung, Flüchtlingswelle, Exodus, Abstimmung mit den Füßen statt Republikflucht, Abwerbung, Menschenhandel; Demonstranten, Oppositionelle statt Randalierer, Provokateure, Konterrevolutionäre, antisozialistische Elemente, Verräter, ... Neue Feindwörter wurden üblich: Stalinismus, Alleinherrschaft, Wahrheitsmonopol, Betonköpfe, Blockflöten, Wendehälse, IMs, ... — Zu „Schlüsselwörtern der Wendezeit" vgl. jetzt auch Herberg/Steffens/Tellenbach 1997!
Z. Während der Anti-SED-Revolte in der DDR im Herbst 1989 war der w e s t d e u t s c h e Spracheinfluß im Wende-politischen Diskurs noch nicht beherrschend. Es wurden nur einige Lieblingswörter des liberalen bundesdeutschen Sprachgebrauchs übernommen: Akzeptanz, Besonnenheit, etwas!sich einbringen, hinterfragen, Konsens, Offenlegung, Pluralismus, Querdenker, Schulterschluß, transparent, ... (Schlosser 1990a, 188; Oschlies 1990 b, 23 f.). Die ,Sprachrevolte' des bewegten Herbstes 1989 ging rasch zuende und blieb ziemlich folgenlos: „Die kurze Phase basisdemokratischer Bewegungen 1989/90 ist nicht sehr nachhaltig gewesen und wird im Wortschatz vermutlich keine bedeutenden Spuren hinterlassen" (Fleischer 1992, 24). Wende-Wörter wie aufrechter Gang, Blockflöten, Mauerspecht, Reisefreiheit, Runder Tisch, Übersiedler, Wendehals, wenn sie auch in literarischen und publizistischen Texten noch weiterhin vorkommen werden, wird man zu ihrem Verständnis künftig in einem (guten) Wörterbuch nachschlagen müssen. Das Revolte-Thema ,neue Offenheit' wurde schon im Winter weitgehend verdrängt von „einer Wiedervereinigungshektik und einer D-Mark-Utopie" (Fritzsche 1992, 205), die kritischen, provozierenden Revolte-Rollen von „Mitmacher"und „Parteimacher-Rollen" (Stötzel 1991, 11). In der Wahlkampfzeit bis 18. März 1990 traten an die Stelle der ,Sprachrevolte' die zunehmende Imitation und Anpassung an westliche Sprachvorbilder und bald auch ein unwiderstehlicher sprachlicher „Anpassungsdruck" aus dem Westen (Schlosser 1992 b, 55). Die schnell erlernte neue Sprache war nicht mehr eine eigene der DDR-Bürger, sie konnte „als Eintrittsbillet in die neue Gesellschaft benutzt werden" (Fritzsche 1992, 204ff.). Bei der Verdrängung der alten DDR-spezifischen Politik- und Verwaltungssprache haben Wahlkämpfer und Volkskammerabgeordnete selbst der SED bzw. PDS eifrig mitgewirkt (Schlosser 1990b, 31; 1990a, 189). Der Sprachgebrauch der ,Wende'Volkskammer und der neugewählten ,Beitritts'-Volkskammer war gekennzeichnet einerseits von neuer Identitätssuche aller Gruppen und semantischen Kämpfen zwi-
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6.16. Politische Sprache
sehen altem und neuem Diskurs (Teichmann 1991, 260ff.; Oschlies 1990 b, 12, 27), andererseits von auffallend ängstlicher Zurückhaltung in Bezug auf wirkliche Kontroversen und Polarisierungen, da dieses zu neuem Leben erweckte Parlament sich nur als „Abwicklungsinstanz" verstand und sich rasch und teilweise übertrieben die Rituale des „westdeutschen Schauparlamentarismus" angewöhnte, so daß es keine eigene Sprache mehr finden konnte (Burkhardt 1992, 194). Die westdeutschen Parteien haben im Wahlkampf in der Noch-DDR in der Beitritts-Phase ihre zentralen Inhalte und Werbesprüche kaum auf die ostdeutschen Wähler hin orientiert (Gruner 1992, 285). Im w e s t d e u t s c h e n politischen Sprachgebrauch hat sich seit dem Herbst 1989 sehr wenig bewegt. So hat sich seit der zunächst hinausgezögerten Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze ziemlich schlagartig der Gebrauch von ostdeutsch, Ostdeutschland verändert (Stötzel 1991, 17f.): Politiker und Journalisten — nicht die der Vertriebenenverbände — hielten sich nicht mehr an die revanchistische Dreiteilung aus der Adenauer-Zeit (West/Mittel/Ostdeutschland) und bezeichneten die neuen Bundesländer plötzlich als östliche, ihre Bewohner als Ostdeutsche (Glück 1992, 158 ff.). In der Benennung des die deutsche Teilung beendenden Ereignisses vom 3. Oktober 1990 wurden viele Varianten mit unterschiedlichen prädikativen und konnotativen Bedeutungen erprobt: Das von Willy Brandt kritisierte traditionelle Wort Wiedervereinigung erhielt schon im Sommer 1990 Bezeichnungskonkurrenz: Vereinigung, Einigung, Neuvereinigung, deutsche Einheit, Überwindung der Teilung, Zusammenwachsen (Brandt), oder ganz sachlich Beitritt, Hinzutritt, polemisch auch Anschluß, Vereinnahmung, Zusammenwuchern, Einverleibung,... (Glück 1992, 168). Bei der Benennung der ehemaligen DDR war man ebenso experimentierfreudig (Stötzel 1991, 18; Glück 1992, 163): die einstige/damalige/untergegangene DDR, Nichtmehr-DDR, Beitrittsgebiet, neue Bundesländer, Neuländer, Neufünfland, Ostdeutschland, Ostländer, Tarifgebiet Ost, polemisch/spöttisch: die verblichene/weiland DDR, Ex-DDR, Ostelbien, unsre Ehemalige, Ossinesien, Deutsch-Ost, KOHLonie, ... Asymmetrisch ist auch das fast völlige Fehlen solcher Bezeichnungen für die alte BRD/die alten Bundesländer (Fleischer 1992, 22). Das hochkonnotierte Teilungs-Vronomen drüben gilt noch heute gegenseitig.
Die alltägliche Wirklichkeit des öffentlichen Sprachgebrauchs bleibt, nach zahlreichen Untersuchungen seit der Wende-Zeit, für die neuen Bundesbürger noch für absehbare Zeit mit Schwierigkeiten verbunden: Mit Überlegenheitsbewußtsein und ,Sanierungs'-Mentalität vieler nach drüben gegangener Westdeutscher (mit Nach-Wende-Wörtern wie Buschzulage, evaluieren, Ossi, plattmachen, rote Socke, Seilschaft, Treuhand, Wiedereinrichter, ...) — hatte westlicher Anpassungsdruck eine rasche, soziolinguistisch asymmetrische, oft nur imitierend lernende Rezeption bundesdeutscher Öffentlichkeits- und Alltagssprache zur Folge (s. Reiher/Läzer 1996; Herberg u. a. 1997). Aus der ,Sprachrevolte' wurde eine „Befreiung ins Leere" (Schlosser 1993). So entwickelte sich eine „Kultur des MißVerständnisses" (Good 1993), manchmal mit Aneinander-Vorbeireden, Verunsicherung, Ratlosigkeit, Angst vor falschem' Wortgebrauch, neuer Identitätskrise und Nachfrage nach Sprachberatung (I. Kühn 1994), wobei sich die Mauer in den Köpfen (v. Weizsäcker) als Verdrän-
Ζ: Neue Bundesländer
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gung des gewohnten DDRischen Code-Switching in den privatesten Sprachverkehr oder als ironischer Gebrauch von Besserwessi-Wörtern auswirkt. Das DDR-Deutsch war eben nicht nur eine schnell abzuschaffende politische Terminologie, sondern teilweise auch eine weite Bereiche des Alltagslebens betreffende 40 Jahre alte staatliche Varietät der deutschen Sprache, von der noch längere Zeit Reste als Regiolekt der neuen Bundesländer erhalten bleiben werden (vgl. 6.11 O), z.T. auch unterschwellig innenpolitisch wirksam (vgl. Holly/Habscheid 1997). Davon, wie auch von den politischen Folgen der hohen Arbeitslosigkeit und des neuen Rechtsradikalismus wird es abhängen, wie sich politische Sprache in der neuen, größeren Bundesrepublik Deutschland weiterentwickelt. Die seit den 60er Jahren erreichten Fortschritte in Bezug auf kritische Sprachsensibilität und pluralistische Kommunikationskultur werden sich hoffentlich als stark genug erweisen gegen mögliche Riickfälle in Sprachintoleranz, Sprachdogmatismus und Sprach-los machende totalitäre Sprachregelungen.
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572
6.16. Politische Sprache
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Abkürzungen Zeitschriften, Handbücher, Reihen Brunner/Conze/Koselleck (s. Lit.!) Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Besch/Reichmann/Sonderegger, Sprachgeschichte (s. Lit.!) Beiträge zur Namenforschung Deutsch als Fremdsprache Diskussion Deutsch Deutsches Fremdwörterbuch (s. Lit!) Duden. Das große Wörterbuch (s. Lit!) Deutsche Philologie im Aufriß (s. Lit!) Deutsche Sprache Der Deutschunterricht Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte DW Deutsche Wortbildung (s. Kühnhold u. a., s. Lit.!) FoL Folia Linguistica GL Germanistische Linguistik GM Germanistische Mitteilungen GRM Germanisch-romanische Monatsschrift IDaF Informationen Deutsch als Fremdsprache IJSL International Journal of the Sociology of Language JbDaF Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache JbIG Jahrbuch für internationale Germanistik KBGL Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik LB Linguistische Berichte LGL Lexikon der germanistischen Linguistik (s. Lit.!) LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Monatshefte Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur MS Muttersprache Ndjb Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung NdW Niederdeutsches Wort NphM Neuphilologische Mitteilungen OBST Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie PD Praxis Deutsch RhVb Rheinische Vierteljahrsblätter SHH Strauß/Haß/Harras 1989 (s. Lit.!) SL Studium Linguistik Spw Sprachwissenschaft SR Sprachreport
Β CK BEDS Beitr BRS BzN DaF DD DFWB DGW DPhA DS DU DVjS
Abkürzungen STS StW STZ SuL WDG WW ZDL ZdS ZdW ZfdPh ZfG ZGL ZMaf ZPSK ZS
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Studienbibliographien Sprachwissenschaft Stötzel/Wengeler (s. Lit.!) Sprache im technischen Zeitalter Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (s. W D G in Lit.!) Wirkendes Wort Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik Zeitschrift für deutsche Sprache Zeitschrift für deutsche Wortforschung Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift f ü r Germanistik Zeitschrift für germanistische Linguistik Zeitschrift für Mundartforschung Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung Zeitschrift für Sprachwissenschaft
Register àie Aussprache 6.6Y; Rechtschreibung 6.6R Abitur 6.2KL Abkürzungswörter 6.7L 6.9Q Academie Française 6.6F Adel 6.1CGM 6.2MS 6.4.1QU 6.12F; s. a. Oberschicht! Adelung, J. Chr. 6.8B Adorno, Th. W. 6.8L 6.14G aero-, Konfix 6.10G afiniter Nebensatz 6.9G Afrika, Deutsche in 6.4.1Y 6.4.3W 6.4Lit Akademie, Berliner 6.6F Akademiepläne 6.6F akademischer Sprachstil 6.2K 6.8C; a. Jargon 6.2S Akkusativ(ierung) 6.8Q 6.9ELit Aktionsarten 6.9H Alldeutsche Bewegung 6.1M 6.2CS 6.4.1XY 6.11U Allgemeiner Deutscher Sprachverein (ADSV) 6.1M 6.7EGH 6.6FZ 6.7IJ 6.7Lit 6.11U Allgemeines Landrecht (ALR), preuß. 6 . I C 6.14B Alltagsgeschichte, -texte 6.OA 6.21 6.2Lit 6.7P 6.16Q; -spräche, -Wortschatz 6 . 1 1 L - 0 6.16ZLit Alphabetisierung 6.OA 6.2GHLit altdeutsche, -fränkische Schrift 6.2C alternative Bewegungen 6.8TV 6.11W 6.16VLit Altes Reich 6.1A 6.4.1U Amerika (USA) 6.4Lit; -deutsche 6.2G 6.4.1Y 6.4.2S 6.4.3W; Deutschlernen in A. 6.5EF; A. als Vorbild 6.2E 6.3HIKLNP 6.4.0 6.7S 6.9P 6.10J 6.16V Améry, J. 6.14G Amtssprache, sprachpolit. Status 6.4.3CFTU 6 . 5 A - E X Y 6.11P
Amtssprache/stil 6.7D 6 . 9 H - J 6.15B; s. a. Verwaltungs-! amüsieren, sich 6.9S 6.12G Analphabetismus, (funktionaler) 6.2BGH 6.3R analytischer Sprachbau 6.9D—F anaphorische Pronomen 6.9K Andresen, G. 6.8D Anführungszeichen 6.9PLit Angestellte 6. IL Angloamerikanismen/Anglizismen 6.7ST 6.9Q 6.IOC 6.10J-PLit 6.14HK 6.15E; s. a. Integration! Annecke, Mathilde Franziska 6.16J Anredeformen 6 . 2 0 6.8C 6.9YZLit 6.11R Anstandsbücher, -rituale 6.2LN; s. a. Höflichkeit! Anti-Atomkraft-Bewegung 6.8V 6.16Lit Antifaschismus 6.16Lit antifaschistische Sprachkritik 6.8M— OSLit antifranzösische Einstellung 6.1A 6.3D 6.7B Antipolonismus 6 . I M Antiqua-Schrift 6.2C—E Antisemitismus, -judaismus 6.1 A 6.1MR 6.3D 6.4.1Z 6.4.2U 6.7L; Sprachgebrauch: 6 . 1 6 L M - T L i t Antislawismus 6.4.1Q 6.16HKL Anzeigenwerbung s. Werbung! Appositionen 6.9E Arbeit 6.16W Arbeiter 6.161 Arbeiter, -schaft, -klasse 6.0A 6.21; -bewegung 6.1FGK 6.6X 6.9Y 6 . 1 0 R 6.12AH 6.16IWXLit; -bildung 6.1L 6.2JLit; -(schrift)sprache 6.12ABHLit Arbeitgeber/-nehmer 6.161 Arbeitsimmigranten 6.4Lit 6.4.1TY 6.4.3Y; Sprache von A. 6.121 6.16Lit
740
Register
Archaismen, Archaisierung 6.8J 6.9TULit 6 . l l O 6.13Lit 6.16KX arisch 6.16L Arndt, E. M. 6.1A 6.2T 6.3D 6.5J 6.7B 6.8C 6 . I I B 6.16BL Arnim, Bettina v. 6.2L Art-, art- 6.16Q; -eigen 6.2D; s. a. entartet•! Aston, Louise 6.16J asymmetrisches Anredeverhalten 6.9Y; a. Fremdsprachenlernen 6.4.3J 6.5; -e Dominanz von nationalen Varietäten 6.11E; von Verkehrssprachen 6.5 Atomenergie-Politik 6.8V 6.16Lit Attributerweiterung 6.9] 6.12G Auerbach, B. 6.8C aufklärerische Sprachkritik 6.8B Aufklärung 6.16K Aufsatzunterricht s. Schulaufsatz! Aufstieg, sozialer 6.2IKRS 6.3B 6.4.3DV 6.5J 6.8D 6.12ADFG 6.13D Aufwertung, soziale 6.9VLit 6.10M 6.15E 6.16PT Ausbeutung 6.161 Ausklammerung 6.4.1Z 6.9K Ausländerregister (Xenolekt) 6.121 Auslandsdeutsche 6.4.1Y 6.4.2BS 6.4.3AW 6.4Lit 6.5PQR; -germanistik 6.5Lit 6.7W Auslaut-Neutralisierung, -Verhärtung 6.6YZ Ausrufungszeichen 6.9P Aussiedler 6.4Lit 6.4.2QS 6.4.3PQVY 6.12Lit Aussprache (-Normierung) 6.6X—ZLit 6.9BCLit 6.11RUX 6.12A Australien, Deutsche in A. 6.4.1Y 6.4.2T 6.4.3W 6.4Lit Austriazismen 6.IIP—S Auswanderung 6.1FL 6.2G 6.3D 6.4.1PTYZ 6.4.2NT 6.4.3VWX 6.5V Auswendiglernen, -sprechen 6.2AH Autobiographien 6.2IJ Badeni-Krise 6.4.1V Bairisch-Österreichisch 6.IIP—S Ball, H. 6.13F Baltendeutsche 6.4.2S 6.4.3P 6.4Lit -bar, -abel, -ierbar, Eignungsadjektive 6.10E
Basler, O. 6.7QW Bäumer, Gertrud 6.2L Baur, A. 6.11W Bauwesen, Wortschatz 6.7D be-Verben 6.9R Beamte 6 . I M 6.7R; -nstaat 6.1F Bebel, A. 6.1K 6.2JLU 6.6X 6.16IJ Becker, K. F. 6.6JW Bedeutungsentlehnung 6.10NR; -wandel 6.9Lit 6.10L Befreiung (1945) 6.16T Befreiungskriege 6.1 A 6.3D 6.5J 6.12K 6.16B Begriffe besetzen 6.8TW 6.14C 6.16HPV Begriffsgeschichte 6.9S 6.16Lit Behaghel, O. 6.6F 6.7HLQ Bekenntnisprinzip, sprachenpolit. 6.4.3LPTW Belgien, Deutsch in 6.4.1HJ 6.4.2BI 6.4.3HI 6.4Lit Benckiser, N. 6.8L Berlin 6. I M Berlinisch 6.3F 6.12ABFLit 6.16FJ Bern 6.11WU Berufsbezeichnungen
6.9V;
-Wortschatz
BRD/DDR 6.1 I M Besatzungsmächte (1945) 6 . 3 0 6.16TU Betonung s. Wortakzent! betreuen 6.8Q 6.16P Bevölkerungsentwicklung 6. IL; -mischung 6.6Z; -mobilität 6.6Z 6.12AC Bezeichnungskonkurrenzen 6.16U; -wandel 6.9Lit Beziehungskommunikation, -aspekt 6.2CQ 6.3R 6.9U; s. a. Identitäts-! Biedenkopf, K. 6.8T 6.16V Biedermeier 6.13BLit Bildkommunikation 6.3FJNP 6.15F; Bild/Text 6.3AP 6.15K Bildungsbürgertum 6.OA 6.1GM 6.2KRLit 6.5J 6.8GH 6.9X 6.16H Bildungsgeschichte 6.2 Bildungssprache, bildungsbürgerliches Deutsch 6.0A 6.1M 6.2IMN 6.8K 6.9KLMUX 6.12GLit 6.13E 6.14G Bilinguale Schulen 6.5K—Ν Bilinguismus s. Zweisprachigkeit! ,Binnendeutsch' 6.11EGI Binnen-I 6.8Y
Register biologische Metaphern 6.7A 6 . 8 0 S 6.14EF 6.16KLO Bismarck, O. v. 6.1IJ 6.1KM 6.2CU 6.31 6.4.1EJ 6.5X 6.6J 6.161 Böhmen 6.4.0 6.4.1V; s. a. Sudetendt.! Börne, L. 6.3D 6.13B Boulevardisierung 6.3ANLit 6.15DN; s. a. Infotainment! Bourgeoisie 6.IG Brandt, W. 6.8U 6.16T brauchen ohne zu 6.8E 6.9G Braun, Lilly 6.2L 6.16J BRD, Abkürzung 6.16U Brecht, B. 6.8IJMV 6.13FGJLit Brenner, Ο. 6.6K Briefanreden, -schliisse 6.9Z; -schreiben 6.2BI 6.2PLit 6.9Z; -steller 6.2PL Brinkmann, H. 6.7W .brisante' Wörter 6.7W 6.9S 6.10H Brugger, J . D. 6.7C Buchdrucker 6.6 L; -händler 6.6K; -markt, -lektüre 6.3BCLit ,Büchersprache' 6.0A 6.8BCD Büchmann, G. 6.2N 6.9X 6.13D Büchner, G. 6.2U 6.3DE 6.13B 6.16E Buchstabenspiele 6.8J 6.16Y Bühnenaussprache 6.6Ύ—Ζ Bundesrepublik Deutschland (BRD), Deutsch in der B., Bundesdeutsch 6.11IKLit 6.16T—VLit Bündnerromanisch 6.4.1 ABC 6.4.2D 6.4.3C 6.4Lit Burgenland 6.4.2B 6.4.3S 6.5N Bürgernähe 6.14BD Bürgertum, bürgerlich 6.0A 6.1GPLit 6.2M Burgtheater 6 . 6 X - Z 6.11P Burschenschaften 6.1D 6.2S 6.16D; -spräche 6.12K Busch, W. 6.3N Buttmann, R. 6 . 7 M - Q c/k, c/z 6.6KVU 6.10L Campe, J. H. 6.7AB 6.8B CDU/CSU 6.5T 6,16TV Charakter 6.16P Chiasmen 6.8J Christiansen, Br. 6.8K ck, Worttrennung 6.6R
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Code Napoléon 6.1AC 6.14B Code-Switching 6.11NT 6.12M 6.16NYZ Comics 6.12M 6.3N Computer 6.2BE 6.3CR 6.6Q 6.14HLit; -Schriften 6.2E; s. a. EDV! Correspondenzkarte 6.2P Courts-Mahler, Hedwig 6.3B 6.13D dachloser Dialekt 6.4.3DEHV Dadaismus 6.2C 6.13FG Dahlmann, Fr. Chr. 6.16B Dahn, Felix 6.3B Dänisch 6.6DHS; Dänisch/Deutsch 6.4.1MN 6.4.2BL 6.4.3LM 6.4Lit 6.5M Danzig 6.4.2BN Darwinismus 6.11 6.14E Datenverarbeitung s. Computer! Dativ/Akkusativ 6.9Lit; D.-e 6.9D; D.ersatz, 6.9E Deagentivierung 6.9EH 6.14F DDR s. Deutsche ...! Deklamatoren 6.6X demokratisch 6.16W Demokratisierung 6.10J; Demokratiefeindlichkeit 6.3D Demonstrativpronomen 6.9K denn 6.9L deutsch, Deutschheit 6.11B 6.16BCKU; d./deutschsprachig 6.111 Deutsch als Fremdsprache (DaF) 6.4.31 6.5E—ILit; D. als Herrschaftssprache 6.51; D. als Kirchensprache in Nordeuropa 6.5C; D. als Lingua franca 6.4.1UY 6.5CD 6.5IH 6 . 6 0 ; D. als Minderheitensprache 6.4; D. als Mischsprache 6.6U; als Verkehrssprache 6.5ABCD; als Wissenschaftssprache 6.5U—WLit; D. in internat. Politik 6.5XYLit Deutsche Akademie... 6.6F 6.7Q Deutsche Demokratische Republik (DDR) 6.2R 6.3MQ 6.4.3NO 6.5GT 6 . 6 0 6.8Y 6.11L 6.16TU; DDRDeutsch6.9Y 6.10PR 6 . 1 1 G K - O L i t 6.15F 6.16UWXZLit; Neue Bundesländer 6.5M 6.11MOLit 6.16Lit deutsche Schrift 6.2C—E
742
Register
Deutscher Bund 6.1BD 6.4.1HN; D. Ostmarkenverein s. Ost-!; D. Sprachatlas 6.12B; D. Sprachverein s. Sprach-! Deutsches Reich 6.1 JK 6.16U; Sprachpflegeamt 6.7Q Deutschland 6.111 6.16U Deutschland, Deutsch in D., deutschländisches D. 6.11E 6 . 1 1 H - J L i t ; Dt. im geteilten D. 6 . 1 1 K - O L i t 6 . 1 6 T YLit; Dt. in den neuen Bundesländern 6.5M 6.11MOLit 6.16ZLit Deutschnationale Bewegung 6.1MR
Du/Sie 6.9Y 6.11R dualistische Bewertungen, Begriffe 6.8P 6.16X Duden, K. 6.6JKLW DUDEN: -Kodifikation, -Normen 6.6FW 6.11Y 6.16X; -Redaktion, -Verlag 6.6L 6.7RV 6.11EGOPQV Dühring, E. 6.16L Dunger, H. 6.7G durchsichtige Wörter 6.7U 6.10H Dürrenmatt, Fr. 6.11V
6.4.1V 6.4.2PQ 6.16K Deutschtümelei, -tümler 6.2D 6.7JK 6.9W 6.16N Deutschunterricht 6.2Lit 6.3BE 6.8BC 6.9M 6.16KLit; s. a. Schulaufsatz! Dialekte, Mundarten 6.4.3G 6 . 1 2 A ELit; Französisches in D. 6.10B; Funktionswandel von D. 6.4.3EJ 6.12D; D. in literar. Texten 6.12Lit 6.13C; D. in Medien 6.9C 6.12D; D. in der Schule 6.12Lit; Dialekt vs. Standardsprache 6 . I I P 6.12Lit; s . a . Schweiz, Österreich, Berlinisch! Dialektdiskriminierung 6.6X 6.8G 6.12A; -forschung 6.12A; -gebrauch, -sprechen 6.2AK 6.4.1BD 6.4.3EHIT 6.11W 6.12ACELit; -literatur, -dichtung 6.4.11 6.4.3E 6.11U 6.12ADLit; -renaissance, -welle 6.12DLit; -Schwund 6.4.3E 6.12ALit; -verlust 6.4.3J 6.8G 6.12CLit; -Zersplitterung 6.4.3K; -zwang 6.11W 6.12D Dienstpersonal, -mädchen 6.IL 6.2L
Ehe, Begriffsfeld 6.9S; Ehefrauenrolle 6.2L Ehre 6.2S 6.16P Eignungs-Adjektive 6.10E Eindeutschung s. Integration, Verdeutschung! ,Einfluß' 6.10AH Einschubsatz s. Parenthese! Einsprachigkeitszwang 6.4.0
6.3B 6.12H Diglossie 6.4.3GH 6.11T 6.12AELit Diminutivsuffixe 6.9Q 6.12B Diplomatie, Deutsch in der D. 6.5X direkte Rede 6.9P Diskurssemantik 6.9S 6.16Lit Distanzierung vom Reichs-/Bundesdt. 6.11CT Dittmar, Louise 6.16J Döblin, A. 6.4.2U 6.131 Dohm, Hedwig 6.2L 6.16J Domänenausweitung für Dialekt 6.4.3BF Doppelpunkt 6.9P Dreisprachigkeit 6.4.1H 6.4.3GTU 6.5U Drittes Reich 6.16K
6.4.10RSXW 6.4.3E 6 . 5 0 P ; s . a . Monolinguismus! Eisenbahn 6.1H 6.2T 6.3H 6.12A; Textsorten 6.14J; - Wortschatz 6.7D 6.14H elektronische Medien 6.2BLit 6.3R; s. a. Computer! Elektrotechnik-Wortschatz 6.14H ,elliptischer' Satzbau 6.9M Elsaß 6.4.1D—F 6.4.2BEF 6.4.3DE 6.4Lit 6.7P Emanzipation 6.4.1Z 6.8W 6.16JM Emigration 6.2C 6.9M; innere E. 6.13K Endsilben-Schwund, -Reduzierung 6.6YZ Engel, E. 6.2D 6.7IL 6.8DFK Engels, Fr. 6.1FGL 6.2J 6.161 England, Deutschlernen in E. 6.5EFI; E. als Vorbild 6.3Q 6.161 Englisch als Fremdsprache 6.5; als lingua franca 6.4.3B 6.5C 6.11W; als ,neues Latein' 6.10A; Orthographie 6.6H; als Verkehrssprache 6.5D; als Weltsprache 6.5A; als Wissenschaftssprache 6.5T Englischer Lehneinfluß s. Angloamerikanismen! Entarchaisierung 6.1 I O entartet 6.16KL; -e Kunst 6.2C Entlehnungsgründe, -motive 6.10M; s. a. Lehndeutsch!
Register Entnazifizierung 6.16T Entpolitisierung 6.3AJOP 6.9 V 6.15M Entritualisierung 6.16Y Enttabuisierung 6.16VY Entwelschung 6.4.2FG 6.7IP Entzückungswörter 6.9U 6.12G Enzensberger, H. M. 6.8L erlebte Rede 6.9F 6.13CLit Ersatzinfinitiv 6.9G erweitertes Attribut 6.9J 6.12G Euphemismen s. Aufwertung! Euregio-Beziehungen 6.4.3EI 6.5MN Eurolatein, Euroklassizismen 6.10AD—I 6.10MR 6.10Lit 6.16W Europa: Sprachen in E. 6.5A; Internationalisierung im Wortschatz 6.10HIP; E.-Politik 6.16Lit Europäische Institutionen 6.5YLit Eurospeak, -jargon 6.10H evangelische Kirche s. Kirchen! experimentelle Sprache 6.13G 6.16Y; e. Sprachkritik 6.81 Expertensprache 6.9Q 6.14 Expressionismus 6.13F Fachsprache, -Wortschatz 6.9T 6.14; F. in der Gemeinsprache 6.5W 6.8V 6.9ULit 6.14EHLÚ Familie, Auflösung 6.3A; Familiennamen 6.8W 6.16M; Familienzeitschriften 6.3J Faschismus, ital. 6.4.2R 6 . 7 0 ; s. a. Nationalsozialismus! faux amis, falsche Freunde 6.10H 6.11H Feedback 6.2Q Feministische Sprachkritik/Linguistik 6.8W—YLit Fernsehen 6.2BX 6 . 3 C P - R L i t ; Aussprache im F. 6.9C; F.-Kritik 6.15J; F.-Nachrichten 6.3Lit; Sprache im F. 6.15JKLit feste Verbindungen 6.9X Festreden 6.8G 6.9T 6.13D Feudalisierung des Großbürgertums 6 . I M 6.2K 6.3AB feuilletonistische Sprachkritik 6.8KL 6.8PQ Fichte, J. G. 6.1A 6.2TU 6.3D 6.7B 6 . I I B 6.16B
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Film, Kinofilm 6.30Lit; Sprache im F. 6.15Lit Finck, W. 6.81 Flämisch 6.4.1J Fleißer, Marieluise 6.13J Flexionsmorphologie 6.9DLit; flexionslose Attribute 6.9E ,Flickwörter' 6.9Z Floskeln, lateinische 6.2K 6.9T Flüchtlinge s. Ostvertriebene! Flugblätter, Flugschriften 6.3F 6.16EFJ Fontane, Th. 6.7H 6.13C Foreigner Talk, Xenolekt 6.12T Formulare 6.3R 6.14D Forster, G. 6.2U; s. a. Bd. II! Frakturschrift 6 . 2 C - E 6.7R Frankreich, als Vorbild 6.3D 6.4.0 6.4.1Q 6.161; Deutsch in F. 6.5EFGIL Franz Joseph, Kaiser 6.1F 6.16C Französisch und Deutsch, sprachenpolitisch 6.4 6.71; F. in Deutschland 6.IL 6.2MO 6.5CFJM 6.10B; F. als Diplomatiesprache 6.5X; F. in Europa 6.5XY; F. in der Welt 6.5AE; F. als Wissenschaftssprache 6.5U französischer Lehneinfluß 6.10A—IMLit; fr. Orthographie 6.6H; Fr. Revolution 6.1F 6.2C 6.3B 6.4.0 6.4.1DQ 6.5JO 6.13A 6 . 1 6 A - C I Französisierung 6.1A 6.4.0 6.4.1DJ 6.4.2DE frati/man 6.8Y Frauenbewegung, -bildung 6.2LRLit 6.8W—YLit 6.16J; -rolle 6.2N 6.3J; -vereine 6.2L 6.16J Fräulein/Frau 6.8W Freiheit 6.16C Freiligrath, F. 6.16D Freizeitkultur, -verhalten 6.2LNT 6 . 3 B O - Q ; Fr.-Fachsprachen 6.14KLit Fremdenfeindlichkeit 6.1A 6.3D 6.4.1T 6.16Lit Fremdgrapheme 6.6U Fremdsprachenlernen 6.2L 6.4.3J 6.5E— NLit Fremdwörter/Lehnwörter 6.7AEU 6.10CHLit; Aussprache 6.6YZ 6.11R; Wörterbücher 6.7H; -gebrauch 6.2K; -orthographie 6.2C 6.6UVLit 6.10; -purismus 6.2D 6.4. I M 6.7 6. I I S 6.14B
744
Register
Freud, S. 6.14E Freytag, G. 6.3B 6.7H Friedenspolitik 6.8U 6.16Lit Friedensverträge 1919 6.4.2AB Friedrich II. ν. Preußen 6.2C 6.4.1Q Friedrich Wilhelm III. v. Preußen 6.3E 6.16C Friedrich Wilhelm IV. v. Preußen 6.1F Friesisch 6.4.1L 6.4.2BK 6.4.3K 6.4Lit Frisch, M. 6.11V Funktionsverbgefüge 6.9HLit Futurgebrauch 6.9G Ganzheitsmythen 6.16Q „Gartenlaube" 6.3J 6.8 b Gastarbeiterdeutsch 6.4.3Y 6.12ILit Gastronomiewortschatz 6.1 IMS Geburtsanzeigen 6.9MS Gefühlswortschatz 6.9S Geisteswissenschaften 6.2KR; Sprache 6.5U 6.14FGLit Geistliche, Pfarrer 6 . I M 6.8H 6.12A; s. a. Kirchen! Geißler, E. 6.7KLQ Gelegenheitspoesie 6.2L Gemeinschaft 6.7U 6.16KQ Generalanzeiger 6.3H generisches Maskulinum 6.8W—Y Genitiversatz 6.9E; -gebrauch 6.9Lit; -schwund 6.9DE Gentz, Fr. v. 6.3D George, St. 6.13E Germanisierung, (sprachenpolit.) 6.4.1FGJKN-QSX 6.4.20 Germanisten 6.2C 6.6FNX—Ζ 6.7CKQW 6.8BCP 6.9M 6.16D; Germanistik 6.2Lit 6.3D 6.6JKZLit 6.7HLUV 6.8ISW 6.11GKLV 6.12M 6.16QTW; s. a. Auslands-! germanistischer Sprachstil 6.14F Gesamtwortschatz 6.9T Gesangvereine 6.2T Geschäftsordnungen, parlamentar. 6.2W 6.14B 6.16H Geschlechterrollen 6.2L 6.9S 6.16J geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen 6 . 8 W - Y Gesellschaft 6.13D Gesellschaft für deutsche Sprache 6.6GN 6.7RVW; s. a. Sprachvereine!
Gesetzestexte, -spräche 6.14B 6.16C Gesprächskultur 6.2BNLit 6.3R Getrenntschreibung 6.6QR 6.9R Gewalt 6.14C Gewerbewortschatz BRD/DDR 6.11M Gewerkschaft 6.161 Gewerkschaften 6.3B Gierach, E. 6.7Q Glaßbrenner, A. 6.16F Gleichberechtigung v. Frauen 6.2L Gleichschaltung 6.7KLOQ 6.8EN 6.12L 6.16N Glottophagie 6.5SO Gobineau, J. A. de 6.16L Goebbels, J. 6.1R 6.2D 6.3L 6 . 3 0 P 6.6F 6.7KMQ 6.9X 6.16MR 6.16NS Goethe, J . W . v. 6.2ACO 6.3B 6.13A; Bühnensprache 6.6X; G.s Sprache 6.OA; G.-Schiller, Briefwechsel 6.9U; s. a. Bd. II! Goethe-Institut 6.5GRT 6.7Q Görres, J. 6.3DE 6.16B gotische Schriften 6.2C—E Gottsched 6.8B 6.9Y; s. a. Bd. II! Götze, A. 6.7HKL Graffiti 6.2EXLit Grammatik 6.8B 6 . 9 D - 0 Grammatikalische Sprachkritik 6.8Lit Grammatiker 6.6JSW 6.9P Grammatikterminologie 6.7KR Graphologie 6.2CD Graubünden s. Bündnerromanisch! Grebe, P. 6.7W Greyerz, O. v. 6.8K 6.11U Griechisch (Alt-) 6.2K 6.5J; Lehneinfluß 6.10Lit Grimm, J. 6.6J 6.7C 6.8C 6.8F 6.11B 6.13A 6.16H; J. u. W.Gr. 6.2CR 6.7H 6.8B; Gr.'s Wörterbuch 6.7H 6.16D großdeutsch 6.1F 6.2D Großschreibung 6.6STLit; monarchische 6.16C; modifizierte 6.6T; vermehrte 6.6 Q Gründer-Zeit, -Krise 6.1LM 6.3H 6.16K Grundrechte 6.2W Gruppe 47 6.8R Grußformeln 6.9Z Gültigkeit v. Texten 6.3R gutbürgerlich 6.2N 6.12G
Register guter Ton 6.12G gutes Deutsch 6.6CZ 6.8K Gutzkow, K. 6.3D Gymnasium, Gymnasialunterricht 6.2KL 6.5J 6.8C 6.9BT Habermas, J. 6.14G 6.15M Halbsprachigkeit, Halbdeutsch 6.4.3DY Halbsuffixe 6.9R Hallwass, Edith 6.8L Hambacher Fest (1832) 6.1D 6.2TV 6.16G Handwerkerstand 6.1H; -spräche 6.12HJ Harmonisierungsstil 6.9TV Haug, W. F. 6.8S Hauptmann, G. 6.13CF Hausmann, R. 6.2C Hebräisch 6.4.1Z Heeressprache 6.7D Hegel, G. W. Fr. 6.11 6.16K Heidegger, M. 6.14F Heine, H. 6.3D 6.13B 6.16D Heinemann, G. 6.16T Heinsius, Th. 6.5J Heißenbüttel, H. D. 6.13G Helvetismen 6.11VX Herausstellung 6.9LNLit Herder, J. G. 6.2A 6.4.0 6.4.1U 6.7B 6.8C 6 . I I B ; s. a. Bd. II! Herder-Institut 6.5GT 6.1 IL Herkunft von Lehnwörtern 6.10CDH Herwegh, G. 6.16D Heuss, Th. 6.16T Heyse, J. Ch. A. 6.6J Hildebrand, R. 6.6X Himmler, H. 6.4.20S 6.7M Hindenburg, P.v. 6 . 1 0 R Historismen 6.9T 6 . 1 1 0 Hitler, A. 6.1R 6.2D 6 . 3 0 6.4.1V 6 . 4 . 2 0 R 6.6F 6.7KM 6.9X 6.16NPR Hitlerjugend 6.2D 6.12L 6.16KQ Hochlautung s. Aussprache! ,Hochsprache' 6.6CNZ 6.9A 6.12A Hoffmann v. Fallersleben, A. H. 6.16D Höflichkeit 6.2NOP 6.9Lit 6.11R Hofmannsthal, H. v. 6.8G 6.13ELit Hofsprachen 6.5C höhere Töchter 6.2L Holz, A. 6.13F
745
Hörfunk, Rundfunk 6.2B 6.30Lit; -Aussprache 6.9BC 6.6Z; -Nachrichten 6.3Lit; -Sprache 6.15G—ILit Hörspiel 6.15H Horvath, Ö. v. 6.13J Hübner, A. 6.7KL Hugenberg, A. 6.3LI humanistisch 6.2KR Humanität 6.16K Humboldt, W. v. 6.2AR ,hybride' Formen 6.10L 6.12K Hyperkorrektheit 6.11R 6.12AH 6.15G Hypostasierung 6.14F 6.16N hypotaktischer Satzbau 6.2K 6.9IKLO -/, Suffix in Kurzwörtern 6.9Q Identifizierungsfunktion von Sprache 6.4.3F—HTVWY 6.5L 6.6QTZ 6.11ADFIM—V 6.12M 6.16Z Idiomatik s. Phraseologie! -ieren, Verben auf 6.8C 6.11RX Ihr-Anrede 6.9Y Imagearbeit 6.2WX indigen/entlehnt 6.10A indirekte Rede 6.9F 6.13Lit indirekter Ausdruck 6.12G 6.16Y Industrialisierung G.1IL 6.2GH 6.3K 6.4.1PY 6.10J; frühe I. 6.1CGH Industriearbeiter 6.IG; -betriebe 6.3R 6.12H 6.14JLit; -gesellschaft 6.0A 6.1IR 6.2GIM 6 . 3 0 Infotainment 6.3AN 6.15HMN; s. a. Boulevardisierung! ,inhumaner' Akkusativ 6.8Q 6.9E Initialabkürzungen 6.9P innere Zwei-/Mehrsprachigkeit 6.OA 6.9U 6.12AM 6.1 IN innerer Lehneinfluß 6.10NR innerer Monolog 6.9F Institut für deutsche Sprache (IdS) 6 . 6 G N - P 6.7W 6.10HK 6.11KL 6.15N Institutionalisierung 6.6FG 6.7DQ 6.16A Institutionensprache 6.2X 6.14A—DIJLit 6.15B 6.16NOW Inszenierung 6.2BX 6.3E 6.16RLit Integration von Entlehnungen, Eindeutschung 6.6V 6.10FLLit 6.11R Intellektueller 6.16K internationale Beziehungen des Dt. 6.5
746
Register
Internationalisierung 6.2EF 6.6V 6.7C 6.7RSU 6.9S 6.10JP Internationalismen é.lODIJPRLit Interpunktion 6.6WLit 6.9PLit Intertextualität 6.16X Interview 6.15ILit Intimität in Medien 6.3AJ 6.15M Ironie, Ironisierung 6.2K 6.9ZLit 6.10M 6 . U N 6.12J 6.16SVYZ; ir. Anführungsstriche 6.9P; ir. Phraseologismen 6.9X Irredentismus 6.4.1VX 6.4.2BDE -ismus 6.10E Israel 6.4.3WX 6.4Lit ist zu ..., hat zu, modaler Infinitiv 6.14B 6.16R Italien 6.1B 6.4.3T; DaF in I. 6.51 Italienisch/Deutsch, sprachenpolitisch 6.4.1X 6.4.2BR 6.4.3T 6.4Lit; Italianisierung 6.4.2R; It. als Fremdsprache 6.5G; It. als Hof- und Handelssprache 6.5C italienische Lehnwörter 6.5N 6.11SY Jahn, Fr. L. 6.1A 6.2T 6.3D 6.5J 6.7AB 6.8C 6.14K 6.16BL Jahnke, R. 6 . 7 0 Jakobiner 6.4.0 6.4.1D 6 . 5 0 ; s. a. Bd. II! Jalta-Konferenz 6.4.3P Jancke, O. 6.8KL Jandl, E. 6.13G Japan, Dt. in J . 6.5EFU Jargon 6.4.1Z 6.12BM; pseudowiss. J. 6.14FG Jean Paul 6.7A 6.13AB Jenninger, Ph. 6.16TLit Jiddisch bzw. westl. Jüdischdeutsch 6.4.1Z 6.4.2U 6.4.3X 6.4Lit 6.16FM; Jiddismen im Dt. 6.4.1Z 6.4.3X 6.4Lit; Jiddistik 6.4.3X Jochmann, C. G. 6.0A 6.8C; s. a. Bd. II! Joseph II., Kaiser 6.4.0 6.4.1UY 6 . 4 . 2 0 6.5D 6.IIP; s. a. Bd. II! Journalismus, Journalisten 6.3DEHM; Journalistendeutsch, -stil 6.8HI; s. a. Zeitungsdeutsch! jüdeln 6.4.1Z Juden, jüdische Deutsche 6 . I M 6.4.1Z 6.4.2U 6.16LM; Emanzipation 6.4.1Z; Emigration 6.4.2U 6.9M; Verfolgung 6.4.2TU 6.16LM
Jüdischdeutsch s. Jiddisch! Jugendbewegungen 6.2C 6.9T 6.12LLit 6.16KQ; Jugendsprache 6.3R 6.11S 6.12K—MLit 6.15E Jugendstil 6.2C 6.3B 6.13D Jugoslawien, Deutsche in J. 6.4.2B 6.4.3PS 6.4Lit Junges Deutschland 6.2LT 6.3D 6.13BLit 6.16D Kabarett 6.8IK 6.12BF 6.16Y Kafka, Fr. 6.4.2U 6.8G ,Kahlschlag' 6.13L 6.16P Kanadadeutsche 6.4.1 Y 6.4.2T 6.4.3W 6.4Lit Kant, I. 6.2U Kärnten 6.4.1W 6.4.2BQ 6.4.3S Kaschubisch 6.4.IQ 6.4.2N katholische Kirche s. Kirchen! Keller, G. 6.11U Kino s. Film! Kirchen 6.1IM 6.2GH 6.3A 6 . 4 . 1 D J K T 6.4.21 6.4.3DFO 6.8H 6.12A; kirchl. Sozialbewegungen 6.1H 6.2J; -spräche 6.5C 6.8Y 6.14Lit Kisch, E. E. 6.4.2U Kitsch 6.3B „Kladderadatsch" 6.3F Klammersätze 6.9K 6.12G Klassiker, klassische Literatur als sprachl. Vorbild 6.0A 6.2J 6.3B 6.8F 6.9MX 6.13ALit 6.15A; Klassikerjahr 6.3B klassische Sprachen 6.5J Kleinbürgertum, kleine Leute 6.1HLM 6.2IT 6.9U 6.12H kleindeutsch 6.1F Kleinschreibung 6.6ST; absolute 6.6M; gemäßigte 6.6MNS Kleist, Η. ν. 6.3E 6.91 6.16B Klemperer, V. 6.7M 6.8N 6.9P 6.16PS Kluge, Fr. 6.7GQ Knigge, A. F. F. Frhr. ν. 6 . 2 0 ; s. a. Bd. II! Kochrezepte 6.9M Kodifizierung 6.4.3FG 6.6A 6.11EIQV Kolonialismus 6.1MN; dt. Kolonien 6.4.1Y 6.5Q; Sprache 6.4.2T 6.4.3W 6.121
Kommasetzung 6.6W 6.9P Kommentare in Medien 6.3E 6.15Lit
Register Kommerzialisierung 6.3AHM 6.12M 6.15M kommunikative Ethik 6.8Z Kommunisten 6 . 1 0 Q R 6 . 3 0 ; Kommunistisches Manifest 6.IG; s. a. Marx, Engels, DDR! kompakter Satzbau 6.91 komplexer Satzbau 6.9HI Komplimentieren 6.20 Kompositionsfreudigkeit 6.8C 6.9R komprimierender, kondensierender Satzbau 6.91 Konfixbildung 6.10G Konjunktivgebrauch, -ersatz 6.9FLit konkrete Poesie 6.13FGL Konnotationen 6.3P 6.6C 6.14E 6.16M konservative Revolution 6.16K; k. Wende 6.1M 6.7E 6.16K; s. a. Radikalnationalismus! Konsumliteratur, Trivialliteratur 6.2JL 6.3BLit 6.13DLit Konversation 6.2LN 6.12G Konversationslexika 6.3B Konzentrationslager 6.7K; Sprache im K. 6.16Lit Korn, K. 6.8LP 6.91 Körner, Th. 6.3D 6.16B Korporationen s. Studentenverbindungen! Kraus, Κ. 6.71 6.8IJKMLit 6.15D Krech, H. 6.6Z Kretschmer, P. 6.1 IG Kroatisch 6.4.2B 6.4.3S Kroetz, F. X. 6.13J Krohn, H. 6.6F KSZE-Konferenz 6.5K Kuchelböhmisch 6.4.1Z 6 . I I S Kulturabkommen 6.5K; ,Kulturnation' 6. I M ; -Patriotismus 6.OA; -pessimismus 6.1R 6.2H 6.3R 6.8G 6.16Q; -politik 6.5QRT Kultusminister 6 . 6 L - N P Q T V Kürnberger, F. 6.3J 6.7C 6.8F Kürze, Kürzung 6.8F 6.10M 6.15L; Kurzsätze 6.9MLit 6.15C; Kurzwortbildung 6.9QLit Ladinisch 6.4.1UX 6.4.2R 6.4Lit Lagarde, P. de 6.16KL
6.4.3TU
747
Landauer, G. 6.8G Landbevölkerung 6.1GL 6.2G Landespatriotismus 6.0A 6.1 AM Landflucht 6.1G 6.2H 6.12A Langbehn, A. J . 6.12L 6.16Q Lange, Helene 6.2L Lassalle, F. 6.1K 6.2U Latein, Gebrauchsdomänen 6.2K 6.5CUX 6.10A 6.IIS; lat. Floskeln 6.2K 6.9T; im Gymnasium 6.5J; lat. Lehneinfluß 6.10C-FLit; lat. Schrift 6.2C—E; lat. Vorbild in der Grammatik 6.9FGK; s. a. Eurolatein! Lateinamerika, Deutsche in 6.4.1Y 6.4.3W 6.4Lit Laube, H. 6.3D Lausitz s. Sorbisch! Laut-Buchstaben-Zuordnung 6.6MNR Lautlesen 6.2A Lautspiele 6.8J Lautsprecher 6.2B Lautsubstitutionen bei Lehnwörtern 6.10L Lautungsnorm s. Aussprache! Lead-Prinzip, journalist. 6.3EM 6.15BC Leerformeln 6.8G 6.14G 6.16V Lehnbedeutungen, -bildungen, -wendungen 6.10NR; -deutsch 6.10; -flexion 6.10L; -präfixe, -präpositionen 6.10F; -suffixe 6.10E—G; -syntax 6 . 1 0 0 Lehnwort/Fremdwort 6.7BE 6.10Lit Lehnwortaussprache 6.11 J; -bildung 6.7W 6.10CE—GLit; -orthographie 6.11JRX 6.12M Lehnwortschatz, -einfluß 6.4.3G 6.10 6.11JRX Lehrer 6.1M 6.2GK 6.7R 6.16K; -verbände 6.6N Leihbüchereien 6.3BC; s. a. Bd. II! Leitartikel 6.3E Lektüre, Lesen 6.2A 6.3BCLit 6.15C Leonhard, R. W. 6.8L Leseanreiz 6.3N 6.15C—E Leseaussprache, -lautung 6.12A Lesegesellschaften 6.3B; s. a. Bd. II! Leserbriefe 6.3E 6.15Lit Lëtzebuergesch s. Luxemburg! Leutnantston s. Offiziers-! Lexik s. Wortschatz!
748
Register
Lexikographie 6.6L 6.7H 6.9SLit 6.10F 6.11KQ 6.16D Lichnowsky, Mechtilde 6.8K Liebe, Begriffsfeld 6.9S Liebknecht, W. 6.1K 6.2J 6.161 Liechtenstein 6.11YLit Lieder, polit. 6.2TX 6.16F Linden, W. 6.7JL Lingua franca 6.4.3B 6.5Y; s. a. Deutsch als L. f., Verkehrssprachen! Linguistik s. Sprachwissenschaft! Linksversetzung 6.9N Litauisch 6.4.IQ literarisch/journalistisch 6.81 literarische Sprache 6.13 Literatur 6.13AD literaturwissenschaftlicher Stil 6.14F Löffler, F. 6.7P Losungen, polit. 6.16F Lothringen s. Ost-L.! LTI s. Klemperer! Ludwig, O. 6.8G Luick, Κ. 6.6Y Luxemburg 6.1B; Franz./Lëtzebuerg./Dt. 6.4.1HI 6.4.2GH 6.4.3FG 6.4Lit 6.7D Lyon, Ο. 6.6K Machtergreifung 6.1R 6.16T Mackensen, L. 6.7R Magdeburger Börde 6.12B Magyarisch 6.4.2B 6.4.3S 6.5N; Magyarisierung 6.4.0 6.4.1UY 6.4.2S Mähren 6.4.1V Maier, H. 6.8T man/frau 6.8Y Manger, J. v. 6.12B Mann, Th. 6.13CFLit 6.16T Männergesangvereine 6.2T männliche Aussprache 6.6Y Marcuse, H. 6.8STV Marlitt, Eugenie 6.3J Marx, Κ. 6.1FGL 6.2J 6.3E 6.161 Marxismus 6.2J 6.16IWXLÙ Massendeportationen 6.4.ID 6.4.2SU; -medien 6.3 6.15; -Versammlungen 6.2V 6 . 3 0 Masuren, Masurisch 6.4.1QST 6.4.2BN Matthias, Th. 6.8D Mauerbeschriftungen 6.2E
mauscheln, Mauscheldeutsch 6.4.1Z 6.4.3X 6.8G Mauthner, Fr. 6.4.1Z 6.8GHLit 6.13E 6.16Q May, Κ. 6.3B Mediengeschichte 6.2AX; -geschichte 6.3; -politik 6.30Lit; -Wirkungen 6.3R Mehrfachadressierung 6.2X 6.3E 6.151 6.16Y Mehrsprachigkeit 6.4.1 AB JLZ 6.4.2L 6.4Lit 6.5V 6.IIS; s. a. innere M.! Meinungspresse 6.3DE; -texte 6.3M; s. a. Kommentare! Memelgebiet 6.4.2N Mendelssohn, M. 6.4.1Z Mennoniten 6.4.3W Metaphorik 6.8J 6.9T 6.11N 6.14FHK 6.16IO; s. a. biologische, militärische M.! Metternich, K. W. v. 6.1BD 6.3D 6.16DE Meyer, C. F. 6.11U Mikrophonsprechen 6.3R 6.6Z 6.9B 6.16R militärische Metaphern 6 . 1 6 0 Minderheit 6.4.0 Minderheitensprachen, Sprachminderheiten 6.1P 6.4 6.7J; Minderheitenschutz 6.4.0 6.4.1Q 6.4.2P 6 . 4 . 3 K O T - V Mischformen in der Wortbildung 6.10FL; -spräche 6.6U 6.7U 6.10HI; -stil, -texte 6.3R 6.15HIL Mitteldeutschland 6.16U Modaladverbien, -partikeln 6.9ZLit; -verben 6.9FGZLit 6.14B modaler Infinitiv 6.14B 6,16R Moderatoren 6.9N 6.15HLM modern, Moderne 6.13E Moderne, literarische 6.8G 6.13GLLit Modewörter 6.8EFK 6.9ULit 6.10J Moeller van den Bruck, Α. 6.16K Möller, G. 6.8L Monatsnamen, verdeutschte 6.7J Monolinguismus 6.4.1JV 6.4.2B 6.4.31 6.5JLU Monozentrismus 6.11BG Morgenstern, Chr. 6.13DGLit Morphosyntax 6.9E—HLit Moselfränkisch 6.4.1H1J Moser, H. 6.6F 6.7W 6.11GKQ
Register Motiviertheit von Wörtern 6.7U 6.10H Müller, A. 6.3D 6.8C 6.16B Multimedialität 6.15K München 6 . I I P Münchener Abkommen 6.4.2P 6.5X Mundart s. Dialekt! Mündlichkeit, Oralität 6.2AB; sekundäre 6.15K Musil, R. 6.13F Mussolini, B. 6 . 4 . 2 0 R 6 . 7 0 Muttersprache 6.7U „Muttersprache", Zeitschrift 6.7KMNPR Muttersprachvorteil 6.5HIJUWY Nachbarsprachen 6.4 6.5JLMN nachgestellte Adjektive 6.9E Nachrichtenagenturen 6.3HM; -manipulation 6.31; -Sprecher 6.6Z Nachrichtentexte 6.3LMLit 6.9IJ 6.15Lit; N . im Fernsehen 6.15LM; N. im H ö r f u n k 6.15G; Verständlichkeit von Ν . 6.15H Nachtrag, -Stellung 6.9N Namenänderungen (sprachpolit.) 6.4.3NQ 6.71 6.16M; -moden 6.9W; -stigmatisierung 6.16M; -Verdeutschung 6.4. I X 6.4.2FGN napoleonische Zeit 6.1AC 6.2C 6.3D 6.5J 6.7AB 6.16BLit Nation, national 6 . I I A 6.16BHKL Nation und Sprache 6.4.0; s. a. Sprachnationalimus! Nationalbewegung 6.1F 6.4.0; -bewußtsein 6.1A 6.3D 6.16D; -dialekt 6.4.11 6.4.2H 6.4.3F 6.11F; -spräche 6.4.0 6.4.2H 6.4.3CF; -Staat 6.4.0 6.1AFHJLit 6.4.2A 6.6DE 6.7CE nationale/staatliche Varietäten 6.4.31 6.5D 6.6Z 6.11 Nationalismus 6.0A 6.1FLit 6.7 A 6.16KLit; früher Ν . 6.1A 6.7B 6.16BC Nationalsozialismus 6.1R; Fremdwortpurismus 6.7K; Judenverfolgung 6.4.2T 6.16M; Literaturpolitik 6.13Lit; Medienpolitik 6.3LO; Propaganda 6.2B 6 . 3 0 P ; Schriftartenpolitik 6.2CD; Universitäten 6.2R; Volksiams-Politik 6.4.2 6.5S 6.11V 6.16Lit
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nationalsozialistischer Sprachgebrauch 6.13K 6.15B 6.16N-SLit; Sprachregelungen 6.7M 6.16S; Tabuisierung/ Weiterverwendung von NS-Wörtern nach 1945 6.9T 6.16NPQ Naturalismus 6.13CLit Naturwissenschaften 6.2KR; Sprache 6.5U 6.14ELit Naumann, Fr. 6.5Q Nazi-Vergleiche 6.8S 6.16T Nebensatz 6.9Lit; afiniter N . 6.9G; N . mit Hauptsatzverbstellung 6.9L; N.Konnektoren 6.9Lit; N.-Stil 6.91; weiterführender Ν . 6.9K; s. a. hypotaktischer Satzbau! Nebensilbenreduktion 6.9C Negationspräfixe (polit.) 6.16R Neokonservativismus 6.16Lit Neologismen, Neuwörter 6.8EF 6.9SLit neue Bundesländer s. Deutschland! Neue Linke 6.8T 6.16VLit Neue Rechtschreibung s. Rechtschr. Neuhumanismus 6.5J Neulatein 6.10G 6.12K nichtsprachliche Kommunikation 6.15F Niederdeutsch 6.4.1KLM 6.4.3M 6.5C 6.12ALit Niederlande 6.4.1HJK 6.5UV Niederländisch, NdL./Dt. 6.4.1JK 6.4.2J 6.4.3J 6.4Lit 6 . 5 C G T M Y 6.6D; Orthographie 6.6H Niederrheingebiet 6.4.1K Nietzsche, Fr. 6.2U 6.8FG 6.13EH 6.16Q Nominalisierungsstil, Nominalgruppenstil 6.9HIMLit 6.14B 6.15B Nominalisierungsverb(-gefüge) 6.9HLit Nominativierung 6.9E Nonsense-Redensarten 6.12M Norddeutsches 6.6YZ 6.11EI 6.12AC Nordeuropa 6.5CEFUV 6.6H Nordschleswig s. Dänisch! Normen s. Sprach-! -o in Kurzwörtern 6.9Q Oberlausitz s. Sorben! Obersächsisch s. Sächsisch! Oberschicht(sprache) 6.2NO 6.4.1 QU 6.6X 6.10J 6.12ABFG Oberschlesien 6.4.1QZ 6.4.2BN Obrigkeitsstaat 6.1FI
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Register
obwohl mit Hauptsatzwortstellung 6.9L Oder/Neiße-Grenze 6.4.3PQ 6.16U öffentlich vs. privat 6.3A öffentliche Meinung 6.3E; ö. Rede 6.2U 6.9 Ζ Öffentlichkeit 6.2WX 6.3ALit 6.8H Offiziere 6.2S 6.3B; -spräche, Leutnantston, preuß. 6.2N 6.11U 6.12FLit ökopolitische Sprachkritik 6.8VLit Ong, W. 6.15K onomatopoetische Wörter 6.12M Oralität, sekundäre 6.2B 6.15K Orthoepie, -phonie s. Aussprachenormung! Orthographie s. Rechtschreibung! Ortsnamenänderungen, sprachenpolit. 6.4.IX Orwell, G. 6 . 3 0 6.16Y; Übersetzungsvergleich 6.9V 6.10D Ost-Belgien s. Belgien! Ost-Lothringen (sprachenpolit.) 6.4.1G 6.4.2F 6.4.3E 6.4Lit Ost/West-Wortschatzunterschiede 6.16WX Ostdeutschland, Ostdeutsche 6.7T 6.16UZ Österreich(-Ungarn) bis 1919 6.1BFIN 6.8G; Sprachenpolitik 6.4.0 6 . 4 . 1 U X 6.4Lit; ab 1919 6.1P 6.4.2A 6.11P; Sprach(en)politik 6.4.2BQ-S 6 . 4 . 3 Q - T 6.4Lit 6.5NOT Österreichisches Deutsch 6.6E 6.11E— GM 6.11P—SYLit; Aussprache 6.6Z 6.9C; Dialektsprechen 6.12C; in der EG 6.5DY; DaF 6.5EGT; Fremd-/ Lehnwortschatz 6.7D 6.10PQ; öffentlicher Sprachgebrauch 6.14B 6.16Lit; Rechtschreibung 6.6KM—S; als Verkehrssprache in Ost(mittel)europa 6.5D Ostflüchtlinge, -vertriebene 6.4.2NOS 6.4.3KLNPQVLit 6.12CLit Ostfriesland 6.4.1KL 6.4.2K 6.4.3K Ostmarkenverein, -politik 6 . I M 6.4.1QS 6.16K Ost(mittel)europa 6.4. 6.5 6 . 6 0 Ostpreußen 6.1B 6.4.1QS 6.4.2BN 6.4.3P Ostprovinzen, preuß. 6.4.IQ —S
Ost-/westdeutsche Unterschiede 6.11K—OLit 6.16WX Otto-Peters, Louise 6.2L 6.16J
6.7W
Paarformel, geschlechtsneutrale 6.8Y Pädagogenjargon 6.16V Panlinguismus 6.8PR Panslawismus 6.4.IPV Panzer, Fr. 6.7LQ Papen, Fr. v. 6.1R 6 . 3 0 Papierdeutsch 6.8G 6.9K; s. a. Büchersprache! parasprachliche Kommunikation 6.15K parataktischer Satzbau 6.9HIL Parenthesen, Einschübe 6.8FL 6.90Lit Pariser Friedensordnungen 6.1PQ 6.4.0 6.4.2APR 6.4.3T 6.5X Parlamentarischer Rat 6.2W Parlamentarismus, Parlamentsrede 6.1KOR 6.2V—XLit 6 . 1 6 G - H L i t Parodien 6.8G 6.16EY Parteien 6.1KQR 6 . 2 T - X 6.16GH; Parteipresse 6.3HM; -spräche 6.16GHY Passiv(ersatz) 6.9HLit 6.14B 6.15B pathetischer Stil 6.6XZ 6.15G 6.16HRX Paulskirche, Dt. Nationalversammlung (1848) 6.1EFG 6.2VW 6 . 1 6 G - I PC-Arbeit s. Computer! Pennälersprache 6.12Lit Pennsylvania-Deutsch 6.4.1 Y Perfekt/Präteritum 6.9G Periodisierung 6.0B Personalisierung in Medien 6.3AM 6.15M Personennamen 6.9QLit 6.16M ph/f 6.6UV Philosophiesprache 6.14F philosophische Sprachkritik 6.8ALit Phonem-Graphem-Beziehung 6.6MNR6.9B Phonetik 6.6X phonetisches Schreibprinzip 6.6J Phraseologismen 6.8JX 6.9XLit 6.10N 6.12M 6.13ILit 6.15Lit 6.16YLit Pidgin-Deutsch 6.4.1Z 6.4.2T 6.4.3Y 6.4Lit 6.121 Piktogramme 6.2FLit .Plastikwörter' 6.8LZ 6.10H 6.14G Plural-i 6.9D plurinational 6.6EOZ 6.11CG
751
Register plurizentrisch 6.6Z 6.11CG Poesiealben 6.2L Polen, Deutschlernen in 6.5EFI; Polen im Ruhrgebiet 6. IL 6.4.1T; Polenvertreibung 6.4.20S; Polonisierung 6.4.3Q; s. a. Ostflüchtlinge! politische Kommunikation inter/iibernational 6.5XLit; p. Presse, Publizistik 6.3EF; p. Rede 6.2T-XLit; p. Sprache 6.2X 6.8S 6.16; p. Sprachkritik 6.8IJM—OT-YLit Politisierung 6.6L 6.16X Polnisch/Deutsch sprachenpolitische Entwicklung 6 . 4 . 1 Q - T 6.4.2BNO 6.4.3PQ 6.4Lit; Polnischlernen 6.5M Pommern 6.4.3P Pomoranisch 6.4.IQ Posen, preuß. Provinz 6.1B 6.4.1Q—S 6.4.2N Positivismuskritik 6.8G Postkarte 6.2P Postwortschatz 6.7D Postzustellungsordnungen 6.14D Potsdamer Abkommen 6.4.3PR Präfixoide 6.9R Prager Deutsch 6.4.1V 6.8G pragmatische Wende der Linguistik 6.8SZ 6.11L 6.14F Präpositionen, P.-fiigungen 6.9ELit Präteritum/Perfekt 6.9G 6.15BG Predigtstil in polit. Texten 6.16E Pressefreiheit 6.3AFL 6.16F; Pressepolitik 6.3IM; s. a. Zeitung! Preußen 6.1B-EIJK 6.4.0 6.4.1EHJN; Ausländerpolitik 6.4.1TZ; Lautnorm6.6YZ; Rechtschreibung 6.6JK; Sprachenpolitik 6.4.1E—Κ 6.4Lit Prinzipienkonkurrenz, -mischung 6.6HJQW privat 6.3A Privatisierung in Medien 6.3AJN Professionalisierung, Professionalität 6.2M 6.3HK 6 . 1 4 A - D 6.15AEK Professoren 6.1MQ 6.2R 6.4. IE Proletariat, Prolet(arier) 6.IG 6.161 Propaganda 6.7M 6.8E Propagandaministerium im NS 6.30 Protestbewegungen seit 1968 6.2X 6.13G 6.16V
Pseudoentlehnungen 6.10L; Ps.-Intimität 6.15M; Ps.-Pidgin 6.4.3Y 6.121; Ps.Präzision 6.14C; ps.-wissenschaftlicher Jargon 6.14FG psych(o)- 6.10G Psychoanalyse, Psychologisierung 6.9SV 6.14ELit Publikumszeitschriften 6.3J Pyramidenprinzip, journalist. 6.3EM 6.15BC qua, Lehnpräposition 6.10F r-Aussprache 6.6YZ 6.9C 6.12B Radikalnationalismus, Nationalchauvinismus 6.1MR 6.4.1S 6.7EK 6.12F 6.16KLO Radio s. Hörfunk! Radlof, J. 6.5J Ranke, L. 6.6F Rasse 6.16L Rassismus 6.4.1Z 6.4.20 6.7L 6.12L 6.16LOLit Ratgeber, rhetorische 6.2U Rätoromanisch s. Bündnerromanisch, Ladinisch! Raumer, R. v. 6.6J Realismus, liter. 6.13DLit Rechtschreibung, Orthographie 6.3R 6.6H—WLit; Reformen 6.4.3F 6.6M—R; Neue Rechtschreibung 6.6Q—WLit Rechtsextremismus, neuer 6.16Lit Rechtsparteien 6.1QR Rechtssprache 6.7D 6.14CDLit Rechtsversetzung 6.9N Rede, öffentliche, politische 6.2ULit 6.9Z 6.16GLit redeeinleitende Verben 6.15B Redeeröffnung 6.9Z; -erwähnung 6.9F; -kunst s. Rhetorik! Redensarten s. Phraseologismen! Redialektisierung 6.4.1S 6.11UVW Rednerschulung 6.2J 6.12H reflexive Verben 6.9H Regeln, Normen 6.6A; Regelverletzung 6.8W; -Vermehrung 6 . 6 W
Regenbogenpresse 6.3N Regiolekte, reg. Varietäten 6.9C 6.IIP 6.12B—DLit 6.16Z
752
Register
regionale Aussprache 6.6X 6.9BC Regionalismen 6.4.3EK 6.9C 6.11FOW 6.12BD Rei'cÄ 6.1J 6.16U Reichsdeutscb 6.4. IB 6.4.3B 6.7D 6.11BIGU Reichsfeinde 6.1KM 6.4.1ST 6.7E 6.16K Reichsgründung 6.1JM 6.4.0 6.4.1ER 6.5P 6.6DHJX 6.7D 6.8D 6.11B Reichskristallnacht 6.16T Reichsnationalismus 6.1M 6.4.0 6.4.1ER 6 . 5 0 6.6EJ 6.7E 6.16K Reichspatriotismus 6.OA 6.1A Reichsverfassung 6.1EFJ 6.16H Reichswehr 6 . 1 0 R Reimann, H. 6.8KL Reimsprüche, -verse 6.15E 6.16Y Reiners, L. 6.8KL Reizüberschriften 6.3N 6.15CD Relatinisierung engl. Lehnwörter 6.10M Relativpronomen s. welch-l Religionsersatz 6.81 6.9X 6.16B religiöse Auswanderung 6.4.1Y 6.4.2T 6.4.3W; r. Archaismen 6.9T; r. Metaphern 6 . 1 6 0 ; r. Stil 6.14Lit 6.16BCEL repräsentative Öffentlichkeit, r. Stil 6.2KLW 6.6X 6 . I I A 6.12H 6.16C Restaurationszeit 6.1BD 6.3D 6.16DELit Revolution 1848/49 6.1EFG 6.3EF 6.16F—HLit Rezitatoren 6.3B 6.6X rh/r 6.6UV Rheinland 6.1AP 6.2V 6.4.0 Rhetorik 6.2KUXLit 6.3E 6.8C 6.16GLit Riegel, H. 6.6F 6.7PQ Riehl, W. 6.IL Rilke, R. M. 6.2L 6.13D Ritualisierung, Sprachrituale 6.2NOQWX 6.3A 6.8H 6.9JX 6.11N 6.12FKL 6.14DF 6.15G 6 . 1 6 E X - Z Roethe, G. 6.7GH Röhl, E. 6.8L Romanisch s. Räto-! Romanlektüre 6.2L 6.3B; s. a. Konsumliteratur! Romantik, romantische Bewegung 6.2C 6.4.0 6.4.11 6.9T 6.13ALit Rosenberg, A. 6.7MPQ Roth, E. 6.4.2U Rotwelsch 6.4.1Z 6.12K
Routineformeln 6.9ZLit Rückert, H. 6.8F Ruhrgebiet 6.1L 6.21 6.4.1ST 6.12BHLit Rumänisch/Deutsch, sprachenpol. 6.4.1Y 6.4.2BS 6.4.3PV 6.4Lit Rundfunk s. Hörfunk! Runenschrift 6.2D Rupp, H. 6 . 6 0 Russisch als Fremdsprache 6.5GIM; R. als Verkehrssprache 6.5DH; r. Lehneinfluß 6.10R 6.16W Rußlanddeutsche 6.4.1Y 6.4.2S 6.4.3W 6.4Lit Rüstungspolitik 6.16Lit s, langes/rundes 6.2E; -s-Plural 6.9D 6.10L Sachsen 6.1C 6 . 4 . 1 0 6 . 4 . 3 0 6.12BC Sächsisch, Obersächsisch 6.3F 6 . 4 . 3 0 6.12A Sanders, D. 6.6FJ 6.8D Sarrazin, O. 6.7DJ Saterländisch 6.4.1L 6.4.3K Satire (presse), satirische Texte 6.3F6.8GI 6.11L 6.12B 6.13H 6.16EFY Satzbau, Syntax 6.8E 6 . 9 I - O L i t 6.16H; -gliedstellung 6.9K; -klammer 6.9K 6.12G; -länge 6.91 6.14B; -Verknüpfung 6.9L Schauspieler 6.6XY Scherer, W. 6.6J Schibboleths 6.4.1Z 6.11FINR 6.12BC 6.16M Schiller, Fr. v. 6.8G 6.9X 6.13AD Schlagzeilen 6.3GN 6.15CLit Schleiermacher, Fr. 6.3D 6.16B Schlesien 6.4.1QR 6.4.3PQ Schleswig-Holstein 6.1BF 6.4.1M 6.4.2B 6.5M 6.16H; s. a. Dänisch! Schlüsselwörter, polit. 6.8T 6.16 Schmidt, A. 6.13HILit Schmidt, E. 6.7H Schmidt, H. 6.16T Schmidt-Rohr, G. 6.4.2S 6.5S 6.6F 6.7L Schneider, W. 6.8L Schönerer, G. v. 6.4.1V 6.16KL Schönschreiben 6.2C Schopenhauer, A. 6.8DF Schreiben und Lesen s. Alphabetisierung!
Register Schreibkultur, Verfall 6.3R; -maschine 6.2BE; -pädagogik 6.2CD Schriftarten 6.2C—ELit; -lautung 6.12A; schriftlich/mündlich 6.2ABELit 6.8C 6.9A 6.15N; -stellerinnen 6.2L 6.8G Schulaufsatz 6.2AH 6.13D 6.14F 6.16K; -bildung 6.OA 6.2CG-JLit; -grammatik 6.2Lit; -Wortschatz 6.2A 6.7 G Schuld 6.16T Schweiz, Deutsch in der 6.6KMNRSZ 6.7D 6.9BCF 6.10P 6 . 1 1 E - G P T XLit 6.16Lit; Schweizerdeutsch 6.4.3A 6.11TVWLit 6.12A; Sprachenpolitik 6.4.1A-C 6.4.2CD 6.4.3BC 6.4Lit ,schwere Wörter' 6.7W 6.10HLit Schwerverständlichkeit 6.14DF SED 6.12A 6.11L; s. a. DDR! Semantik, historische 6.16Lit semantische Kämpfe 6.8TVW 6.16UZ Sendungsbewußtsein 6.1A 6.3D 6.4.1R 6.5J 6.16B siefc-Verben 6.9H Sie/du 6.8C 6.9Y Siebenbürgendeutsche 6.4.1Y 6.4.2RS 6.4.3PV Siebs, Th. 6.6YZ 6.7H Sievers, E. 6.6XY Singular, typisierender 6.8N 6.16R Skandinavien s. Nordeuropa! slawische Sprachen, Einstellung zu 6.5M; sl. Lehnwörter 6.10QRLÙ 6.IIS Slogans 6.15Lit Slowenisch/Deutsch 6.4.1W 6.4.2BQ 6.4.3S 6.4Lit 6.5N Soennecken, Fr. 6.2C Soldaten 6.2G; -spräche 6.12JLit Solidarisierung 6.12M 6.16F Sonderweg, deutscher 6.IG 6.4.0 Sorbisch/Deutsch 6.4.10P 6.4.2BM 6.4.3NO 6.4Lit Sowjetunion, DaF 6.51; sowj. Einfluß 6.10R 6.16W; s. a. Rußlanddeutsche! sozial 6.161 Sozialdemokraten 6.1KLMOR 6.2JLRU 6.3B 6.4.1EN 6.4.2Q 6.8T Sozialdifferenzierung 6.2P; -distanzierung 6.2KM 6.8D 6.12AG 6.13E;
753
-distinktion 6.8D; -disziplinierung 6.2AG 6.12F 6.13E; -geschichte 6.1; -harmonisierung 6.9V; -politik 6.16Lit; -reformen 6.1CGK soziale Varietäten 6.12F—MLit Sozialismus, Sozialisten 6.2C 6.161; Soz. Realismus 6.13L; soz. Sprachpolitik 6.4.3V; s. a. DDR, Marxismus! sozialliberale Koalition 6.8T 6.16TVLit Soziologenjargon 6.16V Spanien: DaF 6.51 Spanisch als Fremdsprache 6.5FG; als Weltsprache 6.5AY Spengler, O. 6.16KQ spielerische Formen s. Sprach-, Wort-! Spitzer, L. 6.71 Sport 6.2T Sportreportagen 6.1 IN 6.15H; -spräche 6.14KLit Sprachämter, -Institutionen 6.4.2S 6.5S 6.6F 6.7Lit Sprachatlanten 6.12Lit ,Sprachbarrieren' 6.6N 6.12Lit Sprachberatung 6.7RVLit Sprachbewußtsein 6.0A 6.2N Sprachdeterminismus 6.7B 6.8H ,Sprachdummheiten', ,·-schaden', ,·-Sünden' 6.8DE ,Spracheinfluß' 6.7U 6.10A Sprachenfrieden 6.4.1AB Sprachenkontakt 6.10ALit Sprachenlernen 6.2K 6.5J—Ν Sprach(en)politik, -recht 6.4 6.5; s. a. Widerstand! Spracherwerb 6.3R Sprachförderungspolitik 6 . 5 0 — Τ Sprachfossilien 6.9T Sprachglossen 6.8KL Sprachgrenzen 6.4.1FHK 6.4.2B 6.4.3EJM Sprachimperialismus 6.4.0 6.4.2A 6.50PS 6.11Q Sprachinseln, dt. 6.4.1Y 6.4.2B Sprachkolonialismus 6.4.IQ 6.5P Sprachkrise, -skepsis 6.8GH 6.13AELit Sprachkritik 6.7A 6.8 6.1 IL 6.13Lit Sprachkultur 6.3R 6.7VWLit Sprachlosigkeit' 6.8IN 6.12J 6.13J 6.16IOXYLit
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Register
Sprachloyalität 6.4.2H 6.4.3T 6.5AI 6.7T 6.11DU Sprachminderheiten s. Minderheitensprachen! Sprachmischung 6.7T 6.10K ,Sprachnation' 6.1MU; -alismus 6.4.0 6.4.1DEX 6.4.3V 6.4Lit 6.5JP 6.7AB 6.IIB Sprachnormen, -normierung 6.4.3FG 6.6; -bewußtsein 6.1M 6.2B 6.90S; -konflikte 6.6C; -toleranz 6.2BQ 6.6Z 6.7T 6.9M 6.12D; -Vermehrung 6.6L; -Verweigerung 6.12D Sprachökonomie 6.8Q 6 . 9 D H - J Q R Sprachpflege 6.7GJNQRSVWLit Sprachpragmatik 6.2U 6.7X 6.8SZ 6.9YZLit 6.11JNR 6.16YLit Sprachprestige 6.5 6.6E 6.12G Sprachpurismus, -reinigung 6.7ALit; s. a. Fremdwort-! Sprachrealismus, literar. 6.13J Sprachreflexion, öffentliche 6.OA 6.16Y Sprachregelungen 6.7D 6.12J 6.16SXLit ,Sprachrevolte' (1989) 6.16YZ; s.a. Wende 1989! Sprachrituale s. Ritualisierung! Sprachsatire s. Satire! Sprachsensibilität, öffentliche 6.8IKR —Ζ 6.16TVY Sprachseparatismus 6.4.11 6.4.2C Sprachskepsis s. Sprachkrise! ,Sprachspaltung' 6.11K—O Sprachspiel, spielerische Formen 6.8G— IY 6.9ZLit 6.13FGLit 6.15E 6.16Y; s. a. -Verfremdung, Wortspiel! Sprachuntergang 6.4.1Z Sprachverbesserungs-Bücher 6.8E Sprachverbreitungspolitik 6.50—TLit Sprachvereine 6.4.2F 6.7CJ—QLit; s. a. Gesellschaft ...! .Sprachverfall' 6.0A 6.3R 6.8DEFPLit 6.9DEG 6.12M 6.15N Sprachverfremdung 6.8GHJY 6.9X 6.13G Sprachwandel 6.9AU Sprachwechsel 6.4.1Z 6.4.3AENVW Sprachwissenschaft, Linguistik 6.6FJK 6.7UVW 6.8BFPQRSW—ZLit 6.10H 6.11L 6.12M 6.14F 6.16L Sprecherzahlen 6.5A
Sprechkunde 6.6X Sprechsprache 6.2ALit; -rhythmische Interpunktion 6.9P; -sprachl. Satzbau 6.9L-OLit; -tempo 6.3R 6.9B 6.1 IX Sprichwörtergebrauch 6.9XLit 6.16Y; s. a. Phraseologismen! SS 6.2D 6.4.2S ß/ss-Schreibung 6.6R 6.10K 6.11X sí-Trennung 6.6R St. Germain, Friedensvertrag von 6.4.2APR staatliche Varietäten 6.11 Staatsbürger 6.3D Staatsgrenzen und Sprachgrenzen 6.11FPW; -nation, -biirgernation 6.1AM 6.4.0 Stadtdialekte, spräche 6.12BLit Städteentwicklung 6. IL Staël, Madame de 6.2K Stalin, J. W. 6.4.3A; -ismus 6.4.2S 6.4.3QV Stammler, W. 6.7W Stammschreibung 6.6R Standardsprache 6.9 Standardisierung s. Sprachnormierung! Stasi-Sprache 6.16XLit Stave, J. 6.8L Staub, Fr. 6.6Z 6.11U Steche, Th. 6.7JL Stegmann v. Pritzwald, K. 6.7L Steiermark 6.4.2BQ 6.4.3S Stein-Hardenbergsche Reformen 6.1CG Steiner, G. 6.8PR Stellenangebote 6.15E Stephan, H. v. 6.7D Stereotype 6.16Lit Sternberger, D. 6.8LOPQ 6.16P Stigmatisierung 6.9T 6.16M Stilkritik, praktische Stillehren 6.8FKLLit Stilmischung 6.3R 6.13L 6.15HIL 6.16R Stoecker, A. 6.IM 6.16L Stoltenberg, H. L. 6.7JK Storz, G. 6.8KLOP Strauß, B. 6.13IJLit Strauß, F. J. 6.8T Street Art 6.2E Streicher, O. 6.7K Streik 6.161 Stroh, F. 6.7L
Register Studenten 6. I M 6.2R 6.16B; -bewegung (1968) 6.4.3X 6 . 8 T 6.9Y 6 . 1 2 M 6.16TV; -lieder 6.2S; -spräche 6.12KLit; -Verbindungen, - k o r p o r a tionen 6 . 1 M 6.2SLit 6.9Y 6.12FLit ,Stunde Null' 6.8R 6.13L 6.16PU Sturm u n d D r a n g 6.9Y Subjektschub 6.9EHLit 6.14F 6.16N Subkultur 6.2E 6.3R 6 . 1 2 J - M Substandard 6.9CLMQ 6.1 I Q 6.12BEJKMLit Substantiv, Kriterien 6.6S; -gruppe 6.9J; -ierter Infinitiv 6.8E 6.9R; -ierungsstil 6.9H Südamerika, Deutsche in 6.4.1 Y Süddeutsch 6.9G Sudetendeutsche 6.4.1V 6.4.2NOP 6.4.3PR Südtirol 6.4.1X 6.4.2R 6.4.3TU 6.4Lit 6.11YLit Süd(west)afrika, Deutsche in 6.4.1Y 6.4.3W 6.4Lit Suffixoide 6.9R Superlative, polit. 6.16R Süskind, W. E. 6.8KLOP Süssmuth, Rita 6.8W Sütterlin, L. 6.2C S y m p t o m f u n k t i o n 6.6C 6.11F Synchronisation von Filmen 6.3P 6.5L 6.IIS Syntax s. Satzbau! System 6.1PR Szientismus 6.14D—G Tabuisierung 6.9Lit 6 . 1 6 0 U V Y Tagebuchschreiben 6.21 Taschenbücher 6.3C Technikterminologie, -Wortschatz 6.14HILit technische M e t a p h e r n 6 . 1 6 0 Telefonieren 6.2BPQLit 6.3R 6 . 9 M Telegrammstil 6 . 9 M Tempus (gebrauch) 6.9GLit Terminologisierung 6.8V 6 . 9 T 6.14AILit 6.16X Territorialprinzip, sprachenpolit. 6.4.1 6.4.31 6.11T Terrorismus 6.16Lit Teutonismeti 6.11IV Text-Bild-Schere 6.3P 6.15K
755
Textsorten, -stile 6.3ALit 6.8P 6 . 9 A H J M S U 6.11N 6.13L 6 . 1 5 A H Textverarbeitung, elektron. 6.2BE; s. a. Computer! ífc/í-Schreibung 6.6KUV therap-, Konfix 6.10G Thierfelder, Fr. 6.5S Thierse, W. 6.11N Titulaturen 6 . 2 0 6 . 9 Z 6.11R 6.14D Tobler, L. 6.11U Topitsch, E. 6.8G 6.14G Totalitarismus, Sprache 6.16R Treitschke, Η . v. 6.1IM 6.2CR 6.4.1E 6 . 7 H 6.16L Trier, J. 6.7W Trivialliteratur s. Konsum-! trotz m. Gen 6.8E trotzdem!obwohl 6.8E 6.9L Tschechenvertreibung 6.4.2P Tschechisch/Deutsch, sprachenpolit. 6.4.1V 6.4.2P 6 . 4 . 3 P - R 6.4Lit; s. a. Sudetendeutsche! Tschechisch lernen 6 . 5 M N tschechische Lehnwörter 6 . 1 0 Q 6 . I I S Tschechoslowakei/Tschechien, Deutsch in 6.5DI Tucholsky, Κ. 6.8K Turnbewegung 6 . 2 T 6.7B 6.14K Überdachung s. dachloser Dialekt! übernationale Sprachbeziehungen 6.5 Überschriften s. Reizüberschriften, Schlagzeilen! Ulbricht, W. 6.1 I L um ZM-Infinitivsätze 6.9K Umgangssprache, Umgangssprachliches 6 . 9 M V 6 . I I P 6.12BLit 6.15E 6.11T 6.16Y; s. a. Regiolekte! Umlaut 6.11RX Um-schreiben, Umformulieren, sprachkrit. 6.8IMV 6.11N 6.16Y Umsiedlung 6. I M 6 . 4 . 2 0 R Q 6.4.3PV Umweltpolitik 6.8V 6.16Lit Umwertungen 6.16P Ungarn 6.1B; Deutsch in U. 6.4.0 6.4.1UY 6.4.2BS 6.4.3PV 6.4Lit; D a F in U. 6.5EFIH; dt. Rechtschreibreform 6 . 6 0 ; s. a. Ostmitteleuropa! Universitäten 6.2KL 6.2RLit 6.5U 6.12K
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Register
,Unmensch', ,unmenschlich', ,inhuman' 6 . 8 0 - Q 6.9E Unmotiviertheit als Entlehnungsgrund 6.10M Unterhaltungsfilme, -presse 6.3CJNOPLit6.13D 6.15DLit; s. a. Infotainment, Boulevardisierung! Unterhaltungsliteratur s. Konsum-! Unterschichtbevölkerung 6.IG 6.2AG— JP 6.3BDG 6.16BEFHI; -spräche 6.12HLit ,Unwörter' des Jahres 6.8Z USA s. Amerika! v / f , v/w Schreibung 6.6U Valentin, Κ. 6.81 Valenzänderung 6.9E Varianten 6.6CLLit 6.11DG; -Intoleranz 6.8E; -reduzierung 6.6CD 6.9B; -toleranz 6.6DIQZ Varietäten 6.11 6.12 Varnhagen, Rahel 6.2L veraltete Wörter 6.9TV; s. a. Archaismen! ,Verbaufspaltung' 6.9H Verbgefüge 6.9E verbloser Nebensatz 6.9G Verdeutschungen 6.7 6.14BD Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) 6.4.1XY 6.4.2BS 6.5PR Vereine, Vereinswesen 6.1DFM 6.2JSTLit 6.7H; Sprache 6.14D 6.16K Vereinheitlichungen 6.1K 6.6EHJX Vereinte Nationen 6.4.3T 6.5XY Verfassungen 6.1EFQ 6.16Lit Verfremdung 6.8Y; s. a. Sprach-! Vergangenheit, deutsche, Vergangenheitsbewältigung 6.3M 6.8PRS 6.16TLit Verhochdeutschung 6.4.1K Verkehrssprachen, inter-/übernationale 5.5HI 5.6B—D; s. a. Lingua franca! Verlaufsformen 6.9H Vermischtheit s. Stilmischung! Versailles, Frieden von 6.1P 6.4.0 6.4.2AILN Verschleierungswörter 6.9V; s. a. Aufwertung! Verstädterung, Urbanisierung 6.1LR
Verständlichkeit 6.14BDF Verwaltungswortschatz, -spräche, -stil 6.7D 6.9HIJ 6.11M 6.14BDLit; s. a. Amtssprache! Verwissenschaftlichung s. Wissenschaftssprache! Viëtor, Κ. 6.6XYZ Volk 6.16BCL Völkerbund 6.5X Völkische Bewegung 6.1R Volksabstimmungen, -zählungen, sprachenpolit. 6.4. INSU 6.4.2BILNR 6.4.3AC Volksaufklärung 6.3B 6.7B 6.8B Volksdeutsche 6.4 Volksempfänger 6.30 Volkstum, Volkstumspolitik 6.4.2 6.5S 6.16K vorangestellte Genitive 6.9E Vorarlberg 6.11W Vorlesen 6.3B Vormärz 6.1D-F 6.2C 6.13BDLit 6.16DELit Vornamen 6.9W 6.16M Vorwegnahme, Linksversetzung 6.9N Wagner, R. 6.4.1Z 6.6X 6.9T 6.13A 6.16L Wahlpropaganda, -plakate 6.16NRLit Wallonisch 6.4.1J 6.4.31 Wallraff, H . G. 6.13F Wandbeschriftungen 6.2X Wander, K. F. W. 6.9X Wanderarbeiter 6.4.1HT Wandervogel 6.12L; s. a. Jugendsprache! Warschauer Vertrag 6.4.3P Wartburgfest (1817) 6.1D 6.2TV 6.12K 6.16G Weidig, Fr. L. 6.16E Weigel, H. 6.8L weil mit Hauptsatzwortstellung 6.9L Weimarer Republik 6 . 1 0 Q R 6.2W 6.4.2 6.16NPLit Weinhold, K. 6.6J Weise, O. 6.8D Weisgerber, L. 6.6F 6.7JLRUW 6.8Q Weiskopf, F. C. 6.8L 6.11L Weizsäcker, R. v. 6.16T welch, Relativpronomen 6.9KT Welcker, F. G. 6.5J
Register welsch 6.4.1AFX; s. a. Entwelschung! Wende 1989/90 6 . 1 1 0 6.16YZLit Wendisch s. Sorbisch! Wenker, G. 6.12B Werbung, Werbetexte 6.3HKLit 6.9N 6.15EFLit West/Ostdeutsch 6.11K-OLit 6.16WXZLit Westpreußen 6.4.1QRS 6.4.2N Widerstand, gegen deutschländisches Deutsch 6.11QSUVW; gg. Fremdwortverdeutschung 6.7DHILST; gg. Nationalsozialismus 6.3L 6.16Lit; gg. Rechtschreibreform 6.6TV; sprachenpolitischer W. 6.4.1GJMNPRSV 6.4.2EHI 6.4.3BT 6.11W Wiederbelebung altdt. Wörter 6.9TLit 6.160 Wiedervereinigung 6.11LOLit 6.16UZ Wien 6 . 8 G - J 6.11PS 6.13E Wienbarg, L. 6.3D Wiener Kongreß (1815) 6.1B 6.4.1HJKOQ 6.5X Wienerisch 6.8J 6.11R 6.12BFLit Wildenbruch, Ε. v. 6.7H Wilhelm I. v. Oranien-Nassau 6.4.1H Wilhelm II., Kaiser 6.1KLN 6.2G 6.6X 6.16CK Wilhelminismus 6.7H 6.16KQ Wilmanns, W. 6.6JK 6.7H Windische 6.4.2Q 6.4.3S; s. a. Slowenen! Wirtschafts- und Sozialgeschichte 6.1 Wirtschaftsliberalismus 6.2GKL 6.5Q Wirtschaftssprache 6.5Z 6.14Lit 6.16Lit Wissenschaftssprache, -Wortschatz 6.5U—WLit 6.7K 6.14E—GLit; in der Öffentlichkeits- und Gemeinsprache 6.8V 6.9Lit 6.14Lit 6.16V; Kritik an W. 6.8GH Wittgenstein, L. 6.8GH 6.14T Wohnungssuche BRD/DDR 6.1 I N Wolf, Christa 6.16Y Wolfskehl, K. 6.4.2U Wolgadeutsche 6.4.1 Y 6.4.2S Wolzogen, H. P. v. 6.8D
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Wortakzent 6.9C Wortbildung 6.8Q 6 . 9 Q - R L i t 6.11X 6.13HLit Wörterbücher 6.9Lit ,Wortfetischismus' 6.8GH Wortkürzung 6.9Q; -stigmatisierung 6.9T; -schwund 6.9TLit; -spiel 6.8J 6.9Q 6.16Y; -Stellung 6.9EKLNLit; -trennung 6.6R; -Zuwachs 6.9T Wortschatz 6 . 9 S - V L i t «wcie-Konjunktiv 6.8E 6.9F Wüster, Ε. 6.141 Wustmann, G. 6.8DE 6.13C Xenolekt 6.4.3Y 6.12ILit ^//-Schreibung 6.6MV Zäsuren 6.0B Zeichensetzung s. Interpunktion! Zeitung 6.3D—NLit; -lesen 6.3G Zeitungsnachrichten 6.15B; -spräche 6.8FG 6.15A—FLit; -textsorten 6.3GLit Zensur 6 . 3 B D - F I L 6.16D Zentralinstitut für Sprachwissenschaft 6.6GN Zetkin, Clara 6.2L 6.16J Zimmer, D. E. 6.8L Zionismus 6.4.1Z 6.4.2U Zitieren, Zitate 6.2N 6.9XLit 6.13ALit 6.16Y; entlarvendes Z. 6.8J; ironisches Ζ. 6.9X 6.13F; -markierung 6.9F; verfremdendes Ζ. 6.9X 6.12M Zivilisationskritik, -pessimismus 6.1LR 6.12L Zuchtwahl 6.14E Zürichdeutsch 6.11UW Zusammenschreibung 6.6R Zweideutigkeit 6.9XZ 6.12J 6.16VY Zweisprachigkeit 6.4.1FH—JMVX 6.4.2BIRZ 6.4.3AEITY 6.5AJU 6.1 IT; -zwang 6.4.0 6.4.1PQV 6 . 5 0 ; s. a. innere Zw.! Zwischenrufe, -fragen 6.2X
SPRACHE, POLITIK, ÖFFENTLICHKEIT
Sprache im Umbruch Politischer Wandel im Zeichen von „Wende" und „Vereinigung" Herausgegeben von Armin Burkhardt und K. Peter Fritzsche X X I , 314 Seiten. Mit einer Abbildung. 1992. Leinen. I S B N 3-11-013613-9 (Band 1)
SABINA SCHROETER
Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur Studien zum DDR-typischen Wortschatz X , 2 4 1 Seiten. 1994. Leinen. ISBN 3-11-013808-5 (Band 2)
GEORG STÖTZEL/MARTIN WENGELER
Kontroverse Begriffe Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland In Zusammenarbeit mit Karin Boke, Hildegard Gorny, Silke Hahn, Matthias Jung, Andreas Musolff, Cornelia Tönnesen VII, 852 Seiten. 1994. Leinen. ISBN 3-11-014652; Broschur. I S B N 3-11-014106-X (Band 4)
KARIN BÖKE/FRANK LIEDTKE/MARTIN WENGELER
Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära Mit einem Beitrag von Dorothee Dengel 1996. XII, 496 Seiten. Leinen. I S B N 3-11-014236-8 (Band 8)
Walter de Gruyter
w DE
G
Berlin · New York
Sprache und bürgerliche Nation Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert Herausgegeben von Dieter Cherubim, Siegfried Grosse, Klaus J . Mattheier 1998. I X , 456 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen. Leinen. ISBN 3-11-014495-6
Das 20. Jahrhundert Sprachgeschichte — Zeitgeschichte Herausgegeben von Heidrun Kämper und Hartmut Schmidt 1998. VI, 446 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-016156-7 (Institut für deutsche Sprache - Jahrbuch 1997)
CORNELIA S C H M I T Z - B E R N I N G
Vokabular des Nationalsozialismus 1998. X L I I , 7 1 0 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-013379-2
D I E T E R HERBERG/DORIS STEFFENS/ELKE TELLENBACH
Schlüsselwörter der Wendezeit Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1 9 8 9 / 9 0 1997. X , 522 Seiten. Leinen. ISBN 3 - 1 1 - 0 1 5 3 9 8 - X (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6)
STEPHEN BARBOUR/PATRICK STEVENSON
Variation im Deutschen Soziolinguistische Perspektiven Übersetzt von Konstanze Gebel 1998. XVII, 354 Seiten. Mit 18 Abbildungen, 7 Tabellen und 14 Karten. Broschiert. ISBN 3-11-014581-2 (de Gruyter Studienbuch)
Walter de Gruyter
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Berlin · New York