Religion, Moral und liberaler Markt: Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1. Aufl.] 9783839418406

Seit Beginn des kapitalistischen Wirtschaftens wird nach einer ethisch-religiösen Begründung des liberalen Marktgeschehe

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German Pages 312 Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos. Zur Einführung
I. METHODENDEBATTEN ZUM VERHÄLTNIS VON RELIGION, KULTUR UND WIRTSCHAFT
Kapitalismen, Modernen und religiöses Ethos. Methodisches zur Erforschung von Religion und Ökonomie
Wirtschaftskultur und Wirtschaftsgeschichte. Von der Historischen Schule zur Neuen Institutionenökonomik
II. VON SMITH ZU HAYEK UND THATCHER: DER ANGLOAMERIKANISCHE DISKURS
Moral der Ökonomie und Ökonomie der Moral. Die Differenzierung der political economy im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts
Die bleibende Bedeutung der Politischen Ökonomie von Adam Smith
Liberale Moraldebatten in modernen Marktgesellschaften: John Rawls und sein intellektuelles Umfeld
Libertäre, Evangelikale und die Paradigmen kapitalistischer Marktordnung in den USA
Liberaler Kapitalismus, Libertarismus und Kulturtheorie. Zur Bedeutung Friedrich August von Hayeks für das staatskritische Denken im ausgehenden 20. Jahrhundert
Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethische Fragen im Großbritannien der Thatcher-Ära
III. WIRTSCHAFTSDISKUSSIONEN UND GESELLSCHAFTSVORSTELLUNGEN IN ITALIEN UND DEUTSCHLAND
„Liberalismo“ und „liberismo“ bei Benedetto Croce und Luigi Einaudi. Ein Disput im faschistischen Italien
Wirtschaft und Gesellschaft miteinander versöhnen. Protestantische Wurzeln und katholische Zweige der Sozialen Marktwirtschaft
Wohlstand oder Solidarität? Katholiken und Christdemokraten auf der Suche nach einer sozialen Marktwirtschaft
„Diktatur des Lebensstandards“. Wirtschaftliche Prosperität, Massenkonsum und Demokratiebegründungen in liberalen und konservativen Gesellschaftsdeutungen der alten Bundesrepublik
IV. RELIGION UND MARKT, RELIGION AUF DEM MARKT
Kirchen, Religion und Medienmärkte. Interaktionen und Transformationen in der bundesdeutschen Geschichte
„Der Tanz um das Goldene Kalb der Finanzmärkte“. Konjunkturen religiöser Semantik in deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren
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Religion, Moral und liberaler Markt: Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839418406

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Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt

Histoire | Band 28

Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.)

Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Die Drucklegung wurde gefördert durch Zuschüsse der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Ernst-Pietsch-Stiftung Deggendorf.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler, Brigitte Gutbrodt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1840-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Michael Hochgeschwender/Bernhard Löffler | 7

Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos. Zur Einführung

Bernhard Löffler | 9

I. METHODENDEBATTEN ZUM VERHÄLTNIS VON RELIGION, KULTUR UND W IRTSCHAFT Kapitalismen, Modernen und religiöses Ethos. Methodisches zur Erforschung von Religion und Ökonomie

Anne Koch | 27 Wirtschaftskultur und Wirtschaftsgeschichte. Von der Historischen Schule zur Neuen Institutionenökonomik

Clemens Wischermann | 55   II. V ON SMITH ZU HAYEK UND T HATCHER: DER ANGLOAMERIKANISCHE D ISKURS Moral der Ökonomie und Ökonomie der Moral. Die Differenzierung der political economy im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts

Jörn Leonhard | 69 Die bleibende Bedeutung der Politischen Ökonomie von Adam Smith

Johannes Wallacher | 89 Liberale Moraldebatten in modernen Marktgesellschaften: John Rawls und sein intellektuelles Umfeld

Walter Reese-Schäfer | 107 Libertäre, Evangelikale und die Paradigmen kapitalistischer Marktordnung in den USA

Michael Hochgeschwender | 119

Liberaler Kapitalismus, Libertarismus und Kulturtheorie. Zur Bedeutung Friedrich August von Hayeks für das staatskritische Denken im ausgehenden 20. Jahrhundert

Iris Karabelas | 151 Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethische Fragen im Großbritannien der Thatcher-Ära

Dominik Geppert | 171

III. WIRTSCHAFTSDISKUSSIONEN UND G ESELLSCHAFTSVORSTELLUNGEN IN ITALIEN UND D EUTSCHLAND „Liberalismo“ und „liberismo“ bei Benedetto Croce und Luigi Einaudi. Ein Disput im faschistischen Italien

Thomas Brechenmacher | 189 Wirtschaft und Gesellschaft miteinander versöhnen. Protestantische Wurzeln und katholische Zweige der Sozialen Marktwirtschaft

Nils Goldschmidt | 205 Wohlstand oder Solidarität? Katholiken und Christdemokraten auf der Suche nach einer sozialen Marktwirtschaft

Ronald J. Granieri | 221 „Diktatur des Lebensstandards“. Wirtschaftliche Prosperität, Massenkonsum und Demokratiebegründungen in liberalen und konservativen Gesellschaftsdeutungen der alten Bundesrepublik

Friedrich Kießling | 237   IV. RELIGION UND

M ARKT, RELIGION AUF DEM MARKT

Kirchen, Religion und Medienmärkte. Interaktionen und Transformationen in der bundesdeutschen Geschichte

Frank Bösch | 263 „Der Tanz um das Goldene Kalb der Finanzmärkte“. Konjunkturen religiöser Semantik in deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren

Sven-Daniel Gettys/Thomas Mittmann | 283

Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes sind einer Tagung an der Akademie für politische Bildung in Tutzing erwachsen. Sie fand Ende Oktober 2008 statt unter dem Titel „Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos. Kulturhistorische Interdependenzen und ideengeschichtliche Entwicklungen in Westeuropa und den USA“ und stand damals unter dem sehr frischen Eindruck des Bankencrashs in den USA. Die Frage der ethisch-religiösen Fundierung und Dimensionierung des Wirtschaftens hat seitdem nicht an Aktualität, Relevanz und Brisanz verloren. Dies gilt umso mehr, als man in nicht wenigen Unternehmensbereichen, namentlich in den Krisen verursachenden und Milliarden von Steuergeldern aufsaugenden Banken, aber auch in Kreisen der großen und kleinen Aktionäre und Börsenfans das Thema angesichts einer wieder boomenden Ökonomie schon beinahe vergessen zu haben scheint. Vielleicht vermag das Buch seinen kleinen Beitrag zu leisten, diesen Hang zum Vergessen, zum Schön- und Herausreden gegenzusteuern und die engen Zusammenhänge von politischer Ökonomie, Wirtschaftsmoral, Religion und Kultur im Bewusstsein zu halten. Zum Gelingen und zur Umsetzung von Tagung und Publikation haben viele Personen beigetragen. Zu danken ist an erster Stelle den Autoren für ihre engagierten und kenntnisreichen Beiträge und Diskussionen, sodann den Verantwortlichen der Akademie für politische Bildung – an erster Stelle deren Direktor, Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, und der Tagungsreferentin, Dr. Saskia Hieber – für ihre Organisationsarbeit und die ebenso angenehme wie anregende Atmosphäre in ihrem Domizil am schönen Starnberger See. Die Ernst-Pietsch-Stiftung Deggendorf und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften haben die Veröffentlichung mit Druckkostenzuschüssen unterstützt und so erst ermöglicht. Schließlich haben sich nicht wenige helfende Hände bei der redaktionellen Arbeit verdient gemacht. In München waren das Lisa Sanner, Barbara Opitz, Karen Weilbrenner, Michèle Kiermeier, Maurizio Di Costanzo und Sebastian Lang, in Regensburg Sabrina Hartl, Veronika Rihl und Alexander Buchinger, vor allem aber Frau Brigitte Gutbrodt, die umsichtig und geduldig das Layout erstellte. Für all das gebührt ihnen herzlicher Dank. Das gleiche gilt

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für Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel für manche Hilfestellung und nicht zuletzt für seine engagierten konzeptionellen Anregungen während und nach der Tutzinger Tagung. Schließlich ist den Verantwortlichen des transcript-Verlages für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Drucklegung des Buches zu danken. München und Regensburg, 1. Mai 2011 Die Herausgeber



Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos Zur Einführung B ERNHARD L ÖFFLER

Mit dem Ende der bipolaren Ost-West-Konkurrenz bzw. dem Untergang des (lange Zeit alternativen) kommunistischen Regimes der Sowjetunion und mit den darauf folgenden einschneidenden sozioökonomischen Transformationsvorgängen in den osteuropäischen Staaten seit 1989/90 scheint (oder schien) sich der liberale Kapitalismus als Normen setzendes und Verhalten prägendes wirtschaftliches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip – zumindest in der europäisch-nordamerikanischen Welt – auf breiter Front durchgesetzt und fest institutionalisiert zu haben. Diese Dominanz hing nicht nur mit den tief greifenden weltpolitischen Umwälzungsprozessen zusammen. Man kann sie überdies erfassen als Folgewirkung wie Bedingungsvariable der mit neuer Dynamik auftretenden Globalisierungs- und Internationalisierungsvorgänge, des Bedeutungsverlusts nationaler Handlungsmuster (jedenfalls auf ökonomischem Gebiet) und der Infragestellung keynesianischkonsensliberaler Lösungsmodelle seit den 1970er Jahren sowie der neuen Qualität des digitalisierten transnationalen Daten- und Informationsaustausch. Begrifflich wird dieses kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zumeist als „neoliberal“ bezeichnet, und das meint im gegenwärtigen Verständnis und anders als ursprünglich gedacht: eine stark ökonomistische, marktradikale und vor allem in angloatlantischen Zusammenhängen ausgeprägte Variante des Liberalismus. Bestätigung für diese Hypothese finden wir auch in der aktuellen Veröffentlichung von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael zur gegenwartsnahen Zeitgeschichte „nach dem Boom“: In ihr erscheint der „digitalisierte Finanzmarktkapitalismus“ zugleich als zentrales Epochencharakteristikum wie als deren quasi materielles Fundament.1

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Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008 (2. Aufl. 2010).

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Vermutlich ebenfalls als Folge dieser Umbrüche und ihrer verunsichernden, viele traditionelle Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Sinngewissheiten in Frage stellenden Wirkungen ist auf der anderen Seite gerade in den letzten Jahren ein vermehrtes Bedürfnis nach ethisch-normativer oder religiöser Bindung auch in einer säkularisierten Gesellschaft und nach einer (zumindest auf der emotionalen Ebene) transzendentalen Rückversicherung der Menschen erkennbar, scheint es zu einem Bedeutungsgewinn des Religiösen (oder jedenfalls religiöser Sehnsüchte) in der Welt gekommen zu sein. Zu nennen sind da, besonders spektakulär und in globaler, weltpolitischer Perspektive, das Auftreten islamistischer Fundamentalisten, die Diskussionen um einen „clash“ der Kulturen und Religionen in Folge des 11. September 2001 oder der massenmediale Hype um das (in vielem inszenierte) Sterben von Papst Johannes Paul II. und die Wahl des neuen Papstes Benedikt XVI. im Jahr 2005. Zu verweisen ist auch auf kleiner dimensionierte, aber sich auffällig häufende Signale öffentlicher Präsenz des Religiösen: Die Absatzzahlen von Jakobs-Pilgerweg-Literatur schießen in die Höhe. Die Bischöfe Reinhold Marx und Wolfgang Huber geißeln zur besten „Heute“-Sendezeit und in seltener bikonfessioneller Einigkeit die Raffgier der Menschen allgemein und der Manager im Besonderen und fordern eine gründliche ethische, religiös unterfütterte Revision des Wirtschaftens. Im Oktober 2008 vermeldete „Die Welt online“, das „Gebet für die gegenwärtige Finanzlage“, das sich auf der Website der Anglikanischen Kirche befindet, erfreue sich bei den Briten derzeit einer ungeheueren und weiter zunehmenden Beliebtheit. Angesichts „verstörender Zeiten“ wird hier Gott gebeten, „ein starker Turm im finanziellen Treibsand zu sein“. Der anglikanische Kirchensprecher John Preston teilte mit, insgesamt sei der Zuspruch zu den Ratgebersektionen, die sich mit Schulden und Wirtschaftskrise befassten, in den vergangenen Wochen um 71 Prozent angestiegen. Er sei regelrecht „entzückt“, dass der Inhalt die Menschen anspreche; das Beten sei „online“ eben auch „viel zugänglicher“ und viel besser an Mann und Frau zu bringen. Und zuletzt hat sich auch der unvermeidliche Helmut Schmidt, dessen Werke für einige selbst fast biblisch-autoritativen Charakter besitzen, erbauungsliterarisch zu Wort gemeldet und seinerseits die Religion in Verantwortung genommen, konstruktiv zur Bewältigung von Konflikten im Zeitalter der Globalisierung beizutragen.2 Weniger punktuell-aktionistisch oder mit Blick auf die medialinszenatorische Seite gesprochen: Es deuten manche Anzeichen auf eine

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Vgl. zu dem Komplex beispielhaft die vielen statistischen Belege im Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2007: www.religionsmonitor.de; Welt online, 10.10.2008; Reinhard Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen. München 2008; Helmut Schmidt, Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung. Berlin 2011; vgl. auch Johann Hinrich Claussen, Der alte König, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.5.2011, 11.

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grundsätzliche Revitalisierung religiös-ethischer Bezüge und entsprechender Selbstvergewisserungsmuster, Deutungskategorien und Symbolsprachen, auf die von vielen empfundene Notwendigkeit einer überweltlichen Dimensionierung privater Lebens- wie gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe und hier nicht zuletzt auch des Wirtschaftslebens hin. Man kann dies in vielerlei Hinsicht greifen bzw. Felder entsprechender diskursiver Verdichtung festmachen: in den eigentümlichen Zusammenhängen von neoliberaler (Wirtschafts-)Politik und neuer religiöser Radikalität in den USA etwa3; oder in den schwierigen Kontroversen und langwierigen Grundsatzdebatten um soziale Sicherungssysteme in der Marktwirtschaft und um sozialethische Rahmensetzungen des Kapitalismus mit seinen zunehmend polarisierenden Verteilungskämpfen und Verteilungsungerechtigkeiten; in den Diskussionen um die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Verantwortlichkeiten, Chancen und Risiken wirtschaftlich-technischer Globalisierung und Modernisierung, um moralische Normen und ethische Kontrollmechanismen ökonomischen Tuns, wie sie sich in der Kritik an riskanten Hedgefonds oder überzogenen Managergehältern und -abfindungen ebenso spiegeln wie im Gentechnikdiskurs oder in den G8-Demonstrationen (auf denen freilich selbst Kinder des Kapitalismus agieren und dessen ganze Klaviatur nutzen); schließlich als vorläufigem Höhepunkt seit Herbst 2008, dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Lehman Brothers-Investmentbank und der Erschütterung der Weltfinanzordnung, sowie seit der Eurokrise des Jahres 2010 besonders in den Debatten um prinzipielle Regulierungen und die systemische Existenzberechtigung eines digitalisierten Finanzmarktkapitalismus, hemmungsloser Devisenspekulationen und gedankenloser Staatsverschuldung.4 Der vorliegende Sammelband verfolgt das Ziel, beide der skizzierten, in den letzten 10 bis 15 Jahren sich so stark manifestierenden Trends – pointiert: den vermeintlichen Siegeszug des liberalen Kapitalismus als tonangebendem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem einerseits und die vielfältige

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Dazu speziell etwa Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. München 2007. Zu den zahlreichen tagespolitischen Kommentaren in Zeiten der aktuellen Krise z. B. Marc Beise, Neoliberalismus ohne Erdung, in: Süddeutsche Zeitung, 12.6.2007, 23; Alexander Hagenlüken, Der neue Kapitalismus, in: ebd., 2.4.2009, 4; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Woran der Kapitalismus krankt, in: ebd., 24.4.2009, 8. – Ferner an neueren wissenschaftlichen Analysen zu dem Themenfeld: Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirchen, Medien, Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945. Göttingen 2009; Michael Geyer/Lucian Hölscher (Hrsg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland. Göttingen 2007; Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/ Wien 2007.

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Wiederkehr des Ethischen und Religiösen in der Debatte andererseits – zusammenzuführen. In seinem Zentrum stehen mithin die Wechselbeziehungen von Liberalismus, Kapitalismus und religiösem Ethos, das Verhältnis und die Zuordnungen von Staat, Markt, (freiem) Individuum und Gesellschaft sowie die ethisch-religiösen Normen und „moralischen“ Vorstellungen in der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Debatte. Sie werden in einem historischen, genauer: kulturhistorischen Zugriff und in einer übernational vergleichenden Herangehensweise analysiert. Das heißt: Gefragt wird in erster Linie nach den tieferen ideen- und kulturgeschichtlichen Wurzeln, nach den Entwicklungen von längerer historischer Dauer, sodann nach den übernationalen Transfervorgängen und Dogmenbildungen, den dahinterstehenden gesellschaftlichen und öffentlich-medialen Diskursstrategien, Perzeptionsmustern und Rezeptionsprozessen sowie nach den politischen Interdependenzen zwischen Ökonomie, Gesellschaft, Religion und (politischer) Moral. Dergleichen inhaltliche Problemstellungen können durchaus ihre Entsprechung in methodischer Hinsicht finden. Denn fragt man nach einschlägigen Analysekategorien und Interpretationsansätzen, scheinen sich in letzter Zeit auch methodisch die zur Debatte stehenden Ebenen Kultur, Religion/Ethos und Wirtschaft wieder zunehmend stärker zu verschränken. Vor allem an drei analytische Diskussions- und Forschungsstränge kann man hier denken und anknüpfen. Bezug genommen werden kann zum einen auf die weitreichende Tradition wirtschafts- und religionssoziologischer Forschungen, wie sie mit den Namen Max Webers, Georg Simmels oder Alfred Müller-Armacks verbunden ist und in jüngster Zeit etwa wieder von Kultur- und Religionswissenschaftlern wie Friedrich Wilhelm Graf thematisiert wurde. Methodisches Potential wird diesen Forschungen zusätzlich dadurch verliehen, dass sie enge Anschlussmöglichkeiten an bemerkenswerte „religionsökonomische“ Untersuchungen („religious economics“) wie an kulturhistorisch-diskursanalytische Ansätze bieten. 5 Zum zweiten und damit zusammenhängend

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Vgl. etwa Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (Beck’sche Reihe). München 2007; zur Religionsökonomik: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard Sturm (Hrsg.), Jahrbuch Normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik, Bd. 6: Ökonomie und Religion. Marburg 2007; R. Laurence Moore, Selling God. American Religion in the Marketplace of Culture. New York/Oxford 1994; Roger Finke/Rodney Stark (Ed.), The Churching of America, 1776-2005. Winners and Losers in Our Religious Economy. 2. Aufl. New Brunswick 2005; Laurence R. Iannaccone, Introduction to the Economics of Religion, in: Journal of Economic Literature 36, 1998, 14651496; zu kulturalistischen Ansätzen paradigmatisch: Pascal Eitler, Politik und Religion: Semantische Grenzen und Grenzverschiebungen in der Bundesrepublik Deutschland 1965-1975, in: Ute Frevert/Heinz-Gerd Haupt (Hrsg.), Neue Poli-

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können die Thesen der ebenfalls auf ältere Vorbilder (Arthur Spiethoff, Werner Sombart, Alfred Müller-Armack) zurückgehenden sogenannten Wirtschaftskultur- und Wirtschaftsstilforschung aufgenommen werden. Diese fragt dezidiert nach der außerökonomischen Einbettung und Begründung von Wirtschaftsordnungen, wird seit geraumer Zeit auch wieder von der wirtschaftsgeschichtlichen wie wirtschaftstheoretischen Forschung intensiver rezipiert und hat dort unter den Stichworten „Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte“ oder „kulturelle Ökonomik“, aber auch in manchen Fragestellungen der „Neuen Institutionenökonomik“, zu entsprechenden methodischen Weiterungen und inhaltlichen Neuakzentuierungen geführt (etwa in den Studien Hartmut Berghoffs u. a.). Einzuordnen sind diese Tendenzen sicherlich nicht zuletzt in den größeren Forschungskontext des „cultural turn“.6 Schließlich verfolgt der Sammelband das methodische Anliegen einer transnationalen Ideengeschichte, und das in zweifacher Hinsicht: Zum einen sollen Strukturen, Phänomene und Prozesse in den Blick genommen werden, wie sie sich übernational in Westeuropa und den USA greifen lassen und in Vorgängen eines transnationalen Ideen- und Kulturaustauschs aufeinander bezogen sind – im Sinne einer kultur- und ideenhistorischen Beziehungs- und Transfergeschichte. Zum anderen geht es um den internationalen Vergleich und die Differenzierung nationalspezifischer Konstellationen und Entwicklungen, wie sie sich in Fallstudien zu verschiedenen Ländern manifestieren – im Sinne einer kultur- und ideenhistorischen Komparatistik.7 Man kann die Aufsätze des Bandes in vier Teile gliedern. Am Beginn stehen zwei methodisch und forschungsgeschichtlich akzentuierte Beiträge. Sie nehmen viele der eben skizzierten Forschungsstränge und methodischen Prämissen auf und befassen sich – aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Disziplinen: der Religionswissenschaft und der Wirtschafts(kultur)



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tikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt am Main/New York 2005, 268-303. Zu den „wirtschaftskulturellen“ Ansätzen vgl. etwa Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main/New York 2004; Gerold Blümle/Nils Goldschmidt/Rainer Klump/Bernd Schauenberg/Harro von Senger (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. Münster 2004; Rainer Klump (Hrsg.), Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung. Marburg 1996; zur Institutionenökonomik: Douglass C. North, Theorie institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1988; Rudolf Richter/Eirik Furubotn, Neue Institutionenökonomik. Ein Einführung und kritische Würdigung. Tübingen 1996; Matthias Erlei u. a., Neue Institutionenökonomik. Stuttgart 1999. Vgl. im guten Überblick Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer, in: Historische Zeitschrift 267, 1998, 649-685.

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geschichte – mit den prinzipiellen Problemen und Erkenntnischancen, die sich aus der Kombination religionssoziologisch-theologischer, wirtschaftshistorischer und kulturgeschichtlicher Interpretationen ergeben. Zunächst reflektiert Anne Koch, wie die Zusammenhänge von kapitalistischer Ökonomie und religiösem Ethos in der Moderne aus religionswissenschaftlicher Sicht behandelt wurden und werden. Ausgehend von einer diskurstheoretischen Prämisse, d. h. einem „diskursiven“, nicht normativen Religionsverständnis, analysiert sie zunächst die Verhandlung der Thematik in den breiten Diskussionen um „Moderne“ und „Globalisierung“. In einem zweiten Schritt wird dann kursorisch eine Systematik religionsökonomischer Forschungsansätze vorgestellt. Die Autorin differenziert dabei zwischen a) kulturtheoretischen Modellen zur Wechselwirkung von Religion und Ökonomie (Konzepte von Mentalität, Habitus, Wirtschaftsgeist, Wirtschaftsstil, religiöser Identität), b) der Behandlung ökonomischer Theorien in der Religionswissenschaft („Mythos vom autonomen Subjekt“, „Manager-Mythos“) und c) der Relevanz ökonomischer Theorien als generelle Erklärungsmodelle in der Religionswissenschaft (v. a. mit Blick auf die Neue Institutionenökonomik). Im Ergebnis wird dabei in erster Linie deutlich, welches große Potential zur interdisziplinären Bündelung unterschiedlicher Ansätze einer modernen religionswissenschaftlichen Forschung für die kulturwissenschaftliche Beschreibung des höchst vielschichtigen gesellschaftlichen Diskussionsfeldes von Religion und Wirtschaft zukommen kann. Clemens Wischermann entwirft in einer Tour d’Horizont durch zwei Jahrhunderte ökonomischen Denkens ein facettenreiches Panorama, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der Rolle der Kultur in ökonomischen Theorien steht. Er sieht dabei zwei extreme Spannungspole. Auf der einen Seite stehen universalistische Ansätze, wie sie die liberalen Ökonomen und die neoklassische Schule verfolgten. Mit deren Orientierung an scheinbar „ewigen Gesetzen“ und ihrer abstrakten Modellhaftigkeit im Vorgehen haben zeit- und raumdefinierte kulturelle Faktoren keine Relevanz. Das andere Extrem repräsentieren die Thesen der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, die gerade um die zeitbedingten kulturellen und institutionellen Prägekräfte auf das Wirtschaften und auf die Ausbildung nationaler „Wirtschaftsstile“ kreisen. Die auf lange Sicht und für heute wesentlich interessanteren Ansätze einer analytisch elaborierten und theoretisch reflektierten Vermittlung von Kultur und Wirtschaft erkennt Wischermann allerdings noch mehr in Anstößen aus den USA: in den Postulaten der New Institutional Economics (v. a. des Wirtschaftshistorikers Douglass C. North) mit ihrer zunehmenden zeitlich-geschichtlichen Verortung der Ökonomie, dem Hinweis auf die Bedeutung informeller Sitten und Gepflogenheiten wie unterschiedlicher Strategien der Wirklichkeitswahrnehmung („mental models“); oder in den diversen (wirtschafts)soziologischen Forschungen zur kulturwissenschaftlichen Einordnung und Erweiterung ökonomischen Denkens von Peter L. Berger und Pierre Bourdieu bis zu den aktuellen Diskussionen um „Comparative Capitalism“ (in globalhistorischer Perspektive wie

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in langen diachronen Zugriffen) und um die Kategorien der „Industrious Revolution“, die allesamt „für eine rasante Ausweitung kultureller Begründungen für Wirtschaftshandeln, wirtschaftlichen Wandel und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ stehen. Die zweite Gruppe der Abhandlungen ist vor allem der historischen Analyse der angloamerikanischen Debatten gewidmet, mit der hauptsächlichen Fragerichtung, welche ethisch-religiösen Vorstellungen den Diskussionen, Entwürfen und Praktiken einer liberalen Wirtschaftsordnung und eines kapitalistischen Wirtschaftssystems zugrunde lagen bzw. liegen, wie sich beides gegenseitig bedingt, verflochten und möglicherweise auch verformt hat, und wie die Ströme übernationaler Ideentransfers und Rezeptionsvorgänge verliefen. Der thematisch-zeitliche Bogen ist dabei weit gespannt. Jörn Leonhard beginnt mit einer Analyse der angelsächsischen Liberalismusdiskurse im 18. und 19. Jahrhundert. Vornehmlich am Werk zweier exponierter Ahnherrn des modernen Liberalismus, Adam Smiths und John Stuart Mills (und ergänzt um einen kleinen, kursorischen Ausblick auf dasjenige Lord Actons), verdeutlicht der Autor „exemplarische Knotenpunkte“ der Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Ethik, Interesse und Moral, Individuum und Gemeinwohl, „homo oeconomicus“ und „homo socialis“. Die entsprechenden Überlegungen stünden allesamt unter der fundamentalen Prämisse einer krisenhaften Umbruchszeit, der Entstehung einer gänzlich neuartigen Eigentums-, Markt- und Industriegesellschaft sowie expandierender, zunehmend komplizierter werdender, medialisierter und die individuelle Handlungsfreiheit tendenziell einschränkender Massenmärkte. Gemeinsam seien den Arbeiten Smiths und Mills dabei die relative Abstinenz des Staates und eine Grundskepsis gegenüber freiheitsgefährdendem Staatsinterventionismus – dies sicherlich in einer markanten Unterscheidung zum kontinentaleuropäischen Diskurs. Das bedeute indes nicht, dass die Fragen nach Gemeinwohlfähigkeit und sozialer Verantwortlichkeit des Einzelnen ausgeblendet oder utilitaristisch verkürzt würden. Bei Smith bildeten Eigennutz und Gemeinwohl eine Synthese, die der komplexen Interaktion und Kommunikation zwischen individuellen Akteuren entspringe. Und Mills Werk sei geradezu eine Reaktion auf die sozialen Folgekosten und Probleme der wachsenden Industriegesellschaft, sein Ergebnis eine egalitäre und meritokratisch gefärbte Ideologiekritik am zeitgenössischen aristokratischen Paternalismus des viktorianischen Systems mit seiner soziokulturellen Segregation und der Entmachtung weiter Bevölkerungsschichten. Beide Denkmodelle verwiesen überdies darauf, dass Liberalismus nichts Eindeutiges oder Statisches sei, dass man es vielmehr mit einer ausgesprochenen Pluralität verschiedener „theoretisch-methodischer Aneignungen“ und mit einem differenzierten Nebeneinander mehrerer „Liberalismen“ zu tun habe. Daran anschließend und ergänzend hierzu unternimmt Johannes Wallacher den Versuch, das Smith-Thema auf seinen Aktualitätsgehalt hin zu prüfen. Angesichts der gegenwärtigen Systemkrise kapitalistischen Wirt-

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schaftens mit Bankencrashs und Eurokrise fragt er nach der bleibenden Bedeutung der Politischen Ökonomie Adams Smiths, des vermeintlichen „Ahnherrn“ eines Wirtschaftsliberalismus mit freiem Markt, schwachem Staat und eigennützigem Homo Oeconomicus. Entgegen diesem Zerrbild plädiert der Beitrag dafür, Smiths liberale ökonomische Überlegungen, wie sie sich klassisch im „Wohlstand der Nationen“ bündeln, stets im „inneren Zusammenhang“ mit seinen gesellschaftsethischen und moralphilosophischen Prämissen zu betrachten. Ohne unbedingt von einem konsistenten Gesamtsystem sprechen zu wollen, sei Smith doch immer vor der Folie seines anderen, früheren Hauptwerks, der „Theorie der moralischen Gefühle“, zu interpretieren, weil sich erst von hier aus das ethische Fundament seiner Politischen Ökonomie erschließe. Smith sei kein Laissez-faireLiberaler, habe seine ökonomischen Gedanken vielmehr durchgehend gebunden an umfassende normative Leitlinien („civil virtues“, Gottesvorstellung der schottischen Aufklärung, teleologisches Naturverständnis, Unparteilichkeit etc.). Ferner sei er ausgegangen von einer sozio-kulturellen Bindung von Wirtschaft (wie sie im Zeichen der diversen Strömungen der Wirtschaftskulturforschung heute wieder diskutiert wird). Die „Sozialität“ des Menschen und sein Bedürfnis nach Kommunikation, kultureller Bindung, emotionaler Zufriedenheit, Fähigkeit zu Sympathie und „affektivem Teilnehmen“ (Tugendhat) spielten „in der moralischen wie wirtschaftlichen Verständigung eine zentrale Rolle“. Nur wenn man dies beachte, könne man der Grundfrage des Gesamtwerks Smiths nahekommen: „wie nämlich eine gesellschaftliche Interaktion freier Individuen in arbeitsteiligen Gesellschaften möglich ist, in der das private Interesse der einzelnen Bürger untrennbar mit dem Gemeinwohl verbunden und von diesem abhängig ist.“ Auch Walter Reese-Schäfer beschäftigt sich mit von zwei dezidiert liberalen Protagonisten getragenen Moraldebatten, allerdings in der modernen Marktgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Den Ausgangspunkt bildet die Analyse der Gerechtigkeitstheorien John Rawls’, die interpretiert werden als „Versuch […], unter Verzicht auf umfassende, seien es ökonomische, politische oder religiöse Weltanschauungen zu einer rein politischen Konzeption des Zusammenlebens zu kommen“. Politische Gerechtigkeit sei am ehesten als „Fairness in einem jedem leicht explizierbaren Sinn“ zu schaffen, also unter bewusster ideologischer, auch religiöser „Selbstzurücknahme und Enthaltsamkeit“. Auf ökonomischem Feld habe die Leitlinie nur zu sein, dass jeder in die Lage zu versetzen sei, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und aktiv am Wirtschaftssystem zu partizipieren – auf der Basis der elementaren Gerechtigkeitsgrundsätze: „gleiche Freiheit für alle“ und „soziale Ungleichheit nur insofern, als davon auch die am wenigsten Begünstigten profitieren können“. Als konkurrierendes Deutungsmodell zu Rawls’ Konzeption dient Jürgen Habermas mit seiner Idee einer postsäkularen Gesellschaft. Habermas wendet sich gegen eine säkularistische Weltsicht und postuliert, religiöse Argumente seien auch in einer säkularen, zivilen (Markt)Gesellschaft und einem säkularen, weltanschaulich neutralen

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Staat ernst zu nehmen, weil sie kulturelle Ressourcen erschließen, gesellschaftliche Solidarität ermöglichen und zur kritischen Selbstreflexion, Selbstbegrenzung und Sinnstiftung beitragen könnten. Deshalb habe sich auch die Moderne einen „Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ (im „Modus von rettenden Formulierungen bzw. der Übersetzung“) zu bewahren. Rawls betont demgegenüber, Politik sei in offenen Auseinandersetzungen allein pragmatisch, aber nicht ideologisch zu entscheiden, was natürlich auch bedeute, dass sich politische Vernunft und Urteilskraft stets ihrer Begrenztheit bewusst sein müssten. Der Fokus von Michael Hochgeschwenders breitem und facettenreichem, mit dem Entstehen der modernen liberal-marktkapitalistischen Paradigmatik zu Ende des 18. Jahrhunderts einsetzendem und bis Ronald Reagan reichendem ideengeschichtlichem Panorama gilt der historischen Genese und den soziokulturellen Dispositionierungen des Marktverständnisses der libertären und evangelikalen Gruppierungen in den USA. Im Zentrum steht die These, dass trotz stark divergierender weltanschaulicher Voraussetzungen sowohl Libertäre als auch Rechtsevangelikale mit Blick auf die Wirtschaftsordnung die gleichen ökonomischen Standpunkte vertreten, nämlich „jene stilprägende Form von gesinnungsethischem Marktradikalismus, der die Freiheit der Person, des Marktes und des Eigentums unbedingt und alternativlos zusammendenkt und zumindest bundesstaatlichen Interventionen [...] skeptisch bis ablehnend gegenübersteht“. Während dies jedoch bei den Libertären (wie Ayn Rand oder Murray Rothbard) von vorneherein in der stark von Mises und Hayek inspirierten Ideologie angelegt gewesen sei, handelte es sich bei den Rechtsevangelikalen um das Produkt einer bemerkenswerten längeren historischen Entwicklung, einer strategischen Anpassung an den religiösen wie realwirtschaftlichen Markt, die in den 1820er Jahren in Abkehr von der christlichen Orthodoxie Europas ihren Ausgang genommen und sich im Laufe des 20. Jahrhunderts noch einmal in mehreren Schüben radikalisiert habe. Der nächste Beitrag von Iris Karabelas zeichnet das kulturtheoretische und gesellschaftsphilosophische Werk eines der eben erwähnten hauptsächlichen Ideengeber marktradikalen Denkens genauer nach, dasjenige des neoliberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Zutreffender müsste man jedoch sagen: Er analysiert dessen komplizierte Wahrnehmung und durchaus eigendynamische Rezeption im ausgehenden 20. Jahrhundert. Denn Hayek lässt sich kaum auf eine einfache Zuordnung als liberal, konservativ oder libertär festlegen. Einerseits war er in der Tat als Bannerträger und Ideengeber liberal-kapitalistischer Staatskritik zu interpretieren, der die Bedeutung „spontaner Ordnungen“ gegenüber planendem, konjunkturpolitischem Staastsinterventionismus verteidigte und die Errichtung moderner Sozialstaaten als freiheitsbeschränkende Gefährdung geißelte. Andererseits erscheint es – zumal im Licht seines opus magnum „Die Verfassung der Freiheit“ – viel zu einfach, ihn den klassischen Libertären zuzuordnen. Vielmehr hält auch Hayek an der Funktionalität und Relevanz von Staaten

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fest, die er nicht auf „Minimalstaaten“ begrenzt sehen wollte und deren „echte Gesetze“ (allgemeine Gesetze zur prinzipiellen Regelung des sozialen Miteinanders) er neben bildungs-, gesundheits- und verkehrpolitischem Engagement für unabdingbar hielt. Oftmals sind die Zuschreibungen Hayeks daher einer selektiven und verkürzten Rezeptionsgeschichte vor allem im Großbritannien Margaret Thatchers („New Right“) und den USA unter Ronald Reagan („Reagonomics“) geschuldet, wo er auch entsprechende tagespolitische Bedeutung bekam (etwa in der Einschätzung von Gewerkschaften oder der Inflationsproblematik). Deutlich weniger Wirkung besaßen er und seine Schule dagegen nach der „geistig-moralischen Wende“ der Regierung Kohl in der Bundesrepublik Deutschland; dort wurde weit mehr und viel länger an dem spezifisch deutschen Sozialstaatsmodell festgehalten. An die Vorgänge einer ganz spezifischen Hayek-Rezeption kann in gewisser Weise auch der Aufsatz Dominik Gepperts anschließen. Er thematisiert nämlich die Zusammenhänge von Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethischen Fragen im Großbritannien der Ära Thatcher und geht dabei aus von einer Analyse der um die Prinzipien von rigoroser Eigenverantwortlichkeit, sozialer Selbst- und Nachbarschaftshilfe und protestantischer Leistungsethik kreisenden persönlichen christlichen Überzeugungen Thatchers, wie sie in der berühmten Edinburgher Rede vom Mai 1988 ihren beispielhaften Niederschlag fanden und ihre Wurzeln nicht zuletzt in der biographisch-familiären Prägung (konservatives methodistisches Elternhaus, Berufung auf jüdisch-christliche Traditionen der Selbsthilfe) sahen. Geppert erörtert zudem parteipolitische Fragen nach den Beziehungen von Thatcherismus, britischem Konservativismus und Religiösität, die keineswegs eindeutig waren, kombinierte Thatcher doch in einer eigentümlichen Weise außen- und rechtspolitischen Konservativismus mit wirtschaftspolitischen Ansichten, die auf klassische liberale Ideale rekurrierten. Den Abschluss des Beitrags bilden Reflexionen zum Verhältnis von Thatcherismus, anglikanischem Staatskirchentum und britischer Gesellschaft, das von der zentralen Paradoxie geprägt war, dass „Thatchers Vision einer moralisch erneuerten Nation hart arbeitender Sparer und eigenständiger Familien mithalf, eine kommerzialisierte und zur sozialen Atomisierung neigende Gesellschaft herbeizuführen, in der Spekulation an der Börse prämiert wurde und private Haushalte Rekordschulden aufhäuften“. Der dritte Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit den Wirtschaftsdiskussionen und Gesellschaftsvorstellungen vornehmlich in Deutschland. Davor noch eröffnet aber Thomas Brechenmachers Referat, in einer Art Zwischen-Exkurs, prägnante und aufschlussreiche Einblicke in die Gedanken und Diskussionen zweier führender liberaler Intellektueller Italiens, des Geschichtsphilosophen und Universalgelehrten Benedetto Croce und des Wirtschafts- und Finanzwissenschaftlers Luigi Einaudi. Beider Werke kreisen um die Zusammenhänge von Freiheit, Ethik und Wirtschaft. Beide entwickelten ihre zentralen Thesen in bemerkenswerter Weise unter den prob-

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lematischen Rahmenbedingungen des italienischen Faschismus der 1920er bis 1940er Jahre, dessen totalitären, anti-individualistischen, uniformierenden Ansprüchen sie ablehnend gegenüberstanden. Und beide plädierten eindringlich für die Bindung gerade auch einer liberal strukturierten Ökonomie an ein übergeordnetes politisches, moralisches, ethisches oder religiöses Ziel. Nie dürfe die Logik des Marktes allein entscheiden, immer habe die liberale Wirtschaftsordnung einer außerhalb ihrer selbst liegenden freiheitlichen und historisch gewachsenen Wertordnung zu folgen. Terminologisch gefasst wird diese Vorstellung der Präponderanz eines universalen, ethisch begründeten und sozial verpflichteten Prinzips der personalen Freiheit im Begriff des „liberalismo“, dem der bloße „liberismo (economico)“, der Liberalismus als kapitalistische, marktorientierte Wirtschaftsordnung gegenübergestellt wird. Allein der „liberalismo“ dürfe das Ziel bestimmen und nie der „liberismo“ mit seiner „hedonistischen und utilitaristischen Moral maximaler Bedürfnisbefriedigung“ (Croce). Während jedoch Croce zunehmend grundsätzlich die Verbindung von „liberalismo“ und „liberismo“ in Frage stellte und den „liberalismo“ als moralisches Prinzip auch jenseits liberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen (etwa in sozialistischen oder kommunistischen Regimen) als möglich ansah, weil sich die Moralität des „liberalismo“ zuletzt immer durchsetzen würde, bestand Einaudi auf der untrennbaren Zusammengehörigkeit von ethischem und ökonomischem Liberalismus bzw. der „incompatibilità assoluta“ von Freiheit als ethischem Prinzip und einer gelenkten Staatswirtschaft. Ungeachtet dieser (in der Tat substantiellen) inhaltlichen Differenz können freilich Croce wie Einaudi als Musterbeispiele von Liberalen gelten, die ihre sozioökonomischen Überlegungen durchgehend an gesellschaftsphilosophische Erwägungen und ethische Normen banden. Nils Goldschmidt wendet den Blick auf das Nachkriegswestdeutschland und diskutiert die religiös-ethischen Dimensionen der marktwirtschaftlichen Konzeption und Programmatik bei Alfred Müller-Armack, Walter Eucken, Ludwig Erhard und Wilhelm Röpke. Alle diese prominenten Gewährsleute und Initiatoren einer „Sozialen Marktwirtschaft“ entstammten – freilich mit im Einzelnen unterschiedlicher Intensität und einem differierenden Verständnis von Religiosität und Kirchlichkeit – einem protestantischen kulturellen Kontext, der seinerseits vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten an die katholische Soziallehre bot (sei es im Sinne von Müller-Armacks „sozialer Irenik“, sei es in Röpkes Affinität zur päpstlichen Enzyklika „Quadragesimo Anno“). Sie alle postulierten in einem „letztlich metaphysisch begründeten Wirtschaftsprogramm“ die „Versöhnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ auf der Basis fester „tugendethischer“ Normen. Und sie alle sahen eine spezifische Problematik der Marktwirtschaft in ihren Tendenzen zum konsumistischen Hedonismus – und doch zugleich gerade in ihrem sozialmarktwirtschaftlichen Konzept selbst den Anker, diese KonsumismusAuswüchse gesellschaftspolitisch verantwortlich einzudämmen.

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Gleichsam parteipolitisch wird dieses Themenfeld gewendet in der Untersuchung Ronald J. Granieris. Ihm geht es um die Diskussionen zur Wirtschaftsordnung bei Katholiken und Christdemokraten. Der Autor skizziert nachdrücklich die vielen Ambivalenzen und die „innere Spaltung“, die den Umgang der Unionspolitiker von Konrad Adenauer bis Angela Merkel mit der Frage, „wie viel Marktwirtschaft die soziale Marktwirtschaft ertragen kann“, kennzeichneten. Protagonisten einer stärkeren Liberalisierung wie Ludwig Erhard oder Friedrich Merz stünden hier neben Politikern wie Heinrich Krone oder Norbert Blüm, deren Denklogik weit mehr von den Prinzipien der katholischen Soziallehre bestimmt werde. Granieri gelingt es überdies eindrucksvoll zu zeigen, wie kompliziert sich in diesem Zusammenhang das Verhältnis zur katholischen Amtskirche erweisen konnte – angesichts einer veritablen kapitalismuskritischen Tradition der Kirche (seit den Enzykliken „Rerum novarum“ von 1891 und „Quadragesimo anno“ von 1931) und angesichts der politischen Befürchtungen oder Hoffnungen einer Annäherung an „linksliberale“ oder sozialdemokratische Strömungen in den reformerischen 1960er und 1970er Jahren. Gänzlich aufzulösen sei dieses Dilemma bis heute nicht. Es bilde gewissermaßen ein strukturelles Kontinuum christdemokratischer Parteiengeschichte. Auch Friedrich Kießlings Beitrag behandelt die westdeutsche Szenerie. Er fragt in seinem Referat danach, wie das Zusammenspiel von ökonomischer Prosperität, beginnendem Massenkonsum und der Begründung demokratischer Strukturen im kritischen gesellschaftsphilosophischen bzw. gesellschaftspolitischen Diskurs von liberalen wie konservativen Intellektuellen in der frühen Bundesrepublik Deutschland interpretiert wurde. Kießling kann dabei plausibel das Bild relativieren, „Wirtschaftswunder“ und materiellen „Wohlstand für alle“ einfach und bruchlos den positiven, systemstabilisierenden, ja staatslegitimierenden Identitätsmerkmalen der Westdeutschen einzuverleiben. Vielmehr zeige die vielschichtige Intellektuellendebatte sowohl von kulturkonservativer Seite („Vermassung“, unkultivierter Konsumismus etc.) wie von linksliberaler Warte (Entfremdung und Ablenkung der Staatsbürger, Konsum als „Verharmlosung“ etc.) eine ausgesprochen kritische Sicht auf die „Diktatur des Lebensstandards“. Der Autor deutet dies nicht zuletzt als nationales Spezifikum, das sich den „verwestlichenden“ Ideentransfers aus den USA mit ihrem engen Zusammenhang von Demokratie und Konsum zeit- und teilweise entzogen habe. Es spreche einiges dafür, dass dieser Konnex in Deutschland „auch nach dem Durchbruch zur Konsumgesellschaft loser blieb“. Zuletzt wird in einem vierten, kurzen Abschnitt des Bandes zumindest ansatzweise noch ein weiterer Aspekt, eine andere Dimension des Themas eröffnet. In den beiden abschließenden Referaten wird das Problem zur Weitung und Abrundung der Perspektiven gewissermaßen umgedreht und gefragt nach der Religion als ökonomischem und medial agierendem Faktor auf dem öffentlichen Spiritualien-Konsummarkt (Religion oder Religionsgemeinschaften als „Heils“-Unternehmen) bzw. nach den Rückwirkungen

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und Einflüssen, die kapitalistische Verhaltensformen und moderne Medienpraktiken auf die gesellschaftliche Präsentation und Präsenz von Religion haben; Friedrich Wilhelm Graf sprach in diesem Kontext vom Trend zur „Eventisierung“ von Religion.8 Frank Bösch untersucht deshalb die Rolle und Bedeutung von Kirchen und Religion auf den bundesdeutschen Medienmärkten. Dabei handelt es sich um ein zweiseitiges Verhältnis, das mehrfachen Wandlungen und Entwicklungen unterworfen war. Einerseits beruhten Wahrnehmung, Verbreitung und Praxis der christlichen Religion seit jeher auf vielfältigen Kommunikationstechniken und einer bewussten medialen Präsenz, andererseits waren das Gebahren der Kirchen und die Relevanz von Religiosität seit den 1950er Jahren stets Themen öffentlicher kommerzieller Berichterstattung in Massenpresse, Radio und Fernsehen. Im Ergebnis postuliert der Autor schwankende Aufmerksamkeiten und Intensitäten in diesem Zusammenspiel: So wurden in den 1950er Jahren kommerzielle Medien oft zu einer „Verifizierung der Bibel und somit zur Stärkung des Glaubens“ herangezogen; zugleich wurde der Glaube jedoch bereits auch „Teil einer wählbaren Unterhaltungskultur auf dem Medienmarkt“. Die 1960er und 1970er Jahre sahen dann eine ausgesprochen kritische mediale Auseinandersetzung mit den Kirchen. Seit den 1990er Jahren dagegen fanden Kirche und Religion wieder weit mehr als (positiv besetzter) Unterhaltungsfaktor Eingang ins Fernsehen. Die Religion gewann abermals öffentliche Beachtung, allerdings ging das einher eben mit ihrer eigendynamischen „Eventisierung“, in deren Folge die Kirchen an „Deutungshoheit über das Religiöse“ verloren. Die wechselnden Konjunkturen religiöser Semantiken in deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren sind auch das Thema des in Koproduktion entstandenen Beitrags von Sven-Daniel Gettys und Thomas Mittmann. Sie fragen danach, wie, wann und warum religiöse Sprach- und Deutungsmuster, Bilder und Symbole, Metaphern und Topoi benutzt werden, um kapitalistische Wirtschaft oder liberales Marktgeschehen zu kritisieren oder zu unterstützen. Die These lautet dabei ganz parallel zur Chronologie Böschs, dass es – nach einer Phase der scharfen Kritik, die die Kirchen als Teil des kapitalistischen Establishments brandmarkte, bzw. einer gänzlichen „Marginalisierung des Religiösen“ in den 1970er Jahren – im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem erstaunlichen „Bedeutungsgewinn der Religion“ und zur gezielten und zunehmenden Implementierung „religiöser Semantiken“ in den öffentlichen Ökonomiediskurs gekommen sei. Ein frühes Einfallstor hierfür seien die ökologischen Diskussionen gewesen, nach 1989 und noch einmal in verstärkter Weise nach den jüngsten Wirtschaftskrisen dann kapitalismuskritische Auseinandersetzungen um Marktversagen und Wirtschaftsmoral. In diesem Zusammenhang werde der Kapi-

 8

Z. B. Friedrich Wilhelm Graf, Vom Römerbrief zur Epistel an die Türken, in: Süddeutsche Zeitung, 28./29.6.2008, 13.

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talismus gar als unverantwortliche und kurzsichtige „Gegenreligion“ analysiert oder kritisiert. Ohne dass man die Beiträge dieses Buches auf einen simplen gemeinsamen Nenner bringen könnte und sollte, lassen sich doch einige Kerninhalte und zentrale, weiterführende Perspektiven benennen. Abgesehen von den verschiedenen substantiellen inhaltlichen Aufschlüssen zu Fragen der Wechselbeziehungen von Marktökonomie, Individuum, Gesellschaft und Sozialität, einer sozialverträglichen Ausgestaltung und religiös-ethischen Fundierung der globalisierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind hier vor allem drei Folgerungen zu beachten: Erstens wurde in beinahe allen Aufsätzen das Problem zeitlicher Systematisierung erkennbar. Einerseits kann man durchaus deutliche übergreifende Zäsuren festmachen und die Abhängigkeiten der Diskussionen und ihrer Semantiken von übernational vergleichbaren tagesaktuellen Rahmenbedingungen (wie Kalter Krieg oder des Einschnitts mit der Krise der 1970er Jahre) konstatieren. Andererseits haben wir im zwischennationalen Vergleich viele Phasenverschiebungen und Ungleichzeitigkeiten (z. B. bei der Hayek- und Neoliberalismus-Rezeption) sowie die Relevanz von Einflüssen, Phänomenen und Diskursmustern von „langer Dauer“, die sich einer allzu engen Periodisierung entziehen (z. B. die Wellen der Smith-Rezeption). Dazu kommt das grundsätzliche Problem der Eigendynamik medialer Inszenierung von Diskussionen oder Diskussionsforen, die oftmals eine Wirkung entfaltet und Wahrnehmungen nahelegt, die von den Urhebern der Diskussionen so gar nicht intendiert waren. Deutlich (und mit diesen Fragen chronologischer Ordnung in Verbindung stehend) wurde außerdem, zweitens, durchgehend das Problem spezifischer nationaler Kontexte. Aus ihnen ergibt sich zum einen eine gewisse Pluralität von Liberalismen und deren religiös-ethischer Fundierung (z. B. unterschiedliche Rahmenbedingungen und Verständniswelten amerikanischer Neoliberaler oder deutscher Ordoliberaler). Zum anderen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Vorgänge übernationaler Ideentransfers und Rezeptionsvorgänge als ziemlich komplexe und differenzierte Anverwandlungs- und Austauschprozesse zu betrachten. Und das betrifft bereits Fragen begrifflicher und semantischer Präzisierung, etwa das unterschiedliche Verständnis dessen, was Liberalismus, Ethik oder Religiosität überhaupt ist. Der Neoliberalismus Margaret Thatchers war ein gänzlich anderer als derjenige Helmut Kohls. Schließlich lässt sich in beinahe allen der analysierten Diskussionen und Problemstellungen die Notwendigkeit beinahe mit Händen greifen, das System der liberal-kapitalistischen Wirtschaft tatsächlich wieder stärker auf gesellschaftsethische Normen zu beziehen, als dies im Alltag der Hochphase des globalen marktradikalen Kapitalismus-Regimes seit den 1990er Jahren der Fall war. Darüber hinaus ahnen wir noch prinzipieller, dass die Dominanz des modernen Turbokapitalismus womöglich doch nur von begrenzter

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Dauer sein mag, dass diese Form von Kapitalismus so fundamental vielleicht gar nicht ist, sondern eine historische (und damit endliche) Entwicklungsstufe, die in vielem virtuell, künstlich, ephemer und vorübergehend wirkt. Und wir können nach den Entwicklungen seit 2008/10 womöglich auch zur Diskussion stellen, ob nicht in unserer Zeit vielleicht die Periode des dominanten liberalen Kapitalismus oder zumindest diejenige des „digitalisierten Finanzmarktkapitalismus“ schon wieder langsam zu Ende geht. Oder vielleicht deutet sich eine neo-liberale Renaissance im eigentlichen und ursprünglichen Sinn der Begriffsschöpfer der ausgehenden 1920er Jahre an: „neo“ verstanden als Bändigung und Modifizierung des alten Liberalismus. Denn dass der Liberalismus mit seinem kapitalistischen Wirtschaftssystem der große und zunächst kaum zu kalkulierende Überraschungssieger des ausgehenden 20. Jahrhunderts wurde, das lag ja immer auch daran, dass er sozialstaatlich abgefedert und korrigiert wurde und dass er sich ethischnormativ, auch ethisch-religiös rückversichert und entsprechend erneuerungsfähig gezeigt hat. 9 Derartige Überlegungen mögen schlaglichtartig andeuten, welche analytische Erkenntnischancen und welches Differenzierungspotential sich für die Einschätzung gegenwärtiger Diskussionen um eine erneuerte Wirtschafts- und Gesellschaftsethik ergeben, wenn man ihnen mehr historisch-analytische Tiefenschärfe verleiht.

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Vgl. als Extrempositionen (kapitalismusfreundlich) Norbert Walter, Marktwirtschaft, Ethik und Moral. Berlin 2009, und (kapitalismuskritisch) Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden 2007.

I. Methodendebatten zum Verhältnis von Religion, Kultur und Wirtschaft

Kapitalismen, Modernen und religiöses Ethos Methodisches zur Erforschung von Religion und Ökonomie A NNE K OCH

I. E INFÜHRUNG Kapitalismus, religiöses Ethos, auch „Moderne“ sind verfestigte Muster der Wirklichkeitskonstruktion. Mit Blick auf die Geschichte und ihre zum Teil globale Ausdehnung sind sie zu vervielfältigen: Kapitalismen, Sozialismen (so lange ist 1989 noch nicht vorbei), Marxismen, Modernen und religiöse Diskurse sind strukturierte Normensysteme, die auf den Ebenen der Gesellschaft, der Kultur und des Wissens wiederkehren. Wie diese Muster Machtverhältnisse festigen, subversiv wiederholen und sich in Institutionen, Tauschmedien und Redeweisen materialisieren und in ihrer Bedeutung und ihren Vorgaben verschieben, gilt es zu beschreiben. Die weltweite Rahmenordnung ist der so genannte Finanzmarktkapitalismus, der sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer gewaltigen Krise befindet. Klaus Dörre und Ulrich Brinkmann kommen zu dem Schluss, „dass sich die Spielregeln in den sozialen Arenen des ökonomischen Feldes grundlegend verändert haben: Leitbilder, Managementprinzipien, Rationalisierungsstrategien und betriebliche Regulationsformen sind von einem ständigen Wandel erfasst, das flexibel marktgetriebene Produktionsmodell zeichnet sich durch hochgradige Instabilität und Krisenanfälligkeit aus“.1 In dieser neuen Gesellschaftsformation ist die Finanzsphäre von realwirtschaftlicher Aktivität entkoppelt. Die Staatenebene verliert an Einfluss in der Gestaltung des Ökonomischen. Pierre Bourdieu konstatiert einen starken

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Klaus Dörre/Ulrich Brinkmann, Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45, 2005 (Sonderheft Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, hrsg. V. Paul Windolf), 85-116, hier: 85.

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Zwang des Finanzmarktkapitalismus, der über das internationale Feld des Finanzkapitals selbst gegenüber Regierungen eine Politik durchsetzen könne, ohne bei diesen zu intervenieren.2 Diese Krise ist nicht nur eine ökonomische. Sie betrifft alle Beziehungsgeflechte, von der Familie und Kommune bis zu Nationen, Länderbündnissen, virtuellen und imaginierten Gemeinschaften. Eine solche historische Begebenheit erfordert daher nicht lediglich ökonomische Lösungen und Erklärungen, sondern verweist auf die Umwelt, auf der ökonomische Tauschbeziehungen im engeren Sinne (d. h. in einem Markt mit preisdotierten Waren) aufruhen. Deshalb ist in der Folge auch von den Transferbeziehungen ökonomischer und kultureller Deutungsmuster unserer Gesellschaften die Rede. Sofern sozial-, religions- und kulturgeschichtliche Wechselwirkungen eingefangen werden, kann auch ein methodischer Beitrag zu einer ausstehenden komparativen Theorie der Ökonomie geleistet werden. In jüngster Zeit mehren sich ethisch-religiöse Diskussionen in der Finanzwelt. Auch in öffentlichen Arenen sind zuletzt politische Aushandlungen teilweise religiös codiert. Davor war bereits seit den 1970er Jahren mit der Pluralisierung religiöser Organisationen im Kontext der neuen sozialen Gruppierungen ein Schub an religiösen Bewegungen zu bemerken. Diese mobilisieren sich um ökologische Nachhaltigkeit 3 , Grenzen des ökonomischen Wachstums, Schuldenerlass, Angemessenheit von Managergehältern, „Exit“Wege aus dem Kapitalismus und Gewalt als Mittel einer Machtergreifung.4 Vor diesem Befund stellt sich die Frage, welche (religions-)ökonomischen Theoriebildungen und Praxisformen zu diesen Formen des globalen Wirtschaftssystems führten. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert fanden zunächst einschlägige Auseinandersetzungen mit Religion und Wirtschaft in der Soziologie von Max Weber, Georg Simmel und Werner Sombart statt. Während es den einen um Rationalisierung ging und Wirtschaftsmentalität als protestantischer „Geist“ auftauchte, der sich in einem gewissen Lebensstil niedergeschlagen habe, gehen sowohl Sombart wie Alfred Spiethoff, später Alfred Müller-Armack5

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3

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5

Pierre Bourdieu, Le champ économique (Themenheft ‚Économie et économistes‘), in: Actes RSS, Nr. 119, 1997, 48-66; dt.: Das ökonomische Feld, in: ders., Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg 1998, 162-204, hier: 195. So finden sich Gruppierungen um ökologische Ziele, die zum Teil Gewalt anwenden: Kocku von Stuckrad, Communitas: Environmentalist Activity and Ritual Theory, in: Vasilios N. Makrides/Jörg Rüpke (Hrsg.), Religionen im Konflikt. Vom Bürgerkrieg über Öko-Gewalt bis zur Gewalterinnerung im Ritual. Münster 2005, 226-235. Religiöse Radikalisierung als Gegnerschaft zur Moderne und zu ihren Eliten vor allem im eigenen Land herausgearbeitet zum Beispiel von: Atran Scott, Genesis of Suicide Terrorism, in: Science 299, 2003, 1534-1539, und David Cook, Understanding Jihad. Berkeley 2005. Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. Stuttgart 1959.

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und heute zum Beispiel Rainer Klump, Clemens Wischermann oder Hartmut Berghoff der Wirtschaftskultur bzw. dem Wirtschaftsstil nach. Getrennt dazu – vielleicht durch die regionale Differenz des Untersuchungsfeldes und die Geringschätzung „primitiver Religionen“ im Kulturprotestantismus – entstand etwa zeitgleich die Wirtschaftsethnologie mit dem Klassiker Argonauts of the Western Pacific (1922) des Briten Bronislaw Malinowski, in dem ein Ringhandel von bearbeiteten Muscheln als soziale Institution erschlossen wurde, und mit Marcel Mauss’ Le Don-Aufsätzen (1934/35), die den Verpflichtungscharakter des Tauschens herausstellten und dem vom ersten Weltkrieg zerrütteten Mitteleuropa zur Erneuerung sozialer Bindung anempfahlen. Es ist auffällig, wie selten sich die Diskurse von Wirtschaftssoziologie und -ethnologie überlappten; eines der wenigen Beispiele ist das kaum rezipierte Opus von Mary Douglas aus den 1970er Jahren, die Konsumtheorie The World of Goods. Durch den cultural turn ist allerdings eine Annäherung der ethnologischen und wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu erwarten, und sie zeigt sich bereits in Arbeiten zur Historizität von Ökonomie oder zu religiösen Ökonomien.6 Neben diesen beiden Theoriesträngen verläuft ein dritter, der seit der jüngeren Historischen Schule in der Ökonomie mit der kulturellen Einbettung von wirtschaftlichen Institutionen beschäftigt ist. Als Neue Institutionenökonomik, angereichert von neoinstitutionalistischen Arbeiten in der world polity-Theorie, wurde diese Richtung in Überarbeitung neoklassischer Ökonomik seit den 1990er Jahren sehr wirkungsvoll. In der Religionswissenschaft hat sich erst jüngst eine Spezialisierung auf Religionsökonomie herausgebildet, die nun damit beschäftigt ist, ältere Positionen wie diejenige Max Webers oder die Rationalwahltheorie in das Narrativ ihrer Vorgeschichte einzuordnen. Dieser erste Blick auf Rezeptionsverläufe zeigt Schuldifferenzen zum Verhältnis von Religion und Wirtschaft analog zu allgemeinen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Positionierungen. Auch deren Unversöhnlichkeiten und Stereotypenbildungen werden übernommen: Die wissenssoziologische economic culture Peter L. Bergers steht seit Ende der 1960er Jahre unverbunden neben der Rationalwahltheorie (in Verbindung mit den psychologischen Prämissen der Austauschtheorie) von Rodney Stark, William S. Bainbridge, Roger Finke und Laurence Iannaccone. Pierre Bourdieu entwickelt in Rezeption von Webers Berufen (Zauberer, Magier, Priester) ein religiöses Interaktionsfeld und von diesem aus seine Feldtheorie u. a. mit dem ökonomischen Feld, wettert gegen den ökonomischen Imperialismus eines Gary Becker (des Doktorvaters Iannaccones) und wird von der new economic sociology (Mark Granovetter u. a.) lange nicht zur Kenntnis genommen.7

 6 7

Zum Beispiel Andrew Chestnut, Competitive Spirits: Latin America’s New Religious Economy. Oxford 2007. Michael Florian, Ökonomie als soziale Praxis. Zur wirtschaftssoziologischen Anschlussfähigkeit von Pierre Bourdieu, in: ders./Frank Hillebrandt (Hrsg.), Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft. Wiesbaden 2006, 73-108.

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Dieser Beitrag führt in methodische Probleme im Schnittfeld von kulturwissenschaftlicher Religionswissenschaft und Ökonomie ein. Um Religion sinnvoll mit ökonomischen und politischen Rahmenordnungen, Modernetheorien und der Ideengeschichte von Wirtschaftstheorien ins Verhältnis setzen zu können, bedarf es zunächst eines zeitgenössischen wissenschaftlichen Religionsverständnisses. Dieses wird diskurstheoretisch an einem Beispiel entwickelt (Punkt II). Zwei wichtige Debatten, in deren Rahmen das Verhältnis von Religion und Wirtschaftsform relevant wurde und in denen sich die genannten Ansätze zu verordnen hatten, sind die Diskurse um Moderne, Säkularisierung und Globalisierung seit den 1970er Jahren (Punkt III). Beide werden über die Grenzen von Disziplinen und Paradigmen hinweg geführt und haben methodische Probleme aufgeworfen sowie Fragen erzeugt, um die es in der Folge gehen soll. Ziel dieses Aufsatzes ist es, zumindest ein paar ideengeschichtliche Verwobenheiten von Theorien über Religion und Wirtschaft ebenso wie die politischen Interdependenzen von Gesellschaft, Religion und Wirtschaft unter systematischen Kategorien darzustellen. Daher werden methodische Probleme zunächst aus den Optionen ideengeschichtlicher Debatten rekonstruiert (Punkt IV), um am Schluss einige Aufmerksamkeiten, Fallstricke und Zukunftsperspektiven für die kulturwissenschaftliche Beschreibung des höchst vielschichtigen Diskurses Religion und Wirtschaft angeben zu können (Punkt V).

II. Z U EINEM ZEITGENÖSSISCHEN R ELIGIONSVERSTÄNDNIS

DISKURSIVEN

Religionswissenschaft hat Religion, Religionstheorien und andere zentrale Kategorien religiöser Diskurse begriffs- und kulturgeschichtlich aufgearbeitet.8 Das Ergebnis unterscheidet sich von alltagssprachlichen Religionsbegriffen in Europa und den USA, wo vor allem christliche Kirchen oder theistische Systeme und gefühlsbetonte Einstellungen als Religion bezeichnet werden und alles andere als Sekten oder Spiritualität. Die Machtverhältnisse dieser Abwertungen, Ausschlüsse und Allianzen sind ein äußerst interessantes Forschungsfeld. Das religionswissenschaftliche Konzept einer Europäischen Religionsgeschichte trägt dem zutage gekommenen Euro- und Christozentrismus Rechnung. Europäische Religionsgeschichte umfasst u. a. sowohl den immer schon mitlaufenden Pluralismus alternativer Orientierungen in

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Zum Beispiel im kolonialen Interferenzkontext seit der europäischen Entdeckung Amerikas bei Jonathan Z. Smith, Religion, Religions, Religious, in: Mark C. Taylor (Hrsg.), Critical Terms for Religious Studies. Chicago/London 1998, 269-284. Ansätze einer Globalen Religionsgeschichte für das Christentum bei David Chidester, Christianity. A Global History. London 2001, oder für den religionswissenschaftlichen Zugriff bei Gregory Alles (Ed.), Religious Studies. A global view. London 2008.

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Europa als auch die Rückwirkung von Wissenschaften und technologischen Innovationen auf das religiöse Feld wie z. B. die Elektrizität im Mesmerismus, das Morsen in den Jenseitsklopfzeichen des Spiritismus oder die Quantentheorie im New Age.9 Der religionswissenschaftliche Diskussionsstand sei an einem Beispiel aus dem Präsidentschaftswahlkampf der USA im Jahre 2008 entfaltet. Als Material dient ein Videofilm aus dem Wahlkampf im US-Bundesstaat Florida, der von einer Internetseite jüdischer Obama-Unterstützer stammt.10 Florida als bevölkerungsreicher Bundesstaat hat durch das Wahlmännersystem großen Einfluss auf den Ausgang der Wahl. Zwei Prozent der Amerikaner sind Juden. Davon lebt ein großer Anteil in Florida. Diese wählen traditionell demokratisch, doch es gab auch Ausnahmen, wenn dem Kandidaten nicht zugetraut wurde, Israel angemessen zu schützen (1972 Nixon, 1980 Reagan). Gerade die älteren jüdischen Bürgerinnen und Bürger sollen durch den Film für Obama aktiviert werden, zumal vor allem die älteren jüdischen Amerikanerinnen enttäuscht waren, dass nicht die Frau, Hilary Clinton, nominiert wurde. In dieser Situation engagiert die jüdische Wählervereinigung JewsVote die jüdische Komikerin Sarah Silverman. Silverman startet einen Aufruf, der unter seinem englisch-jiddischen Namen „the great schlep“ (frei übersetzt „das große Sich-Schleppen nach Florida“) bekannt wurde: Enkel sollen ihren jüdischen Großeltern in Florida, wenn diese Obama wählen, einen Extrabesuch versprechen. Silverman beginnt ihren Clip mit der Frage: „If you knew that visiting your grandparents could change the world, would you do it?“. To „change the world“ ist eine universalistische Vision, die als kulturelles Muster Religionen und Politik gleicherweise durchzieht und auch in Werbungen global agierender Wirtschaftsunternehmen zum guten Ton gehört.

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Zum religionswissenschaftlichen Konzept und Programm Europäische Religionsgeschichte siehe Burkhard Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, in: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hrsg.), Lokale Religionsgeschichte. Marburg 1995, 71-92; ders., Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance, in: Zeitenblicke 5, 2006, Nr. 1, URL: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Gladigow/dipp Article.pdf [04.04.2006]; ders., Von der Vernunft der Götter zur Religion der Vernunft. Wandlungen eines Gegenstandes in der Europäischen Religionsgeschichte, in: Anne Koch (Hrsg.), Watchtower Religionswissenschaft. Standortbestimmungen im wissenschaftlichen Feld. Marburg 2007, 53-72; und Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hrsg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus. Stuttgart 2008. 10 Mik Moore/Ari Wallach, JewsVote.org/JCER, Aktion: The Great Schlep, URL: http://www.thegreatschlep.com/site/index.html [21.03.2009] oder über YouTube broadcast yourself TM, URL: http://www.youtube.com/watch?v=AgHHX9R4Qtk [21.03.2009].

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Abb. 1: Dieses Bild zeigt einen Ausschnitt aus dem Anfang von Silvermans Video, in dem sie auf einem Sofa sitzt und nacheinander ein Wahlplakat Obamas, das Weiße Haus und eine Nase eingeblendet werden (00:31).

Die Nase (s. Abb. 1) dient als Ikon für Juden: kulturelles Symbol eines Stereotyps, das hier im Genre der kabarettistischen Komik zur Selbstbezeichnung auftritt. Talcott Parsons spricht von affektiven Symbolen, die wie auch Nationalflaggen Stimmungen beeinflussen. Silverman sagt zu den ersten Bildern: „If Barak Obama [einblenden: Obama] doesn’t become the next President of the United States [Weißes Haus] I gonna blame the Jews [Nase]. I am. And I know your are saying like: Oh, my god, Sarah, I can’t believe you’re saying this. Jews are the most liberal, scrappy, civil rights pc people there are“. Wenn Obama nicht gewinne, dann werde sie den Juden die Schuld daran geben. Silverman spielt mit einem antisemitischen Muster der Schuldzuweisung an Juden, einem Muster das von den „Brunnenvergiftern“ bis in moderne Verschwörungstheorien zum 11. September Variationen erfährt. In der folgenden Selbstbezeichnung als Jüdin („I am“) wird der Tabubruch der antisemitischen Äußerung verschoben: Was passiert, wenn eine Jüdin ein antisemitisches Stereotyp verwendet? Verschafft sie sich Aufmerksamkeit, distanziert sie sich, provoziert sie? Silverman nimmt eine mögliche Entgegnung vorweg und inszeniert einen Dialog mit verschiedenen jüdischen Gruppen. Juden werden unterteilt in Liberale und „ältere Leute“. Diesen letzteren müsse der Kandidat der Demokraten vermittelt werden, und ihnen wird nun Obama über drei Merkmale vorgestellt: Obama treibe gute Außenpolitik in Bezug auf Israel, er sichere sozial ab, und zudem könne Obama brisket machen, einen bestimmten Braten, der auch in jüdischen Kreisen sehr beliebt ist. Kollektive Identität über Diätetik spielt in diese Vorstellung genauso herein wie die diskursive Strategie der Personalisierung des Kandidaten über seine Kochkünste; als kenne man ihn ganz persönlich, wird Nähe hergestellt. Und

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Obama ist beschnitten (engl. circumcised): „circum – circum – supersized“, sagt Silverman. Diese Anspielung auf die Genitalgröße Obamas gehört sowohl zum Genre der Komik, wo sehr häufig aus dem Erfahrungs- und Imaginationsraum Sexualität aufgerufen wird, als auch zum Stereotyp des jungen Schwarzen mit großem Genital. Dieses lässt sich als Tradition tief in die koloniale Ambivalenz der Schauderattraktivität vor dem unbeherrschbaren Wilden und dem erotisch Zügellosen zurückverfolgen, wie Edward Said und Ethnopsychoanalytiker es tun. Diese Assoziationen und Hypothesen zu der Wahlwerbung wären über eine Rezeptionsästhetik dieser Filmquelle weiter zu verfolgen. Im April 2009 ist das Video von Silverman allein auf der Seite von You Tube, dieser transnationalen Inszenierungsform, über eine Million Mal aufgerufen worden. Auch Sekundärdiskurse haben sich an die Ausstrahlung des Films angelagert; ein Kommentar eines Wissenschaftlers vom David S. Wymann Institute for Holocaust Studies wurde über die Süddeutsche Zeitung verbreitet. Sie alle nahmen teil am diskursiven Ereignis und vernetzten es in weitere gesellschaftliche Bereiche. Bezeichnenderweise wird der Aufruf zum „great schlep“ als Aufruf zu einer „Pilgerreise“ tituliert wie zu einem der großen jüdischen Pilgerfeste.11 Die Analyse des Materials zeigt die Diskursivität des zeitgenössischen religionswissenschaftlichen Religionsverständnisses. Religion ist aus dem Diskursfeld Rassismus, Komik, Kommentierungen erster, zweiter und dritter Ordnung, verfassungsrechtlichen Regelungen, Generationenverhältnissen, Parteien, Einzelpersonen und anderen Institutionen als Akteuren nicht herauszulösen. Einkommen, Religionszugehörigkeit und Ethnizität sind verwoben. Von dem Soziologen Milton Himmelfarb ist der Ausspruch überliefert: „Amerikanische Juden verdienen wie Episkopalier, wählen aber wie Puertorikaner“.12 Anstelle substanzialistischer oder funktional-reduktionistischer Defnitionen von Religion über einen Transzendenzbegriff oder „das Heilige“ sei daher der Gegenstand diskursiv gefasst. Es geht darum, für lokale Kontexte kulturelle Muster aufzuweisen wie in dem vorgeführten Falle. Religionswissenschaftler sind nicht nur deshalb involviert, weil auch Juden vorkommen, sondern z. B. schon wegen des Musters „to change the world“, wegen des als Pilgerreise qualifizierten Ereignisses des Reiseaufrufs. Religionswissenschaft interessiert sich für alle Quellen von Normativität und Ideologie, sei es Normativität aus Macht, Argumenten oder aus emotionalen Ambivalenzen (wie im Beispiel des Schwarzen). Ein zweiter Tabubruch, diesmal in hintergründiger Kombination von Rasse und Religion, ist in der nächsten Abbildung erkennbar:

 11 Rafael Medoff, Pilgerreise nach Florida. Jüdische Stimmen im US-Wahlkampf, übersetzt von E. C. Koppold, in: SZ Nr. 247, 23.10.2008, 11. 12 Zit. n. ebd.

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Abb. 2: Die mit politischer Inkorrektheit kokettierende Wahlaufforderung einer jüdischen Gemeinde in Florida entpuppte sich als Fotomontage, doch sie löste 2008 eine virtuelle Debatte aus, über Rassismus und wer zu wählen sei (weitere Informationen: http://blog.rabbijason.com/2008/10/fakesynagogue-sign.html).

 (Quelle: Blog von Rabbi Jason Miller vom 12.10.2008; Zugriff 25.07.2011).

III. M ODERNE - UND P OSTMODERNE -/ G LOBALISIERUNGSDEBATTEN ÜBER DAS V ERHÄLTNIS VON R ELIGION UND W IRTSCHAFT Die Florida-Wählervereinigung JewsVote würde in revidierten Säkularisierungstheorien trotz unserer Analyse nicht als religiöse Organisation auftauchen, da sie politische Ziele verfolgt. Evelyn Bush kritisiert, dass in sozialwissenschaftlichen Quellen und Surveys Religion verschwinde, weil Religion nicht als diskursives Konzept begriffen wird, sondern im Sinne Luhmanns als ausdifferenziertes Teilsystem moderner Gesellschaften erachtet wird.13 Bush kann aufweisen, wie dadurch der Eindruck einer sinkenden Präsenz von Religion in öffentlichen Arenen angeblich empirisch belegt wird: In den auch von den UN verwendeten Handbüchern über internationale Organisationen14 sinkt die Zahl der als Religion klassifizierten internationalen Nicht-RegierungsOrganisationen (INRO) von 1905 bis 1990 von elf auf zwei Organisationen.

 13 Evelyn Bush, Measuring Religion in Global Civil Society, in: Social Forces 85 (4 June), 2007, 1645-1665. 14 Dem Yearbook of International Organizations und dem Human Rights Directory.

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Bush zeigt, dass jedoch das Gegenteil der Fall ist: Wenn die Weltsicht und die Motivation aus den Programmen von Organisationen hinzugezogen wurden, dann zeigte sich, dass zum Beispiel im Menschenrechtsbereich im gleichen Zeitraum, insbesondere seit 1955 infolge der Gründung der Vereinten Nationen, religiöse Gruppen von null Organisationen auf 15-17 religiöse INROs anwuchsen, mit einem Höhepunkt von fast 30 religiösen INROs zu Mitte der 1970er Jahre. Eine zweite Voreingenommenheit von Säkularisierungs- und Globalisierungstheorien kommt dadurch zustande, dass sowohl Datenerheber/innen als auch globale Aktivisten/innen einer neuen globalen Elite entstammen, die in der Mehrheit säkular gesinnt ist und die bevölkerungsnahe, affektive Bedeutung von Religion genauso systematisch unterschätzt wie die Macht religiöser Eliten und daher völlig überrascht sein kann von Ereignissen wie der Iranischen Revolution. Rational Choice-Theorien und revidierte Säkularisierungstheorien wie die von Ronald Inglehardt/Pipa Norris und Robert Barro/Rachel McCleary erkennen Religion im Paradigma der Modernetheorien nur in institutioneller Ausdifferenzierung über Mitgliedschaft, Aktivitäten wie Gottesdienstbesuch, Spenden und Zeiteinsatz. Informelle, anders organisierte Formen von Religion und im Bereich von Motivation formulierte oder als kulturelle Muster wirkende Religion fallen unter den Tisch. Die Diskussion der Sozialtheorien des späten Kapitalismus aus den 1970er Jahren um die zweite, multiple oder reflexive Moderne geht in den Postmoderne- bzw. Globalisierungsdiskurs über und in den 1990er Jahren in Debatten über alternative oder kritische Moderne.15 Moderne wurde zunächst als europäischer Exportschlager gesehen, bis sich diese Sicht relativierte und indigene Modernen in politischer Korrektheit durch den postkolonialen Diskurs eingebracht wurden. Nach dem Abhandenkommen außerweltlicher Ordnung als Bezugssystem einer Gesamtgesellschaft ist nach der Diagnose von Gewährsleuten wie Foucault, Habermas und Butler die Selbstreflexion sozialer Subjekte die Form, in der sich Wissen begründet. In diesem Bemühen um Selbstreflexion und Selbstbeschreibung ist die Rede von zweiter Globalisierung und Postmoderne. Sie sind Weisen, das Weltsystem nach der Moderne zu repräsentieren. Einige Teilnehmer in diesen Debatten arbeiten ein besonderes Verhältnis von Religion und Wirtschaft als typisch für diese Moderne heraus. Drei Optionen seien angeführt: eine institutionensoziologische, eine kulturhistorische und eine ethnologische. Folgt man John W. Meyer, dem Institutionensoziologen, so sind Spezifika der „westlichen“ Wirklichkeitskonstruktion auf

 15 Aus der Flut an Literatur siehe Richard H. Roberts (Ed.), Religion and the Transformations of Capitalism. Comparative Approaches. New York 1995; Bruce Knauft, Critically Modern. An Introduction, in: ders. (Ed.), Critically Modern. Alternatives, Alterities, Anthropologies. Bloomington 2002, 1-56.

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christliches Ethos zurückzuführen. 16 Allerdings hält er Webers Protestantische Ethik, die an dieser systematischen Stelle ansonsten mit großer Regelmäßigkeit angeführt wird, für überholt. Denn die Protestantische Ethik setze auf die Wirksamkeit von Ideologie. Für Meyer sind es jedoch organisatorische religiöse Strukturen, die Einfluss auf Wirtschaftsformen nehmen. Im „Westen“ sei vor allem die hohe soziale Durchdringungskraft kennzeichnend, die vom Zentrum der Macht bis in die Peripherie reiche. Nationen, Staatenbündnisse und kulturelle Interaktionen der europäischen Einheiten griffen trotz ihres Pluralismus in einem einzigartig dichten und frequentierten Austausch ineinander. Das werde durch die transnationale christliche policy gewährleistet. Christentum habe Moderne auch ermöglicht, indem es durch das Seelenkonzept ‚Einzelne‘ geschaffen habe, die in ein Verhältnis zu einer größeren sozialen Einheit treten könnten. Das heiße, dem Christentum verdankten wir Individuen, die lokal universale moralische Prinzipien verwirklichten.17 Zudem trete Gesellschaft (unter christlichem Einfluss verstanden als zu tätigendes Projekt) mit der kosmischen Ordnung, der die moralischen Vorgaben entstammten, und mit der Natur auseinander. Gerade jedoch diese Kennzeichnung von Sozialität als Gestaltungsobjekt wird (in der kulturhistorischen Sicht) von Michael Hochgeschwender aus ihrer überhistorischen Universalität herausgenommen und in eine bestimmte Epoche eingeordnet. 18 Demnach seien es erst die protestantischen Prediger der zweiten großen Erweckungsbewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA im Fortschrittsoptimismus ihrer Zeit die soziale Gestaltungskraft der Religion hervorheben und gesellschaftlich einbringen würden. Donald Donham (als Paradefall für die ethnologische Sichtweise) hingegen schreibt dieses Element nicht dem Christentum per se oder einer spezifischen christlichen Bewegung, sondern der ‚Moderne‘ zu: Gestaltungskraft tauche in der Moderne als das spezielle geschichtliche Selbstverständnis dieser Epoche auf, da sie sich vor einer für rationale Gestaltung geöffneten Zukunft sehe.19 Ist nun dem Institutionensoziologen, dem Kulturhistoriker oder dem ethnologischen Modernetheoretiker zu folgen? Für welches Land, welche Epoche, welches Konstrukt eines Selbstverständnisses ist Sozialität zu etwas

 16 John W. Meyer, Conceptions of Christendom. Notes on the Distinctiveness of the West, in: Melvin L. Kohn (Ed.), Cross-national Research in Sociology. Newburg Park u. a. 1989. 17 Burkhard Gladigow führt die Seelenkonzeption als Kontrollmedium in der Europäischen Religionsgeschichte aus: Burkhard Gladigow, ‚Tiefe der Seele‘ und ‚inner space‘. Zur Geschichte eines Topos von Heraklit bis zur Science Fiction, in: Jan Assmann (Hrsg.), Die Erfindung des inneren Menschen. Gütersloh 1993, 114-132. 18 Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. Frankfurt am Main 2007. 19 Donald L. Donham, On Being Modern in a Captialist World, in: Knauff (Ed.), Critically Modern (wie Anm. 15), 241-257.

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Gestaltbarem geworden? Und was verbirgt sich überhaupt hinter solchen und ähnlichen Schlagworten? Inwieweit werden hier erst seit der Aufklärung und mit ihrem Programm hoch im Kurs stehende Merkmale universalisiert, rückprojiziert und eine longue durée erschaffen, die von Individualismus, Universalismus und Rationalität ausgemacht wird? Auch in der Rezeption Webers finden sich zwei wissenschaftstheoretische Optionen, die oft Grund von Methodenstreitigkeiten sind: eine idealistische, die Abstraktionen vornimmt und historische Erscheinungen zu „Ethiken“ von Kulturkreisen und „Weltreligionen“ zusammenfasst, und eine gegenläufige empirische Richtung, die Webers Diktum stark macht, dass die Definition von Religion, wenn überhaupt, erst am Ende der Untersuchung zu stehen habe. Vor diesem Hintergrund sind auch Kategorien historisch zu bilden, damit etwa folgende Besonderheiten der Europäischen Religionsgeschichte nicht wegfallen: der Polytheismus Europas, die im Habitus selbst säkularer Menschen verankerten Erwartungen an religiöse Institutionen, die religiösen Nativismen als philologisch erfundene ehemalige Religionen, die mitlaufenden religiösen Traditionen der magia naturalis und Esoterik (z. B. ein Denken in Konkordanzen, Mikro-Makroentsprechung, Analogie, ein beseeltes, lebendiges All und Praxen des Geheimen oder auch der experimentellen Naturbefragung auf der These einer stofflichen Kontinuität usw.). Die neue Institutionentheorie hat zwar, wie auch die Theorie multipler Modernen von Shmuel N. Eisenstadt20, nach Modellen gesucht, die das Spezifische Europas bzw. des Westens über Rasse, Bevölkerungswachstum, natürliche Ressourcen und Technologiegeschichte erklären und damit den kulturell-systemischen Faktor für „Zivilisation“ wieder einbringen. Für diesen spielt „religiöses Ethos“ eine entscheidende Rolle. Denn der Religion kommt eine bedeutsame Rolle im kulturellen und politischen Programm der Moderne dadurch zu, dass sie verlorene „Gewissheitszeichen“ (Eisenstadt) wieder aufrichte. Bei Eisenstadt wie bei dem oben erwähnten Meyer wird das Erstarken von als religiös angesehenen Phänomenen jedoch als ein Anknüpfen an einen alten Glanz angesehen – mit allen methodischen Problemen, die mit dieser Religionstheorie und der Geschichtsphilosophie einer religiösen Re-vitalisierung verbunden sind. In den 1960er Jahren war der Institutionenbegriff hilfreich, Makrosoziologie und empirische Mikroforschungen wieder zusammenzuschließen, indem institutionelle oder auch organisationale Felder in ihrem Verhältnis beschrieben wurden. Dabei war eine wichtige Fragestellung, wie Institutionen ihre je besondere Rationalität konstituieren und wie institutioneller Wandel sich vollzieht, auch jenseits der entdeckten Isomorphiebildungen und der Stabilität von Institutionen. John W. Mohr und H. C. White definieren Institutionen als „linkage mechanisms that bridge across three kinds of social divides – they

 20 Shmuel N. Eisenstadt, Die institutionellen Ordnungen der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer weberianischen Perspektive, in: Gert Albert u. a. (Hrsg.), Das Weber-Paradigma. Tübingen 2003, 328-351.

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link micro systems of social interaction to meso (and macro) levels of organization, they connect the symbolic with the material, and the agentic with the structural.“21 Religion bzw. Christentum im „Westen“ gewährleistet nach Meyer dann die soziale Kohäsion und Dichte der Kommunikation, die sich die Rationalisierung im Sinne Webers zunutze machen könne. Erst geteilte Institutionen kreieren eine bestimmte Rationalität und Ineffizienz oder Effizienz. Über individuelles Handeln – oder wie bei Weber über subjektiven Handlungssinn – ist die Gesellschaft somit nicht zu rekonstruieren, sofern der subjektive Handlungssinn nicht (wie dann bei Bourdieu) als einverleibte Gesellschaft aufgefasst wird. Wird Postmoderne diskursanalytisch betrieben, dann sind die drei Größen des Titels – Kapitalismen, Modernen und religiöses Ethos – noch weniger voneinander abgrenzbar als im institutionentheoretischen Ansatz. Sie zerfallen noch stärker in heterogene Wirtschaftsformen, zerstreute Lenkungsstellen, politische und wissenschaftliche Reflexionsorte, instabile Nachfragen. Auch Religion ist diskurstheoretisch nicht einfach als kulturelles Sinnsystem fassbar. Sinnsysteme sind begrifflich infrage gestellt, sofern sie Handelnde und intentional Handelnde voraussetzen. Einzelne oder Handelnde sind jedoch Effekt vorhergehender Gesellschaftsordnungen (oft entgegen der gefühlten Souveränität in der Innenperspektive des Handelnden) und stehen in Wechselwirkung mit diesen, die sie in Grenzen verschieben. Dies ist möglich in den Wiederholungen der konkreten Aktualisierungen der Bedeutungssysteme, die nicht nur auf Reproduktion festgelegt sind. So finden Fundamentalisierungen von Religionen statt, die Frühzeiten nachstellen, z. B. die kriegerisch-expansive Zeit der Gefährten des Mohammed, und eigentlich einen neuen Code mit dem radikalen Islamismus hervorbringen. Das gleiche gilt von Traditionsbildungen mittels der Autorität von Schriften, die auf eine bestimmte Auslegungsart eingeschränkt wird, z. B. die wörtliche („buchstabengetreue“) oder eine genealogische Lesart zugunsten einer Akteursgruppe (der „apostolisch Sukzessierten“, einer Herrschaftsfamilie oder „Rasse“). Auch Wohlstand als erstrebenswertes Ideal musste sich im Christentum im Zuge von Moderne als Marktkonformität erst herausbilden. In den USA geschieht dies während der zweiten Erweckungsbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diskurstheoretisch wird in solchen Prozessen immer die Macht gesucht. Macht ist das Analyseraster und ist jenseits von normativer Bewertung als gute oder schlechte Macht treffender als Kräfteverhältnis definiert. In diesem Sinne kritisiert Donham Globalisierungstheorien, vor allem die world system theory der 1970er Jahre, dass sie die Ungleichgewichte der Kapitalismen bei dem Bemühen um politische Korrektheit zu wenig berücksichtige, die den „anderen“, den ex-kolonialen Ländern oder auch nicht-kolonialisierten Län-

 21 John W. Mohr/Harrison C. White, „How to model an institution“, in: Theory and Society 37, 2008, 485-512, hier: 485.

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dern (z. B. Japan, Thailand, Äthiopien) „eigene“ Wirtschaftsformen zugestehen will. Wie Donham an Äthiopien zeigt (und was Meyers These von der Verdichtungsrolle des Christentums stützen würde), waren es dort christlichfundamentalistische Missionare, die „Moderne“ nach der äthiopischen 1974er-Revolution vorbereiteten, indem sie eine Distanz von der indigenen „Tradition“ schufen (z. B. durch Literalisierung) und so Tradition als das „Andere“ der Moderne zuallererst erschufen. In Äthiopien brachte der 1974er-Umsturz gerade marxistische Parteien zum Entstehen und an die Herrschaft. In diesem Übergang und angesichts der Mächte-Allianz eines christlichen Fundamentalismus hin zum Marxismus ist diskurstheoretisch zu erwägen, ob es zu einem Bruch in den Machtverhältnissen kam, ob sich also diskursive Praktiken verändert haben oder ob sich nur die semantischen Felder der Aussagenzusammenhänge verschoben haben. Diskurstheorie historisiert die Wissensstrukturen und ihre materialen Effekte. Daher lässt sich eine jüngere Generation von Modernetheorien gut an die Diskurstheorie anschließen.22

IV. S YSTEMATIK P OSITIONEN

RELIGIONSÖKONOMISCHER

Was heißt das für das Verhältnis von Religion und Ökonomie? Schon jetzt sind die theoretischen Ansätze wie auch die historischen Einzeluntersuchungen in Religionsökonomie, religious economies, Wirtschaftsethiken, Wirtschaftskulturforschung, Wirtschaftsethnologie und -soziologie unüberschaubar.23 Entlang der folgenden drei systematischen Interessen der Religionsökonomie sollen nun einige Zugänge zur Verhältnisbestimmung von Religion und Wirtschaft geordnet werden: zunächst Kulturtheorien zur Wechselwirkung von Religion und Ökonomie (IV.1); sodann ökonomische Theorien als Gegenstand der Religionswissenschaft (IV.2); schließlich ökonomische Theorien als Modelle in der Religionswissenschaft (IV.3).

 22 Z. B. Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis/London 1996. 23 Anne Koch, Partly annotated Bibliography of Economics of Religion, Homepage Studiengang Religionswissenschaft der Uni München, URL: http://www.religionswissenschaft.uni-muenchen.de/forschung/forsch_projekte/ rel_oek/index.html.

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1. Kulturtheorien zur Wechselwirkung von Religion und Ökonomie Unter dieser ersten systematischen Perspektive drängt sich das methodische Problem auf, auf welchen Ebenen der Einfluss von Wirtschaft und Religion festzumachen ist. Werden soft skills durch religiöse Überzeugungen und die Vertrautheit mit religiösen Handlungsformen geprägt und prägen sie auf diese Weise auch wirtschaftliches Verhalten? Wirkt sich die ökonomische Mentalität eines bestimmten Sparverhaltens, einer Erwartung auf einen Gewinn in Höhe von X nach einer Investitionszeit Y auf die religiöse Mentalität aus? (Zum Beispiel auf die jenseitige Auszahlung der diesseitigen Investition in gute Taten?) Könnten diese Ebenen auch statt als Mentalität als erlerntes Verhalten gefasst werden? Oder geht es um religiöse und ökonomische Einstellungen, die in Wechselwirkung stehen? Verschiedene Größen sind in Kulturtheorien als Medium kultureller Wirklichkeitsproduktion angegeben worden. a. Mentalität, Habitus und Wertsphären als Interaktionsräume Es leuchtet ein, dass in einer Gesellschaft Vorstellungen einer gerechten Verteilung im religiösen wie im ökonomischen Bereich aufeinander bezogen werden, sei es als idealiter angestrebtes Deckungsverhältnis oder als subversive oder dominierende Vorstellung des einen Handlungszusammenhangs gegenüber dem anderen. Ohne davon auszugehen, dass diese Vorstellungskomplexe und Handlungsgewohnheiten harmonisch, widerspruch- und bruchlos in Religion und Ökonomie interagieren, stellt sich die Frage, ob es methodisch sinnvoll ist, eine grundlegende Gemeinsamkeit von Religion und Ökonomie auf einer Verhaltens-, Vorstellungs-, Handlungsebene anzunehmen. In diesem Abschnitt geht es um die methodische Herausforderung, eine Vergleichsebene zu bestimmen, auf der die ökonomischen und religiösen Einstellungen zusammenwirken. Es gibt dazu mehrere Vorschläge. Der erste theoretisiert die Beeinflussung mit dem Konzept Mentalität. Die wohl berühmteste These zur Wechselwirkung ist die Max-Webersche von der Prägung des frühneuzeitlichen Kapitalismus durch den „protestantischpuritanischen Geist“. „Was jene religiös lebendige Epoche des 17. Jahrhunderts ihrer utilitaristischen Erbin vermachte, war aber eben vor allem ein ungeheuer gutes [...] Gewissen beim Gelderwerb.“ 24 Dieses gute Gewissen drücke sich in der Kapitalakkumulation und Re-Investition aus – Handlungsweisen, die den Kapitalismus grundlegten. Eine religiös-moralische Einstellung und calvinistische Motivationslage werden mit Tauschhandlungen verknüpft. Arbeiten zu südamerikanischen Pfingstkirchen belegen Weber, wenn sie zeigen, wie dort die protestantische Arbeitsethik insbesondere brasiliani-

 24 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen 1920, 8. Aufl. 1988, 1-206, hier: 198.

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sche Männer zur geregelten Lebensführung anregt.25 Andere beobachten eine Revitalisierung religiöser Handlungsneigung und eine erhöhte Dichte religiöser Symbole, die mit einer Spiritualisierung des Kapitalismus einhergehe: „Der Begriff Karma-Kapitalismus bezeichnet eine tiefgreifende Spiritualisierung der Wirtschaft. [...] Das erfolgreiche Produkt ist nicht nur technischsachlich von hervorragender Qualität, sondern vermittelt auch einen spirituellen Mehrwert.“26 Karma-Kapitalismus löse in der heutigen Phase der Globalisierung den Raubtier-Kapitalismus des freien Marktes ab. Die Topik dieser Alternativen ist in vielen Diskursen über das Wechselverhältnis von Religion und Wirtschaft wiederzufinden: auf der einen Seite der „Krampf des Suchens nach dem Gottesreich“ (Weber) und „spirituellem Mehrwert“, auf der anderen Seite nüchterne Berufstugend, Uniformierung, Rationalisierung und Raubtiermentalität. Nicht nur als historische Beschreibung, sondern auch methodologisch finden wir diese Dualismen. Ökonomische und religiöse Motivation, Zielverfolgung und Zielsetzung werden in den Oppositionen von rational/irrational, formal-ökonomische Nachbildung/historische Vielfalt, selbstinteressiert/selbstlos, Zweck in sich/zweckrational dargestellt. Dem Vorwurf des Substanzialismus von Mentalität möchte der zweite Vorschlag mit dem Konzept des Habitus und des Feldnomos entgehen. Zum Habitus zählen nach Pierre Bourdieu und vielen heutigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten sozialisierte und verkörperte Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungsweisen und Praktiken. Die Praktiken unterscheiden sich nach Feldern, die durch spezifische objektive Relationen zwischen Akteurspositionen aufgespannt sind. Jedes Feld hat einen nomos (von Bourdieu auch „symbolische Alchemie“ genannt). Im ökonomischen Feld, das sich ja erst allmählich aus den Formen sozialen Tauschs herauslöste, ist der nomos: „Geschäft ist Geschäft.“ Damit wird die familiale Ökonomie, die den Verwandten bevorteilt, ausgehebelt. Das ökonomische Feld unterscheidet sich durch besonders brutale Sanktionen (Konkurs, Nichtmitgliedschaft, mangelhafte Krankenversorgung etc.) und durch das Ziel einer materiellen Profitmaximierung. Trotzdem ist eine Reduktion des Tauschhandelns nur auf das Ökonomische selbst im ökonomischen Feld nicht möglich. Mehrere Logiken existieren hier parallel. So sind z. B. ehrenamtliche, also nicht-wirtschaftsökonomische Blutspenden effizienter als bezahlte. Zur Feldstruktur des ökonomischen Feldes heißt es: „Die Agenten schaffen den Raum, d. h. das ökonomische Feld; vorhanden ist er nur durch die Agenten, die sich in ihm befinden und den Raum in ihrer Nachbarschaft verformen, indem sie ihm eine bestimmte Struktur verleihen. Mit anderen Worten: Die Beziehungen zwischen den verschiedenen ‚Feld-

 25 José C. Schmidt, Wohlstand, Gesundheit und Glück im Reich Gottes. Eine Studie zur Deutung der brasilianischen neupfingstlerischen Kirche Igreja Universal do Reino de Deus. Berlin 2007. 26 Der Berliner Kommunikationswissenschaftler und „Trendforscher“ Norbert Bolz in: Lufthansa Exclusive 2007, 70.

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quellen‘, d. h. zwischen den verschiedenen Produktionsunternehmen, erzeugen das Feld und die Kräfteverhältnisse, die es kennzeichnen. Konkreter gesagt: Die Agenten, d. h. die durch Umfang und Struktur ihres spezifischen Kapitalbesitzes definierten Unternehmen, bestimmen die Struktur des Feldes und damit den Stand des Verhältnisses der Kräfte, die auf die […] Gesamtheit der in der Produktion ähnlicher Güter tätigen Unternehmen einwirken.“27 Das ökonomische Feld hat Bourdieu am französischen Eigenheimmarkt erarbeitet, das religiöse Feld über seine Weber-Lektüre und ein wenig empirischer an der französischen katholischen Kirche. Um eine Vergleichsebene zwischen religiösen und wirtschaftlichen Aktivitäten zu bestimmen, müsste freilich zunächst die Wechselwirkung des ökonomischen und religiösen Feldes ausgearbeitet werden, was bislang nicht geschehen ist. Nach Bourdieu ist für seine Kritik an der katholischen Kirche Frankreichs entscheidend, dass das religiöse Feld eine Plausibilisierung des sozialen Rangs der Feldpositionen leistet und als vorkapitalistische Ökonomie das kapitalistisch Ökonomische ihrer Institutionen ständig verklären, überbieten und verneinen muss: „Die Wahrheit des religiösen Unternehmens ist, daß es zwei Wahrheiten besitzt: die ökonomische Wahrheit und die religiöse Wahrheit, die jene verneint.“28 Die Wechselwirkung wird von Bourdieu daher vorrangig über diskursive Strategien der Abwehr erfasst. Welche weiteren Handlungsformen hier am Werke sind, wäre eine Forschungsperspektive. Der dritte Vorschlag wird von der Wirtschaftethnologie unterbreitet, die auf der Grundlage einer jeweiligen Kulturtheorie erwägt, wie sich die kulturellen Dimensionen austauschen. Hier sei lediglich wegen ihrer Formalisierung, ihrer Beispielhaftigkeit für die Befruchtung von Theorie und Feldforschung und ihrer Kritik an der Rationalwahl die Position von Stephen Gudeman angeführt. Gudeman geht von zwei Transaktionsräumen aus, der Gemeinschaft und dem Markt. 29 Mit Gemeinschaft sind konkrete Gruppen und imaginäre Gruppen aufgrund eines Zugehörigkeitsgefühls gemeint, mit Markt kurzfristiger, anonymer Tausch. Gudemans Emphase liegt auf dem gemeinschaftlichen Aspekt des Tauschs, und von diesem her sei auch die Verteilung von Wohlstand zu überdenken. Seine eigene Mentalität als Ethnologe, der in den 1960er Jahren im ländlichen Panama zu forschen begann, sei ein „commercial and Deweyan pragmatism“. Gudemann scheiterte mit seinem ersten Versuch, im Rahmen von rational choice die Wirtschaftsverhältnisse in Panama in Entscheidungsbäumen spieltheoretisch darzustellen. Daraufhin ersetzte er den universalen Formalismus der Rationalwahltheorie durch die Fokussierung sozialer Bedingungen (in Panama etwa der sozialen Institution der Patenschaft). Dieser marxistischen Einsicht, dass Klassen

 27 Bourdieu, Le champ (wie Anm. 2), 191 f. 28 Pierre Bourdieu, Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, 186-200, hier: 188. 29 Stephen Gudeman, The Anthropology of Economy. Community, Market, and Culture. Malden 2001.

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Ressourcen unterschiedlich kontrollieren, folgte in der weiteren Forschung die Beachtung der „actor’s voices and meanings“ wie bei Karl Polanyi. Unübersehbar ist der Einfluss der Writing Culture-Debatte mit ihren Forderungen nach Polyphonie und danach, die Informanten selbst zu Wort kommen zu lassen. Alltagsmodelle, Metaphern und die Erfahrungen etwa in Landwirtschaften bilden die ökonomische Vorstellungswelt aus und stehen daher im Zentrum der Forschung und nicht die Deduktion aus ökonomischen oder rationalen Prinzipien. Die Neoklassik, die nur den Markt betrachtet, verfehlt nach Gudeman die soziale Bedingtheit des Wirtschaftens. Auch wird Wert nicht lediglich über individuelle Präferenzen der Nachfrage festgesetzt, sondern im lokalen Kontext. Diese regional-historischen Wertsphären sind zudem häufig inkommensurabel, also nicht ineinander zu verrechnen. Man denke an Freundschaft, Ästhetik, Patenschaft, den Arbeit-Ruhen-Rhythmus, den Körper und andere kontingente Kategorien, in denen Soziales und Wirtschaft sich durchdringen. Diese lokal definierten, nicht preisdotierten Werte drücken auch die Identität einer Gemeinschaft aus. Die vier Wertsphären nach Gudeman sind dabei: •

• • •

Die Basis, d. h. gemeinsame kommunale Interessen. Dazu gehören gemeinsame Ressourcen an Natur, Material und Wissen und kulturelle Übereinkünfte sowie Gewohnheiten, die eine Struktur der Beziehungen abgeben. Diese lokalen Werte sind heterogen, verkörpert und nicht verrechenbar. Soziale Beziehungen und Vereine: Sie sind Zwecke in sich. Über diese Beziehungsnetzwerke wird die Basis hergestellt und umgelegt. Güter und Leistungen, d. h. unpersönliche Werte, die zur Produktion, zur Anlage oder zum Verbrauch gehandelt werden. Der Tausch geschieht zum Teil mit Hilfe einer Währung. Bereitstellung und Anhäufung von Besitz und Wohlstand, d. h. die Akkumulation von Werten, die dann zu verschiedensten Zwecken eingesetzt werden können, auch in nicht-ökonomischen Bereichen.

Einige dieser Kategorien hätte Gudeman auch in der deutschsprachigen Vorkriegsökonomie gefunden. Denn im Methodenstreit zwischen der jüngeren Historischen Schule um von Schmoller in Berlin und dem Begründer der österreichischen Grenznutzenschule Carl Menger ging es bereits darum, ob die Ökonomie eine abstrakte oder realistische (Gudeman würde sagen: „lokale“) Theorie entwickeln solle, ob sie induktiv (z. B. teilnehmende Beobachtung) oder deduktiv (z. B. rationale Entscheidungstheorie) vorgehe, ob sie eine rein theoretische oder auch historische Wissenschaft sei. Bei allem Verständnis für das Ockham’sche Rasiermesser, das Nebenbedingungen ausschließt, indem es sie für das zu betrachtende Merkmal isoliert und als konstant setzt, ist der axiomatische Konstruktivismus des Gegenstandes der „reinen Ökonomie“ nicht zu übersehen. Schon Alfred Spiethoff, der in dem Schulstreit vermitteln wollte, forderte eine Art von sozialwissenschaftlichem

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Konstruktivismus ein, indem er Merkmale des „Wirtschaftstils“ für jeweils eine Epoche sehr ähnlich zu Gudeman bestimmte:30 • • • • •

Wirtschaftsgeist: Wie bei Weber sind zunächst ethische Haltung, Motivationen und Einstellung als kulturell geformte Größen zu erheben. Natürliche und technische Bedingungen: Bevölkerungsdichte, Arbeitsorganisation, Technik, also materielle Faktoren. Gesellschaftsverfassung wie Verwandtschaft, Vertrags- oder Zwangsverhältnis. Wirtschaftssystem: Welche Arten von Eigentum (frei, Staat, Gesellschaft), Institutionen (Unternehmen, Staat, Preisbildung) und Distribution gibt es? Wirtschaftsverlauf: Spiethoff interessiert sich vor allem für den Wechsel von Aufschwung und Stockung.

Was Gudeman und die Wirtschaftsethnologie allerdings sehr viel mehr im Blick haben, ist die lokale Vielfalt. Geld zum Beispiel kann im kurzfristigen Eigeninteresse eingesetzt werden und mittel- und langfristig für gemeinschaftliche Zwecke. Auf diese Weise ist ein gleicher nominaler Wert in jeweils andersartigen Wertsphären verankert und entsprechend zu bemessen. Wichtig ist jedoch, nicht isoliert auf die intentionalen Motive von Akteuren zu blicken, sondern ihre allgemeinen Überzeugungen, Praxen, materialisierten Redezusammenhänge, Metaphern und institutionellen Verwobenheiten zu analysieren. Dabei sind sowohl Tradierung und Stabilität wie revolutionärer oder allmählicher Wandel zu beschreiben als auch darauf zu achten, wie Ausbeutungs- und Freigebigkeitsbeziehungen möglich sind. In ähnlicher Weise beschäftigt sich die Wirtschaftskulturforschung mit der kulturellen Prägung wirtschaftlicher Transaktionen, mit der economic culture.31 Oft kreist diese Forschung um die Frage nach der Genese von Vertrauen als Phänomen auf der Schnittstelle von Einstellung und Wirtschaftssystem. Auch Wirtschaftsethiken diskutieren die Handlungsziele und -folgen wirtschaftlicher Transaktionen angesichts der Wertsysteme eines gesellschaft-

 30 Alfred Spiethoff, Die allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie. Die Wirtschaftsstile, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 56, 1932 (II. Halbband), 891-924. 31 Siehe Rainer Klump (Hrsg.), Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung. Marburg 1996; Thomas Eger (Hrsg.), Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen. Berlin 2002; Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics. Dortmund 2004; Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main/New York 2004. Den Begriff selbst hat Peter L. Berger bereits in „The Capitalist Revolution“ (1986) geprägt.

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lichen Symbolsystems. Zum Teil wird allerdings von einer normativen Position aus diskutiert, wenn zum Beispiel islamische Mentalität für die wirtschaftliche Unterentwicklung arabischer Länder verantwortlich gemacht wird. b. Religiöse Identität über Konsum und die Ökonomisierung der Religion Zum Abschluss der Verdeutlichung dieser ersten Perspektive sei die Ideengeschichte verlassen und ein kurzer Blick auf das Verhältnis von Religion und Wirtschaft in der Gegenwart geworfen. Herausgegriffen werden Fragen zur Identitätsbildung über religiösen Konsum und die Rolle eines religiösen Unternehmens darin; danach wird darauf eingegangen, was mit den Schlagworten einer Ökonomisierung der Religion oder der Lebenswelt allgemein gemeint ist. In der neuen mitteleuropäischen, urbanen Kultur entsteht unter islamischen Migranten/innen mit Mittelschichterfahrungen eine spezifische islamische Identität nicht nur politisch oder ideologisch, sondern auch aus dem Warenangebot an bestimmten Gütern. „Mecca-cola“ zum Beispiel, 2002 gegründet von Fafwik Mathlouthi (St. Denis/Frankreich), ist ein Produkt, das mit dem Slogan wirbt: „Trink nicht wie ein Idiot, trink engagiert!“ Der Islamforscher Patrick Haenni spricht in diesem Zusammenhang von „KonsumIslam“ und die Integrationsforscherin Amel Boubekeur weist darauf hin, wie diese Produkte den Islam in den Markt der globalen westlichen Kultur einbinden. Allerdings ist Mecca-Cola sehr umstritten, da hier als Firmenphilosophie eine militante Unterstützung Palästinas angegeben wird. Ein Teil der Gewinne der französischen Firma wird nach Palästina an die Hamas überwiesen. Der Internetauftritt ist seit Ende 2007 blockiert. Massenproduktion und Konsum in Industriegesellschaften sind Bedingungen der Moderne, die als Ökonomisierung der Lebenswelt vielfach bedauert werden und unter denen sich auch religiöse Diskurse ändern. Mancherorts ist eine Popkultur des Religiösen zu beobachten. Die in der folgenden Abbildung zu sehende, kleine, in Wasser aufschwellende Figur Grow Jesus ist ein Beispiel für die Veralltäglichung, Personalisierung („Grow your own“), Erfahrungsorientierung und Ästhetisierung in diesem Bereich.

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Abb. 3: „Grow Jesus“, Produkt der Popkultur

 Wie neu sind diese Veränderungen? Ob nun ein Gemälde des Romantikers Caspar David Friedrich zum persönlichen Andachtsraum fernab der Kirchen im Museum wird oder ein in Wasser getauchter Jesus im Einmachglas: Jedes Mal ist die persönliche Erfahrung Medium von Religion. Religiöse Produkte sind höchstens als Massenware neu und über ihre ästhetischen Relationen zu anderen Produkten in die Popkultur einzuordnen, in der Kristalle, JerichoWüstenpflanzen und Dinos sich in Wasser aufblähen lassen. Wie in der Popkultur ist das Produkt nicht mehr mit Attributen der Kostbarkeit (wie der Goldapplikation) oder der Einzigartigkeit und Beständigkeit versehen. Die einmal zerrissene Packung gehört auf den Müll. Im Unterschied zum erwähnten Gemälde fordert Grow Jesus jedoch zu einer Handlung auf und schafft darin einen diachronen Erfahrungsraum: Auspacken, Wassern, Beobachten. In einer teilnehmenden Beobachtung kommt es zu einer gewissen Langeweile gegenüber der langsamen Transformation der Figur, die über keine religiöse Belehrung auf der Packung, z. B. über die erforderliche Geduld im Glauben, aufgefangen wird. Auch empfindet man Skrupel angesichts Jesu in einem ordinären Pfandglas. Die Skrupel sind ein Symptom für einen Bruch oder auch nur eine Überlappung mehrerer synchroner religiöser Symbolsysteme: eines, in dem Kostbarkeit mit dem Heiligen verbunden ist, ein anderes, in dem es in einer konstruierten Komplementarität eher um „echte“ und „authentische“ Erfahrung als um sakrales Raunen geht, wiederum ein anderes System, in dem affektive Besetzung sich

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über außeralltägliche Überhöhung auszudrücken sucht. Moderne Konsumenten des Produktes Grow Jesus leisten eine Überbrückung der symbolischen Pluralität und sind bestenfalls innovativ in ihren Deutungen des Geschehens. Auch auf YouTube wird die Benutzung von Grow Jesus vorgeführt.32 Dort findet sich vom Macher des Videos eine Ritualinnovation. Auf den Hinweis, dass Jesus wieder schrumpfe, wenn man ihn aus dem Wasser nehme, äußert er: „Yea, he's back to being tiny now. When I need his powers, I'll grow him again“ (ohne Smiley oder andere Ironie-Marker). Das ist Bewirtschaftung eines „Talismans“. In dieser Hinsicht kann von einer Kommodifizierung statt Ökonomisierung von Religion die Rede sein. Ökonomisierung von Religion ist viel zu oft ein normatives Klagen über eine angeblich konsumistische, unechte, oberflächliche Spiritualität. Kommodifizierung wäre demgegenüber eine deskriptive Kategorie, die Veränderungen in religiösen Praxen im wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Kontext fasst. Dazu gehört z. B. der Boom an alltäglichen (Konsum-)Gütern mit einer Verbilligung und massenhaften sowie seriellen Produktion von Waren und einem Anschlussdiskurs über Wegwerfhaltung versus Nachhaltigkeit, die ab den 1960er Jahren in vielen Industrieländern vonstatten geht. Dann ist die Ökonomisierung oder besser: Kommodifizierung, Serviceorientierung usw. in religiösen Organisationen oder Tauschhandlungen allgemein nicht zwingend und schwarz-weiß als Verlustgeschichte zu erzählen. 2. Ökonomische Theorien als Gegenstand der Religionswissenschaft Viele wissenschaftsgeschichtliche Positionen und Debatten ereilt das Schicksal, aus geschichtlichem Abstand in ihren weltanschaulichen Prämissen und normativen blinden Flecken gesehen zu werden. Es muss demnach nicht ehrenrührig sein, wenn auch religionsökonomische Positionen mit der Zeit als Ideologien in den Gegenstandbereich der Religionsökonomie eingeordnet werden. Die Bedeutsamkeit dieser zweiten ideologiekritischen Perspektive der Religionsökonomie wird deutlicher vor der Genese der Disziplin. Die Religionswissenschaft ist im kreativen 19. Jahrhundert entstanden und zählt mit ihrem außer- und früheuropäischen Quellengut zu den neuen Repräsentationsformen von Wirklichkeit dieser Epoche wie auch die Fotografie, die Sozialstatistik, die Nationalbibliothek und die Staatsarchive. Dieser Reflexionsschub der ersten Moderne, die sich selbst in neuen Medien abbildet, hat manche Positionen der Religionswissenschaft wie F. M. Müllers evolutionistische science of religion, in der sich das Christentum hegelianisch zur Selbstwahrheit bringt, zu normativen Orten gemacht. Noch für die Religionsphänomenologie, die von Anfang an anachronistisch neben der frühen Religionssoziologie, Religionsethnologie und Kulturwissenschaft steht, fällen Kurt

 32 YouTube, Video „Grow Jesus (because he is awesome!)“, URL: http://www. youtube.com/watch?v=dd9PuoPpOK8, [6.4.2009].

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Flasche und Burkhard Gladigow das Urteil des Prophetiesyndroms anstelle der Wissenschaftlichkeit. 33 Die Herauslösung aus Religionsphilosophie und Theologie (wenn auch von letzterer als Freiheitsakt des institutionenkritischen Remonstranten Petrus Cornelius Tiele begonnen) macht die Ideologie-Sensibilität der Religionswissenschaft bei einigen heutigen kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaftler/innen zu einem identitätsstiftenden Merkmal. In den Gegenstandsbereich von Religionsökonomie fallen somit alle ökonomischen Theorien, Praxen und von Wirtschaftsformen ausgehenden kulturellen Muster, die zur Weltanschauung geworden sind. Als Beispiele seien erwähnt: Kapitalismus, Sozialismus und Marxismus als Religion, wirtschaftliche Praxen wie Schneeballspiele mit traumhaften Gewinnerwartungen, Organisationen wie die ursprünglich nord-amerikanische Amway und andere ideologische Tausch- und Distributionssysteme, die soziale Geborgenheit oder Integration auseinanderfallender Lebensbereiche versprechen. Ausgeführt sei dieser Punkt lediglich an der ökonomischen Rationalwahltheorie und ihrem US-amerikanischen Mythos vom autonomen Subjekt sowie an der Stilisierung und charismatischen Aufladung ökonomischer Eliten.34 a. Der Mythos vom autonomen Subjekt Seit den 1970er Jahren und verstärkt im US-amerikanischen Reaganism wird in der amerikanischen Religionssoziologie und Religionsökonomie der „freie“ Wettbewerbsmarkt auch für Religion favorisiert. Diese Regulationsform bedient sich eines utilitaristischen Handelns und gibt entweder die Angebots- oder Nachfrageseite als entscheidende Erklärungsgröße für religiöse Dynamiken an, die durch Konkurrenz ihre Aktivität steigern und sich organisational vervielfältigen.35 Alternative Theorietraditionen, die Markt auch als Wettbewerb sozialer Interessen um Macht und Prestige verstehen und so um andere Motive als das Gewinnstreben ergänzen, fallen weg. Der Chicagoer Ökonom Gary Becker führt das Konzept Humankapital ein, das es erlaubt,

 33 Burkhard Gladigow, Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Mathias Laubscher (Hrsg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart 1988, 26-40. 34 Zu Amway vgl. David G. Bromley, Quasi-Religious Corporations. A new Integration of Religion and Capitalism?, in: Richard H. Roberts (Ed.), Religion and the Transformations of Capitalism. Comparative Approaches. New York 1995, 135159. 35 In Deutschland hat der Ökonom Dieter Schmidtchen die Rational Choice-Theorie auf religiöse Organisationen angewendet: Dieter Schmidtchen, Ökonomik der Religion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 8, 2002, 11-43; ders./Achim Mayer, Established Clergy, Friars and the Pope. Some Institutional Economics of the Medievel Church, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 153, 1997, 122-149; ders./Achim Mayer, Ökonomische Analyse der Religion, in: Bernd-Thomas Ramb/Martin Tietzel (Hrsg.), Ökonomische Verhaltenstheorie. München 1993, 310-341.

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auch kleine soziale Einheiten wie Ehe, Familie oder Fruchtbarkeit einer ökonomischen Analyse zu unterziehen. Dies führt Iannaccone für religiöses Humankapital fort. Im neoklassischen Marktmodell mit seinem homo oeconomicus sind kulturelle Besonderheiten und Normen (z. B. spezifische Auffassungen von Fairness) als Restriktion theoretisiert. Ungeachtet historischer Kritik an den Ergebnissen der neoklassischen Religionsökonomie wird hier wohl der amerikanische Mythos des autonomen, produzierenden Subjektes (unbeleckt von postmodernen Subjektivitätstheorien) und das amerikanische Ideal vom religiösen freien Pluralismus im Wettbewerb fortgeführt. Die Instrumentalität von Religion in den USA, die Spezifik der Restriktionen in religiösen Partialmärkten bleiben ununtersucht.36 Vielfach finden wir auch das kulturelle Muster einer Wirkmacht Markt: Markt wird als sich selbst heilender Organismus angesehen oder als lebendiger Organismus mit einer Metapher des 19. Jahrhunderts, die den „Kreislauf des Geldes“ analog zur Entdeckung des Herz-Kreislaufsystems fasst.37 Kybernetische Mythen zum Markt sprechen lieber von der Selbstregulation und Autopoiesis (Systemtheorie), die Adam Smith-Rezeption von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Mittlerweile ist es in der erneuten weltweiten Finanzmarktkrise wieder plausibel, wenn Ökonomen wie der Amerikaner James K. Galbraith das Modell des „freien Marktes“ infrage stellen und die stärkere Nutzung der staatlichen Regulationsmöglichkeiten fordern: Denn Regulierung schaffe Vertrauen, was Galbraith mit den Beispielen der Flugüberwachung und Trinkwasserkontrolle belegt und vom chinesischen Kapitalismus als dem Schreckbild abgrenzt.38 b. Der Manager-Mythos Christoph Deutschmann analysiert Mythen um die Managergestalt. 39 Die Grundoperation des Marktes ist der Zahlungsverkehr. Geld ist in seinem wissenssoziologischen Ansatz nicht einfach ein Tauschmittel und daher Kommunikationsmedium wie in der Diagnose Luhmanns. Vielmehr ist Geld Kapital mit dem Verweis auf Reichtum und auf unbestimmte Güter zu einer unbestimmten Zeit. Der Managertypus entpuppt sich von hierher als Inkarnation des kollektiven monetären Urmythos, als eine Vermittlergestalt in diese

 36 Roland Robertson, The Economization of Religion? Reflection on the Promise and Limitations of the Economic Approach, in: Social Compass 39, 1992, 147-157. 37 Michael Hutter, Die Wirtschaftswissenschaft auf dem Weg von der Moralphilosophie zur Gesellschaftstheorie, in: Dieter Rustemeyer (Hrsg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaften. Würzburg 2002. 38 James K. Galbraith, The Predator State. How Conservatives Abandoned the Free Market and Why Liberals should too. New York 2008. 39 Christoph Deutschmann, Die Verheißung absoluten Reichtums. Kapitalismus als Religion?, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kapitalismus als Religion. Berlin 2003, 145174; ders., Die Mythenspirale. Eine wissenssoziologische Untersuchung industrieller Rationalisierung, in: Soziale Welt 47, 1997, 53-70.

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Transzendenz des Kapitals. Verweis auf Reichtum verkörpert die neoklassische Maximierungsvision. Dieser Managertypus insbesondere in der Unterform des Unternehmensberaters fungiert als kleines Narrativ, über das die Gesellschaft sich besonders in Firmenkrisen Orientierung verschafft. In dieser Zuständigkeit für Firmenkrisen dient der Manager in seiner Stilisierung und Idealisierung zugleich als Verkörperung des Abgespaltenen, der Schattenseite des Wachstums. Hierin hat er eine sozialpsychologische Funktion. Eine religiöse Kommunikationsform ist in den Bereich des wirtschaftlichen Handelns gewandert. Vielleicht können vor diesem Hintergrund Unternehmensberatungen als Symptom des als fragil bewusst gewordenen Marktes seit den 1970er Jahren gedeutet werden. Denn da hier mit Kompensationsmythen gearbeitet wird, müssten anscheinend Unternehmensberatungen die symbolische Legitimation (zumindest im öffentlichen Diskurs, der von der konkreten betriebswirtschaftlichen Arbeit dieser Firmen zu unterscheiden wäre) für den Markt leisten, wo dieser mehr oder weniger auf sich gestellt nicht mehr auf gute Weise Ressourcen verteilt, Sicherheiten schafft, Generationen verbindet. 3. Ökonomische Theorien als Modelle in der Religionswissenschaft Von einigen mikro- wie makroökonomischen Ansätzen her sind religionshistorische Themen bearbeitet worden. Am ausführlichsten geschah dies in der Neoklassik, die auf einem Marktmodell der Rational Choice basiert (zu unterscheiden von P. L. Bergers „Markt“). Weitere Arbeiten sind im Theoriekontext von beschränkter (Quasi-)Rationalität und als Spieltheorien vorgelegt worden. Religiosität wird hier als Variable definiert und in spieltheoretischen Versuchen mit ökonomischen Größen wie Spendenfreudigkeit, Fairness, Vertrauen, Altruismus korreliert.40 Dazu gibt es auch interkulturell komparative Arbeiten.41 In der new economic sociology wird der mikroökonomische Ansatz sozialkonstruktivistisch weiterentwickelt. Institutionen entstehen, indem sich die interpersonalen Netzwerke verfestigen.

 40 Z. B. von spieltheoretisch-ökonomischer Seite mit Religionsbezug: Jonathan H. W. Tan, Religion and social preferences. An experimental study, in: Economics Letters 90, 2006, 60-67; und Mathias Erlei, Sinnbildung, Religion und Präferenzen. Vom homogenen Homo oeconomicus zu heterogenen Homines culturales, in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard Sturn (Hrsg.), Ökonomie und Religion (Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Jahrbuch 6). Marburg 2007, 319-346. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive: Gregory Alles, Speculating on the Infinite. An Economic Re-Reading of Harvey Whitehouse’s Inside the Cult, in: Method and Theory in the Study of Religion 16, 2004, 266-291. 41 Am ausführlichsten bisher: Joseph Henrich/Robert Boyd/Samuel Bowles/Colin Camerer/Ernst Fehr/Herbert Gintis (Eds.), Foundations of Human Sociality. Economic Experiments and Ethnographic Evidence from Fifteen Small-Scale Societies. Oxford 2004.

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An dieser Stelle sei nur auf die Chancen der Neuen Institutionenökonomie (NIÖ)42 eingegangen, welche an einigen Punkten Weiterführungen der Neoklassik vornimmt, die nach wie vor gute Vorhersagen ökonomischer Prozesse gestatte. Die NIÖ beachtet allerdings auch andere gesellschaftliche Teilsysteme und bringt kulturelle wie historische Konkretionen in zumindest eingeschränktem Maße in die Theorie ein. Die Verknüpfung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen drückt sich in der Differenzierung der NIÖ in politische Ökonomik, ökologische Ökonomik und Ökonomik des Rechts aus.43 Die Institutionentheorie fasst dabei Kultur über materialisierte und innere Institutionen als Vielzahl informeller Verhaltensregeln der Sprache, Religion und Geschichte. Kultur gilt allerdings wegen ihrer langfristigen Wandlung als eine dem Modell exogene Konstante. Dem neoklassisch völlig unproblematisierten Subjekt wird nur noch eine „eingeschränkte Rationalität“ unterstellt; außerdem modifiziert man seine Ziele, weg von der reinen Nutzen-Maximierung hin zur umfassenderen Zufriedenstellung (satisfying). Eine gewaltige Veränderung in der NIÖ ist überdies ihre handlungstheoretische Ausarbeitung. Sie geschieht über die allgemeine Theorie der Transaktionskosten. Infolge dieses Konzepts wird auch Opportunismus operationalisiert und eine große Variationsbreite von Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnissen darstellbar. Über diese Variationsbreite können durchaus historische Strategien der Kontrolle, Macht- oder Kontrolldelegation und organisatorischen Bewältigung von Aufgaben thematisiert und abstrahiert werden. Diese sind nur einigermaßen vollständig, wenn die relevanten Bezüge einer politischen und rechtlichen Umwelt aufgenommen werden, weswegen es Sinn macht, dass eine NIÖ auch eine politische Ökonomik verfolgt. Bislang hat nur Ron Brinitzer (allerdings auf der Grundlage eines gestaltpsychologischen Verständnisses von mentalen Modellen) Angebot und Nachfrage nach Religion neo-institutionalistisch erhellend verfolgt. 44 Auf der Grundlage eines diskursiven statt substanzialistischen Religionsbegriffs könnte diese Arbeit gewiss vertieft werden.45

 42 Mathias Erlei/Martin Leschke/Dirk Sauerland, Neue Institutionenökonomik. 2. Aufl. Stuttgart 2007, besonders 43-49. 43 Von weiteren Spezialisierungen wie z. B. auf eine Ökonomie der Bildung, also auf die Steuerung von Produktion und zeitgenauer Bereitstellung von Humankapital, ist auszugehen. 44 Ron Brinitzer, Mentale Modelle und Ideologien in der Institutionenökonomik – das Beispiel Religion, in: Aloys Prinz/Albert Steenge, Alexander Vogel (Hrsg.), Neue Institutionenökonomik. Anwendung auf Religion, Banken und Fußball. Würzburg 2001; ders., Religion – eine institutionenökonomische Analyse. Würzburg 2003. 45 Vgl. dazu auch Hubert Knoblauch, Religiöse Märkte und die populäre Religion, in: Gerd Nollmann/Hermann Strasser (Hrsg.): Woran glauben? Religion zwischen Kulturkampf und Sinnsuche. Essen 2007; ders., Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung von Religion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 8, 2002, 143-161.

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Weiterer religionsökonomischer Forschungsbedarf besteht in Bezug auf religiöse Institutionen im Finanzmarktkapitalismus; hier kann man an die Governanceforschung zum Wandel von Ordnungssystemen in der Globalisierung anknüpfen. Von global agierenden Firmen und anderen neuen Akteuren werden Regulierungsfunktionen übernommen, die staatliche Handlungsspielräume zum Teil ablösen. Einerseits sind dabei die Regelungsebenen als orientierungsgenerierende Stellen der Kultur aus der religionswissenschaftlichen Erfahrung mit Deutungssystemen zu analysieren. Zudem suchen die neuen Akteure nach Leitsätzen ihres Handelns, die sich mit den verschiedenen Kulturen und policys der Mutter- und Tochterfirmen vertragen. Hier kann die Religionsökonomie auch zu einer kritischen Reflexion von Unternehmensethiken der Globalisierung beitragen, da Religion häufig eine zentrale Rolle im normativen Diskurs mit Wirtschaft und Politik einnimmt. Formelle Institutionen, wie sie sich im Bereich des Islamic Banking, etwa den Scharia Boards islamischer Banken, finden, wären zu verfolgen. Durch das Engagement der Deutschen Bank mit scharia-konformen Produkten z. B. gewinnen solche Institutionen zunehmend an Bedeutung. Auch religiöse Gruppen wie der Lutherische Weltbund, die Quäker usw. als Lobbyisten bei internationalen Organisationen wären unter Governance-Perspektive neue Untersuchungsgegenstände. Exemplarisch für informelle Religion und die Rezeption von neuen Weltanschauungen könnte beispielsweise eine Yogamarktanalyse Kategorien für diesen Sektor unterschwelliger Globalisierung durch transnationale Yoganetzwerke liefern.

V. F AZIT : M ETHODISCHE AUFMERKSAMKEITEN Ökonomische Systeme sind nur eine unter mehreren Materialisierungen gesellschaftlicher Wertsysteme. Aus dem Vorhergehenden lassen sich nun folgende Schlüsse für die Beschreibung von Religion und Wirtschaft in einer Gesellschaft und im Austausch mit globalen Mitspielern ziehen: •





Auf der Grundlage eines diskursiven Religionsverständnisses ist der Gegenstand der Religionsökonomie nicht ein abgegrenzter Sektor Religion; es sind vielmehr normative kulturelle Muster, die in ihrer Machtausübung im Regeln menschlicher Wahrnehmung und Praxis und in ihrem Wandern zwischen Diskursfeldern zu beschreiben sind. Der soziale Sinn von Tauschverhältnissen entfaltet mehr Optionen als nur die ökonomische. Soziale Bedingungen sind daher wieder in die ökonomische Theorie einzutragen, nicht im Sinne von Klasse und Klassenkampf, sondern z. B. (wie in der Wirtschaftsethnologie) über die Vielzahl von lokalen Wertsphären, die inkommensurabel bleiben und gerade darin eine diversifizierte kulturelle Ressource darstellen. Aus Mangel einer einfachen Kausalität zwischen religiösen Einstellungen, Praxen und ökonomischen Handlungen und des weiteren durch externe

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unintendierte Effekte findet sich eine lokale Vielfalt an Verknüpfungen.46 Wenn an neoklassischer Theorie in einer NIÖ-Variante festgehalten wird, dann sind kulturelle Faktoren im „Handlungsraum“ (Erlei/Leschke/Sauerland) als Restriktionen je nach Problemlage einzubringen. Zu den Problemlagen gehört z. B., dass symbolische Medien wie Geld abstrakter und virtueller werden, was neuartige Institutionen des Vertrauens und auch Prekarität der Gier zur Folge hat. Religionsökonomie ist herausgefordert, komparative Wirtschaftstheorien zu entwickeln. Denn ökonomische Theorien sind nicht nur ein historischer Reflex auf gesellschaftliche Kommunikations- und Wertsysteme ihres Entstehungskontextes (somit scheitern Universalisierungen, seien sie noch so formalisiert). Sie müssen auch fähig sein, die überregionale Interaktion regionaler Spezifität zu bewältigen. Religionsökonomie steht vor der Aufgabe, mehrere interferierende Regelsysteme zu beschreiben. Im Paradigma alternativer Modernen heißt das, hybride Formen zu erkennen, die nicht nur westliche und nicht-westliche Moderne exemplifizieren, sondern z. B. auch okkulte Ökonomien deuten können.47 Diverse Ebenen der so erfassten Wechselwirkung sind deskriptiv und explanativ zu verbinden, indem Praxen und Regeln des Zusammenwirkens und Übersetzens zwischen diesen Ebenen angegeben werden. Handlungsstile individueller Akteure sind mit organisationalen Feldern in Verbindung zu bringen, abstrakte Wertsetzungen mit konkreten Handlungsskripten und der Dichte emotionaler Besetzung, verkörperte Bedeutungen mit dem gemeinsamen symbolischen Apparat einer Gesellschaft. Ökonomische Kategorien sind in ihrer vor-ökonomischen Bedeutungsbreite zu fundieren. Zu denken ist etwa an Transaktionen im sozialen Tausch, an Akkumulation von Versorgungsverhältnissen und Prestige, an die Skalierung von Werten in der Lebenswelt von Tageslängen, Pferdestärken und männlicher und weiblicher Arbeitskraft, an Belohnung auch in religiösen Umrechnungen in ein Jenseits.

Mit dieser Aufmerksamkeit bringt die Religionsökonomie viele Herangehensweisen ins Gespräch. Ihr Gegenstand ist sowohl die wissenschaftliche

 46 Henrich u. a., Foundations (Anm. 42), führt das Ultimatumspiel in zwölf unterschiedlichen kulturellen Kontexten durch und erhält für die Freigebigkeit Mittelwerte zwischen 26 % und 58 %, also in großer Abweichung unter den Populationen. Dadurch, dass abweichende Verhaltensregeln angenommen werden, wird auch die interne Validität der Untersuchungen der experimentellen Ökonomie sichergestellt. 47 Anne Koch, Verhexte Kreditkarten, arbeitende Zombies, sabotierende Geister. Gründe einer ‚Magie der Verzweiflung‘ in der umstrittenen Moderne, in: Michael Reder/Matthias Rugel (Hrsg.), Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010.

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Reflexion des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft im Wandel der gesellschaftlichen Debatten als auch das Feld der Tauschhandlungen.

Wirtschaftskultur und Wirtschaftsgeschichte Von der Historischen Schule zur Neuen Institutionenökonomik C LEMENS W ISCHERMANN

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht die Rolle von Kultur in der Entwicklung des ökonomischen Denkens in den letzten 200 Jahren. Leitende Fragestellung ist diejenige nach dem Spannungsverhältnis von universalistischen und kulturellen Elementen im ökonomischen Denken. Das Folgende ist der Versuch einer Ortsbestimmung als Tour d’Horizon durch zwei Jahrhunderte.

I. D ER U NIVERSALISMUS -ANSPRUCH „ ÖKONOMISCHEN T HEORIE “

DER

1. Adam Smiths „Entdeckungen“ Den Startpunkt meiner Überlegungen gewinne ich mit Adam Smith, oder besser ausgedrückt: mit den von ihm repräsentierten Anfängen des ökonomischen Liberalismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.1 Der in meinem Zusammenhang fundamentale Punkt dieses ökonomischen Entwurfs ist sein universalistischer Anspruch. Die neue „liberale“ ökonomische Theorie machte sich in expliziter Auseinandersetzung mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild daran, die Fundamentalgesetze wirtschaftlicher Ordnung, wirtschaftlichen Handelns und letztlich ökonomischer Leistungsfähigkeit zu ermitteln. Im Ergebnis glaubte die (klassische) ökonomische Theorie daran, eine quasi natürliche Ordnung der ökonomischen Dinge – rund um den Markt

 1

Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. London 1776.

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– entdeckt zu haben. Ihr Anspruch war daher zeit- und raumlos oder eben universalistisch. 2. Universalismus als Fundament der neoklassischen Ökonomik im 20. Jahrhundert Dieser universalistische Anspruch ist bis heute das Signum der „liberalen“ ökonomischen Theorie geblieben, ungeachtet allen Wandels hin zur Ausbildung der Neoklassik und allen Weiterentwicklungen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts und bis heute. Der universalistische Anspruch dieser „ökonomischen Theorie“ hat im Laufe des 20. Jahrhunderts alle konkurrierenden Lehrmeinungen zunächst in Europa und dann im globalen Maßstab verdrängt. Sonderwege, politische wie kulturelle Faktoren blieben allenfalls periphere Beobachtungsmomente, wurden in den Bereich externer Rahmenbedingungen verbannt. Die Welt der wissenschaftlichen Ökonomik hingegen war eindeutig, sie war raum- wie zeitlos. Exemplarisch hierfür steht ein Satz von Oliver Williamson von 1975: „In the beginning there were markets.“ 2 Übersetzt heißt das etwa, dass vor dem Sündenfall, also bevor die Menschen anfingen, sich in die natürliche Ordnung des Marktes einzumischen, vollkommene Wettbewerbsmärkte existiert hätten.

II. M EHR G ESCHICHTE ! D IE H ISTORISCHE S CHULE DER DEUTSCHEN N ATIONALÖKONOMIE

IN

Der Siegeszug des ökonomischen Liberalismus war allerdings keineswegs unumstritten. Viele wissenschaftliche Köpfe, gerade in Deutschland, wurden zu erklärten Gegnern der englischen Lehre. Der Widerstand, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert auf breiter Front formierte, bündelte sich in der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie. 1. Ökonomie auf der Grundlage und im Dienst der Kultur Die Historische Schule stand quer zu einem an den Naturwissenschaften orientierten ökonomischen Modelldenken. Bereits führende Vertreter der Älteren Historischen Schule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lehnten eine Orientierung an scheinbar „ewigen Gesetzen“ scharf ab und sahen in der Untersuchung des geschichtlichen Werdens eines Volkes, seiner Kultur, seiner Sitten und seiner Wirtschaft die entscheidenden Bausteine zur Entwicklung einer systematischen Volkswirtschaftslehre. Die Jüngere Historische Schule entwickelte diese Position dann im späten 19. Jahrhundert weiter zur Forderung nach einer Volkswirtschaftslehre als historisch-ethischer Wis-

 2

Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies. New York 1975, 20.

W IRTSCHAFTSKULTUR

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senschaft: „Wirtschaft steht im Dienst der Kultur, der humanen Selbstentfaltung und im Dienst der nationalen Gemeinschaft und der nationalen Größe. Wirtschaft steht nicht unter der Perspektive des ökonomischen Erfolges, sondern unter der ethischen Perspektive des Gemeinwohls.“3 Für mich ist im Ergebnis von zentraler Bedeutung, dass die Historische Schule einen expliziten Gegenentwurf zum „abstrakten Universalismus“ und „Kosmopolitismus“ der angelsächsischen Theorie vertrat.4 2. Institutionen und ihre historische Einbettung Blickt man in das Grundlagenwerk der Nationalökonomie um 1900, den Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre von Gustav Schmoller, so registriert man auf den ersten Blick voll Erstaunen, dass zentrale Teile sich mit dem institutionellen Arrangement der Wirtschaft beschäftigen. Wobei Institutionen durchaus im modernen Verständnis als „Spielregeln“ gesellschaftlichen und eben auch ökonomischen Handelns verstanden werden. 5 Fasst man das bei Schmoller ausgebreitete Denken in die aktuelle Terminologie, so ist bei ihm unentwegt von Pfadabhängigkeiten, von Kultur und Einbettungen volkswirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten die Rede. Dennoch hat von ihm kein direkter Weg zu den von mir später behandelten aktuellen institutionellen und kulturellen Theorieströmungen geführt. Die Verwandtschaften und die Analogien sind erst im nachhinein ‚neu entdeckt‘ worden. Der Grund dürfte darin liegen, dass es Schmoller wie der Historischen Schule in der Nationalökonomie nicht gelungen ist, das institutionelle Arrangement oder die soziale Einbettung in den Kranz der harten ökonomischen Daten zu überführen und/oder zumindest theoretisch anschlussfähig zu machen, wie dies der Transaktionskostentheorie im 20. Jahrhundert gelingen sollte. 3. Ansätze zur Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte In den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930 hat es eine Fülle von Ansätzen einer neuen Kulturgeschichtsschreibung gegeben, die nicht zuletzt um einen

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Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1. 2. Aufl. München 1991, 666. Vgl. allgemein Jürgen G. Backhaus (Hrsg.), Historische Schulen. Münster 2005. Auf die frappante Nähe des Schmollerschen Denkens zu zentralen Elementen institutionenökonomischen Denkens ist erst kürzlich verschiedentlich aufmerksam gemacht worden. Vgl. Rudolf Richter, Bridging Old and New Institutional Economics. Gustav Schmoller, the Leader of the Younger German Historical School, seen with Neoinstitutionalists’ Eyes, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 152, 1996, 567-592; Werner Plumpe, Gustav von Schmoller und der Institutionalismus. Zur Bedeutung der Historischen Schule der Nationalökonomie für die moderne Wirtschaftsgeschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 25, 1999, 252-275.

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Paradigmenwechsel von der Verfassungs- zur Wirtschaftsgeschichte kreisten und zum Teil auch religionsgeschichtliche Aspekte einbezogen haben. Doch nicht nur der kulturhistorische Diskurs um Karl Lamprecht, Eberhard Gothein, Georg Steinhausen u. a. verblasste bereits in der Weimarer Republik zusehends6, sondern ebenfalls die Wirtschaftsstilforschung als Syntheseidee von „Geist“ und „Materialität“.7 Noch am präsentesten sind heutzutage verschiedene Arbeiten von Werner Sombart, Lujo Brentano und natürlich Max Weber. Man denke etwa an die Beschäftigung aller drei Autoren mit der Rolle des jüdischen Denkens im neuzeitlichen Wirtschaftsleben. 8 Hier sind breite Grundlagen für die Untersuchung des Verhältnisses und der wechselseitigen Einflüsse von Wirtschaft, Kultur und Religion angelegt worden und konzeptionelle Entwürfe vorhanden. Doch bei aller Beliebtheit des Streits um Max Webers Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus9 sind sie nicht im Sinne einer systematischen Neubestimmung des Verhältnisses von Ökonomie und Kultur und Religion fortgeführt worden. 4. Fortschritt, Scheitern oder Neubeginn? Die Historische Schule in der deutschen Nationalökonomie unterlag im Verlauf des 20. Jahrhunderts der Neoklassik im Kampf um die Deutungshoheit in der ökonomischen Theorie. Ihre Ansätze fielen seitdem in theoretischer Beziehung unter das Verdikt eines theorielosen Sammelns von Einzelbeobachtungen ohne die Kraft zur großen, d. h. universalen Synthese. Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte traten auseinander und in ein bis heute letztlich ungelöstes Spannungsverhältnis, auch wenn nur eine Minderheit der deutschen Wirtschaftshistoriker sich als strikte Anwender der „ökonomischen Theorie“ auf die Wirtschaftsgeschichte verstand. Eine Vielzahl von ihnen arbeitete sich weiterhin etwa am großen Feld der Wirtschaftsordnung ab, doch quasi ohne theoretische Legitimation. Neue Anstöße kamen aus deutscher Sicht von außen, aus den USA.

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Vgl. Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität. Köln u.a. 1994. Vgl. Bertram Schefold, Nationalökonomie und Kulturwissenschaften. Das Konzept des Wirtschaftsstils, in: ders., Wirtschaftsstile, Bd. 1. Frankfurt am Main 1994, 73110. Vgl. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben. München/Leipzig 1911; Lujo Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus. Festrede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der K. Akademie der Wissenschaften am 15. März 1913. München 1916, 158-199; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, hrsg. v. Johannes Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen 1956, 367-381. Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. u. eingel. v. Dirk Kaesler. 2. Aufl. München 2006.

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III. M EHR W IRKLICHKEITSNÄHE ! D IE N EW I NSTITUTIONAL E CONOMICS Das Markenzeichen dieser Theorieströmung ist die Forderung nach mehr Wirklichkeitsnähe in der ökonomischen Theorie. Konkret geht es um die Aufgabe der Modellillusion einer Nulltransaktionskostenwelt, wie sie in der neoklassischen Theorie zu finden ist. Die ökonomische Theorie soll um die Rolle von Institutionen (im Sinne von Spielregeln) und die Kosten ihrer Nutzung erweitert werden. 1. Die Dynamik des Transaktionskostenansatzes Der an einen berühmten Aufsatz von Ronald Coase10 von 1937 anschließende Transaktionskostenansatz widerlegte die modellhafte Kostenlosigkeit des Markt- und Preismechanismus. Tatsächlich entstehen bei der Benutzung des Marktes Transaktionskosten. Sie bestehen in erster Linie aus Informationskosten auf einem niemals völlig übersichtlichen Markt und aus Kosten für die fortwährende Neufestlegung von Verfügungsrechten, speziell in Verträgen. Die Dynamik des Transaktionskostenansatzes in aktueller wie wirtschaftshistorischer Perspektive beruhte vor allem darauf, • •



dass zusätzlich zu den bisher ausschließlich betrachteten Produktionskosten nun ein Instrumentarium für die Rolle der Organisationskosten entwickelt werden konnte, dass zweitens die Suche nach Formen ökonomischer Organisation mit möglichst niedrigen Transaktionskosten möglichst kontrollarme Kooperationen wichtig werden ließ (Stichwort: die allgegenwärtige Vertrauenskultur), und dass drittens dies wiederum die ökonomische Perspektive verschob, in Richtung auf den Zusammenhang von Spielregeln, institutionellem Wandel und Wirtschaftsleistung.

2. Von „Institutions Matter“ zu „History Matters“: Douglass C. North Nun konnte es nach langen Jahrzehnten wieder heißen: „Institutions matter.“ Douglass C. North behauptete vor allem in seinen bekannten Arbeiten aus den 1980er und 1990er Jahren, dass wirtschaftliche Institutionen zu den wirkungsmächtigsten Faktoren der europäischen Wirtschaftsentwicklung in der Neuzeit gehört haben. Adam Smiths berühmte „unsichtbare Hand“ des Marktes habe ein System von Institutionen vorausgesetzt, dass die Funktionsfähigkeit liberaler Marktmechanismen erst ermöglichte und dessen Existenz Euro-

 10 Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 4, 1937, 386-405.

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pa einen historisch einzigartigen Transaktionskostenvorteil verschaffte. Norths wichtigste Leistung beruhte in der Erkenntnis, dass effiziente Institutionen in der Wirtschaftsgeschichte der Welt nicht die Regel, sondern den Sonderfall gebildet haben. Wenn als effizient erwiesene „westeuropäische“ Institutionen sich gleichwohl nicht als universal herausstellten, so musste etwas mitwirken, was in den bisherigen Erklärungsversuchen nicht beachtet worden war. Diesen Rest vermutet North in „formlosen Beschränkungen“, von in der jeweiligen Kultur weitergegebenen Verhaltensregeln, Sitten, Gebräuchen, Konventionen.11 Grundlegende Teile von Kooperation beruhen auf der Absicherung durch solche formlose Beschränkungen. Diese formlosen Beschränkungen reduzieren Unsicherheit und opportunistisches Verhalten und ermöglichen damit erfolgreiche Kooperation. Je besser diese Vertrauensbildung gelingt, desto niedriger sind die im Kooperationsprozeß aufzubringenden Transaktionskosten. Kooperationsförderndes, nichtopportunistisches Verhalten kann nur über längere Zeiträume ausgebildet werden; wirtschaftliches Handeln hat in dieser Perspektive immer eine zeitlich-geschichtliche Verortung. 3. Kulturarsenale und Mental Models: Gefangen im Universalismus-Anspruch So sehr der Historiker hier North zustimmen wird, so unzureichend bleibt dessen Konzept von Kultur: Kultur hat den Status eines Wissensspeichers aller geschriebenen wie ungeschriebenen Regeln einer „Wirtschaftskultur“. Wer sie beherrscht, kann damit die im Kooperationsprozess aufzubringenden Transaktionskosten senken. Doch Kultur erzeugt kein Speicherwissen, sondern ein Wissen, das nie eindeutig ist (wie dies auch die Neue Institutionenökonomik noch unterstellt), das vielmehr immer der Interpretation, der Deutung bedarf. Als deutlich wurde, dass sein Kulturbegriff nicht zu halten war, schlug North zusammen mit Denzau das Konzept der „mental models“ vor.12 Die Macht dieser „mental models“ resultiere daraus, dass der einzelne Mensch nicht die objektiv gegebene Wirklichkeit wahrnehme und sich daran ausrichte, sondern dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit einen Filter individueller kognitiver Strukturen (aus Wissen und Wertvorstellungen) durchläuft. Die Weltdeutung werde damit möglicherweise verfälscht. Der Ansatz argumentiert mit grundlegenden allgemeinmenschlichen Eigenschaften und achtet auf die Art und Weise der Regelbildung, nicht auf die Inhalte der Regeln selbst. Der universalistische Anspruch des Institutionenansatzes kristallisiert sich dabei erneut (wie in der Neoklassik) als Schlüsselstelle. North vertritt – bei allen Modifikationen – eine Art „Eine-Welt-Modell“, das nicht

 11 Die Terminologie folgt Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge u.a. 1990. 12 Vgl. Arthur T. Denzau/Douglass C. North, Shared Mental Models: Ideologies and Institutions, in: Kyklos 47, 1994, 3-31.

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aufgegeben wird, weil daraus ein zumindest partieller Verzicht auf den Universalitätsanspruch ökonomischer Theorie folgen müsste. 4. Erste Öffnungen In jüngster Zeit gibt es innerhalb des institutionenökonomischen Lagers einzelne Bestrebungen, die wirtschaftskulturellen Elemente der Neuen Institutionenökonomik zu erweitern und zu präzisieren. Auch North hat sich zuletzt 2005 von seinen früheren kulturtheoretischen Positionen – zumindest implizit – verabschiedet: „Wenn wir also versuchen, institutionelle Rahmenbedingungen zu gestalten, […] dürfen wir keineswegs außer Acht lassen, dass das jeweilige Anreizsystem […] eine abhängige Variable des kulturellen Erbes einer bestimmten Gesellschaft ist. Dies ist einer der Gründe, warum Wirtschaftswissenschaftler als Berater anderer Länder so oft falsch liegen. Sie gehen davon aus, dass ein und dasselbe Wirtschaftsmodell überall anwendbar ist. Aber das kulturelle Erbe, das dafür verantwortlich ist, in wieweit wir dieses Wirtschaftsmodell als ein sinnvolles betrachten, ist eben nicht universal.“13 So finden wir North – wohl eher notgedrungen – auf der Suche nach dem Sinn menschlichen Wirtschaftens. Das zeugt nicht mehr von Universalismus, aber über das kulturelle Erbe und die kulturelle Vielfalt hinaus kommt er nicht zu einer positiven Definition.

IV. M EHR S INN ! Z UR ABHÄNGIGKEIT VON KULTURELLER S INNDEUTUNG UND W IRTSCHAFTSLEISTUNG Jede Weitergabe zwischen Menschen ist mehr als eine reine Informationsübermittlung. Eben diese Zusammenhänge werden seit langem von der Wissenssoziologie betont. 1. Der Kulturbegriff in seiner kultursoziologischen Erweiterung Kultur steht für den Ort der Ausbildung von Sinnorientierung menschlichen Handelns. Kultur kann man als Chiffre für kollektiv institutionalisierte Sinn-

 13 Douglass C. North, Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des wirtschaftlichen Wandels, in: Max Miller (Hrsg.), Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen der globalisierten Ökonomie. Frankfurt am Main/New York 2005, 127143, hier: 137 f. Eine ausführliche Darstellung bei Douglass C. North, Understanding the Process of Economic Change. Princeton 2005.

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welten bezeichnen, innerhalb derer sich Denken und Handeln entwickelt.14 Zu den Hauptcharakteristika gemeinschaftlicher Sinnwelten gehört, dass ihre erfolgreiche gesellschaftliche Institutionalisierung dauert, Zeit beansprucht und sich über mehrere Generationen erstreckt. Mit jeder weiteren Generation wird die Notwendigkeit einer expliziten Legitimation einer nicht mehr alltäglich-selbstverständlichen Sinnwelt, ihrer Werte und ihrer Spielregeln notwendiger, so der zentrale Gedankengang etwa in Berger/Luckmanns gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit von 1969. Die Frage nach der Kultur einer Zeit zielt auf die Sinnentwürfe einer Gemeinschaft. 2. Märkte als „State of Culture“ Die Konsequenzen einer derartigen kulturwissenschaftlichen Erweiterung ökonomischen Denkens lassen sich knapp am Konzept des Marktes andeuten: Die weithin übliche, auch die New Institutional Economics prägende Vorstellung ist die von „markets as state of nature“. Es gibt oder gab zu keinem Zeitpunkt einen Naturzustand = Idealzustand des Marktes (etwa im Sinne einer Wirtschaft vollkommener Konkurrenz; der so oft als Paradebeispiel angeführte entfesselte Kapitalmarkt hat sich gerade als höchst unvollkommen erwiesen). In wirtschaftshistorischer Perspektive sind Wettbewerbsmärkte nicht als Quasi-Gesetz hinter der wirtschaftlichen Welt einmal entdeckt worden (wie Smith meinte), sondern ihnen liegt eine historische Entwicklung zugrunde, die man als den einzigartigen westeuropäischen Weg in eine Marktgesellschaft bezeichnen könnte. Worauf es hier ankommt, ist, dass diese neue Ordnung, dieses neue institutionelle Arrangement nicht stabil, universal und unpersönlich, sondern eine historische Schöpfung ist.15 Märkte sind eben nicht „state of nature“, sondern kulturelle Institutionen. In eben diesem Sinne bezeichnet Pierre Bourdieu 1997 den „Markt als wissenschaftlichen Mythos“ 16 : „Der sogenannte Markt ist also in letzter Instanz nichts anderes als eine soziale Konstruktion.“17

 14 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt am Main 1979; Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1969. (Die amerikanische Originalausgabe erschien in Garden City 1966 unter dem Titel: The social construction of reality. A treatise in the sociology of knowledge.) 15 Vgl. Clemens Wischermann, Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics. Dortmund 2004, 17-31. 16 Pierre Bourdieu, Le champ économique, in: Actes de la recherche en sciences socials, Nr. 119, September 1997; Übersetzung: Das ökonomische Feld, in: Pierre

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3. Compared Capitalism ohne Kultur? Die Wirtschaftsgeschichte öffnet sich zur Zeit in rasantem Tempo globalen Perspektiven. Den Hintergrund bildet die Annahme, dass seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit nur mehr eine wirtschaftliche Option verblieben ist: die des siegreichen Kapitalismus. Erwartet hat man in dieser Situation eine globale Angleichung der Wirtschaftsformen oder -systeme. Die Konvergenzannahme hat sich allerdings nicht bestätigt, was sie nach neoklassischen Grundannahmen eigentlich hätte tun müssen, wenn man das Konzept des Konkurrenzgleichgewichts nimmt. In wirtschaftlicher Hinsicht registriert man stattdessen erstaunt die Vielfalt des Kapitalismus. 18 Die ComparativeCapitalism-Diskussion sucht hierbei die Ursachen primär in Ähnlichkeiten und Unterschieden des institutionellen Arrangements von nationalen Ökonomien, denen sie komparative Wettbewerbsvorteile zuschreibt. Doch ihr Anspruch geht weit über die Unterscheidung und Untersuchung von institutionellen Konfigurationen hinaus: „Institutions are seen as creating a particular contextual ‚logic‘ or rationality of economic action […].“19 Doch die Umsetzung bleibt hinter diesem Anspruch zumeist noch zurück. Der Forschungsstand ist geprägt von der Präsentation immer weiterer Typen und Typologien von Kapitalismen, die ganz überwiegend auf nationalstaatlicher Basis modelliert werden. Der Grund liegt schlicht in dem methodischen Vorgehen: Man benutzt statistische Querschnittsammlungen von Daten auf nationalem Level über eine Reihe von Indikatoren. Das macht den Zugriff leicht und versperrt zugleich oft den Zugang zur sozialen und kulturellen Einbettung und zu Sinnentwürfen von Spielarten des Kapitalismus. 4. Universalien und Temporalien der Wettbewerbs- oder Marktgesellschaft Mit dieser vielleicht zu saloppen Anknüpfung an die mittelalterliche Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Dingen 20 ist die in der Comparative-Capitalism-Literatur nicht behandelte Frage gemeint, ob es jenseits der



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Bourdieu u. a., Der Einzige und sein Eigenheim (Schriften zur Politik und Kultur 3). Hamburg 1998, 162-204, hier: 164. Bourdieu, Feld (wie Anm. 16), 189. Vielleicht ist dies auch eine Wiederaufnahme der letztlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Frage nach den Wirtschaftsstilen. Von der älteren Wirtschaftsstilforschung führt aber, soweit ich sehe, keine Linie zur Comparative Capitalism Diskussion. Gregory Jackson/Richard Deeg, How Many Varieties of Capitalism? Comparing the Comparative Institutional Analyses of Capitalist Diversity (Max Planck Institut für Geschichte, Diskussion Paper 06/2). Köln 2006, 12. Spiritualien und Temporalien, mlat. res spirituales, res temporales = die geistlichen und die zeitlichen Dinge.

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modischen Entdeckungen neuer Typen und Typologien von Kapitalismen denn auch so etwas wie einen eisernen, besser: ewigen Bestand, also Universalien eines Kapitalismus gibt, der zu Wachstum und Wohlstand führt. Hier fallen einem – ohne systematischen Anspruch – durchaus einige Punkte ein: Da wären zum einen allgemeine Marktmechanismen, also das Preis- und Konkurrenzsystem, das die zentrale Knappheitsfrage optimal lösen soll. Zu denken wäre zum zweiten an allgemeine Merkmale des institutionellen Arrangements, die den Einsatz der Transaktionskosten optimieren sollen. Schließlich könnte man drittens die kulturellen Besonderheiten, insbesondere die Ausbildung eines spezifischen Sinnhorizontes diesseitigen, eigennützigen, maximierenden Wirtschaftens, in Erwägung ziehen. Aber es erscheint mir völlig offen, ob man hier zu einer generellen Unterscheidung von universalen und zeitlich-räumlichen, kontextuellen Elementen kommen wird. Die Probleme beginnen bereits mit dem scheinbar eindeutigsten, dem Markt. Craig Muldrew hat nachdrücklich gezeigt, wie Marktdenken und -transaktionen schon vor dem 18. Jahrhundert weithin bekannt sind, aber anders gehandhabt werden. „Aufgrund der zur Aufrechterhaltung des Vertrauens notwendigen Kooperation war – um Kredit (als Signum der Teilnahmefähigkeit am Markt, C. W.) zu erhalten – moralischer Wettbewerb oft charakteristischer als ökonomischer Wettbewerb.“ 21 Kurz gesagt, am frühneuzeitlichen Markt galten andere soziale Regeln als an den späteren liberalen, scheinbar vollkommen transparenten Wettbewerbsmärkten. Das schönste Beispiel ist vielleicht der Siegeszug der „subjektiven Wertlehre“ und die sich ihr anschließende marginalistische Revolution als Kern der Neoklassik im 19. Jahrhundert. Recht unerklärlich blieb immer, wieso drei Männer fast zeitgleich Anfang der 1870er Jahre dieses revolutionäre Umdenken einleiteten (wobei ich die Vorläuferrolle von Hermann Gossen hier außer Acht lasse). Eine Erklärung lieferte der Kultursoziologe Alexandru Preda, der die sozialen Praktiken an den bedeutendsten Finanzplätzen der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts untersucht hat. Preda folgend, weist vieles darauf hin, dass Menger, Jevons und Walras letztlich die sehr spezifische Sinnwelt ganz weniger Finanzzentren – und hier insbesondere deren Börsen samt ihrer subjektiven Preisbildung ohne äußere Regelsetzung – zur Norm der neoklassischen ökonomischen Theorie erklärten. 22 Legitimation und Sieg der subjektiven Wertlehre veränderten die Welt bis heute.

 21 Craig Muldrew, Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500-1750, in: Historische Anthropologie 6, 1998, 167-199, hier 197. 22 Vgl. Alexandru Preda, Framing Finance. The Boundaries of Markets and Modern Capitalism. Chicago 2009; Ders., Information, Knowledge, and Economic Life. An Introduction to the Sociology of Markets. Oxford 2009.

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V. V ON DER „I NDUSTRIELLEN R EVOLUTION “ ÜBER DIE „I NSTITUTIONELLE R EVOLUTION “ ZUR „I NDUSTRIOUS R EVOLUTION “ Zu dem seit langem in der Wirtschaftsgeschichte etablierten Konzept der „Industriellen Revolution“ und seinem seit einigen Jahren hervorgetretenen Konkurrenten der „Institutionellen Revolution“ ist in jüngster Zeit die „Industrious Revolution“ hinzugetreten, zu übersetzen etwa mit „Revolution des Fleißes“. Getragen wird die Debatte von dem Werk des niederländischamerikanischen Historikers Jan de Vries über „Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present“.23 De Vries sieht die Ursprünge der Wachstumswirtschaft in einer grundsätzlichen Umstellung des wirtschaftenden Verhaltens der Menschen auf eine Intensivierung der Arbeitsintensität (Fleiß) bei gleichzeitiger Marktorientierung von Produktion und Konsum. Hinweisen könnte man in diesem Zusammenhang auch auf das umstrittene Buch von Gregory Clark „A Farewell to Alms“, nur dass bei Clark eine Art „Fleiß-Gen“ der produktivsten Klasse sich in England über Jahrhunderte von oben nach unten durchsetzt und in die Wachstumswirtschaft führt. 24 Der Begriff „Industrious Revolution“ macht zur Zeit schnell Karriere und wird als neue globalgeschichtliche Superkategorie gehandelt. 25 In meinem Zusammenhang steht er für eine rasante Ausweitung kultureller Begründungen für Wirtschaftshandeln, wirtschaftlichen Wandel und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Denn die entscheidende Frage (die de Vries nicht beantwortet) wird sein, was denn solche grundlegenden Veränderungen wirtschaftenden Verhaltens in Gang bringen konnte.

 23 Vgl. Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge u.a. 2008. 24 Vgl. Gregory Clark, A Farewell to Alms. A Brief economic History of the World. Princeton 2007. 25 Vgl. Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914. Frankfurt am Main/New York 2008 (zuerst engl. Oxford 2004).

II. Von Smith zu Hayek und Thatcher: der angloamerikanische Diskurs

Moral der Ökonomie und Ökonomie der Moral Die Differenzierung der political economy im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts J ÖRN L EONHARD

1. E INLEITUNG : W IRTSCHAFT UND E THIK DES POLITISCH - SOZIALEN D ENKENS

ALS

T HEMA

 Das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Ethik ist in der europäischen Geschichte ein Leitmotiv seit der Antike. Bei Aristoteles war die „oikonomia“ zunächst auf die Wirtschaft des Hauses bezogen und betonte die ökonomische Autarkie des einzelnen Haushalts. Davon unterschied er ausdrücklich das Handeln der Kaufleute und distanzierte sich von der Praxis, durch Zinsgeschäfte Geld aus Geld zu gewinnen. In der christlichen Theologie wurde die Bindung ökonomischen Verhaltens früh an ethisch bestimmte Regeln gebunden. So finden sich im Alten Testament zahlreiche normative Aussagen, aus denen sich die Verpflichtung der Wirtschaftenden zur Unterstützung schwacher Mitglieder der Gemeinschaft, zum Eigentumsschutz sowie zur Gerechtigkeit von Tauschprozessen ableiten lassen. Das Neue Testament konzentriert sich demgegenüber darauf, das wirtschaftliche Handeln des Menschen vor dem Hintergrund der göttlich bestimmten menschlichen Existenz und ihrer heilsgeschichtlichen Letztziele zu relativieren. Solche frühen Bestimmungen verwiesen auf einen besonderen sozialund wirtschaftshistorischen Kontext seit dem Ende des Römischen Reiches und bis in die Phase der Frühen Neuzeit in Europa, in dem eine relativ statische und lokal verwurzelte Subsistenzwirtschaft mit dem Ziel der Bedarfsdeckung dominierte.1

 1

Vgl. Ulrich Dierse/Hannah Rabe, Ökonomie, in: Karlfried Gründer/Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Basel 1984, Sp. 11491162.

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Nach antiker Vorstellung konstituierte sich die „oikonomia“ als „Gesetz des Hauses“ durch den privaten Lebenszusammenhang, der dem individuellen Familienvater und Hausherrn unterstellt war. Aristoteles unterschied zwar zwischen der gegenseitigen Verpflichtung in der Privatsphäre des Haushalts und der ethisch-politischen Beschäftigung in der Öffentlichkeit, lehnte aber das Prinzip der wirtschaftlichen Gewinnmaximierung ab. Das wesentliche Kennzeichen dieser antiken Bestimmung war es, die Versorgungsverpflichtung des Hausvaters zunehmend ethisch zu begründen. Insofern betraf die „oikonomia“ vor allem den nichtmonetären Teil des Haushalts, also die moralische Verpflichtung zu gegenseitiger Unterstützung. Dieses suggestive Modell des privaten Haushalts wurde in der Folgezeit deshalb wichtig, weil es auf ganz unterschiedliche Akteure und Institutionen angewandt werden konnte. So erschien der Herrscher der Frühen Neuzeit häufig als paternalistischer Vorstand eines fürstlichen Haushalts, und der Staat entsprach einem vergrößerten Haushalt des Fürsten.2 Aus der scholastischen Sicht auf das menschliche Wirtschaften ergaben sich im Mittelalter neue Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Ethik und Ökonomie. Dazu zählten nicht allein Rekurse auf antik-griechische und biblische Motive, sondern auch die intensive Auseinandersetzung mit der Definition von Eigentum, von gerechten Preisen, Marktordnungen und erträglichen Kreditbedingungen. Auch viele frühneuzeitliche Debatten standen noch unter dem Eindruck dieser scholastischen Interpretationen. Das galt insbesondere auch für die Generation der Reformationstheologen wie Luther, Melanchthon und Mennius.3 Den historischen Kontext kennzeichnete auch hier eine tendenziell ständische und relativ statische Wirtschafts- und Sozialordnung. Die zeitgenössischen Veränderungen, so die insbesondere bei Fernhandelskaufleuten erkennbare Expansion des Wirtschaftslebens und der Finanzinstrumente, blieben weitgehend ausgeklammert. Eine neue Bedeutungsrichtung ergab sich seit dem 16. Jahrhundert weniger aus der reformatorischen Theologie als vielmehr aufgrund der Auseinandersetzungen mit den Positionen Niccolò Machiavellis zu den Gesetzmäßigkeiten von Machterwerb und Machterhaltung. Vor dem Hintergrund der Konfliktlandschaft Oberitaliens formulierte Machiavelli das Prinzip, nach dem politisches Handeln systematisch von ethisch fundierten Normen abgelöst und an den neuen Zielen der Staatsräson ausgerichtet werden sollte. Diese neuen Prämissen des politischen Denkens hatten auch wesentliche Folgen für den zeitgenössischen Blick auf Gewerbe und Handel als Quellen für die Steige-

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Vgl. Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomie“, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1968, 103127. Vgl. Martin Luther, Von Kaufshandlung und Wucher. 1524; Justus Menius, Oeconomia Christiana. 1529; Philipp Melanchthon, Commentarii in aliquot politicos libros Aristotelis. 1530.

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DER

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rung politischer Macht.4 Zunehmend wurde nun auch die Sphäre des Wirtschaftens unter dem neuen Gesichtspunkt von Effizienz beobachtet. Das galt sowohl für die Physiokraten als auch im Rationalismus für Gottfried Wilhelm Leibniz sowie Christian Wolff. Bei Adam Smith schließlich kulminierte diese Entwicklung im Programm einer arbeitsteiligen und frei produzierenden Marktgesellschaft als Modell für eine effiziente Wirtschaftsordnung. Idealtypisch existierte damit eine langfristige Perspektive für die Transformation ständischer Gesellschaften in Marktgesellschaften durch die Auflösung traditionaler, korporativer Bindungen. Die wesentliche Grundannahme dieser Modelle basierte auf der Vorstellung einer Konvergenz von politischen Ordnungsideen und ökonomischen Handlungskonzepten. Das aber setzte die Loslösung von überkommenen ethischen Normen und die Übernahme eines neuartigen Effizienzkriteriums voraus. Das Modell der modernen Ökonomie als rationales Instrument zur Beschreibung und Erklärung von wirtschaftlichen Zusammenhängen entstand – so ließe sich dieser Prozeß symptomatisch zusammenfassen – zunächst durch die Emanzipation der Wirtschaftstheorie aus einer ethischen Zwecksetzung. Die wegweisenden Theorien der englischen „political economy“ seit dem 18. Jahrhundert und der deutschen Nationalökonomie seit dem 19. Jahrhundert setzten die Rezeption der machiavellistischen Trennung zwischen Politik und Moral unter dem Gesichtspunkt eines neuartigen Erfolgskriteriums voraus.5 Als die Vorstellung der Wirtschaft als vergrößerter Haushalt des Fürsten an Bedeutung verlor, bedurfte es auch einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Moral. In diesen Zusammenhang ist Bernard de Mandevilles „Fable of the Bees“ vom Beginn des 18. Jahrhunderts einzuordnen, einer der berühmten europäischen Grundlagentexte der Wirtschaftstheorie.6 Mandeville entwickelte hier die Auffassung, daß wirtschaftlicher Erfolg nicht auf ethischen Prämissen beruhe, sondern auf dem an sich unmoralischen Eigeninteresse der einzelnen Wirtschaftssubjekte. Das gelte gerade für solche Gruppen wie etwa Priester, Ärzte und Anwälte, die ihr Handeln üblicherweise aus moralischen Ansprüchen begründeten. Mandeville hinterfragte damit das Berufsethos verschiedener Akteure und bemühte sich, ideologiekritisch den Mechanismen und Konsequenzen eines wohlverstandenen Egoismus auf die Spur zu kommen. So gelangte er zu seinem bekannten Modell, nach dem das unmoralische Eigeninteresse der Akteure in der Summe aller Einzelhandlungen zu einem funktionierenden Gemeinwesen führe. Die egoistischen Leidenschaften ergänzten sich nach dieser Vorstellung zu einem allgemeinen Nutzen. Spitzte man diese Prämisse zu, so bedeutete jede ethische Rückbesinnung in einem Gemeinwesen einen unnatürlichen Eingriff in den Mechanis-

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Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975, 423 ff. Vgl. Klaus Lichtblau, Politische Ökonomie, in: Gründer/Ritter (Hrsg.), Wörterbuch, Bd. 6 (wie Anm. 1), Sp. 1163-1173. Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees. London 1714.

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mus, nach dem sich Eigeninteressen zu einem so nicht intendierten Gemeinwohl ergänzten. Tendenziell konnten Eingriffe in diesen Mechanismus sogar zu ökonomischen Rückschritten führen. Nach dieser Interpretation schlossen sich ethische Wertsysteme und ökonomisches Handeln gegenseitig aus. Friedrich von Hayek hat Mandeville daher auch als Vordenker des sich selbst regulierenden Marktes betrachtet.7 Doch glaubte Mandeville noch nicht an die Möglichkeit einer absoluten Selbstregulierung von Märkten. Vielmehr forderte er politische Kontrolle im Sinne eines etatistischen Merkantilismus, der aber nicht mehr ethisch im Sinne des fürstlichen Haushalts, sondern allein durch das ökonomische Ziel der Gewinnmaximierung begründet war. 8 Mandevilles Text markierte den Auftakt zu einer spannungsreichen Debatte um das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Ethik in Großbritannien und weit darüber hinaus. Auf seinen Text nahmen zahlreiche zeitgenössische Protagonisten der angloamerikanischen „political economy“ wie Adam Smith und David Hume direkt Bezug. Vor diesem Hintergrund soll es im Folgenden darum gehen, exemplarische Knotenpunkte dieser Debatte um das Verhältnis von Ökonomie und Ethik, Interesse und Moral, Individuum und Gemeinwohl herauszuarbeiten und die Deutungsmuster historisch einzuordnen. Dabei stehen vor allem Adam Smith und John Stuart Mill als wichtige Referenzautoren britischer und transatlantischer Positionen im Mittelpunkt.9 Ihre zeitgenössischen Antworten auf die Frage nach der Beziehung zwischen Ökonomie und Ethik sollen vor dem historischen Hintergrund krisenhafter Erfahrungen einer sich dynamisch verändernden Umwelt thematisiert werden. Als Autor des 18. Jahrhunderts fragte Adam Smith bewußt nach den Bedingungen einer expandierenden Marktgesellschaft und bemühte sich zugleich darum, die Positionen der schottischen Aufklärung in seine Antworten zu integrieren. John Stuart Mill dagegen repräsentierte wie kaum ein anderer politischer Theoretiker und Publizist den englischen Viktorianismus und die kritische Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsmodell einer entwickelten Industriegesellschaft. Zumindest in einem Ausblick soll schließlich auch Lord Acton behandelt werden. Mit ihm läßt sich die Ambivalenz von Triumph und Krise des individualistisch ausgerichteten Liberalismus und die Suche nach neuen Ordnungsmodellen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts thematisieren. Damit verband sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des britischen Modells ökonomischer Entwicklung angesichts der zunehmenden Konkurrenz, die

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9

Vgl. Friedrich A. von Hayek, Dr. Bernard Mandeville, in: Ders., Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1969, 126-143. Vgl. Joachim Weber, Ethik und Ökonomie – Begegnung auf Distanz. Hinweise von Adam Smith zur Ökonomisierung Sozialer Arbeit, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 4/2, 2006, 151-167, hier 154-157. Vgl. Stefan Collini, That Noble Science of Politics. A Study in Nineteenth-Century Intellectual History. Cambridge 1983; Donald Winch, Riches and poverty: An Intellectual History of Political Economy, 1750–1834. Cambridge 1996; Geoffrey R. Searle, Morality and the Market in Victorian Britain. Oxford 1998.

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DER

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man vor allem im Deutschen Kaiserreich und in den Vereinigten Staaten erkannte.

2. ADAM S MITH : B EDÜRFTIGKEIT UND E MPATHIE G RUNDLAGEN ETHISCHEN H ANDELNS IN M ARKTGESELLSCHAFTEN

ALS

Für Adam Smith hatte seine Auseinandersetzung mit den Prämissen Mandevilles wesentliche Bedeutung. 10 Obwohl er sich kritisch mit dessen verkürztem Begriff der Moral als Ausdruck bloß altruistischer Selbstlosigkeit auseinandersetzte, blieb der Text Mandevilles ein entscheidender Referenzpunkt für ihn. Zunächst erschien Ökonomie bei Smith als Bestandteil der natürlichen Verfassung des Menschen und bildete eine anthropologische Konstante. Indem Smith die zunächst private Dimension des wirtschaftlichen Handelns betonte, rückte er das Eigeninteresse, das er hinter jedem wirtschaftlichen Handeln erkannte, als entscheidende Motivation in den Vordergrund.11 Anders als Mandeville verwies Smith neben dem Eigeninteresse aber zugleich auf eine zweite Grundeigenschaft des Menschen, nämlich seine Hilfsbedürftigkeit. Für Smith war offenkundig, daß der Mensch die meisten seiner Bedürfnisse nicht von sich aus und autonom befriedigen konnte. Es bedürfe dazu des Austauschs mit anderen. Insofern ergäben sich die menschliche Bereitschaft zur Interaktion und damit letztlich auch die Fähigkeit zur Arbeitsteilung als notwendige Konsequenz aus diesem Zustand der Bedürftigkeit.12 Im wirtschaftlichen Handeln kreuzten sich für Smith die je individuellen Eigeninteressen und Bedürfnisstrukturen beteiligter Akteure. Das war etwas anderes als Mandevilles Prämisse eines unmoralischen Egoismus. Smith ging davon aus, daß das individuelle natürliche Eigeninteresse, den größtmöglichen Nutzen zu produzieren, nur dann funktioniere, wenn man in Austauschprozessen an das jeweilige Eigeninteresse der anderen Wirtschaftsakteure appellieren konnte. Wirtschaftliches Handeln zwischen Produzent und Konsument ergab sich daher aus einer Interrelation von Wunsch und Bedürfnis:

 10 Vgl. Weber, Ethik (wie Anm. 8), 157-162. 11 Vgl. Wilhelm Hasbach, Untersuchungen über Adam Smith und die Entwicklung der Politischen Ökonomie. Leipzig 1891; Jacob Oser, The Evolution of Economic Thought. New York 1970; Samuel Hollander, The Economics of Adam Smith. Toronto 1973; Arnold Meyer-Faje/Peter Ulrich (Hrsg.), Der andere Adam Smith. Bern 1991. 12 Vgl. Spencer J. Pack, Capitalism as a Moral System: Adam Smith’s critique of the Free Market Economy. Aldershot 1991; Jeffrey T. Young, Economics as a Moral Science: The Political Economy of Adam Smith. Cheltenham 1997; Jerry Evensky, Adam Smith’s Moral Philosophy: A Historical and Contemporary Perspective on Markets, Law, Ethics, and Culture. Cambridge 2005.

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„Whoever offers to another a bargain of any kind, proposes to do this. Give me that which I want, and you shall have this which you want, is the meaning of every such offer; and it is in this manner that we obtain from one another the far greater part of those good offices which we stand in need of. It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest. “13 Solidarität in einem größeren sozialen System entstand nicht aus der normativen Qualität einer tradierten Moral oder eines Wertsystems, das a priori gesetzt worden war, sondern aus der besonderen Kombination individueller Selbstinteressen: Indem die Marktakteure in den Austauschprozessen ihre je eigenen Vorteile verfolgten, sich also nicht intentional am Gemeinwohl ausrichteten, führte die Summe ihrer Interessen und ihrer Verhaltensweisen für Adam Smith ganz von selbst („naturally“), notwendigerweise oder sogar zwangsläufig („necessarily“) zu einer Orientierung am Wohl aller.14 Hier lag auch die eigentliche Bedeutung von Smiths Metapher der „invisible hand“. Exemplarisch ließ sich dieser Mechanismus am Zusammenhang zwischen Investition, Gewinnmaximierung und Gemeinnutz nachvollziehen: Die Geldinvestition eines einzelnen Wirtschaftssubjekts folgte zwar dem Ziel der individuellen Gewinnmaximierung, leistete aber durch eine Erhöhung des Volkseinkommens zugleich einen so im individuellen Handeln nicht beabsichtigten Beitrag zum Gemeinwohl: „He generally, indeed, neither intends to promote the publick [sic!] interest, nor knows how much he is promoting it […] he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention […]. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. “15 Vor diesem Hintergrund konnte Smith die Tugend der Selbstlosigkeit als bloße Tradition ablehnen, die nutzlos und heuchlerisch sei: „I have never known much good done by those who affected to trade for the publick [sic!] good. It is an affectation, indeed, not very common among merchants, and very few words need be employed in dissuading them from it. “16 Smith dachte Eigeninteresse und Gemeinwohl als komplexe Einheit und machte diesen Zusammenhang zur eigentlichen Basis einer marktgesellschaftlich konzipierten Ökonomie. Das Marktgeschehen wurde vom Eigeninteresse der Akteure bestimmt, und erst aus der Kombination der individuellen Eigeninteressen erwuchs das Gemeinwohl. Diese Theorie und das Vertrauen auf eine weitgehende Selbstregulation des Marktgeschehens und der damit verbundenen Marktungleichgewichte

 13 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hrsg. v. Roy Harold Campbell/Andrew S. Skinner (The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. 2/1). Oxford 1976, 26 f. 14 Ebd., 454 ff. 15 Ebd., 456. 16 Ebd.

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vermochte aber nicht die Tatsache sozialer Ungerechtigkeiten zu erklären oder eine Antwort auf dieses Problem zu geben. Darauf ging Smith mit seiner „Theory of Moral Sentiments“ ein, die lange Zeit als Gegenentwurf zur „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ angesehen wurde. Mit beiden Grundschriften verband sich in der Forschung lange Zeit die Vorstellung, der Ökonom und der Ethiker Smith stünden hier im Widerspruch zueinander. Dieses sogenannte Adam-Smith-Problem wird in neueren Interpretationen in seiner antagonistischen Variante aber eher zurückgestuft.17 Tendenziell wird die ethische Komponente in der „Theory of Moral Sentiments“ viel stärker als grundsätzliche Voraussetzung für die Konzeption des Wirtschaftshandels interpretiert. Auch hier übte Smith Kritik an altruistischem Handeln, das er im Blick auf das zwischenmenschliche Handeln ablehnte, weil es für ihn nicht der Natur des Menschen entsprach. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Sympathiefähigkeit als Grundeigenschaft des Menschen. Smith verstand sie als empathisches Vermögen, als Fähigkeit zum Mitfühlen und Mitleiden, nicht als besondere moralische Qualität des Menschen. Sie setze ein bestimmtes Vorstellungsvermögen voraus, das es jedem einzelnen erlaube, sich in die Position anderer Akteure hineinzuversetzen und aus dieser Position heraus auch indirekt an den Erfahrungen anderer teilzuhaben.18 Während im Text der „Wealth of Nations“ der Blick auf die Bedürftigkeit des Menschen dominierte, von der Smith die Mechanismen von Austausch und Arbeitsteilung ableitete, ging es in der „Theory of Moral Sentiments“ um die Funktionalität von Sympathie und Empathie, also um die Fähigkeit, das reine Eigeninteresse zumindest temporär zu überwinden. Smith argumentierte anthropologisch, wenn er das Handeln des einzelnen Menschen immer auf dieses Eigeninteresse zurückführte, von dem sich niemand durch welche ethischen Vorgaben auch immer vollständig zu lösen vermöchte. Aber er ergänzte dieser Sichtweise um eine gleichsam doppelte äußere Beobachterposition: einmal durch die Fähigkeit des Menschen, sich in andere Akteure hineinzuversetzen, und zum anderen aufgrund seiner Rolle als Zuschauer seiner selbst. Diese heuristische Selbstdistanzierung erklärte, warum auch ohne die Anwendung einer ethischen Norm das individuelle Handeln am Gemeinwohl ausgerichtet werden konnte, nämlich durch den möglichen Blick auf die Kosten und Nutzen eigener Handlungen für andere Akteure. Smiths „Theory of Moral Sentiments“ setzte die Debatte über traditionelle und konkurrierende Konzepte zum Verhältnis von Ethik und wirtschaftlichem

 17 Vgl. Robert E. Prasch, The Ethics of Growth in Adam Smith’s „Wealth of nations“, in: History of Political Economy 23, 1991, 337-352, sowie John Dwyer, Ethics and Economics: Bridging Adam Smith’s Theory of Moral Sentiments and Wealth of Nations, in: Journal of British Studies 44/4, 2005, 662-687. 18 Vgl. Sven Papcke, Adam Smith – The Theory of Moral Sentiments, in: Wilhelm Hofmann/Gisela Riescher/Theo Stammen (Hrsg.), Hauptwerke der politischen Theorie. Stuttgart 1997, 454-457.

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Handeln fort. Smith entwarf hier eine interaktive Ethik, die auf Selbstkontrolle durch Gegenseitigkeit beruhte. Damit distanzierte er sich zugleich von anderen zeitgenössischen Ethik- und Morallehren, die eine besondere Sittlichkeit als leitendes Normenkonzept voraussetzten. Smiths Konzeption verwies zugleich auf einen besonderen historischen Kontext – eine Periode, in der sich in verschiedenen europäischen Gesellschaften die relative Bedeutung transzendenter und zumal religiöser Begründungszusammenhänge abzuschwächen begann und damit auch überkommene Orientierungen an überlieferten Autoritäten in Frage gestellt wurden. Dieser Prozeß war mit der Umwandlung korporativ verfaßter Gesellschaften in stärker von Marktmechanismen und Renditeerwartungen geprägte soziale Formationen verbunden. Vor allem in England gewann die Selbstdefinition über die Produktion und den Vertrieb von Waren und überhaupt die Dynamik von Waren-, Informations- und Meinungsmärkten im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Dies stellte auch tradierte ethische Begründungen wirtschaftlichen Handelns stärker als zuvor in Frage.19 Das Grundproblem vieler Zeitgenossen bestand vor diesem Hintergrund darin, daß das in Rationalisierung, Kommerzialisierung und Effizienzsteigerung dominierende Nützlichkeitsprinzip des „homo oeconomicus“ sich einem althergebrachten Gemeinwohlprinzip des „homo socialis“ nicht mehr ohne weiteres zuordnen ließ. Hier setzte Smith mit seiner Konzeption einen entscheidenden neuen Akzent, mit dem er sich sowohl gegenüber älteren Vorstellungen der Antike und des Christentums als auch von zeitgenössischen Autoren wie Shaftesbury, Hutcheson und Hume absetzte:20 Vergesellschaftung und Gemeinwohlorientierung waren für Smith das Ergebnis menschli-

 19 Vgl. Alexander L. Macfie, Adam Smith’s Theory of moral sentiments, in: Scottish Journal of Political Economy 8, 1961, 12-27; Tom D. Campbell, Adam Smith’s Science of Morals. London 1971; Helmut Woll, Ethik und Ökonomie in der „Theory of Moral Sentiments“, in: Bausteine 11, 1987, 63-80; Gerhard Huber, Adam Smith: Der Zusammenhang von Moralphilosophie, Ökonomie und Institutionentheorie, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Wiesbaden 1990, 293-309; Hisashi Shinohara, The Practical System of Morality in Adam Smith, in: Hiroshi Mizuta/Chuhei Sugiyama (Hrsg.), Adam Smith: International Perspectives. Basingstoke 1993, 27-42; Richard A. Kleer, Final causes in Adam Smith’s Theory of moral sentiments, in: Journal of the History of Philosophy 33, 1995, 275–300; Shoji Tanaka, The main Themes and Structure of Moral Philosophy and the Formation of Political Economy in Adam Smith, in: Tatsuja Sakamoto/Hideo Tanaka (Hrsg.), The Rise of Political Economy in the Scottish Enlightenment. London 2003; Georg J. Andree, Sympathie und Unparteilichkeit: Adam Smiths System der natürlichen Moralität. Paderborn 2003. 20 Vgl. etwa Francis Hutcheson, Short Introduction to Moral Philosophy. Glasgow 1747.

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cher Interaktionen.21 Eigeninteressen konnten in einer besonderen Kombination konstitutiv für das Allgemeinwohl sein. Indem der einzelne seine individuellen Ziele verfolgte – vor allem Anerkennung und Selbsterhalt –, kam es zu komplexen Austauschbeziehungen und Rückkopplungseffekten, welche die Ordnung und Versorgung und damit auch die Stabilität sozialer Systeme sicherstellten. Die menschliche Gesellschaft erschien Smith als große Maschine, aus deren harmonischen Bewegungen sich positive Wirkungen ergaben. Die bekannte Allegorie der „invisible hand“ sollte diese vielfältigen Kommunikations- und Interaktionsprozesse zum Ausdruck bringen, die ständig zwischen allen Akteuren einer Gesellschaft abliefen und die Individuen miteinander auch ohne besondere externe Impulse in Beziehung setzten. Smith verwahrte sich mit seiner „Theory of Moral Sentiments“ auch gegen Mandevilles Grundaussagen in der „Fable of the Bees“ und die darin enthaltene Verknüpfung von Moral und Unmoral. Im Gegensatz zu Mandeville kam Smiths Ethik-Konzeption, seine Logik der Moralität als Ergebnis individueller Selbstkontrolle, ohne theologische oder andere normative Argumente aus. Als anthropologische Grundannahme erschien der Mensch als soziales Wesen, das zugleich auf Versorgung („nature“) und Kommunikation („nurture“) angewiesen sei. Menschliche Sozialisation setzte die Fähigkeit zu Sympathie und Empathie voraus und funktionierte für Smith aus einer externen Beobachterposition, die es erlaube, sich in den anderen hineinzuversetzen: „By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him.“22 Diese Konstellation ließ sich am ehesten durch eine Spiegelmetapher beschreiben. Der einzelne wurde zum Zuschauer seines eigenen Verhaltens mit dem Ziel, die Wirkungen und Konsequenzen zu beobachten und sie auf die eigene Person zurückwirken zu lassen.23 Daraus entstand bei Smith die Figur des unparteiischen Zuschauers, der neben den eigenen Interessen die Bedürfnisse der anderen berücksichtigen konnte.24 Daher konnte Smith den Gemeinsinn stärker einschätzen als den aus Egoismus resultierenden Privatutilitarismus jedes einzelnen.25 Das stellte aber auch die traditionelle Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger, Moral und Interesse in Frage. Smith war sich auch der begrenzten Reichweite dieses Modells in der Wirklichkeit bewußt. Konflikte, zum Beispiel in Kriegen,

 21 Vgl. Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1973, sowie Jerry Z. Muller, Adam Smith in His Time and Ours. New York 1993. 22 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, hrsg. v. Alec Lawrence Macfie/ David Daiches Raphael (The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. 1). Oxford 1976, 9. 23 Vgl. Papcke, Adam Smith (wie Anm. 18), 456. 24 Smith, Theory (wie Anm. 22), 109 ff. 25 Ebd., 185-189.

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zwischen politischen Fraktionen, oder deviantes Verhalten, etwa Kriminalität in einer Gesellschaft, konnten das von Smith angedachte Muster grundlegend in Frage stellen. Seine Neigung, in diesen Zusammenhängen allein auf das Übergangsstadium einer Gesellschaft und die noch unzureichende Integrationsfähigkeit zu verweisen, zeugt von einem großen Optimismus. Damit verband sich ein weitergehendes Problem: Überschätzte Smith mit seinem Ansatz nicht die Möglichkeiten menschlicher Sozialisation, wenn man die Realität einer Gesellschaft konkurrierender Individuen mit der ihr eigenen Tendenz zur Fragmentierung von Interessen und weitreichenden Verteilungskonflikten in Rechnung stellt? Ungeachtet solcher Fragen spricht die bis heute andauernde und intensive Rezeption der „Theory of Moral Sentiments“ – etwa bei Alexis de Tocqueville und in der von ihm entwickelten Idee des „wohlverstandenen Eigennutzes“ – trotz der bis heute noch immer größeren Reichweite und Bekanntheit der „Wealth of Nations“ dafür, daß Smith ein eigener und langfristig einflußreicher Beitrag zum Verhältnis zwischen Wirtschaft und Ethik gelungen ist.26 Sei es in der Psychoanalyse Siegmund Freuds, in der Soziologie Georg Simmels, Meads oder Elias‘, in der Philosophie Kants oder Plessners sowie im amerikanischen Kommunitarismus: Überall waren und sind in diesen Positionen Rückgriffe auf Smiths anthropologische Prämissen und seine Verknüpfung mit dem Subsidiaritätsprinzip erkennbar.27

3. J OHN S TUART M ILL : V ON DER K RITIK AM KLASSISCHEN U TILITARISMUS ZUR N EUFORMULIERUNG EINER ETHISCHEN „ POLITICAL ECONOMY “ Im Vergleich zu Adam Smith verwies der Beitrag John Stuart Mills zum Verhältnis zwischen Wirtschaft und Ethik zunächst auf einen grundlegend veränderten historischen Kontext.28 Mill schrieb als intellektueller Repräsentant und Kritiker des Viktorianismus, also vor dem Hintergrund der indust-

 26 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Teil II. Zürich 1987, 179 ff. 27 Vgl. Papcke, Adam Smith (wie Anm. 18), 457; James Halteman, Is Adam Smith’s Moral Philosophy an Adequate Foundation for the Market Economy?, in: Journal of Markets & Morality 6/2, 2003, 453-478; ferner den Beitrag Wallacher in diesem Sammelband. 28 Vgl. Richard H. Powers, John Stuart Mill: Morality and Inequality, in: South Atlantic Quarterly 58, 1959, 206-212; Stuart Jones, John Stuart Mill as Moralist, in: Journal of the History of Ideas 53, 1992, 287-308; Chin Liew Ten (Hrsg.), Mill’s moral, political and legal philosophy. Aldershot 1999; Eldon J. Eisenach, Mill and the Moral Character of Liberalism. Pennsylvania 1999.

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riewirtschaftlichen Dynamik der britischen Gesellschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert, aber zugleich auch angesichts der daraus hervorgehenden sozialen Folgekosten.29 Mills 1844 publizierte Schrift über „Some Unsettled Questions on Political Economy“ war dabei der Nucleus für eine größere Arbeit, die er als Synthese der „political economy“ seiner Zeit ansah. 30 Den Ausgangspunkt für seine Konzeption bildeten die Grundannahmen der Utilitaristen um Jeremy Bentham und seinen Vater James Mill sowie die Prämissen David Ricardos. Mit diesen klassischen Positionen der „political economy“ war John Stuart Mill selbst intellektuell sozialisiert worden. Nach diesen Vorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts wirkte vor allem der „pursuit of wealth“ als Motor menschlichen Verhaltens. Wirtschaftliches Handeln wurde in Anlehnung an Adam Smith als ein sich selbst-regulierendes System verstanden. Die Verteilung von Überschüssen und Belohnungen für individuelle Akteure richtete sich danach ganz nach den vorhandenen Produktionsfaktoren Land, Arbeit und Kapital. Mills eigener Entwurf setzte an der tendenziellen Statik und Hermetik dieser Grundannahmen an. Im konsequenten Blick auf die sozialen Realitäten seiner eigenen Gegenwart, vor allem die Probleme der 1840er Jahre, die Friedrich Engels in seiner Analyse zur Lage der arbeitenden Klassen in England eindrucksvoll beschrieb, 31 bemühte sich Mill darum, die klassischen Prämissen der „political economy“ zu hinterfragen und neu zu formulieren. Zunächst ging er von einer Spannung zwischen dem Universalismus der Methode und der Relativität von Bedingungen aus, die er nutzte, um die ökonomischen und sozialen Probleme seiner Gegenwart auf den Punkt zu bringen.32 Konkret bedeutete dies etwa, daß die englischen Poor Laws nicht ohne weiteres im agrarisch geprägten Irland angewandt werden konnten. Mit besonderer Aufmerksamkeit reflektierte Mill die Wirklichkeit der sozialen Frage in der englischen Gesellschaft, die sich vor allem als Übergangskrise zeigte. So resultierte der Pauperismus der 1830er Jahre als Phänomen der massenhaften Verelendung aus der Überlagerung von demographischer Dynamik und einer noch unzureichenden Nachfrage nach Arbeitskräften im industriellen Sektor. Auf diese sozialen Krisensymptome der Zeit reagierten

 29 Vgl. Donald L. Losman, John Stuart Mill on alternative economic Systems, in: American Journal of Economics & Sociology 30, 1971, 85-104; Pierre Vitoux, John Stuart Mill: Économie et Société, in: Cahiers Victoriens et Édouardiens 48, 1999, 209-230; Jose Harris, Mill, John Stuart, in: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004, Online Edition (Nutzung am 13. Oktober 2008), 1-35. 30 John Stuart Mill, Essays on Some Unsettled Questions on Political Economy (1844), in: John M. Robson (Hrsg.), The Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 4: Essays on Economics and Society Part I. Toronto 1967, 229-340. 31 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 2. Aufl. Leipzig 1848 (1. Aufl. 1845). 32 Vgl. Harris, Mill (wie Anm. 29), 20.

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ganz unterschiedliche politische Gruppierungen: Konservative High Tories, Sozialisten und Chartisten verband dabei eine zunehmend aggressive Kritik an der „political economy“ der Gegenwart, am Determinismus der Annahmen von Malthus sowie an der Ideologie staatlicher Nichtintervention im Sinne des Manchester Liberalism. Für Mill verband sich mit dieser Kritik die Frage, ob die traditionelle Praxis der philanthropischen Hilfe in England dem quantitativen und qualitativen Ausmaß der sozialen Probleme noch angemessen war. Dabei suchte er bewußt die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kritikern der „political economy“. Insbesondere wandte er sich gegen die viktorianische Philanthropie, die er als paternalistisch verwarf. Ihre Praxis laufe darauf hinaus, die Industriearbeiter in immer neue Abhängigkeiten zu bringen und durch moralische Argumente die Trennung der Gesellschaft zu vertiefen. Obwohl er in der „Edinburgh Review“ von 1845 einräumen mußte, daß sich die klassischen Positionen der „political economy“ in der Defensive befänden, kritisierte er die viktorianische Philanthropie als falsche Antwort auf die strukturellen Probleme seiner Gegenwart: „The hard abstract mode of treating such questions [...] has brought discredit upon political economists & has enabled those who are in the wrong to claim [...] exclusive credit for high & benevolent feeling.“33 Aber auch Mill setzte sich durchaus selbstkritisch mit den überkommenen Grundsätzen der „political economy“ auseinander. Hier lag auch der wesentliche Unterschied zu Adam Smith: Hatte dieser die Entstehung von Marktgesellschaften und ihrer besonderen Mechanismen reflektiert, so ging es Mill eher um die Neuformulierung der „political economy“ angesichts der sozialen Folgekosten erfolgreicher Industrialisierung. Diese Frage prägte vor allem Mills 1848 publizierte Schrift „Principles of Political Economy“.34 Mill verstand das Grundanliegen der „political economy“ nicht als eine ideologische Basis oder als Leitmotiv für die Beschreibung sozialer Entwicklungen, sondern als ein progressives wissenschaftliches Prinzip, mit dessen Hilfe die noch immer vorhandenen feudal-korporativen Relikte und die damit verbundenen Monopole sozialer Ordnung und politischer Herrschaft in der englischen Gesellschaft überwunden werden sollten. Wie in der Mechanik bestehe das Ziel darin, diese Hindernisse zu überwinden und einen uniformen „stationary state“ zu etablieren, in dem es keine strukturellen, sondern nur noch meritokratisch begründete Unterschiede von Einkommen und Wohlstand geben sollte. Mill legte besonderen Wert auf die

 33 John Stuart Mill, The Claims of Labour (1845), in: Robson (Hrsg.), Collected Works, Bd. 4 (wie Anm. 30), 363-390, hier 364. 34 John Stuart Mill, Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy, in: John M. Robson (Hrsg.), The Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 2: The Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Social Philosophy (Books I-II), und Bd. 3: The Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Social Philosophy (Books III-V and Appendices). Toronto 1965.

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Verbesserung der sozialen Organisation menschlicher Fähigkeiten, die er vor allem in der Förderung von Bildungsmöglichkeiten erkannte. Mit diesen Maßnahmen hoffte er auch, herrschende ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu hinterfragen, insbesondere David Ricardos Annahme, nach der Löhne längerfristig niemals über ein gewisses Subsistenzniveau steigen konnten. Vor allem jedoch polemisierte Mill mit seiner Schrift gegen die zeitgenössische Philanthropie, einen entscheidenden Grundzug des Viktorianismus und Anglikanismus. Philanthropisch verstandene Hilfe mache, so Mill, jede ökonomische Verbesserung von der Erfüllung moralischer Verpflichtungen der Reichen gegenüber den Armen in einer Gesellschaft abhängig. Die viktorianische Philanthropie erschien bei Mill als subtile Fortsetzung eines sozialen Ancien Régime. Mill sprach in diesem Zusammenhang von der oberflächlichen Attraktivität „of a form of society abounding in strong personal attachments and disinterested self-devotion“. Dahinter sah er aber wenig mehr als moralische Scheinheiligkeit, die unter dem Mantel christlich verstandener Hilfsbereitschaft einen überkommenen Paternalismus fortsetzte und die Industriearbeiter in politischer und sozialer Unmündigkeit hielt. Dieser Grundzug, der sich als eine besondere „culture of deference“ bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert fortsetzte, müsse in der englischen Gesellschaft seiner Gegenwart ein für alle Mal überwunden werden. Die Zukunft werde nicht geprägt durch „the whole fabric of patriarchal or seigneurial influence“, sondern durch die historische Bedeutung der „principles of Reformation“ als Synonym für individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Im Aufschwung der zeitgenössischen Massenpresse, des Chartismus als Zeichen für eine erfolgreiche Selbstorganisation der Arbeiterinteressen und im Konzept einer „civil society“ erkannte Mill vielversprechende Anzeichen: „The poor have come out of leading-strings, and cannot longer be treated like children.“35 Diesen übergeordneten Zielen entsprach das konkrete Programm. Es konzentrierte sich auf das Bildungs- und Erziehungswesen sowie auf die neuen Organisationsformen von Assoziation und Kooperation. Dabei distanzierte sich Mill aber dezidiert von einem noch immer paternalistisch verstandenen Kooperativismus, wie er ihn in den Projekten Robert Owens repräsentiert sah. Vielmehr betonte er den Grundgedanken, daß in den neuen Institutionen jedes Mitglied einen Anspruch auf Entschädigung oder Entlohnung im Verhältnis zu seiner Einlage durch Kapital oder Arbeit erhalten und damit unabhängig von der moralischen Hilfsverpflichtung der Reichen der Gesellschaft werden sollte. 36 Langfristig, so hoffte Mill, würden in einem solchen System die sozialen Grenzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die Klassengrenzen überhaupt durchlässiger werden. Angesichts der revolutionären Umbrüche von 1848 und der Experimente mit Kooperativen und neuen Formen der Arbeitsorganisation, insbesondere mit den republikanisch-sozialistischen Pariser Nationalwerkstätten, sah Mill die eigene Arbeit später in einem

 35 Ebd., Bd. 3, 760-763. 36 Ebd., 766-769.

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durchaus selbstkritischen Licht: Hätte er früher um diese Entwicklungen gewußt, so wären die sozialistischen Prämissen noch stärker herausgestellt worden. Dennoch spiegelten die verschiedenen Auflagen der „Principles of Political Economy“ von 1848 bis 1871 diese Zuspitzung deutlich wieder. In der 3. Auflage von 1852 war die Veränderung besonders erkennbar, so in der Behandlung von „co-operative partnership“, in der Konzeption kollektiven Eigentums an Land und in der zugespitzten Kritik an der „division of the human race into two hereditary classes, employers and employed.“ Im Übrigen wies Mill auch auf die Parallelen zwischen der Situation der englischen Industriearbeiter in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft und dem „patriarchal despotism“ gegenüber Frauen und Heimarbeitern hin. 37 Trotz dieser Kritik hielt Mill jedoch am Ideal des begrenzten, sich zurückhaltenden Staates fest, der sich auf die traditionellen wirtschaftsliberalen Funktionen der Währungsstabilität und des Abbaus von Steuerprivilegien und Monopolen konzentrieren sollte. Die Idee einer Intervention zugunsten eines sozial fürsorgenden Interventions- und Wohlfahrtsstaates blieb Mill fremd.38 In der Auflage von 1865 diskutierte Mill intensiv die zeitgenössischen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter, die „Friendly Societies“. In der autoritativen Auflage von 1871 gab Mill schließlich auch die tradierte Grundannahme Ricardos auf, daß Reallohnsteigerungen ohne gleichzeitige Reduzierung der Arbeitskräfte undenkbar seien. Insgesamt distanzierte sich Mill also von den dogmatischen Annahmen der traditionellen „political economists“. Sein erzwungener Austritt aus dem orthodoxen Political Economy Club stand in diesem Zusammenhang. Hinter Mills Kritik an der „political economy“ als einer bloß abstrakten Wissenschaft und dogmatischen Idee wurde ein Gegenmodell erkennbar, nämlich ihre Nutzung als Instrument im Dienst einer „civic morality“, einer langfristig ausgerichteten sozialen Politik, welche die Bahnen philanthropischer Tradition und die damit einhergehende Moralisierung sozialer Hilfe überwinden sollte. Daran orientierte sich auch Mills Konzept einer ethischen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Der für ihn notwendigen Überwindung patriarchaler Philanthropie entsprach auf der Gegenseite ein progressiver Freiheitsbegriff. In seinem Grundwerk „On Liberty“ wies Mill denn auch auf die Gefahren für die persönliche Freiheit hin, die er nicht länger in despotischen Regimes erkannte, sondern im Uniformitätszwang, dem Druck der öffentlichen Meinung angesichts einer zunehmend medial integrierten Gesellschaft. Die „plurality of paths“ als Signum europäischer Zivilisation sah er durch ein „Chinese ideal of making all people alike“ bedroht. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Individualität und Gemeinwohl allerdings war auch der Nachhall Adam Smiths erkennbar. Denn Mill betonte, daß Individualität und individuelle Freiheit mehr seien als die Akkumulation der Freiheit des einzelnen. Freiheit ließ sich als Medium höherer kollektiver Werte verstehen, indem die Steigerung der Individualität

 37 Ebd., 790-796. 38 Vgl. Harris, Mill (wie Anm. 29), 21.

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jede Person nicht nur „more valuable to himself“ mache, sondern auch „more valuable to others“. So werde die Menschheit insgesamt „infinitely better worth belonging to“.39 Schließlich bemühte sich Mill in seiner Schrift „Utilitarianism“ von 1861 darum, die Positionen des klassischen Utilitarismus auf der Ebene ethischer Annahmen über die Positionen Benthams und seines Zirkels hinaus fortzuentwickeln.40 So wies er darauf hin, daß auch Immanuel Kants kategorischer Imperativ in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien des Utilitarismus stehe. Ganz anders als seine Kritiker behaupteten, sei dieser eben nicht Ausdruck von Egoismus und Materialismus, sondern beruhe im Grundsatz, wie Kants ethische Prämissen, auf der Notwendigkeit, individuelles Handeln an den übergeordneten Vorteilen für eine Gemeinschaft auszurichten: „The standard is not the agent’s own greatest happiness, but the greatest amount of happiness altogether.“ Hier verwies Mill zudem auf die moralische Dimension von „utility“, die über bloß materielle Vorteile und Gewinne hinauswies: „Better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied.“41 Für Mill ergab sich die Kritik am überkommenen Utilitarismus-Konzept der Generation seines Vaters und Benthams aus unterschiedlichen Richtungen: „Public interest“ mußte mehr sein als die arithmetische Summe privater Befriedigung. Zudem waren die Ziele des utilitaristischen Denkens moralisch nicht neutral, sondern sie blieben auf eine bestimmte ethische Dimension hin ausgerichtet. Der Begriff „utility“ war ohne eine konsequente ethische Grundierung für Mill gar nicht denkbar, denn die Anerkennung von positiven Tugenden sei eine der intensivsten Glückserfahrungen überhaupt: „The mind is not in a right state [...] not in the state most conformable to the general happiness, unless it does love virtue in this manner.“42 Obwohl Mill in seiner eigenen Gegenwart noch Relikte einer anderen Ordnung erkannte – er sprach von „wretched social arrangements“ – gab er sich für die Zukunft sehr optimistisch: „[There is] absolutely no reason in the nature of things why an amount of mental culture sufficient to give an intelligent interest in these objects of contemplation, should not be the inheritance of every one born in a civilised country.“43 Bei aller Kritik an der Wirklich-

 39 John Stuart Mill, On Liberty, in: John M. Robson (Hrsg.), The Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 18: Essays on Politics and Society Part I. Toronto 1977, 213310, hier 274 und 266. 40 Vgl. Frederick Rosen, Classical Utilitarianism from Hume to Mill. London 2003, sowie Henry R. West, An Introduction to Mill’s Utilitarian Ethics. Cambridge 2004. 41 John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), in: John M. Robson (Hrsg.), The Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 10: Essays on Ethics, Religion, and Society. Toronto 1985, 203-260, hier 212 f. 42 Ebd., Bd. 10, 235. 43 Ebd., 215 f.

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keit der viktorianischen Gesellschaft und ihrer sozialen Ordnungsmuster blieb auch für Mill der Glaube an einen umfassenden zivilisatorischen Fortschritt charakteristisch. So hoffte er, daß sich auf der Basis eines ethisch begründeten Utilitarismus ganz verschiedene Formen von Ungleichheit auch über nationale Grenzen hinweg aufheben ließen: „So it has been with [...] slaves and freemen, nobles and serfs, patricians and plebeians; and so it will be, and in part already is, with the aristocracies of colour, race, and sex“.44

4. L ORD ACTON : O RGANISCHE G EMEINSCHAFT STATT PLURALER G ESELLSCHAFT ? Mill war nicht der einzige Zeitgenosse des Viktorianismus, der sich kritisch mit der Neuformulierung des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Ethik auseinandersetzte. Aus ganz anderer Perspektive kritisierte am Ende des 19. Jahrhunderts auch Lord Acton die fehlende ethische Orientierung des entwickelten Kapitalismus.45 Mit seiner besonderen Orientierung am Katholizismus und der gleichzeitigen Distanzierung gegenüber der katholischen Kurie – „zu katholisch für Liberale, zu liberal für Katholiken“ – gehörte er zum personalen Netzwerk um Döllinger, Gladstone und Morley.46 Acton hatte lange Zeit am laissez-faire Prinzip einer strikten Zurückhaltung des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft festgehalten. Am Ende des Jahrhunderts erkannte er dann aber die Gefahr, daß moderne Gesellschaften durch die vielfältigen Interessengegensätze dazu neigten, sich selbst zu atomisieren. Im Gegensatz zu Mills Ideal freier Individuen orientierte sich Acton am Mittelalter und dem Ideal einer organischen Gemeinschaft als Antwort auf die sozialen Spannungen und Integrationsdefizite seiner eigenen Gegenwart. So wurde er zum Anhänger neokorporativer Vorstellungen, in denen er eine Antwort auf die soziale Erosion zeitgenössischer Gesellschaften erkannte.47 Diese Lösung war für ihn auch deshalb attraktiv, weil sie nicht nur eine soziale Dimension aufwies, sondern auch seiner ausgeprägten Aversion gegen den modernen Zentralstaat Ausdruck verlieh. Wie Alexis de Tocqueville sah auch Acton im französischen Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. eine im Zeichen der sozialen Gleichheit verdeckte Gefährdung individueller Freiheit. Seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber der Praxis politischer und sozialer Entscheidungsprozesse – „power tends to corrupt, and absolute power cor-

 44 Ebd., 259. 45 Vgl. Gertrude Himmelfarb, Lord Acton: A Study in Conscience and Politics. London 1952, sowie Owen Chadwick, Acton and Gladstone. London 1976. 46 Vgl. Josef L. Altholz, The Liberal Catholic Movement in England: The ‚Rambler‘ and its Contributors, 1848–1864. London 1962. 47 Vgl. E. D. Watt, Ethics and Politics: The Example of Lord Acton, in: University of Toronto Quarterly 33/3, 1964, 279-290.

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Ö KONOMIE UND Ö KONOMIE DER M ORAL | 85

rupts absolutely“ – stellte er ein Normengerüst christlicher Werte entgegen.48 Dennoch ist der gleichsam anachronistische Grundzug dieses aristokratischen Liberalismus nicht zu übersehen.49 Auf die Konzeption des modernen Wohlfahrtsstaates hatte diese Denkrichtung allenfalls begrenzten Einfluß.

5. F AZIT

UND AUSBLICK : D IE M ORAL DER IM HISTORISCHEN W ANDEL

Ö KONOMIE

(1) Im Gegensatz zu vielen Darstellungen klassischer politischer Ideengeschichte gab es auch im angloamerikanischen Kontext keinen einfachen Universalismus ‚liberaler‘ Positionen und Diskurse zum Verhältnis zwischen „homo oeconomicus“ und „homo socialis“. Eher unterstreichen die hier skizzierten Beispiele, wie die Umbruchserfahrungen seit dem 18. Jahrhundert auch zu einem Pluralismus theoretisch-konzeptioneller Aneignungen führten. Krisendynamik und Erfahrungswandel führten nicht zu einem statischen „Liberalismus“, sondern zu sehr unterschiedlich akzentuierten „Liberalismen“. 50 Das von Hegel identifizierte neuartige „System der Bedürfnisse“ korrespondierte einem expandierenden Markt von Interpretamenten und Deutungsmustern seit dem 18. Jahrhundert.51 Die Entstehung der „political economy“ als einer neuartigen wissenschaftlichen Bewegung und die neu formulierte Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und ethischen Normen standen in diesem Kontext. (2) Adam Smiths Antwort auf diese Frage lief darauf hinaus, Eigeninteresse und Gemeinwohl in entstehenden Marktgesellschaften nicht als Gegensätze, sondern als komplementär miteinander verknüpft zu denken. Diese Synthese ergab sich für ihn aus der anthropologischen Anlage des Menschen – aus seiner Bedürftigkeit und Empathiekompetenz – sowie aus einem besonderen Rückkopplungseffekt, den die Allegorie der „invisible hand“ in ein suggestives Bild übersetzte. Gemeinwohl entstand also nicht, indem sich wirtschaftende Akteure an überkommenen ethischen Normen orientierten, sondern aus einer komplexen Kommunikation und Interaktion zwischen individuellen Akteuren, die ihrem Eigennutz folgten, in der überindividuellen Kombination jedoch dem Gemeinwohl nutzten. Allerdings blendete diese Konzeption das Gerechtigkeitsproblem in Konkurrenzgesellschaften aus, und es formulierte sehr hohe Erwartungen an die individuelle Sozialisation. John

 48 John Acton, Essays on Freedom and Power, hrsg. v. Gertrude Himmelfarb. Boston 1948, 364. 49 Vgl. Alan S. Kahan, Aristocratic Liberalism: The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill and Alexis de Tocqueville. Oxford 1992. 50 Vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001. 51 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. 1821, § 189.

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Stuart Mill dagegen reagierte mit seinem Versuch, die Prämissen der „political economy“ als ethisches Muster sozialer Ordnung neu zu formulieren, nicht mehr auf entstehende Marktgesellschaften, sondern auf die sozialen Folgekosten und Probleme einer vielfach etablierten und sich dynamisch entwickelnden Industriegesellschaft. Seine Neukonzeption formulierte er als ausgesprochene Ideologiekritik an der paternalistischen Prägung viktorianischer Philanthropie, an der durch sie vertieften sozio-kulturellen Segregation der englischen Gesellschaft und einer ausgesprochenen „culture of deference“, welche in seiner Sicht die Entmündigung der unteren Klassen fortsetzte. 52 Dieser falsch verstandenen Moralisierung sozialer Hilfe und dem whiggistischen Prinzip des „trust“, der Treuhänderschaft aristokratischer Eliten für die im Parlament nicht vertretenen Schichten, stellte er das Prinzip einer egalitären Interessenvertretung und einer meritokratischen Kooperative gegenüber.53 Den statisch-dogmatischen Utilitarismus der früheren Generation um Bentham und James Mill suchte er durch eine Verbindung zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl zu überwinden. Hier lag zugleich eine Kontinuität zwischen Smith und Mill. (3) Bemerkenswert an den hier skizzierten Positionen ist die relative Absenz des Staates. Bei Smith, Mill und auch bei Acton blieb der Staat auf wenige Funktionen beschränkt: die Sicherung stabiler Rahmenbedingungen für Infrastrukturen, für Währung und für das politische System. Als ethisch legitimierte Interventionsinstitution aber erschien der Staat keinesfalls. Bei Mill und Acton trat eher eine harsche Kritik am expandieren Staat und ein antietatistischer Grundzug hervor, der beide mit den zeitgenössischen Prämissen Alexis de Tocquevilles verband. Alle drei Autoren verband das Leitmotiv der Freiheitsgefährdung. Eine ethische Dimension des Staatshandelns, wie sie etwa von Hegel im Blick auf den preußischen Reformstaat zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert worden war, sucht man hier vergebens. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts dominierte noch lange Zeit das Vertrauen auf die Selbstregulation von Marktbeziehungen und die evolutionäre Fortentwicklung der parlamentarischen Repräsentation. Hier werden wesentliche Unterschiede zu Kontinentaleuropa erkennbar, die sowohl die deutsche Wahrnehmung des sogenannten Adam-Smith-Problems, also des Gegensatzes zwischen Moral und Ökonomie, als auch die relativ späte Hinwendung zum Interventions- und

 52 Vgl. David C. Moore, The Politics of Deference: A Study of the mid-nineteenth Century English Political System. Hassocks 1976, sowie Jörn Leonhard, Historik der Ungleichzeitigkeit: Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 7/2, 2009, 145-168. 53 Vgl. Andreas Wirsching, Popularität als Raison d’être: Identitätskrise und Parteiideologie der Whigs in England im frühen 19. Jahrhundert, in: Francia 17/3, 1990, 1-14, sowie Jörn Leonhard, True English Guelphs and Gibelines: Zum historischen Bedeutungs- und Funktionswandel von whig und tory im englischen Politikdiskurs seit dem 17. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 84/1, 2002, 175213.

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Ö KONOMIE UND Ö KONOMIE DER M ORAL | 87

Wohlfahrtsstaat in Großbritannien und in den USA im Zeichen des „New Liberalism“ und des „Progressive Movement“ mit erklären.54 (4) Das hier dargestellte Problem, die Spannung zwischen Modellen ökonomischen und ethischen Handelns, zwischen Interesse und Moral, „homo oeconomicus“ und „homo socialis“ verweist auf mindestens drei übergeordnete Komplexe: Erstens nahm die Krisenhaftigkeit von Erfahrungsumbrüchen seit dem 18. Jahrhundert erheblich zu und schlug sich gerade im Wandel von Theorien zu Moral und Ökonomie nieder. Die Entstehung von Eigentümer-, Markt- und Industriegesellschaften zwang dazu, den Zusammenhang von Eigeninteresse und Gemeinwohl immer neu auszutarieren. Aus diesen Prozessen resultierten, zweitens, steigende Machbarkeitsansprüche gegenüber Staat, Wirtschaft und Gesellschaft – Ansprüche, die sich vielfach gerade aus der Entstehung neuartiger Marktstrukturen für Güter, Arbeit, Dienstleistungen, für Kapital, aber auch für Informationen oder Meinungen ergaben. Zum steigenden Vertrauen in die Veränderbarkeit von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen trugen auch die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker zu Tage tretende mediale Integration von Gesellschaften und die Ausdifferenzierung politisch-sozialer Massenmärkte bei. Schließlich nahmen aber drittens angesichts der Vielfalt von politischen und sozialen Interessengegensätzen, der Komplexität von Problemen, der Beschleunigung von Krisen und der Vervielfältigung von Akteuren und Institutionen die realen Handlungsfreiheiten von Akteuren tendenziell ab. Das Dilemma moderner Industriegesellschaften entwickelte sich aus einer aporetischen Konstellation, an deren Beginn die Differenzierung der „political economy“ als einer Leitwissenschaft des langen 19. Jahrhunderts stand: Das Bekenntnis zum Ausgleich sozialer Konflikte und das Vertrauen in die mögliche Abmilderung sozialer Ungleichheit traf nämlich langfristig auf ein gleichzeitiges Auseinanderdriften von dynamischen Machbarkeitsansprüchen und faktisch abnehmender Handlungsfreiheit. Dieses Grundproblem wurde hinter der zeitgenössischen Debatte zum Verhältnis zwischen „homo oeconomicus“ und „homo socialis“ seit dem 18. Jahrhundert erkennbar, und es begleitet uns in immer neuen Konjunkturen bis in die Gegenwart.55

 54 Vgl. Jörn Leonhard, Progressive Politics and the Dilemma of Reform: German and American Liberalism in Comparison, 1880-1920, in: Maurizio Vaudagna (Hrsg.), The Place of Europe in American History: Twentieth Century Perspectives. Turin 2007, 115-132. 55 Vgl. etwa Birger P. Priddat, Moral und Ökonomie. Berlin 2005.

Die bleibende Bedeutung der Politischen Ökonomie von Adam Smith J OHANNES W ALLACHER

I. E INLEITUNG : ADAM S MITH UND Ö KONOM

ALS

M ORALPHILOSOPH

Wenn man nach dem Beitrag von Adam Smith (1723-1990) zur Ideengeschichte fragt, so findet vor allem seine erstmals 1776 erschienene „Untersuchung über die Natur und den Ursprung des Wohlstands der Nationen“, kurz „Wohlstand der Nationen“ (WN), Erwähnung. In keinem Überblick über die ökonomische Dogmengeschichte bzw. die „Klassiker des ökonomischen Denkens“ fehlt der Hinweis darauf, dass Smith damit den zentralen Beitrag zur Entwicklung der modernen Ökonomie als Wissenschaft mit eigenständiger Methode geliefert hat.1 Nicht selten wird Smith dabei auch als Ahnherr eines liberalen Minimalstaatskonzepts 2 sowie der Figur des eigennützigen Homo Oeconomicus3 gesehen. Smith zufolge mehre der freie Markt von sich aus den allgemeinen Wohlstand; der Eigennutz dominiere im wirtschaftlichen Leben alle anderen menschlichen Beweggründe, was den Wohlstand der Nationen steigere, ohne dass dies die einzelnen Akteure in ihren Handlungen eigentlich intendieren. Dazu wird in der Regel auf die wohl bekannteste Textstelle im 2. Kapitel des I. Buchs des WN verwiesen: „Nicht vom Wohlwollen

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Vgl. dazu etwa Gerhard Kolb, Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Dogmenhistorische Positionen des ökonomischen Denkens. München 1997; und besonders Joachim Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Band I und II. München 1989. Vgl. dazu z. B. Ulrich van Suntum, Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute. Berlin/Heidelberg 2005, 5: „Adam Smith stellte ihm [dem Merkantilismus, JW] das Konzept des wirtschaftlichen Liberalismus entgegen, welches vorwiegend dem freien Spiel der Marktkräfte vertraute.“ Vgl. dazu z. B. Albert Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt am Main 1987, 120 f.

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des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“4 Damit wird Smith bewusst oder unbewusst in der Tradition der ökonomischen Vertragstheorie von Thomas Hobbes (1588-1679) und der berühmten Bienenfabel des in London lebenden französisch-holländischen Arztes Bernand de Mandeville (1670-1733) gesehen. Die Deutung von Smith als geistigem Vorreiter eines einseitigen Wirtschaftsliberalismus, der den Eigennutz moralisch zur Tugend stilisiert, vernachlässigt jedoch, dass die ökonomischen Überlegungen von Smith vor dem Hintergrund seines Gesamtwerkes zu sehen sind. Denn Smith war zuallererst Moralphilosoph und als solcher legte er in seinem ersten Hauptwerk, der 1759 erstmals erschienenen „Theorie der moralischen Gefühle“ (TMG)5, ein umfassendes System der Moralphilosophie vor. Obwohl Smith seine Moraltheorie selbst als sein Hauptwerk ansah und sie bis kurz vor seinem Tode in sechs Auflagen immer wieder ergänzte und überarbeitete 6 , ist sie schon früh gegenüber dem WN in den Hintergrund getreten. Dies ist bis heute der Fall und zeigt sich etwa auch in den gegenwärtigen Debatten über das Verhältnis von Markt, Staat und Moral, die in Folge der anhaltenden globalen Finanz- und Wirtschaftskrise entbrannt sind. Dabei wird in öffentlichen Debatten gerne auf Adam Smith als Gründer der Ökonomie verwiesen, seine Moralphilosophie findet dabei jedoch kaum Beachtung, obwohl in Fachkreisen seit einiger Zeit ein verstärktes Interesse an eben jener Moraltheorie Smiths zu verzeichnen ist. Einige profilierte Ethiker7 und Öko-

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6 7

Vgl. hierzu wie auch für alle anderen Verweise auf den WN in diesem Beitrag: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, übers. u. hrsg. v. Horst Claus Recktenwald. München 1978, 17. Alle Verweise auf die TMG in diesem Beitrag beziehen sich auf die jüngste der drei deutschen Übersetzungen der Theorie von Walter Eckstein aus dem Jahre 1926 im unveränderten Nachdruck: Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, übers. u. hrsg. v. Walter Eckstein. Hamburg 1977. In Abweichung davon wird als Titel des Werks hier jedoch im Anschluss an Karl Graf Ballestrem, Adam Smith. München 2001, 59, „Theorie der moralischen Gefühle“ verwendet, da dieser eher dem Original (Theory of Moral Sentiments) entspricht. Vgl. dazu die Einleitung von Walter Eckstein in seiner deutschen Übersetzung der TMG: Smith, Theorie (wie Anm. 5), XXIII und XXXIV-LIII. Zu nennen ist hier vor allem Ernst Tugenhat, Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main 1993, besonders 282-309; sowie Friedo Ricken, Allgemeine Ethik. 3. erweiterte und überarbeitete Aufl. Stuttgart 1998, 149-155; oder Jerry Evensky, Adam Smith’s Moral Philosophy. Cambridge 2005.

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nomen8, die sich der normativen Prämissen der Wirtschaftstheorie bewusst sind, berufen sich explizit auf den Moralphilosophen Adam Smith. Außerdem sind in den letzten Jahren eine Fülle von interessanten Monographien und Sammelbänden erschienen, die Anhaltspunkte dafür geben, dass zwischen der Smithschen Moral-, Wirtschafts- und Staatstheorie ein enger Zusammenhang besteht und sich nur aus einer integrierten Betrachtung seines Gesamtwerks interessante wirtschaftsethische Erkenntnisse gewinnen lassen, die von bleibender Bedeutung auch für aktuelle Problemstellungen sind.9

II. D AS

MISSVERSTANDENE

ADAM -S MITH -P ROBLEM

Um dies zu erläutern, ist es hilfreich, zunächst das so genannte Adam-SmithProblem10 in den Blick zu nehmen. Dieses stellte sich in der Auseinandersetzung um das angemessene methodische Vorgehen der Nationalökonomie, dem so genannten Methodenstreit11, im deutschsprachigen Raum im ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen der historischen und neoklassischen Schule der Ökonomie. Im Kern ging es bei diesem Methodenstreit um die Frage, ob die Ökonomie als Wissenschaft die jeweiligen sozio-kulturellen Prägungen im historischen Ablauf berücksichtigen muss. Vertreter der Historischen Schule waren dieser Meinung und gingen daher empirisch-induktiv vor, um angemessene Aussagen über ökonomische Handlungszusammenhänge machen zu können. In scharfer Abgrenzung dazu erhob die Neoklassik den Anspruch, die Ökonomie als rein positive Theorie zu konzipieren, mit der auf der Basis einer formal-deduktiven Methode zeit- und kontextunabhängige Erkenntnisse gewonnen werden sollen. Im Rahmen dieses Streits stellte sich auch die Frage nach dem inneren Zusammenhang der beiden großen Werke von Adam Smith, da sich in der

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Hier ist vor allem Amartya Sen, der Nobelpreisträger für Ökonomie von 1998 zu nennen, der ganz wesentlich durch seine Frau, die Wirtschaftshistorikern Emma Rothschild, inspiriert wurde, das ethische Fundament und die kulturelle Sensibilität der Überlegungen von Smith für eine zeitgemäße Politische Ökonomie fruchtbar zu machen. Vgl. dazu etwa Amartya K. Sen, Ökonomie für den Menschen. München 2000, und Emma Rothschild, Economic Sentiments. Adam Smith, Condorcet and the Enlightenment. Cambridge 2001. 9 Beispielhaft sei hier verwiesen auf Arnold Meyer/Peter Ulrich (Hrsg.), Der andere Adam Smith. Beiträge zur Neubestimmung von Ökonomie als Politischer Ökonomie. Bern/Stuttgart 1991; Christel Fricke/Hans-Peter Schütt (Hrsg.), Adam Smith als Moralphilosoph. Berlin 2005; Samuel Fleischacker, On Adam Smith’s Wealth of Nations. A Philosophical Companion. Princeton 2004. 10 Z. B. Martin Patzen, Zur Diskussion des Adam-Smith-Problems – ein Überblick, in: Arnold Meyer-Faye/Peter Ulrich (Hrsg.), Der andere Adam Smith. Bern 1991, 21-54. 11 Vgl. zum Methodenstreit etwa Kolb, Geschichte (wie Anm. 1), 106-110.

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Argumentation der Vertreter der historischen Schule hier ein Widerspruch auftat. Die Historische Schule wandte sich einerseits dagegen, den menschlichen Eigennutz als das zentrale Gesetz der Ökonomie anzusehen, und verwies dabei ausdrücklich auf den Moralphilosophen Smith, der gleich im ersten Satz seiner TMG den Menschen als soziales und mitfühlendes Wesen einführe. Andererseits sah man im Autor des WN den Begründer der klassischen und damit auch den Wegbereiter der scharf kritisierten neoklassischen Wirtschaftstheorie, da Smith die menschliche Natur dort auf eigennütziges Verhalten reduziere und darauf seine ökonomische Theorie aufbaue. Im Laufe der Zeit gab es unterschiedlich akzentuierte Versuche, dieses Adam-Smith-Problem zu erklären und aufzulösen.12 Ein erster Ansatz betonte einen angeblichen Gesinnungswandel im Denken von Smith, der während eines längeren Frankreich-Aufenthaltes nach der Erstauflage der TMG unter dem Einfluss der französischen Physiokraten seine zentralen anthropologischen und ethischen Positionen revidiert habe. Diese „Umschwung-Theorie“ war allerdings leicht zu entkräften, da von einem solchen Gesinnungswandel in den späteren Auflagen der TMG, die weit nach Smiths FrankreichAufenthalt und der Veröffentlichung des WN erschienen sind, keine Rede sein kann. Eine bis heute gängige Interpretation, die auf H. T. Buckle in seinen Ausführungen über die Geschichte der Zivilisation in England von 1861 zurückgeht, verweist darauf, dass Smith in seinen beiden Hauptwerken menschliches Verhalten in unterschiedlichen sozialen Bezügen bzw. „Welten“ (Moral, Wirtschaft) untersuche und daher aus methodischen Gründen jeweils unterschiedliche, bewusst verkürzte anthropologische Annahmen verwende. Buckle zufolge habe sich Smith einer abstrakten Fiktion, einer Theorie des „alsob“ bedient, „indem er auf einem Gebiet, welches keine Experimente zulässt, und das infolge seiner großen Kompliziertheit auch kein eigentliches induktives Verfahren gestattet, eine Form der Deduktion angewendet habe, welche von einer künstlichen Trennung an sich untrennbarer Tatsachen ausgeht“.13 Viele Smith-Interpreten bezweifeln allerdings, dass diese Fiktions- oder Aspekttheorie, welche letztlich auch die neoklassische Wirtschaftstheorie für die Konstruktion ihrer Homo Oeconomicus-Annahme übernommen hat, dem Anliegen von Smith gerecht wird.14 Sie gehen vielmehr davon aus, dass die beiden Hauptwerke von Smith Teile eines schlüssigen Gesamtentwurfs darstellen, indem die TMG dem WN „nicht nur chronologisch, sondern auch systematisch voraus [geht]“15, auch wenn es in ihrer Zuordnung einige un-

 12 Vgl. dazu Patzen, Diskussion (wie Anm. 10), 25-27; sowie besonders Eckstein in der Einleitung zu Smith, Theorie (wie Anm. 5), LIII-LXVI. 13 Eckstein in ebd., LV (dies im Anschluss an H. T. Buckles zweitem Band seiner „Geschichte der Zivilisation in England“, deutsche Übersetzung von 1865). 14 Vgl. hierzu Reiner Manstetten, Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith. Freiburg 2000. 15 Patzen, Diskussion (wie Anm. 10), 28.

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übersehbare Schwierigkeiten gibt. Wie Walter Eckstein in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung der TMS hervorhebt, sind die beiden Hauptwerke von Smith „nach dem Bericht seiner Biographen doch Teile eines Kurses über Moralphilosophie gewesen“. Demzufolge wäre wohl für Smith „kaum einzusehen, wie sich die wirtschaftliche Welt von der Welt der Moral trennen ließe, da doch die letztere gar nicht anders gedacht werden kann, als das ganze Leben umfassend.“ 16 Die These eines inneren Zusammenhangs der moralphilosophischen und ökonomischen Überlegungen von Smith wird im Weiteren in drei Schritten eingehender entfaltet. Auf der Basis einiger Anmerkungen zum Theorieverständnis von Smith (III.) werden Grundzüge der Moralphilosophie von Adam Smith (IV.) skizziert, um dann auf dieser Basis das ethische Fundament der Politischen Ökonomie von Adam Smith zu erläutern (V.). Ein abschließendes Fazit (VI.) fasst die Überlegungen zusammen.

III. D AS V ERSTÄNDNIS VON W ISSENSCHAFT , IHRER AUFGABE UND M ETHODE BEI ADAM S MITH Den Hintergrund für das Werk von Smith bilden sein teleologisches Naturverständnis und der Deismus, eine Gottesvorstellung der schottischen Aufklärung.17 Smith war der festen Überzeugung, dass Welt und Kosmos ein zweckmäßig organisiertes Ganzes sind, das Ausdruck einer ordnenden Intelligenz eines guten Gottes ist. Die gesamte Natur und damit auch der Kosmos menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns sind auf ein Ziel hin ausgerichtet, nämlich dazu beizutragen, die Pläne, die „der Schöpfer der Natur zur Herbeiführung der Glückseligkeit und Vollkommenheit der Welt entworfen hat“ zu verwirklichen.18 Dies steht jedoch für Smith keineswegs im Widerspruch zur „natürlichen Freiheit des Menschen“, weil dieser gute Schöpfergott nicht in seine Schöpfung eingreift, sondern es dem Menschen selbst überlassen bleibt, die geordnete Struktur der Welt durch die Vernunft zu erkennen. Wenn man auf diesem Hintergrund nach Wegweisern für ein angemessenes Verständnis der beiden Smithschen Hauptwerke und ihrer Verbindung sucht, so lohnt ein Blick auf seine „Essays on Philosophical Subjects“ (EPS),

 16 Eckstein in der Einleitung zu Smith, Theorie (wie Anm. 5), LVI. 17 Eingehender zu den Grundzügen des deistischen Weltbildes von Smith siehe Martin Büscher, Gott und Markt – religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die „Invisible Hand“ in der säkularisierten Industriegesellschaft, in: MeyerFaye/Ulrich, Adam Smith (wie Anm. 10), 123-144, besonders 125-130. Hier wird auch deutlich, dass die berühmte und viel zitierte Metapher von der unsichtbaren Hand nicht losgelöst von der deistischen Vorstellung von Smith betrachtet werden kann. 18 Smith, Theorie (wie Anm. 5), 251.

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in denen Smith sein Verständnis von Wissenschaft umreißt. 19 Smith hatte ursprünglich die Absicht, nach der TMG und dem WN zwei weitere große Werke zu veröffentlichen, eines über die philosophische Geschichte aller Zweige der Wissenschaften, das andere zur Rechts- und Staatstheorie. Beide blieben unvollendet, und er ließ die Manuskripte kurz vor seinem Tod vernichten, weil er sie nach Inhalt und Form als unvollendet ansah. Nur wenige Manuskripte wurden, mit Zustimmung von Smith, vor der Verbrennung bewahrt und nach seinem Tod von Freunden als EPS und „Lectures on Jurisprudence“ (LoJ) herausgegeben. Aus den EPS geht ohne Zweifel hervor, dass Smith ein großer Bewunderer Newtons war und er sich dessen wissenschaftliche Methode zum Vorbild genommen hat, die auch in der Moralphilosophie – und dazu gehörte nach dem Verständnis von Smith auch die Politische Ökonomie – Anwendung finden sollte. Im ersten und wohl bedeutendsten der insgesamt sechs EPS, dem „Essay über die Geschichte der Astronomie“ 20 , beschreibt Smith nun sein Verständnis von Wissenschaft, ihrer Aufgabe und ihrer Methode. Smith selbst verwendet dabei – wie zu dieser Zeit durchaus üblich – die Begriffe Wissenschaft und Philosophie weitgehend synonym. Für ihn sind Philosophie und alle anderen Wissenschaften in einem gewissen Sinn gleichartige Unternehmungen, die alle das Ziel verfolgen, verschiedene Phänomene zu beobachten und dann kausale Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen. Dazu stellt er Prinzipien vor, „die jede philosophische Untersuchung ‚führen und leiten‘, und worin er die verschiedenen Kriterien darlegte, die eine gute wissenschaftliche Arbeit erfüllen muß“ 21 . Jede Philosophie beginnt damit nach klassischer Vorstellung mit dem Staunen und der Verwunderung, wozu auch das Unbehagen und die Verunsicherung gehören, wenn Menschen mit unbekannten Sachverhalten konfrontiert werden. Daraus entsteht ein Bedürfnis nach Erklärung, d. h. das Unbekannte mit etwas zu verknüpfen, was uns vertraut ist. Diesen Antrieb, inneres Unbehagen angesichts eines unbekannten Sachverhalts durch Klärung zu beseitigen, hat grundsätzlich jeder Mensch. Das methodische Bemühen des Wissenschaftlers zeichnet sich nun aber gerade dadurch aus, nicht nur einzelne Phänomene isoliert zu erklären, sondern nach allgemeinen Prinzipien zu suchen, die eine kausale Erklärung für die Verbindung eines weiten Spektrums von beobachteten Phänomenen liefern. Dementsprechend ist Philosophie für Smith „die Wissenschaft von den verbinden-

 19 Einschlägig dazu Andrew Stewart Skinner, Adam Smith: Philosophy and Science, in: Scottish Journal of Political Economy 19, 1972, 307-319, im Weiteren belegt nach der deutschen Übersetzung, in: Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), Ethik, Wirtschaft und Staat. Darmstadt 1985, 289-314. 20 In den anderen Essays widmet sich Smith der Geschichte der Physik, der Logik und Metaphysik, der gestaltenden Künste sowie der Musik und Literatur. 21 Skinner, Adam Smith (wie Anm. 19), 289.

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den Prinzipien der Natur“ (EPS, Astronomy II.12), deren Ziel es ist, die „Gelassenheit und Ruhe der Gedanken“ (EPS, Astronomy IV.13) herzustellen.22 Diese Gelassenheit wird jedoch nur dann erreicht, wenn die Prinzipien, die eine Theorie zur Erklärung heranzieht, möglichst plausibel, vertraut und in ihrer Zahl gering sind, und diese Theorie einen möglichst großen Bereich beobachtbarer Erscheinungen erklären kann. Sobald die Theorie zu komplex ist, um sie zu verstehen, oder nicht umfassend genug, um auch weitere (neue) Phänomene zu verstehen, sind wir abermals beunruhigt und unzufrieden und suchen nach einer einfacheren und besseren Erklärung. Die empirische Beobachtung wie die menschliche Vorstellungskraft (bzw. Abstraktion) besitzt damit für den Erkenntnisfortschritt eine gleichermaßen zentrale Bedeutung. Aufbauend auf den durch Beobachtung gewonnenen Daten kommt der Wissenschaftler Smith durch sein Vorstellungsvermögen zu einer Theorie, in der er diese Daten in einen konsistenten Erklärungszusammenhang bringen kann. Für Smith sind wissenschaftliche Theorien also vorgestellte Strukturen, die beobachtbare Phänomene und Ereignisse schlüssig miteinander verknüpfen. Wie Newton physikalische Phänomene mit möglichst wenig plausiblen Prinzipien konsistent erklärt, sucht Smith in ähnlicher Weise nach angemessen Prinzipien für die verschiedenen Sphären menschlichen Handelns. Ein Blick auf das methodische Vorgehen von Smith wäre unvollständig, ohne auf seine enge Verknüpfung von Theoriebildung und historischer Analyse hinzuweisen. Wie viele seiner Zeitgenossen hat er es für unerlässlich angesehen, die Denksysteme sowohl der Moralphilosophie als auch der Politischen Ökonomie im Zeitablauf zu reflektieren. Dies sei die Voraussetzung dafür, um verstehen zu können, warum diese in den jeweiligen historischen Zusammenhängen akzeptiert wurden, bei Bedarf aber auch weiterentwickelt werden mussten. Nur auf diese Weise könne man zu einem vertieften Verständnis gegenwärtiger Theorie gelangen. Und auch nur dann sei wissenschaftlicher Fortschritt möglich. Wenn nämlich bestehende Theorien neue Phänomene nicht mehr zufriedenstellend erklären können, könne jede Theorie durch eine andere ersetzt werden, vorausgesetzt letztere könne die Wirklichkeit besser erklären. Damit unterscheidet sich Smith in seinem methodischen Vorgehen sowohl von der historischen Schule als auch von der neoklassischen Wirtschaftstheorie, da er historisch-empirisches Vorgehen nicht gegen Theoriebildung ausspielt, sondern eine Vermittlung zwischen Erfahrung, Kontext und Abstraktion anstrebt. Sein Vorgehen ist daher kontextsensibel, was sowohl für seine ethische wie für seine ökonomische Theorie bedeutsam ist.

 22 Nach ebd., 294.

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IV. G RUNDZÜGE DER M ORALPHILOSOPHIE

VON

S MITH

Das allgemeine Prinzip der Moraltheorie von Smith ist die Sympathie, die er zunächst zur Beschreibung von Moralpraktiken verwendet, d. h. er erklärt auf der Basis der Sympathie wie Menschen das Verhalten und den Charakter anderer und ihrer selbst beurteilen.23 Die Sympathie ist jedoch – wie in mancher Deutung so auch im Kontext des Adam-Smith-Problems häufig missverstanden – keine altruistische Haltung. Smith meint damit vielmehr eine elementare menschliche Reaktion, nämlich die Fähigkeit, an jeder Art von Affekten teilnehmen zu können. Dieses Vermögen wird also formal und nicht inhaltlich bestimmt. Die Motivation dafür ergibt sich für Smith aus der Sozialnatur des Menschen und dem Bedürfnis zu interagieren, und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch affektiv. Da wir freilich die Affekte anderer nicht unmittelbar erfahren können, müssen wir uns dazu von unserer eigenen Position entfernen und mittels unserer Einbildungskraft in die Lage des Gegenübers versetzen. Auf diese Weise können wir uns vorstellen, was wir in der gegebenen Situation empfinden würden. Es reicht also nicht aus, bloß das Gefühl der anderen Person zu betrachten, sondern es sind auch die Umstände und Ursachen zu erfassen, die diesen Gefühlsausdruck auslösen. Deshalb können wir sympathetische Gefühle haben, ohne dass der Betroffene Empfindungen zeigt, wenn sich z. B. jemand heftig den Kopf anstößt, was offensichtlich sehr schmerzhaft ist, der Betroffene dabei aber keinen Schmerz zeigt. Da Sympathie wesentlich auf der menschlichen Vorstellungskraft beruht und ein reflexives Moment erfordert, ist eine sympathetische Anteilnahme selbst am Schicksal räumlich weit entfernter Menschen möglich; es handelt sich also um eine Disposition mit prinzipiell universaler Reichweite. Das gleiche gilt grundsätzlich für Menschen, die zeitlich vor uns gelebt haben (historische Personen, denen Unrecht widerfahren ist) wie auch für Angehörige zukünftiger Generationen. Die Sympathie dient jedoch nicht nur dazu, die gefühlsmäßige Interaktion zu beschreiben. Smith will daraus überdies ein Kriterium zur Beurteilung von Gefühlen und letztlich auch von Haltungen und Handlungen gewinnen. Wenn der Zuschauer mit dem Gefühlsausdruck des Betroffenen sympathisiert, d. h. wenn Mitgefühl des Zuschauers und affektive Reaktion des Betroffenen übereinstimmen, dann ist in dieser Übereinstimmung auch ein Urteil darüber enthalten, dass der Zuschauer die gefühlsmäßige Reaktion des Betroffenen für angemessen hält und damit auch sein Verhalten billigt. Weicht das Mitgefühl des Zuschauers dagegen vom Affekt des Betroffenen ab, so kommt es zur Missbilligung, weil er seine gefühlsmäßige Reaktion für über- oder untertrie-

 23 Dies zeigt sich ganz deutlich am Untertitel der TMG: „Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen“.

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ben hält. Dabei lassen sich unterschiedliche Dimensionen moralischen Urteilens unterscheiden.24 Die erste Dimension, Smith selbst spricht auch von „erster Instanz“, geht auf das Bedürfnis nach wechselseitiger Sympathie und Billigung zurück. Smith zufolge haben die Menschen ein ursprüngliches Verlangen danach, dass ihre Gefühle von anderen geteilt werden, da dies den Kummer erleichtert und die Freude verstärkt. Voraussetzung für die wechselseitige Sympathie ist, dass beide Seiten ihre Gefühle so anpassen, dass eine Übereinstimmung überhaupt möglich wird. Der Zuschauer muss eine Sensibilität für die Gefühle anderer entwickeln, umgekehrt kann der Betroffene vom Zuschauer nicht erwarten, dass dieser seine eigenen Gefühle in der gleichen Intensität mitfühlt. Deshalb muss der oder die Betroffene das eigene Gefühl so mäßigen, dass der Zuschauer überhaupt in der Lage ist, sein Gefühl nachzuempfinden. Dafür ist es notwendig, dass sich auch der Betroffene von seinem Standpunkt entfernt und einen überpersönlichen Standpunkt einnimmt. Nur durch diesen reziproken Rollentausch ist es also möglich, dass der Zuschauer mit dem Betroffenen sympathisiert und umgekehrt. Grundlage für eine solche affektive Offenheit für andere sind für Smith die grundlegenden Tugenden der Selbstbeherrschung – zur Mäßigung der eigenen Gefühle – und der Sensibilität für andere. Diese beiden Tugenden sind, wie Ernst Tugendhat in überzeugender Weise herausarbeitet 25 , „Haltungen der intersubjektiven Offenheit“, die ein Grundprinzip einer universalistischen Moral darstellen. Der überpersönliche Standpunkt auf dieser „ersten Instanz“ wird für Smith durch reale Zuschauer repräsentiert. Auf dieser Ebene gleichen Menschen ihre moralischen Gefühle kontinuierlich miteinander ab und bewerten je nach Übereinstimmung ihr Verhalten wechselseitig. Dabei reflektieren die entsprechenden Urteile vor allem den Kontext der in einer bestimmten Moralgemeinschaft vorherrschenden Überzeugungen. Um den Anspruch auf Unparteilichkeit einlösen zu können, braucht es allerdings zusätzlich eine „zweite Instanz“, die sich nicht an der „moralischen Bestätigung der Gesellschaft“ bemisst und nicht auf das Bedürfnis nach Billigung, sondern auf das intrinsische Bedürfnis nach Billigungswürdigkeit zurückgeht. Smith erläutert diesen Unterschied im dritten Teil der TMG in einem langen Diskurs über den Unterschied zwischen dem „Verlangen nach Lob und nach Lobenswürdigkeit“. Für ein wirklich unparteiisches Urteil sind die im Kontext der bestehenden Moralgemeinschaft begründeten Urteile der „ersten Instanz“ kritisch zu prüfen und zu hinterfragen. Dafür können nicht mehr die Meinungen von realen Zuschauern („äußeren Menschen“) der Maßstab sein, sondern es bedarf einer weiteren Veränderung des Standorts, um wirklich unabhängig von der „Gefahr der Parteilichkeit“ der sozialen Umwelt zu werden. Man benötigt hierzu

 24 Vgl. Carola von Villiez, Sympathetische Unparteilichkeit: Adam Smiths moralischer Kontextualismus, in: Fricke/Schütt (Hrsg.), Adam Smith (wie Anm. 9), 6487, bes. 68-74. 25 Vgl. dazu Tugendhat, Vorlesungen (wie Anm. 7), bes. 292-299.

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den „vorgestellten unparteiischen Zuschauer“, der wohl informiert unter Erfassung aller Interessen der von einer Handlung Betroffenen ein objektives Urteil fällt. Mit dieser Figur des vorgestellten unparteiischen Zuschauers legt Smith die Grundlagen für einen Universalisierungsgrundsatz, auf den auch der kategorische Imperativ von Kant und die daran anknüpfende Tradition der Vernunftethik bauen, auch wenn hier sehr stark von Kontexten abstrahiert wird. Smith selbst liefert keine eigene normative Begründung dafür, warum der Mensch einen solchen Standpunkt der Unparteilichkeit einnehmen soll. Aufgrund seines deistischen Gottesbildes hält er dies vermutlich auch nicht für notwendig. Wenn die Natur „von der Weisheit Gottes“ nach vernünftigen Prinzipien geordnet und damit in guten Händen ist, ist es für Smith sinnvoll, ja sogar Pflicht, ihre Gesetze zu erkennen und zu befolgen. Auch wenn damit aus der Perspektive moderner Ethik die Notwendigkeit deutlich wird, die Moraltheorie von Smith durch eine Begründung der Universalisierungsregel zu ergänzen, so finden sich im moralischen Kontextualismus von Smith doch wichtige Grundgedanken, die dieses Konzept auch für aktuelle ethische Fragestellungen, gerade im Kontext der Globalisierung sehr interessant machen. Die Smithsche Konzeption eines Moralprinzips, das sich am Anspruch einer universalen Unparteilichkeit orientiert, gleichzeitig aber rückgebunden ist an die moralischen Gefühle und den sozialen Kontext der betreffenden Akteure, ist genau darum interkulturell gut vermittelbar und hat eine hohe Motivationskraft. Smith verbindet mit dem Urteil des „unparteiischen Zuschauers“ die Vorstellung sittlicher Vollkommenheit, räumt aber gleichzeitig ein, dass dieser Idealzustand faktisch wohl selten erreicht wird, so dass wir – wie von Smith selbst formuliert – für unsere Urteile zweierlei Maßstäbe heranziehen und miteinander vergleichen: nämlich zum einen „die Vorstellung genauer sittlicher Richtigkeit und Vollkommenheit“, soweit jeder einzelne von uns eben fähig ist, diese Vorstellung überhaupt zu fassen; der andere Maßstab ist jener Grad der Annäherung an diese Vorstellung, der „gewöhnlich in der Welt erreicht wird“ (TMG, 417). Der zweite Maßstab, die moralischen Urteile der ersten Instanz, nähert sich dem Idealzustand in dem Maße an, in dem der reziproke Rollentausch realer Akteure und Zuschauer kontinuierlich eingeübt und vollzogen und damit ein fortschreitender Grad an Unparteilichkeit erreicht wird. In diesem Sinne könnte man das prozedurale Vorgehen von Smith durchaus auch im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts zwischen moralischen Intuitionen und rationalem Urteil interpretieren.26 Indem moralische Gefühle auf metho-

 26 Carola von Villiez, Kontextualismus (wie Anm. 24), macht den Vorschlag, das Vorgehen von Smith im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts zu deuten, betont aber gleichzeitig, dass es erhebliche methodische Unterschiede zur Konzeption von John Rawls gibt, der die Idee des Überlegungsgleichgewichts ausdrücklich einführt. So betont von Villiez zu Recht, dass die Motive der Akteure, „sich in mo-

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discher Ebene in das Verfahren zur Begründung von Normen miteinbezogen werden, nimmt die Konzeption Moral als Phänomen ernst, das sowohl historisch wie kulturell geprägt ist, ohne damit die moralischen Intuitionen einer bestehenden Moralgemeinschaft einfach als gerechtfertigt anzusehen. Dazu müssen sie durch eine „zweiten Instanz“ auf Unparteilichkeit hin überprüft werden. Auch Ernst Tugendhat hebt die Bedeutung von Smith für eine kontextsensible Ethik hervor, indem Smith die „Fähigkeit des affektiven Einschwingens“ mit einer Universalisierungsregel verbinde. 27 Tugendhat lässt dies Smith selbst in einem fiktiven Dialog mit Kantianern und Utilitaristen an folgendem anschaulichen Bild erläutern: 28 „’Ihr’, so könnte er [Smith, JW] den Kantianern und Utilitaristen entgegenhalten, seht die Menschen in ihrem Verhältnis zueinander wie in ihren Rüstungen eingeschlossene Ritter; die Moral besteht dann nur darin, daß kein Ritter den anderen schädigen soll (negative Pflichten) und daß er sich auch um die Interessen der anderen kümmern soll (positive Pflichten), aber das heißt doch nur, daß jeder nach Bedarf durch die Schlitze in seiner Richtung den anderen seine guten Dienste zuschieben soll. Ist es denn nicht aber so, daß wir in unserem faktischen alltäglichen moralischen Bewußtsein mehr voneinander erwarten? Erwarten wir nicht, dass wir unser Visier öffnen und, statt uns nur Güter zuzuschieben und vor Schaden zu schützen, aufeinander eingehen sollen? Was aber heißt aufeinander eingehen anderes als affektives Teilnehmen?“

V. D AS NORMATIVE F UNDAMENT Ö KONOMIE VON S MITH

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1. Arbeitsteilung als Grundprinzip der Ökonomie Das allgemeine Prinzip der ökonomischen Theorie von Smith ist das der Arbeitsteilung. Dementsprechend beginnt Smith den WN damit, die Arbeitsteilung, ihre Bedeutung und ihren Ursprung zu erläutern. Die Trennung der Produktion in getrennte Arbeitsgänge ist, wie Smith am Beispiel der Herstellung von Stecknadeln zeigt, die Grundlage für die Spezialisierung und damit die Steigerung der Produktivität menschlicher Arbeit, was für Smith die Quelle des Wohlstands der Nationen ist. Die Arbeitsteilung ist auch die Voraussetzung für technologischen Fortschritt, da erst die Beschränkung auf wenige

 ralischen Entscheidungskontexten auf einen komplexen Rollentausch einzulassen“ (85), in beiden Konzepten sehr unterschiedlich sind. Während bei Smith das Bedürfnis nach Gemeinschaft und affektiver Kommunikation im Vordergrund steht, ist es bei Rawls das Eigeninteresse der Akteure. 27 Tugendhat, Vorlesungen (wie Anm. 7). 28 Ebd., 295. Hervorhebung im Original.

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Arbeitstätigkeiten den Einsatz geeigneter Maschinen ermöglicht und entsprechende Anreize zur Erfindung solcher Maschinen gibt. Smith betont sodann, dass der Umfang der Arbeitsteilung von der Marktgröße abhängig ist. Nur eine ausreichende Marktgröße ermöglicht entsprechende Skalenerträge und gibt Anreize für die Spezialisierung, so dass es darauf ankommt, die Marktgröße zu erweitern, z. B. durch den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Wasserwege). Mit dem gleichen Argument begründet Smith im IV. Buch des WN auch seine klassische Welthandelstheorie, die auf dem Theorem der absoluten Kostenvorteile und damit auf den Produktivitätsunterschieden zwischen Ländern basiert. Danach bringt es allen Ländern erhebliche, wenn auch nicht gleiche Vorteile, wenn sie im Rahmen einer internationalen Arbeitsteilung ihre spezifischen Standort- und Produktivitätsvorteile ausnützen, Zollschranken abbauen und sich am freien Güteraustausch beteiligen. Damit wird ganz deutlich, dass sich das Verständnis von Gesellschaft und Wirtschaft fundamental von früheren Konzeptionen, etwa antiken, unterscheidet. Während etwa Aristoteles, bei dem sich erste Überlegungen zur Wirtschaftstheorie finden und auf den der Begriff der Ökonomie zurückgeht, explizit vom Ideal der Autarkie ausgeht29, sieht Smith nun die Arbeitsteilung als Grundlage für die Produktivität und ökonomisches Wohlergehen an. Folge davon ist, dass die Menschen ungleich stärker voneinander abhängig werden, so dass arbeitsteilige Gesellschaften auch entsprechend angemessene Formen der Interaktion brauchen. 2. Smith als Vorreiter des Homo Oeconomicus? Vor diesem Hintergrund untersucht Smith, was der Arbeitsteilung zugrunde liegt. Für Smith ist die Arbeitsteilung „in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand […] voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig […] aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen.“30 Die „Neigung zum Tausch“ ist für Smith eine ebenso elementare menschliche Disposition wie das Sympathievermögen. Damit stellt sich die Frage nach der Verbindung zwischen Arbeitsteilung und Sympathie, den beiden zentralen Prinzipien der ökonomischen und ethischen Theorie von Smith. Er selbst verwendet den Begriff der Sympathie im WN kein einziges Mal, was wesentlich dazu beigetragen hat, eine Kluft zwischen beiden Werken anzunehmen. Bei näherer Betrachtung gibt es jedoch einige implizite Verbindungen. Für Smith selbst ist die Neigung des Menschen zum Tausch eine „notwendige Folge der menschlichen Fähigkeit, den-

 29 Einen guten Überblick über die Wirtschaftslehren des Aristoteles gibt etwa Bertram Schefold, Platon und Aristoteles, in: Joachim Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Band I. München 1989, 19-55. 30 Smith, Wohlstand (wie Anm. 4), 16.

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ken und sprechen zu können“ 31 . Diesen Grundgedanken führt er im Text nicht weiter aus. Karl Graf Ballestrem verweist diesbezüglich jedoch auf Smiths Vorlesungen über Rechtsphilosophie, die er in Glasgow gehalten hat und die als Fragmente seiner geplanten Rechtsphilosophie posthum als „Lectures on Jurisprudence“ (LJ) veröffentlicht wurden. 32 Darin wird deutlich, dass Tauschen für Smith untrennbar mit Überzeugen verbunden ist. Wenn jemand einen Schilling bietet, so heißt es, „bietet er in Wirklichkeit ein Argument an, um einen anderen davon zu überzeugen, dass es in dessen Interesse sei, dem eigenen Vorschlag zu folgen“ (LJ vi.56). Dies setzt freilich die Fähigkeit voraus, sich in die Situation anderer zu versetzen und ihre Interessen mit den eigenen abzustimmen – ein klarer Bezug zum reziproken Rollentausch und zur Sympathie. Smith zufolge sind zwei unterschiedliche Formen der Interaktion als Antwort auf die wechselseitigen Abhängigkeiten möglich, die sich ihrerseits aus der Arbeitsteilung ergeben. Dies ist zum einen die ständige Abhängigkeit vom Wohlwollen der Mitmenschen, was für Smith weder mit der Würde des Menschen vereinbar noch für eine arbeitsteilige Gesellschaft effizient ist. Smith bevorzugt demgegenüber den Tausch als Form gegenseitigen Übereinkommens, was untrennbar mit dem Sympathievermögen verknüpft ist. Dies zeigt auch die Passage, die unmittelbar vor dem eingangs erwähnten und meist zitierten Satz von Smith steht und diesen in ein ganz anderes Licht rückt. „Jeder, der einem anderen irgendeinen Tausch anbietet, schlägt vor: Gib mir, was ich wünsche, und Du bekommst, was Du benötigst. Das ist stets der Sinn eines solchen Angebotes, und auf diese Weise erhalten wir nahezu alle guten Dienste, auf die wir angewiesen sind.“33 Smith versteht Tauschbeziehungen demnach ganz wesentlich als Systeme der sozialen Kommunikation, in denen jeder von seinem Recht Gebrauch machen kann, den anderen vom Wert seines Angebots (von Waren, Arbeit oder Kapital) zu überzeugen.34 Die marktmäßige Koordination über Angebot und Nachfrage, vermittelt über Konkurrenz und Wettbewerb, kann in komplexen arbeitsteiligen Marktgesellschaften dann als Abstraktion und partielles Substitut einer Verständigung mit dem Tauschpartner interpretiert werden. Ballestrem35 folgert daraus, dass für Smith Kommunikation und Konkurrenz und nicht, wie häufig unterstellt, Eigennutz und Konkurrenz die konstitutiven Merkmale arbeitsteiliger Marktwirtschaften sind. Das bedeutet freilich nicht, dass Smith das Eigeninteresse im wirtschaftlichen Handeln nicht für ein wich-

 31 32 33 34

Ebd. Ballestrem, Adam Smith (wie Anm. 5), 145 f. Vgl. Smith, Wohlstand (wie Anm. 4), 17. Zu der Deutung von „wirtschaftlichen Tauschbeziehungen als Sonderform der sozialen Kommunikation“ vgl. auch Patzen, Diskussion (wie Anm. 10), 40 ff., im Anschluss an Diedrich Lange, Zur sozialphilosophischen Gestalt der Marktwirtschaftstheorie bei Adam Smith. München 1983, 44-51. 35 Ballestrem, Adam Smith (wie Anm. 5), 146.

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tiges Handlungsmotiv hält, das positive Wirkungen auf den allgemeinen Wohlstand haben kann. Allerdings geht aus der TMG vor allem im III. Teil, 3. bis 5. Kapitel, unzweifelhaft hervor, dass er dieses Eigennutzstreben nur dann für moralisch gerechtfertigt hält, sofern dadurch die legitimen Interessen der anderen nicht beeinträchtigt werden. „Wenn freilich das Glück oder Unglück anderer in keiner Beziehung von unserem Betragen abhängig ist, wenn unsere Interessen von den ihrigen ganz und gar getrennt und abgesondert sind, so daß keinerlei Zusammenhang oder Widerstreit zwischen beiden stattfindet, dann halten wir es nicht immer für notwendig, unserer natürlichen, aber vielleicht unschönen Besorgnis um unsere eigenen Angelegenheiten Einhalt zu tun, und wir tragen keine Bedenken, uns unserer ebenso natürlichen und vielleicht ebenso unschönen Gleichgültigkeit gegenüber den Angelegenheiten anderer Menschen zu überlassen.“36 Wenn man die beiden Hauptwerke von Smith unter dieser Rücksicht betrachtet, wird deutlich, dass er ein sehr differenziertes System mit verschiedenen, wechselseitig aufeinander bezogenen Mechanismen vorsieht, die dazu dienen, den Eigennutz in angemessener Weise einzugrenzen bzw. in eine gemeinwohlverträgliche Richtung zu lenken.37 Im WN betont Smith in der Auseinandersetzung mit den Merkantilisten und den Monopolisten besonders den Wettbewerb als Mittel zur Kontrolle von ungezügeltem Eigeninteresse und wirtschaftlicher Macht. Alle Marktteilnehmer müssten nämlich im wirtschaftlichen Wettstreit immer mit anderen um bestmögliche Lösungen konkurrieren und sich daher ihre Position immer wieder durch Leistung und Innovationen verdienen. Daraus darf allerdings nicht der voreilige Schluss gezogen werden, dass Smith allein auf die „unsichtbare Hand“ des Wettbewerbs vertraut. Er sieht vielmehr weitere Kontrollinstanzen für den Eigennutz vor, die sich vor allem aus der TMG erschließen. Grundlage dafür ist das ethische Urteilsvermögen jeder einzelnen Person, das auf der Sympathie und dem Moralprinzip des unparteiischen und wohl informierten Zuschauers aufbaut. Smith selbst räumt freilich ein, dass das individuelle Urteilsvermögen allein zu schwach ist, um den Eigennutz im Wettbewerb eingrenzen zu können, so dass es unterstützend dazu allgemeine Regeln der Sittlichkeit braucht, nach denen die einzelnen Akteure ihre Handlungen ausrichten. Dabei handelt es sich um moralische Konventionen, die sich im Laufe der Zeit ändern können und für die es informelle Sanktionsmechanismen wie öffentliche Missbilligung gibt. Smith ist sich im Klaren darüber, dass zusätzlich dazu auch ein System positiver und durchsetzbarer Gesetze notwendig ist, um das Streben nach Eigennutz, Prestige und Macht wirksam kontrollieren zu können.

 36 Vgl. dazu besonders Smith, Theorie (wie Anm. 5), 205 f. (III. Teil, 3. Kapitel). 37 Vgl. dazu z.B. Horst Claus Recktenwald, Adam Smith, in: Starbatty, Klassiker (wie Anm. 29), 134-155, bes. 139-143, oder Patzen, Diskussion (wie Anm. 10), 44-47.

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Gleichzeitig betont er jedoch, dass die Gesamtheit dieser Gesetze, die man heute als Ordnungsrahmen bezeichnet, ganz wesentlich von den allgemeinen Regeln der Sittlichkeit und diese wiederum von der individuellen Moral geprägt und jeweils umgekehrt durch diese zu ergänzen sind. So sind Regeln seiner Ansicht nach „in vielen Beziehungen unbestimmt und ungenau, sie lassen viele Ausnahmen zu und erfordern so viele Modifikationen, daß es uns kaum möglich ist, unser Verhalten ganz und gar durch die Rücksicht auf sie zu bestimmen und einzurichten.“38 Prüfinstanz für die individuelle Moral wie für die verschiedenen Formen von Regeln bleibt immer der vorgestellte unparteiische Beobachter. Smith bietet damit, was die Zuordnung und wechselseitige Verknüpfung von Individual- und Institutionenethik angeht, einen Rahmen, der weit differenzierter ist als die gängige Unterscheidung zwischen individueller Verantwortung und ordnungspolitischen Strukturen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise, die für die einen primär auf individuelles Fehlverhalten („Gier“) von Finanzmarktakteuren, für die anderen auf strukturelle Defizite der Finanzordnung zurückzuführen ist. Dabei wird freilich oft vernachlässigt, dass beide Aspekte kaum unabhängig voneinander zu betrachten sind, zumal sie jeweils von bestimmten gesellschaftlichen Leitbildern (wie z. B. dem Grundsatz des „share-holder-value“) mitbestimmt werden. 3. Smith als Vorreiter des Wirtschaftsliberalismus? Die Bedeutung, die Smith den mit staatlicher Zwangsgewalt durchsetzbaren Gesetzen zur Kontrolle des Eigeninteresses beimisst, verweist bereits darauf, dass man Smith wohl kaum als Vorreiter eines „Laissez-faire“-Kapitalismus ansehen kann. Dies wird noch deutlicher, wenn man das V. Buch des WN genauer betrachtet, wo er seine Auffassung von Politischer Ökonomie einschließlich der Aufgaben des Staates wie der entsprechenden Staatsfinanzierung beschreibt. Der Staat hat für Smith weitreichende Verantwortung für die Bereitstellung und den Schutz öffentlicher Güter. Dazu gehören für ihn nicht nur die Sicherung nach außen (Landesverteidigung) und nach innen (Justizwesen zur Sicherung von Eigentumsrechten), die beiden klassischen Aufgaben wirtschaftsliberaler Staatskonzepte, sondern auch die staatliche Verantwortung für öffentliche Einrichtungen und Infrastruktur (Verkehrswege, Post), allen voran für ein flächendeckendes System von Bildung in einem umfassenden Sinne für die breite Bevölkerung, in erster Linie für die Jugend. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich ein unverkennbarer Bezug zu Smiths ethischer Theorie. Das Gemeinwesen sollte sich Smith zufolge deshalb um eine umfassende Bildung der Bürger kümmern, weil die fortschreitende Arbeitsteilung zwar die Grundlage für den allgemeinen Wohlstand schafft, umgekehrt aber auch unübersehbare negative Rückwirkungen auf die

 38 Smith, Theorie (wie Anm. 5), 265 (III. Teil, 6. Kapitel).

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Gesellschaft hat. Die zunehmende Spezialisierung im Zuge der Arbeitsteilung gehe nämlich zu Lasten der geistigen und sozialen Fähigkeiten der Arbeiter und Arbeiterinnen. Smith sorgt sich besonders darum, dass die Menschen dadurch in ihren „differenzierten Empfindungen abstumpfen“ und ihre „gesunde Urteilskraft verlieren“39. Damit spielt er unmittelbar auf das mehrfach erwähnte Sympathievermögen an, ohne es freilich explizit zu benennen. Um diesen Gefahren entgegenzuwirken, sieht Smith den Staat in der Pflicht, ein flächendeckendes System der Grundbildung für alle Jugendlichen der einfachen Bevölkerung und die Möglichkeit zu Studien der Naturwissenschaften und Philosophie für Angehörige mittlerer und oberer Schichten zu schaffen. In der TMG weist er im 2. Kapitel des abschließenden VI. Teils, wo es noch einmal um die Bedeutung der Tugenden geht, ausdrücklich auch darauf hin, dass möglichst viele Bürger und nicht nur die Politiker „civil virtues“ brauchen, damit in einer Gesellschaft nicht nur der „commercial spirit“ dominiere.

VI. F AZIT Das Adam-Smith-Problem hat für Smith selbst wohl kein wirkliches Problem dargestellt. Zwar wäre es verfehlt, Moraltheorie und Politische Ökonomie von Smith als vollständig konsistent aufeinander abgestimmte Theorien zu deuten – was auch daran liegt, dass Smith, wie es etwa Ernst Tugendhat formuliert, v. a. die TMG „systematisch nicht besonders befriedigend aufgebaut“40 hat. Ungeachtet dessen gibt es aber dennoch unverkennbare Bezüge und wechselseitige Ergänzungen zwischen beiden Hauptwerken, die es rechtfertigen, einen inneren Zusammenhang zu sehen und Smith als einen Vertreter der Politischen Ökonomie zu interpretieren, der seine ökonomischen Überlegungen eng mit normativen Aspekten verknüpft – und zwar auf eine Weise, die auch heute wichtige Anregungen geben kann. Hier ist vor allem sein methodisches Bemühen um die Verbindung von empirischer Beobachtung und Theoriebildung sowie die Einbeziehung der jeweiligen partikularen Kontexte für universal gültige Aussagen zu nennen. In der gegenwärtigen Moralphilosophie kann dies fruchtbar gemacht werden für die Partikularismus-Universalimus-Debatte41, um das grundsätzliche Dilemma zwischen partikulären und universalen Begründungen zu entschärfen. Partikulare Vorstellungen sind konkreter und in den jeweiligen Lebenskontexten verwurzelt, allerdings ist ihre Reichweite in der Regel geringer. Umgekehrt sind allgemeine, universale Vorstellungen oft erfahrungsferner und daher von geringerer Bindungs- und Motivationskraft. Daher ist es nötig,

 39 Smith, Wohlstand (wie Anm. 4), 662. 40 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen (wie Anm. 7), 283. 41 Vgl. dazu z. B. Peter Rottländer, Ethische Rechtfertigung weltweiter Solidarität, in: Norbert Brieskorn (Hrsg.), Globale Solidarität. Stuttgart u. a. 1997, 117-154, bes. 134-142.

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beide Aspekte miteinander zu verbinden, wofür die Konzeption von Smith einige Anknüpfungspunkte liefern kann. Dies gilt auch für die Debatte um das Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur, die in den Wirtschaftswissenschaften seit einigen Jahren wieder verstärkt geführt wird und Ausdruck dafür ist, dass der eingangs erwähnte Methodenstreit nicht abschließend entschieden ist.42 Smith als einer der Gründerväter der modernen Ökonomie hat von Anfang an das Bewusstsein dafür geschärft, dass wirtschaftliches Handeln wie alles menschliche Tun immer auch kulturell geprägt ist. Menschen wirtschaften nie in abstrakten, sondern immer in konkreten Gesellschaften mit bestimmten sozio-kulturellen Merkmalen. Die lange vorherrschende ökonomische Standardlehre der Neoklassik hat dies lange Zeit systematisch ausgeklammert, so dass sie Phänomene wie kulturell unterschiedlich geprägte Wirtschaftssysteme nicht angemessen erfassen konnte. Dieser Mangel wurde besonders evident, als es darum ging, die heutige Vielfalt der wirtschaftlichen Systeme oder die äußerst unterschiedlichen Entwicklungsverläufe, etwa zwischen afrikanischen und asiatischen Ländern, zu erklären. Daher hat inzwischen ein Umdenken eingesetzt, und dem Verhältnis von Ökonomie und Kultur in seinen wechselseitigen Bezügen wird seitens der Ökonomen wieder mehr Beachtung geschenkt. Das methodische Vorgehen von Smith kann dabei helfen, diese Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, ohne von dem einen Extrem, der Kulturvergessenheit der Ökonomie, in das andere, einen kulturellen Determinismus, und damit „vom Regen in die Traufe“ (A. Sen) zu fallen.43 Smith favorisiert weder den Eigennutz noch den Altruismus. Er geht von einem realistischen Bild des Menschen aus, das ein weites Spektrum menschlicher Dispositionen einbezieht (altruistisch-eigeninteressiert, affektiv-reflektiv); die Sozialität des Menschen und sein Bedürfnis nach Kommunikation spielen in der moralischen wie wirtschaftlichen Verständigung jeweils eine zentrale Rolle. Auf dieser Basis versucht er, eine Antwort auf eine Grundfrage zu geben, die sein Gesamtwerk verbindet: Wie nämlich eine gesellschaftliche Interaktion freier Individuen in arbeitsteiligen Gesellschaften möglich ist, in der das private Interesse der einzelnen Bürger untrennbar mit dem Gemeinwohl verbunden und von diesem abhängig ist. Dies ist nach wie vor eine höchst aktuelle Fragestellung, und dazu kann das Gesamtwerk von Adam Smith auch heute wichtige Impulse liefern.

 42 Vgl. zur Einführung den Sammelband Johannes Wallacher/Karoline Scharpenseel/Matthias Kiefer (Hrsg.), Kultur und Ökonomie. Stuttgart u. a. 2008. 43 Vgl. dazu den für diese Thematik bahnbrechenden Beitrag von Amartya Sen, How does Culture Matter, in: Vijayendra Rao/Michael Walton (Eds.), Culture and Public Action. Stanford 2004, 37-58. In diesem Beitrag, der inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt (in: Mi-Yong Lee-Peuker u. a. (Hrsg.), Kultur-Ökonomie-Ethik. München/Mering 2007, 26-61), verweist Sen mehrfach ausdrücklich auf Adam Smith.

Liberale Moraldebatten in modernen Marktgesellschaften: John Rawls und sein intellektuelles Umfeld1 W ALTER R EESE -S CHÄFER

I. E INE REIN POLITISCHE K ONZEPTION Z USAMMENLEBENS

DES

Der politische Liberalismus von John Rawls kann als Versuch angesehen werden, unter Verzicht auf umfassende, seien es ökonomische, politische oder religiöse Weltanschauungen zu einer rein politischen Konzeption des Zusammenlebens zu kommen. Ich benutze im folgenden den Oberbegriff Weltanschauung (in einer englischen Übersetzung wäre hier der relativ wertfreie Begriff des „shared mental model“ einzusetzen, wie ihn z.B. der Wirtschafts2 historiker Douglass North verwendet). Entscheidend ist die Zurücknahme umfassender Geltungsansprüche, wie sie Rawls noch bei Kant oder Habermas (und auch in seiner eigenen Theorie der Gerechtigkeit) sieht, zugunsten einer Konzeption der weltanschaulichen Selbstzurücknahme und Enthaltsamkeit. Es kommt darauf an, bestimmte Fragen, die von vielen aus weltanschaulichen Gründen für zentral und fundamental gehalten werden, auszuklammern. So nimmt die gleiche Glaubensfreiheit die Frage nach der wahren Religion von der Agenda, und der Ausschluss von Leibeigenschaft und Sklaverei streicht 3 diese Institutionen ebenso von der Tagesordnung. Die Religion wird dann Privatsache und Angelegenheit von privaten Organisationen, wie groß und

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2 3

Vortrag auf der Tagung „Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Ethos. Kulturhistorische Interdependenzen und ideengeschichtliche Entwicklungen in Westeuropa und den USA“, 29.-31. Oktober 2008 in Tutzing. Arthur T. Denzau/Douglass North, Shared Mental Models: Ideologies and Institutions, in: Kyklos 47, 1994, 3-31. Vgl. John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989. Frankfurt am Main 1992, 314.

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umfassend sie auch immer sein mögen. Philosophisch betrachtet wird unterschieden zwischen einer Konzeption des Guten, die jedem selbst überlassen ist und außerhalb der Betrachtung einer politischen Philosophie (nicht dagegen der Philosophie überhaupt) bleibt, und einer Konzeption von politischer Gerechtigkeit, die ganz bewusst relativ vorphilosophisch und unter Verzicht auf komplizierte Argumentationen, die ohnehin nur wenige verstehen und akzeptieren würden, die damit also politisch irrelevant wären, als Fairness in einem möglichst jedem leicht explizierbaren Sinn verstanden wird. Es kommt also gerade darauf an, philosophisch gesprochen, an der Oberfläche zu bleiben, auch wenn damit, wie noch zu zeigen sein wird, einige Grundfragen des Politischen überzeugender gelöst werden können als durch eine philosophisch anspruchsvollere Theoriekonzeption. Dabei bleiben unausweichlich bestimmte Restelemente der alten großen Fragen übrig: Wo zum Beispiel die Grenzen zwischen Staat und Kirche zu ziehen sind, oder wie auf wirtschaftlichem Gebiet die Anforderungen der Verteilungsgerechtigkeit zu interpretieren sind, etc. „Aber indem wir umfassende Lehren vermeiden, versuchen wir, die am tiefsten gehenden Streitigkeiten von Religion und Philosophie so zu umgehen, dass wir einige Hoffnung haben, eine Grundlage für einen stabilen übergreifenden Konsens freizulegen.“4 Dieser offenbar unvermeidliche Rest kann durchaus Rückwirkungen auf den Kern einer religiösen Überzeugung haben. Das lässt sich an einem einfachen Gedankenexperiment zeigen: „Nehmen wir an, dass eine besondere Religion mit der zu ihr gehörenden Konzeption des Guten nur überleben kann, wenn sie den Staatsapparat kontrolliert und in der Lage ist, effektive Intoleranz auszuüben. Diese Religion wird in der wohlgeordneten Gesellschaft des politischen Liberalismus nicht länger bestehen.“5 Rawls weist recht kühl unter Bezugnahme auf Isaiah Berlin darauf hin, dass es nun einmal keine soziale Welt ohne Verluste gibt und dass sich jede Gesellschaft immer mit einigen religiösen wie kulturellen Lebensformen als unvereinbar erweisen wird, wenn Werte miteinander unverträglich sind und den Institutionen widerstreitende Anforderungen auferlegen. Es wird also schon wegen der Natur der Werte selbst zu Wertverlusten und damit auch zu menschlichen Tragödien kommen. „Eine gerechte liberale Gesellschaft bietet weit mehr Platz als andere soziale Welten, aber sie kann niemals ohne Verluste bestehen.“6 Dieser politische Liberalismus kann durchaus tief in die Lebensformen der Bürger eingreifen: „Gerechtigkeit als Fairness achtet soweit wie möglich die Ansprüche derjenigen, die in Übereinstimmung mit den Vorschriften ihrer Religion wünschen, von der modernen Welt Abstand zu halten, vorausgesetzt nur, dass sie ihrerseits die Grundsätze der politischen Gerechtigkeitskonzeption anerkennen und für deren politische Ideale der Person und der Gesellschaft

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Ebd., 315. Ebd., 382. Ebd., 383, Anmerkung 25.

L IBERALE M ORALDEBATTEN

IN MODERNEN

M ARKTGESELLSCHAFTEN | 109

aufgeschlossen sind. Bitte beachten Sie hier, dass wir die Frage nach der Erziehung der Kinder ausschließlich von der politischen Konzeption her zu beantworten versuchen. Das Interesse des Staats an ihrer Erziehung liegt, von einem politischen Standpunkt aus gesehen, in ihrer Rolle als zukünftige Bürger, das heißt in Dingen, die so wesentlich sind wie der Erwerb der Fähigkeit, die öffentliche Kultur zu verstehen und sich an ihren Institutionen so zu beteiligen, dass sie ihr Leben lang ökonomisch unabhängige und selbständige Gesellschaftsmitglieder sind, sowie in der Entwicklung politischer Tugenden.“7 An dieser Aufzählung ist schon zu erkennen: Rawls formuliert hier im Grunde nicht nur das, was Bassam Tibi später „Leitkultur“ genannt hat, sondern impliziert darin über den politischen Bereich hinaus auch die ökonomische Forderung, dass jeder in die Lage versetzt werden soll, sich seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, also aktiv am Wirtschaftssystem zu partizipieren. Damit ergibt sich, dass bei aller weltanschaulichen Zurückhaltung, bei allem Verzicht auf umfassende Lehren durchaus einige religiös begründete Vorstellungen ausgeschlossen sind. Man könnte etwa denken an die Unterdrückung von Frauen im Islam.

II. H ABERMAS UND G ESELLSCHAFT

DIE I DEE EINER POSTSÄKULAREN

In seiner kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit Rawls betont Jürgen Habermas, der von sich ebenfalls behauptet, einen Liberalismus zu verteidigen, allerdings in der spezifischen Form von etwas, das er einen Kantischen Republikanismus nennt, dass in einem säkularen Staat die Folgelasten der Toleranz für Gläubige wie für Säkularisten keineswegs symmetrisch verteilt sind. Habermas nennt als Beispiel die mehr oder weniger liberalen Abtreibungsregelungen in vielen Ländern, die durchweg das überschreiten, was von einem konsequenten Glaubensstandpunkt her akzeptabel erscheint. Habermas wendet sich gegen eine säkularistische Weltsicht, weil er diese mit der weltanschaulichen Neutralität des Staates für unvereinbar hält. So verlangt er von säkularisierten Bürgern, sofern sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, dass sie den gläubigen Mitbürgern das Recht zugestehen müssen, in religiöser Sprache Beiträge zur öffentlichen Diskussion zu machen. Sofern diese Sprache unverständlich ist, weil sie Offenbarungswahrheiten voraussetzt, müssten sich die Säkularisten an der Anstrengung beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen. Dies nennt Habermas mit Walter Benjamin eine rettende Übersetzung, die zu den Aufgaben einer, wie er es bezeichnet, postsäkularen Gesellschaft gehört. Mit postsäkularer Gesellschaft meint er nicht die empirische These einer Rückkehr der Religionen, wie dies in den Religionswissenschaften seit vielen

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Ebd., 386.

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Jahren diskutiert wird, sondern die normative These, dass aus verschiedenen Gründen religiöse Argumente auch in einer säkularen Gesellschaft zu respektieren und ernst zu nehmen seien. Habermas verweist auf das soziologische Argument, man müsse in der Wertewelt mit kulturellen Ressourcen schonend umgehen, weil die Märkte und die administrative Macht allein die gesellschaftliche Solidarität nicht garantieren könnten, ferner auf das politische Argument, dass die religiös eingestellten Bürger die gleichen staatsbürgerlichen Rechte genießen, schließlich auf das philosophische Argument, dass ein selbstreflexiver Umgang mit den Grenzen der Aufklärung erforderlich sei.8 Der klassische Liberalismus hatte die fortschreitende Verlagerung des Religiösen in die Privatsphäre und damit dessen Entpolisierung postuliert, ganz entsprechend der Säkularisierungsthese, und dies im doppelten Sinne: als faktischen Prozess, aber auch als Forderung an die Religiosität, sich aus der Politik herauszuhalten. Der moderne Liberalismus von Rawls und anderen, den Habermas hier übernimmt und zugleich verändert, ist dagegen postsäkular. Das heißt in diesem Zusammenhang: Der Staat soll selbstverständlich ein weltanschaulich neutraler und in diesem Sinne säkularer Staat bleiben, seine Aufgabe wird aber anders verstanden. Da er für alle Bürger da ist, auch für die religiösen, bedeutet Neutralität nunmehr auch, dass er nicht ohne weiteres die Partei des Säkularismus ergreifen darf, sondern genötigt ist zur gleichmäßigen Distanz von starken Traditionen und weltanschaulichen Inhalten. Er darf sich also auch nicht ohne weiteres auf die Seite von naturwissenschaftlichen Moralansprüchen oder Ideologien stellen. An dieser Stelle geht Habermas von einer Theorie des Staates zu einer Theorie der Zivilgesellschaft über, oder fast schon hegelianisch: zu einer Theorie der pluralisierten Vernunft des Staatsbürgerpublikums. Diese folge einer Dynamik der Säkularisierung nur insofern, als sie osmotisch nach beiden Seiten hin geöffnet bleibe – weil natürlich im zivilgesellschaftlichen Diskurs jede Meinung sich Gehör verschaffen kann, ohne deshalb schon politisch-staatliches Handeln zu beeinflussen oder gar zu steuern. Da Habermas ein Theoretiker nicht so sehr des Staates als vielmehr der Zivilgesellschaft ist, hat er es an diesem Punkt etwas einfacher in der Argumentation, denn die Zivilgesellschaft ist anders als der liberale Staat nicht der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. „Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten.“ 9 Sie übt Einfluss aus auf eine in öffentlichen Debatten, also im

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Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, in: ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg 2005, 18-37. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main 1992, 443.

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Kontroversstil, sich herausbildende öffentliche Meinung, ohne jedoch direkten Zugang zu den organisatorischen Herrschaftsstrukturen zu gewinnen. Allerdings ist in der Zivilgesellschaft nicht jede beliebige exzentrische religiöse Positionierung akzeptabel. Vielmehr kann sie sich ohne eine gewisse Öffnung und Offenheit für wissenschaftliche Argumentationen und Forschungsergebnisse nicht weiterentwickeln: „Natürlich muss sich der Commonsense, der sich über die Welt viele Illusionen macht, von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären lassen.“10 Die Zivilgesellschaft unterliegt also einer Selbstbegrenzung.11 Auch ihr Selbstverständnis formt sich mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Episteme: „Wenn wir über die Welt, und über uns als Wesen in der Welt, etwas Neues lernen, verändert sich der Inhalt unseres Selbstverständnisses.“ Allerdings zieht Habermas eine philosophische Grenze dieser Veränderung. Sobald es nicht mehr um naturwissenschaftliche Erklärung, sondern um Rechtfertigung moralischen Handelns geht, werden die Wissenschaften unzuständig. Das gilt selbst für die Hirnforschung mit ihrer Naturalisierung des Geistes, wie Habermas mit einem sprachtheoretischen Argument zu belegen versucht: Das Sprachspiel der Rechtfertigung lässt sich nicht auf die bloße Beschreibung reduzieren, denn die Notwendigkeit, andere Gründe für das Handeln anzugeben, erschließt sich nicht aus der Außenperspektive und der objektivierenden Beschreibung, sondern nur aus der Perspektive des Beteiligten. Oder kurz: Gründe sind keine Ursachen. Das Sprachspiel der Begründung im moralischen Diskurs unterscheidet sich grundsätzlich von der wissenschaftlichen Ursachenanalyse im kognitiven Diskurs. „Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie. Auch dem wissenschaftlich aufgeklärten Commonsense wird es keine Wissenschaft abnehmen, beispielsweise zu beurteilen, wie wir unter molekularbiologischen Beschreibungen, die gentechnische Eingriffe möglich machen, mit vorpersonalem menschlichem Leben umgehen sollen.“12 An diesem Punkt liegt zweifellos ein möglicher Einfallspunkt christlicher Argumente gegen die Genforschung und Gentechnologie. Und nun, an dieser Stelle, betont Habermas, dass der Commonsense, als dessen zivilgesellschaftliches Sprachrohr er selbst sich offenbar versteht, sowohl gegenüber der Wissenschaft als auch gegenüber der religiösen Überlieferung einen Eigensinn bewahrt. Denn der demokratisch aufgeklärte Commonsense, also Habermas, stellt auch in Richtung der Religion die Frage, ob sie denn Gründe angeben könne, „die nicht nur für Angehörige einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind“.

 10 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, 15. 11 Habermas, Faktizität (wie Anm. 9), 450. 12 Habermas, Glauben (wie Anm. 10), 20.

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Das führt bei den Gläubigen dann zu dem Argwohn, „dass die abendländische Säkularisierung eine Einbahnstraße sein könne, die die Religion am Rande liegen lässt.“13 Hier kommt Habermas auf eine Kehrseite der Säkularisierung, nämlich auf die ungleichen Folgelasten, die die Befriedung des weltanschaulichen Pluralismus für die Religion und die nichtreligiösen Menschen hatte. „Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.“14 Würden ausschließlich säkulare Argumente gelten, würde das einen unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit bedeuten. Die säkulare Gesellschaft selbst würde sich darüber hinaus von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden. Um dem vorzubeugen, müsste „sich auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahren.15 Das ist der meines Erachtens entscheidende Schritt von Habermas in das Reich des Postsäkularen. Die Öffentlichkeit ist ja ein plurales Gebilde. Wenn sich Menschen in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, dürften säkulare Mehrheiten keine Beschlüsse fassen, sondern sollten das als Einspruch mit aufschiebendem Veto betrachten. 16 Habermas hat dies vor dem Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen geschrieben. Es scheint mir aber offensichtlich, dass eine nicht auf rationale Fundierung angewiesene religiöse Empörungsrede jederzeit den eigenen Irrationalismus oder die eigene Aufgeregtheit im politischen Spiel instrumentell einsetzen kann. Ein derart weitgefasster, postsäkularer Liberalismus hätte dem nichts weiter entgegenzusetzen als die geduldige Prüfung der Gründe. Habermas fällt an dieser Stelle hinter Einsichten einer wehrhaften Demokratie zurück, die in der Auseinandersetzung mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gewonnen worden sind.17 Immerhin, Habermas hatte wohl an etwas anderes als an die künstliche Empörung religiöser Aktivisten gedacht. Als Beispiel nennt er Kants kategorisches Sollen, welches zugleich eine säkularisierende und rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten gewesen sei. Kants Autonomievorstellung zerstörte das traditionelle Modell der Gotteskindschaft. Oder in den Worten von Kant selbst: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer

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Ebd., 21. Ebd. Ebd., 22. Ebd. Vgl. dazu Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäischamerikanische Diskurs zur politischen Ethik (Neuausgabe Humanities Online). Frankfurt am Main 2007.

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andern Triebfeder als des Gesetzes selbst.“18 Als zweites Beispiel nennt Habermas einen Gedanken Adornos aus „Vernunft und Offenbarung“: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“ 19 Als negatives Gegenbeispiel, in dem die Andacht zum Andenken mutiert, nennt er den Posthumanismus seines Erzfeindes Heidegger. Die Rückkehr zu den archaischen Anfängen vor Sokrates und vor Christus ist für ihn die „Stunde des religiösen Kitsches.“20 Die Entzauberung, die immer mit Säkularisierungsprozessen einhergeht, erscheint ihm unvermeidlich. Sie habe ja im Grunde auch schon durch die Weltreligionen selbst begonnen, die die Magie entzaubert, den Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet hätten. Das Geschichtsmodell von Habermas geht hier ganz deutlich von einem Dreistufenmodell Mythos – Religion – Philosophie aus. „Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort.“21 Allerdings erfolgt dieser Prozess nicht mehr in der hybriden Absicht der feindlichen Übernahme, wie einst die politischen Religionen des Totalitarismus, sondern um dem Schwinden von Sinnressourcen entgegenzuwirken, und zwar im Modus von rettenden Formulierungen bzw. der Übersetzung. Diesen Gedanken wendet Habermas dann zu einer Schlussformel, betreffend die Unverfügbarkeit der genetischen Disposition: „Nun – man muss nicht an die theologischen Prämissen glauben, um die Konsequenz zu verstehen“, wenn die im Schöpfungsbegriff angenommene Differenz verschwände und nunmehr ein anderer Mensch über die genetische Ausstattung nach eigenem Belieben entscheide. Denn es würde die Freiheit unter Ebenbürtigen zerstört, wenn „ein Mensch nach eigenen Präferenzen in die Zufallskombination von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen zu dürfen.“22

III. R AWLS ’ K RITIK

AN

H ABERMAS

Habermas hat diese Position vor allem in seiner berühmten, im Sommer 2004 mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in München geführten Diskussion über Vernunft und Religion entwickelt. Aber diese Gedanken reichen

 18 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [zuerst 1793]. Hamburg 2003, 3. 19 Theodor W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2 (Edition Suhrkamp 347). Frankfurt am Main 1969, 20-28, hier 20. 20 Habermas, Glauben (wie Anm. 10), 28. 21 Ebd., 29. 22 Ebd., 31.

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weit zurück und sind in ihrer philosophischen Substanz, wenn auch nicht in dieser pointierten Formulierung, schon im Sommer 1992 in einer Bad Homburger Diskussion mit John Rawls entwickelt worden. Rawls hatte damals sofort die Schwächen der Position von Habermas erkannt. Er hielt ihm vor, eine umfassende Lehre zu vertreten, und belegt das mit mehreren Stellen aus „Faktizität und Geltung“, in denen Habermas die substantiellen Kernelemente von Hegels Theorie der Sittlichkeit in ein Konzept der kommunikativen Praxis überführen will. Habermas hatte vor allen Dingen eingewandt, dass kein politischer Liberalismus ohne eine Lösung des Wahrheitsproblems und ohne einen Begriff der Person auskomme. Rawls verneint beides. Den Begriff der Wahrheit überlässt er den umfassenden Konzepten und stellt für den Bereich des Politischen fest, dass hier die „burdens of reason“, mindestens aber die „burdens of judgment“ wirken, nämlich die Möglichkeit, mit vernünftigen Gründen zu völlig verschiedenen Ergebnissen und Standpunkten zu kommen, weil Situationen unübersichtlich, Folgen nicht absehbar, Einschätzungen, Ermessensfragen und Begriffe unscharf sind. Im Bereich des Politischen sind Entscheidungen unter Ungewissheit geradezu der Normalfall. Darüber hinaus sieht Rawls nicht ein, weshalb ein philosophischer Begriff der Person im politischen Feld erforderlich sein sollte: der politische Liberalismus ersetzt den Begriff der Person durch den des freien und gleichen Bürgers. Es wird also nur eine bestimmte Rolle zugewiesen, während die Person in der Philosophie und in ihrer Freizeit betrachtet werden könne, als was man wolle.23 John Rawls betont den innovativen Charakter seiner Position. Er hat 1992 erklärt: „Mir sind keine liberalen Autoren früherer Generationen bekannt, welche die Lehre des politischen Liberalismus klar vorgetragen hätten. […] Es ist mir ein großes Rätsel, warum der politische Liberalismus nicht schon sehr viel früher ausgearbeitet wurde. Vom Faktum eines vernünftigen Pluralismus im politischen Leben ausgehend, erscheint er als die natürliche Darstellungsform der Idee des Liberalismus.“24 Dieser Hinweis ist meines Erachtens sehr ernst zu nehmen, weil in der politischen Ideengeschichte einerseits die Neigung besteht, in einer sozusagen „Whiggistischen Betrachtung“ einen Gedanken, um ihn zu adeln, mit möglichst vielen Urahnen zu versehen, und weil andererseits dadurch eben auch fragwürdige umfassende Lehren eines ideologischen Liberalismus vermengt werden mit einem allein auf das Reich des Politischen begrenzten freistehenden, d. h. nicht auf weitergehende philosophische, ökonomische oder religiöse Lehren angewiesenen politischen Liberalismus. Mit einem Wort: Es besteht die Gefahr, die differentia specifica des politischen Liberalismus zu verkennen. Habermas ist gewiss ein Theoretiker, der Rawls noch relativ nahe steht, aber auch bei ihm ist die Neigung zu umfassenden Lehren offensichtlich. Noch problematischer wird dies bei den

 23 John Rawls, Erwiderung auf Habermas, in: Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Frankfurt am Main 1997, 196-262. 24 Ebd., 250 f.

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kommunitarischen Kritikern Rawls’, die durchweg die politische Pointe seiner Theorie nicht erkannt haben, und weiterhin, wie etwa Charles Taylor, vor allem an einem sehr stark aufgeladenen Begriff der Person als notwendiger Voraussetzung politischer Identitätsbildung festhalten. Politik ist aber, das hat Rawls als einer der ganz wenigen zutreffend beschrieben, der Bereich des Nichtidentitären, der Bereich des Agonalen im Sinne offener Debatten und Auseinandersetzungen, die allein pragmatisch, von Fall zu Fall und allenfalls nach Daumenregeln, aber nicht nach umfassenden Lehren entschieden werden können. Rawls liefert mit seiner Kritik des Politischen im Kantischen Sinne eine Lehre von der notwendigen Begrenztheit politischer Urteile und der politischen Vernunft, auf deren Basis sich allein eine wirklich liberale Lebensform entwickeln lässt. Er selbst bezieht sich an einigen entscheidenden Schnittstellen seiner Lehre auf Isaiah Berlin, der vermutlich von allen liberalen Theoretikern solchen Überlegungen am nächsten gekommen ist, auch wenn Berlin kein Systematiker war und solche Thesen immer nur in Andeutungen ausgearbeitet hat.

IV. W IRTSCHAFTSORDNUNG ALS K OOPERATIONSZUSAMMENHANG Rawls’ Theorien betreffen die Grundstruktur der Gesellschaft, die sich zusammensetzt aus der politischen Verfassung, der Eigentumsordnung, der Wirtschaftsordnung und der Struktur der Familie. 25 Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls sind hinreichend bekannt: 1) gleiche Freiheit für alle; 2) soziale Ungleichheit nur insofern, als davon auch die am wenigsten Begünstigten einen Vorteil haben. Der Ausgleich sozialer Ungleichheiten soll nachrangig gegenüber den Freiheitsrechten sein. Selbstverständlich diskutiert Rawls das Problem, dass formal gleiche Freiheiten für unterschiedliche Individuen einen durchaus ungleichen Wert haben können. Deshalb sollen die politischen Freiheiten (und nur diese) nach Maßgabe ihres wenn nicht direkt gleichen, so doch fairen Wertes gewährleistet werden. Praktisch politisch bedeutet dies, politische Parteien von der Regierungskontrolle, aber auch gegenüber großen Konzentrationen ökonomischer Macht möglichst unabhängig zu halten. „In jedem Fall muss die Gesellschaft zumindest einen großen Teil der Kosten der Organisation und des Vollzugs des politischen Prozesses tragen und die Durchführung von Wahlen regeln.“26 Rawls versteht sich selbst als Liberaler, was aber keineswegs ausschließt, dass er für einige grundlegende Marktregulierungen eintritt. Ein wichtiges Beispiel für ihn ist die Werbung. Hier tritt er dafür ein, Strafen für ungenaue und falsche Informationen zu verhängen und Gesetze zu erlassen, die Informationen über schädliche und gefährliche Eigenschaften der Güter auf deren

 25 Rawls, Idee (wie Anm. 3), 45. 26 Ebd., 200.

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Verpackung oder Außenseite verlangen. Ich stelle mir das so vor, dass Autos mit dem Satz gekennzeichnet würden: ‚Dieses Fahrzeug kann Menschen töten. ‘ Ebenso kann per Gesetz verlangt werden, die Preise und genaue Informationen über die Produkte der Öffentlichkeit ohne weiteres zugänglich zu machen. Andererseits hält er es durchaus für eine denkbare Aufgabe einer wohlgeordneten Gesellschaft, überflüssige Anzeigen einzuschränken, weil es sich bei ihnen um Verschwendung handelt, denn im Gegensatz zu den Grundfreiheiten, wie etwa der Meinungsäußerung, ist die Werbefreiheit nicht unveräußerlich. Sie könnten also durch Stillhalteabkommen zwischen den Firmen beschränkt werden, und dies könnte wiederum durch Gesetze unterstützt werden.27 Hier zeigt sich, wie sehr Rawls im Grunde einer recht vormodernen Ökonomie anhängt. Das Differenzprinzip, das als Maßstab die in einer Gesellschaft am wenigsten Begünstigten verwendet, wirft einige Fragen und Probleme auf. Rawls fragt: „Sind die am wenigsten Begünstigten demnach diejenigen, die von der Sozialhilfe leben und den ganzen Tag vor Malibu surfen?“28 Er beantwortet diese Frage auf doppelte Weise: Einmal ist der Freizeitgewinn als geldwerter Vorteil zu werten, zum anderen war der Ausgangspunkt die Vorstellung normaler, lebenslang kooperierender Bürger. „Die am wenigsten Begünstigten sind, wenn alles gut geht, nicht die Unglücklichen und die Pechvögel – denen wir Barmherzigkeit und Anteilnahme oder gar Mitleid angedeihen lassen –, sondern diejenigen, denen ebenso wie allen anderen aufgrund der politischen Gerechtigkeit unter freien und gleichen Bürgern Reziprozität geschuldet wird. Sie kontrollieren zwar weniger Ressourcen, aber dennoch leisten sie ihren vollen Beitrag unter Bedingungen, die von allen als durchweg vorteilhaft und mit jedermanns Selbstachtung verträglich anerkannt werden.“29 Hier ist ein Problem zu erkennen. In seiner Theorie der Gerechtigkeit hatte Rawls die ursprüngliche, noch sehr generelle These, dass Ungleichheiten dann gerechtfertigt seien, wenn jedermann davon einen Vorteil habe, dahingehend operationalisiert, dass es reiche, zu prüfen, ob die am wenigsten Begünstigten davon einen Vorteil hätten. Hier zeigt sich, dass diese angebliche Operationalisierung weder empirisch sinnvoll beschreibbar noch moralphilosophisch klar definierbar ist. Normalerweise würde es sich bei den am wenigsten Begünstigten um die Arbeitslosen oder die Niedriglohnbeschäftigten handeln. Bei den Arbeitslosen allerdings muss Rawls schon differenzieren zwischen denjenigen, die freiwillig arbeitslos sind, bzw. diesen Zustand einer unangenehmen Arbeit vorziehen, und denjenigen, die als echte Arbeitssuchende und damit in seinem Sinne als kooperationsbereit angesehen werden können. Rawls’ zweiter Gerechtigkeitsgrundsatz ist im Grunde ein Grundsatz

 27 Ebd., 241. 28 John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt am Main 2003, 274. 29 Ebd., 217.

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fairer Verteilung der Ergebnisse innerhalb eines Kooperationszusammenhangs. Aus ihm lässt sich keine Theorie des Sozialsystems entwickeln. Wer im ökonomischen Sinne nicht zur Kooperation bereit oder in der Lage ist, fällt aus dieser Theorie heraus.

V. L ITERATUR  Theodor W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2 (Edition Suhrkamp 347). Frankfurt am Main 1969, 20-28. Edmund Arens (Hrsg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns. Düsseldorf 1989. Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. (Kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury, Karl Kardinal Lehmann). Freiburg/Basel/Wien 2006. Peter L Berger (Hrsg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Washington, DC 1999. Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, (zuerst 1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt am Main 1991. Arthur T. Denzau/Douglass C. North, Shared Mental Models. Ideologies and Institutions, in: Kyklos 47, 1994, Nr. 1, 3-31. Rainer Forst, Toleranz. Frankfurt am Main 2000. Mary Ann Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse. New York 1991. Jürgen Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt am Main 1972, 173-224. Jürgen Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 1988, 153-186. Jürgen Habermas, Ein Bewußtsein von dem, was fehlt, in: Michael Reder/ Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2008, 26-36. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main 1992. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001. Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, in: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg 2005, 18-37.

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Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005. Hans-Joachim Höhn, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel. Paderborn u. a. 2007. Detlef Horster, Jürgen Habermas und der Papst. Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat. Bielefeld 2006. Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt am Main 2007. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [zuerst 1793]. Hamburg 2003. Rudolf Langenthaler/Herta Nagl-Docekal, Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien 2007. Hartmut Lehmann, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen 2004. Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide. New York 2004. Joseph Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen. 4. Aufl. Freiburg u. a. 2005. Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg 2005, 39-60. John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt am Main 1992. John Rawls, Erwiderung auf Habermas, in: Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion. Hrsg. von der Philosophischen Gesellschaft Bad Homburg. Frankfurt am Main 1997, 196-262. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt am Main 2003. John Rawls, Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 1998. Walter Reese-Schäfer, Jürgen Habermas. 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2001. Walter Reese-Schäfer, Amitai Etzioni zur Einführung. Hamburg 2001. Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäischamerikanische Diskurs zur politischen Ethik. (Neuausgabe Humanities Online). Frankfurt am Main 2007. Walter Reese-Schäfer, Sicherheit, Freiheit, Terrorismus, in: Zeitschrift für Menschenrechte/Journal for Human Rights 1, 2007, Nr. 1, 37-51. Friedo Ricken, Nachmetaphysische Vernunft und Religion, in: Michael Reder/Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2008, 69-78. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München 2000.

Libertäre, Evangelikale und die Paradigmen kapitalistischer Marktordnung in den USA M ICHAEL H OCHGESCHWENDER

I. Nicht nur in der Selbstwahrnehmung, sondern auch in einer weit verbreiteten Außenansicht gelten die Vereinigten Staaten in nachgerade stereotyper Form als Hort von Individualismus und freier, kapitalistischer Marktwirtschaft schlechthin. Und tatsächlich wird in kaum einem anderen Land der Zusammenhang von individuellen Freiheiten, Privateigentum und der Freiheit, sich möglichst uneingeschränkt und dereguliert als eigenständiger Akteur auf Märkten seiner Wahl zu bewegen, derart intensiv zusammengedacht wie just in den USA. Nicht zuletzt die jüngsten politischen Diskussionen um die Reform des Krankenversicherungswesens und das Aufkommen des Tea Party Movement haben die Plausibilität dieser stereotypen Zuweisungen neuerlich bekräftigt. Dabei wird dann gerne so getan, als sei der absolute Primat der Freiheit fast schon notwendig in der amerikanischen Geschichte als einer Geschichte des empire of liberty, um einen Terminus von Thomas Jefferson aufzugreifen, angelegt gewesen.1 Demnach seien die Vereinigten Staaten seit ihrer Revolution, möglicherweise schon zur Kolonialzeit, das Produkt eines von staatlicher Bevormundung bewußt befreiten rugged individualism, der in seinen besten Varianten zu in der Geschichte der Menschheit bis dahin gänzlich unbekannten Geschichten individuellen sozialen Aufstiegs, den Horatio Alger-Geschichten, geführt habe. Derartige Interpretationen, die Auto- wie Heterostereotypien gleichermaßen widerspiegelten, sind bereits im späten 19.

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Vgl. David Reynolds, America, Empire of Liberty. A New History. London 2009; s.a. Gordon S. Wood, Empire of Liberty. A History of the Early Republic, 17891815. New York 2009; Sean Wilentz, The Rise of American Democracy. Jefferson to Lincoln. New York 2005; und in ausgesprochen ideologischer Form Brian Doherty, Radicals for Capitalism. A Freewheeling Story of the Modern American Libertarian Movement. New York 2007.

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Jahrhundert in das nationalidentitäre Standardnarrativ integriert worden. 2 Wenigstens die unangefochtene Dominanz des besitzindividualistischen, lockeanisch-liberalen Aufklärungsparadigmas, mehr noch aber die fraglose Akzeptanz der kapitalistisch-individualistischen Markt- und Eigentumsordnung wurden bis in populärkulturelle Phantasien vom American Superhero3 zu markanten Bausteinen des „hegemonialen Liberalismus“ 4 und damit zu Markern amerikanischer Exzeptionalität im internationalen Vergleich. 5 Gemeinsam mit dem American Dream von der durchgehenden Möglichkeit sozialen Aufstiegs im Rahmen der von der Unabhängigkeitserklärung gewiesenen lockeanischen Trias von life, liberty, and pursuit of happiness (property) stellte das individualistische Marktparadigma in dieser rigiden Lesart jenseits der traditionellen Sollbruchstellen von race, class, gender, ethnicity und religion den soziokulturellen Kitt einer hochfragmentierten Gesellschaft dar. Diese lineare, monolithische Sicht auf Geschichte und Gegenwart der Hegemonialmacht des modernen Kapitalismus ist indes mit erheblichen Verkürzungen und Vereinfachungen belastet. Weder läßt sich ideengeschichtlich oder sozial- und kulturwissenschaftlich der behauptete Vorrang des Individualismus in der amerikanischen Geschichte nachweisen 6 , noch kann man guten Gewissens von einer durchgehenden Dominanz noninterventionistischer, deregulatorischer Politik in den Vereinigten Staaten sprechen, wenn

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S. dazu etwa Brian Balogh, A Government out of Sight. The Mystery of National Authority in Nineteenth-Century America. Cambridge 2009; William Leach, Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture. New York 1994; David M. Emmons, Garden in the Grasslands. Boomer Literature of the Central Great Plains. Lincoln 1971; und H.W. Brands, The Reckless Decade. America in the 1890s. Chicago 2002. John Shelton Lawrence/Robert Jewett, The Myth of the American Superhero. Grand Rapids 2002. Hans Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA, 1776-1920. Frankfurt/Main 1997; und – kritischer differenzierend – Friedrich Jaeger, Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2001. Robin Archer, Why is there no Labor Party in the United States?. Princeton 2007. Vgl. Robert Wuthnow, American Mythos. Why our best Efforts to be a better Nation Fall short. Princeton 2006; Barry A. Shain, The Myth of American Individualism. The Protestant Origins of American Thought. Princeton 1994; und Charles Churchyard, National Lies. The Truth about American Values. Princeton 2009. Vgl. zudem die Wiederentdeckung des mit dem lockeanischen Liberalismus rivalisierenden tugendrepublikanischen kommunitären Paradigmas in der amerikanischen Geschichte, s. dazu Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in the Historical Imagination. Cambridge 1996; und Gordon S. Wood, The Radicalism of the American Revolution. New York 1993, 95-128.

L IBERTÄRE, E VANGELIKALE UND M ARKTORDNUNG

IN DEN

USA | 121

man bedenkt, daß um 1825 der Staat der größte Arbeitgeber des Landes war7 und seit der Wende zum 20. Jahrhundert mit der Progressiven Ära8, dem New Deal der 1930er Jahre9 und der Great Society der 1960er Jahre10 mindestens drei Phasen ausgedehnter Staatsintervention, zum Teil unter deutlich keynesianischen Vorzeichen, in der neueren Geschichte der USA zu verzeichnen sind. Einige Historiker haben für die Zeit zwischen 1930 und 1980 den Befund eines staatsinterventionistisch-keynesianisch-fordistischen New Deal Order erhoben, der auf den drei Prinzipien von big government, big unionism und big business aufgebaut habe, um so die genuin amerikanische, konsensliberale Variante des welfare state 11 zu generieren. 12 Das radikal marktwirtschaftliche Narrativ war demgegenüber stets in Phasen schwächerer Sozialstaatlichkeit wirksam und prägend, wobei sich der Verdacht aufdrängt, daß es nicht zuletzt funktional der diskursiven Denunziation interventionistischer und kommunitärer, säkularer oder religiöser Alternativen 13 zum liberalneoliberalen Nachtwächterstaat als a priori unamerikanisch dient.

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David Walker Howe, What Has God Wrought? The Transformation of America, 1815-1848. New York 2007, 254. Jackson Lears, Rebirth of a Nation. The Making of Modern America, 1877-1920. New York 2009; John Whiteclay Chambers II, The Tyranny of Change. America in the Progressive Era, 1890-1920. New Brunswick 2001; Michael McGerr, A Fierce Discontent. The Rise and Fall of the Progressive Movement in America. New York 2003. David M. Kennedy, Freedom from Fear. The American People in Depression and War, 1929-1941. New York 1999, der allerdings insofern den kritischen Konsens der amerikanischen Zeithistorie widerspiegelt, als er gegenüber den Interventionen des New Deal erheblich kritischer eingestellt ist als die meisten liberalen Historiker der 1950er und 1960er Jahre, z.B. William E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal, 1932-1940. New York 1963. Vgl. zu der gleichfalls wachsenden kritischen Distanz gegenüber dem „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre, der dann in der Stagflation nach dem Vietnamkrieg endete, James T. Patterson, Grand Expectations. The United States, 1945-1974. New York 1996; und David Steigerwald, The Sixties and the End of Modern America. New York 1995. Walter A. Trattner, From Poor Law to Welfare State. A History of Social Welfare in America. New York 1994; Edward D. Berkowitz, America’s Welfare State. From Roosevelt to Reagan. Baltimore 1991. Thomas J. Massaro, SJ, United States Welfare Policy. A Catholic Response. Washington, DC 2007. Steve Gerstle/Gary Fraser (eds.), The Rise and Fall of the New Deal Order. Princeton 1989; s.a. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1996, und ders., Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. Frankfurt/Main 2007. Vgl. z.B. Richard H. Pells, Radical Visions and American Dreams. Culture and Social Thought in the Depression Years. Urbana 1998.

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Damit werden freilich nicht allein alternative Strömungen in der amerikanischen Geschichte entwertet und ausgegrenzt, sondern die Bedeutsamkeit staatlicher Interventionen für das Wachstum des Kapitalismus vom American System Alexander Hamiltons und Henry Clays 14 über die Infrastrukturmaßnahmen der Bundesregierung bei der Inkorporierung des Westens 15 bis hin zur fundamentalen Rolle eines staatsinterventionistischen Militärkeynesianismus bei der Umformung des rückständigen cotton belt in die Hochtechnologiezentren des gegenwärtigen sun belt einfach übergangen. 16 Von Versuchen moralischer Intervention war noch gar nicht die Rede, obwohl sie ebenfalls in den weiteren Kontext dieser Untersuchung zu zählen sind, wie noch gezeigt werden wird.17 Bereits diese nur knapp skizzierten historischen Andeutungen reichen aus, das marktkonforme Narrativ amerikanischer Identität fragwürdig werden zu lassen. Damit soll gleichwohl nicht jede Idee amerikanischer Exzeptionalität gerade im Bereich des Ökonomischen von vornherein obsolet gemacht werden, wie es einige neuere Ansätze der Global History nahelegen.18 Ganz im Gegenteil, gerade wenn man eine gar zu simplizistische und stereotype Auffassung amerikanischer Exzeptionalität aus dem Weg räumt, wird der Blick für die historisch-prozessuale Konstruktion eben dieser außerordentlichen

 14 Maurice G. Baxter, Henry Clay and the American System. Lexington 2004. 15 Carl Abbott, The Federal Presence, in: Clyde A. Milner et al. (eds.), The Oxford History of the American West. New York 1994, 469-500; s.a. Walter Nugent, Into the West. The Story of Its People. New York 2001. 16 Bruce J. Schulman, From Cotton Belt to Sun Belt. Federal Policy, Economic Development, and the Transformation of the South, 1938-1980. Durham 2007; Numan V. Bartley, The New South, 1945-1980. The Story of the South’s Modernization. Baton Rouge 1995. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ausgerechnet der Süden und Westen heute diejenigen Regionen repräsentieren, die sich am vehementesten gegen jedwede Form von Staatsintervention und staatlicher Regulation des marktkapitalistischen Systems zur Wehr setzen. Vgl. dazu insbesondere Bethany Moreton, To Serve God and Wal-Mart. The Making of Christian Free Enterprise. Cambridge 2009. 17 Vgl. allgemein James A. Morone, Hellfire Nation. The Politics of Sin in American History. New Haven 2003. Zu einem gescheiterten Beispiel staatlicher moralischer Regulation s. Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn 2010. 18 Paradigmatisch für diesen Zugriff ist Thomas Bender, A Nation among Nations. America’s Place in World History. New York 2006. Die globalen Perspektiven zeigen für das 19. Jahrhundert sehr nuanciert Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, und Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World, 1780-1914. Malden 2004, auf. Sehr zu Recht versucht Volker Depkat, Geschichte Nordamerikas. Eine Einführung. Köln 2008, die US-amerikanische Geschichte auch ideell und ökonomisch in ihrem nordamerikanischen Kontext zu verankern.

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Identität frei, während gleichzeitig die Akteursgruppen in ihren jeweiligen Konstellationen erkennbar werden, welche mit ihrem spezifischen Marktverständnis einen wichtigen, wenn auch umstrittenen Beitrag zur Geschichte amerikanischer Identität und Exzeptionalität geleistet haben. Zweien dieser Akteursgruppen, die seit dem Aufkommen der New Right19 in den 1970er und 1980er Jahren eine handlungsfähige Koalition bei dem Versuch bilden, ein radikal antiinterventionistisches Paradigma des Marktes in den USA und zunehmend global durchzusetzen, ist dieser Aufsatz gewidmet: den Rechtsevangelikalen und Fundamentalisten als Vertretern der New Christian Right20 einerseits und den Libertarians als Vorkämpfern eines anarchokapitalistischen Minimalstaates mit höchstmöglicher Entfaltung individueller Freiheit andererseits. Betrachtet man beide Gruppen primär unter dem Aspekt der traditionellen Skepsis christlicher, insbesondere biblizistischer Religiosität gegenüber dem Streben nach individuellem Reichtum und freien Märkten oder vor dem Hintergrund ihrer vollständig konträren Ansichten zu staatlicher Intervention auf dem Gebiet der individuellen und kollektiven Moral, erscheint ihre Kooperation mehr als unwahrscheinlich. Dies gilt um so mehr, wenn man sich Umfragen des Pew Research Center aus dem Jahr 1999 vor Augen hält, wonach rechtsevangelikale Christen sich zwar prinzipiell gegen staatliche Eingriffe in den Markt aussprechen, allerdings nur dann, wenn die in ihren Augen undeserving poor davon profitieren. Gegen die staatliche Unterstützung arbeitsamer weißer Mittelklassen haben sie, allen rhetorischen Bedenken gegenüber einer notorisch ineffizienten staatlichen Bürokratie und allen Bekenntnissen zu den Einzelstaatenrechten zum Trotz, in aller Regel nichts einzuwenden. 21 Dies wäre für Libertäre bereits ein nicht hinzunehmender Tabubruch. Und dennoch findet diese Zusammenarbeit seit nunmehr 30 Jahren statt und zwar nicht nur auf der formalen Ebene von Ideologie und republikanischer Parteipolitik, sondern durchaus auch auf der persönlichen Ebene. In den Reihen der Berater und Mitarbeiter des mehrfachen libertären Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Ron Paul befand sich etwa über

 19 Allan J. Lichtman, White Protestant Nation. The Rise of the American Conservative Movement. New York 2008; John Micklethwaite/Adrian Wooldridge, The Right Nation. Conservative Power in America. New York 2004. Die New Right ist vom Neokonservatismus zu unterscheiden, der zwar Bestandteil dieser Bewegung ist, aber andere ideengeschichtliche Wurzeln und mit seiner überwiegend jüdischakademischen und intellektuellen Gefolgschaft auch ein anderes soziales Profil aufweist als die überwiegend weißen, suburban-ruralen und antiintellektuellen Träger der Mehrheit der Neuen Rechten. 20 Vgl. allgemein Damon Linker, The Theocons. Secular America under Siege. New York 2007; Sara Diamond, Spiritual Warfare. The Politics of the Christian Right. Boston 1989; Lisa McGirr, Suburban Warriors. The Origins of the New American Right. Princeton 2001. 21 Moreton, God and Wal-Mart (wie Anm. 16), 1.

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einen längeren Zeitraum der theokratische Christian Reconstructionist Gary North.22 Oder – um ein aktuelleres Beispiel zu nennen – das gegenwärtige Tea Party Movement verknüpft libertäre und evangelikale marktradikale Semantiken fast bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander und stellt sich damit in genau die Tradition dieser Koalition.23 Das Prekäre daran leuchtet unmittelbar ein, aber gerade das macht die Frage nach den historischen Möglichkeitsbedingungen einer solch unerwarteten Konstellation nur noch dringlicher. Kurzum: Es geht um das Werden einer stilprägenden Form von gesinnungsethischem Marktradikalismus, der die Freiheit der Person, des Marktes und des Eigentums unbedingt und alternativlos zusammendenkt und zumindest bundesstaatlichen Interventionen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Historischer Ausgangspunkt ist das frühe 19. Jahrhundert, was damit zusammenhängt, daß in dieser Phase die moderne industriekapitalistische Marktökonomie, das libertäre Denken und der moderne Evangelikalismus annähernd gleichzeitig ihre für die USA charakteristische Typik entwickeln, um sich anschließend jeweils in unterschiedlichen Gestaltungsformen weiter auszubilden. Diese These basiert auf einer wichtigen definitorischen Vorentscheidung, indem sie nämlich sowohl das kapitalistische System wie die ihm zugrundeliegende Markt- und Warenrationalität nicht idealtypisch oder statisch, sondern strikt historisch-prozessual fasst. Demnach gibt es weder den Kapitalismus noch den Markt und seine inhärenten Gesetzmäßigkeiten, sondern Märkte und damit auch Kapitalismen hängen stattdessen von soziokulturellen Dispositionen ab, welche die Akteure, die ihrerseits den Markt überhaupt erst konstituieren, in das Marktgeschehen einbringen. Das singularische Reden von Markt und Kapitalismus kann im Sinne moderner Komplexitätsreduktion Sinn machen, wird aber dem genuin historischen Herangehen nicht gerecht. Tatsächlich ist es seit geraumer Zeit in der Ökonomie und der Soziologie ebenfalls in die Kritik geraten.24 Friedrich Wilhelm Graf etwa unterscheidet vier idealtypische Modelle von Kapitalismus: den angelsächsischen Typus, den rheinischen Typus der sozialen Marktwirtschaft und den chinesischen beziehungsweise japanischen Weg des asiatischen Typus.25 William E. Connolly differenziert dieses immer noch relativ statische Modell erheblich aus, indem er unter Verweis auf Max Weber, Gilles Deleuze und Felix Guattari beinahe 20 Capitalist Assemblages herauspräpariert, die, wie bei Graf, fast alle auch religiöse Dispositionen der Akteure und Anteile staatlicher Interven-

 22 Doherty, Radicals for Capitalism (wie Anm. 1), 474. 23 Mit dem Mormonen Glenn Beck bedient derzeit freilich eine für Rechtsevangelikale nur schwer akzeptable Figur an prominenter Stelle die religiöse Semantik innerhalb der ausgesprochen heterogenen Bewegung. 24 Vgl. z.B. Benjamin Ward, Die Idealwelten der Ökonomen. Liberale, Radikale, Konservative. Frankfurt/Main 1986. 25 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2007, 103 f.

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tion an den Märkten in die Typologie einbeziehen: „There is Nazi capitalism; fascist capitalism; the capitalism of social democracy; post-Soviet runaway capitalism; a capitalism of minimal market regulation; supply-side capitalism joined to a punitive state; the global dimension of capitalism; the capitalism of invasion and empire; and a state capitalism infused with Catholicism, Judaism, Protestantism, Hinduism, Buddhism, atheism, or some mix thereof, with each creed assuming a number of variations. Several of these can appear together in various mixtures.“26 Erst diese Vielfalt möglicher Existenzweisen und „Gesetzlichkeiten“ von modernem Marktkapitalismus eröffnet auf der Theorieebene die Chance einer dezidiert kulturhistorischen Analyse ökonomischer Strukturen und ihrer Akteursgruppen, um die es hier gehen soll. Gleichzeitig erlaubt sie es, nach dem Beitrag evangelikaler und säkularer Akteure zur Konstruktion kapitalistischen Marktdenkens in den USA zu fragen und von der inzwischen doch unfruchtbar gewordenen Diskussion der Thesen Max Webers über den Wirkungszusammenhang von protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist abzurücken. Mit Stewart Davenport wäre es demnach erheblich sinnvoller, pluralisch nach den Einwirkungen von (religiösen und nichtreligiösen) Ethiken auf die Strukturen kapitalistischer Marktregime zu fragen.27 Dies soll im Folgenden mit Blick auf die beiden genannten Gruppen in zwei getrennten Durchläufen geschehen, in denen erst allgemein nach der Durchsetzung kapitalistischer Marktparadigmen und libertärer Ideologien in den USA gefragt wird, ehe dann in einem zweiten Durchgang auf die besondere Anpassungsleistung des evangelikalen Protestantismus eingegangen wird.

II. Das Entstehen moderner, marktkapitalistischer Paradigmatik in den nordamerikanischen Festlandskolonien des britischen Weltreiches fiel einerseits mit ideengeschichtlichen, andererseits mit sozioökonomischen, technologischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen zusammen.28 Das Wichtigste war

 26 William E. Connolly, Capitalism and Christianity, American Style. Durham 2008, 27. 27 Stewart Davenport, The Friends of the Unrighteous Mammon. Northern Christians and Market Capitalism. Chicago 2008, 4. 28 Vgl. zum Folgenden allgemein Stuart Bruchey, Enterprise. The Dynamic Economy of a Free People. New York 1990; Jonathan Hughes/Louis P. Cain, American Economic History. Boston 2007. Zum technologischen Wandel s. u.a. Thomas P. Hughes, American Genesis. A Century of Invention and Technological Enthusiasm. New York 1989 (für das 20. Jahrhundert); umfassender Ruth Schwartz Cowan, A Social History of American Technology. New York 1997, und Carroll Purcell, The Machine in America. A Social History of Technology. Baltimore 1995.

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dabei der Unterschied zwischen den 13 Kolonien, die ab 1776 den Kern der späteren amerikanischen Union bildeten, und dem vor allem in Neufrankreich noch stark vom feudalaristokratischen und katholischen Erbe charakterisierten Kanada mit seinem bis 1840 währenden Seigneuralsystem 29 oder den großagrarischen karibischen Inselkolonien (Jamaika, Bahamas, Barbados), die in weit höherem Maße als die späteren USA in den merkantilistischen Betrieb des britischen Empire eingebunden waren.30 Demgegenüber verfügten die 13 Kolonien aus marktwirtschaftlicher Perspektive über eine Reihe von Startvorteilen, die es ihnen alsbald erlaubten, die neuen, vom angloschottischen Utilitarismus 31 (Adam Smith, Francis Hutcheson, Jeremy Bentham) aufgebrachten volkswirtschaftlichen Ideen in Verbindung mit bereits aktuellem lockeanischen Gedankengut aufzunehmen und den eigenen Bedürfnissen anzupassen. In erster Linie waren sie bis in die 1760er Jahre, allen Bemühungen Londons zum Trotz, weitgehend im Windschatten der merkantilistischen Politik gesegelt und sich im Rahmen des benevolent neglect selbst überlassen geblieben. Weder war ein feudalaristokratisches Regime eingerichtet worden, noch strengte sich Großbritannien mehr als unbedingt nötig an, die guten Geschäfte der amerikanischen Kolonisten im Schmuggel zwischen den spanischen, französischen und niederländischen Kolonien über Gebühr zu beeinträchtigen. Die wachsende Einbindung der Kolonien in den globalen Markt des Empire, die daneben weiter vorherrschende Dominanz der Mischung aus kleinagrarischer Subsistenzwirtschaft und großagrarischer Plantagenwirtschaft und der Schmuggel als funktionales Äquivalent zum Freihandel innerhalb eines protektionistischen Systems sorgten trotz chronischer Finanzknappheit gemeinsam mit der expansiven Ausdehnung des verfügbaren Landes auf Kosten der Indianer für erheblichen Wohlstand.32 Die Amerikanische Revolution richtete sich nicht zuletzt gegen sämtliche Versuche, die Expansion westlich der Royal Proclamation Line von 1763 einzuschränken und gleichzeitig durch gezielte Steuerpolitik den relativen Wohlstand der Kolonisten an der imperialen Peripherie im Interesse des Zentrums abzuschöpfen. Die nächsten Schritte erfolgten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aus der Kombination verschiedener weiterer Entwicklungen: Es entstand ein leistungsfähiger Finanzmarkt; dank staatlicher Intervention wurden das Transport- und Kommunikationssystem erheblich verbessert; und in der Folge bildete sich ein nationales und globales Marktgefüge, das den effizienten

 29 Udo Sautter, Geschichte Kanadas. München 1992, 30-104; s.a. Michael S. Cross/ Gregory S. Kealey (eds.), Economy and Society during the French Regime to 1759. Toronto 1991; Fernand Ouellet, Lower Canada, 1791-1840. Social Change and Nationalism. Toronto 1983. 30 Vgl. ausführlich Peter Wende, Das britische Empire. München 2009. 31 S. zum Kontext Dick Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie. Frankfurt/Main 2001. 32 Timothy H. Breen, The Marketplace of Revolution. How Consumer Politics Shaped American Independence. New York 2004.

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Austausch von Kommoditäten aller Art garantierte. In der amerikanischen Forschung läßt sich dies mit den oft rivalisierend gebrauchten, tatsächlich jedoch eng miteinander verknüpften Konzepten der communication revolution, der transportation revolution und der market revolution verbinden. 33 Diese Gemengelage wird immer wieder mit dem Aufkommen einer marktspezifischen Mentalität in Verbindung gebracht.34 Für Doherty findet man in der Epoche der Amerikanischen Revolution und der anschließenden Periode gar die Fundamente jener libertären Ideologie, die er als genuin amerikanisch ansieht, obwohl er selbst zugibt, daß sie wesentlich ein Produkt des 20. Jahrhunderts sei.35 Tatsächlich aber sind die Prozesse von Entstehung und Durchsetzung der Marktparadigmatik und ihrer libertären Ausprägung wesentlich komplexer und widersprüchlicher. Zum einen nämlich kam es überhaupt nicht zu einem einheitlichen Marktparadigma. Howe hat daher wiederholt und vollkommen zu Recht auf das Fehlen mehrheitsfähiger Kritik an der hegemonialen Rolle des Privateigentums aufmerksam gemacht. 36 Die frühkommunitären utopischen Gemeinschaften säkularer und religiöser Provenienz, die in den USA der 1830er Jahre allenthalben zu finden waren, sprachen nur eine Minderheit von Intellektuellen und anderen Gefolgsleuten an.37 Immerhin deutet ihre bloße Existenz an, wie umstritten mögliche Reaktionsmodi auf das Aufkommen marktkapitalistischer Praktiken und Mentalitäten in verschiedenen Akteursgruppen waren. Aber selbst die gesamtgesellschaftlich deutlich relevantere angebliche Kapitalismuskritik Andrew Jacksons und seiner Demokratischen Partei, insbesondere der südstaatlichen Sklavenhalter, sei, so Howe, günstigenfalls elegante Rhetorik gewesen, aber keine ernsthafte Kritik am Markt und dem kapitalistischen System.38 Gerade die Tünche antikapitalistischer Kritik, mit welcher sich die Südstaatenaristokratie umgab, konnte angesichts ihrer Anbindung an die globalen Baumwollmärkte kaum ernst gemeint sein. Trotzdem bedeutete dies nicht, von einem Fehlen sämtlicher Vorbehalte gegenüber dem modernen Marktkapitalismus in den USA der 1830er Jahre ausgehen zu können. Die Reaktionen in den USA spiegelten vielmehr die der Aufklärung

 33 Davenport, Unrighteous Mammon (wie Anm. 27), 2. 34 Charles Sellers, The Market Revolution. Jacksonian America, 1815-1845. New York 1991. 35 Doherty, Radicals for Capitalism (wie Anm. 1), 1-66. 36 Vgl. Howe, What Has God Wrought? (wie Anm. 7), 359, s.a. auch 379 zu Jacksons Haltung bezogen auf Papiergeld. 37 Ronald G. Walters, American Reformers, 1815-1860. New York 1978; Steven Mintz, Moralists & Modernizers. America’s Pre-Civil War Reformers. Baltimore 1995. 38 Daniel Walker Howe, Charles Sellers, the Market Revolution, and the Shaping of Identity in Whig-Jacksonian America, in: Mark A. Noll (ed.), God and Mammon. Protestants, Money, and the Market, 1790-1860. New York 2001, 54-74; s.a. ders., What has God Wrought? (wie Anm. 7), 510.

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insgesamt inhärenten Aporien von individueller Freiheit und vernunfthaftregulativer und damit freiheitsbeschränkender Suche nach Ordnung wider, die sich hier insbesondere im Bereich ökonomischer Theorie und Praxis niederschlugen. Wie im Bereich der Aufklärungstradition als Ganzes wurde diese Aporie auf dem Gebiet der Marktordnung durch eine zunehmende, aber kaum thematisierte Abkehr vom Pathos der Vernunft zugunsten dezisionistischvoluntaristischer und pragmatischer Lösungen relativiert. Für die USA bestand die ökonomische Dichotomie in der Rivalität zwischen einer an den Maßgaben der liberalen und marktorientierten political economy ausgerichteten Übernahme abstrakt kapitalistischer Marktbeziehungen, inklusive eines elaborierten Bankensystems bei gleichzeitig auf gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie abhebenden Sozialvorstellungen, wie sie Federalists und Whigs propagierten, und einem traditionalen Modell von moral economy, wie es bei den Demokraten im Gefolge Thomas Jeffersons und Andrew Jacksons heimisch war. Letzteres ist von besonderem Interesse, da es politisch die Koalition von konservativen Plantagenaristokraten aus dem Süden, katholischen Migranten im Norden, urbanen und kleinagrarischen Radikalen innerhalb einer Volkspartei überhaupt erst ermöglichte.39 Darüber hinaus liegen in dieser für die USA typischen und dadurch gewissermaßen exzeptionellen Koalition tatsächlich, wie Doherty annimmt, die Wurzeln für den libertarianism unserer Tage. Dieser Befund ist indes nicht frei von paradoxer Ironie, denn es waren ausgerechnet die schärfsten Kritiker des modernen Marktkapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aus denen dann nach vielfältigen Transformationen im späten 20. Jahrhundert seine radikalsten säkularen Befürworter hervorgehen sollten. Denn das ökonomische Denken der Jacksonian Democracy drehte sich, zumindest in der Rhetorik, primär um direkte Austauschbeziehungen zwischen Kleinproduzenten und Kleinkonsumenten in einer rural-agrarisch dominierten traditionalen Wirtschaft. Nur in diesem Kontext konnte der tugendsame, weil freie und auf Privateigentum gründende Kleinbauer existieren, der in den Augen Jeffersons für das Gedeihen der Republik unabdingbar war. Abstrakte Marktbeziehungen, individuelles Profitstreben um des Profites willen, Banken, Papiergeld etc. hatten in diesem Marktkonzept keinen theoretischen Ort, obwohl sie allmählich in der Vorbürgerkriegsära in die sozioökonomische Praxis der demokratischen Akteursgruppen mehr oder minder eingebaut wurden. Wichtig dabei war die von sämtlichen marktstrukturierenden politischen Kulturen dogmatisch akzeptierte Heiligkeit und Unantastbarkeit des Privateigentums und der absoluten Vertragsfreiheit. Gleichwohl unterschieden sie sich vehement in ihrem Verständnis dessen, was überhaupt ein Markt war und was er zu leisten hatte. Damit standen zum anderen rivalisierende Mentalitäten in engem Zusammenhang, insbesondere wenn es um das Verhältnis von sozioökonomischer und soziokultureller Regulation respektive Intervention ging. Die abs-

 39 Vgl. Michael Hochgeschwender, Wahrheit, Einheit, Ordnung. Die Sklavenfrage und der amerikanische Katholizismus, 1835-1870. Paderborn 2006, 110-134.

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trakt marktkapitalistischen Federalists und Whigs bevorzugten, wenn auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, neben einer stärker hierarchischen Gesellschaftsordnung vor allem eine auf umfassende Gesellschaftsreform zielende regulative, rigide Sozialkontrolle und Sozialdisziplinierung. Im Hintergrund standen Vorstellungen von einer urban-bürgerlichen Avantgarde, deren Aufgabe es sei, unter- und außerbürgerlichen Klassen die Nützlichkeit einer mit der Industrialisierung und dem Marktkapitalismus kompatiblen Mentalität nahezubringen. Dies konnte wahlweise auf der zivilgesellschaftlichen Ebene oder durch staatliche Intervention geschehen, was wiederum die staatlichen Bürokratien auf Bundes- und Einzelstaatenebene stärkte. Nicht so sehr der Markt, sondern die Marktteilnehmer sollten demnach reguliert werden. Umgekehrt lehnten die Anhänger der Jacksonian Democracy genau diese Form der Sozialdisziplinierung ab. Sie wollten möglichst wenig Regulation der soziokulturellen Ebene, und der Markt sollte weniger reguliert als auf überschaubare Einheiten und Verhältnisse zurückgestutzt werden, um dann der individuellen, bürgerlich-republikanischen Moral tugendhafter Marktteilnehmer unterworfen zu werden. Der Staat hatte auf beiden Ebenen nichts zu suchen. Weitaus mehr als bei den whiggistischen Marktliberalen mit ihrem Nationalisierungsdenken blieb er für Demokraten auf seine Funktionen im einzelstaatlichen Segment und als Nachtwächterstaat beschränkt. Ansonsten sollten soziale Ordnungen durch zivilgesellschaftliche und kommunitäre, gemeinschaftsbezogene Instrumentarien auf einer unterstaatlichen Ebene gelöst werden. Wie im Falle der Marktstruktur teilten allerdings beide Konfliktparteien bestimmte fundamentale Grundvoraussetzungen auch auf der mentalitären Ebene, so den Glauben an den self-made man und einen aller Regulation vorgängigen Individualismus.40 Bestimmte Elemente dessen, was man später als exzeptionell amerikanisch definierte, waren demnach bereits in der frühen Republik vorhanden, insbesondere ein weithin verbreiteter Glaube an die Möglichkeiten und Chancen des Individuums in einer möglichst freien Gesellschaft, wobei dann heftig über den Grad dieser Freiheit gestritten wurde. Dieser individuelle Freiheitsanspruch war in nichtbürgerlichen Klassen indessen häufig größer als im marktkapitalistischen, am disziplinierten Produktionsprozeß und seinen Werten ausgerichteten Bürgertum. Allerdings war er häufig in seiner demokratischen Variante entweder rassistisch präformiert, so beispielsweise in der bis in die 1960er Jahre währenden herrenvolk democracy des Südens41, oder, wie im Westen, offen genozidal.42

 40 Vgl. dazu Daniel Walker Howe, Making of the American Self. Jonathan Edwards to Abraham Lincoln. New York 1997. 41 Howe, What has God Wrought? (wie Anm. 7), 328, belegt, wie oft demokratische Verfassungsreformen selbst in den Freistaaten des Nordens vor 1860 mit dem Entzug des Wahlrechts für Schwarze verbunden waren. Die Delegitimierung weißer Eliten und der Schwarzen durch demokratische Propaganda ging Hand in Hand. Vgl. ferner zum Süden nach dem Bürgerkrieg Steven Hahn, A Nation under our Feet. Black Political Struggles in the Rural South from Slavery to the Great Migra-

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Mit dem Ende der formativen Epoche zwischen Revolution und Bürgerkrieg war die Etablierung der Marktparadigmatik noch keineswegs abgeschlossen. Der freie Markt schlechthin schien nur in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, insbesondere in der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise der 1890er Jahre, unangefochten zu dominieren. Tatsächlich hat, mit der möglichen Ausnahme Großbritanniens, der laissez faire-Gedanke in keinem Staat sich einer solch umfangreichen Anhängerschaft erfreut wie in den Vereinigten Staaten zwischen 1870 und 1893. Anders als vor dem Bürgerkrieg zog sich der Staat, mit Ausnahme des Westens, weitgehend aus der Infrastrukturpolitik zurück. Hatte er sich zuvor im Rahmen des American System stark, aber kaum regulativ, im Ausbau von Kanälen, Straßen und Kommunikationstechnologien engagiert, so überließen Union und Einzelstaaten dies mehr und mehr privaten Investoren. Gerade in den 1880er Jahren waren die sogenannten bearded presidents (Rutherford B. Hayes, James A. Garfield, Chester A. Arthur, Grover Cleveland und Benjamin Harrison, die, mit Ausnahme Clevelands, sämtlich Republikaner waren) regelrecht stolz auf ihre Politik des laissez faire.43 Diese Haltung wurde durch die weithin begeisterte Rezeption sozialdarwinistischen Gedankenguts seit den 1870er Jahren flankiert und intensiviert. 44 Populärkulturell wiederum trugen gerade im Gilded Age Kolportageromane dazu bei, das Bild eines freien, deregulierten Marktes mit im Vergleich zum alten und degenerierten Europa ungeahnten Möglichkeiten sozialer Mobilität nach oben zu verbreiten. Die Horatio AlgerRomane und weitere from rags to riches stories, die sich an realen Vorbildern wie Andrew Carnegie orientierten, führten den breiten Massen, insbesondere den vielen Migranten, die seit dem Ende des Bürgerkriegs ins Land geströmt waren, die Vorteile eines interventionsfreien Marktes vor Augen.45 Selbst das Baseballspiel, das damals gerade seinen Aufstieg zur nationalen Sportart Nummer eins erfuhr, wurde zum gefeierten Symbol für einen lediglich von individualmoralischer Selbstregulation strukturierten freien Marktkapitalismus und seine zivilisatorische und nationalidentitäre Mission. 46 Man kann



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tion. Cambridge 2003, der zudem auf die bedeutsame Funktion von rassistisch motivierter Gewalt, zum Beispiel beim lynching, aufmerksam macht, die benötigt wurde, um die herrenvolk democracy des Südens dauerhaft aufrecht zu erhalten. Walter Nugent, Into the West. The Story of its People. New York 1999. Vgl. Rebecca Edwards, New Spirits. America in the Gilded Age, 1865-1905. New York 2006; Nell Irvin Painter, Standing at Armageddon. The United States, 18771919. New York 1987. Carl N. Degler, In Search of Human Nature. The Decline and Revival of Darwinism in American Social Thought. New York 1991. LeRoy Ashby, With Amusement for All. A History of American Popular Culture since 1830. Lexington 2006, 30 und 146. Steven W. Pope, Patriotic Games. Sporting Traditions in the American Imagination, 1876-1926. New York 1997, und Steven A. Riess, Touching Base. Professional Baseball and American Culture in the Progressive Era. Lincoln 1999.

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sich vorstellen, wie tiefgreifend die Implantierung einer bestimmten Form deregulierten Marktdenkens in das amerikanische Selbstbild just in der zweiten formativen Phase nationaler Identitätsbildung gewesen sein muß. Allerdings erwies sich der freie Markt in seiner weitestgehend deregulierten Gestalt nicht nur als profitabel, sondern vielfach als dysfunktional. Dies belegten nicht allein die periodisch wiederkehrenden Wirtschaftkrisen in den 1870er, 1880er und vor allem 1890er Jahren, sondern überdies Phänomene, mit denen man in der Antebellumzeit und unmittelbar nach dem Bürgerkrieg nicht hatte rechnen können. Insbesondere der Trend, von den großen Banken wie J. P. Morgan unterstützt, in nahezu sämtlichen Bereichen der amerikanischen Volkswirtschaft Monopole und Oligopole auszubilden, die den Marktmechanismus komplett aushebelten und durch betriebsinterne Planungen ersetzten, führte gerade in den bürgerlichen Mittelklassen, die das Marktsystem befürworteten, zur Sorge um seine Überlebensfähigkeit. Hinzu kam die Unfähigkeit der Städte, ohne Intervention mit dem ungeahnten Wachstum durch Migration, mit dem Städtebau, der Sozialpolitik und der Integration von Ausländern zurechtzukommen. Da schließlich der Staat fast nur in Erscheinung trat, wenn es galt, gegen gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinteressen mit zum Teil erheblicher Gewalt vorzugehen, stellte sich die Frage, ob dies tatsächlich noch etwas mit freien Märkten oder einfach mit dem Umstand zu tun hatte, daß die Politik auf allen Ebenen wesentlich von oligarchischen ökonomischen Interessen beherrscht wurde. Neue Wissenschaften, wie die Soziologie, das social engineering 47 und die Eugenik 48 sowie der Taylorismus49 in der Industrie, traten schließlich mit dem Anspruch auf, unabhängig von den Distributionsmechanismen des deregulierten Marktes gesamtgesellschaftliche Reformen implantieren zu können. Vor diesem Hintergrund entstand seit den 1890er Jahren die heterogene bürgerlich-liberale, in Teilen sozialistische progressivistische Bewegung 50 , die sich zum einen, ganz im Interesse des Bürgertums, der Wiederherstellung des Marktes und dem Kampf gegen die Monopole verschrieb, zum anderen aber gleichzeitig und kompensatorisch gesellschaftliche Reformen, weitergehende Staatsinterventionen auf Bundes- und Einzelstaatenebene und restriktive Varianten einer neuerlichen Sozialdisziplinierung durchsetzen wollte.51 Das bekannteste Bei-

 47 Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. 48 Edwin Black, War against the Weak. Eugenics and America’s Campaign to Create a Master Race. New York 2003. 49 Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt/Main 2003, 61-99. 50 Zum Aspekt der Heterogenität s. Maureen A. Flanagan, America Reformed. Progressives and Progressivisms, 1890s to 1920s. New York 2007. 51 Vgl. Elisabeth Sanders, Roots of Reform. Farmers, Workers, and the American State, 1877-1917. Chicago 1999.

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spiel hierfür stellt sicherlich die Prohibitionsgesetzgebung des Jahres 1919 dar.52 Dieser neue Interventionismus, der gleichermaßen zivilgesellschaftlich wie staatlich ausgerichtet war, wurde dann in der Phase des New Deal Order zwischen 1930 und 1980 noch einmal erheblich ausgebaut. Für amerikanische Verhältnisse stellte diese Form der Marktregulation einen tiefen Bruch mit der Tradition dar. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die erheblich überzogenen Geltungsansprüche der mit dem Interventionismus verbundenen Weltanschauungen. Das social engineering etwa fuhr dann tatsächlich spätestens in den 1970er Jahren ebenso an die Wand wie der seit den späten 1930er Jahren rezipierte Keynesianismus in der Ökonomie. 53 Dies dürfte eng mit globalen Wandlungsprozessen zusammengehangen haben, die wahlweise als postfordistisch, als Globalisierung oder als „Zeitalter nach dem Boom“ beschrieben worden sind.54 In erster Linie aber war es die von den Keynesianern nicht vorhergesehene Mischung aus volkswirtschaftlicher Stagnation, hohen Arbeitslosenquoten, hoher Inflation, hoher Staatsverschuldung und hohen Steuern, die den keynesianischen oder militärkeynesianischen Ansatz der Kalten Kriegs-Ära seiner Plausibilität beraubte. Obendrein kollidierten die Gestaltungsansprüche des Progressivismus und des New Deal liberalism ganz praktisch mit der notorischen Ineffizienz amerikanischer Bürokratien. 55 Gleichzeitig ging die regulatorisch-interventionistische, sozialdisziplinierende Wende mit erheblichen Aporien in der Praxis einher, denn sie fiel ausgerechnet in die Phase der amerikanischen Geschichte, in welcher die Ideologie des consumerism mit ihren auf kommodifizierte Triebbefriedigung ausgerichteten materialistischen Werten allmählich die vorherrschende viktorianische Welt

 52 Welskopp, Amerikas große Ernüchterung (wie Anm. 17), 9-50, zu den progressivistischen Wurzeln der Prohibition. 53 Steigerwald, The Sixties (wie Anm. 10), 6. S. zusätzlich Philipp Jenkins, Decade of Nightmares. The End of the Sixties and the Making of Eighties America. New York 2006; John Steele Gordon, An Empire of Wealth. The Epic History of American Economic Power. New York 2005, 382-420. Zum Keynesianismus s. Harald Winkel, Die Volkswirtschaftslehre der neueren Zeit. Darmstadt 1994, 106-130. 54 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. 55 Es lag durchaus in der Konsequenz dieser für viele conservatives offenkundigen Ineffizienz, die in ihren Augen zudem rassische und ethnische Minderheiten zu bevorzugen schien, die in der weißen Mittelklasse als faul und arbeitsscheu, d.h. als undeserving poor konnotiert waren, daß die New Right der 1970er/1980er Jahre in Gestalt einer Steuerrevolte auftrat: Bruce J. Schulman, The Seventies. The Great Shift in American Culture, Society, and Politics. New York 2001. Einen Teil dieser Vorbehalte wird man auf rassistische Vorurteile, einen anderen auf die soziokulturelle Segregation in den urbanen und suburbanen Wohngebieten zurückführen dürfen, die keine genauere Kenntnis des marginalisierten „Anderen“ mehr zulassen.

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rigider Selbstkontrolle unter den Bedingungen straffer Produktionsregime ablöste.56 Mind Cure, wellness und New Thought waren die Stichworte einer neuen Epoche, welche die Ideale von Selbstzucht und -kontrolle bis in das Sterben und den Tod hinein ablösten. Triebe und Bedürfnisse sollten nunmehr konsumistisch ausgelebt und nicht mehr unterdrückt werden. Die Kulturkämpfe der 1920er Jahre waren, wie die culture wars seit den 1960er Jahren, Ausdruck der daraus resultierenden Rivalitäten zwischen konkurrierenden Lesarten von Gesellschaft, Kultur und Marktwirtschaft. Nahm man nur die sozioökonomische und die soziokulturelle Deutungs- und Handlungsebene in den Blick, ergaben sich idealtypisch mehrere mögliche Reaktionsmodi: Man konnte gleichzeitig regulativ auf beiden Ebenen tätig sein, wie viele Progressivisten, oder man trennte, wie die säkularen Liberalen, zwischen einem emanzipatorischen Befreiungsanspruch auf der soziokulturellen Ebene unter dem Stichwort der privacy57 und einem regulativen Interventionsanspruch mit Blick auf die Märkte.58 Zwei andere Wege wurden von den beiden Gruppen gewählt, die uns hier interessieren. Die Libertären griffen die logische Konsequenz der Progressivisten, die auch Altkonservativen und totalitären Ideologien zu eigen war, auf und drehten sie spiegelbildlich einfach um. In ihren Augen war jedwede Intervention des Staates soziokulturell wie sozioökonomisch Anathema. Die Rechtsevangelikalen des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederum spiegelten, wie die Mehrheit der amerikanischen conservatives, das Paradigma der liberals, das heißt, sie lehnten Eingriffe des Staates in den Markt ab, forderten aber eine Regulierung der soziokulturellen Ebene nach Maßgabe ihrer Religion. Der libertarianism entstand also ab den 1920er Jahren faktisch als Reaktion auf regulative und sozialdisziplinatorische Strategien des Progressivismus und des New Deal Order, zu denen etwa auch die auf Gleichstellung der Rassen in den USA zielende Politik der Affirmative Action im Gefolge der Great Society Lyndon B. Johnsons gezählt wurde. Es ist daher kaum ein Zufall, daß er vorrangig Angehörige der weißen Mittelklassen ansprach. Die Libertären verstanden sich als Vertreter einer tief ins 18. Jahrhundert zurück-

 56 Vgl. allgemein Leach, Land of Desire (wie Anm. 2 ), 153-262. S. ferner James J. Farrell, One Nation under Goods. Malls and the Seductions of American Shopping. Wahington, DC 2003. 57 Maßgeblich wurde hier das Urteil des United States Supreme Court aus dem Jahre 1965, Griswold v. Connecticut, das überhaupt erst ein Grundrecht auf privacy gegen die Tradition der moralischen Regulation, wie sie im Comstock Act von 1873, der eine Zensur in allen öffentlichen Debatten über deviante Formen von Sexualität auf Bundesebene vorsah, konstruierte. Vgl. Morone, Hellfire Nation (wie Anm. 17), 222-256. 58 Vgl. etwa Doug Rossinow, Visions of Progress. The Left-Liberal Tradition in America. Philadelphia 2008; Robert V. Daniels, The Fourth Revolution. Transformations in American Society from the Sixties to the Present. London 2006.

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reichenden spezifisch amerikanischen ideellen Tradition von Individualismus und kommunitär-zivilgesellschaftlicher Selbstregulation. Allerdings relativierten sie unter dem Eindruck der radikalen individualistischen Markttheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts den republikanischen Tugendkommunitarismus, den man bei Jefferson noch finden konnte, zugunsten eines deutlichen individualistischen und marktradikalen Zugs. Dazu trug vor allem die Rezeption des objektiven Realismus der Philosophin Ayn Rand bei, deren theoretische Schriften und Romane das fast absolut gedachte Selbstbestimmungsrecht freier Individuen hymnisch feierten.59 Die aus Rußland stammende jüdische Emigrantin wandte sich unter anderem explizit gegen alle religiösen Geltungsansprüche etwa im Bereich der Abtreibung, die sie ausschließlich als Sache der Frauen ansah, obwohl sie mit dem späteren Feminismus als kollektivistischer Ideologie nichts zu tun haben wollte. Im Grunde schwebte ihr eine Gesellschaft vor, die weitestgehend durch das freie Spiel konkurrierender Individuen gestaltet werden sollte und in der sich am Ende die stärksten Individuen im Sinne des Sozialdarwinismus durchsetzen würden. Dabei waren selbstredend die Rechte der beteiligten Individuen zu respektieren, allerdings ausschließlich im Sinne von Freiheitsrechten, nicht aber als Rechte sozialer Partizipation beziehungsweise als Schutzrechte für vom Markt oder politisch benachteiligte Personenverbände. Ayn Rand hat inzwischen innerhalb des libertären Lagers intellektuell an Einfluß verloren, obwohl etwa eine Persönlichkeit wie Alan Greenspan, der frühere Präsident der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve, aus ihrem geistigen Umfeld hervorgegangen ist. Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da es zu den Zielen der gegenwärtigen Libertären gehört, die Fed abzuschaffen und auch das staatliche Monopol des Gelddruckes zu privatisieren und den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen.60 Insgesamt hat sich der libertarianism zwar mitnichten von seinem anfänglichen Radikalindividualismus wegbewegt, aber seine theoretischen Grundlagen wurden in wachsendem Maße volkswirtschaftlich und epistemisch durchdrungen, was einer Abkehr vom ursprünglich philosophischen Impuls gleichkam. Gleichzeitig rückten die Libertären seit den 1960er Jahren, insbesondere seit der Niederlage Barry Goldwaters gegen Johnson 1964 mehr und mehr an die Seite der republikanischen conservatives, wobei die kurzlebige Koalition von Libertären und altkonservativen Katholiken in den von William F. Buckley maßgeblich formierten Young Americans for Freedom bei diesem Prozeß eine zentrale Rolle spielte.61 Buckley stand indes nicht alleine da. Unter den ame-

 59 Jennifer Burns, Goddess of the Market. Ayn Rand and the American Right. New York 2009. 60 Ron Paul, End the Fed. Boston 2009. 61 John A. Andrews, The other Side of the Sixties. The Young Americans for Freedom and the Rise of the Conservative Movement. New Brunswick 1997; Wayne Jacob Thorburn, A Generation Awakes. Young Americans for Freedom and the Creation of the Conservative Movement. Ottawa 2010.

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rikanischen Wirtschaftsführern, vor allem der zweiten und dritten Reihe (also weniger der Chefs der großen Unternehmen fordistischen Typus in Detroit und andernorts) kam es zu einer koordinierten Bewegung, die massiv gegen den bürokratischen welfare state opponierte und sich dabei ausgiebig libertären Gedankenguts bediente.62 Die Libertären ihrerseits fürchteten den starken, bürokratischen Staat, wie ihn die liberals der 1960er Jahre vor Augen hatten, als Weg in den Totalitarismus. Daher wandten sie sich Denkern wie Ludwig von Mises, FriedrichAugust von Hayek und Murray Rothbard zu, die den inhärenten Zusammenhang von Freiheit des Marktes und Freiheit des Individuums reflektierter als Rand aufwiesen. Jeder Eingriff in den Markt, jeder Cent an Steuern, jede neue Bürokratie, jede Idee sozialer Gerechtigkeit und sozialer Egalität waren demnach mit einem unmittelbareren und langfristig unkontrollierbaren Verlust an individueller Freiheit verbunden. 63 Die drei Säulenheiligen der Libertären lieferten ferner die epistemische Fundierung ihres individualistischen Marktradikalismus und der Gegnerschaft zum gesamtgesellschaftlichen Reformanspruch der liberals gleich mit: das Prinzip der epistemischen Demut. Vor allem Hayek hatte wiederholt auf die Unmöglichkeit einer umfassenden Erkenntnis des sozialen Ganzen aufmerksam gemacht, welche die Voraussetzung für gesamtgesellschaftliche Reform sei. Die Libertären, getragen von ihrer Neigung zur zugespitzten Logik, schlossen daraus, selbst pragmatische Reformen müßten letztlich im Totalitarismus enden, sie seien tatsächlich The Road to Serfdom, wie Hayek es formuliert hatte.64 Diese ideologische Neubewertung des Marktes und die Gegnerschaft zu Theorie und Praxis des New Deal Order in der Great Society waren für Fiskalkonservative und Neomonetaristen der Chicago School 65 im Lager des conservatism anschlußfähig. Unterstützt von reichen Geschäftsleuten wie den Brüdern Charles und David Koch sowie dem von ihnen finanzierten think tank, dem Cato Institute, gewannen die Libertären mit ihrem Rekurs auf amerikanische Traditionen von unbedingter Freiheit auf sämtlichen Ebenen in den 1980er Jahren durchaus Einfluß auf das konservative Segment der ameri-

 62 Vgl. dazu die aufschlußreiche Monographie von Kim Philipps-Fein, Invisible Hands. The Businessmen’s Crusade against the New Deal. New York 2009. 63 Doherty, Radicals for Capitalism (wie Anm. 1), 67-148 und 291-388. Eine kontroverse Diskussion libertärer Prinzipien und Dogmatik findet sich in Craig Duncan/Tibor R. Machan, Libertarianism for and against. London 2005. 64 Vgl. dazu jetzt Iris Karabelas, Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich August von Hayeks in der Bundesrepublik. Frankfurt/Main 2010. 65 Zum Facettenreichtum des conservatism vgl. Michael Hochgeschwender, Das Ende des Konsenses. Die Reformation des US-amerikanischen conservatism seit den 1920er Jahren, in: Helke Rausch (Hg.), Transatlantischer Kulturtransfer im „Kalten Krieg“. Perspektiven für eine historisch vergleichende Transferforschung. Leipzig 2006, 131-163. Zum Neomonetarismus Karl Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens. Frankfurt/Main 1998, 1090 ff.

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kanischen Bevölkerung. Ronald Reagan war in seiner Rhetorik sehr viel mehr libertär als konservativ oder gar evangelikal. Sein Handeln hingegen blieb eher einem klassischen, nichtlibertären conservatism verpflichtet. 66 In den Boomphasen der 1990er und der frühen 2000er Jahre blieben die Libertären dann argumentativ präsent, wurden jedoch in der öffentlichen Aufmerksamkeit durch das rechtsevangelikale Lager verdrängt. Erst mit dem Tea Party Movement der Gegenwart, das sich 2009 im Protest bildete gegen die staatlichen Interventionen der demokratischen Obama-Administration im Bereich des Krankenhauswesens und keynesianisch anmutender Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur, welche wiederum die Schulden der USA in astronomische Höhen trieben, erlebt libertäres Gedankengut im Lager der conservatives eine neue Blüte. Der konsumistisch-individualistische Impuls des libertarianism bleibt indes aktiv und ein stetes Hindernis für seine Massenwirksamkeit. Dogmatische Libertarians lehnen, anders als Sozialkonservative und Evangelikale, nach wie vor jede staatliche Regulation des Privaten ab. Sie treten beispielsweise für eine Freigabe leichter Rauschgifte ein, haben nichts dagegen, wenn eine amerikanische Fahne, die Privateigentum ist, entweiht wird oder lehnen eine strikte Antiabtreibungsgesetzgebung ab. Insofern können sie immer nur als Bestandteil einer Koalition wirksam werden, die sich den Werten des freien Marktes verschrieben hat. Auf diese Weise aber strukturiert libertäres Gedankengut das konservative soziale und kulturelle Vorverständnis vom Markt in einer Weise, daß viele potentielle Bündnispartner sich ihm kaum zu entziehen vermögen. Die Freiheit von Markt und Individuum ist für sie Grundlage ihres Patriotismus geworden.67 Dies gilt vorrangig für die Rechtsevangelikalen.

III. Das evangelikale Christentum, das Christentum in den USA überhaupt, mußte ökonomisch eine erheblich größere Anpassungsleistung erbringen als der libertarianism. Zum einen entstand letzterer überhaupt nur im Kontext der Herausbildung einer konsumistischen Marktgesellschaft, während das Christentum über eine deutlich ältere Tradition, die tief in vorkapitalistische Zeiten zurückreichte, verfügte. Diese Tradition aber befaßte sich zum anderen primär mit Aspekten der Armut und des Leidens als Ausdruck der Nachfolge des gekreuzigten Christus. 68 Reichtum galt nachgerade als Haupthindernis auf

 66 Vgl. das abgewogene Urteil von James T. Patterson, Restless Giant. The United States from Watergate to Bush v. Gore. New York 2005, 108-192. 67 Zur Kritik des libertären Marktverständnisses s. Thomas Frank, One Market under God. Extreme Capitalism, Market Populism, and the End of Economic Democracy. New York 2000. 68 Rudolf Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments. Bd. 1: Von Jesus zur Urkirche. Freiburg/Br. 1986, 136-143.

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dem Weg zum Heil.69 Insgesamt dürfte die Beobachtung Friedrich Wilhelm Grafs zutreffen, wonach „[i]nsgesamt gilt: Zwischen den religiösen Selbstund Weltdeutungen des Menschen und der Eigenlogik kapitalistischer Systeme bestehen elementare unaufhebbare Spannungen. Religionen werden sich niemals differenzlos in einen global gewordenen Kapitalismus einfügen können.“70 Allerdings wird man diese Einschätzung ausgerechnet für die Vereinigten Staaten erheblich relativieren müssen. Nirgendwo sonst haben sich bestimmte Typen christlicher Religion, namentlich die aus den vier beziehungsweise fünf Erweckungswellen hervorgegangenen rechtsevangelikalen, pentekostalen und fundamentalistischen Denominationen 71 derart intensiv, fast bis zur Selbstaufgabe der eigenen Traditionen und Prinzipien, an eine bestimmte Variante von Marktparadigmatik angepaßt wie dort. Dies geschah nicht auf einen Schlag, sondern auf der Grundlage europäischer Entwicklungen in der Frühen Neuzeit auf unterschiedlichen Ebenen und in zwei formativen Schüben, die exakt jenen der Formierung des libertären Denkens entsprechen: nämlich zum einen in der krisenhaften Transformation in eine produktionsorientierte, viktorianische nationale Marktgesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und zum zweiten in dem Aufkommen einer globalisiert-hedonistischen, konsumzentrierten Marktordnung zwischen 1880 und 1920, ein Vorgang, der nach den Rückschlägen der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs seit den 1960er Jahren noch einmal intensiviert wurde.72 Beginnen wir also mit den frühneuzeitlichen Grundlagen dieser dramatischen Wandlungen. Etwas überspitzt gesagt, stellten die reformatorischen Versuche des 16. Jahrhunderts ein retardierendes Moment in der ökonomischen Entwicklung des abendländischen Christentums dar. Die Spätscholastik und später die Barockscholastik waren bereits weit mit einer Reinterpretation der traditionell kritischen Haltung des christlichen Klerus gegenüber der Geldwirtschaft, dem Bankenwesen und vor allem der Zinsnahme fortgeschrit-

 69 Der Versuch von Rodney Stark, The Victory of Reason. How Christianity Led to Freedom, Capitalism, and Western Success. New York 2005, geht über diesen Aspekt doch etwas arg schnell hinweg, Connolly, Capitalism and Christianity (wie Anm. 26), 1-28, ist exegetisch unzulänglich. 70 Graf, Wiederkehr der Götter (wie Anm. 25), 192. Allerdings relativiert Graf diesen Befund bereits selbst erheblich, indem er mit Max Weber darauf aufmerksam macht, wie im Grunde dysfunktional gegenüber den Eigenlogiken des Marktes systemfremde ethische Interventionsversuche seien (187). 71 S. dazu Hochgeschwender, Amerikanische Religion (wie Anm. 12). 72 Vgl. dazu die eher optimistische Analyse von Vincent J. Miller, Consuming Religion. Christian Faith and Practice in a Consumer Culture. New York 2009. [Für diesen Hinweis danke ich Dr. Uta Balbier, Washington, DC.]

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ten. 73 Ohne diese Vorarbeiten wären die kapitalistischen Marktparadigmen wohl undenkbar geblieben, obwohl sie naturgemäß stark mit moraltheologischen Vorgaben behaftet waren. Annähernd zeitgleich war es im Gefolge des Humanismus zu einer ideellen Abwertung der freiwilligen wie der aufgezwungenen Armut, der Kontemplation, des (unproduktiven) Alters und der (gleichfalls unproduktiven) Krankheit gekommen.74 Dies entsprach in sozialer Hinsicht den Interessenlagen des urbanen Wirtschaftsbürgertums, das bereits seit dem Ausgang des Mittelalters die vorgebliche Ineffizienz kirchlicher Caritas kritisierte.75 Demgegenüber stellte, zumindest aus marktkapitalistischbürgerlicher Perspektive, der Biblizismus der Lutheraner und Calvinisten einen erheblichen Rückschritt dar, indem er die alten Werte von Armut und Leiden in der Nachfolge Christi noch einmal einschärfte. Eine grundlegende Unterscheidung der vorangegangenen Modernisierungsphase blieb gleichwohl intakt und gesellschaftlich relevant: Deserving poor, arbeitsfähige und arbeitswillige Arme, die möglichst nicht aus eigener Schuld in eine Notlage geraten waren, und underserving poor, die objektiv oder aus Gründen soziokulturell determinierter Imagination als arbeitsscheu galten, wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein immer strikter voneinander getrennt. 76 Gerade das soziale Ordnungsdenken und der mit der Fortschrittstopologie der Aufklärung verbundene Effizienzgedanke trugen mit dazu bei, Armut zu kriminalisieren, zu skandalisieren oder bürokratisch zu verwalten. Hatte der Unterscheidung von deserving und undeserving poor bis ins Spätmittelalter die Annahme zugrunde gelegen, daß Armut und die Armen zuvörderst als deserving zu gelten hätten, drehte sich dieses Verständnis ab dem 14. Jahrhundert allmählich zu Ungunsten der Armen um, denen nun die argumentative Bringschuld oblag, ihre Ansprüche zu begründen. Dies bildete dann den Hintergrund für die vorrangig in den Erweckungsdenominationen der calvinistischen Reformation seit dem 18. Jahrhundert erkennbaren marktkapitalistischen Transformationen der christlichen Tradition. Gewiß hatte dieser Prozeß eine explizit transatlantische Dimension, da er sich in wechselseitigen Transferschüben beiderseits des Atlantiks in Großbritannien und den USA abspielte, und zwar erheblich intensiver als in den parallelen kontinentaleuropäischen pietistischen Erweckungen. Die Trennung zwischen deserving und underserving poor blieb insbesondere für die weiße

 73 Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens (wie Anm. 65), 53-72; s. ferner Karl-Heinz Brodbeck, Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik. Darmstadt 2009, 402-459. 74 Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter. München 1984. 75 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. Münster 1987. 76 Vgl. allgemein Sylvia Hahn, Armut in Europa, 1500-2000. Innsbruck 2010; zu den wissenschaftlichen Rationalisierungen dieser sozialen Distinktion im 20. Jahrhundert s. Alice O’ Connor, Poverty Knowledge. Social Science, Social Policy, and the Poor in Twentieth-Century U.S. History. Princeton 2001.

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bürgerliche Erweckungsreligiosität konstitutiv, spiegelte sie doch deren Selbstbewußtsein wider. Angehörige der weißen Mittelklassen hatten dabei durchweg den vorneuzeitlichen benefit of doubt, während Angehörige migrantischer, ethnisch oder gar rassisch differenter und außerbürgerlicher Klassen rasch als undeserving abgetan werden konnten. Allerdings behinderte dies den gesellschaftlichen Reformwillen der amerikanischen Evangelikalen des frühen 19. Jahrhunderts noch nicht sonderlich, was wiederum mit der Art und Weise zusammenhing, wie marktradikales Gedankengut innerhalb des Protestantismus aufgenommen und innerhalb welcher Wahrnehmungsrahmen und Handlungsmuster es dann konkretisiert wurde. Tatsächlich vollzog sich die intellektuelle Aneignung der utilitaristischen Ideen von Adam Smith, Jeremy Bentham und anderen erst einmal nicht in den Reihen der evangelikal Erweckten, sondern im Bereich des christlichen mainstream der jungen Republik. Charles Sellers hat dabei auf zwei primäre Trägergruppen eines religiös interpretierten Utilitarismus aufmerksam gemacht: einerseits auf die urbanen Yankee Brahmins, überwiegend aufgeklärtrationalistische Deisten aus Neuengland, die den Federalists und Whigs nahestanden, andererseits auf die ebenfalls urban-bürgerlichen moderate lights aus der formalistischen, vom Methodismus beeinflußten Erweckungsbewegung, die demselben politisch-sozialen Lager angehörten. Ihre Gegner waren die radikal erweckten, meist kleinagrarischen oder kleinbürgerlichen New Lights, mehrheitlich mit baptistischem Hintergrund und bevorzugt mit den republikanisch-kommunitären Idealen der Jeffersonian Democracy sympathisierend.77 Stewart Davenport hat gleichwohl den Prozeß der intellektuellen Aneignung des Utilitarismus im protestantischen mainstream jüngst noch einmal differenzierter herausgearbeitet. 78 Demnach hätten die episkopalen Theologen John McVickar, Alonzo Potter und Calvin Colton, der unitarische Deist Francis Bowen, der Lutheraner Henry Vethake (dessen Bruder in der demokratischen Arbeiterbewegung der Locofocos an prominenter Stelle tätig war), der deutsche Whig Francis Lieber sowie, als einziger Erweckungstheologe, Francis Wayland die Lehren von Adam Smith aufgenommen und christlich gedeutet. Sie lasen die politische Ökonomie der Wealth of Nations von 1776 dabei nicht als Ausdruck eines an David Hume, der mit Smith ja eng befreundet war, ausgerichteten aufgeklärten Skeptizismus, sondern im Licht der Theory of Sentiments. Das ethische Interpretament Smiths deuteten sie freilich als Theologie der Schöpfungsordnungen, wonach Gott die irreversiblen und allgemeingültigen Gesetze des Marktes in die als Schöpfung verstandene Natur hineingelegt habe, aus der heraus der Mensch sie nun erkennen und anwenden konnte, indem er den Kräften des Marktes freien Lauf ließ. Es war

 77 Sellers, Market Revolution (wie Anm. 34 ), 202-236; vgl. ferner Morone, Hellfire Nation (wie Anm. 17), 117 f. 78 Davenport, Unrighteous Mammon (wie Anm. 27), 35-83; s.a. Mark A. Noll, America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln. New York 2002, 220224.

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also nicht mehr der menschliche Egoismus, der als zentrale Triebfeder der Ökonomie fungierte, sondern der Wille Gottes. Diese theologische Reinterpretation stieß auf erhebliche Vorbehalte nicht nur traditioneller Theologen. Insbesondere die Verfechter eines konservativorganischen Staatsverständnisses, darunter der schließlich zum Katholizismus konvertierte Intellektuelle Orestes A. Brownson, empfanden die Gleichsetzung von Marktgesetzen und göttlichem beziehungsweise natürlichem Gesetz als blasphemischen Bruch mit der sozialen Tradition des Christentums sowie als Vorstufe zu einem ausschließlich kapitalistisch dominierten Gesellschaftsund Staatsmodell, das sie vehement ablehnten.79 Überhaupt wird man sagen müssen, daß die katholische Kirche bis in das 21. Jahrhundert hinein unter allen religiösen Organisationen dieser neu interpretierten christlichen Sozialethik in den USA den meisten und schließlich in der katholischen Soziallehre am artikuliertesten formulierten Widerstand entgegen setzte. 80 In diesem Kontext wurde dann die Idee der sozialen Gerechtigkeit als Ergänzung zur aristotelischen Lehre von der Verteilungsgerechtigkeit relevant, ohne daß die katholische Soziallehre einem strikten Staatsinterventionismus das Wort geredet hätte. Aber im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sie sich gerade in den USA in Richtung des bürokratischen welfare state.81 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch wirkte die christliche Interpretation von Smith auf eine Mehrheit der amerikanischen Christen plausibel, obwohl sie ihr nur bedingt folgten, da sie weder das Problem der Armen und der Armut noch das der Heilsrelevanz des Reichtums nachhaltig zu klären verstand. Dafür aber war der christliche Utilitarismus mit seiner Wertschätzung von freien Märkten und Konkurrenz mit der neuen Situation der mainstream-Denominationen nach der Trennung von Staat und Kirche auch

 79 Davenport, Unrighteous Mammon (wie Anm. 27), 123-154; Jenny Franchot, Roads to Rome. The Antebellum Protestant Encounter with Catholicism. Berkeley 1994. 80 Dorothy M. Brown/Elisabeth McKeown, The Poor Belong to Us. Catholic Charities and American Welfare. Cambridge 1997; Craig Prentiss, Debating God’s Economy. Social Justice in America on the Eve of Vatican II. University Park 2008; Harlan Beckley, Passion for Justice. Retrieving the Legacies of Walter Rauschenbusch, John A. Ryan, and Reinhold Niebuhr. Louisville 1992. 81 Edward P. DeBerri/James E. Hug, Catholic Social Teaching. Our best kept Secret. Maryknoll 2009. Erst in den Umbrüchen der Zeit nach dem Vaticanum II fanden sich innerhalb des Katholizismus dezidierte Verfechter des Marktradikalismus, so z. B. Richard John Neuhaus, William F. Buckley oder Michael Novak. Bis dahin verfocht die katholische Kirche besonders die Interessen ihrer mehrheitlich nichtbürgerlichen Gläubigen, darunter viele irische Migranten aus dem Arbeitermilieu. Eine systematische Reflexion des Verhältnisses von katholischer Soziallehre und staatsinterventionistischem liberalism bietet aus neuscholastischer Perspektive Joseph Des Jardins, Liberalism and Catholic Social Teaching, in: The New Scholasticism, 61:3, 1987, 345-364.

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auf Einzelstaatenebene (bis 1832) kompatibel.82 Wenn der Markt generell der Schöpfungsordnung entsprach, dann auch der Markt der Religionen. In einer Gesellschaft, die zuvor kaum merkantilistischen, physiokratischen oder staatskirchenrechtlichen Ideen ausgesetzt gewesen war und in der die vorhandenen Staatskirchen bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Relevanz eingebüßt hatten, wirkte diese Argumentation durchaus überzeugend. Die Mehrheit der amerikanischen Christen jedoch blieb von diesen theoretischen Spekulationen unberührt, da sie eine antiintellektualistisch-enthusiastische, gefühlsbetonte Erweckungsfrömmigkeit aller theoretischen Spekulation vorzog. Nach Schätzungen Richard Carwardines zählten um 1830 etwa 80 bis 90 Prozent der amerikanischen Protestanten zu den evangelikal Erweckten, von denen wiederum die Mehrheit bis in die 1820er Jahre antiformalistische Kleinagrarier waren, ehe der urban-formalistische Flügel an Attraktivität gewann.83 Mit dieser Wende zur evangelikalen Bürgerlichkeit stellte sich die Frage nach dem Verhältnis der Erweckten zum Markt neu. Drei Ebenen waren dabei zu berücksichtigen, die sich wechselseitig durchdrangen: Zum einen mußte man zum utilitaristischen Marktparadigma Stellung beziehen, zum anderen harrte das individualmoralische Problem des Verhältnisses von Profit, Reichtum und Seelenheil der Lösung, und zum dritten mußte man – sozialmoralisch – mit den gesellschaftlichen und kulturellen Folgen des industriellen und marktwirtschaftlichen Modernisierungsprozesses und seiner immanenten Dynamik umgehen. Das erste Problemfeld wurde von den bekanntesten evangelikalen Predigern der Antebellumära Lyman Beecher, Charles Grandison Finney und Alexander Campbell, anders als bei den Theologen aus dem mainstream, nicht explizit theoretisch angegangen, sondern praktisch und zwar in enger Verbindung mit der zweiten Frage und der eigenen Praxis. Allein der bereits erwähnte Francis Wayland versuchte sich an einer theologischen Perspektive auf den Utilitarismus von Smith und griff auf die oben ausgeführten Ansätze zurück. Nicht so Beecher, Finney und Campbell, deren Antworten sich, bei allen Unterschieden im Detail, sehr ähnlich sahen. 84 Hatten noch um 1813

 82 Steven K. Green, The Second Disestablishment. Church and State in NineteenthCentury America. New York 2010. 83 Richard J. Carwardine, Evangelicals and Politics in Antebellum America. New Haven 1993, 3. Um diese Zahlen richtig einschätzen zu können, sollte man sich indes vor Augen halten, wie wenige Amerikaner im 19. Jahrhundert überhaupt religiös gebunden waren. 1850 gehörten 34% der Amerikaner einer religiösen Denomination an, erst 1906 waren es erstmals mehr als 50%, vgl. Roger Finke/Rodney Stark, The Churching of America. Winners and Losers in our Religious Economy. New Brunswick 1992, 16. 84 Vgl. Noll, America’s God (wie Anm. 78), 222-23; Noll (ed.), God and Mammon (wie Anm. 38); Balogh, Government out of Sight (wie Anm. 2), 282 f.; und Gunja Sengupta, For God and Mammon. Evangelicals and Entrepreneurs, Masters and Slaves in Territorial Kansas, 1854-1860. Athens 1996, 3-12.

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Prediger ganz konventionell den Reichtum und die Gier unter Verweis auf das neutestamentliche Nadelöhrgleichnis (Lk. 18, 24-27), das Lazarusgleichnis (Lk. 16, 19-31) und die Kritik am ungerechten Mammon (Lk. 16, 9-13) als schwerwiegende Hindernisse auf dem Weg zum Heil propagiert, so änderte sich dies ab 1817 erst allmählich und dann immer schneller. Lautete die Formel anfänglich, man dürfe sein Herz nicht an den Reichtum verschenken, ging Wayland um 1820 einen Schritt weiter und setzte die Freiheit der Verfassung, des Individuums und des Marktes in beinahe libertärer Manier in eins. In den 1850er Jahren wurde Reichtum dann zu etwas Gutem und Erstrebenswertem, ja sogar Gottgewolltem und das selbst für einen Antiformalisten wie Campbell. Diese Abkehr von der traditionellen Position ging mit einem Strukturwandel der formalistischen Anhängerschaft einher. Paul Johnson hat für die frühen Jahrzehnte nach dem Krieg von 1812 vom Shopkeeper’s Millennium gesprochen85, die Wirtschaftskrise von 1857 brachte dann ein Businessmen’s Revival hervor. 86 Die Erweckungsbewegung war endgültig im Herzen der amerikanischen urbanen Mittelklassen angekommen, was zugleich die Akzeptanz von nationalem Markt und kapitalistischer Mentalität beinhaltete. Mochte man auf der theoretischen Ebene allenfalls noch individualmoralische Vorbehalte pflegen, so gingen die Erweckungsprediger in ihrer Alltagspraxis noch erheblich weiter. Im Interesse der Religion billigten sie den Markt, den Wettbewerb und vor allem das marktkonforme Verhalten religiöser Gemeinschaften. Auf diese Weise partizipierten sie an einem religiösen Markt, den sie überhaupt erst schufen. Mehr noch, sie entwickelten Techniken der Marktteilhabe durch Werbung, psychologische Marketingstrategien, Ausnutzung neuer Kommunikations- und Transporttechnologien sowie die Selbstkommodifizierung des Religiösen, die erst im Gefolge der Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts von säkularen Marktteilnehmern übernommen wurden. Religion und Spiritualität wurden bedenkenlos als Produkte angesehen, die man mit möglichst modernen Methoden an den Mann bringen wollte, nicht zuletzt, um Profit zu erwirtschaften. Auf der ersten und zweiten Ebene waren die Evangelikalen vom libertären Gedankengut hinsichtlich ihrer Marktkonformität kaum zu unterscheiden. Insofern entstanden das utilitaristische Marktparadigma, die Vorformen des frühen libertarianism und die evangelikale Wende zum freien Markt im selben Zeitraum und prägten für ihr jeweiliges Milieu dessen Verständnis von amerikanischer nationaler Identität nachhaltig. In einem Punkt aber war der Evangelikalismus der Zeit vor dem Bürgerkrieg in keiner Form libertär (außer in seinen antiformalistischen Varianten): Die formalistischen Evangelikalen des Nordens traten mit großer Vehemenz für gesamtgesellschaftliche, zur Not auch staatlich initiierte Reformen ein. Sie zählten zu den radikalsten Aboli-

 85 Paul E. Johnson, A Shopkeeper’s Millennium. Society and Revivals in Rochester, New York, 1815-1837. New York 1978. 86 Kenneth M. Stampp, America in 1857. A Nation at the Brink. New York 1990, 236 ff.

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tionisten, traten für Temperenz oder gar komplette Abstinenz gegenüber Alkoholika ein, forderten energische Schul-, Gefängnis- und Justizreformen, leisteten der Frauenbewegung Vorschub und kämpften zum Teil gegen die Todesstrafe. Die viktorianischen Forderungen nach Selbstkontrolle, Selbstzucht und sexueller Disziplin waren ihnen eine Selbstverständlichkeit.87 All dies hatte seine Wurzeln nicht allein in der sozialen Zusammensetzung der formalistischen Erweckungsbewegung, sondern resultierte aus leidenschaftlichen religiösen Überzeugungen. Die Evangelikalen des frühen 19. Jahrhunderts waren, theologisch gesprochen, Postmillenniaristen, Arminianer und Perfektionisten. Im Gegensatz zu orthodoxen Calvinisten glaubten sie, allen voran Beecher und Finney, nicht mehr an die Prädestinationslehre, sondern daran, daß Gott alle Menschen zum Heil berufen hatte und deswegen auch alle Menschen durch Mission zum Heil geführt werden könnten. Obendrein verfochten sie die Idee, jeder Mensch sei bereits weltimmanent und nicht erst im Jenseits zur Perfektion berufen. Die eigentliche Würze erhielt diese theologische Gemengelage vom apokalyptischen Postmillenniarismus. Demnach stand die Endzeit unmittelbar bevor, aber anders als es die traditionelle prämilleniaristische Auslegung der apokalyptischen Stellen des Neuen Testamentes vorsah, würde die Parusie Christi erst erfolgen, wenn die menschlichen Gesellschaften perfekt geordnet seien, weniger durch Gnade als durch Anstrengungen der Menschen. Damit aber war soziales Handeln, zur Not auch mit staatlicher Unterstützung, unabdingbar geworden. Der Markt der Evangelikalen vor 1860 war demnach ein regulierter reformistischer Markt, dessen Freizügigkeit im Sinne der Whigs durch Sozialreform gebändigt werden mußte. Der postmillenniaristische Furor hielt bis zum Bürgerkrieg an, um dann von der älteren und sozial konservativeren Variante des individualmoralischen endzeitlichen Prämilleniarismus abgelöst zu werden. Allein die theokratische Dominion Theology vertrat im 20. Jahrhundert noch einen, nunmehr libertär gewendeten, Postmilleniarismus, blieb damit aber minoritär.88 Nach dem Bürgerkrieg kam es zwar seit den 1870er und 1880er Jahren, zum Beispiel durch Dwight L. Moody, zu neuen Erweckungen, aber das soziale Engagement wurde zugunsten einer neuerlichen Betonung menschlicher Gnadenbedürftigkeit zurückgestellt, ja es ging ganz verloren. Neben der katholischen Soziallehre war es dann vornehmlich die im kulturprotestantischliberalen mainstream von Episkopalen und Lutheranern angesiedelte social gospel-Bewegung, welche die Fahne eines staatsinterventionistischregulativen Marktverständnisses in der Koalition mit bürgerlichen und sozia-

 87 Hochgeschwender, Amerikanische Religion (wie Anm. 12), 77-116; Morone, Hellfire Nation (wie Anm. 17), 123-221. 88 Bruce Barron, Heaven on Earth? The Social and Political Agendas of Dominion Theology. Grand Rapids 1992.

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listischen Progressivisten und New Dealern aufrecht hielt.89 Um es mit dem Vordenker des social gospel Walter Rauschenbusch zu sagen: Den Evangelikalen ging die prophetische Sozialkritik, der Geist Jeremias’, Isaias oder des Evangelisten Lukas verloren.90 Hatten die Evangelikalen zuvor teilweise daran mitwirken können, den im Kern von der Idee des laissez-faire beherrschten Markt regulativ einzuhegen, so verloren sie bis in die 1970er Jahre, der Phase dominanter keynesianischer Denkmuster, jeglichen Einfluß auf die Definitionshoheit über das herrschende amerikanische Marktparadigma. Um so mehr zogen sie sich in die libertäre Ecke zurück, da sie in einem starken Staat eine Gefahr für ihre auf möglichst große Autonomie bedachte lokalistische Gemeindeorganisation sahen. Zudem verbanden sie mit dem libertarianism die Wende zum Konsum. 91 Prediger wie Moody oder später Billy Sunday und Billy Graham arbeiteten mit großen Warenhausketten und Industriellen zusammen, viele Evangelikale wurden in der Werbeindustrie tätig, Religion wurde noch einmal erheblich mehr zur Ware, zum Produkt als im 19. Jahrhundert. In den 1920er Jahren zeichnete Sinclair Lewis mit seinem Roman Elmer Gantry ein beißend ironisches Bild evangelikaler Selbstkommodifizierung. Seit den 1950er Jahren formierte sich, ironischerweise gestützt durch Gelder aus staatlichen New Deal-Programmen, die Warenhauskette Wal-Mart, die nicht nur evangelikale Produkte vertrieb, sondern gezielt auf evangelikale Familienwerte bei ihren südstaatlichen Kunden abhob.92 In den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und im Verlaufe des Wechsels zum neuen Millennium, der noch einmal den ganzen apokalyptischen Enthusiasmus des nordamerikanischen Evangelikalismus freisetzte, erlebte die Selbstkommodifizierung dieses Religionstypus einen vorläufigen Höhepunkt. Televangelisten und mega churches propagierten offen ihre religiösen Geschäfts- und Gewinninteressen, wobei eine Vielzahl von Finanz-

 89 Daneben dürfen zwei Gruppen evangelikaler Provenienz nicht außer Acht gelassen werden, die bis heute an einer regulierten Marktordnung festhalten, zum einen die weißen Linksevangelikalen, die neuerdings als New Evangelicals bezeichnet werden, zum anderen die black church, die ebenfalls entweder evangelikal oder pentekostal ausgerichtet ist. Beide Gruppierungen stehen der Demokratischen Partei nahe. Vgl. dazu Marcia Pally, Die Neuen Evangelikalen in den USA. Freiheitsgewinne durch fromme Politik. Berlin 2010, und – sehr selbstkritisch – Curtis J. Evans, The Burden of Black Religion. New York 2008. In den 1890er Jahren fanden sich im populistischen Lager vereinzelt und zeitweilig regulatorisch gesonnene Evangelikale. S. Joe Creech, Righteous Indignation. Religion and the Populist Revolution. Urbana 2006. 90 Vgl. dazu Ronald C. White, Jr., Liberty and Justice for All. Racial Reform and the Social Gospel, 1877-1925. Louisville 2002; Ronald C. White/C. Howard Hopkins, The Social Gospel. Religion and Reform in Changing America. Philadelphia 1976. 91 Leach, Land of Desire (wie Anm. 2), 191-224. 92 Moreton, To Serve God and Wal-Mart (wie Anm. 16), 24-66.

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skandalen hinreichend belegte, daß die Trennlinie zwischen religiösem und privatem Bereich nicht immer klar gezogen wurde. Darüber hinaus professionalisierte sich der Handel mit religiöser Literatur, christlichem Rock und Pop, ja es entstanden ganze, miteinander verwobene Produktpaletten, etwa im Gefolge der ungemein populären apokalyptischen Left Behind-Serie, die sich wiederum an den inhaltlichen Vorgaben säkularer amerikanischer Populärkultur orientierte. Insbesondere die Gewaltdarstellung des klassischen Western wurde hier religiös verbrämt aufgenommen und entlang der von der modernen Tricktechnik gezogenen Grenzen radikalisiert. Lawrence und Jewett haben für diesen Komplex nicht umsonst den Begriff des credotainment geprägt, das sich insoweit in den Bahnen des von ihnen diagnostizierten Monomythos bewegt, als es tendenziell demokratisches Procedere delegitimiert und durch die Gewalt messianischen Übermenschentums ersetzt. 93 Theologisch flankiert wurde diese totale Internalisierung des freien Marktes mitsamt ungehemmten Profitstrebens durch die theology of prosperity, wie sie von Joyce Meyer und Joel Osteem vertreten wurde, die – analog zur raptureIdeologie der Prämillenniaristen – den Leidensaspekt in der Nachfolge Christi ausblendete und zugunsten einer weitgehend innerweltlichen Wohlstandsund Konsumlehre ersetzte. William Connolly hat in diesem Zusammenhang von einer Evangelical-Capitalist Resonance Machine gesprochen.94 Man mag dies aus abstrakt religionswissenschaftlicher oder soziologischer Perspektive als bloße soziokulturelle Transformation, als Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Vorgaben innerhalb des amerikanischen Binnenkontextes beschreiben, aus der Sicht christlicher Theologie stellt diese materialistischkonsumistische Amerikanisierung von Religion eine deutliche Abweichung von den Intentionen des Gründers dar. Parallel führte die Selbstkommodifizierung des Religiösen in Teilen des Lagers der New Christian Right zum Abbau theologischer Spannungen im Rahmen eines New Interdenominationalism, dem es um gesellschaftliche Praxis, aber weniger um theologische Dogmatik, ja nicht einmal um religiöses Wissen zu tun war95, ohne indes einen emotionalen Wahrheitsanspruch für das Milieu und weniger für die Denomination gänzlich aufzugeben. Dies erleichterte die Anpassung dieser Variante des Christlichen an den Markt noch einmal erheblich. Auf der eigentlich ökonomischen Ebene von gesellschaftlichem Handeln standen sich Rechtsevangelikale und Libertäre seit den 1920er Jahren bis zur Austauschbarkeit nahe. Beide favorisierten einen deregulierten Markt und einen schwachen, entbürokratisierten Staat. Während die Libertären jede

 93 Lawrence/Jewett, Myth of the American Superhero (wie Anm. 3), 326-337. 94 Connolly, Capitalism and Christianity (wie Anm. 26), 39-68. Vgl. ferner Sara Diamond, Not by Politics Alone. The Enduring Influence of the Christian Right. New York 1998. 95 Moreton, To Serve God and Wal-Mart (wie Anm. 16), 94. Zur Problematik religiöser Unwissenheit in den USA vgl. Stephen Prothero, Religious Literacy. What every American Needs to Know – and Doesn’t. San Francisco 2007.

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Form von sozialer Fürsorge als Eingriff in den Markt beziehungsweise als Stärkung staatlicher Bürokratien verwarfen, lehnten indes die Rechtsevangelikalen karitatives Engagement nicht a priori ab. Sie lehnten sich lediglich gegen den bürokratischen welfare state auf, den sie wie die Libertären als Gefahr für die individuelle Freiheit perzipierten. Seit den 1980er Jahren propagierten sie statt dessen die sogenannten faith-based and community initiatives, durch die staatliche Gelder mittels zivilgesellschaftlicher, primär religiöser Institutionen verteilt werden sollten, was bei liberals auf erhebliche Bedenken stieß, da sie einen Verstoß gegen die strikte Trennung von Staat und Religion witterten.96 Ausgehend vom Gedankengut des konservativen Intellektuellen Marvin Olasky hat sich dann insbesondere die Regierung Bush II der faith-based and community initatives bedient, die aus Sicht seiner rechtsevangelikalen Stammwählerschaft überdies den Vorteil hatten, die soziale Funktion der denominationalen Gemeinden zu stärken.97 An diesem Beispiel aber sieht man bereits, wo die Unterschiede zwischen Libertären und Rechtsevangelikalen weiterhin lagen. Trotz des Übergangs vom Postmillenniarismus zum Prämillenniarismus hatte sich die soziokulturelle Agenda des Evangelikalismus nicht verflüchtigt. Sie war nur in andere Bahnen gelenkt worden. Dazu hatten drei Entwicklungen beigetragen: Erstens war die evangelikal-liberale Reformkoalition des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des Darwinismus spätestens in der Zeit des gemeinsamen Kampfes um die Prohibition zerbrochen und durch eine Koalition säkularer Progressivisten mit den Anhängern des kulturprotestantischen social gospel ersetzt worden. Für die Evangelikalen waren in den 1920er Jahren weniger der Sozialdarwinismus und die Eugenik das Problem, an die sie oft genug selbst glaubten, sondern die Unvereinbarkeit von biologischem Darwinismus und literaler Schriftexegese. Dies wiederum beinhaltete keinen genuinen Antimodernismus, sondern eine selektive Modernität, die sich vor allem im Kampf um die diskursive Hoheit in Fragen nationaler Identität im Schulwesen auswirkte. Rechtsevangelikale konnten gleichzeitig sozialdarwinistische und rassistische Computerexperten sein und Gegner der Evolutionstheorie.98 Zweitens intensivierte sich seit den 1940er Jahren auf evangelikaler Seite das Gefühl, der liberal-bürokratische Staat entwickele sich aus ideologischen Gründen zu einem freiheitsgefährdenden Monster, das vorrangig den idealisierten gesellschaftlichen Grundkonsens der Republik des 19. Jahrhunderts in Frage stelle. Die Urteile des United States Supreme Court, die mehr und mehr

 96 Vgl. Linda Kintz, Between Jesus and the Market. The Emotions that Matter in Right-Wing America. Durham 1997. 97 Marvin Olasky, Compassionate Conservatism. What it Is, What it Does and How it can Transform America. New York 2000. 98 Christine Rosen, Preaching Eugenics. Religious Leaders and the American Eugenics Movement. New York 2004; Paul K. Conkin, When all the Gods Trembled. Darwinism, Scopes, and American Intellectuals. Lanham 1998.

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einen laizistisch interpretierten wall of separation zur Grundlage hatten, wurden mithin in den Augen der Evangelikalen zu Menetekeln liberaler Eingriffe in die Autonomie der Religion. Dies betraf die Finanzierung von konfessionellen Privatschulen ebenso wie die konfessionelle Karitas, das Verbot des Schulgebets 1962 in Engel v. Vitale, vor allem aber Eingriffe der Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) in die Belange der ultrafundamentalistischen Bob Jones University, weil diese sich Mitte der 1970er Jahre der Affirmative Action verweigerte. Dies wurde zur Geburtsstunde der Neuen Christlichen Rechten in den USA.99 Wie im libertären Segment, mit dem man die rurale und suburbane gesellschaftliche Basis teilte, wurden diese liberalbürokratischen Interventionen als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht freier, hart arbeitender Bürger gesehen und nicht, wie in der liberalen Analyse, als notwendige Resultate moderner Pluralisierungs- und Säkularisierungsvorgänge. Die ohnehin theoretisch schwach fundierte Idee sozialer Notwendigkeiten war weder Libertären noch Evangelikalen einsichtig, obwohl sich beide Gruppen über jeweils unterschiedliche Staatseingriffe beschwerten. Einig waren sie sich freilich darin, stets dieselben Begünstigten auszumachen: die undeserving poor. Diese Einigkeit macht auch die Handlungsfähigkeit der ungleichen Partner aus. Der zentrale Unterschied zwischen Libertären und Rechtsevangelikalen aber lag auf der dritten Ebene.100 Im Gegensatz zu den Libertären, die mit vielen Ergebnissen der Kulturrevolution der 1960er Jahre, insbesondere im Bereich sexueller Freizügigkeit, leben konnten, sie teilweise sogar befürworteten oder schlicht ins Belieben der Individuen stellten, war der Lebensstil der baby boomer-Generation für die viktorianischen Evangelikalen unerträglich. Sie hielten an den soziokulturellen Agenden des 19. Jahrhunderts unbeirrt fest, am Kampf gegen Abtreibung, Homosexuellenehe und Scheidung, an Familienwerten und Patriotismus. Anders als ihre postmillenniaristischen Ahnen brachten sie diesen Kampf aber nicht mehr mit gesamtgesellschaftlichen Reformen in Zusammenhang, denen es um Partizipation an sozialmoralisch regulierten Märkten ging. Ganz im Gegenteil bekamen sie die gleichen logischen Konsistenzprobleme wie die säkularen liberals. Für beide Lager fielen spiegelbildlich sozioökonomische und soziokulturelle Werthaltungen auseinander. Wo die liberals Privatheit deregulieren und Märkte regulieren wollten, suchten die Rechtsevangelikalen ihr Heil in der umgekehrten Konsequenz: freie Märkte mit strikt reguliertem Privatleben. Kooperative und solidarische Familien- und Gemeinschaftswerte kollidierten mit den Regeln der Profitmaximierung im Bereich radikal freier Märkte. Genau dies aber war für Libertäre inakzeptabel. Und exakt an diesem Punkt sind die Sollbruchstellen der gegenwärtigen konservativ-marktradikalen Koalition zu finden. Dort ist

 99 Vgl. Diamond, Spiritual Warfare (wie Anm. 20), und dies., Roads to Dominion. Right-Wing Movements and Political Power in the United States. New York 1995. 100 Hochgeschwender, Amerikanische Religion (wie Anm. 12), 166-214.

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seit dem Aufkommen des Tea Party Movement eine relative Hegemonie der Libertären zu erkennen, nachdem über zwei Jahrzehnte lang evangelikale, neokonservative und fiskalkonservative Kräfte den Ton angegeben hatten. Das Problem liegt jedoch in den Mehrheitsverhältnissen. Obwohl libertäres Gedankengut in mannigfachen Facetten in den USA weit verbreitet ist, stellen dogmatische Libertäre eine quantitativ schwer einzuschätzende Minderheit dar. Demgegenüber verfügen die Rechtsevangelikalen, trotz eines erkennbaren Nachlassens ihres apokalyptischen Enthusiasmus’, über eine breite, sozial relativ homogene Basis in den recht gut ausgebildeten, aufwärts mobilen weißen suburbanen Mittelklassen. Sie werden sich daher auf Dauer, wenn es um die Definition der gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen von globalem Marktradikalismus in den USA geht, kaum an die Wand drängen lassen.

IV. Was also bleibt? Man muß sich wohl von der Vorstellung eines „angelsächsischen Marktmodells“ verabschieden.101 Was wir dafür halten, ist das Ergebnis permanenter soziokultureller Aushandlungsprozesse vor allem in den USA, in denen seit rund 30 Jahren eine heterogene, aber national wie international handlungsfähige Koalition divergierender Akteure und Interessen hegemonial ist. Auffällig ist der missionarische Eifer, mit dem Libertäre und Rechtsevangelikale den freien, deregulierten Markt als säkulares oder gar religiöses Heilsprojekt verkaufen. Nicht nur die Libertären versuchen, über think tanks und konservative Privatuniversitäten kulturelle Hegemonie im ökonomischen Segment zu erringen. Die Rechtsevangelikalen stehen ihnen in keiner Weise nach. Besonders interessant sind Versuche, marktradikales Gedankengut etwa unter lateinamerikanischen Glaubensbrüdern zu verbreiten. 102 Gleichzeitig haben sich die Libertären und ihre rechtsevangelikalen Bundesgenossen von sämtlichen ethischen, ordoliberalen Regulationen des Marktes weitgehend verabschiedet. Insofern trifft Grafs oben erwähntes Diktum von der bleibenden Eigenständigkeit der Religion gegenüber dem Markt für die rechtsevangelikalen Denominationen längst nicht mehr zu, so sehr sie an der doktrinären Regulation des soziokulturellen Sektors festhalten mögen. Vor allem aber ist von bleibender Bedeutsamkeit, wie sehr die libertär-evangelikal-konservative Konstellation es fertig gebracht hat, den freien Markt und das freie Unternehmertum zu den Kernmarkern amerikanischer nationaler oder transatlantisch-angelsächsischer Identität überhaupt zu machen. Historische Alternativen werden konsequent ausgeblendet oder als unamerikanisch denunziert. Dabei hat es in den USA, mehr noch in Großbritannien, stets Alternativen zu

 101 Vgl. dagegen den Entwurf von Gregory Clark, A Farewell to Alms. A brief Economic History of the World. Princeton 2007. 102 Moreton, To Serve God and Wal-Mart (wie Anm. 16), 145-247.

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dieser Art von kapitalistischer Marktorganisation gegeben, in denen entweder der Staat oder sozialmoralische zivilgesellschaftliche Instanzen für die Regulation der Märkte verantwortlich waren. Man bedenke nur, daß in den 1950er Jahren der katholische, neuthomistische Sozialphilosoph Johannes Messner in Kenntnis des von ihm positiv eingeschätzten ökonomischen Liberalismus der angelsächsischen Welt die USA, gleichfalls positiv, als Hort des modernen demokratischen Sozialismus beschrieb.103 Dessen ungeachtet macht die Rede vom angelsächsischen Marktmodell dann Sinn, wenn man es als einen möglichen und gegenwärtig hegemonialen Ausdruck permanent rivalisierender assemblages und Paradigmata innerhalb des transatlantischen Kulturraums begreift.

 103 Johannes Messner, Die soziale Frage im Blickfeld der Irrungen von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen. Innsbruck 1956 196 und 393 f.

Liberaler Kapitalismus, Libertarismus und Kulturtheorie Zur Bedeutung Friedrich August von Hayeks für das staatskritische Denken im ausgehenden 20. Jahrhundert I RIS K ARABELAS

I. (O RDO -)L IBERALER , K ONSERVATIVER ODER L IBERTÄRER ? Friedrich August von Hayek nannte sich sein ganzes Leben lang einen Liberalen.1 Den Ideen des heute als klassisch bezeichneten Liberalismus, wie er sich vornehmlich im England und Schottland des 18. und 19. Jahrhunderts herausbildete, stand er dabei besonders nahe. So rekurrierte er etwa bei der Wahl des Titels seiner wohl bekanntesten Monographie „Der Weg zur Knechtschaft“ von 19442, auf eine Formulierung von Alexis de Tocqueville3, und verwies im Text mehrfach auf John Locke, David Hume, Adam Smith, John Stuart Mill und Lord Acton. 4 Ein Blick in seine weiteren Schriften, insbesondere sein opus magnum „Die Verfassung der Freiheit“ von 19605 , macht außerdem deutlich, dass er sich intensiv mit den klassisch liberalen Prinzipien – Freiheit, Privateigentum, Rechtsstaat und Gewaltenteilung – auseinandersetzte6, und dies, obwohl er seine wissenschaftliche Karriere nicht

 1 2 3 4 5 6

Friedrich A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit. 4. Aufl. Tübingen 2005, 492. (The Constitution of Liberty. Erstausgabe 1960). Friedrich A. v. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft. München 2007. (The Road to Serfdom. Erstausgabe 1944). Alan Ebenstein, Friedrich Hayek. A Biography. New York 2001, 116. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (wie Anm. 2), 18, 31, 32, 62, 82, 99, 113-114, 135, 173, 184, 229, 271. Hayek, Die Verfassung der Freiheit (wie Anm. 1), 2005. Siehe ebd., v. a. Teil 1 „Der Wert der Freiheit“ (13-167) und Teil 2 „Recht und Gesetz“ (169-342).

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als Sozialphilosoph, sondern als Nationalökonom begonnen hatte, der sich zunächst vor allem Fragen der Geld- und Konjunkturtheorie zuwandte. Selbst- und Außenwahrnehmung einer Person können jedoch bekanntlich deutlich verschieden sein. Bis heute lassen sich unterschiedliche, ja widersprüchliche Interpretationen der Person Hayeks ausmachen, die den offensichtlich schwierigen Versuch zum Ausdruck bringen, ihn ideell zu verorten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde er häufig zu den „aktivsten Vertretern“7 des Ordoliberalismus gezählt. Damit wurde er der spezifisch deutschen Gruppierung des Neoliberalismus zugeordnet, dessen Vertreter in Europa und in den USA während der 1920er- und 1930er-Jahre angesichts des starken Anwachsens der dezidiert antiliberalen Massenbewegungen des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Sowjetkommunismus eine Neuformulierung (wirtschafts-)liberalen Denkens anstrebten. 8 Als bekanntester ordoliberaler Kreis gelten die Vertreter der Freiburger Schule, vornehmlich seine Begründer Walter Eucken und Franz Böhm, die sich in der jungen Bundesrepublik als Vordenker und wissenschaftliche Wegbegleiter des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft einen Namen machten.9 Auch Hayek wurde oftmals als einer der „führenden Köpfe“10 der Freiburger Schule bezeichnet. Andere vertraten dagegen die Ansicht, dass Hayek ein Konservativer sei.11 Für den europäischen Kulturraum mutet diese Deutung seltsam an, da Konservativismus und Liberalismus hier stets konträre Geisteshaltungen darstellten. Aus US-amerikanischer Sicht erscheint diese Interpretation Hayeks dagegen weniger widersprüchlich, denn liberalism und conservatism

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August von Hayek. Ökonom und Philosoph, in: Bayernkurier, 11.5.1974; Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek gestorben, in: Süddeutsche Zeitung, 25.3.1992. 8 Milène Wegmann, Früher Neoliberalismus und europäische Integration. Interdependenz der nationalen, supranationalen und internationalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1932-1965). Baden-Baden 2002, 135-145. 9 Bernhard Löffler, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard. Stuttgart 2002, 72-75. 10 F. A. von Hayek 85 Jahre, in: Stuttgarter Zeitung, 7.5.1984; Böhme, Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, an Friedrich A. v. Hayek, 8.5.1984, in: Hoover Institution Archives (künftig: HIA), Nachlass (künftig: NL) Hayek, Papers, 2-8; Pressemitteilung der FDP anlässlich des Todes Friedrich A. v. Hayeks, 24.3.1992, in: Archiv des Bundespresseamtes, Presseausschnittssammlung zu Friedrich A. v. Hayek. 11 Helga Grebing, Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Frankfurt a. M. 1971, 318-325; Stephan Böhm, Die Verfassung der Freiheit. Friedrich August von Hayek ist die zentrale Leitfigur konservativer Ökonomen, in: Die Zeit, 2.4.1993; Sub verbo v. Hayek, Friedrich August von, in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.), Lexikon des Konservatismus. Graz/Stuttgart 1996, 235-237.

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bildeten hier „zwei Seiten einer Medaille“12. Ausgehend von der politischen Philosophie Lockes rückten nämlich beide das Individuum in ihr geistiges Zentrum und stellten insofern genuin liberale Ideenströmungen dar. Identisch waren sie deshalb freilich nicht, denn die Annahme von der Egalität des Menschen, die auch Hayek nicht teilte, fand allein in das Programm des liberalism Eingang.13 Wenn Hayek also in den USA als conservative bezeichnet wurde, so entsprach dies anders als in Europa weitgehend seinem Selbstbild als Liberalem, was sich allerdings wegen der verschiedenen Bedeutungsinhalte von Liberalismus und Konservativismus diesseits wie jenseits des Atlantiks nicht unmittelbar erschließt. Gegenwärtig am bekanntesten ist wohl die Rezeption Hayeks als Repräsentant der Ideologie des liberalen Kapitalismus bzw. des Libertarismus, der als wissenschaftlicher Vorläufer des liberalen Kapitalismus zu betrachten ist. In der Bundesrepublik verdeutlichte sich diese Sichtweise auf Hayek meist in kritisch gemeinten Etikettierungen seiner Person als „Anarchokapitalist“ 14 , „Sozialdarwinist“15 oder „Messias“16, der die „totale Marktwirtschaft“17 predige. Als weitere zentrale Vertreter des Libertarismus gelten die US-amerikanischen Philosophen und Ökonomen Robert Nozick, Murray Rothbard und Israel Kirzner,18 deren Denken maßgeblich durch die Österreichische Schule der Nationalökonomie, auch Wiener Schule genannt, geprägt wurde. Eine herausragende Rolle spielte dabei der österreichische Ökonom und Vertreter der Wiener Schule Ludwig von Mises. Wie Hayek gehörten auch Rothbard und Kirzner zu seinen Schülern, allerdings erst, nachdem Mises 1940 in die USA emigriert war und ab 1945 an der New York University lehrte.19 Mit den anderen Strömungen des Liberalismus eint den Libertarismus die Betonung der individuellen Freiheitsrechte. Er tut dies allerdings in einer radikalen Art und Weise, die vor allem in seinem Plädoyer, das staatliche Handeln auf ein Mindestmaß zu reduzieren, zum Ausdruck kommt. So versuchte etwa Nozick in

 12 Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, 70. 13 Ebd. 14 Böhm, Die Verfassung der Freiheit, in: Die Zeit, 2.4.1993. 15 Ebd. 16 Gauklerisches Blendwerk, in: Der Spiegel, 31.8.1981, 113. 17 Ebd. 18 Zentrale Schriften sind: Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia. München 1976. (Anarchy, State, and Utopia. Erstausgabe 1974); Murray N. Rothbard, Eine neue Freiheit. Das libertäre Manifest. Berlin 1999. (For a New Liberty. A Libertarian Manifesto. Erstausgabe 1973); ders., Die Ethik der Freiheit. Sankt Augustin 2000 (The Ethics of Liberty. Erstausgabe 1982); Israel M. Kirzner, Discovery, Capitalism, and Distributive Justice. Oxford 1989. 19 Murray N. Rothbard, Ludwig von Mises. Scholar, Creator, Hero. Auburn 1988, 50, 62f.; Justin Raimondo, An Enemy of the State. The Life of Murray N. Rothbard. Amherst/New York 2000, 91-99.

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„Anarchy, State, and Utopia“ von 1974 den Minimalstaat zu begründen, der ausschließlich die natürlichen Rechte seiner Bürger auf Leben, körperliche Unversehrtheit sowie persönliche Freiheit und ihr Eigentum wahrt. Dementsprechend fasste er als Resultate seiner Monographie zusammen: „Unsere Hauptergebnisse bezüglich des Staates lauten, daß ein Minimalstaat, der sich auf einige eng umgrenzte Funktionen wie den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug oder die Durchsetzung von Verträgen beschränkt, gerechtfertigt ist; daß jeder darüber hinausgehende Staate Rechte der Menschen, zu Dingen nicht gezwungen zu werden, verletzt und damit ungerechtfertigt ist; und daß der Minimalstaat durchaus attraktiv wie auch das Rechte ist.“20 Im Politischen fand der Libertarismus seinen bislang stärksten Widerhall in den Programmen Ronald Reagans und Margaret Thatchers während der 1980er-Jahre. Analog zu den libertären Grundsätzen diente ihrer Überzeugung nach der Staat der ökonomischen und sozialen Entwicklung ihres Landes am besten, wenn er in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben möglichst wenig eingreife. Demzufolge traten sie für deutliche Steuersenkungen, drastische Haushaltskürzungen, vor allem bei den Sozialausgaben, Privatisierungen öffentlicher Aufgaben und im Falle von Thatcher für eine deutliche Beschränkung gewerkschaftlicher Befugnisse ein.21 Reagan und Thatcher brachen dadurch mit dem konsensliberalen Ordnungsmodell, das aus den USA kommend die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen in Westeuropa nach 1945 bestimmt hatte.22 Der Staat wurde nun nämlich nicht mehr positiv als kompetente Planungs- und Steuerungsinstanz der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse gedeutet, sondern als Störfaktor interpretiert, dessen Wirkungsbereich weitestgehend einzugrenzen war. Die ab Beginn der 1990er-Jahre einsetzenden globalen Veränderungsprozesse verschafften diesem kritischen Staatsverständnis und damit der Ideologie des liberalen Kapitalismus einen Nährboden gänzlich neuer Qualität. Der Zusammenbruch des kommunistischen Konkurrenzsystems in Ost- und Südosteuropa offenbarte die Grenzen eines auf dem Planungsgedanken aufgebauten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems; die Globalisierung der Märkte führte die eingeschränkten Handlungsspielräume der Nationalstaaten vor

 20 Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (wie Anm. 18), 11. 21 Jens Borchert, Konservative Regierungen und politische Transformation. Die Restrukturierung wohlfahrtstaatlicher Politik in Großbritannien, Kanada, den USA und der Bundesrepublik Deutschland während der 80er Jahre. Göttingen 1994, 103-104; Philip Jenkins, Decade of Nightmares. The End of the Sixties and the Making of the Eighties America. Oxford 2006, 179-183; James T. Patterson, Restless Giant. The United States from Watergate to Bush v. Gore. Oxford 2005, 154; William C. Berman, America‘s Right Turn. From Nixon to Bush. Baltimore/London 1994, 85-118; Thomas Mergel, Großbritannien seit 1945. Göttingen 2005, 191-194; Peter Wende, Großbritannien 1500-2000. München 2001, 61 f. 22 Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? (wie Anm. 12), 68-86.

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Augen. Vor diesem Hintergrund erscheinen bis heute insbesondere in liberal gesinnten Kreisen von Politik und Gesellschaft Privatisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung als zeitgemäße politische Handlungsansätze, wie sie von den Anhängern des liberalen Kapitalismus bzw. Libertarismus bereits seit längerem gefordert worden waren. Thema des vorliegenden Aufsatzes ist die Bedeutung Hayeks für die Ideenströmung des liberalen Kapitalismus bzw. des Libertarismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Kern möchte er sich mit der Frage befassen, welche Gründe sich dafür ausmachen lassen, dass Hayek heute vorwiegend als Repräsentant des liberalen Kapitalismus bzw. des Libertarismus wahrgenommen wird. Gemäß des „Sender“- und „Empfängermodells“ aus der Kulturtransferforschung23 soll dabei in zwei Schritten vorgegangen werden: Zunächst soll geklärt werden, inwiefern Hayeks Schriften das kritische Staatsverständnis, das für das libertäre Denken kennzeichnend ist, nährten. Anschließend soll die Rezeption Hayeks als staatskritischer Denker im politischen Raum im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dargelegt werden. Damit sowohl deren Reichweite als auch Grenzen in den Blick kommen, sollen zwei Fallbeispiele herangezogen werden: zum einen Hayeks Rezeption durch die bereits erwähnte konservative Regierung Thatchers in Großbritannien und zum anderen seine nur sehr eingeschränkte Wahrnehmung durch die christdemokratisch-liberale Regierung Helmut Kohls während der 1980er-Jahre. Dabei soll auch der Frage nach der Bedeutung religiöser Faktoren Aufmerksamkeit geschenkt werden.

II. S TAATSKRITISCHES

IM

W ERK H AYEKS

Einen ersten wichtigen Grund, der die Deutung Hayeks als libertärer Denker verständlich macht, stellt die Tatsache dar, dass er der Österreichischen Schule der Nationalökonomie angehörte und zudem Schüler Ludwig von Mises war, dessen Arbeiten wiederum den Libertarismus inspirierten. Die Österreichische Schule wurde etwa um 1870 durch Carl Menger begründet24 und lässt sich der Theoriefamilie der Neoklassik zuordnen, die etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts wie die Historischen Schule und der Marxismus die Klassische Schule der Nationalökonomie in der Tradition nach Adam Smith abzulösen versuchte. Im Wesentlichen zwei Kerngedanken unterschieden die Neoklassik und damit auch die Österreichische Schule sowohl von den früheren als auch ihren zeitgenössischen ökonomischen Denkschulen. Erstes Alleinstellungsmerkmal stellte ihr Ansatz dar, ökonomische Vorgänge mit Hilfe des homo oeconomicus-Modells zu analysieren, d. h. aus der Sicht eines fiktiven Wirt-

 23 Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267, 1998, hier 667, 680 f. 24 Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. 2. Aufl. Wien/Leipzig 1923.

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schaftssubjekts, das feststehende Präferenzen hat, über vollständige Informationen verfügt und in dem Sinne rational handelt, dass es unter den gegebenen Möglichkeiten stets jene auswählt, die seinen Nutzen maximiert. Zweites zentrales Charakteristikum der Neoklassik bildete das Theorem des französischen Ökonomen und Geschäftsmannes Jean Baptiste Say, demzufolge Märkte stets und insbesondere ohne staatliches Zutun ein Gleichgewicht finden, da jedes Angebot seine ihm adäquate Nachfrage generiere. Diese Prämisse bildete den gedanklichen Ausgangspunkt der allgemeinen und partiellen Gleichgewichtsanalyse, die bis heute die volkswirtschaftlichen Lehrbücher bestimmen.25 Hayek kam erstmals in seinen Studienjahren mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie in Berührung, als er an der Universität bei Friedrich von Wieser, einem Vertreter ihrer zweiten Generation, seine ökonomische Ausbildung erhielt.26 Seine Dissertationsschrift zum Zurechnungsproblem befasste sich folglich auch mit einem für die Österreichische Schule typischen Thema. Auf rund 100 Seiten legte Hayek dar, wie bei der Verwendung mehrerer Produktionsfaktoren für die Herstellung eines Gutes der letztendliche subjektive Wert des fertig produzierten Gutes auf die verschiedenen Produktionsfaktoren aufzuteilen sei. 27 Schon bald nach Studienabschluss übernahm Ludwig von Mises, der wie Wieser zur zweiten Generation der Österreichischen Schule zählte, die Rolle als Hayeks nationalökonomischer Mentor. Nachdem die beiden im Abrechnungsamt, wo Hayek seine erste Beschäftigung erhalten hatte und Mises zu seinen Vorgesetzten zählte, 28 näher in Kontakt gekommen waren, lud ihn Mises in sein Privatseminar ein.29 Die Bande zwischen Mises und Hayek verfestigten sich weiter, als sie 1927 das erste österreichische Institut für Konjunkturforschung gründeten. Hier übernahm Hayek als einziger hauptamtlicher Mitarbeiter die Stelle des Ersten Sekretärs und war vor allem für die monatlichen Konjunkturberichte zuständig.30 In intellektueller Hinsicht übte Mises vermutlich mit seiner Monographie „Die Gemeinwirtschaft“ 31 seinen größten Einfluss auf Hayek aus. Mises

 25 Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens. 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 2001, 50-54. 26 Hans Jörg Hennecke, Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit. Düsseldorf 2000, 51. 27 Friedrich A. v. Hayek, Bemerkungen zum Zurechnungsproblem, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 124, 1926, 1-18. 28 Das Abrechnungsamt war nach dem Ersten Weltkrieg für die Abwicklung der österreichischen Reparationen und Kriegsfolgekosten zuständig. Vgl. Hennecke, Friedrich August von Hayek (wie Anm. 26), 61 f. 29 Ebd., 70-74. 30 Ebd., 74 ff. 31 Ludwig v. Mises, Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus. Jena 1922.

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verfolgte darin das Anliegen, die sozialistische Planwirtschaft wissenschaftlich zu widerlegen. Den zentralen Baustein seiner Argumentation bildete die These von der Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung in einer Planwirtschaft, die er damit begründete, dass in einer Planwirtschaft kein dem Wettbewerb vergleichbarer Mechanismus existiere. Auf diese Weise ließe sich, so Mises, der Wert der Güter nicht ermitteln und dadurch letztlich auch nicht das Grundproblem einer jeden Volkswirtschaft lösen, nämlich die möglichst effiziente Verteilung der nur begrenzt vorhandenen Ressourcen. 32 Auch Hayek setzte sich intensiv mit der sozialistischen Planwirtschaft auseinander. So beteiligte er sich mit einigen Beiträgen an der Sozialismus-Debatte der 1930er-Jahre. 33 Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges legte er mit dem „Weg zur Knechtschaft“ zudem eine Monographie vor, welche die wirtschaftlichen und politischen Fehlschlüsse des Sozialismus offen zu legen versuchte. Im Wesentlichen führte Hayek dabei aus, dass der vom Sozialismus propagierte Weg in die Freiheit mittels der Beseitigung der wirtschaftlichen Probleme der Menschen in Wahrheit ein „Weg zur Knechtschaft“ sei. Jede staatliche Intervention in das Leben der Menschen, so Hayeks Argumentationsgang, ziehe nämlich weitere Eingriffe nach sich, die in ihrer Summe die Freiheitsräume der Individuen gänzlich vernichten würden.34 Auch wenn sich Hayek und Mises in ihrer Kritik am Sozialismus durchweg einig waren, distanzierte sich Hayek im Verlauf der Jahre merklich von seinem nationalökonomischen Lehrer. Den Anstoß für diese Entwicklung gab Hayeks These von der Zerstreutheit des gesellschaftlichen Wissens, wie er sie erstmals in einem seiner eben erwähnten Aufsätze zur Sozialismus-Debatte darlegte. Hier stellte er fest, dass das für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen erforderliche Fachwissen kaum – wie von der sozialistischen Lehre behauptet – in einer Zentralbehörde konzentriert werden könne, da es realiter in den Köpfen vieler verschiedener Ingenieure stecke. 35 Mit Mises kam Hayek in gedanklichen Konflikt, als er 1936 in seinem Vortrag „Wirt-

 32 Ebd., 118-119. 33 Friedrich A. v. Hayek (Hrsg.), Collectivist Economic Planning. Critical Studies on the Possibilities of Socialism. Clifton 1975. (Erstausgabe 1935); ders., Sozialistische Wirtschaftsrechnung I: Natur und Geschichte des Problems, in: ders. (Hrsg.), Individualismus und wirtschaftliche Ordnung. 2. Aufl. Salzburg 1976, 156-191. (The Nature and History of the Debate. Erstausgabe 1935); ders., Sozialistische Wirtschaftsrechnung II: Der Stand der Diskussion, in: ebd., 192-232. (The Present State of the Debate. Erstausgabe 1935); ders., Wirtschaftsrechnung III: Die Wiedereinführung des Wettbewerbs, in: ebd., 233-267. (Socialist Calculation. The Competitive ‚Solution‘. Erstausgabe 1940). 34 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (wie Anm. 2), 44-53, 133 f. 35 Hayek, Sozialistische Wirtschaftsrechnung II (wie Anm. 33), 200.

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schaftstheorie und Wissen“ 36 vor dem London Economic Club die Frage aufwarf, welche methodischen Implikationen die Annahme eines solchen subjektiven, d. h. individuell begrenzten und zugleich in einer Gesellschaft verteilten Wissens mit sich bringe. Im Kern kam er dabei zu dem Ergebnis, dass die Methode seines Lehrers, der Apriorismus, nach dem ökonomische Wahrheitssätze allein durch logisch-deduktives Denken zu gewinnen waren, zu kurz greife.37 Wie war es möglich, so fragte sich Hayek, Gesetzmäßigkeiten des ökonomischen Geschehens zu formulieren, wenn gleichzeitig das dafür erforderliche Wissen eben nicht in einem, sondern in unzählig vielen Subjekten vorhanden war? Dass sich Hayek von Mises, der ja gerade für die Libertären einen zentralen Denker darstellte, in methodischer Hinsicht entfernte, hatte jedoch bekanntlich keine Auswirkungen auf seine Rezeption als Referenzfigur des Libertarismus. Das Gegenteil war vielmehr der Fall, denn auf Grundlage der eben erläuterten Reflexionen Hayeks zur individuellen Begrenztheit und Zerstreutheit des Wissens in einer Gesellschaft entwickelte er in den 1960erJahren seine Kulturtheorie, die dem staatskritischen Denken wichtige Argumentationsfiguren lieferte. In seinen kulturtheoretischen Schriften 38 wollte er vor allem begreifen, wie gesellschaftliche Ordnungen, verstanden als Set regelmäßiger Verhaltensmuster, entstehen. Konkrete Beispiele wären etwa ein bestimmtes Geldwesen, ein bestimmtes Rechtssystem oder eine bestimmte Sprache. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass es grundsätzlich zwei Arten von Ordnungen zu unterscheiden gelte, einerseits gezielt von Menschenhand kreierte Ordnungen, die er Organisationen nannte, und andererseits spontan, im Zuge einer evolutionären Entwicklung entstandene Ordnungen. Während erstere vor allem mit Hilfe legislativer Akte rasch ins Leben gerufen werden können, entwickeln sich letztere erst im Zuge eines langwierigen Prozesses von Variation und Selektion, bei dem sich schließlich jene Verhaltensmuster durchsetzen, die sich zufällig als erfolgreicher erwiesen haben als andere.39 Bewusst geschaffene Ordnungen lehnte Hayek ab, da sie für ihn einer „Anmaßung des Wissens“40 gleichkamen. Mit anderen Worten: Der Anspruch des Menschen, in komplexen Gesellschaften tragfähige Ordnungen zu schaffen, war nach Hayeks Überzeugung zum Scheitern verurteilt, da das dafür erforderliche Wissen in einer Gesellschaft weit verstreut und zu keinem Zeitpunkt

 36 Friedrich A. v. Hayek, Wirtschaftstheorie und Wissen, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 49-77. (Economics and Knowledge. Erstausgabe 1937). 37 Ebd., 49. 38 Hayeks kulturtheoretische Arbeiten aus den Jahren 1962 bis 1968 wurden im nachfolgenden Sammelband veröffentlicht: Friedrich A. v. Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1969. 39 Friedrich A. v. Hayek, Arten der Ordnung, in: ebd., 33 ff. (Erstausgabe 1963). 40 Friedrich A. v. Hayek, Die Anmaßung von Wissen, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 26, 1975, 12-21.

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an einer Stelle zusammenzuführen war. Spontane Ordnungen hoben dieses Problem aus Hayeks Sicht dagegen zumindest in Teilen auf. Denn hier filterte sich mittels kultureller Lernprozesse im Zuge längerer Zeitperioden allmählich heraus, welche Verhaltensmuster überlebensfähig waren und welche nicht. Spontane Ordnungen waren demzufolge für Hayek das „Ergebnis menschlichen Handelns aber nicht menschlichen Entwurfs“41 – eine Formulierung Adam Fergusons, mit der Hayek vor allem in seinen späteren Schriften diese für ihn zentrale ordnungstheoretische Erkenntnis auf den Punkt zu bringen versuchte. Warum Hayeks Kulturtheorie das staatskritische Denken, wie es für die Libertären charakteristisch ist, nährte, wird besonders dann deutlich, wenn man sie mit seinem opus magnum „Verfassung der Freiheit“ vergleicht, an der in den Jahren vor seiner Kulturtheorie gearbeitet hatte. Dieses Werk stellte eine ausführliche Replik Hayeks auf den Einwand am 1944 veröffentlichten „Weg zur Knechtschaft“ dar, ein ausschließlich kritisches Buch zu sein, das sich darauf beschränke, die Schwachstellen der sozialistischen Lehre aufzudecken und anzugreifen, ohne dabei jedoch eine Alternative zu unterbreiten. 42 Wie die Grundzüge eines dem Sozialismus entgegen gesetzten liberalen Gesellschaftsmodells gestaltet sein könnten, legte Hayek schließlich 1960 in der „Verfassung der Freiheit“ dar. Im Zentrum seiner Überlegungen stand dabei die Frage, welche Form der Gesetzgebung in welchen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft mit dem Anliegen der Menschen, in Freiheit leben zu wollen, kompatibel sei. Ergebnis und Botschaft Hayeks stellte seine Erkenntnis dar, dass der Staat stets dann als Garant der individuellen Freiheit in einer Gesellschaft fungiere, wenn er sich bei der Gesetzgebung auf so genannte echte Gesetze beschränke, sprich ausschließlich allgemeine, abstrakte Gesetze erlasse, die keinen bestimmten Sachverhalt regeln, sondern formell aufzeigen, wie das soziale Miteinander grundsätzlich geregelt werden könne.43 Außerdem nannte Hayek in der „Verfassung der Freiheit“ als Kernaufgabe eines jeden Staates die Versorgung der Gesellschaft mit Infrastrukturleistungen, die ohne sein Engagement nicht bereitgestellt werden würden.

 41 Friedrich A. v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handelns aber nicht menschlichen Entwurfs, in: ders., Freiburger Studien, 97-107. (Erstausgabe 1967). 42 Heinrich Irmler, Die Planwirtschaft – Der große Irrtum des 20. Jahrhunderts. Zu dem Buch F. A. Hayeks: Der Weg zur Knechtschaft, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 2, 1949, 341. Der britische Ökonom Henry Douglas Dickinson hatte diese Kritik bereits an einem früheren Aufsatz Hayeks (Friedrich A. v. Hayek, Freiheit und Wirtschaftssystem, in: Manfred E. Streit [Hrsg.], Friedrich A. v. Hayek. Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik. Tübingen 2003, 153-161) geübt, der das Grundgerüst für den Weg zur Knechtschaft bildete. Vgl. Henry Douglas Dickinson, Review of Freedom and the Economic System by F. A. Hayek, in: Economica 7. New Series, 1940, 473. 43 Hayek, Die Verfassung der Freiheit (wie Anm. 1), 286-289.

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Beispiele hierfür waren die Einführung von Maßeinheiten, die Organisation des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Bau sowie die Erhaltung des Straßennetzes. 44 Der Staat bildete in der „Verfassung der Freiheit“ somit einen zentralen Bezugspunkt in Hayeks Denken. Anders verhielt es sich dagegen in seinen kulturtheoretischen Arbeiten, in denen die Bedeutung des Staates als potentieller Beschützer der individuellen Freiheit in einer Gesellschaft deutlich in den Hintergrund rückte. Stattdessen fokussierte sich Hayek auf die Genese und Leistungsfähigkeit spontaner Ordnungen abseits staatlicher Regulierung, denn aus seiner Sicht war „ein Großteil dessen, was wir Kultur nennen, eine solch spontan gewachsene Ordnung.“45 Eben diese neue Akzentsetzung in Hayeks Denken macht neben seinem Anti-Sozialismus verständlich, warum er auch als staatskritischer Denker wahrgenommen wurde. In Hayeks späteren Schriften nahmen staatstheoretische Reflexionen freilich wieder deutlich mehr Raum ein. Gleichwohl bargen sie staatskritisches Gedankengut, denn Hayek versuchte in ihnen, seine kulturtheoretischen Erkenntnisse der 1960er-Jahre für die politische Realität seiner Zeit fruchtbar zu machen. Besonders hervorzuheben sind dabei der zweite und dritte Band seiner Trilogie „Recht, Gesetz und Freiheit“ von 1976 und 1979.46 Im zweiten Band „Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“ prangerte er vornehmlich den Versuch zahlreicher zeitgenössischer Regierungen an, mit Hilfe umfassender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen, die meist dem Gedanken der Umverteilung verpflichtet waren, mehr soziale Gerechtigkeit schaffen zu wollen. Hayek war jedoch fest davon überzeugt, dass die Staaten dadurch nicht mehr, sondern weniger Gerechtigkeit generierten, da sie meist die Bedürfnisse einer Gruppierung mehr oder gar zuungunsten einer anderen Gruppierung befriedigen müssten. Noch alarmierender war für ihn die Erkenntnis, dass sich in dieser am Leitbild der modernen Sozialstaaten orientierten Politik ein neuer, allerdings demokratisch verschleierter „Weg zur Knechtschaft“ ankündigte, der die Freiheitsräume der Individuen wie im Sozialismus Schritt für Schritt beseitige.47 Im dritten Band „Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen“ entwickelte Hayek schließlich ein Verfassungsmodell, das Regierungen vor einer expansiven und zudem an den Bedürfnissen einzelner

 44 Ebd., 307 f. 45 Hayek, Arten der Ordnung (wie Anm. 39), 36. 46 Friedrich A. v. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie. Tübingen 2003. (Law, Legislation and Liberty. Erstausgabe 1973, 1976 und 1979). Die hier angeführte Ausgabe umfasst alle drei Bände. 47 Auf diesen Gedanken ging Hayek außerdem in einer dreiteiligen Artikelserie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein: Friedrich A. v. Hayek, Wohin steuert die Demokratie?, in: FAZ, 8.1.1977; ders.: Soziale Gerechtigkeit – eine Fata Morgana, in: ebd., 16.4.1977; ders.: Das totalitäre Gesicht des Sozialismus, in: ebd., 11.6.1977.

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Gesellschaftsgruppen ausgerichteten Gesetzgebung bewahren sollte. Hayeks Vorschlag, zwei Kammern einzurichten – eine für alltägliche Verwaltungsfragen und eine weitere für die Verabschiedung „echter“ Gesetze –,48 mochte manchem unrealistisch anmuten, doch seine ordnungspolitische Position blieb stets deutlich. Im Kern forderte er dazu auf, Umfang sowie Art und Weise staatlichen Handelns grundlegend zu überdenken. Zur Bewahrung der Freiheit in einer Gesellschaft sollten Staaten seiner Überzeugung nach einerseits von ihrem Anspruch, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Ganzen regeln zu können, abrücken und dafür ihr Handeln auf ausgewählte Bereiche beschränken, und dabei andererseits ihre Gesetzgebung auf die Verabschiedung allgemeiner, abstrakter Verhaltensregeln konzentrieren. Aus welchen Politikfeldern sich der Staat zurückziehen bzw. in welchen er seine Aktivitäten einschränken solle, legte Hayek in kleineren Beiträgen dar, die er wie seine Trilogie im Verlauf der 1970er-Jahre verfasste. Von besonderem Interesse sind dabei seine Monographie „Entnationalisierung des Geldes“ von 1976 49 und seine gewerkschaftskritischen Veröffentlichungen, vor allem Zeitungsartikel in britischen Tageszeitungen50 sowie das Bändchen „1980’s Unemployment and the Unions“.51 Bei all diesen Schriften ging es Hayek vor allem darum, die Ursachen der extrem hohen Inflationsraten in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre darzulegen und Lösungswege aufzuzeigen. Im Kern wurzelte für ihn das Problem massiver Preissteigerungen im Verhalten der Notenbanken, die Geldpolitik im Kontext einer keynesianischen Wirtschaftspolitik als Konjunkturpolitik betrieben, indem sie die Geldmenge stetig erhöhten, um die Konjunktur wieder anzukurbeln. Verschärft werde die Lage insbesondere in Großbritannien durch die Gewerkschaften, die mittels steter Forderungen nach Lohnerhöhungen das Preisniveau weiter in die Höhe trieben. Als Ausweg aus der gesamtwirtschaftlichen Misere sah Hayek nur eine Alternative: zum einen den Regierungen das Monopol für die Emission und Regulierung des Geldes zu entziehen und dafür das Geldwesen vollständig zu privatisieren, um wieder „gutes“ Geld entstehen zu lassen, also Geld, bei dem sich die Wirtschaftssubjekte des monetären Tauschwertes sicher sein konnten;

 48 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit (wie Anm. 46), 417-422. 49 Friedrich A. v. Hayek, Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufsmittel. Tübingen 1977. (Denationalisation of Money. An Analysis of the Theory and Practice of Concurrent Currencies. Erstausgabe 1976). 50 Friedrich A. v. Hayek, Inflation‘s Path to Unemployment, in: The Daily Telegraph, 15.10.1974; ders., What living standards can we afford?, in: ebd., 16.10.1974; ders., Politicians can’t bei trusted with money, in: ebd., 30.9.1975; ders., Why we are getting poorer all the time, in: ebd., 26.8.1976; ders., How to deal with inflation, in: The Times, 27.3.1980. 51 Friedrich A. v. Hayek, 1980’s Unemployment and the Unions. Essays on the impotent price structure of Britain and monopoly in the labour market. London 1980.

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zum anderen die Befugnisse der Gewerkschaften staatlicherseits deutlich zu begrenzen, um vor allem ihren Handlungsspielraum bei der Lohngestaltung einzuschränken. Im Gleichklang mit den libertären Denkern plädierte Hayek damit für die Auflösung von Machtkonzentrationen und erschien dadurch erneut gegenüber den Ideen des Libertarismus anschlussfähig.

III. H AYEK

UND DER

T HATCHERISMUS

Über viele Jahre weckte Hayek mit seinen Ideen außerhalb der Wissenschaft kaum Interesse. Dies änderte sich erst im Verlauf der 1970er-Jahre, als er 1974 für viele unerwartet für seine geld- und konjunkturtheoretischen Arbeiten aus den 1930er-Jahren den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen bekam. Weitaus bedeutsamer für Hayeks Genese zu einer Figur der Öffentlichkeit war jedoch seine Rezeption durch die britische New Right und insbesondere deren Leitfigur Margaret Thatcher, die von 1979 bis 1992 das Amt der britischen Premierministerin innehatte.52 Das politische Programm der New Right, der Thatcherismus, grenzte sich gleich in zweifacher Hinsicht von der Politik der vorherigen Jahre ab: Zum einen stellte es eine dezidierte Abkehr von der Politik der Vorgängerregierung der Labour Party dar, die von weitreichenden industriellen Verstaatlichungen und dem umfassenden Aufbau eines modernen Sozialstaates geprägt war; zum anderen distanzierte es sich gleichermaßen deutlich von der Politik der Tories, also der eigenen Partei, die sich nach Überzeugung Thatchers und der New Right in der Vergangenheit programmatisch nicht ausreichend von der Labour Party abgegrenzt hatte. Berücksichtigt man die wirtschaftliche und soziale Lage im Großbritannien der 1970er-Jahre, vor dessen Hintergrund sich der Thatcherismus formierte, so ist er vor allem als „Krisenbewältigungsstrategie“53 zu deuten. Im Kern lieferte er eine radikale Antwort auf die Frage, wie Großbritannien die tief greifende wirtschaftliche und soziale Strukturkrise der 1970er-Jahre, die sich in einer bis dahin ungekannten Kombination aus niedrigem Wirtschaftswachstum, hoher Arbeitslosigkeit und stetig steigender Inflation offenbarte, bewältigen könne.54 Betrachtet man die einzelnen gedanklichen Bausteine, aus denen sich der Thatcherismus zusammensetzte, so wird rasch deutlich, dass er nicht ausschließlich liberale Überzeugungen aufwies, sondern ebenso konservative

 52 Auch in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich Hayek während der 1970er-Jahre zu einer öffentlichen Figur. Wie und aus welchen Gründen es dazu kam, siehe Iris Karabelas, Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich August von Hayeks in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M./ New York 2010. 53 Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975-1979. München 2002, 13. 54 Ebd.

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Standpunkte beinhaltete, was insgesamt einer einzigartigen, zeittypischen ideellen Gemengelage gleichkam.55 Genuin liberal am Thatcherismus war in erster Linie der Gedanke, dass Freiheit und Individualismus die Wertebasis der westlichen Kultur bildeten. Eine jede Politik hatte daher beim einzelnen Menschen und der Frage anzusetzen, welchen Beitrag der Staat dazu leisten könne, dessen Freiheitsräume zu erweitern und somit dessen Entscheidungsmöglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung seines Lebens zu verbessern. Denn nur über die Handlungen der Individuen, so die Argumentation Thatchers und der New Right, konnten auch positive gesellschaftliche Veränderungen in Gang kommen. Der Wettbewerb stellte dabei einen essentiellen Mechanismus dar, der das freie Zusammenspiel der Individuen bestmöglich entfalten lasse. Er wecke nämlich den Ehrgeiz, die Tatkraft und die Kreativität der Menschen, insbesondere der Unternehmer, Innovationen zu wagen, die wiederum mehr Arbeitsplätze und Wohlstand für alle mit sich brächten. Kollektive Einheiten wie der Staat und die Gewerkschaften standen jedoch aus Sicht Thatchers und der New Right diesem freien Zusammenspiel der Individuen und damit dem gesellschaftlichen Fortschritt häufig im Wege, indem sie beanspruchten, zentrale Lebensbereiche wie etwa die Altersvorsorge, den Fern- und Nahverkehr oder die Lohngestaltung allein regeln zu wollen. Vor dem Hintergrund der interventionsfreundlichen Politik der Labour-Regierungen galt es daher, die Aufgaben des Staates neu zu definieren. Auf der einen Seite sollte sich der Staat aus weiten Teilen des Wirtschaftslebens und der Wohlfahrt zurückziehen, wobei sich Thatcher und die New Right damit keinesfalls für eine gänzliche Privatisierung dieser Bereiche stark machten. Entscheidend ihrer Ansicht nach war, dass der Staat in diesen Märkten keine Monopolstellung beanspruchte, sondern sie gleichsam für private Anbieter öffnete. Auf der anderen Seite war staatliches Engagement in jenen Feldern des sozialen und wirtschaftlichen Lebens explizit erwünscht, in denen sichergestellt werden konnte, dass Private die gleichen Leistungen nicht ebenso gut oder besser erbringen konnten. In Fragen der inneren und äußeren Sicherheit zeigte sich der Thatcherismus dagegen ganz konservativ. Während er in Wirtschaft und Sozialwesen einen Rückzug des Staates propagierte, stellte er hier das staatliche Gewaltmonopol zu keinem Zeitpunkt in Frage. Thatcher und die New Right waren nämlich davon überzeugt, dass nur ein nach innen wie außen gestärktes Großbritannien sein verlorenes Selbstbewusstsein zurückgewinnen könne, das wiederum Voraussetzung dafür war, dass die britische Nation wieder jenes Ansehen in der Welt erlangte, das sie in den vorangegangenen Jahrzehnten eingebüßt hatte.56 Hayek war freilich nicht der einzige liberale Denker, der Thatcher und die New Right inspirierte. So rekurrierten sie vor allem bei ihrem Credo für Freiheit und Individualismus als Grundwerte der westlichen Kultur auf die Ver-

 55 Ebd., 423 f. 56 Ebd., 95-144.

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treter des klassischen Liberalismus wie John Stuart Mill und Adam Smith.57 Gleichwohl veranschaulichen Thatchers Briefe an Hayek, dass sie in ihm einen wichtigen Mentor sah, der ihr Denken maßgeblich geprägt hatte. Besonders deutlich wird dies in dem Schreiben, das sie kurze Zeit nach ihrem Wahlsieg im Mai 1979 an Hayek versandte. Hier heißt es: „I am very proud to have learnt so much from you over the past few years. I hope that some of those ideas will be put into practice by my Government in the next few months. As one of your keenest supporters, I am determined that we should succeed. If we do so, your contribution to our ultimate victory will have been immense.“ 58 Nach einem gemeinsamen Abendessen im Februar 1982 ließ Thatcher Hayek außerdem wissen: „It was not only a great pleasure for me, it was, as always, instructive and rewarding to hear your view on the great issues of our time.“59 In der Tat führte die Regierung Thatchers einige Reformvorhaben im Geiste Hayeks durch. In der Geldpolitik prangerte sie analog zu Hayek und zum US-amerikanischen Ökonomen Milton Friedman, dessen Schriften wie jene Hayeks über das Institute of Economic Affairs in Großbritannien verbreitet wurden,60 die steten Geldmengenerhöhungen der britischen Notenbank im Kontext einer keynesianischen Wirtschaftspolitik an. Hayek und Friedman teilten die Ansicht, dass dadurch keine konjunkturellen Effekte erzeugt werden könnten und allein das Inflationsproblem verschärft werde.61 In der Frage, welche alternative Geldpolitik anstelle der keynesianischen zu betreiben sei, griffen Thatcher und die New Right jedoch nicht auf Hayeks Idee einer „Entnationalisierung des Geldes“, also einer vollständigen Privatisierung des Geldwesens zurück, die das Aufkommen mehrerer Geldanbieter implizierte. Stattdessen plädierten sie im Rückgriff auf Friedman für einen monetaristischen Kurs,62 der das Recht auf die Emission und Regulierung des Geldes in den Händen einer Zentralbank beließ und eine potentialorientierte, d. h. eine am Produktivitätswachstum der Volkswirtschaft ausgerichtete Geldmengensteuerung als Ausweg aus der Inflation vorsah.63 Neben der Geldpolitik stellte die Gewerkschaftspolitik ein wichtiges Feld dar, in dem Thatcher und die New Right den Standpunkten Hayeks folgten. Nach Hayek waren Gewerkschaften in zweifacher Hinsicht für das Gemein-

 57 Ebd., 101 ff., 125 f. 58 Margaret Thatcher an Friedrich A. v. Hayek, 18.5.1979, in: HIA, NL Hayek, Incremental Material, 101-2. 59 Margaret Thatcher an Friedrich A. v. Hayek, 17.2.1982, in: HIA, NL Hayek, Incremental Material, 101-2. 60 Geppert, Thatchers konservative Revolution (wie Anm. 53), 236 f. 61 Friedrich A. v. Hayek, Zwölf Thesen zur Inflationsbekämpfung, in: FAZ vom 19.8.1977; Milton Friedman/Anna J. Schwartz, A Monetary History of the United States 1867-1960. Princeton 1963. 62 Geppert, Thatchers konservative Revolution (wie Anm. 53), 301-304. 63 Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens (wie Anm. 25), 215-218.

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wohl schädlich: Zum einen schränkten sie die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten und damit die Freiheit der Arbeitnehmer bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbeziehungen ein; zum anderen nährten sie aufgrund ihrer steten Forderungen nach Lohnerhöhungen die Inflation, die wiederum eine Volkswirtschaft im Ganzen destabilisierte. Gewerkschaften waren folglich, wie Hayek mehrfach Ende der 1970er-Jahre in der britischen Tagespresse darlegte,64 abzuschaffen oder zumindest in ihren Wirkungsmöglichkeiten weitestgehend zu begrenzen. In diesem Sinne initiierte Thatcher unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung eine Reihe anti-gewerkschaftlicher Gesetzesvorhaben, die deutlich mit der Gewerkschaftspolitik der vorherigen Jahre brachen. Beispielhaft hierfür standen die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in Gewerkschaften (Closed Shops) und das Verbot, sich unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen an Streiks zu beteiligen (Flying Strikes).65

IV. H AYEK UND DIE „ GEISTIG - MORALISCHE W ENDE “ DER R EGIERUNG K OHL Auch in der Bundesrepublik Deutschland vollzog sich zu Beginn der 1980erJahre ein Regierungswechsel unter konservativen Vorzeichen. Nach 12jähriger Regierungsabstinenz lösten CDU und CSU im Oktober 1982 gemeinsam mit der FDP, die noch vor Ablauf der Legislaturperiode ihr Bündnis mit der SPD verließ, die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt ab. In programmatischer Hinsicht kündigte die neue Regierung eine „geistigmoralische Wende“ an, die sich u. a. eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft durch weniger Staat und mehr Markt zum Ziel setzte.66 Gegner der Koalition von CDU/CSU und FDP brandmarkten dieses Vorhaben als Aufkündigung des Sozialstaatsmodells und kritisierten die „geistig-moralische Wende“ daher als deutsche Variante von Thatcherismus und Reagonomics. Die politische Praxis der Regierung Kohl während der 1980er-Jahre legt allerdings nahe, dass es in der Bundesrepublik zu keinem vergleichbaren Politikwechsel wie in Großbritannien und in den USA kam. Sicherlich maß auch die Regierung Kohl der Inflationsbekämpfung höchste Priorität bei. Steuersenkungen wurden allerdings nicht vorgenommen, in der Sozialpolitik nach einer Kürzungsphase bis 1984 ein insgesamt moderater Kurs eingeschlagen, die Arbeitsbeziehungen belassen und Privatisierungen nur bei einer recht überschaubaren Zahl öffentlicher Unternehmen durchgeführt. Anders

 64 Siehe Fußnote 50. 65 Mergel, Großbritannien seit 1945 (wie Anm. 21), 191-194; Wende, Großbritannien 1500-2000 (wie Anm. 21), 61 f. 66 Regierungserklärung Helmut Kohls vom 4. Mai 1983, in: Klaus Stüwe (Hrsg.), Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schröder. Opladen 2002, 291.

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als in Großbritannien und in den USA wurde also am Sozialstaatsgedanken festgehalten, so dass alles in allem weitaus mehr Kontinuität als Diskontinuität vorherrschte.67 Angesichts dieses moderaten Politikwandels verwundert es kaum, dass die Regierung Kohl nicht auf Hayek rekurrierte. Im Regierungskabinett Kohls zählte allein Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff von der FDP zu jenen, die Hayek als liberalen Denker wertschätzten. So teilte Lambsdorff Hayek etwa anlässlich seines 90. Geburtstages mit: „Ihre Rückbesinnung auf die Werte des klassischen Liberalismus und der Aufklärung sind gerade in einer Zeit von höchster Bedeutung, wo sich viele liberal nennen, ohne die zentrale Botschaft des Liberalismus verstanden zu haben. Für Sie hat diese Botschaft stets darin bestanden, den einzelnen dazu zu ermutigen, sein Leben und Tun selbst zu gestalten. Staatliche Planung war Ihnen dagegen immer zu recht verdächtig – gerade auch dann, wenn solche Entmündigung des einzelnen mit wohlklingenden Worten verbrämt wird.“68. Kohl wandte sich zwar zwei Mal mit Geburtstagsschreiben an Hayek, doch nahm er dabei keinerlei Bezug auf dessen Gedankengut, so dass seine Zeilen insgesamt recht formal wirkten.69 Welche Gründe lassen sich dafür anführen, dass sich die Christdemokraten bzw. Christsozialen anders als die britischen und US-amerikanischen Konservativen im Verlauf der 1980er-Jahre Hayek und seinen Ideen kaum zuwandten? Zunächst gilt es festzuhalten, dass Hayek für die deutschen Konservativen keinesfalls bedeutungslos war. Während der 1970er-Jahre zeigten vor allem Franz Josef Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger großes Interesse an ihm.70 Ausschlaggebend hierfür war das Aufkommen der „Neuen Linken“ infolge der 1968er-Studentenbewegung, die aus Sicht vieler Konservativer in wie außerhalb von CDU und CSU einen bedrohlichen Linksrutsch in der politisch-ideologischen Landschaft der Bundesrepublik mit sich brachte. Deren Forderungen nach einem „demokratischen Sozialismus“ zielten, so die konservative Interpretation, in Wahrheit mittelfristig auf die Umwandlung

 67 Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990. München 2004, 77 ff.; Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982-1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Baden-Baden 2005, 809 ff.; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. 1982-1990. München 2006, 33. 68 Otto Graf Lambsdorff an Friedrich A. v. Hayek, 8.5.1989, in: Archiv des Bundespresseamtes, Presseausschnittsammlung zu Friedrich A. von Hayek. 69 Helmut Kohl an Friedrich A. v. Hayek, ohne Datum, in: HIA, NL Hayek, Papers, 2-7; Helmut Kohl an Friedrich A. v. Hayek, 8.5.1984, in: ebd., 2-8. 70 Zur persönlichen Korrespondenz zwischen Hayek und Franz Josef Strauß, Hans Filbinger sowie Alfred Dregger siehe: HIA, NL Hayek, Papers 51-42 (Strauß, Franz Josef, 1978-1979); HIA, NL Hayek, Papers 19-13 (Filbinger, Hans, 19621983); HIA, NL Hayek, Papers 17-25 (Dregger, Alfred, 1977-1978).

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von Staat und Gesellschaft nach linkstotalitären Vorstellungen ab.71 Hayeks „Weg zur Knechtschaft“, in dem er bereits 1944 die Unvereinbarkeit des Freiheitsgedanken mit der sozialistischen Lehre dargelegt hatte, stellte dabei vor allem für Strauß ein zentrales Referenzwerk dar.72 Eben dieser Gedanke von der Unvereinbarkeit von Freiheit und Sozialismus bildete schließlich auch die Kernidee der CDU/CSU-Bundestagswahlkämpfe 1976 und 1980 nach dem Motto „Freiheit statt Sozialismus“, 73 bei dessen Konzeption sich der konservative Flügel in CSU und CDU um Strauß, Filbinger und Dregger vor allem gegenüber Kohl und seinen Anhängern durchgesetzt hatte.74 Sowohl 1976 als auch 1980 verpassten die Unionsparteien jedoch die absolute Mehrheit und schafften es damit nicht, die amtierende Koalitionsregierung aus SPD und FDP abzulösen. Die Niederlage bei den Bundestagswahlen 1980 schmerzte dabei besonders, denn 1976 waren CDU und CSU mit einem Wahlergebnis von 48,6 Prozent noch spürbar nahe an die Zielmarke von 50 Prozent gelangt, 1980 mussten sie jedoch einen Stimmenverlust von etwas

 71 Vgl. z. B. die Rede von Hans Filbinger anlässlich des CDU-Landesparteitages am 17.1.1976 in Sindelfingen, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (künftig: ACDP), III-024-007/1; Musterrede für die Wahlkampfeinsätze von Hans Filbinger 1976, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (künftig: HStAS), EA 1/924 Az. 1056 VIII; CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Das Wahlprogramm der CDU und CSU. Bonn 1976; Muster-Rede der CDU-Bundesgeschäftsstelle vom 26.7.1976, in: ACDP, 07-001-5285. 72 „Die breite Heerstraße in die Knechtschaft“. Auszüge aus dem Buch von Friedrich A. Hayek, das Franz Josef Strauß als Quelle des Wahlslogans der CDU/CSU nennt, in: Frankfurter Rundschau, 22.9.1976; „Mein Wahlkampf ist intellektuellrational“. CSU-Chef Franz Josef Strauß über Sozialismus, Staatsfinanzen und Ostpolitik, in: Der Spiegel, 13.9.1976, 23-33; Die neue Freiheit heißt Motorrad, in: Der Spiegel, 27.9.1976, 30-36; Franz Josef Strauß, Freiheit oder Sozialismus. Zur kommenden Wahlentscheidung der politische Lagebericht und die Abrechnung mit der gescheiterten Bonner Linksregierung, in: Bayern Kurier, 3.7.1976 (Rede auf dem CSU-Parteitag am 29.6.1976). 73 CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Wahlprogramm (wie Anm. 71); Muster-Rede der CDU-Bundesgeschäftsstelle vom 26.7.1976, in: ACDP, 07-001-5285; Für Frieden und Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland und in der Welt. Wahlprogramm der CDU/CSU für die Bundestagswahl 1980, in: ACDP, Zentrale Dokumentation, 17/08/1-1. 74 Im Juni 1975 hatte sich die CDU auf ihrem Parteitag in Mannheim noch das Wahlkampfmotto „Unsere Politik für Deutschland – Alternative `76“ gegeben. Dieses wurde im Mai 1976 auf dem CDU-Parteitag in Hannover durch den Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ ersetzt. Vgl. Kohl übernimmt Filbingers Slogan. CDU verwendet Wahlkampfmotto „Freiheit statt Sozialismus“, in: Frankfurter Rundschau, 18.5.1976; CDU-Motto: Freiheit statt Sozialismus. Kohl bestreitet Unstimmigkeit in der Union über Wahlprogramm, in: Rheinische Post, 18.5.1976.

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mehr als vier Prozentpunkten hinnehmen. 75 Das blieb freilich nicht ohne Auswirkungen auf die inneren Kräfteverhältnisse in der Union. Nach Strauß’ Rückzug aus der Bundespolitik verlor der konservative Flügel deutlich an Gewicht. Dafür gewannen wie zu Beginn der 1970er-Jahre Kohl und seine Anhänger wieder stark an Bedeutung. In inhaltlicher Hinsicht wurde der dezidierte Konfrontationskurs gegenüber SPD und „Neuer Linken“ durch ausgewogene Programmarbeit ersetzt, die bewusst einen deutlichen Akzent auf „weiche“ Politikfelder wie die Bildungs-, Umwelt- und Medienpolitik setzte.76 Der Resonanzraum für Hayeks Ideen schränkte sich damit Anfang der 1980er-Jahre in CDU und CSU merklich ein. Als Ideengeber der parteiinternen Konkurrenten erschien er Kohl und seinen Anhängern vermutlich auch aus parteistrategischen Gründen wenig attraktiv. Doch auch ideelle Gründe standen einer Rezeption Hayeks im Wege. Mit dem Rückzug der Konservativen in der Union verschafften sich die Vertreter des christlich-sozialen Flügels wie Heiner Geißler und Norbert Blüm, deren Grundüberzeugungen durch die katholische Soziallehre bestimmt wurde, wieder mehr Gehör. Wie der Liberalismus geht auch die katholische Soziallehre vom Menschen als freies Wesen aus, das für sein Denken und Handeln selbstverantwortlich ist. Im Unterschied zum Liberalismus betont sie allerdings zugleich die „soziale Wesenslage“77 des Menschen, die ihn zu Nächstenliebe, Treue, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Gehorsam befähige. Vom Standpunkt der katholischen Soziallehre aus ist das Individuum daher stets als Teil einer Gemeinschaft zu betrachten.78 Aus diesem „Seinsverhalten“79 ergeben sich schließlich auch bestimmte Ordnungsprinzipien für das menschliche Miteinander: im Wesentlichen das Solidaritätsprinzip, das Gemeinwohlprinzip und das Subsidiaritätsprinzip. 80 Diese Positionen und Überzeugungen haben freilich kaum etwas mit Hayeks strikt am Ideal der Freiheit ausgerichteten Denken gemein. So kam der Wahrung der individuellen Freiheit bei Hayek selbst dann oberste Priorität zu, wenn gemeinschaftliche Interessen dadurch zurücktreten mussten.

 75 Helene Busacker/Rita Gietz (Hrsg.), Wahlergebnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in den Ländern. Insgesamt und nach Alter und Geschlecht. Sankt Augustin 1999, 5. 76 Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart/München 2002, 43. 77 Joseph Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre. Kevelaer 1997, 35. 78 Ebd., 31-42. 79 Ebd., 47. 80 Ebd., 47-62.

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V. F AZIT

UND

AUSBLICK

Die heute vorherrschende Deutung Hayeks als Repräsentant der Ideologie des liberalen Kapitalismus machen vor allem zwei Beobachtungen verständlich. Erstens lassen sich Teile von Hayeks Werk durchaus als jene eines staatskritischen Denkers lesen. Hervorzuheben sind dabei seine kulturtheoretischen Arbeiten aus den 1960er-Jahren, in denen er die Bedeutung „spontaner Ordnungen“ abseits staatlicher Regulierung für die Funktionsweise moderner, komplexer Gesellschaften betonte. Ebenso bedeutsam sind in diesem Zusammenhang seine Brandmarkung der Politik zur Errichtung moderner Sozialstaaten als „kalten Sozialismus“, sein Plädoyer für eine Privatisierung des Geldwesens und sein Eintreten für eine deutliche Einschränkung der Befugnisse der Gewerkschaften während der 1970er-Jahre. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass sich Hayek nicht wie die Libertären für einen Staat einsetzte, der ausschließlich die natürlichen Rechte und das Eigentum der Individuen wahrt, oder gar für eine gänzliche Abschaffung des Staates plädierte. Ein zweiter wichtiger Grund, der Hayeks Deutung als Vertreter der Ideologie des liberalen Kapitalismus verständlich macht, ist seine Bedeutung für Margaret Thatcher und die britische New Right. Deren Programm, der Thatcherismus, stellte neben den Reaganomics die bislang deutlichste Umsetzung staatskritischen Gedankengutes in die politische Praxis dar. Tagespolitische Relevanz erlangte Hayek dabei vorwiegend in der Gewerkschaftspolitik, denn auch Thatcher stützte sich auf die These, dass die steten Lohnforderungen der Gewerkschaften das Inflationsproblem zusätzlich verschärften und ihre Wirkungsmöglichkeiten daher deutlich zu reduzieren seien. Auch die Bundesrepublik hatte zeitgleich mit massiv steigenden Inflationsraten zu kämpfen. Ein analoger Rekurs auf Hayeks Ideen fand durch die christdemokratisch-liberale Regierung Helmut Kohls allerdings nicht statt. Nach Rückzug des konservativen Flügels um Franz Josef Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger, die Hayek im Verlauf der 1970er-Jahre im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit der Neuen Linken rezipiert hatten, bestand in den Unionsparteien kein Resonanzraum mehr für Hajeks Ideen. Darüber hinaus stand die katholische Soziallehre, die vornehmlich das Denken der Vertreter des christlich-sozialen Flügels wie Norbert Blüm und Heiner Geißler prägte, einer weiteren Rezeption von Hayeks Ideen in der Union in den 1980er-Jahren im Wege. Inwiefern Hayeks staatskritische Positionen für die zukünftige Politik eine Rolle spielen werden, ist kaum abzusehen. Der Vergleich seiner Rezeption in Großbritannien und der Bundesrepublik während der 1980er-Jahre hat allerdings verdeutlicht, dass religiös-kulturelle Faktoren im Verbund mit weiteren Faktoren eine Verbreitung der Ideologie des liberalen Kapitalismus hemmen können.

Wirtschaft, Gesellschaft und religiösethische Fragen im Großbritannien der Thatcher-Ära D OMINIK G EPPERT

Das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethischen Fragen war im Großbritannien der 1980er Jahre von einem grundlegenden Paradox geprägt. Auf der einen Seite stand mit Margaret Thatcher zwischen Mai 1979 und November 1990 eine Frau an der Spitze der britischen Regierung, die sich so offensiv wie kaum ein anderer britischer Politiker im 20. Jahrhundert zu ihrem christlichen Glauben bekannte und aus ihrem religiösen Bekenntnis spezifische politische Konsequenzen ableitete. Zudem war Thatcher Chefin der Tory Party, die sich seit Jahrhunderten traditionell als Partei der anglikanischen Hochkirche verstand.1 Auf der anderen Seite gab es in Großbritannien keine klare Verbindung zwischen Politik und religiöser Ethik wie in den Vereinigten Staaten. Die USA waren ein laizistisches Staatswesen mit einer stark religiös geprägten Gesellschaft. In England gab es hingegen zwar eine Staatskirche, aber eben auch eine säkularisierte Gesellschaft, die am Ende der Thatcher-Ära noch unreligiöser und kirchenferner geworden war als an deren Anfang. In der Konsequenz übte Religion in den USA einen viel unmittelbareren Einfluss auf die Politik aus. Dort wurde die politische Landschaft durch religiös konnotierte Fragen wie die Einstellung zu Todesstrafe oder Abtreibung strukturiert. 2 Im Vereinigten Königreich hingegen verliefen die Fronten bei diesen Themen quer durch die Parteien. Die politischen Lager formierten sich nicht über ‚Kulturkriegeǥ, sondern anhand ökonomischer und sozialer Streitfragen, bei denen das Establishment der anglikanischen Staatskirche immer öfter auf Seiten der Regierungskritiker zu finden war.

 1 2

Vgl. John Ramsden, An Appetite for Power. A History of the Conservative Party since 1830. London 1998, 21. John Micklethwait/Adrian Wooldridge, The Right Nation. Why America is Different. London 2004.

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Diese Gemengelage mag erklären, warum das Verhältnis von Ökonomie, Gesellschaft und Religion in den zeithistorischen Forschungen zum Thatcherismus bislang wenig Beachtung gefunden hat. In der jüngsten Überblicksdarstellung zu den politischen und sozialen Verwerfungen im Großbritannien der 1980er Jahre fehlt beispielsweise die religiöse Dimension fast vollständig.3 In dem ansonsten breit angelegten Handbuch zur britischen Zeitgeschichte, das Paul Addison und Harriet Jones herausgegeben haben, findet sich kein Beitrag zur Religion; das Stichwortverzeichnis liefert nur sechs magere Verweise in Verbindung zu „Zivilgesellschaft“, „Nordirland“, „Rassismus“, „Rastafari“, „Zweiter Weltkrieg“ und „Sport“.4 In einem anderen, ähnlich gelagerten Sammelband von Jonathan Hollowell enthält das Register keinen einzigen Eintrag zur Religion.5 Um das Verhältnis zwischen Thatcherismus und Religion genauer zu ergründen, werden im Folgenden zunächst einige Grundzüge von Thatchers christlicher Überzeugung vorgestellt, wie sie in einer besonders berühmten (oder: berüchtigten) Rede der Premierministerin zu religiösen Fragen deutlich wurden. Danach werden die biographische Ebene und der familiäre Hintergrund von Thatchers Religiosität beleuchtet, gefolgt von der parteipolitischen Dimension und dem Verhältnis von Thatcherismus, britischem Konservatismus und Religion, ehe schließlich die gesellschaftliche Ebene und das Verhältnis von Thatcherismus, anglikanischer Staatskirche und britischer Gesellschaft in den Blick genommen werden.

I. T HATCHERS E DINBURGHER R EDE

VOM

M AI 1988

Am 21. Mai 1988 hielt Thatcher vor der Generalversammlung der Kirche Schottlands in Edinburgh ihre wohl kontroverseste Rede zu religiösen Fragen. Wenn man die Ansprache heute liest, fällt zunächst die zentrale Bedeutung der Wahlfreiheit (choice) in Thatchers Verständnis des Christentums auf. Die Premierministerin benannte drei Grundlagen des christlichen Glaubens: „Erstens, dass Gott den Menschen von Anbeginn mit dem grundlegenden Recht bedacht hat, zwischen Gut und Böse zu wählen. Zweitens, dass wir als Gottes eigenes Abbild geschaffen wurden und deshalb von uns erwartet wird, dass wir die uns eigene Denk- und Urteilsfähigkeit dazu nutzen, diese Wahl zu treffen. […] Und drittens, dass sich unser Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, im Angesicht seiner furchtbaren Wahl, seiner einsamen Wacht entschied,

 3 4 5

Richard Vinen, Thatcher’s Britain. The Politics and Social Upheaval of the Thatcher Era. London u.a. 2009. Paul Addison/Harriet Jones (Eds.), A Companion to Contemporary Britain 19392000. Oxford 2005. Jonathan Hollowell (Ed.), Britain since 1945. Oxford 2003.

W IRTSCHAFT , G ESELLSCHAFT

UND RELIGIÖSE

FRAGEN

IN

GROSSBRITANNIEN | 173

sein Leben niederzulegen, so dass unsere Sünden vergeben werden.“6 Diese Worte knüpften an zahllose vorangegangene Reden an, in denen Thatcher die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, zur Grundbedingung menschlicher Freiheit erklärt hatte – auch und gerade als Konsument im Marktgeschehen. So wie sie die Glaubensgrundlagen des Christentums in Edinburgh vorstellte, liefen sie auf eine theologische Legitimation des individuellen Rechts der freien Wahl hinaus – bis zur äußersten Zuspitzung, die Bedeutung der Kreuzigung liege darin, dass Christus dabei sein Recht der freien Wahl ausgeübt habe. Der zweite bemerkenswerte Aspekt der Rede bezog sich auf ihre Einstellungen zur Arbeit und zur Mehrung von Wohlstand. Unter Verweis auf den zweiten Thessaloniker-Brief des Apostels Paulus („wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“) argumentierte Thatcher, „dass wir arbeiten und unsere Gaben dazu nutzen müssen, Wohlstand zu schaffen.“ Der Überfluss, und nicht die Armut, habe seine Berechtigung im Wesen der Schöpfung: „Wie können wir auf die vielen Hilferufe reagieren, für die Zukunft investieren oder die wunderbaren Künstler und Handwerker unterstützen, deren Arbeit Gott ebenso ehrt, ohne dass wir zuerst hart gearbeitet und unsere Gaben genutzt hätten, um diesen notwendigen Wohlstand zu schaffen?“ 7 Derartige Wendungen reflektieren eine spezifische Verknüpfung protestantischer Leistungsethik mit dem Lob privater Initiative und des freien Unternehmertums, wie man sie in zahlreichen Thatcher-Reden findet. Das freie Unternehmertum strebte der Politikerin zufolge nicht nur nach privatem Gewinn, sondern diente zugleich der ganzen Nation, indem es Wohlstand schuf und individuelle Tugenden wie Ehrgeiz, Kreativität und Tatkraft forderte und förderte. Zur „Bedeutung des Christentums für die Politik“ (so war die entsprechende Passage in Thatchers Edinburgher Rede betitelt) gehörte nicht nur die Wertschätzung des freien Unternehmertums, sondern auch individuelle Leistungsbereitschaft, oder anders ausgedrückt: ein System sozialer Standards und Anreize. Sie müsse gestehen, so Thatcher, dass sie immer Schwierigkeiten mit der Auslegung des biblischen Grundsatzes gehabt habe, unseren Nächsten wie sich selbst zu lieben, bis sie einige Worte von C. S. Lewis dazu gelesen habe. Lewis, so Thatcher, hebe hervor, „dass wir uns selbst nicht wirklich lieben, wenn wir hinter unsere eigenen Maßstäbe und den Glauben, dem wir uns verschrieben haben, zurückfallen. Tatsächlich ist es möglich, uns selbst für eine unrechte Tat zu hassen. […] Die Einflussnahme des Staates darf nie so weit gehen, dass sie die persönliche Verantwortlichkeit vollständig beiseite schiebt. Dasselbe gilt für die Besteuerung, denn während sie und ich […] hart arbeiten, wird es immer Leute geben, die nicht dazu bereit sind, solange es keinen Anreiz gibt. Und auch ihre Bemühungen brauchen wir.“8 Verbunden

 6 7 8

Zit. nach Jonathan Raban, Gott, der Mensch und Mrs. Thatcher. Göttingen 1990, 19. Zit. nach ebd., 22. Zit. nach ebd., 25.

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wurde diese Überlegung mit einem Plädoyer für „persönliche Verantwortlichkeit“ und ein staatliches Anreizsystem in der Steuer- und Sozialpolitik. Im Anschluss daran folgten Bemerkungen über die individuelle Verantwortung als unverzichtbare Voraussetzung aller sozialen und ökonomischen Einrichtungen. Seien diese nicht in einer allgemein anerkannten individuellen Verantwortung begründet, so richteten sie laut Thatcher Unheil an: „Wir alle sind für unsere eigenen Taten verantwortlich. Wir können nicht die Gesellschaft beschuldigen, wenn wir dem Gesetz nicht folgen. Wir können das Ausüben von Gnade und Großzügigkeit einfach nicht an andere delegieren. Politiker und sonstige weltliche Kräfte sollten sich nach ihren Möglichkeiten bemühen, das Gute im Menschen zu fördern und das Böse zu bekämpfen: Aber sie können weder das eine erzeugen, noch das andere beseitigen. Sie können nur dafür sorgen, dass die Gesetze die besten Instinkte und Überzeugungen der Menschen hervorbringen.“9 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Thatcher die von ihr favorisierten Tugenden wie Arbeitsmoral, Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft nicht bloß im Christentum verankerte, was bei dem Publikum führender schottischer Calvinisten, vor dem sie sprach, nahe gelegen hätte. Vielmehr verwies sie ausdrücklich und mehrfach auf eine jüdischchristliche Tradition – ein Gedanke, den sie später wiederholt aufgriff: etwa im Juli 1990 in einer Rede über die Rolle von Frauen in modernen Gesellschaften oder im Januar 1996 in ihrer ersten großen Rede zu innenpolitischen Fragen nach ihrem erzwungenen Rücktritt, in der sie die jüdisch-christliche Tradition als moralisches Fundament der westlichen Zivilisation bezeichnete.10 Thatchers Edinburgher Rede schloss mit einem Zitat aus dem Choral ‚I Vow to Thee my Country‘, der auf ein Gedicht des Diplomaten Sir Cecil Spring-Rice von 1908 zurückgeht und beschreibt, wie ein Christ sowohl seinem irdischen Vaterland als auch der himmlischen Heimat treu sein muss. 11 Bezeichnenderweise gab Thatcher auch diesem ultrapatriotischen Lobpreis des Heldentodes für das Vaterland, der eng mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg verbunden ist, eine individualistische Wendung, indem sie darauf hinwies, dass Christen nach dem Jüngsten Gericht als Einzelpersonen ins Himmelreich gelangen: „Nicht Gruppe um Gruppe oder Partei um Partei oder gar Kirche um Kirche, sondern Seele um Seele.“12

 9 Zit. nach ebd., 23 f. 10 Siehe Margaret Thatcher, Margaret Thatcher. The Collected Speeches, ed. by Robin Harris. London 1997, 396, 576 f. 11 Zu Spring-Rice siehe H. C. G. Matthew, Lemma Sir Cecil Arthur Spring-Rice (1859–1918), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford University Press, Sept 2004, Onlineversion unter: http://www.oxforddnb.com/view/article/ 36224, letzter Stand: 8.9.2009. 12 Zit. nach Raban, Gott (wie Anm. 6), 31.

W IRTSCHAFT , G ESELLSCHAFT

UND RELIGIÖSE

FRAGEN

IN

II. D ER BIOGRAPHISCHE H INTERGRUND T HATCHERS R ELIGIOSITÄT

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VON

Die Tatsache, dass Thatcher aus einem streng methodistischen Elternhaus stammte, hat Historiker, die sich mit ihrer Religiosität befasst haben, immer wieder vor Schwierigkeiten gestellt. Denn traditionell stand ein Großteil des Methodismus in Großbritannien auf Seiten der Arbeiterbewegung. Weil viele Führer der Gewerkschaftsbewegung aus den Reihen methodistischer Laienprediger hervorgegangen waren, hat man sogar gesagt, die britische Arbeiterbewegung verdanke dem Methodismus mehr als dem Marxismus.13 Tatsächlich aber hatte sich der Methodismus gespalten. Thatcher entstammte nicht jenen Freikirchen, die sich von der Hauptkirche losgesagt hatten und zu einer der Wurzeln der britischen Arbeiterbewegung geworden waren. Ihre Familie blieb John Wesleys Interpretation des Methodismus treu, die sich weniger von der anglikanischen Hochkirche unterschied und theologisch wie sozial durchaus konservative Züge trug.14 In ihrer Heimatstadt Grantham besuchte Thatchers Familie denn auch nicht die Free Methodist Chapel, die unmittelbar neben dem väterlichen Gemischtwarenladen lag, sondern die Finkin Street Wesleyan Church in der Stadtmitte. Im Zentrum des Methodismus, den Thatchers Familie praktizierte und den ihr Vater Alfred als Laienprediger sonntags von der Kanzel verkündete, standen Sünde, Versöhnung, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heilserfahrung und die Forderung nach einem persönlichen Glaubensverhältnis zu Jesus Christus. Im Unterschied zu den Geistlichen der anglikanischen Hochkirche verlangten die methodistischen Laienprediger persönliche Entscheidungen der Gläubigen. Nicht die Kirche, sondern der Glaube jedes Einzelnen stand im Mittelpunkt. „What mattered fundamentally“, beschrieb Thatcher später das methodistische Glaubensverständnis ihrer Jugend, „was man’s relationship to God, and in the last resort this depended on the response of the individual soul to God’s Grace“.15 Thatchers Methodismus war keine Soziallehre, sondern ein rigoros individualistischer Moral-Kodex, der ihre individualistische Sicht auf Politik und Wirtschaft untermauerte: Man kümmerte sich um sein eigenes Seelenheil, ums eigene Geschäft und die eigene Familie. Wenn das geschafft war, konnte man in der Nachbarschaft oder einer größeren Gemeinschaft karitativ tätig werden. Thatcher ging wie selbstverständlich davon aus, dass Hilfe für die Mitmenschen eine Angelegenheit des privaten Engagements, praktizierter und

 13 Das Zitat wird gemeinhin Morgan Phillips, ehemals Generalsekretär der LabourPartei zugeschrieben. Zit. nach Peter Jenkins, Mrs. Thatcher’s Revolution. The Ending of the Socialist Era. London 1987, 83. 14 Rupert E. Davies, Methodism. Harmondsworth 1963, 187. Vgl. auch John Campbell, Margaret Thatcher, Bd. 1: The Grocer’s Daughter. London 2000, 15 f. 15 Am 30. März 1978 in der Kirche St. Lawrence Jewry in der City of London, abgedruckt in: Thatcher, Speeches (wie Anm. 10), 70-77, hier: 71.

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gelebter Religiosität war, keine Aufgabe für den Staat. In einem Interview erklärte sie, ihre Eltern hätten sie stets ermutigt, „to think in terms of practical help and to think very little of people who thought that their duty to the less well-off started and finished by getting up and protesting in the market place. That was ducking it, passing off your responsibilities to someone else“.16 Umgekehrt war es die Pflicht jedes in Not Geratenen, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um sich selbst aus seiner Misere zu befreien. Thatcher lernte, zwischen verschämten und unverschämten Armen zu unterscheiden: Die einen waren unverdient in Schwierigkeiten geraten, strampelten sich ab und waren zu stolz, Almosen anzunehmen. Ihnen musste man helfen, nicht aber jenen, „denen Unabhängigkeit und Achtbarkeit wenig sagte“, wie sie in ihren Erinnerungen schrieb, „die sich bereitwillig vom Staat abhängig machten und nicht daran dachten, selbst etwas zu unternehmen, um ihr Los zu verbessern oder ihren Kindern einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen“.17 Diese Armen verdienten keine Hilfe, sondern Verachtung. Von hier führt eine direkte Linie nicht nur zu dem Zitat von C. S. Lewis, sondern auch zu ihrer Überzeugung, dass private Mildtätigkeit staatlicher Sozialpolitik moralisch vorzuziehen sei. Thatchers Biograph John Campbell hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Politikerin sich später vom strengen Methodismus ihrer Eltern abwandte. Nach ihrer Hochzeit mit dem Anglikaner Denis Thatcher und im Zuge ihres intensiver werdenden Engagements für die Konservative Partei näherte sie sich immer mehr der Staatskirche an, die schließlich auch die traditionelle spirituelle Heimstatt der Tory Party war. Auch war ihr Vater mit der Wahl des Ehemanns wohl nicht besonders glücklich und bemerkte verächtlich, die Trauungszeremonie in London läge „auf halbem Weg nach Rom“. 18 Zum spartanischen Lebensstil ihrer Jugend muss Thatcher ebenfalls ein zwiespältigeres Verhältnis gehabt haben, als die idealisierenden Erinnerungen aus späterer Zeit weismachen wollen. Ihre eigenen Kinder erzog sie jedenfalls weniger asketisch, als sie es selbst erfahren hatte. Sowohl ihre Heimatstadt als auch ihre Eltern besuchte sie kaum noch, nachdem sie einmal die provinzielle Enge hinter sich gelassen hatte. Selbst in der Edinburgher Rede finden sich noch Anzeichen dieser Umorientierung. Thatcher erwähnte dort „die wunderbaren Künstler und Handwerker“, deren „Arbeit Gott ehre“.19 Für eine Anglikanerin war das eine völlig unproblematische Äußerung. Dem Auditorium schottischer Presbyterianer hingegen, vor dem die Politikerin sprach, muss sie etwas seltsam vorgekommen sein, denn als Calvinisten standen sie kirchlicher Prachtentfaltung ebenso kritisch gegenüber wie strenggläubige Methodisten.

 16 Zit. nach Penny Junor, Margaret Thatcher. Wife, Mother, Politician. London 1984, 7 f. 17 Margaret Thatcher, Die Erinnerungen 1925-1979. Düsseldorf u.a. 1995, 632. 18 Campbell, Grocer’s Daughter (wie Anm. 14), 92. 19 Zit. nach Raban, Gott (wie Anm. 6), 22.

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Für Thatchers politische Karriere waren derartige Ambivalenzen freilich weniger wichtig als die Entscheidung, die verschütteten nonkonformistischen Schichten ihres Lebensweges wieder auszugraben, als sie Mitte der siebziger Jahre an die Spitze der Konservativen Partei gelangte. Sie präsentierte sich als Eiserne Lady, die im Kramladen und in den Sonntagspredigten ihres Vaters die Gesetze des Marktes und die Regeln der Selbsthilfe verinnerlicht hatte und mit Hilfe der dort erlernten Tugenden den Niedergang ihres Landes aufzuhalten, ja umzukehren gedachte. Entsprechend häufig sprach sie von den Tugenden, die sie in ihrer Jugend erlernt hatte: Sparsamkeit, harte Arbeit, Selbstdisziplin.20 Zu den religiösen Wurzeln ihrer politischen Überzeugungen bekannte sie sich so offen und missionarisch wie kein anderer Tory-Führer des 20. Jahrhunderts – ebenfalls ein Erbe des elterlichen Methodismus und der väterlichen Sonntagspredigten: Schließlich war sie mit öffentlichen religiösen Bekenntnissen aufgewachsen. Die Religion, die Thatcher bei ihren politischen Glaubensbekenntnissen vor Augen hatte, war neben dem Methodismus ihrer Jugend das Judentum, wie sie es in ihrem Nordlondoner Wahlkreis in Finchley seit 1957 kennengelernt hatte. Rund ein Fünftel der Wahlberechtigten dort waren jüdischen Glaubens.21 Thatcher entwickelte eine besondere Affinität zur jüdischen Tradition der Selbstverantwortlichkeit sowie zu den karitativen Leistungen der Gemeinden. In den 33 Jahren, in denen Finchley ihr Wahlkreis gewesen sei, schrieb sie in ihren Erinnerungen, sei niemals auch nur ein einziger verarmter und verzweifelter Jude in ihre Bürgersprechstunde gekommen, „denn ihre Gemeinde kümmerte sich vorbildlich um jeden einzelnen.“ Christen könnten viel „von der jüdischen Tradition der Selbsthilfe und der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln“ lernen.22 So betrachtet, lag Finchley nicht weit von Grantham. Auch daran dachte die Politikerin, wenn sie vor den schottischen Klerikern von der jüdisch-christlichen Tradition sprach.

III. T HATCHERISMUS , BRITISCHER K ONSERVATISMUS UND R ELIGION Thatcher war innerhalb der Konservativen Partei, an deren Spitze sie 1975 gewählt wurde, in mancher Hinsicht eine Außenseiterin: als Frau, wegen ihrer sozialen Herkunft aus der unteren Mittelschicht und wegen ihrer religiösen Wurzeln im Methodismus. Das rückte sie unweigerlich an den Rand einer Partei, deren Establishment zu dieser Zeit immer noch von Männern dominiert, aristokratisch-großbürgerlich geprägt und eng mit der anglikanischen Staatskirche verbunden war. Nicht umsonst bezeichnete man die Church of

 20 Siehe Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975-1979. München 2002. 21 Hugo Young, One of Us. A Biography of Margaret Thatcher. London 1989, 422. 22 Margaret Thatcher, Nr. 10 Downing Street. Düsseldorf u.a. 1993, 709 f.

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England lange Zeit als „Tory Party beim Gebet“. Nonkonformistische Glaubensgemeinschaften hingegen hatten traditionell der Liberalen Partei zugeneigt, wenn sie sich nicht gar zu den christlichen Strömungen der Arbeiterbewegung hingezogen gefühlt hatten. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass Thatcher sich für ihre religiös-ethische Grundsatzrede kein anglikanisches Auditorium ausgesucht hat, sondern die schottischen Calvinisten in Edinburgh, die in derselben nonkonformistischen Tradition standen wie der Methodismus. Innerparteiliche Gegner haben schon frühzeitig bestritten, dass Thatcher und ihre Anhänger echte Konservative seien. Stattdessen sah man in ihnen Vulgär-Liberale, die ein seltsamer Zeitsprung aus dem 19. ins späte 20. Jahrhundert versetzt hatte.23 Parteigänger Thatchers haben die Dinge manchmal genauso gesehen. Milton Friedman pflegte zu erklären, Thatcher sei eigentlich gar kein Tory, sondern eine Liberale des 19. Jahrhunderts. Intellektuelle Vordenker des Thatcherismus in Großbritannien, etwa im Umfeld des Institute of Economic Affairs, verstanden sich ebenfalls als Liberale, nicht als Konservative. Einer von ihnen, Ralph Harris, trat, nachdem Thatcher ihn Mitte der achtziger Jahre für seine Verdienste geadelt hatte, demonstrativ nicht der Tory-Fraktion im Oberhaus bei, sondern bestand auf seinem Status als Unabhängiger (crossbencher). Thatcher selbst überraschte 1983 den konservativen Parteitag damit, dass sie erklärte, William Ewart Gladstone – der große liberale Premierminister des 19. Jahrhunderts und bête noir für viele Konservative – würde der Tory-Partei beitreten, wenn er in der Gegenwart lebte.24 Tatsächlich kann man den Thatcherismus als Ergebnis einer liberalen Infiltration der Tory-Partei interpretieren. Schließlich haben sich die britischen Konservativen nach 1945 – oder, wenn man will, schon seit der Abspaltung der Liberalen Unionisten von der Liberalen Partei in den 1880er Jahren – die personellen wie ideellen Überreste des britischen Liberalismus erfolgreich einverleibt.25 Thatchers Vater Alfred war einer jener Liberalen, die nach dem weitgehenden Verschwinden der Liberalen Partei in der Zwischenkriegszeit nach 1945 zu den Konservativen überwechselten. Traditionell sei seine Familie liberal, erklärte er Ende der 1940er Jahre auf einer Parteiversammlung der Tories, aber heutzutage stünden die Konservativen für dieselben Dinge, für die in seiner Jugend die Liberalen eingetreten seien.26 Insofern muss man die genuin liberalen Wurzeln des Thatcherismus betonen und doch zugleich darauf hinweisen, dass die Tory-Partei Mitte der 1970er Jahre nicht einfach

 23 Francis Pym, The Politics of Consent. London 1984; Mark Garnett/Ian Gilmour, Thatcherism and Conservative Tradition, in: Martin Francis/Ina Zweiniger-Bargielowska (Eds.), The Conservatives and British Society 1880-1990. Cardiff 1996, 78-94. 24 Zit. nach E[wen]. H. H. Green, Thatcher. London 2006, 33. 25 Vgl. E[wen]. H. H. Green, Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century. Oxford 2002, 257. 26 Zit. nach Green, Thatcher (wie Anm. 24), 33.

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von einer Bande liberaler Fanatiker gekidnappt worden ist. Tatsächlich bedeutete der Thatcherismus lediglich eine weitere Akzentverschiebung innerhalb einer längeren Entwicklung der Konservativen Partei.27 Dieser Trend machte sich auch in der Zusammensetzung der konservativen Unterhausfraktion bemerkbar. Dort saßen in den 1970er Jahren erstmals mehr Abgeordnete, die an Staatsschulen erzogen worden waren als an teuren Privatinstitutionen wie Eton. Erstmals bildeten Geschäftsleute, Bänker und Rechtsanwälte rund die Hälfte der Fraktion, während der Anteil der traditionell dominierenden Offiziere und Landbesitzer auf ein Zwölftel geschrumpft war. 28 Viele spätere Mitstreiter Thatchers begannen damals ihre politische Karriere – und nicht wenige von ihnen hatten einen familiären oder religiösen Hintergrund, der sie ähnlich wie Thatcher zu Außenseitern in der alten ToryPartei gemacht hätte. In der sich rapide wandelnden neuen Situation aber kam ihnen ihre Herkunft zugute. Geoffrey Howe, später Schatzkanzler und Außenminister unter Thatcher, entstammte einer nonkonformistischen Familie aus Wales, die traditionell ebenfalls liberal gewählt hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg die Konservative Partei als natürlichen Erben des Liberalismus ansah.29 Thatchers Nachfolger als Premierminister, John Major, kam aus kleinen Verhältnissen ohne Abitur und Universitätsstudium über eine Lehre als Bankkaufmann in die Politik. 30 Männer wie Keith Joseph, Nigel Lawson, Leon Brittan, Michael Howard – allesamt später in zentralen Positionen in verschiedenen ThatcherKabinetten – stammten aus jüdischen Familien. Das hat der Premierministerin später wiederholt den – von antisemitischen Untertönen nicht freien – Vorwurf der Günstlingswirtschaft eingebracht.31 Tatsächlich hat bei ihr in diesem Zusammenhang wohl weniger Philosemitismus eine Rolle gespielt als die Abwesenheit von Vorurteilen, die bereits erwähnte Hochschätzung bestimmter Traditionsstränge im Judentum sowie eine Vorliebe für gescheite, klassenlose Außenseiter (wie sie selbst einer war). Mit der sozialen Legierung der Partei veränderten sich auch der Umgangston und der Arbeitsstil in der Unterhausfraktion. Der Abgeordnete Julian Critchley bemerkte Anfang der 1970er Jahre, die Konservative Partei sei gesellschaftlich weniger homogen und stärker ideologisch ausgerichtet als

 27 Siehe Green, Ideologies (wie Anm. 25); Vinen, Thatcher’s Britain (wie Anm. 3). 28 Vgl. Byron Criddle, Members of Parliament, in: Anthony Seldon/Stuart Ball (Eds.), Conservative Century. The Conservative Party since 1900. Oxford 1994, 145-167. 29 Siehe Judy Hillman/Peter Clark/Geoffrey Howe, A Quiet Revolutionary. London 1988; vgl. auch Howes Autobiographie: Geoffrey Howe, A Conflict of Loyalty. London 1994. 30 Siehe Anthony Seldon, Major. A Political Life. London 1997; Robert Taylor, Major. London 2006. Majors eigene Darstellung findet man in: John Major, The Autobiography. London 1999. 31 Vgl. John Ranelagh, Thatcher’s People. London 1991.

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früher. Die Abgeordneten arbeiteten härter, sie trügen neuerdings Anzüge von der Stange und manche sogar Wildlederschuhe – in seinen Augen offenbar ein Gipfel der Geschmacklosigkeit.32 Nicht nur im gesellschaftlichen Umgang kam es in der Folge derartiger Verschiebungen zu Friktionen, sondern auch auf weltanschaulicher Ebene. Insbesondere der ausgeprägte Individualismus des Thatcherismus stand im Widerstreit mit wichtigen Traditionsbeständen des britischen Konservatismus. Als Thatcher gerade Parteichefin der Tories geworden war, verfasste der britische Philosoph Anthony Quinton eine Studie über die ‚säkularen und religiösen Traditionen konservativen Gedankenguts in Großbritannien‘, in deren Zentrum er die Vorstellung von der intellektuellen Unvollkommenheit des Menschen rückte.33 Die Idee der intellectual imperfection lief darauf hinaus, dass der menschliche Verstand wegen seiner Begrenzung ein schlechter Ratgeber für soziales und politisches Verhalten sei. Von diesem Grundgedanken leitete Quinton drei weitere konservative Grundsätze ab: erstens politischen Skeptizismus gegenüber den theoretischen Spekulationen einzelner liberaler oder sozialistischer Denker, denen das Vertrauen in die historisch gewachsene gesellschaftliche Erfahrung menschlicher Gemeinschaften als positives Kontrastbild gegenübergestellt wurde; zweitens Traditionalismus als Treue gegenüber überkommenen Bräuchen und Einrichtungen, die es gegen plötzlichen und voreiligen Wandel zu schützen galt; drittens schließlich die Vorstellung von der Gesellschaft als organisch gewachsenem Ganzen, in dem jeder einzelne seinen Platz hatte und durch das er in seiner Individualität geformt wurde. Der Thatcherismus stand in verschiedener Hinsicht quer zu diesen konservativen Grundsätzen. Zum einen setzte er sich dem Vorwurf aus, ähnlich wie der staatsgläubige Sozialismus die Verstandeskräfte des Menschen zu überschätzen, also von der intellektuellen Vollkommenheit des Menschen auszugehen, weil er dessen Verhalten rein rationale Kriterien zugrunde legte und es auf diese Weise mit ökonomischen Theorien erklärbar zu machen versuchte. Zum anderen verstieß der Doktrinarismus der thatcheristischen Wirtschaftspolitik, die Orientierung an den Lehren Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans, gegen den politischen Skeptizismus traditioneller britischer Konservativer. „Dogmatismus“ war einer der am häufigsten zu hörenden Vorwürfe innerparteilicher Gegner des Thatcherismus.34 In der konservativen Revolution, zu der sich Thatcher bekannte, sahen traditionellere Konservative nicht zu Unrecht einen Angriff auf überkommene

 32 Zit. nach John Ramsden, The Winds of Change. Macmillan to Heath. London/New York 1996, 399. 33 Anthony Quinton, The Politics of Imperfection. The Religious and Secular Traditions of Conservative Thought in England from Hooker to Oakeshott. London 1978. 34 Siehe etwa Ian Gilmour, Dancing with Dogma. Britain under Thatcherism. New York 1992.

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Bräuche und altehrwürdige Einrichtungen ihres Landes. Thatcher könne keine Institution sehen, ohne mit ihrer Handtasche draufzuschlagen, spottete der bereits erwähnte Julian Critchley einmal. 35 Schließlich passte die kompromisslose Betonung persönlicher Freiheit schlecht zur Vorstellung vom organischen Charakter der Gesellschaft. Politischer Individualismus drohte in den Augen britischer Konservativer in gesellschaftliche Vereinzelung umzuschlagen. Die Privilegierung der Marktbeziehungen vor allen anderen Formen sozialer Kontakte zerstöre den Zusammenhalt der Gesellschaft, der dem britischen Konservatismus am Herzen lag.

IV. T HATCHERISMUS , ANGLIKANISCHE S TAATSKIRCHE UND BRITISCHE G ESELLSCHAFT Die Auseinandersetzung um religiös-ethische Fragen, die der Thatcherismus aufwarf, wurde nicht nur innerhalb der Konservativen Partei ausgefochten, sondern beschäftigte die britische Gesellschaft insgesamt. Eine Schlüsselrolle kam dabei der Anglikanischen Kirche zu. Trotz der traditionellen Nähe zwischen anglikanischer Staatskirche und Konservativer Partei standen große Teile des höheren und niederen Klerus der Church of England Thatchers Politik ablehnend gegenüber. Der höchste anglikanische Würdenträger, der Erzbischof von Canterbury, Robert Runcie, beispielsweise, verurteilte den britischen Nationalismus nach dem Ende des Falklandkrieges. In seiner Predigt beim Dankgottesdienst in der St. Pauls-Kathedrale gedachte er demonstrativ nicht nur der britischen Toten, sondern auch der argentinischen Opfer. Außerdem bezeichnete er bei dieser Gelegenheit jeden Krieg als „verabscheuungswürdig“ und kritisierte den internationalen Waffenhandel. Die Boulevardzeitung The Sun sprach damals von einer ‚Beleidigung der britischen Helden‘ und berichtete, die Premierministerin habe ‚Blut gespuckt‘, als sie Runcies Worte hörte. 36 Andere Konfliktzonen zwischen der Regierung und der anglikanischen Kirche waren die Verteidigungspolitik – eine beträchtliche Minderheit innerhalb der Staatskirche befürwortete die Forderung der britischen Friedensbewegung nach einseitiger Abrüstung – und Thatchers Weigerung, Sanktionen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika zuzustimmen.37 Den wichtigsten Streitpunkt bildete jedoch die kirchliche Kritik an der angeblich unsozialen Politik der konservativen Regierung. Bereits in seiner Weihnachtsansprache 1981 hatte Runcie die Regierung für ihr mangelndes

 35 The Times, 21. Juni 1982. 36 Humphrey Carpenter, Robert Runcie. The Reluctant Archbishop. London 1999, 255-261. 37 Vgl. John Gladwin, The Church of England in Opposition, in: Michael Alison/ David L. Edwards (Eds.), Christianity and Conservatism. London u. a. 1990, 6479.

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Mitleid mit den Arbeitslosen kritisiert. Er sprach von „verhärteten Herzen“, „geistloser Selbstgefälligkeit“, „Verachtung für Arbeiter“ und „Vernachlässigung der Notleidenden“. Sein Amtsbruder Dr. David Jenkins, Bischof von Durham in Nordengland, verurteilte die konfrontative Politik der Regierung während des Bergarbeiterstreiks 1984/5. Die Konservativen zeigten in seinen Augen eine ‚kränkende Entschlossenheit‘, die Unterprivilegierten zu den größten Leidtragenden des wirtschaftlichen Wandels zu machen. Manche Bischöfe boten sich in diesen Monaten sogar als offizielle Vermittler zwischen Thatcher und dem Streikführer Arthur Scargill an.38 Der Unmut blieb nicht auf das anglikanische Establishment beschränkt. Auch die schottischen Kirchenoberen, vor denen Thatcher 1988 in Edinburgh sprach, sparten nicht mit Kritik. In ihren Augen war Thatchers Bekenntnis eine bizarre Mischung aus fundamentalistischem Konservatismus und simplifizierenden Sonntagsschulweisheiten.39 Am übelsten wurde das Paulus-Zitat aufgenommen, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen. Der Schriftsteller Jonathan Raban verfasste eine eigene Kampfschrift, in der er Thatchers Rede Satz für Satz und Wort für Wort mit den Mitteln der Sprachkritik zerlegte und als „aufdringlich salbungsvolle Gaunersprache“ zu enttarnen trachtete. Für ihn befand sich Großbritannien mitten in einer Neuauflage der englischen Religions- und Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts – mit dem Thatcherismus als Reinkarnation einer „eifernden und puritanischen Reformation“, der die „alten Priester davonlaufen, deren Ikonen zerschlagen und deren Bildungsstätten berannt werden, deren Geschichte nach dem Muster einer neuen starren Orthodoxie umgeschrieben wird“.40 Den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen konservativer Regierung und den christlichen Kirchen markierte im Herbst 1985 ein Bericht mit dem Titel Faith in the City, der sich mit der sozialen Verwahrlosung der britischen Großstädte beschäftigte. Publiziert wurde der Bericht von einer Kommission aus Klerikern und Laien, die der Erzbischof von Canterbury 1983 eingesetzt hatte. Der Bericht zeichnete ein düsteres Bild der Lage und richtete einen großen Teil der Schuldvorwürfe an die Adresse der Regierung. Deren Philosophie lege einen viel zu starken Akzent auf Individualismus und Eigenverantwortung und vergesse darüber das Gemeinwohl und die gesellschaftlichen Verpflichtungen des Einzelnen. Die konkreten Verbesserungsvorschläge liefen auf eine komplette Kehrtwende des Thatcher-Kurses hinaus: mehr Geld für Arbeitsplatzbeschaffung, höhere Sozialleistungen, eine drastische Anhebung des Kindergeldes. Der Bericht sorgte für heftige Kontroversen. Ein namenloser konservativer Unterhausabgeordneter wurde in der Presse mit der Bemerkung zitiert, es handele sich dabei um ‚pure marxistische Theologie‘. Ein anderer erklärte, der Report beweise, dass die Kirche von einer ‚Bande kommunistischer Kle-

 38 Carpenter, Runcie (wie Anm. 36), 219 f. 39 Ludovic Kennedy, In Bed with an Elephant. London 1994, 302. 40 Raban, Gott (wie Anm. 6), 102.

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riker‘ geleitet werde. 41 Thatcher selbst hielt sich zwar mit offiziellen Stellungnahmen zurück, ließ aber an die Presse durchsickern, wie wenig sie von der Analyse und den Lösungsvorschlägen hielt. Einem Vertrauten gegenüber beklagte sie, dass der Bericht kein einziges Wort über Selbsthilfe oder Eigenverantwortung enthalte. 42 Die anglikanische Staatskirche war aus Thatchers Sicht nicht mehr die „Tory Party beim Gebet“ (jedenfalls nicht mehr ihre Tory Party), sondern eine Bastion linker Gutmenschen, die einem wohlfeilen Kollektivismus huldigten, alles Heil in irdischen Dingen vom Staat und nichts vom Individuum erwarteten. Besonders übel vermerkte sie, dass sich keine einzige prominente Gegenstimme in der anglikanischen Kirche erhob. Stattdessen war es der britische Oberrabbiner Immanuel Jakobovits, der in der Öffentlichkeit eine Grundsatzkritik aus religiöser Sicht formulierte. In Jakobovits Augen waren sowohl die zugrunde liegende Philosophie als auch die praktischen Reformvorschläge des Berichtes grundfalsch. Sie beruhten für ihn auf einer falschen Auffassung vom Wert der Arbeit: Arbeit, nicht Fürsorge müsse das wichtigste Ziel jeder Sozialpolitik sein. Ein jüdischer Beitrag zur Debatte, so Jakobovits, würde größeren Wert darauf legen, Selbstachtung aufzubauen, indem man Strebsamkeit und Eigeninitiative ermuntere. Zentral sei ein anspruchsvolleres und befriedigenderes Arbeitsethos, das menschliche Trägheit überwinden helfe und den Stolz nähre, von der eigenen Hände Arbeit zu leben. Die Farbigen in den Slums der britischen Innenstädte sollten sich ein Beispiel an der jüdischen Erfahrung in den USA nehmen: an der Bereitschaft, sich durch eigene Anstrengung aus der Armut herauszuarbeiten, sich beständig fortzubilden, Selbsthilfeorganisationen aufzubauen, Vertrauen in und Respekt vor der Polizei zu entwickeln und zu erkennen, dass die eigene Sicherheit als ethnische Minderheit von Recht und Ordnung abhänge.43 Doch außerhalb der Reihen, der von Thatcher als untätig kritisierten hohen anglikanischen Würdenträger, gab es auch unter Christen vereinzelt Versuche, die thatcheristische Wirtschafts- und Sozialpolitik mit den Leitgedanken des Evangeliums in Einklang zu bringen, beziehungsweise gegen Vorwürfe von kirchlicher Seite in Schutz zu nehmen. 1984 veröffentlichte beispielsweise der anglikanische Priester Dr. Digby Anderson, Gründer des konservativen Think-Tanks Social Affairs Unit, zusammen mit Ralph Harris vom Institute of Economic Affairs eine Sammlung von Aufsätzen christlicher Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Theologen, die den kirchlichen Stellungnahmen zu aktuellen sozialen und ökonomischen Fragen ideologische Voreingenommenheit, mangelnde Sachkenntnis und einseitige Parteinahme vorwarfen. „Careless care“, so das Fazit der Herausgeber, „may hurt the very

 41 Beide Zitate nach John Campbell, Margaret Thatcher, Bd. 2: The Iron Lady. London 2003, 390. 42 Woodrow Wyatt, The Journals of Woodrow Wyatt, Bd. 1. London 1999, 22. 43 Young, One (wie Anm. 21), 424.

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people its wellmeaning exponents claim to help. There is a kindness that kills.“44 Ein Jahr später hielt der Ökonom Brian Griffiths, von 1985 bis 1990 Leiter des Planungsstabes in 10 Downing Street, als praktizierender anglikanischer Christ einen Festvortrag über die Vereinbarkeit von Monetarismus und Moral, der von einer konservativen Denkfabrik, dem Centre for Policy Studies, als Flugschrift veröffentlicht wurde. Darin verteidigte Griffiths die monetaristische Politik des knappen Geldes als moralisch fundierten Versuch, die gesellschaftsschädlichen Auswirkungen der Inflation zu bekämpfen und zugleich – über die Begrenzung der Staatsaufgaben – den Prozess der zunehmenden Entmachtung des Volkes durch die Regierung umzukehren.45

V. R ESÜMEE In der Quintessenz ging es bei den Auseinandersetzungen um Wirtschaft, Gesellschaft und religiös-ethische Fragen im Großbritannien der ThatcherÄra immer um die Frage der Vereinbarkeit von Individualismus und Gemeinschaftssinn, von Eigenverantwortung und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Anders ausgedrückt: Es ging um den Widerstreit zwischen konservativen und liberalen Prinzipien. Man kann dieses Spannungsverhältnis auf einen religiösen Kern zurückführen. Ein führender schottischer Theologe erklärte anlässlich von Thatchers Rede in Edinburgh, die Kirche habe nie ein „Paradies für Individualisten“ im Sinne gehabt.46 Anthony Quintons Vorstellung der intellektuellen Unvollkommenheit war zwar nicht deckungsgleich, aber doch eng verbunden mit der christlichen Idee der Erbsünde. Das Bemerkenswerte am Thatcherismus war, dass er die konservative Sichtweise nicht verneinte, sondern lediglich in ihrer Reichweite beschränkte: nämlich auf den Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Immer wenn es um Recht und Ordnung oder militärische Stärke ging, redeten und handelten Thatcher und die Thatcheristen wie typische Konservative. Dann vertraten sie die Position, dass der Mensch aufgrund der Erbsünde etwas unausrottbar Böses in seinem Wesen habe, dem man nur mit Recht, Gesetz, Strafe und Sühne begegnen könne. In Fragen der Wirtschaftsordnung hingegen entsprach ihr Menschenbild den klassischen liberalen Ansichten eines Adam Smith, demzufolge der Mensch seinem Wesen nach gut und vernünftig sei, rational handele, auf seinen eigenen Vorteil achte und damit zugleich die Wohlfahrt aller befördere.

 44 Digby C. Anderson/Ralph Harris (Eds.), The Kindness that Kills. The Churches Simplicistic Response to Social Issues. London 1984, 10. 45 Brian Griffiths, Monetarism and Morality. An Answer to the Bishops. London 1985. 46 Zit. nach Raban, Gott (wie Anm. 6), 102.

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Die beiden Seiten dieses Menschenbildes fügten sich freilich nicht harmonisch ineinander. Deutlich wurde dieses Spannungsverhältnis in einer Rede, die Thatcher als Oppositionsführerin bereits zehn Jahre vor der Edinburgher Rede im März 1978 in der Kirche St. Lawrence Jewry in der City of London gehalten hatte. Dort sprach sie davon, das Neue Testament enthalte zwei sehr allgemeine, anscheinend widersprüchliche Gesellschaftsvorstellungen: eine von der Gemeinschaft der Gläubigen her denkende, um das Zusammenleben der Menschen besorgte, und eine um das Individuum und seine Wahlfreiheit kreisende. Die Kunst der Politik bestehe darin, die beiden ins richtige Verhältnis zueinander zu bringen.47 Auf die Situation im Großbritannien der 1970er und 1980er Jahre angewandt, leiteten Thatcher und ihre Anhänger daraus die Schlussfolgerung ab, den Staat aus dem Wirtschaftsleben zurückzudrängen, der Wahlfreiheit des Individuums mehr Platz einzuräumen, gleichzeitig jedoch die Ordnungs- und Schutzfunktion des Staates im Innern und nach außen zu betonen, um dem Bedürfnis der Bürger nach Sicherheit zu entsprechen. Der Thatcherismus war keine geschlossene und in sich schlüssige Theorie, sondern eine unter bestimmten räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen wirkungsvolle Praxis, die weder mit dem Etikett liberal noch mit konservativ treffend beschrieben ist. Man kann in der Inkonsistenz des thatcheristischen Menschen- und Gesellschaftsbildes eine Ursache für eine zentrale Paradoxie dieser Ära sehen: dass nämlich Thatchers Vision einer moralisch erneuerten Nation hart arbeitender Sparer und eigenständiger Familien mithalf, eine kommerzialisierte und zur sozialen Atomisierung neigende Gesellschaft herbeizuführen, in der Spekulation an der Börse prämiert wurde und private Haushalte Rekordschulden aufhäuften. Mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, war den nachdenklicheren Protagonisten des Thatcherismus dieser Widerspruch bewusst. Brian Griffith etwa führte den Zerfall von Familien, Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch und Alkoholsucht direkt auf den Verlust natürlicher Autoritäten, festgefügter Traditionen und allgemeinverbindlicher Regeln zurück. Allerdings machte er nicht die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung für die Fehlentwicklungen verantwortlich, sondern den Prozess der Säkularisierung, dem Großbritanniens Kirchen aus seiner Sicht allzu wenig Widerstand entgegensetzten.48 Thatcher sprach dasselbe Problem an, als sie in ihrem Grußwort zu einem 1990 erschienenen Sammelband über ‚Christentum und Konservatismus‘ abschließend konstatierte: „In our age new freedoms have come with growth and maturity; old associations have been left behind. Christianity has indeed done much to promote this evolution. But paradoxically, it has become vulnerable to the risk that it might itself be marginalised. For from freedom flows pluralism. Can [the] vision of a secular society transformed by the power of the spirit, and of Christian ideas, be realized in to-

 47 Thatcher, Collected Speeches (wie Anm. 10), 70-77. 48 Griffiths, Monetarism and Morality (wie Anm. 45), 28.

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day’s world?“49 Keine besonders selbstbewusste Schlussfanfare für eine Politikerin, die stolz darauf war, auf die meisten komplizierten Fragen einfache Antworten parat zu haben.

 49 Alison/Edwards (Eds.), Christianity and Conservatism (wie Anm. 37), 2.

III. Wirtschaftsdiskussionen und Gesellschaftsvorstellungen in Italien und Deutschland

„Liberalismo“ und „liberismo“ bei Benedetto Croce und Luigi Einaudi Ein Disput im faschistischen Italien T HOMAS B RECHENMACHER

Benedetto Croce (1866-1952) 1 kehrte sich früh vom Christentum ab. Seit 1883 studierte er Rechtswissenschaften an der römischen Universität „Sapienza“ und geriet in den Umkreis des marxistischen Philosophen Antonio Labriola. Die erste Phase seines geistigen Weges war geprägt von der Auseinandersetzung mit Marxismus und historischem Materialismus. Anders jedoch als sein Generationsgenosse Luigi Einaudi (1874-1961) befasste sich Croce mit wirtschaftstheoretischen Themen im engeren Sinne nur über eine kurze Zeitspanne hinweg, genauer: während weniger Jahre kurz vor der Jahrhundertwende. Das Ergebnis waren mehrere, unter dem Titel „Historischer Materialismus und marxistische Ökonomie“ zusammengefasste Studie2 sowie ein nicht mehr vollständig überlieferter brieflicher Diskurs mit dem Soziologen Vilfredo Pareto.3 Seit etwa 1900 wandte sich Croce dann der philosophischen Ästhetik, Kultur- und Literaturtheorie zu, gründete die Zeitschrift „Critica“ (bis 1944) als Forum für die Kultur des italienischen Nationalstaates

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Zur Einführung vgl. Paolo Bonetti, Introduzione a Croce. Roma/Bari 1984 (mit umfangreicher Bibliographie); Karl Egon Lönne, Benedetto Croce. Vermittler zwischen deutschem und italienischem Geistesleben. Tübingen/Basel 2002; Domenico Conte, Weltgeschichte und Pathologie des Geistes. Benedetto Croce zwischen Historischem Denken und Krise der Moderne. Leipzig 2007; Giuseppe Cacciatore/ Girolamo Cotroneo/Renata Viti Cavaliere (Hrsg.), Croce filosofo. Atti del convegno internazionale di studi in occasione del 50o anniversario della morte, 2 Bde. Soveria Mannelli (Catanzaro) 2003. Benedetto Croce, Materialismo storico ed Economia Marxistica [1900] (Saggi filosofici, Bd. IV). 10. Aufl. Bari 1961. Zwei Briefe Croces an Pareto sind publiziert in ebd., 229-251; zu den Gegenbriefen vgl. Giulio De Caprariis (Hrsg.), Trentadue lettere di Vilfredo Pareto a Benedetto Croce, in: Revue européenne de science sociale 10, 1972, 139-161.

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und trieb vertiefte Hegel-Studien, die ihn auf den Pfad einer idealistischen und historistischen Erkenntnisphilosophie führten. In den folgenden Jahren arbeitete er deren Grundzüge aus, in der „Ästhetik“ (1902), der „Philosophie der Praxis, Ökonomik und Ethik“ (1909), der „Logik“ (1909) sowie der „Theorie der Geschichte und der Geschichtsschreibung“ (1917).4 Eine erste Summe seines philosophischen Denkens zog Croce in der 1931 erschienenen Kompilation „Etica e politica“, in die drei seiner während der 1920er Jahre publizierten Schlüsselstudien zusammenflossen: „Fragmente zur Ethik“ („Frammenti di etica“) von 1922, „Elemente der Politik“ („Elementi di politica“) von 1925 und „Moralische Aspekte des politischen Lebens“ („Aspetti morali della vita politica“) von 1928.5 Den politischen Hintergrund bildete dabei unverkennbar die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus. Croce, im letzten Kabinett Giolitti von Juni 1920 bis Juni 1921 Erziehungsminister, lehnte es ab, unter Mussolini weiterhin öffentliche Ämter zu bekleiden. Nach dem Übergang des Mussolini-Regimes zur offenen Diktatur Anfang 1925 positionierte sich Croce eindeutig gegen den Faschismus, so in einer aufsehenerregenden Streitschrift gegen ein „Manifest faschistischer Intellektueller“. Seine widerständige Haltung und offene Kritik hatte Croce mit jahrelanger Überwachung und Schikanierung durch die Faschisten zu büßen. Allerdings wagten diese es nicht, den bereits weltbekannten italienischen Denker gänzlich mundtot zu machen, so dass er weiter publizieren und auch ins Ausland reisen konnte.6 Um die Frage nach den Legitimationskriterien einer Wirtschaftsordnung bei Croce beantworten zu können, ist es entscheidend, seine begriffliche Trennung von „liberalismo“ und „liberismo“ wahrzunehmen. Die Terminologie lässt sich nur schwer ins Deutsche übertragen. „Liberalismo“ verweist auf den das gesamte Denken Croces tragenden Begriff der „Freiheit“. Das „Prin-

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Benedetto Croce, Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale. I. Teoria, II. Storia. Milano/Palermo/Napoli 1902 [dt. Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und Allgemeine Sprachwissenschaft − Theorie und Geschichte, übers. v. Hans Feist und Richard Peters (Gesammelte philosophische Schriften, I, 1). Tübingen 1930]; ders., Filosofia della pratica, economica ed etica, Bari 1909 [dt.: Philosophie der Praxis, Ökonomik und Ethik, übers. v. dens. (Ges. philos. Schriften, I, 3). Tübingen 1929]; ders., Logica come scienza del concetto puro. Bari 1909 [dt.: Logik als Wissenschaft vom reinen Begriff, übers. v. Felix Noeggerath (Ges. philos. Schriften, I, 2). Tübingen 1930]; ders., Teoria e storia della storiografia. Bari 1917 [dt. Theorie und Geschichte der Historiographie und Betrachtungen zur Philosophie der Politik, übers. v. H. Feist und R. Peters (Ges. philos. Schriften, I, 4). Tübingen 1930]. Benedetto Croce, Etica e Politica [1931], a cura di Giuseppe Galasso. Milano 1994 (enthält „Frammenti di etica“, „Elementi di politica“ und „Aspetti morali della vita politica“) [dt. Fragmente zur Ethik, übers. v. Julius Schlosser. Zürich/Leipzig/ Wien 1923; Grundlagen der Politik, übertragen v. Hans Feist. München 1924]. Vgl. Lönne, Croce (wie Anm. 1), 42-46.

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zip der Freiheit“ (concezione liberale) ist das „Prinzip des Lebens“ (la concezione della vita).7 Leben ist nur dort, wo Freiheit waltet.8 Wo lässt sich das Wirken der Freiheit erkennen? – Ausschließlich in der Geschichte. „Geschichte war keine Form menschlicher Erkenntnis, der die Herausarbeitung von Gesetzen erst die rechte Bedeutung sichern mußte, sondern sie besaß ihren Wert gerade in ihrer Erkenntnis des Individuellen.“9 Diese Feststellung Karl Egon Lönnes zielt auf den Kern des „absoluten Historismus“ Croces. In der Geschichte wirkt die Freiheit mit Notwendigkeit, jedoch nicht im Hegelschen Sinne als dialektischer Bewußtseinsprozeß eines abstrakten Prinzips,10 sondern eher zirkulär und stets individualistisch: Rückschläge und Verdunkelungen sind möglich,11 nie jedoch Wiederholungen und prozessuale Ablaufmuster; die gesamte Geschichte ist unendliche individuelle Vielfalt. In ihr handelt der Mensch. „Die Geschichte“ – so Croce in einem Kommentar zu seiner frühen Akademieschrift von 1893, „Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht“, – „machen wir selbst. Gewiß, wir stellen die objektiven Bedingungen, unter denen wir leben, in Rechnung, aber wir machen die Geschichte mit unseren Idealen, mit unseren Kräften, mit unseren Leiden, ohne daß es uns vergönnt ist, diese Bürde auf die Schultern Gottes und der Idee abzuladen.“12 Entsprechend lässt sich das Wirken des Geistes der Freiheit nicht durch systematisierendes, deduzierendes Denken, sondern

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Benedetto Croce, La concezione liberale come concezione della vita [1927], in: ders., Etica e politica (wie Anm. 5), 331-341, hier zit. nach ders., La mia filosofia, a cura di Giuseppe Galasso. Milano 1993, 260-270. 8 Vgl. ebd., 260: „vivo è soltanto ciò che è libero.“ – Ebenfalls zentral für diesen Gedanken Benedetto Croce, Liberismo e liberalismo, in: ebd., 276-281, sowie ders., Ancora sulla teoria della libertà [1943], in: ebd., 282-287. 9 Karl Egon Lönne, Die Religion der Freiheit bei Benedetto Croce, in: ders., Benedetto Croce (wie Anm. 1), 79-93, hier 85. 10 „Hier wird das gleiche in anderer Absicht und mit anderer Bedeutung gesagt, nicht um der Geschichte das Thema einer entstehenden Freiheit zuzuweisen, die früher nicht bestand und dereinst sein wird, sondern um die Freiheit als ewige Bildnerin der Geschichte und Subjekt jeder Geschichte zu zeigen.“ Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat. Bern 1944, 98 f. [it. u. d. T. La storia come pensiero e come azione. Bari 1938]. 11 „Man kann wohl von Niedergang sprechen und tut es auch, aber eben nur in bezug auf bestimmte Handlungsweisen und Ideale, die uns teuer sind [...], aber im absoluten Sinn und in der Geschichte gibt es nie einen Verfall, der nicht zugleich die Bildung oder Vorbereitung neuen Lebens und damit Fortschritt ist.“ Ebd., 87. 12 Benedetto Croce, Über die Geschichtsphilosophie [1895], in: ders., Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht. Übers. und eingel. v. Ferdinand Fellmann. Hamburg 1984, 66 [it. u. d. T. La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte, in: ders., Primi saggi. 3. Aufl. Bari 1951, 1-72].

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nur durch historisches Betrachten und schließlich Erzählen 13 erkennen; die historische Erkenntnis erscheint in dieser radikal historistischen Position als die einzige Erkenntnisform des Allgemeinen überhaupt. „Denn das geschichtliche Urteil ist nicht nur eine der Möglichkeiten des Erkennens; es ist die Erkenntnis schlechthin und die Form, die das Feld des Erkennbaren gänzlich füllt und ausschöpft und für nichts anderes Raum läßt.“14 Mit diesem radikal individualisierenden, narrativ-ästhetisierend-hermeneutischen Zugriff auf Geschichte, der dennoch von einem immanent wirkenden Prinzip – dem der Freiheit – nicht abwich, stellte sich Croce in denkbar weiten Gegensatz zu allen sozialwissenschaftlichen, an Kategorien, Strukturen, Systemen und Typen interessierten Zugriffsweisen des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie am einflussreichsten Max Weber entwickelte.15 „Liberalismo“ ist im Denken Croces also viel mehr als eine Konzeption politischen Denkens, mehr als eine politische Parteirichtung oder ein Staatsprinzip; „liberalismo“ ist der vitale Triebmotor der Geschichte, und Geschichte wiederum ist die Manifestation des Lebens insgesamt.16 Durch Kunst – als Erkenntnis des Einzelnen – und Philosophie (= Geschichte)17 – als Erkenntnis des Allgemeinen –, den beiden theoretischen Formen des Geistes, wird Wollen und Handeln in Ökonomik und Ethik, den

 13 Den grundsätzlich narrativen Charakter von „Geschichte“ als einer „Kunst“, nicht „Wissenschaft“ entwickelte Croce bereits in seiner Akademieabhandlung von 1893. Vgl. ebd., 17 f.: „Die Geschichte hat nur eine Aufgabe: Tatsachen erzählen. [...] Die Geschichte erzählt.“ 14 Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat (wie Anm. 10), 60 f. 15 In ders., La concezione liberale (wie Anm. 7) nimmt der Autor sehr höflich, aber doch mit deutlicher Kritik Bezug auf Max Webers Studien zu protestantischer Ethik und Geist des Kapitalismus; er betont die grundsätzliche Fruchtbarkeit der Überlegungen Webers; allerdings sollten die Folgerungen daraus „nicht übertrieben“ werden, sei doch die „concezione e disposizione liberale“ in ihrer Verbindung mit der Philosophie der Moderne in größtmöglichen Gegensatz zu den „ethisch-theologischen Spekulationen“ des Calvinismus getreten (269). Zum Verhältnis Croce-Weber vgl. Conte, Weltgeschichte (wie Anm. 1), 82-86. 16 „Perché, in verità, questa concezione è metapolitica, supera la teoria formale della politica e, in certo senso, anche quella formale dell’etica, e coincide con una concezione totale del mondo e della realtà.“ Croce, La concezione liberale (wie Anm. 7), 261. 17 „Man kann sagen, daß durch die historische Kritik der transzendenten Philosophie die Philosophie selbst in ihrer Eigenständigkeit dahingegangen ist, denn ihr Anspruch auf Eigenständigkeit entsprang eben ihrem Wesen als Metaphysik. Was an ihre Stelle getreten ist, das ist nicht mehr Philosophie, sondern Geschichte, oder, was auf dasselbe herauskommt, Philosophie als Geschichte oder Geschichte als Philosophie: die Philosophie-Geschichte, deren Grundsatz die Identität des Universalen und des Individuellen, des Intellekts und der Intuition ist.“ Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat (wie Anm. 10), 64.

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beiden praktischen Formen des Geistes, fundiert. „Ökonomik“ ist innerhalb des philosophischen Systems Croces nicht mit „Ökonomie“ oder einer Wirtschaftstheorie zu verwechseln, sondern bezeichnet jegliches menschliche Handeln aus einem individualistischen oder auch utilitaristischen Wollen, also mit dem Ziel, eine temporäre Befriedigung herzustellen, einen individuellen Lustgewinn zu erzielen.18 Die ethische oder moralische Form hingegen meint jene Disposition des „praktischen Geistes“, die dasjenige will und ausführt, was die „Bedingungen, in denen sich das Individuum befindet“19, überschreitet. Der ethischen Form entsprechen die „universalen Ziele“, der „ökonomischen Form“ die „individuellen Ziele“. Croces These liegt nun darin, daß Handeln aus wie auch immer individualistischen und utilitaristischen Motiven stets notwendigerweise zuletzt in ein Handeln im ethischen Sinne, also einem moralischen Wollen entsprechend, ausmünden muss, wenn der Mensch seinem Wesen entsprechend zu seinem Mensch-Sein finden will. „Der Willensakt, soweit er ökonomisch ist, befriedigt uns als Individuen in einem bestimmten Zeit- und Raumpunkt; aber wenn er uns als Wesen, die Zeit und Raum überschreiten, nicht befriedigt, so wird unsere Befriedigung vergänglich sein und sich bald in Unbefriedigtsein verwandeln. Auf eine Lust folgt eine andere Lust, auf diese eine andere und so ins Unbegrenzte; aber die eine ist von der anderen verschieden und die neue verdammt entweder die alte oder wird von ihr verdammt [...]. Diese Ziele sind rein zufällig, allgemein und nicht universal, und sie können nicht unserer Sehnsucht genügen, unseren Durst wahrhaft löschen. [...] Das Unbefriedigtsein dauert an. Und es wird immer andauern [...], wenn wir dem Zufälligen nicht seinen Charakter des Zufälligen zu entreißen wissen [...]; wenn wir nicht wissen werden, in dem Zufälligen das Ewige, in dem Individuellen das Universale, in der Lust die Pflicht zu erfassen, denn dann nur erwirbt man den inneren Frieden, der nicht der Zukunft, sondern der Gegenwart angehört, denn im Augenblick ist die Ewigkeit für den, der sie zu erfassen vermag. Unsere Handlungen werden immer neue sein; denn immer neue Probleme stellt uns die Wirklichkeit, aber in ihnen werden wir immer das Ganze besitzen, wenn wir sie mit hoher Seele, mit Reinheit des Herzens ausführen, indem wir in ihnen das suchen, was sie über sie selbst erhebt. So ist der Charakter der moralischen Handlung, die uns nicht als Individuen aber als Menschen befriedigt.“20 Das dem Menschen eingepflanzte Streben nach Transzendenz, also nach einer höheren Art der Befriedigung, wird ihn demnach zuletzt immer zur moralischen Handlung führen. Anderenfalls ginge er im Wieder und Wieder der nur temporären Lustbefriedigung hoffnungslos zugrunde. Frei und lebendig im Sinne des „Liberalismo“ ist der Mensch dort, wo er sich im Einklang mit diesem Notwendigen befindet, also moralisch handelt. Aus dem Studium der Geschichte, so Croce, wird ihm die Einsicht in diese conditio humana

 18 Ders., Philosophie der Praxis (wie Anm. 4), 189-197. 19 Ebd., 191. 20 Ebd., 193 f.

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erwachsen, eine Erkenntnis, die er dann wiederum in die Steigerung seiner eigenen Freiheit – in moralisches Handeln – wird umsetzen können.21 Welche Stellung nimmt nun der Liberalismus als Wirtschaftsordnung – in Croces Begrifflichkeit der „liberismo“ – in diesem System „praktischer Philosophie“, innerhalb des Gefüges aus ökonomischer und ethischer Form, ein? Sofort wird deutlich, daß „liberismo“ als Ergebnis eines utilitaristischen oder – in Croces Terminologie – ökonomischen Wollens bestenfalls dazu dienen kann, temporäre Bedürfnisse zu befriedigen. Sobald der wirtschaftliche „liberismo“ zum „höchsten Wert oder Prinzip des sozialen Lebens erhoben wird“, sieht Croce erhebliche Probleme entstehen, denn in diesem Fall verwandelte sich „das legitime Prinzip des Wirtschaftens in eine illegitime ethische Theorie, in eine hedonistische und utilitaristische Moral, die maximale Bedürfnisbefriedigung in individueller oder gesellschaftlicher Hinsicht zum Kriterium des Guten erhebt.“22 Der Primat müsse hingegen beim „ethischen Liberalismus“ liegen und bleiben; die wirtschaftlichen Probleme einer Gesellschaft dürften ausschließlich in Verbindung mit diesem betrachtet werden. Zwar bewegten sich „liberalismo“ und „liberismo“ (worauf ja schon die gemeinsame Wortwurzel hinwiese) in dieselbe Richtung, nämlich gegen jeglichen Autoritarismus, der in Gestalt eines ökonomischen Autoritarismus die schöpferischen Kräfte des Menschen behindere; allerdings dürften diese schöpferischen Kräfte nicht primär dazu mobilisiert werden, individuelle Bedürfnisse zu befriedigen und materiellen Reichtum, Reichtum an Gütern zu akkumulieren. Die Kräfte des „liberismo“ könnten nur dann zu wirklichem Reichtum und Gütern führen, wenn sie sich in den Dienst eines Fortschritts stellten, „der weder das von den Menschen vollbrachte zunichte macht, noch auch ein Hasten hinter dem Unerreichbaren ist.“23 „Die ,Freiheit‘, die der Liberalismus meint, zielt darauf ab, das geistige Leben in seiner Gesamtheit voranzubringen, insofern es moralisches Leben ist.“24 Unter „moralischem Leben“ versteht Croce schließlich das wahre Leben, angefüllt von „allen Formen der geistigen Tätigkeit mit ihren Werken, Werken der Wahrheit, der Schönheit, des praktischen Nutzens. Durch sie wird die Wirklichkeit angeschaut und begriffen, durch sie bedeckt sich die Erde mit bebauten Äckern und Industrien, bilden sich die Familien, gründen sich die Staaten. [...] Man wird sagen, daß die Moral in alle diese Werke ihre Absicht lege, die gerade die moralische und nicht die auf Nützlichkeit gerichtete Absicht ist.“25 Ob und in welchen ihrer Teile die liberale Wirtschaftsordnung dem auf die Moralität abzielenden Liberalismus entspricht, läßt sich für Croce nicht durch Theorien oder abstrakte Erwägungen ein für allemal festlegen oder aus

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Vgl. Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat (wie Anm. 10), 85-98. Ders., Liberismo e liberalismo (wie Anm. 8), 277 [Übersetzung Th. B.]. Ders., Die Geschichte als Gedanke und als Tat (wie Anm. 10), 91 f. Ders., Liberismo e liberalismo (wie Anm. 8), 279. Ders., Die Geschichte als Gedanke und als Tat (wie Anm. 10), 93.

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solchen Theorien ableiten. Entscheidend ist für ihn als „absoluten Historisten“ das Urteil aus der konkreten Situation. Der Liberalismus habe „je nach Raum und Zeit, in der gegebenen Situation“ zu entscheiden, inwiefern eine wirtschaftliche Entwicklung, „liberistisch“ (im Sinne des „liberismo“) oder ob sie wirklich „liberal“ (im Sinne des „liberalismo“) sei. Das Kriterium dabei sei nicht, ob die wirtschaftlichen Vorgänge „im quantitativen Sinne produktiv“, sondern ob sie qualitativ wertvoll seien; nicht, ob ihre Qualität für einen oder für einige nützlich, sondern ob sie „heilsam für den Einzelnen, für die Mehreren und für alle sei, heilsam für den Menschen in seiner Kraft und Würde.“26 Die Affinität von „liberalismo“ und „liberismo“ steht für Croce grundsätzlich fest, unter der Voraussetzung eben, dass der „liberalismo“ die ethische Norm setzt. „Es kann sein – nein, es ist so – daß [...] der Liberalismus viele oder die meisten Anliegen und Maßnahmen des ‚liberismo’ gutheißt, jener Wirtschaftsordnung, der die moderne Zivilisation so viele Wohltaten schuldet; aber er heißt sie nicht aus ökonomischen, sondern aus ethischen Gründen gut [...].“27 Es ist aber wohl der Blick des an der konkreten Situation interessierten Historikers, nicht der des theoretisierenden Ökonomen, der Croce erkennen lässt, dass „liberismo“ in seiner reinsten Form, als freies und unkontrolliertes Spiel der Marktkräfte, in der historischen und politischen Wirklichkeit nicht vorkommt. Deshalb gesteht er abstrakten Gedankenspielen mit Idealtypen keinerlei Erkenntniswert zu. „Die theoretischen Dispute werden zum Beispiel darum kreisen, welches Gebiet [der Wirtschaft] der Aktivität der Individuen zu überlassen sei und auf welchem sich der Staat engagieren solle; jedoch, was ist der Staat, in wirtschaftlicher Hinsicht, anderes, als die Individuen selbst in bestimmten Organisationsformen? Geht man dazu über, die Angelegenheit konkret zu betrachten, wird aus dem Disput wiederum jener über den Charakter eines gegebenen [wirtschaftlichen] Vorgangs, nämlich, ob dieser Vorgang liberal oder illiberal sei, im moralischen Sinne gut oder schlecht. Die Theoretiker streiten sich, um ein anderes Beispiel zu geben, über zwei verschiedene und einander entgegengesetzte Wirtschaftssysteme, das liberistische [liberistico] und das sozialistische, und darüber, ob man dem einen oder dem anderen den Vorzug geben solle; aber wo sind denn nun in der konkreten Wirklichkeit diese beiden Systeme voneinander getrennt oder einander entgegengesetzt? Welches liberistische System ist nicht in einigen Teilen sozialistisch zu nennen, und umgekehrt? Auch hier also, wird sich der Disput, wenn man zum Kern der Sache vordringt, wiederum in einen über gut und schlecht, über besser, weniger gut und am schlechtesten in bürgerlicher und moralischer Hinsicht verwandeln.“28 Eine wirkliche und prinzipielle Opposition gegenüber dem Sozialismus und – an dieser Stelle unausgesprochen – dem Faschismus, zu der sich der Liberale Croce in jedem Falle bekennt, lasse sich allein aus dem Gegensatz

 26 Ders., Liberismo e liberalismo (wie Anm. 8), 279. 27 Ebd. 28 Ebd., 280 f.

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des ethischen und politischen Liberalismus zu einer autoritären Ethik und Politik begründen. Hingegen sei es gut möglich, „mit aufrichtigem und lebendigem liberalem Gewissen Maßnahmen und Anordnungen zu unterstützen, die Vertreter abstrakter Wirtschaftstheorien als sozialistisch klassifizieren, und, nicht ohne Paradoxie im Ausdruck, schließlich [...] von einem ,liberalen Sozialismus‘ zu sprechen.“29 Deutet sich in dieser Argumentation bereits an, dass Croce den der moralischen Oberaufsicht durch den „liberalismo“ unterworfenen „liberismo“ dehnbar interpretiert, geht er an anderer Stelle sogar noch weiter und negiert einen allzeit zwingenden Zusammenhang zwischen „liberalismo“ und „liberismo“. In dem Aufsatz „Die liberale Konzeption als Konzeption des Lebens“ von 1927 heißt es: „Den Liberalismus verknüpfen keine Bande absoluter Solidarität mit dem Kapitalismus und ökonomischen Liberismus oder mit dem ökonomischen System der freien Konkurrenz, und er kann unterschiedliche Ordnungen des Eigentums und der Produktion von Wohlstand durchaus zugestehen, mit der einzigen Beschränkung, mit der einzigen Bedingung, daß es in der Absicht geschieht, den unendlichen Fortschritt des menschlichen Geistes [im Sinne der steten Verwirklichung des ‚moralischen Lebens’, Th. B.] sicherzustellen, und daß keiner der gewählten Wege von der Kritik des Vorhandenen wegführt, das Streben nach dem Besseren, die Erfindung und die Verwirklichung dieses Besseren verhindert.“30 Ja, in einer wenig später, 1931 erschienenen Vorstudie zu seiner „Geschichte Europas im 19. Jahrhundert“ löst Croce die Verbindung zwischen „liberalismo“ und dem „sogenannten ,liberismo economico‘“ noch weiter auf. Zwar habe dieser mit dem „liberalismo“ Berührungspunkte, doch immer nur „auf vorübergehende und zufällige (contingente) Weise [...], indem er sich nämlich in einigen Situationen und Umständen als gültig, in anderen wiederum als nicht gültig erweist. [...] Deshalb kann der Liberalismus weder die Vergesellschaftung dieser oder jener Produktionsmittel prinzipiell ablehnen, noch hat er sie faktisch immer abgelehnt. Im Gegenteil: er hat nicht wenige Vergesellschaftungen durchgeführt; er kritisiert sie und setzt sich nur in solchen konkreten und speziellen Fällen in Gegensatz zu ihnen, in denen er nämlich feststellen muß, daß die Vergesellschaftung die Herstellung des Wohlstandes zum Stillstand bringt oder zurückschlägt und ins Gegenteil von dem ausschlägt, was mit ihr erreicht werden sollte, also nicht zu einer gleichmäßigen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Teile einer Gesellschaft führt, sondern zu einer Verarmung der Gesellschaft insgesamt – die oftmals nicht einmal ‚gleichmäßig‘ zu nennen ist.“31

 29 Ebd., 281. 30 Croce, La concezione liberale (wie Anm. 7), 264 f. [Übersetzung Th. B.]. 31 Ders., Capitoli introduttivi di una storia dell’Europa nel secolo decimonono. Memoria letta all’Accademia di scienze morali e politiche della Società reale di Napoli. Napoli 1931, zit. nach dem Abruck in Benedetto Croce/Luigi Einaudi,

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Diese Position Croces rief – nicht zum ersten Mal – den Widerspruch von Luigi Einaudi auf den Plan. Luigi Einaudi (1874-1961) zählt zu den führenden liberalen „Economisti“ Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu dem Universalgeist Croce war Einaudi von Hauptberuf tatsächlich Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler. 32 Von 1902 bis 1949 lehrte er Finanzwissenschaften in Turin, blieb jedoch keiner jener abstrahierenden Theoretiker, denen Croce Blindheit gegenüber der Wirklichkeit vorwarf, sondern betätigte sich nebenbei als Journalist und Politiker, arbeitete für die Zeitungen „La Stampa“ und „Corriere della Sera“ sowie für den britischen „Economist“ und gab darüberhinaus selbst wirtschafts- und sozialpolitische Periodika heraus, wie etwa, zwischen 1900 und 1935, „La Riforma Sociale“ oder, von 1936 bis 1943, die „Rivista di Storia Economica“. Wie Croce war Einaudi – seit 1919 – Mitglied des italienischen Senats, und nicht anders als Croce stand er in striktem Gegensatz zum faschistischen Regime, unterzeichnete 1925 ebenfalls das „Manifest der antifaschistischen Intellektuellen“. Anders als Croce hingegen, der zwar Senator blieb, aber nur noch kurzzeitig politische Ämter übernahm, schlug Einaudi nach 1945 eine glänzende politische Spätkarriere ein: 1945-1947 präsidierte er als Governatore der Bank von Italien, gehörte der verfassunggebenden Nationalversammlung an und trat als führender Kopf der italienischen Liberalen im Mai 1947 in das Kabinett des Christdemokraten Alcide De Gasperi ein, nachdem es diesem gelungen war, Kommunisten und Sozialisten aus der Regierung zu verdrängen und eine Koalition zusammen mit Liberalen und Sozialdemokraten zu bilden. Obwohl Einaudi seine Tätigkeit als Bilanzminister und Vizepräsident des italienischen Ministerrates nur ein Jahr lang – bis zu seiner Wahl zum zweiten Präsidenten der Republik Italien am 11. Mai 1948 – ausübte, gelang es ihm doch, die Unterstützung des Unternehmertums, vor allem auch mittlerer und kleinerer Unternehmer, für die neue christdemokratisch-liberal geprägte Demokratie in Italien nachhaltig zu gewinnen. Durch eine Politik der niedrigen Steuern und Zölle einerseits sowie durch eine konsequente, von seinem Nachfolger Giuseppe Pella weiterverfolgte Strategie der Währungsstabilisierung, die den inflationären Tendenzen ausufernder Kreditvergabe entgegensteuerte und auf die „soziale Notwendigkeit der Bildung privater Spargelder“ pochte, „die be-

 Liberismo e liberalismo, a cura di Paolo Solari. Milano/Napoli 1957, 16-47, hier 42 [Übersetzung Th. B.]. 32 Zu Einaudi vgl. Ferdinando Meacci, Luigi Einaudi, in: ders. (Ed.), Italian Economists of the 20th century. Cheltenham 1998, 163-178; weiterhin Anselmo Bernardino, Vita di Luigi Einaudi. Padova 1954; Riccardo Faucci, La scienza economica in Italia, 1850-1943. Da Francesco Ferrara a Luigi Einaudi. Napoli 1982; Francesco Forte, Luigi Einaudi. Il mercato e il buongoverno. Torino 1982; Alberto Giordano, Il pensiero politico di Luigi Einaudi. Genova 2006; Luigi Firpo, Bibliografia degli scritti di Luigi Einaudi (dal 1893 al 1970). Torino 1971.

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reit sind, ein Risiko auf sich zu nehmen“33 – also investiert zu werden –, legte Einaudi den Grund für den wirtschaftlichen Aufschwung Italiens in den 1950er und 60er Jahren.34 Einaudis Credo, die Basis seiner ökonomischen Lehre und seiner liberalen Wirtschaftspolitik, lautete: „liberalismo“ und „liberismo“ gehören untrennbar zusammen. Croces Konzeption des „liberalismo“ als moralischem Prinzip stimmte Einaudi völlig zu; hingegen wich seine Begrifflichkeit von „liberismo“ von derjenigen Croces entschieden ab. Bereits 1928 hatte Einaudi Croces Auffassung kritisiert, der „liberismo“ sei ein „legitimes Prinzip des Wirtschaftens.“35 Mit dieser Auffassung, so Einaudi, bewege sich Croce nicht auf der Höhe des aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Diskurses, der von einem „ökonomischen ,Prinzip‘, genannt Liberismus“, gar nicht spreche, sondern nur davon, mit welchen empirischen Maßnahmen welche Ziele zu erreichen seien. „Unter dieser Voraussetzung ist die Aufgabe des Ökonomen bescheiden [...]: er soll den angemessensten Weg der Wirtschaft finden, um das Ziel zu erreichen; dieser Weg muß nicht der kürzeste oder billigste von allen sein, wenn damit zwar das ,wirtschaftliche‘ Ziel höchster Akkumulation von Reichtum, nicht jedoch jenes andere, wirklich angestrebte Ziel erreicht wird, nämlich dasjenige der größtmöglichen Erhöhung des Menschen“ („massima elevazione umana“).36 Croce und Einaudi sind sich einig in der Zielbestimmung: unendlicher moralischer Fortschritt des menschlichen Geistes hier, größtmögliche Erhöhung des Menschen dort. Allerdings bestand in den Augen Einaudis der Fehler Croces darin, den „liberismo“ selbst als normatives „Prinzip“ zu definieren, das in Konkurrenz zum „liberalismo etico“ treten könne und das von diesem dann in die Schranken gewiesen werden müsse. In diesem Bemühen, so Einaudi, könne sich der „liberalismo etico“ gezwungen sehen, ein Bündnis mit einem anderen normativen Prinzip einzugehen, das ihn zuletzt selbst zerstören könne. In seiner Kritik von 1931 warf er Croce vor, exakt jenen gedanklichen Kurzschluß zugelassen zu haben. Denn die untrennbare Einheit zwischen „liberalismo“ – als moralischem Prinzip – und „liberismo“ – als „regola

 33 Luigi Einaudi, Sparen und investieren, in: Wirtschaft ohne Wunder. Aufsätze von L. Einaudi, F. A. Hayek, W. Röpke, A. Rüstow [u. a.]. Erlenbach/Zürich 1953, 1132, hier 31. 34 Zentrale einschlägige Werke: Luigi Einaudi, Principi di scienza delle finanze. Torino 1948; ders., Lezioni di politica sociale. Torino 1949; ders., Il Buongoverno. Saggi di economia e politica 1897-1954, a cura di Ernesto Rossi, 2 Bde. 3. Aufl. Roma/Bari 1973 [zuerst 1955; Sammlung seiner wichtigsten Einzelstudien]. 35 Ders., Liberismo, borghesia e origini della guerra [1928], in: ders., Il Buongoverno, Bd. I (wie Anm. 34), 196-218, hier 199 f. – Die wichtigsten Texte Croces und Einaudis über „liberismo“ und „liberalismo“ sind zusammengestellt in: Croce/Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 31), hier 131. 36 Ebd., 201 bzw. 132.

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empirica“, das Ziel zu erreichen, – aufzugeben, führe im Extremfall dazu, ein kommunistisches Wirtschaftssystem als mit dem Liberalismus vereinbar zu erklären. Offenbar war Croce selbst diesen Gedankenschritt bereits gegangen, indem er – in der von Einaudi kritisierten Abhandlung – die Aussage gewagt hatte, dass, „im Falle der Lauf der Geschichte vor die Entscheidung führe, entweder bei Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung, d. h., der Ordnung des privaten Eigentums, die Produktion des Wohlstands zu schädigen oder herabzusetzen, oder die Produktion zu garantieren und zu fördern, indem das Privateigentum abgeschafft wird [...], der Liberalismus nicht anders könnte, als diese Abschaffung seinerseits zu befürworten, ja zu fordern.“37 Allerdings war Croce vor dieser Konsequenz seines Denkens sogleich wieder zurückgeschreckt und hatte hinzugefügt, wenn es wirklich soweit kommen könne, dass der Kommunismus die Menschen in materieller Hinsicht bereichere, würde er sie doch in geistiger Hinsicht dermaßen verarmen lassen, dass sie am Ende nichts anderes mehr wären als „Verdauungsapparate“.38 Einaudi aber legte den Finger noch tiefer in die Wunde: Wenn Croce die notwendige Verbindung zwischen „liberalismo“ und „liberismo“ nur ein wenig lockere, dann sei der Weg geöffnet, der im Extremfall zu jener Konsequenz führe, vor der Croce selbst zurückschrecke. Kommunismus aber sei in jedem Falle der Tod des Liberalismus. „Kann die Essenz des Liberalismus, nämlich die Freiheit des Geistes, dort existieren, wo es kein Privateigentum gibt und alles dem Staate gehört?“39 Niemals dürfe der Liberalismus, weder graduell noch konzeptionell („nicht einmal als rhetorische Figur“), die Hand dazu reichen, eine kommunistische, durch Staat und Plan gelenkte Wirtschaftsordnung herbeizuführen. Zwischen beiden bestünde eine „incompatibilità assoluta“.40 „Freiheit des Geistes, Gedankenfreiheit, können nicht existieren, wo ein einziger Wille, ein einziger Glaube, eine einzige Ideologie existiert und existieren muß. [...] Die Freiheit des Denkens ist deshalb notwendig verbunden mit einem gewissen [d. h. hohen, Th. B.] Grad an wirtschaftlichem ,liberismo‘. [...] Die Freiheit ist nicht lebensfähig in einem gesellschaftlichen und ökonomischen System, in dem nicht eine vielfältige und reiche Palette menschlicher Lebensformen erblüht, lebendig durch eigene Kraft, unabhängig die einen von den anderen, nicht Knechte eines einzigen Willens. Mit anderen Worten, und um gar nicht erst die Möglichkeit für den Vorwurf zu öffnen, hier werde das geistige Leben von einer ökonomischen Ordnung abhängig gemacht: der freie Geist schafft sich eine ihm adäquate Wirtschaftsordnung. [...] Der Geist, wenn er frei ist, bringt eine differenzierte Wirtschaftsordnung hervor, in der Privateigentum und Eigentum von Gruppen, Körperschaften

 37 Croce, Capitoli introduttivi (wie Anm. 31), 43. 38 Ebd., 44. 39 Luigi Einaudi, Liberismo e liberalismo [1931], in: ders.: Il Buongoverno, Bd. I (wie Anm. 34), 218-229, hier 226; dass. in: Croce/Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 31), 121-133, hier 128. 40 Ebd., 228.

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und staatlichen Einrichtungen nebeneinander existieren, in der Industrielle, Händler, Landwirte, Angestellte, Künstler nebeneinander existieren, die Klasse der einen von den anderen unterschieden; jede von ihnen bezieht die zum Leben notwendigen Güter aus eigenen Quellen, ist überlebensfähig, wenn nötig auch in Armut, aber ohne Almosen von einer einzigen zentralen Instanz [forza] erbitten zu müssen, hieße ein solcher Zustand nun Tyrannei, Diktatur einer Klasse oder intolerantes Priestertum.“41 Hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zwischen Croce und Einaudi. Im historistisch-politischen Koordinatensystem Croces steht das hohe moralische Prinzip des ethischen Liberalismus gegen die niederen Dämonen des „Lasciar-fare-e-lasciar-passare-Liberismus“ auf der einen und des Kommunismus auf der anderen Seite. Stets, in der je historischen Situation, hat der ethische Liberalismus zu entscheiden, wieviel des jeweiligen konkurrierenden Prinzips er zuzulassen bereit ist, um dem Ziel des unendlichen moralischen Fortschritts des menschlichen Geistes zu dienen. Die radikale Konsequenz dieses Denkens lautete: Kann sich der „liberalismo“ auch für eine Wirtschaftsordnung entscheiden, die Freiheit nicht vorsieht und deren Rückwirkungen den Liberalismus im Zweifelsfall selbst abschafften? Dagegen Einaudi: Der ethische Liberalismus stehe vor diesem Dilemma gar nicht, denn ihm trete nur ein niederer Dämon gegenüber, der Kommunismus, über den zu diskutieren völlig obsolet sei, da er niemals etwas beitragen könne, das Ziel der „massima elevazione umana“ zu erreichen.42 Dieses Ziel könne ausschließlich der ethische Liberalismus erreichen, der sich seine „liberistische“ Gehilfin als von den Ökonomen gehandhabte „regola empirica“ selbst schaffe und sie nicht im Sinne des „laisser-faire“, sondern einer auf historischer Einsicht basierenden Erkenntnis einsetze, derzufolge „die Freiheit in einer ökonomischen Ordnung nicht leben kann, in der nicht menschliches Leben aus eigener Tüchtigkeit vielfältig und reich blüht, unabhängig das eine vom anderen und nicht Sklaven eines gleichgeschalteten Willens.“43 Diese Konzeption von „liberismo“ nannte Einaudi „historisch“ und setzte sie von rein abstrakten, technokratischen oder gar pseudoreligiösen Konzepten liberistischer Wirtschaftsordnung ab. Croce und Einaudi erläuterten ihre jeweilige Auffassung über den Zusammenhang von „liberismo“ und „liberalismo“ in zahlreichen weiteren Stellungnahmen bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus, wenn auch nicht immer unter gegenseitiger Bezugnahme aufeinander. 44 Auf vielleicht

 41 42 43 44

Ebd., 228 f. Vgl. Croce/Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 31), 227 f. Ebd., 228. Vgl. z. B. Benedetto Croce, Ancora di liberalismo. liberismo e statalismo [1948], in: Croce/Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 31), 101-107; ders., Parità degli uomini nella libertà [1949], in: ebd., 108-118; Luigi Einaudi, Automi e uomini vivi [1944/1949], in: ebd., 185-190; ders., La società degli uomini liberi [1944/

„LIBERALISMO “

UND „ LIBERISMO “ BEI

C ROCE UND E INAUDI | 201

kürzest mögliche Weise zusammengefaßt erscheinen die beiden Positionen jedoch in einer kleinen Debatte vom Beginn der 1940er Jahre. Croce hatte als Erläuterung einiger Ausführungen des jungen italienischen Philosophen Aldo Mautino über die Entstehung seines politischen Denkens45 zentrale Gedanken seiner ethisch-politischen Theorie in knapper Form wiederholt. Dabei hatte er „Liberismus“ und Kommunismus als Prinzipien „totaler Ordnung des Lebens und der menschlichen Gesellschaft – und deshalb als „Prinzipien ethischer Ordnung“ bezeichnet. In ihrem Anspruch auf Absolutheit seien beide jedoch „illegitim“.46 „Denkt man genauer darüber nach, so reduziert sich das Eine auf die Position ,alles ist erlaubt‘, das Andere auf die Position ,nichts ist erlaubt‘.“ Ganz anders verhalte es sich hingegen mit dem Prinzip des Liberalismus, dem wirkliche ethische und absolute Qualität zukomme, weil er identisch sei mit dem Prinzip der Moral an sich, „dessen prägnanteste Formel jene von der immer weiteren Erhöhung des Lebens ist, – des Lebens und deshalb der Freiheit, ohne die weder Erhöhung noch Aktivität vorstellbar ist. Zum Liberismus wie zum Kommunismus spricht der Liberalismus: einzelne und spezielle eurer Vorschläge werde ich akzeptieren oder zurückweisen, je nachdem, ob sie unter den gegebenen Umständen der Zeit und des Ortes die menschliche Kreativität, die Freiheit, fördern oder niederdrücken. Auf diese Weise werden jene in ganz anderen Zusammenhängen erdachten Vorschläge erlöst und verwandelt in Maßnahmen der Freiheit.“47 Einaudi dankte mit leiser Ironie dem „Meister und Freund“ für das „Licht, das er auf die Problematik zu leiten versucht“ habe, konnte allerdings der „Versuchung nicht widerstehen“, Croces Ausführungen in der Manier der „economisti“ noch einmal zu überdenken.48 So sehr man nämlich mit Croce darin übereinstimmen möchte, all diejenigen Lobeshymnen auf den ökonomischen „Liberismus“ zurückzuweisen, die diesen zur Voraussetzung der bürgerlichen und moralischen Freiheit verklärten, und so sehr man mit ihm darüber einig sei, dass jene wohltätigen Effekte, die gewöhnlich zu Resultaten des ökonomischen „Liberismus“ erklärt würden, in Wirklichkeit nichts anderes seien als Manifestationen des moralischen Liberalismus, der jene Effekte erst befördere und fruchtbar mache, so dass es sich dabei nicht so sehr um Bedingungen, sondern um Folgeerscheinungen handle, – umso mehr schnüre es



45 46

47 48

1949], in: ebd., 191-197; ders., Chi vuole la libertà [1948], in: ebd., 198-202; ders., La terza via sta nei piani? [1948], in: ebd., 203-207. Aldo Mautino, La formazione della filosofia politica di Benedetto Croce. Torino 1941. Benedetto Croce, Liberalismo contro il duplice dogmatismo liberistico e comunistico [1940], in: ders., Pagine sparse, Bd. 3. Napoli 1943, hier zit. nach Abdruck innerhalb der Antwort Einaudis: Luigi Einaudi, Le premesse del ragionamento economico [1941], in: Croce/Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 31), 151-161, hier 151 ff., Zit. 152. Ebd. [Übersetzung Th. B.]. Ebd., 154.

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einem das Herz zusammen, wenn man von einem derart bedeutenden Denker vernehme, dass „Protektionismus, Kommunismus, wirtschaftliche Reglementierung und Rationalisierung je gemäß den historisch-politischen Erfordernissen zu Mitteln erklärt werden könnten, mit denen der Politiker dem Ziel der moralischen Erhöhung und der freien, spontanen menschlichen Kreativität dienen könne.“49 Einaudi spürte eine „instinktive, unbezwingliche Abscheu“ dagegen, derartige ökonomische Mittel als Werkzeuge anzuerkennen, um an der Erhöhung des Menschen zu arbeiten. „Warum empfand und empfinde ich diese Abscheu? Wenn ich mich selbst befrage, so mag es mir scheinen, daß sie aus jener instinktiven Identifikation herrührt, die ich zwischen jenen ökonomischen Mitteln und dem moralisch Schlechten setze, dem wirtschaftlichen Betrug, politischer Gewalttätigkeit, der Unterdrückung des Schwachen durch den Starken, der Herrschaft der Überrumpelung und der Intrige gegenüber dem offenen und freien Wettbewerb, der Negation des Menschenrechts auf freie Selbstentfaltung ohne ungerechte Schädigung des anderen und ohne sich gegenüber den Mächtigen und Arrivierten herabwürdigen zu müssen.“50 War diese Kontroverse zwischen Croce und Einaudi, wie ein Kommentator einwarf, lediglich eine Frage der Definitionen und der Begrifflichkeiten, also Haarspalterei? Einaudi teilte diese Auffassung begreiflicherweise nicht. „Ich hoffe, daß diese Identifikation jener mir abscheulich erscheinenden ökonomischen Mittel mit dem moralisch Schlechten nicht nur ein Wortspiel ist, sondern im Gegenteil die Frucht des Wenigen, das ich gelernt habe aus dem Nachdenken über die ökonomischen Ereignisse der Vergangenheit und die Erfahrungen der Gegenwart.“51 Beide, Croce wie Einaudi, sind Gläubige der „Religion der Freiheit“ – deren Siegeszug Croce in seiner 1932 erschienenen „Geschichte Europas im 19. Jahrhundert“ als Signatur dieses Jahrhunderts erkennt.52 Beide sind als Moralisten weit davon entfernt, einem ungezügelten wirtschaftlichen „Liberismus“ oder „Turbokapitalismus“ das Wort zu reden. Die Wirtschaftsordnung muss stets rückgebunden sein. Dabei liege die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft, so Einaudi, in der Praxis darin, die im ökonomischen Sinne jeweils günstigste Lösung zu finden, ein gegebenes Ziel zu erreichen. 53 „Aber das Ziel selbst wird nicht von den ,economisti‘ vorgegeben und ist oftmals kein ökonomisches, sondern ein politisches, moralisches, religiöses Ziel.“ 54 Für

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Ebd., 158. Ebd., 159. Ebd. Benedetto Croce, Storia d’Europa nel secolo decimonono. Bari 1932 [dt. Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, übers. v. K. Vossler und R. Peters. Zürich 1935]. 53 Einaudi, Liberismo e liberalismo (wie Anm. 39), 219. 54 Ebd.

„LIBERALISMO “

UND „ LIBERISMO “ BEI

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Croce wie Einaudi ist klar: Für die letzten Zielsetzungen ist nicht der „liberismo“, sondern der „liberalismo“ zuständig; die Wirtschaftsordnung hat einer außerhalb ihrer selbst liegenden Werteordnung zu folgen. Freilich steht Croce in der Tradition der großen idealistisch-historistischen Debatte um Genese und Auseinandersetzung der „Systeme“. Croce ist ein tief im 19. Jahrhundert verwurzelter historistischer Systemdenker, dessen Auseinandersetzung mit Hegel einerseits, mit Marx andererseits in seinem gesamten Werk implizit zu finden ist. Gerade weil Croces absoluter Historismus jedoch zu der Erkenntnis führt, dass sich die Moralität des „liberalismo“ zuletzt immer durchsetzen wird, kann er dessen Verbindung zum „liberismo“ lockern und zulassen, dass der ethische Liberalismus im Kampf der Systeme nötigenfalls auch Kommunismus gegen Liberismus ausspielt. Einaudi hingegen, eher historistischer Pragmatiker denn Systemdenker, hält diese Überzeugung für ein Spiel mit der Büchse der Pandora. Der ethische Liberalismus, so lautet sein Gegenstandpunkt, werde nicht Sieger bleiben gegen den Kommunismus, gegen die Unfreiheit, wenn er sich von dem treuen Diener „liberismo“ je verabschiede. In diesem Kern geht die Debatte zwischen Croce und Einaudi zweifellos über „Haarspalterei“ hinaus. Ihr realer, politischer Hintergrund, das faschistische Italien der 1930er und 1940er Jahre, das Europa der totalitären Systeme und der innerweltlichen kollektivistischen Heilsutopien, in denen der Begriff „Freiheit“ allenfalls als Funktion von Macht und Gewalt eine Rolle spielt, verleiht dem, was nach intellektuellem Spiel aussieht, verstörenden Ernst. Dass dort, wo in den Texten beider Denker von der Unfreiheit des Kommunismus die Rede ist, stets auch Faschismus gemeint ist, darf angenommen werden, und sicherlich verschafften sich beide, Croce wie Einaudi, durch die komplizierte Form ihrer Beiträge, deren Gedankengirlanden zu folgen wohl nicht jedem faschistischen Zensor durchweg gegeben war, die Freiheit, unter den Bedingungen des Mussolini-Regimes über Freiheit zu schreiben und zu publizieren. Wie auch immer das Urteil über die tatsächliche inhaltliche Differenz der beiden letztlich ausfallen wird: Croce wie Einaudi treffen sich in der unerschütterlichen Überzeugung, dass die Freiheit des Individuums das höchste Gut sei und dass der wahrhaft freie Mensch zuletzt stets das Gute hervorbringen werde. Am Schluss mag Verwunderung darüber stehen, mit welchem Optimismus sowohl Croce als auch Einaudi angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, unter den politischen Vorzeichen des italienischen Faschismus, mitten in und nach der Weltwirtschaftskrise, schließlich mitten im Zweiten Weltkrieg an die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit des weiteren Fortschritts der Menschheit im Zeichen der Freiheit und des freien Spiels der menschlichen Kreativität glaubten und diese Überzeugung unter schwierigen Umständen zu Gehör brachten. Die Freiheit zum Guten in einer Epoche, in der sich das mysterium iniquitatis anschickte, neue ungekannte Dimensionen zu erreichen? Was trug diesen „liberalismo“, der von Gott kaum sprach (ihn

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aber doch vielleicht mitdachte)? War der Freiheitsoptimismus Croces und Einaudis Naivität oder gar eine völlige Verkennung der realen Lage durch führende liberale Denker? Oder war es nicht vielmehr ein trotziges „gerade jetzt“ – dort, wo es gegen Sozialismus und Kommunismus sprach, implizit auch gegen das totalitäre System im eigenen Heimatland gerichtet – ein ermutigendes Zeichen aus der Zeit einer großen Krise, das auch in Zeiten kleinerer Krisen dazu appellieren sollte, nicht vorschnell und eilfertig den Glauben an die Moral der Freiheit und ihre auch in ökonomischer Hinsicht regulative Kraft zu verlieren?

Wirtschaft und Gesellschaft miteinander versöhnen Protestantische Wurzeln und katholische Zweige der Sozialen Marktwirtschaft* N ILS G OLDSCHMIDT

I. E INLEITUNG Es gehört zu den stereotypen Vorwürfen gegenüber dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, dass das „Soziale“ lediglich schmückendes Beiwerk zu einer im Kern liberalen Marktordnung sei. Die Formel „Soziale Marktwirtschaft“ gilt vielen bestenfalls als ein geschickter Einfall, die harte Realität des Marktes mit den in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominanten romantischen Traditionen sprachlich zu versöhnen; 1

 * 1

Erstveröffentlichung in: Stephan Wirz/Philipp W. Hildmann (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft: Zukunfts- oder Auslaufmodell?. Zürich 2010, 15-31. Diese sprachliche Versöhnung war aber durchaus auch ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Begriffs. Hierauf hat überzeugend Joachim Zweynert hingewiesen: „Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft berücksichtigte von Anfang an das Problem, daß die in Deutschland vorherrschenden holistischen Denkmuster ein ungünstiges Umfeld für den Kapitalismus darstellten und daher Anstrengungen nötig waren, um die Akzeptanz einer marktlichen Ordnung zu verbessern. Ein entscheidender Faktor seines Erfolges ist darin zu sehen, daß die ‚irenische Formel‘ Soziale Marktwirtschaft sowohl westliche als auch romantische Elemente enthält und deshalb geeignet war, eine Brücke zwischen traditionellen, antikapitalistischen Denkmustern und der angestrebten kapitalistischen Ordnung zu schlagen.“ Joachim Zweynert, Wirtschaftskultur, Transformation und ökonomische Ordnung in Russland. ‚Ganzheitliche Marktwirtschaft‘ als irenische Formel?, in: Gerold Blümle/Nils Goldschmidt/Rainer Klump/Bernd Schauenberg/Harro von Senger (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. (Kulturelle Ökonomik 1). Münster 2004, 471-487, hier: 478 f.

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eine Formel, die jedoch für viele ein uneingelöstes soziales Versprechen geblieben ist oder aber – zumindest für das liberale Lager – letztlich ohne inhaltlichen Belang ist, da der Markt ja schon aus sich heraus sozial ist und es keiner weiteren sozialen Maßnahmen bedarf. Wie auch immer nun dieser Befund für die heute real existierende Soziale Marktwirtschaft aussehen mag, aus theoriegeschichtlicher Sicht, die im Folgenden eingenommen werden soll, ist der Befund eindeutig: Den Gründungsvätern und geistigen Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft ging es um mehr als eine lediglich effiziente Wirtschaftsordnung, sie zielten zugleich immer auch auf eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung. Ludwig Erhard, erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, hat auf den ersten Seiten seines Bestsellers „Wohlstand für alle“ von 1957 unter der Überschrift „Der rote Faden“ dieses Anliegen in klaren Worten festgehalten: „Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. […] Auf dem Wege über den Wettbewerb wird – im besten Sinne des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten.“2 In dieser kurzen Passage sind die drei wesentlichen Ziele der Sozialen Marktwirtschaft festgehalten, die zugleich deren gesellschaftspolitische Dimension deutlich werden lassen3: • •



Eine strukturelle Umgestaltung der Gesellschaft: Zielpunkt ist eine Ordnung des Gemeinwesens, in dem prinzipiell allen die gleichen Chancen jenseits von Klassenschranken zukommen. Eine Sozialisierung von Fortschritt und Gewinn, verstanden als Einkommensmobilität und Teilhabe an wirtschaftlicher und technischer Entwicklung. Erhards „Wohlstand für alle“ ist nicht als ein allein materieller Konsumismus zu begreifen, sondern als ein verteilungspolitisches Projekt, das jeder und jedem die Möglichkeit eröffnen soll, an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne zu partizipieren. Die Förderung des persönlichen Leistungsstrebens als das Anliegen, dem Einzelnen Entfaltungsspielräume zu eröffnen, um sich entsprechend der jeweiligen Fähigkeiten und Ziele in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse einbringen zu können.

 2 3

Ludwig Erhard, Wohlstand für alle. Düsseldorf 2000 (1. Aufl. 1957), 7 f., meine Hervorhebungen. Siehe hierzu und zum Folgenden: Nils Goldschmidt, Die Geburt der Sozialen Marktwirtschaft aus dem Geiste der Religion – Walter Eucken und das soziale Anliegen des Neoliberalismus, in: Michael S. Aßländer/Peter Ulrich (Hrsg.), 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel. Bern/Stuttgart/Wien 2009, 27-44.

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Markt und Wettbewerb sind im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als ein Mittel und nicht als das Ziel der gesellschaftlichen Gestaltung zu verstehen – einer Gesellschaft, die nicht dem Interesse einzelner wirtschaftlicher Akteure dienen soll, sondern prinzipiell allen die gleichen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten zubilligen will. In den Worten Alfred Müller-Armacks: „Die Soziale Marktwirtschaft ist der geschichtliche Versuch, alle Gruppen auf das engste an Ergebnisse und Erfolge des expandierenden Marktes anzuschließen.“4 In den folgenden Abschnitten soll anhand einiger Ansichten der vier Pioniere der Sozialen Marktwirtschaft Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard, Walter Eucken und Wilhelm Röpke aufgezeigt werden, wie grundlegend für sie alle ein Konzept war, das Wirtschaft und Gesellschaft miteinander versöhnt. 5 Zugleich soll deutlich werden, dass allen ein christlich-protestantischer Glaube eine wichtige Quelle für ihr gesellschaftspolitisches Engagement war. Wie zum Abschluss gezeigt werden soll, entwickelte sich daraus dann ein Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, das durchaus auch in der Nähe zur katholischen Soziallehre steht.

II. ALFRED M ÜLLER -ARMACK UND I DEE DER S OZIALEN I RENIK

DIE

Es gehört zu den schöneren Anekdoten um die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft, dass der Protestant Alfred Müller-Armack Idee und Begriff der Sozialen Marktwirtschaft hinter katholischen Klostermauern erdacht haben soll. Die Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft der Universität Münster, die Müller-Armack seit 1941 leitete, war im Juli 1943 aus dem von Bomben bedrohten Münster in das an der holländischen Grenze gelegene Herz-Jesu-Kloster in Vreden-Ellewick verlegt worden. Hier hat Müller-Armack sein im Dezember 1946 abgeschlossenes Werk „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ geschrieben, in dem erstmals in einer Publikation der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ Verwendung findet. Die Erzählung über die Erfindung des Begriffs geht ungefähr so: „Im zweiten Stock fliegt eine Tür auf, der Hausgast rennt die steinernen Stufen hinab und wedelt mit einem Manuskript. Auf dem Treppenabsatz bleibt er stehen, und in den Flur hinein ruft er: ‚Jetzt hab‘ ich es. Es muß ‚Soziale Marktwirtschaft‘

 4

5

Alfred Müller-Armack, Die Soziale Marktwirtschaft als Friedensordnung [1972], wieder abgedruckt in: Ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Bern/Stuttgart 1981, 161-166, hier: 162. Zu den Biographien und Grundlegungen dieser und weiterer ordoliberaler Denker siehe: Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. Tübingen 2008.

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heißen! Sozial mit großem ‚S‘.‘“6 Wie viel Wahrheitsgehalt nun dieser Erzählung zugebilligt werden kann, muss hier offenbleiben7, es steht aber außer Frage, dass Müller-Armack mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mehr bezweckte als eine Kompromissformel für Politik und Öffentlichkeit zu ersinnen. Das „Soziale“ ist ihm vielmehr eine Chiffre für die in einer Gesellschaft vorherrschenden und zugleich geforderten Grundhaltungen und Werte. In seiner Einleitung zu „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ schreibt er: „Die Wiederaufnahme der Grundsätze vernünftigen Wirtschaftens schließt keineswegs den Verzicht auf eine aktive und unseren sozialen und ethischen Überzeugungen entsprechende Wirtschaftspolitik ein.“8 Im Anschluss an die Wirtschaftsstilforschung der historischen Schule versteht Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft als einen Stilgedanken.9 1952, als die ersten Erfolge der wirtschaftlichen Erholung im Nachkriegsdeutschland erkennbar und spürbar waren, führt er hierzu aus: „Wenn auch gelegentlich in Deutschland die Auffassung entstand, es sei im wesentlichen nur die bewußte Ausgestaltung der Wettbewerbsordnung vonnöten, um zugleich damit auch der sozialen Problematik Herr zu werden, so dürfte man doch heute klarer sehen, dass eine solche instrumentale Auffassung der hier zu bewältigenden Aufgabe nicht gerecht wird. Es handelt sich nicht nur um die Gestaltung einer ökonomischen Ordnung, vielmehr bedarf es der Eingliederung dieser Ordnung in einen ganzheitlichen Lebensstil.“10

 6

Cornelia Schmergal, Deutsche Wirtschaftsordnung: Ersonnen hinter Klostermauern (http://www.wiwo.de/politik/deutsche-wirtschaftsordnung-ersonnen-hinterklostermauern-297838/, zuletzt abgerufen am 14.04.2011). Siehe auch: Alfred Müller-Armack, Wirtschaftspolitik als Beruf [1969], wieder abgedruckt in: Jürgen Schneider/Wolfgang Harbrecht (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (1933-1993). Stuttgart 1996, 283-301, hier: 290. 7 Zu weiteren Anekdoten um die Entstehung des Begriffs siehe Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth, Social Market Economy: origins, meanings and interpretations, in: Constitutional Political Economy 19, 2008, 261-276, hier: 262 ff. Siehe auch: Rainer Klump, Wege zur Sozialen Marktwirtschaft. Die Entwicklung ordnungspolitischer Konzeptionen in Deutschland vor der Währungsreform, in: Erich W. Streissler (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XVI. Berlin 1997, 129-160, hier: 148 ff. 8 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft [1947], wieder abgedruckt in: Ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Bern/Stuttgart 1976, 19-170, hier: 20. 9 Siehe hierzu z.B. Alfred Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile. Stuttgart 1994. Zur Interpretation z.B. Bertram Schefold, Vom Interventionsstaat zur Sozialen Marktwirtschaft. Der Weg Alfred Müller-Armacks, in: Rolf H. Hasse/Friedrun Quaas (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Gesellschaftskonzept. Zur Integrationskraft der Sozialen Marktwirtschaft. Bern/Stuttgart/Wien 2002, 47-87. 10 Alfred Müller-Armack, Stil und Ordnung der Marktwirtschaft, wieder abgedruckt in: Ders., Wirtschaftsordnung (wie Anm. 8), 231-242, hier: 237.

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Programmatisch fordert Müller-Armack also die Versöhnung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlichem Wollen, die zugleich auf einer Versöhnung unterschiedlicher Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft beruhen müsse. Diese Versöhnung auf gesellschaftlicher Ebene ist der Leitgedanke der von ihm geforderten Idee einer „sozialen Irenik“. Abgeleitet vom griechischen Begriff İȓȡȒȞȘ (Frieden) geht es darum, mittels einer sozialen Irenik Möglichkeiten für eine „die Weltanschauungen verbindende Sozialidee“11 aufzuweisen. Für seine Zeit sieht Müller-Armack in den Strömungen von Katholizismus, Protestantismus, dem evolutionistischen Sozialismus und dem Liberalismus die vorherrschenden gesellschaftspolitischen Richtungen, die es miteinander zu verbinden gilt. Nicht um die einzelnen Positionen einzuebnen, sondern – so die Hoffnung von Müller-Armack – um in gegenseitiger Achtung an dem Problem der sozialen Gestaltung mitzuwirken: „So kann unsere Hoffnung auf eine mögliche Einheit nur die der Irenik sein, einer Versöhnung, die das Faktum der Gespaltenheit als gegeben nimmt, aber ihm gegenüber die Bemühung um eine gemeinsame Einheit nicht preisgibt.“ 12 Hieraus erwächst dann das Fundament für eine wahrhaft Soziale Marktwirtschaft: „Vielmehr bedarf jede freie Ordnung dazukommender Sicherungen, um ihr eine den heutigen sittlichen Überzeugungen entsprechende Gestalt zu geben. Irenisches Denken bedeutet auch hier, in vielfacher Perspektive denken zu können, sich des steten, unabdingbaren Zieles zu vergewissern und zugleich mit den technischen Prinzipien vertraut zu sein, nach denen man soziale Ziele realiter erreicht.“13 In diesem Sinne – und damit lassen sich Soziale Marktwirtschaft und Soziale Irenik miteinander verbinden – kann man die Soziale Marktwirtschaft selbst als „irenische Formel“ verstehen, „die versucht, die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“14.

 11 Alfred Müller-Armack, Soziale Irenik [1950], wieder abgedruckt in: Ders., Religion und Wirtschaft. Bern/Stuttgart 1981, 559-578, hier: 559. Zur Interpretation siehe auch die sorgfältige Analyse von Friedrun Quaas, Alfred Müller-Armacks Idee der „Sozialen Irenik“ und ihre Anwendungsmöglichkeiten, in: Hasse/Quaas (Hrsg.), Wirtschaftsordnung (wie Anm. 9), 207-225. 12 Müller-Armack, Irenik (wie Anm. 11), 563. 13 Ebd. 14 Alfred Müller-Armack, Der Moralist und der Ökonom. Zur Frage der Humanisierung der Wirtschaft [1969], wieder abgedruckt in: Ders., Genealogie (wie Anm. 4), 123-140, hier: 131. Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, inwiefern MüllerArmacks Position letztlich doch auf einem Antagonismus von Freiheit und Gerechtigkeit beruht, der in dieser Form bei den Freiburger Ordoliberalen nicht zu finden ist. Vgl. hierzu: Gerold Blümle/Nils Goldschmidt, Sozialpolitik mit dem Markt. Sozialstaatliche Begründung und wirtschaftliche Ordnung, in: Die neue Ordnung 58, 2004, 180-193; Viktor Vanberg, Soziale Sicherheit, Müller-Armacks „Soziale Irenik“ und die ordoliberale Perspektive, in: Hasse/Quaas (Hrsg.), Wirt-

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Der Bezug zur Religion ist im Konzept der Sozialen Irenik nicht nur darin zu sehen, dass zwei der vier genannten Strömungen religiöse sind, sondern er ist – hier ganz im Sinne von Max Weber – auch deswegen begründet, weil für Müller-Armack die europäische Moderne ohne ihre christlichen Wurzeln unverständlich bleibt. Auch das „Jahrhundert ohne Gott“15 ist im Innersten auf einem „Gerüst der ererbten Weltvorstellung“16 aufgebaut: „Alle Säkularisation bleibt dem Glaubensboden verhaftet, dem sie entstammt.“ 17 Zudem bleibt es für Müller-Armack unhintergehbar, dass der „Mensch in seinem Wesen nach derart auf die Erfahrung einer religiösen Transzendenz angelegt [ist], daß er zwar zum Glaubensabfall innerlich befähigt ist, aber nicht dazu, in seiner immanenten Welt den Akt des Transzendenten auszuschalten.“18 So ist der Mensch aufgefordert, „höchste geistige Werte“ anzuerkennen, statt „in einem wie auch immer gearteten Wirtschaftsprogramm letzte Lebenserwartungen erfüllt sehen zu wollen“19. Nur von der Ethik her, dies die feste Überzeugung von Müller-Armack, kann eine gesellschaftlich wünschenswerte Ordnung der Wirtschaft ihren Ausgangspunkt nehmen: „Im Blick auf die dem Wirtschaftlichen überlegenen menschlichen Werte gewinnen wir den Standort für eine Wirtschaftsethik und wirtschaftspolitische Ordnung im tieferen Sinne.“20 Die Suche nach einer Versöhnung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der irenischen Verbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwürfe wird somit für Müller-Armack zugleich zu einer ethischen Verpflichtung des Christen: „Es sieht der evangelische Christ in der Vielheit der praktischen Lösungsversuche den Auftrag zu immer erneuter Prüfung der eigenen und fremden Haltung.“21

III. L UDWIG E RHARD

UND DAS RECHTE

M ASS

Mit geradezu pathetischen Worten beschloss Ludwig Erhard seine mit „Freiheit und Verantwortung“ betitelte Ansprache auf dem 9. Bundestag des



15 16 17 18 19 20 21

schaftsordnung (wie Anm. 9), 227-260; Jürgen Lange-von Kulessa/Andreas Renner, Die Soziale Marktwirtschaft Alfred Müller-Armacks und der Ordoliberalismus der Freiburger Schule. Zur Unvereinbarkeit zweier Staatsauffassungen, in: ORDO 49, 1998, 79-104. Alfred Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit [1948], wieder abgedruckt in: Ders., Religion (wie Anm. 11), 371-512. Ebd., 391. Ebd. Ebd., 406. Ebd., 506. Ebd., 406. Alfred Müller-Armack, Die heutige Gesellschaft nach evangelischem Verständnis. Diagnose und Vorschläge zu ihrer Gestaltung [1950], wieder abgedruckt in: Ders., Genealogie (wie Anm. 4), 113-122, hier: 122.

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Evangelischen Arbeitskreises der CDU im Juni 1961 in Hamburg: „Wir müssen stehen und wir müssen die Stärke aufbringen, für unsere Überzeugung einzustehen gegen alle Verleumdungen. Wir müssen zeugen für ein Leben, so wie es uns aus christlicher Gesinnung aufgegeben ist.“22 In jenen Jahren war Ludwig Erhard um eine Politik des Maßhaltens bemüht, man könnte fast sagen, er war davon getrieben. Der beträchtliche Konjunkturaufschwung der sich nach der Korea-Krise in der jungen Bundesrepublik Deutschland entwickelte – das Sozialprodukt nahm 1954 um 8 % und 1955 sogar um 12 % zu bei gleichzeitig sinkenden Arbeitslosenzahlen – war für den damaligen Bundeswirtschaftsminister Anlass zur Warnung, bei den Lohnabschlüssen maßzuhalten, um die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden. Hierzu initiierte er Verhandlungen sowohl mit den Gewerkschaften als auch mit den Arbeitgebern: Im Februar 1955 forderte er die Unternehmer auf, Lohnerhöhungen entsprechend dem Produktivitätsfortschritt vorzunehmen. Von den Gewerkschaften verlangte er, keine neuen Lohnforderungen zu erheben. Diese Appelle verhallten zwar nicht ungehört, stießen jedoch bereits ab Frühjahr 1956 auf Widerstand, nicht zuletzt von Seiten des Kanzlers Konrad Adenauer. So schrieb Adenauer 1956 an seinen Minister: „Aber verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sehr offen sage, die von Ihnen vorgeschlagenen Einwirkungen werden kein[en] Erfolg haben.“23 Adenauer sah es als fragwürdig an, zunächst zum Wohlstand zu ermuntern und „jetzt plötzlich Zurückhaltung und Enthaltsamkeit zu predigen.“24 Doch Erhard ließ sich durch diese Kritik nicht beirren, sondern untermauerte seine zunächst konjunkturpolitisch motivierten Maßhalteappelle mehr und mehr auch mit moralischen Überlegungen, so auch in der oben genannten Rede. Maßhalten ist für Erhard in gewisser Weise das notwendige Gegenstück zu einem sinnerfüllten Leben: „Ich glaube, daß heute, und zwar besonders auch unsere Arbeiter und Angestellten, also Menschen, die durchaus noch offene Konsumwünsche haben, die gleiche Frage sogar häufiger bewegt. Sie sagen sich: ‚Jetzt haben wir’s wieder geschafft, haben ein Fernsehgerät, sind auch zu einem Auto gekommen; wir haben soziale Geltung erlangt.’ Dies alles sind ja die äußeren Erscheinungen des Wohlstandes, aber die andere ist die, daß, wenn ein Bedürfnis befriedigt ist, die Wirtschaft schon wieder anderes und Neues bereitstellt, dem die Menschen nachjagen können. Soll das nun so gehen bis ans Ende unseres Lebens, ist das nicht doch eine ziemlich fade Angelegenheit?“25

 22 Ludwig Erhard, Freiheit und Verantwortung [1961], wieder abgedruckt in: Ders., Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft. Düsseldorf/ Wien/Frankfurt a. M. 1962, 588-595, hier: 595. 23 Zit. nach: Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. München/ Landsberg am Lech 1996, 247. 24 Zit. nach ebd. 25 Erhard, Freiheit (wie Anm. 22), 594.

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Erhard ging es dabei nicht um die Eingrenzung marktlicher Dynamiken (zumal seine Maßhalteappelle ja durchaus auch aus Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung motiviert waren). Wichtig – zumindest im vorliegenden Zusammenhang – ist vielmehr die Verknüpfung der Erhardschen Mahnungen mit einer tugendethischen Komponente. Einen Höhepunkt erreichten Erhards Appelle zum Maßhalten in einer Rundfunkansprache vom März 1962, angekündigt unter dem bezeichnenden Titel „Maßhalten!“. Im Verkündigungston wandte sich Erhard an das deutsche Volk: „Auch aus diesem Grunde muß das deutsche Volk – und ich meine da buchstäblich jeden einzelnen – wissen, wo wir stehen, ja, richtiger wäre es noch zu sagen, wohin wir taumeln und welche Gefahren uns bedrohen. Noch ist es Zeit, aber es ist höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen […]. Während diese [andere Länder, N.G.] sich kraftvoll anschicken, durch zuchtvolle Ordnung über die Sünden ihrer Vergangenheit hinwegzufinden, wissen wir nichts Besseres, als in der so oft angesprochenen Maßlosigkeit unseres nationalen Charakters das selbstverdiente Glück wieder zu zerstören.“26 Auch später als Bundeskanzler forderte Erhard immer wieder zum Maßhalten auf (so z.B. bei der Frage nach Diätenerhöhungen und Kriegsopferentschädigungen), aber seine Mahnungen entfalteten keine Wirkung – nicht zuletzt sicher auch deshalb, da man dem Vater des Wirtschaftswunders die Attitüde zur Bescheidenheit kaum wirklich abnahm. Es bleibt eigentümlich: So wenig man seine Appelle hören wollte, umso lieber wurden sie später als dringend notwendig herausgestellt. Der seinerzeitige Bundespräsident Walter Scheel führte zum Todestag Erhards am 11. Mai 1977 aus: „Aber seinen Mahnruf, Maß zu halten, den er bis ans Ende seines Lebens nicht müde wurde zu wiederholen, mochte man ihm nicht gerne abnehmen. Man sagte Maßhalteappelle seien nichts Konstruktives, was eine Wirtschaft, die zum Selbstzweck geworden war, weiter voranbrächte. Aber grade das wollte er nicht: eine Wirtschaft, die zum Selbstzweck wird. Er wollte eine Wirtschaft, die dem Menschen dient, eine soziale Wirtschaft.“27 Um es zusammenzufassen: Das rechte Maß, das Erhard von seinen Mitbürgern einforderte, galt ihm nicht als Gegensatz zur wirtschaftlichen Dynamik von Marktwirtschaften. Ganz im Gegenteil sah er darin eine Grundlage dafür, dass sich die Gesellschaft nicht zu einer bloßen Gesellschaft des Konsums entwickelt, sondern den Menschen auch einen Sinn im Leben zu geben vermag. Diese tugendethische Basis war für Erhard durchaus mit christlichen Werten verknüpft, auch wenn er sich weit weniger als andere Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft in seinen Schriften und Reden auf religiöse oder

 26 Ludwig Erhard, Maßhalten! Rundfunkansprache, 21. März 1962, wieder abgedruckt in: Ders., Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Reden und Schriften. Düsseldorf/Wien/New York 1988, 729-737, hier: 730 f., 736. 27 Zit. in: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard. Erbe und Auftrag. Aussagen und Zeugnisse. Düsseldorf/Wien 1977, 24 f.

W IRTSCHAFT

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kirchliche Quellen bezog.28 Dennoch war für ihn die Soziale Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung, die allein dem Anspruch einer auch christlichen Gesellschaftsordnung gerecht werden konnte. Unter dem Titel „Wirtschaftspolitik als Teil der Gesellschaftspolitik“ formulierte er 1960: „Fast möchte ich sagen, die menschliche Natur braucht den inneren Ausgleich, das seelische Gleichgewicht, die Versöhnung zwischen zweckhaften Formen des Berufslebens in der Massengesellschaft und dem Verlangen nach Ruhe und Geborgenheit in geistig-seelischen Zuordnungen.“ 29 Und im Sinne der Sozialen Irenik fährt er fort: „Die Soziale Marktwirtschaft ist überfordert, wenn ihr die Verantwortung aufgelastet werden soll, die äußeren Lebensformen unserer Gegenwart zu sprengen und nach einem Wunschbild zu formen. Wohl aber obliegt ihr die Verpflichtung, den Geboten einer christlichen Gesellschaftspolitik gerecht zu werden und sich mit dieser zu einer höheren Einheit zu verbinden.“30

IV. W ALTER E UCKEN UND DER W IRTSCHAFT

DIE

O RDNUNG

„Die geschichtliche Entwicklung“, so Walter Eucken in einem Aufsatz von 1932 mit dem bezeichnenden Titel „Religion – Wirtschaft – Staat“, „wird nach Scheitern aller anderen Versuche mit Notwendigkeit zu dem Ergebnis führen müssen, daß der umfassende Sinnzusammenhang den Tätigkeiten des einzelnen Menschen nur von der Religion, vom Glauben an Gott wieder verliehen werden kann. Erst dann wird auch auf sozialem und politischem Gebiet wieder eine gewisse Beruhigung eintreten.“31 Walter Eucken, der als Haupt der Freiburger Schule des Ordoliberalismus auch heute noch in politischen Sonntagsreden hoch im Kurs steht, hat wie kein anderer der Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft die Grundsätze einer auf klaren Prinzipien beruhenden Wirtschaftsordnung herausgearbeitet. Doch auch ihm ging es immer um mehr als eine allein funktionsfähige und effiziente Marktwirtschaft, vielmehr war sein Credo die Suche nach einer Wirtschaftsordnung, die zugleich auch menschenwürdig ist.32 Eucken stellt seine Theorie

 28 Siehe zu diesem Punkt und zum Thema allgemein: Bernhard Löffler, Religiöses Weltbild und Wirtschaftsordnung. Zum Einfluss christlicher Werte auf die Soziale Marktwirtschaft, in: Hans Zehetmair (Hrsg.), Politik aus christlicher Verantwortung. Wiesbaden 2007, 110-124. 29 Ludwig Erhard, Wirtschaftspolitik als Teil der Gesellschaftspolitik [1960], wieder abgedruckt in: Ders., Wirtschaftspolitik (wie Anm. 22), 476-491, hier: 480. 30 Ebd. 31 Walter Eucken, Religion – Wirtschaft – Staat. Zur Problematik des Gegenwartsmenschen, in: Die Tatwelt 8, 1932, 82-89, hier: 87. 32 Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie. Berlin u. a. 1989 (1. Aufl. 1940), 240.

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wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung, seine Ordo-Idee, unter den Anspruch, der Natur- oder Wesensordnung zu entsprechen. Zielpunkt ist eine prinzipiengeleitete Wirtschaftspolitik, die mit einer idealen Ordnung übereinstimmt.33 Das Programm einer solchen nationalökonomischen Wissenschaft, die mehr sein will als eine Mechanik der Güterbewegungen, ist für Eucken auf die Wahrheit selbst zu gründen, wie er mit einer wörtlichen Übernahme aus Edmund Husserls erstem Band der „Logischen Untersuchungen“ in seinem grundlegenden Werk von 1940, „Die Grundlagen der Nationalökonomie“, deutlich gemacht hat: „Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar im größtmöglichen Umfang, zu erobern, aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm Einheit der Gesetzlichkeit.“34 Neben diesem letztlich metaphysisch begründeten Wissenschaftsprogramm, mit dem Ziel die Ordnung der Wirtschaft aufzufinden, war für Eucken der christliche Glaube auch persönlich ein Ansporn für sein Handeln und Denken.35 Sehr anschaulich zeigt sich dies in einem Dokument, das während des Zweiten Weltkriegs als Anhang zur Denkschrift des oppositionellen Freiburger Bonhoeffer-Kreises unter der Mitarbeit von Eucken entworfen wurde.36 Ziel der Denkschrift dieses Kreises, der sich aufgrund einer Anfrage des Berliner Pfarrers Dietrich Bonhoeffer im Auftrag der sogenannten ‚Vor-

 33 Siehe hierzu: Nils Goldschmidt, Entstehung und Vermächtnis ordoliberalen Denkens. Walter Eucken und die Notwendigkeit einer kulturellen Ökonomik. Münster 2002, 101-108. Walter Eucken gründet wissenschaftstheoretisch seine Überlegungen auf der Philosophie seines Vaters, des Philosophen und Literaturnobelpreisträgers von 1908, Rudolf Eucken, und auf der Phänomenologie Edmund Husserls, mit dem er in Freiburg freundschaftlich verbunden war. Siehe hierzu ausführlich: Hans-Helmuth Gander/Nils Goldschmidt/Uwe Dathe (Hrsg.), Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft. Edmund Husserl – Rudolf Eucken – Walter Eucken – Michel Foucault. Würzburg 2009. 34 Eucken, Grundlagen (wie Anm. 32), 230, bzw. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band 1: Prolegomena zur reinen Logik (Text nach Husserliana XVIII). Hamburg 1992, 31. Siehe hierzu: Goldschmidt, Entstehung (wie Anm. 33), 54-65. 35 Auch wenn die kirchlich gefasste Religiosität für ihn sicherlich nicht im Vordergrund stand. Siehe hierzu die Notiz aus einem Brief Euckens an Alexander Rüstow vom März 1944: „Mein Christentum ist das […] eines Leibniz oder Kant.“ Ethik bedeute für ihn „Bindung an Werte, Unterordnung, Anerkennung eines Sollens. D. h. der Mensch soll Geboten folgen, die gleichsam über ihm sind.“ Zit. nach: Hans Otto Lenel, Walter Euckens Briefe an Alexander Rüstow, in: ORDO 42, 1991, 1114, hier: 12. 36 Zum Überblick: Nils Goldschmidt, Christlicher Glaube, Wirtschaftstheorie und Praxisbezug. Walter Eucken und die Anlage 4 der Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises, in: Historisch-Politische Mitteilungen 5, 1998, 33-48.

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läufigen Leitung der Bekennenden Kirche‘ im Spätsommer 1942 bildete37, war die Erarbeitung einer Programmschrift über die Grundsätze einer auf christlicher Grundlage ruhenden Außen- und Innenpolitik. Die Schrift sollte nach Abschluss des Krieges zum einen als Grundlage für Beratungen auf einer geplanten Weltkirchenkonferenz dienen, zum anderen dazu, um den Alliierten einen Einblick in die Vorstellungen protestantischer Kreise über das zukünftige Deutschland zu vermitteln. Der Anhang „Wirtschafts- und Sozialordnung“ zur Denkschrift, den Eucken mit seinen beiden Freiburger Kollegen Constantin v. Dietze und Adolf Lampe gemeinsam formulierte, enthält vieles von dem, was für die Freiburger Schule charakteristisch geworden ist und sich später im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wiederfindet.38 Dabei beeindruckt der Text nicht nur durch seine freiheitliche wirtschaftspolitische Ausrichtung, sondern vor allem auch durch seinen tiefen religiösen und sozialen Ernst. Der christliche Glaube ist in dieser Schrift der entscheidende Pfeiler und die kritische Norm jeder Wirtschaftsordnung. Der Mensch als „sittliche Persönlichkeit“ steht dabei im Mittelpunkt der Ordnungskonzeption: „Die Wirtschaft hat den lebenden und künftigen Menschen zu dienen, ihnen zur Erfüllung ihrer höchsten Bestimmungen zu helfen. Mit materiellen Kräften allein lässt sich das menschliche Leben nicht erträglich gestalten, ist auch keine Volkswirtschaft lebensfähig aufzubauen. Sie bedarf der gesicherten Rechtsordnung und der festen sittlichen Grundlage.“39 Entsprechend sind für die drei Autoren die Grundlagen für die Entwicklung einer zukünftigen Wirtschaftsordnung: 1. das Wort Gottes, 2. die ökonomischen Sachnotwendigkeiten und 3. die tatsächliche und zukünftige Wirtschaftslage. Die auf dieser Basis entworfene Ordnung der Wirtschaft soll neben ihrem sachlichen Nutzen „den denkbar stärksten Widerstand gegen die Macht der Sünde“40 gewährleisten und ein christliches Leben ermöglichen. Jedoch sei es nicht die Aufgabe der Kirche, „für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung im einzelnen ständig verbindliche Lösungen anzubieten“41 – dies komme den in Sachfragen kompetenteren christlichen Laien zu. Für die Sozialpolitik gelte Folgendes: Sie ist nicht nur die Summe verschiedener Einzelmaßnahmen, sondern sie soll

 37 Inwiefern Eucken als Mitglied der „Bekennenden Kirche“ anzusehen ist, ist in der Literatur umstritten. Siehe z.B. die kritische Position von Walter Oswalt, Liberale Opposition gegen den NS-Staat. Zur Entwicklung von Walter Euckens Sozialtheorie, in: Nils Goldschmidt (Hrsg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand. Tübingen 2005, 315-353, hier: 343 f. 38 Siehe hierzu: Nils Goldschmidt, Zur Einführung: Wirtschafts- und Sozialordnung (1943), in: Goldschmidt/Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte (wie Anm. 5), 91-198. 39 Constantin von Dietze/Walter Eucken/Adolf Lampe, Wirtschafts- und Sozialordnung [1943], wieder abgedruckt in: Goldschmidt/Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte (wie Anm. 5), 99-115, hier: 102. 40 Ebd., 100. 41 Ebd., 101.

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„die einzelnen Menschen zu echten Gemeinschaften und zu einer allumfassenden Societas zusammenfassen“42. In Euckens Arbeiten nach dem Krieg ist dieser explizite Bezug zum christlichen Glauben weniger deutlich spürbar. Im Mittelpunkt stehen für ihn die sachlichen Debatten zum Aufbau der Wirtschaftsordnung und das Ringen um eine prinzipiengeleitete Soziale Marktwirtschaft, frei vom Einfluss von Sonderinteressen. Die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Wissenschaft zum Aufbau einer solchen neuen Gesellschaftsordnung bleibt für ihn aber weiterhin unerlässlich, wie abschließend ein Zitat aus den 1952 posthum erschienenen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ belegen kann: „Es darf nicht dahin kommen, daß das Ordnungsstreben der Kirchen und das der Wissenschaft gleichsam um Haaresbreite aneinander vorbei streifen. Sie müssen zur Koinzidenz gebracht werden, und sie können es im Rahmen der Wettbewerbsordnung“43.

V. W ILHELM R ÖPKE

UND DIE S OZIALLEHRE DER KATHOLISCHEN K IRCHE

Als „liberalen Konservatismus“ bezeichnete Wilhelm Röpke in seinem 1944 erstmals erschienenen Buch „Civitas humana“ seine eigene Denkrichtung.44 Hintergrund seiner Analysen ist dabei eine paradoxe Entwicklung der Moderne, die er festzustellen glaubt: Die Möglichkeiten, die Industrialisierung und wirtschaftliches Wachstum für breite Schichten geschaffen haben, sind zugleich Auslöser der beobachtbaren gesellschaftlichen Krise. Wirtschaft und Gesellschaft gleichen „mehr und mehr einer auf den Kopf gestellten Pyramide“45, bei der „Massenleidenschaften, Massenansprüche und Massenmeinun-

 42 Ebd., 110. 43 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen 2004 (1. Aufl. 1952), 350. Es sei darauf hingewiesen, dass der spätere Kardinal und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Joseph Höffner bei Walter Eucken promovierte. Siehe hierzu: Norbert Trippen, Joseph Kardinal Höffner (1906-1987), Band 1: Lebensweg und Wirken als christlicher Sozialwissenschaftler bis 1962. Paderborn 2009, IV. Kapitel. Das sozialethische Werk von Höffner kann man durchaus aus ordoliberaler Perspektive interpretieren. Siehe hierzu: Nils Goldschmidt/Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.), Freiburger Schule und Christliche Gesellschaftslehre. Joseph Kardinal Höffner und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 2010. 44 Wilhelm Röpke, Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform. Bern/Stuttgart 1979 (1. Aufl. 1944), 18. Zur neueren Diskussion um Röpke siehe z.B.: Heinz Rieter/Joachim Zweynert (Hrsg.), „Wort und Wirkung“. Wilhelm Röpkes Bedeutung für die Gegenwart. Marburg 2009. 45 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern/Stuttgart 1979 (1. Aufl. 1958), 74.

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gen immer weniger Gewähr dafür bieten, daß die Voraussetzungen der Ordnung, Sicherheit und ruhigen Vernunft [...] mit einiger Regelmäßigkeit erfüllt sind“46. Doch wäre es in Röpkes Verständnis ein Irrtum, hieraus ein prinzipielles Versagen der Marktwirtschaft abzuleiten. Das Gegenteil ist für Röpke gültig: „Vielmehr ist es gerade die Marktwirtschaft mit ihrer Mannigfaltigkeit, ihrem Nachdruck auf Selbstbehauptung und Selbstverantwortung und ihren elementaren Freiheiten, die der Langeweile der [...] Massengesellschaft und Industriewelt noch immer sehr wirksame Ausgleichskräfte entgegenzusetzen hat, sofern sie nur innerhalb der Grenzen gehalten wird.“47 Hierin – im Gedanken einer „Marktwirtschaft in Grenzen“ – ist der Kern des ordnungspolitischen gleichwie kultur- und gesellschaftspolitischen Denkens Röpkes bestimmt. Die Grenzen der Marktwirtschaft sind auch für ihn – ganz im Sinne der Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft – die einzufordernden Rahmenbedingungen, die der Wirtschaft ihre Ordnung geben. Doch diese Rahmenbedingungen sind mehr als allein politische und rechtliche Bedingungen, vielmehr müssen die Voraussetzungen einer menschenwürdigen Wirtschaftsordnung auf einem klaren normativen Fundament stehen: „Die Gesellschaft als Ganzes kann nicht auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden [...]. Menschen, die auf dem Markte sich miteinander im Wettbewerb messen und dort auf ihren Vorteil ausgehen, müssen um so stärker durch die sozialen und moralischen Bande der Gemeinschaft verbunden sein, anderenfalls auch der Wettbewerb aufs schwerste entartet. So wiederhole ich: die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muss in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein.“48 In diesem Gedanken einer eingebetteten Marktwirtschaft sieht Röpke auch eine Nähe zum Denken der katholischen Soziallehre, insbesondere zur Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von 1931. Röpke stellt fest, „daß ein aufmerksamer Leser der berühmten, aber vielverkannten päpstlichen Enzyklika ‚Quadragesimo Anno‘ (1931) dort eine Gesellschafts- und Wirtschaftsphilosophie finden wird, die im Grunde zum selben Ergebnis [wie er, N.G.] kommt. Im engeren Bereiche der Wirtschaft bedeutet ein solches Programm Bejahung der Marktwirtschaft, unter gleichzeitiger Ablehnung eines entarteten Liberalismus und des bereits in seiner Grundkonzeption unannehmbaren Kollektivismus.“ 49 Röpke sieht in „Quadragesimo anno“ folglich ein „vollkommen mit unserem Standpunkt sich deckende[s] Programm“ 50 , und in einem Brief an seinen Mitstreiter Alexander Rüstow lobt er „dieses wirklich sehr schöne Dokument“, dessen gesellschaftspolitische Botschaft die „‚re-

 46 Ebd., 74 f. 47 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Bern/Stuttgart 1979 (1. Aufl. 1942), 128. 48 Röpke, Angebot (wie Anm. 45), 146. 49 Röpke, Civitas humana (wie Anm. 44), 18. 50 Ebd., 96.

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demptio proletariorum‘ 51 und Wiederherstellung einer vernünftigen Marktwirtschaft, gegen Monopolmacht (oeconomicus potentatus) und Interessentenwirtschaft“ 52 sei. Röpke, der als langjähriger Berater Erhards und steter publizistischer Mahner die deutsche Wirtschaftspolitik nicht unmaßgeblich geprägt hat, war davon überzeugt, dass eine Annäherung zwischen Neoliberalismus und katholischer Soziallehre gelingen könne. Trotz der Parallelen, die Röpke und auch andere Liberale zwischen ihren Vorstellungen insbesondere einer regelgebundenen Wirtschaftsordnung, die dem Menschen dienlich sein soll, und den Ansätzen der katholischen Soziallehre gesehen haben, blieb das Verhältnis lange Zeit schwierig.53 Es ist dabei das bleibende Anliegen von Röpke, die „Ideennachbarschaft“ von katholischer Soziallehre und Neoliberalismus beiden Seiten immer wieder vor Augen zu führen, um so dem gemeinsamen Ziel, einer Versöhnung von moderner Wirtschaft und moderner Gesellschaft, näher zu kommen. Eindrücklich wird dies auch nochmals in einem Aufsatz deutlich, den Röpke aus Anlass der Veröffentlichung der Enzyklika „Mater et Magistra“ von Johannes XXIII. schrieb. Trotz einzelner Schwächen in der Enzyklika im Detail (so beim Wettbewerbsverständnis und beim Phänomen der Inflation) und einem leich-

 51 Der Gedanke der „redemptio proletariorum“ (Entproletarisierung) war Röpke ein besonderes Anliegen. In „Civitas humana“ verweist er an drei Stellen darauf (Röpke, Civitas humana [wie Anm. 44], 97, 265, 292). Es ist nicht ganz untypisch für den (elitären) Humanismus Röpkes, dass er viele Missverständnisse, insbesondere in Bezug auf die „berufständische Ordnung“, in der Interpretation von „Quadragesimo anno“ darauf zurückführt, dass man den lateinischen Urtext nicht gelesen habe. Entsprechend seiner Interpretation setzt Röpke den Gedanken der „Entproletarisierung“ mit seinen Überlegungen zur „Entmassung“ gleich. Zum Begriffe der Masse bei Röpke siehe: Nils Goldschmidt, Liberalismus als Kulturideal. Wilhelm Röpke und die kulturelle Ökonomik, in: Rieter/Zweynert (Hrsg.), Wort und Wirkung (wie Anm. 44), 67-82. 52 Wilhelm Röpke, Briefe 1934-1966. Der innere Kompass. Erlenbach bei Zürich 1976, 69. Es ist Tim Petersen zu verdanken, das Verhältnis zwischen Wilhelm Röpke und der Katholischen Soziallehre ausführlich und sorgfältig untersucht zu haben. Siehe Tim Petersen, Wilhelm Röpke und die Katholische Soziallehre. HWWI Research Paper 5-5 der Zweigniederlassung Thüringen, 2008. In dem Text von Petersen finden sich auch weitere Verweise auf Besprechungen von „Quadragesimo anno“ durch Röpke. 53 Siehe hierzu z.B.: Anton Rauscher, Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft, in: Ders. (Hrsg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre. Berlin 2008, 539-548. Insbesondere die Dissertation von Egon Edgar Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Heidelberg 1961, bot Anlass für eine Vielzahl von Missverständnissen. Siehe hierzu: Petersen, Wilhelm Röpke (wie Anm. 52), 22 ff.; ferner Goldschmidt, Entstehung (wie Anm. 33), 89 f.

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ten Hang zur „politischen Linksneigung“ 54 betont Röpke: „Dem Verfasser von ‚Mater et Magistra‘ ist es nicht weniger klar als den ‚Neoliberalen‘, daß die rechte Antwort auf die große Frage [nach den Herausforderungen der Industriegesellschaft, N.G.] zweierlei umfassen muß: Die entschiedene Absage an den Sozialismus […] und den offenen Blick auf die Ansatzpunkte einer Neugestaltung der Marktwirtschaft, welche Würde und Wert des Menschen, Freiheit und Gerechtigkeit, Person und Familie gegen die unleugbaren Gefahren der modernen Industriegesellschaft schützt.“55

VI. C ARITAS

IN VERITATE UND DAS

M ETAÖKONOMISCHE

Scheint in den Wirtschaftswissenschaften allgemein, aber auch bei den Vertretern einer Sozialen Marktwirtschaft der Gedanke, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander zu versöhnen, in den Hintergrund getreten zu sein, ist es insbesondere das Verdienst von Papst Johannes Paul II., dass die katholische Soziallehre in ihren lehramtlichen Dokumenten den Weg in diese Richtung weiter beschritten hat. Insbesondere seine letzte Sozialenzyklika „Centesimus annus“ aus dem Jahr 1991 propagiert die Vorzüge einer Marktwirtschaft unter den Wirtschaftssystemen und liest sich in weiten Teilen wie eine Schrift in der Tradition des Ordoliberalismus: „Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft, kann sich nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum abspielen. Im Gegenteil, sie setzt die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige öffentliche Dienste voraus. Hauptaufgabe des Staates ist es darum, diese Sicherheit zu garantieren, so daß der, der arbeitet und produziert, die Früchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine Arbeit effizient und redlich zu vollbringen.“56 Zentral ist für Johannes Paul II. die Schaffung einer staatlichen Rahmenordnung, die wirtschaftliche Freiheit erst ermöglicht, nicht aber der Eingriff des Staates in den marktlichen Ablauf selbst. Auch in der jüngsten Sozialenzyklika „Caritas in veritate“, die Papst Benedikt XVI. vorlegte, lässt sich ordnungspolitisches Gedankengut finden. So heißt es dort: „Das Wirtschaftsleben […] soll auf das Erlangen des Gemeinwohls ausgerichtet werden, für das auch und vor allem die politische Gemeinschaft sorgen muss.“ Dementsprechend hebt der Papst hervor: „Der Bereich

 54 Wilhelm Röpke, Die Enzyklika „Mater et Magistra“ in marktwirtschaftlicher Sicht, wieder abgedruckt in: Ders., Wort und Wirkung. Ludwigsburg 1964, 310-328, hier: 317. 55 Ebd., 316. 56 Centesimus annus, Nr. 48. Zur Würdigung dieser Enzyklika in der Tradition der katholischen Soziallehre siehe zum Überblick: Nils Goldschmidt, Der Brückenschlag zum Markt. Das wirtschaftspolitische Erbe von Papst Johannes Paul II., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.4.2005, 15.

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der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muss, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden.“ 57 Es ist hier nicht der Ort, eine umfassende Würdigung dieser jüngsten Enzyklika vorzulegen, die ihre besonderen Stärken darin hat, immer wieder den Zielpunkt einer am Menschen ausgerichteten Wirtschaft deutlich zu machen und mit einer solchen den „Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“ zu ermöglichen.58 So ist es auch ganz im Sinne der Pioniere der Sozialen Marktwirtschaft, wenn der Papst mit Blick auf die Globalisierung mahnt: „Wir müssen nicht Opfer, sondern Gestalter werden […].“59 Der Gedanke, die Wirtschaft zu ordnen – und zwar als eine vordringlich politische Aufgabe auf ethischer Basis –, war das entschiedene Anliegen von Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard, Walter Eucken und Wilhelm Röpke. Dieses Ziel bleibt aber unerreichbar, so die Überzeugung dieser vier Ökonomen, wenn man im starren Korsett allein ökonomischer Fragen gefangen bleibt: „Wer eine so nüchterne Tatsache wie die Wirtschaftspolitik mit vollem Engagement betreibt, wird zwangsläufig zu dem Punkte geführt, an dem es nicht mehr darum geht, die einzelnen Fragen auszugliedern, ihre Differenzierung zu berücksichtigen und das Instrumentarium zu verfeinern. Er wird vielmehr die Grenze zum Metaökonomischen überschreiten.“60

 57 Caritas in veritate, Nr. 36. 58 Caritas in veritate, Nr. 4. Insbesondere wäre zu diskutieren, inwieweit die besondere Betonung zivilgesellschaftlicher Strukturen und tugendethischer Prämissen ausreichend ist, einem systemischen Verständnis marktlicher Prozesse hinreichend Rechnung zu tragen. 59 Caritas in veritate, Nr. 42. 60 Müller-Armack, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 6), 300.

Wohlstand oder Solidarität? Katholiken und Christdemokraten auf der Suche nach einer sozialen Marktwirtschaft* R ONALD J. G RANIERI

Am 8. Oktober 1960 bekam Heinrich Krone, Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion, einen überraschend scharfen Brief von CDU-Parteichef und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Adenauer beanstandete, dass Krone und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ohne vorherige Absprache mit dem Kanzler den BDI-Vorsitzenden Fritz Berg getroffen hatten. Adenauer fühlte sich hintergangen und beendete den Brief, nach vielen kritischen Bemerkungen über die Haltung Erhards, mit Sätzen, die auf tiefere Sorgen hindeuteten: „Als Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands füge ich noch hinzu, dass ich mich mit ganzer Kraft dagegen zur Wehr setzen würde, dass die Tätigkeit der Bundestagsfraktion und der Partei sich fast ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen erstreckt. Wir sind keine Wirtschaftspartei, und wir wollen auch keine Wirtschaftspartei werden.“1 Krone, ein langjähriger Vertrauter Adenauers, war tief verletzt, und schickte den Brief „umgehend“ zurück. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass Adenauer „irrt, wenn er meint, ich ließe in dieser Weise mit mir verfahren.“2 Dieser Briefwechsel ist einerseits nur eines von vielen Beispielen für die immer tiefer werdenden Grabenkämpfe innerhalb der CDU/CSU in der späten Adenauer-Ära, als Adenauer versuchte, den Aufstieg des allseits beliebten Ludwig Erhard aufzuhalten.3 Das Treffen mit Berg kam für Adenauer einer

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Herzlicher Dank gilt neben den Herausgebern auch Frau Katrin Schreiter und Herrn Jacob Eder, die dem Verfasser unentbehrliche Hilfe bei der sprachlichen Überarbeitung des Textes leisteten. Adenauer an Krone, 8.10.1960. Konrad Adenauer, Briefe 1959-1961 (Rhöndorfer Ausgabe), bearb. v. Hans-Peter Mensing. Paderborn 2004, 194 f. Heinrich Krone, Tagebücher. Zweiter Band: 1961-1966, bearb. v. Hans-OttoKleinmann. Düsseldorf 2003, 451 f. (Eintrag vom 8.10.1960). Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt: Erhard und Adenauer. Stuttgart 1987.

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Verschwörung gleich, da er den Verdacht hegte, mächtige Wirtschaftsinteressenten wie der BDI wollten Erhard gegen seinen Willen auf den Kanzlerstuhl hieven. Doch spürt man im Ton des Adenauer’schen Briefes auch die Besorgnis, die mit dem Begriff „Wirtschaftspartei“ zusammenhing. Es lohnt sich, diese näher zu untersuchen. Trotz seiner gelegentlichen Auseinandersetzungen mit Adenauer teilte Krone die Sorge über den wachsenden Einfluss liberalen bzw. marktwirtschaftlichen Denkens innerhalb der CDU. Obwohl er wusste, dass auch Liberale die Union manchmal wählten, ging Krone immer auf Distanz zu Liberalismus. Wie er später schrieb: „Wir sind aber keine liberale Partei wie die Freien Demokraten. Wir sind die Christlich-Demokratische Union, und das C ist uns das letzthin Bewegende und Tragende.“ Liberale waren seines Erachtens nicht langfristig für die Union zu gewinnen, da diese letzten Endes anderen Parteien näher stünden. „Lassen wir uns also durch die antichristlichen, oder besser achristlichen Stimmen in der Politik nicht verwirren. Greifen wir die Fragen und Sorgen unserer Zeit mutig auf und rufen wir die Menschen auf, uns zu folgen.“4 Adenauer und Krone, beide gläubige Katholiken, erfahrene Zentrumspolitiker und deutsche Christdemokraten der ersten Stunde, waren sich bewusst, dass die Union – die immerhin im Oktober 1960 mit einer absoluten Mehrheit allein regierte – große Teile ihres politischen Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft und insbesondere Erhard als Verkörperung marktwirtschaftlichen Denkens zu verdanken hatte. Seit 1949 hatten CDU und CSU die soziale Marktwirtschaft als freiheitlichen Gegenpol zu einer angeblichen „Zwangswirtschaft“ bzw. „Planwirtschaft“ der SPD hochstilisiert. Das westdeutsche Wirtschaftswunder wurde der Wählerschaft erfolgreich als Errungenschaft der Union präsentiert und zwang die Sozialdemokraten, 1959 in Bad Godesberg die soziale Marktwirtschaft als Grundlage ihrer eigenen Politik anzunehmen. Doch wollten Adenauer, Krone und die Gründer der deutschen und europäischen Christdemokratie im Allgemeinen ihre Bewegung auf andere Fundamente bauen. Das Soziale sollte hervorgehoben werden, um das christdemokratische ordnungspolitische Modell – für Katholiken wie Adenauer und Krone gestützt auf die katholische Soziallehre – deutlicher vom angeblich „materialistischen“ Liberalismus zu unterscheiden. 5 Dies war sowohl eine philosophische als auch eine politische Notwendigkeit, um der christlichdemokratischen Politik gegenüber konkurrierenden bürgerlichen Parteien eigene Konturen zu verleihen und darüber hinaus die historische Notwendigkeit und Einmaligkeit des christdemokratischen Projekts überhaupt hervorzuheben. Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht plagte Adenauer und Krone jedoch immer noch die Furcht, dass CDU und CSU zu nationalliberalen Parteien werden könnten, wenn sie ihre feste Bindung an christliche

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Krone, Tagebücher II (wie Anm. 2), 56 (Eintrag vom 8.4.1962). Vgl. Maria Mitchell, Materialism and Secularism: CDU Politicians and National Socialism, 1945-1949, in: Journal of Modern History 67, 1995, 278-308.

W OHLSTAND

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Werte verlieren würden. Die wachsende Liberalisierung der deutschen und europäischen Gesellschaft, paradoxerweise auch Ergebnis des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft, ließ diese Gefahr zusätzlich wachsen. Nach den Bundestagswahlen von 1961 gewannen für die Unionsparteien die Frage nach ihrer politische Identität und ihrem Verhältnis zum Liberalismus weiter an Aktualität. Zwar blieben CDU und CSU an der Macht, doch verloren sie die absolute Mehrheit und mussten wieder in ein Bündnis mit der FDP eintreten. Als mit dem Bau der Berliner Mauer die Deutschlandpolitik Adenauers ernsthaft in Zweifel gezogen wurde, kamen auch zunehmend Fragen über die Zukunft einer Partei und Politik unter der Führung des Fünfundachtzigjährigen auf. Die CDU musste sich erneut gegen den Vorwurf wehren, die Partei, ihr Vorsitzender und ihr Programm seien nicht mehr zeitgemäß. Diese Vorwürfe kamen sogar von der Union nahe stehenden Intellektuellen.6 So wurde Adenauer gezwungen, einen Termin für seinen Rücktritt festzulegen und – aus seiner Sicht vielleicht noch schlimmer – auch seinen Kampf gegen Erhard endgültig verloren zu geben. Der im Oktober 1963 vollzogene Machtwechsel wurde vielerorts als Sieg für eine Liberalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft begrüßt, obwohl er auch den Anfang eines langsamen, aber sicheren Machtverlusts für die Union markierte, der 1969 in den Wechsel in die Opposition mündete. Diese Kontroverse innerhalb der CDU-Führung wirft nicht nur einige für die Forschung wichtige Fragen zur Entwicklung der Unionsparteien während der formativen Jahre der Bundesrepublik auf, sondern deutet auch auf das angespannte Verhältnis von Katholiken zu Liberalismus, Kapitalismus und Marktwirtschaft hin. Die Union wie die Christdemokratie als politische Bewegung standen in den sechziger Jahren zwischen zwei wachsenden, entgegen gesetzten sozialpolitischen Entwicklungen: einerseits einer stark wachsenden gesellschaftlichen Neigung unter bürgerlichen Wählern, sich auf wirtschaftlichen Erfolg als höchstes Gut zu konzentrieren, sowie andererseits einer wachsenden Kritik von Links, wo der Ruf nach sozialer Erneuerung und innerer Reform keinen Platz für konservative oder christdemokratische Ideen ließ. Für Krone und Adenauer stellte sich die Frage, ob es möglich sei, den Liberalismus zu bekämpfen, ohne die Wähler in die Arme der Sozialdemokraten zu treiben – oder anders gefragt, ob es in der Politiklandschaft der Bundesrepublik noch einen Platz für religiös-konservativ gesinnte Kapitalismuskritik geben könne. Diese Frage hat in unserer Zeit der weltwirtschaftlichen Krisen nichts an Aktualität eingebüßt und ist sowohl ein philosophisch-theologisches als auch ein politisches Problem. Zwar geht der vorliegende Aufsatz am Rande auch auf die philosophische Dimension ein, konzentriert sich aber hauptsächlich auf die Untersuchung der politischen Tragweite der Beziehung zwischen Christdemokratie und Kapitalismus. Der sich wandelnden Einstellung der Union zur Marktwirtschaft gilt besonderes Interesse, da die CDU als führen-

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Vgl. Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers. Stuttgart 1960.

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des Beispiel der europäischen Christdemokratie größere Schwierigkeiten mit dem Kapitalismus hatte als ihre angelsächsischen konservativ-bürgerlichen Partnerparteien. Auch die katholische Kirche selbst hat ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Marktwirtschaft. In beiden Fällen sieht man, wie das gespannte Verhältnis konservativer Kräfte zum marktwirtschaftlichen Denken das gängige Links-Rechts-Schema durchkreuzt. Gleichzeitig wirft jenes gespannte Verhältnis komplizierte Fragen zur Bedeutung der Marktwirtschaft in der Moderne auf, die noch auf die heutige politische Landschaft einwirken. Dass christdemokratische Parteien mit der Marktwirtschaft identifiziert wurden, war keineswegs selbstverständlich. Es ist daher legitim zu fragen, ob diese Verbindung von den Gründern überhaupt je beabsichtigt wurde. Denn die christlich-demokratische Bewegung entstand aus vielen unterschiedlichen Strömungen. Jedoch stammen die zentralen Elemente der antimaterialistischen katholischen Soziallehre aus den Hirtenbriefen „Rerum Novarum“ (1891) und „Quadregesimo anno“ (1931). Mit einer Absage an Liberalismus und Sozialismus versuchten die Päpste Leo XIII. und Pius XI. in diesen Briefen eine Mittlerposition einzunehmen. Ihre Argumentation war von der Philosophie des Personalismus geprägt, welche sich auf den einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes konzentrierte, diesen jedoch nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil einer Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten sah, die dem Menschen, dem Staat und dem Markt Grenzen setzten. Die Schlüsselbegriffe waren Solidarität und Subsidiarität, also gesellschaftliche Werte, die eine enge Gemeinschaft fördern und materialistischen Ideen standhalten sollten. Hauptziele waren nicht eine forcierte materielle Gleichheit, aber doch die „Entproletarisierung des Proletariats“ und die Schaffung von Harmonie zwischen den beruflichen Ständen, mit der Reichtum in dem Maße geteilt werden sollte, dass ein Minimum an menschlicher Würde für alle gewährleistet werden konnte.7 Aus dieser Sicht erschien der Marktliberalismus ebenso als Gefahr wie der Marxismus, weil beide die Würde des Menschen als Geschöpf mit einer Seele und Werten – nicht nur im wirtschaftlichen Sinne – verneinten. Pius XI. formulierte dies wie folgt: „So wenig die Einheit der menschlichen Gesellschaft gründen kann auf der Gegensätzlichkeit der Klassen, ebenso wenig kann die rechte Ordnung der Wirtschaft dem freien Wettbewerb anheimgegeben werden. Das ist ja der Grundirrtum der individualistischen Wirtschaftswissenschaft, aus dem all ihre Einzelirrtümer sich ableiten: in Vergessenheit oder Verkennung der gesellschaftlichen wie der Sittlichen Natur der Wirtschaft glaubte sie, die öffentliche Gewalt habe der Wirtschaft gegenüber nichts anderes zu tun, als sie frei und ungehindert sich selbst zu überlassen […].“8

 7 8

Josef Pieper, Thesen zur sozialen Politik: Die Grundgedanken des Rundschreibens Quadragesimo Anno. 4. Aufl. Frankfurt/Main 1947. Quadragesimo Anno § 88. Online unter http://www.vatican.va/holy_father/pius_ xi/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_19310515_quadragesimo-anno_en.html.

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Pius XI. nahm in der politischen Geschichte der katholischen Kirche und des politischen Katholizismus in vielerlei Hinsicht eine zentrale Position ein. Anders als viele seiner Vorgänger war er kein Reaktionär, obwohl er mit Sicherheit auch kein Demokrat war. Seine sozialpolitischen Ideen, die die Mitwirkung von Katholiken im parlamentarischen System nicht ausschlossen, inspirierten viele katholische Politiker und bildeten, neben den historischen Verdiensten früherer bürgerlicher Parteien wie der Zentrumspartei, ein wichtiges geistiges Fundament für die christlich-demokratischen Parteien der Nachkriegszeit, die auch Achtung von protestantischen Christdemokraten bekamen. Das politische Konzept der Christdemokratie war u. a. ein Versuch, freiheitliche Politik mit der kirchlichen Soziallehre zu vereinen, indem man eine bürgerliche mittelständische Politik zu gestalten versuchte, die gleichzeitig Wachstum und soziale Stabilität bieten konnte, ohne sich dem individualistischen Liberalismus oder dem materialistischen Sozialismus hinzugeben. Christlich-demokratische Parteien wie die CDU/CSU versuchten daher viele politische und soziale Strömungen zu verbinden. Politik zu machen, die den Namen „christlich“ verdiente, war dabei sicher von Anfang an eine schwierige Aufgabe. Zwischen Vertretern konservativer, liberaler und sozialer Politik kam es oft zu Spannungen, von der grundsätzlichen Rivalität zwischen Katholiken und Protestanten ganz zu schweigen. Für Katholiken war die kirchliche Soziallehre Stütze und Bürde zugleich. Denn obwohl die Rundschreiben und Kommentare einen philosophischen Überbau boten, war das Verhältnis zum real-existierenden Kapitalismus höchst ambivalent, was die politische Praxis erschwerte. Die ambivalente Beziehung zwischen Religion und Kapitalismus ist ein altes Thema. Max Webers Aussagen bilden hier nur das berühmteste Beispiel, aber er war weder der erste noch der letzte Verfechter der These, dass die historische Entwicklung des Kapitalismus in Verbindung mit Protestantismus stehe, weil die protestantische Weltanschauung Sparsamkeit und Fleiß postuliere. 9 Seit Heinrich von Treitschke haben protestantische Historiker argumentiert, dass der katholische Süden hinter dem aufstrebenden, freiheitlichen und protestantischen Norden zurück treten musste, weil es den katholischen Ländern, bedingt durch traditionelles Denken und verkrustete Sozialstrukturen, am nötigen Elan für wirtschaftliches Wachstum gemangelt habe.



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Deutsche Übersetzung bei Franz Klüber, Individuum und Gemeinschaft in katholischer Sicht. Bückeberg o. J., 125. Vgl. auch After Forty Years. Encyclical Letter of His Holiness Pius XI by Divine Providence Pope. New York 1931, 36. Dieser Band enthielt die erste englische Übersetzung des Rundschreibens, wie sie am 24. Mai 1931 in der „New York Times“ erschien. Für weitere Kommentare vgl. auch Raymond J. Miller, CSSR, 40 Years After: Pius XII and the Social Order. St. Paul/MI 1947. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Weinheim 2000.

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Selbst wenn solche Gemeinplätze nicht in jedem Falle stimmen, haben sie ihre historische Wirkung nicht verfehlt. Einige Katholiken haben sich diese Thesen zu Herzen genommen, wie z. B. der italienische Ökonom, Historiker und Politiker Amintore Fanfani. So hat Fanfani einmal geschrieben, Bezug auf die katholische Soziallehre nehmend, dass es „eine unüberbrückbare Kluft zwischen der katholischen und kapitalistischen Lebensvorstellung“ gebe. 10 Mit seiner skeptischen Haltung gegenüber dem Kapitalismus wurde Fanfani, ein Gründer der Democrazia Christiana, auch ein Verfechter linker Positionen innerhalb der italienischen und europäischen Christdemokratie. In den sechziger Jahren hatte er als Vordenker der italienischen christdemokratischen „Öffnung nach Links“, die Zusammenarbeit mit sozialistischen Parteien angestrebt, um eine einseitige Fixierung auf bürgerliche und konservative Koalitionspartner zu vermeiden. Fanfanis Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten stand in direkter Verbindung zu seinen Ansichten über die Beziehung von Katholizismus und sozialer Solidarität und deutet auch auf die Distanz vieler sozial gesinnter Katholiken gegenüber Marktwirtschaft und Kapitalismus hin. Die deutsche christliche Demokratie versuchte, die angebliche Kluft mit dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ zu überbrücken, welche zugleich die Freiheit des Marktes und die Würde des Menschen garantieren sollte. Nicht nur Erhard selbst, sondern auch unionsnahe Lobbygruppen wie „Die Waage“ argumentierten, dass die soziale Marktwirtschaft die beste Lösung war, um das Gleichgewicht zwischen Wachstum und Solidarität zu gewährleisten. Von Anfang an aber war die soziale Marktwirtschaft gleichzeitig eine rhetorische Tour de Force und obendrein ein ziemlich verschwommener Begriff, der nur nach heftigem internem Ringen (Stichwort: Ahlener Programm) innerhalb der CDU durchgesetzt werden konnte.11 Ob das „Soziale“ oder das „Marktwirtschaftliche“ tonangebend war, hing oft vom Sprecher ab und ist noch heute unter Politikern und Historikern umstritten. Erhard (als Protestant und Wirtschaftswissenschaftler) glaubte, dass ein funktionierender Markt der beste Garant für soziale Sicherheit sei, da freie Märkte automatisch Wachstum und „Wohlstand für alle“ herstellen würden. Er blickte daher immer misstrauisch auf sozialpolitische Experimente, wie z. B. die dynamische Rente, die politische vor marktwirtschaftliche Prioritäten stellten.12 Auf der anderen Seite gab es viele Katholiken, insbesondere im Gewerkschafts-

 10 Amintore Fanfani, Catholicism, Protestantism, and Capitalism. New York 1935, 143. 11 Vgl. Mark E. Spicka, Selling the Economic Miracle: Economic Reconstruction and Politics in West Germany, 1949-1957. New York 2007; vgl. auch Mitchell, Materialism and Secularism (wie Anm. 5); und Ute Schmidt, Zentrum oder CDU: Politischer Katholizismus zwischen Tradition und Anpassung. Opladen 1987. 12 Vgl. Alfred Mierzejewski, Ludwig Erhard: Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin 2006, der den Liberalismus Erhards und seine Konflikte mit sozialkatholischem Denken innerhalb der CDU/CSU besonders stark betont.

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flügel der CDU, die stärkere soziale Akzente setzen wollten. Manchmal belächelt als „Herz-Jesu Sozialisten“, waren diese Ansichten auch ein Bestandteil der Seele der CDU. Diese Strömungen in Einklang zu bringen, war eine schwierige Aufgabe für Adenauer, der selbst die komplizierte Zusammensetzung dieser Ideen verkörperte. Adenauer war bei weitem kein Sozialist, auch nicht vom HerzJesu Format. Wie sein Biograph Hans-Peter Schwarz meint, war Adenauer ein „self-made-man“, der dank seiner ersten Ehe und seiner politischen Karriere in Köln zu Wohlstand gekommen war. Ganz und gar bürgerlich in seinen Ansichten, war er im Herzen eher der Marktwirtschaft zugeneigt.13 Für Adenauer gab es keine Kluft zwischen Kapitalismus und Christentum, weil er „als Hauptsache bei den christlichen Grundsätzen […] die persönliche Freiheit des einzelnen Menschen“ ansah. 14 Doch war seine Mittelschichten-Politik auch von einem Glauben geprägt, der der Wirtschaft Grenzen setzte. Vor dem CDU-Bundesvorstand zitierte er eine in seiner Jugend gehörte Predigt, wonach „die Grundlage für ein gutes christliches Leben […] weder die Armut noch der Reichtum, sondern ein mäßiger Besitz“ sei. 15 Adenauer war kein gelernter Volkswirt, und er war auch zu sehr Realpolitiker, um zu glauben, dass man immer dem Markt freien Lauf lassen sollte. Daher hatte er keine Hemmungen, wenn es ihm geboten schien, politisch in die Wirtschaft einzugreifen. Folglich entstanden viele Streitereien mit Erhard – über die dynamische Rente, über die Aufwertung der D-Mark sowie über das Kartellgesetz –, in denen der CDU-Vorsitzende politische Interessen der reinen Wirtschaftslehre vorzog. In den fünfziger Jahren war es dank der florierenden Konjunktur und der aggressiven antiklerikalen Haltung der Sozialisten möglich, Differenzen zwischen den verschiedenen Flügeln der Christdemokratie zu überbrücken, ohne fürchten zu müssen, betont christliche oder betont liberale Wähler zu verlieren. Diese Situation änderte sich aber schlagartig in den sechziger Jahren. Christdemokraten auf der ganzen Welt, insbesondere in Deutschland, fürchteten nun die Säkularisierung der Gesellschaft, welche traditionelle Wählermilieus aufzulösen drohte. Zudem befürchteten sie die Verwischung deutlicher Unterschiedsmerkmale zwischen den Parteien, welche Übertritte christlicher Wähler zu den Sozialdemokraten ermöglichen konnte. Schon im Januar 1958, als sich die Union noch im Glanze ihres überwältigenden Wahlsieges vom September des Vorjahrs sonnte, befasste sich der CDUBundesvorstand mit der Frage, wie man auf eine Tagung der katholischen Akademie in Bayern reagieren sollte, auf der Vertreter der Kirchen mit Sozi-

 13 Hans-Peter Schwarz, Meister der Nuancen, in: Die Politische Meinung 373, 2000, 121 f. 14 Adenauer im Bundesvorstand, 17.1.1958. Günter Buchstab (Bearb.), Adenauer: „…um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957-1961. Düsseldorf 1994, 78. 15 Ebd., 86.

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aldemokraten über soziale Fragen beraten hatten. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (ein Protestant, der sich oft zur kirchlichen Soziallehre äußerte) sprach für viele, als er sagte, dass er nicht an eine echte Bekehrung der SPD zu Christentum oder christlicher Politik glaubte. Jedoch hatten Gerstenmaier und seine Kollegen Angst, dass die spürbaren Versuche der SPD, sich von marxistischer Religionsfeindlichkeit zu distanzieren und ihre soziale Politik in einer für viele Christen attraktiven Form zu präsentieren, eine echte Herausforderung werden würde. Deshalb, so die Befürchtung, könne eine Union, die zu sehr auf Wirtschaftpolitik baue, soziale Christen als Wähler verlieren.16 Die Verkörperung dieser Gefahr wurde der CDU Politiker Peter Nellen, der im Jahr 1960 aus Kritik an der Adenauer’schen Politik von der CDU zur SPD übertrat. Der aus Münster stammende Nellen wurde zwar von dem katholischen Gewerkschaftler und Mitglied des CDU-Bundesvorstands Theo Blank als „Wiedertäufer“ belächelt, nachdem jener die CDU-Mehrheit als Gefahr für die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik angeprangert hatte.17 Jedoch beobachtete die CDU-Führung mit wachsender Sorge „eine wesentlich stärkere Aufweichung des Linkskatholizismus gegenüber der SPD […]. Damit sind Tore geöffnet für weitere Teile der katholischen Bevölkerung, die im geistigen Bereich nicht einflusslos sind.“18 Nellen, der mit einem Plädoyer für die Neutralisierung Deutschlands in den Debatten über den sog. „Rapacki Plan“ von 1958 auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde langsam zum Kritiker der angeblich einseitigen Unterstützung der CDU durch den katholischen Bischof in Münster.19 Er begrüßte die Wahl Johannes XXIII., da er hoffte, den neuen Papst für eine veränderte Außenpolitik gewinnen zu können.20 Er begründete seinen Übertritt zur SPD mit dem Verweis auf das Godesberger Programm, das ihm eine zeitgemäße Antwort auf die sozialpolitischen Fragen der Zeit schien. Noch gefährlicher für die Union aber war, dass Nellen versuchte, seinen Wechsel auch religiös zu begründen, indem er argumentierte: „Als gläubiger katholischer Christ halte ich das unbezweifelbar anständige und klare Angebot der Partnerschaft von SPD und Kirche für eine bessere und sauberere Grundlage konstruktiver

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Vgl. das folgende Gespräch im Bundesvorstand vom 17.1.1958. Ebd., 73-96. Blank und Adenauer im Bundesvorstand, 25.11.1959. Ebd., 577. Josef Hermann Dufhues im Bundesvorstand, 29.1.1960. Ebd., 599. Krone bemühte sich ständig, auf Nellen aufzupassen und ihn irgendwie unter Kontrolle zu halten. Vgl. Heinrich Krone, Tagebücher. Erster Band: 1945-1961, bearb. v. Hans-Otto-Kleinmann. Düsseldorf 1995, 284 f., 290 (Einträge vom 20.1., 21.1. und 15.2.1958). 20 Ebd., 350 (Eintrag vom 13.1.1959). Nellen war in Rom, um den Papst für eine anti-nukleare Politik zu gewinnen. Vgl. auch ebd., 388 (Eintrag vom 7.12.1959), wo Krone schreibt, er habe Nellen nach dessen Rede gegen Atomwaffen gesagt, er solle „zu den Sozialdemokraten gehen“.

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Zusammenarbeit gesellschaftlicher Mächte als das verschwommene und unklare Verhältnis der heutigen CDU zu den Kirchen.“21 Die Frage, wie christdemokratische Politiker mit den Ansichten von linken Christen wie Nellen umgehen sollten, blieb aber offen, insbesondere da die Christdemokraten gleichzeitig auf Distanz zu den Liberalen bedacht waren. Nach der Bundestagswahl 1961 bekam folglich der junge und ehrgeizige katholische CDU-Mann Rainer Barzel vom CDU-Bundesvorstand den Auftrag, eine Studie über „das geistige und gesellschaftliche Bild der Gegenwart und die künftigen Aufgaben der CDU“ zu verfassen. Nach Gesprächen mit vielen führenden Persönlichkeiten der Politik, der Publizistik und beider Kirchen, präsentierte Barzel seinen Bericht im Frühjahr 1962. Doch schlug der Versuch fehl. Barzel, der die „Politik unter Gottes Wort und Gebot“ stellte, plädierte dafür, dass, wenn die Union „eine Zukunft haben“ wolle, diese ein festes „geistiges Band“ brauche und das „C“ hervorzuheben müsse. 22 Politiker, die eine Liberalisierung der Union fürchteten, hörten solche Worte gerne, jedoch gab es erhebliche Zweifel, ob man mit dergleichen Aussagen auch Wahlen gewinnen konnte. Adenauer selbst warnte Barzel in einem Privatgespräch sowie vor dem Bundesvorstand, dass seine Studie „zu kirchlich“ sei und riet – angesichts der Liberalisierung der Gesellschaft –, nichts zu tun, „was die Liberalen beider Konfessionen abhalten könnte, für uns zu stimmen“, da die Union ohne liberale Stimmen keine Mehrheit in Deutschland bekommen könne. 23 Letzten Endes beschloss der Bundesvorstand, Barzels Bericht nicht als Grundlage eines neuen Parteiprogramms zu betrachten, sondern nur als seine eigene Meinung. Somit blieb die Frage nach der Bedeutung des „C“ nach wie vor ungelöst. Dass in den sechziger Jahren die katholische Kirche selbst in eine Reformära eintrat, bereitete den Christdemokraten zusätzliche Schwierigkeiten. Durch seine berühmten Rundschreiben „Mater et Magistra“ und „Pacem in Terris“ sowie durch das von ihm eingeleitete Zweite Vatikanische Konzil

 21 Nellen am 7.11.1960. Buchstab (Bearb.), Protokolle 1957-1961 (wie Anm. 14), 599 mit FN 50; ferner Thomas Gauly, Kirche und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1976. Bonn 1990, 191-199. Vgl. auch Krone, Tagebücher I (wie Anm. 19), 456 (Eintrag vom 3.11.1960). 22 Vgl. Rainer Barzel, Im Streit und umstritten: Anmerkungen zu Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und den Ostverträgen. Frankfurt/Main 1986, bes. 29. Die Aussprache im CDU Bundesvorstand am 10.5.1962 bei Günter Buchstab (Bearb.), Adenauer: „Stetigkeit in der Politik“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 19611965. Düsseldorf 1998, 239-258, dort die Zitate Barzel 242. 23 Vermerk Adenauers über ein Gespräch mit Barzel am 11.4.1962 (datiert vom 13.4.). Konrad Adenauer, Briefe 1961-1963 (Rhöndorfer Ausgabe), bearb. v. Hans-Peter Mensing. Paderborn 2006, 122 f. Vgl. auch Krone, Tagebücher II (wie Anm. 2), 55 (Eintrag vom 7.4.1962); ferner Adenauer im CDU-Bundesvorstand, 10.5. und 3.12.1962, Buchstab (Bearb.), Protokolle 1961-1965 (wie Anm. 22), 250, 365.

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beunruhigte Papst Johannes XXIII. viele Konservative zutiefst. Adenauer bezeichnete den Papst im Hinblick auf die neue Ost- und Friedenspolitik des Vatikans sogar als „Katastrophe“. 24 Als Johannes den Schwiegersohn von Nikita Chruschtschow, Alexei Adschubej, in Rom empfing, sagte Adenauer dem Bundesvorstand: „Wenn der Heilige Geist so weit von Rom weggehen sollte, dass auch noch Chruschtschow da empfangen wird, dann wirkt sich das naturgemäß auch bei uns aus.“ Aus Adenauers Sicht spielte die Aufweichung des Vatikans der neuen SPD in die Hände, und er stellte fest: „Die SPD hat buchstäblich alles gestohlen, was bei uns zu stehlen war […]. Und jetzt gehen sie an den Papst, und den holen sie uns auch noch weg.“25 Adenauers Alptraum – dass eine nach Links geöffnete Kirche eine Partnerschaft mit einer nach der Mitte strebenden SPD eingehen würde – war Nellens Traum. 26 Nellen war auch dabei, als die SPD ihren größten kirchenpolitischen Sieg errang, nämlich eine Audienz bei Papst Paul VI. im März 1964. Krone, der den Besuch mit wachsender Sorge verfolgte und mit Kirchenvertretern immer wieder besprach, sah darin mehr als ein tagespolitisches Ereignis. Wenn selbst der Vatikan eine neutrale Haltung gegenüber christdemokratischen und sozialistischen Parteien einnehmen konnte, sah Krone die raison d’être der Christdemokratie ins Wanken kommen. Seinem Tagebuch vertraute er düstere Gedanken an: „Und der Vatikan? Liegt dem noch an christlichen Parteien? Oder nur an Christen in allen Parteien? […] Will die Kirche auf das, was wir unter christlicher Politik verstanden, verzichten? […] Wie wäre die deutsche Geschichte seit 1945 verlaufen, wenn wir nicht die christlich-demokratische Union gehabt hätten? Andere Kräfte hätten die Politik gemacht. Auch in Rom sollte man das überdenken.“27 Trotz solcher Gedanken waren aber auch konservative Katholiken wie Krone und Adenauer zu dieser Zeit bereit, eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten zu schmieden, um den Aufstieg der Liberalen zu stoppen – sozusagen, um die eine Form des Materialismus mit einer anderen zu vertreiben. Diese Entscheidung war zeitgemäß. In einer liberalen Ära konnte man nicht nur auf liberal-konservative Werte vertrauen, und als die Wirtschaft stagnierte, bestand unter katholischen Konservativen auch die Bereitschaft, die Marktwirtschaft teilweise zu modifizieren. Wohlhabende Wertkonservati-

 24 Horst Osterheld, „Ich gehe nicht leichten Herzens…“. Adenauers letzte Kanzlerjahre: Ein dokumentarischer Bericht. Mainz 1986, 138, 218, 244. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer: Der Staatsmann, 1952-1967. Stuttgart 1991, 605-609, 856857; Krone, Tagebücher I (wie Anm. 19), 428 (Eintrag vom 19.6.1960); HansJakob Stehle, Die Ostpolitik des Vatikans, 1917-1975. München 1975, 316-401; Thomas Cahill, Pope John XXIII. New York 2002, 168-215. 25 Adenauer im CDU-Bundesvorstand, 14.3.1963. Buchstab (Bearb.), Protokolle 1961-1965 (wie Anm. 22), 409 f. 26 Nellen suchte Gespräche mit Kardinal Bea, u. a. um die „linkskatholische Position“ zu vertreten. Krone, Tagebücher II (wie Anm. 2), 60 (Eintrag vom 21.4.1962). 27 Ebd., 183, 271-273, 374 (Einträge vom 13.4.1963, 6./7./8.3.1964 und 19.5.1965).

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ve wie Theodor zu Guttenberg, dem vor den sozialen Folgen der Liberalisierung graute, bemühten sich unaufhaltsam um eine Große Koalition. Ein Bündnis mit der SPD würde die Freien Demokraten aus der Regierung entfernen und auch die Möglichkeit schaffen, außen-, verfassungs- und sozialpolitische Reformen in konservativere Bahnen zu lenken. Guttenberg war überdies bemüht, ein Vertrauensverhältnis mit dem „Bürgerschreck“ Herbert Wehner (der übrigens auch mit Krone per Du war) herzustellen. 28 Selbst Franz Josef Strauß profilierte sich als Finanzminister der ersten Großen Koalition als Vordenker einer sozialdemokratisch konnotierten keynesianischen Staatslenkung, und es gab nicht wenige, die hofften, durch diese Koalition die Union erneuern und zu neuen Erfolgen führen zu können. Diese Hoffnungen gingen jedoch nicht in Erfüllung. Die Union scheiterte 1969 knapp in den Bundestagswahlen und blieb für die nächsten dreizehn Jahre in der Opposition. Gegenüber einer sozial-liberalen Regierung bewegte sich die Union daraufhin zuerst deutlich nach Rechts. Die siebziger Jahre waren eine Zeit der sozialen Reformen und der Kapitalismuskritik, die jedoch meist von sozialliberaler Seite kamen. In der Opposition spielte die Union demgegenüber des Öfteren die Rolle des Verteidigers der Marktwirtschaft, was soziale Stimmen innerhalb der Christdemokratie einschränkte.29 Nach der „Wende“ von 1982 blieben derartige Stimmen in der Union gedämpft, wenn auch ein prominenter Herz-Jesu Sozialist, Norbert Blüm, als einziger Minister die ganzen 16 Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls hindurch Kabinettsmitglied blieb. Seine Stimme war zwar gedämpft, aber nicht völlig verstummt, wie man 1994 in den Debatten um die neue Pflegeversicherung sah. Weder der marktwirtschaftlich-liberale noch der soziale Flügel konnte endgültig siegen, und das Tauziehen innerhalb der Union ging weiter. Auch für die Kirche war es nicht einfach, klare sozialpolitische Positionen zu beziehen. Die Nachfolger Johannes’ XXIII. haben sich weiterhin kritisch mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Paradoxerweise sind jedoch diejenigen Päpste, die am härtesten mit Individualismus und Materialismus ins Gericht gingen, auch die in theologischen und kirchenpolitischen Fragen konservativsten – Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Das ist insoweit verständlich, da sowohl Johannes Paul als auch Benedikt durch ihre Kapitalismuskritik Vorbehalte gegen die angeblich materialistische und „gottlose“ Gesellschaft des Westens geltend machen wollten. In dieser Hinsicht standen die beiden Päpste ganz in der Tradition von Pius XI. Doch hat ihre konservative Haltung säkulare Politiker von Links wie Rechts mehr verwirrt als angezogen.

 28 Ulrich Wirz, Karl Theodor von und zu Guttenberg und das Zustandekommen der großen Koalition. Grub am Forst 1997. 29 Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, 296-309.

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Johannes Paul II. verdeutlichte seine Kritik an der Marktwirtschaft in Rundschreiben wie „Centesimus Annis“ – herausgegeben zum hundertsten Jahrestag von „Rerum Novarum“ am 1. Mai 1991. Er warnte darin vor einem triumphalistischen Geist im Westen nach dem Ende des Kalten Krieges und betonte seine Ansicht, dass ein Kapitalismus ohne Respekt für die Würde des Einzelnen in der Gemeinschaft genauso schädlich sei wie Marxismus.30 Benedikt XVI. hat diese Gedanken in seinem Rundschreiben „Caritas in Veritate“ vom 29. Juni 2009 erneut aufgegriffen. Mit Sätzen wie: „Der Mensch ist nicht etwa ein verlorenes Atom in einem Zufalls-Universum“, und seinem Ruf nach einem „echten ganzheitlichen Humanismus“ erinnerte Benedikt an die Kapitalismuskritik seiner Vorgänger.31 Papst Benedikt ist auch nicht der Einzige in der heutigen katholischen Kirche, der sich mit dem Problem des Kapitalismus beschäftigt. Vor kurzem veröffentlichte der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx ein „Plädoyer für den Menschen“, das bewusst den provokanten Titel „Das Kapital“ trägt und mit einem Brief an seinen toten „Namensvetter“ Karl beginnt. Obwohl er den Atheismus des Marxismus kritisiert, verwirft (der lebendige) Marx auch den „vulgärliberalen Satz, dass dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen schon dann hinreichend gedient sei, wenn jeder unbehelligt vom Staat seinen eigenen Vorteil verfolgen könne.“ Er versucht, angesichts der sozialen Probleme der Gegenwart dem Publikum die katholische Soziallehre wieder ins Gedächtnis zu rufen und mit dem Ordoliberalismus zu harmonisieren. Er stellt die These auf, dass Freiheit Grenzen braucht, „und solche Grenzen werden eben unter anderem von der Menschenwürde und dem Gemeinwohl markiert.“32 Das Zitieren solcher Texte sollte nicht als einfache Billigung gesehen werden, sondern als Beleg für eine stetige Tendenz der katholischen Kirche, Liberalismus und Marktwirtschaft skeptisch zu betrachten. Eben diese Skepsis zeigt aber auch, wie ambivalent der Platz der Kirche in den politischen Debatten der Gegenwart bleibt. Westeuropäische und amerikanische Konservative loben oftmals die Standhaftigkeit der beiden letzten Päpste in doktrinären Fragen, insbesondere wenn sie sich mit linken politischen Kräften innerhalb der Kirche auseinandersetzen.33 Doch wenn die Päpste oder andere Kirchenführer ihren Wertkonservatismus kapitalismuskritisch vortragen, werden

 30 Johannes Paul II., Centesiumus annus, online unter http://www.vatican.va/ edocs/DEU0071/_INDEX.HTM. 31 Benedikt XVI., Caritas in Veritate, §§ 29, 67 und 78, online unter http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_200906 29_caritas-in-veritate_ge.html. 32 Reinhard Marx, Das Kapital: Plädoyer für den Menschen. München 2008, 54 und passim. 33 Für eine kurze aber einleuchtende Besprechung der frühen Kontroversen über Johannes Paul II. vgl. H. Stuart Hughes, Sophisticated Rebels: The Political Culture of European Dissent, 1968-1987. Cambridge/MA 1988, 67-79.

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viele konservative Politiker, besonders in den USA, unruhig und fragen sogar, ob die Kirche sich nicht besser aus sozialpolitischen Debatten heraushalten solle. Ein Artikel in der von dem katholischen konservativen Publizisten William F. Buckley, Jr. herausgegebenen Zeitschrift „National Review“ hat es in den sechziger Jahren zugespitzt so formuliert: „Mater Si, Magistra No.“ Diskutanten wie Buckley monierten, dass Johannes XXIII. die Errungenschaften des Kapitalismus und die konkreten Gefahren des Kommunismus ignoriere, und fürchteten, dass die päpstlichen sozialpolitischen Ansätze ohne eine klare Grenzziehung zwischen der freien und der unfreien Welt auch die Grenzen zwischen christlicher und sozialistischer Politik verwischen würden. Wenn der Papst auf solche Gedanken baue, blieben seine Schriften „trivial.“34 Noch stärkere Worte fand Buckley für Paul VI., dessen Enzyklika „Populorum Progressio“ er als „besonders unglücklich [particularly unfortunate]“ empfand, wegen ihrer „Naivität in wirtschaftlichen und säkularen Sachen.“35 Selbst Benedikt XVI. musste nach der Veröffentlichung von „Caritas in Veritate“ von konservativer Seite Kritik für seine Bemerkungen über soziale Gerechtigkeit einstecken. Konservative versuchten, seine kapitalismuskritischen Aussagen herunter zu spielen, um ein vertrautes Bild von der Kirche zu erhalten. 36 Offensichtlich wollen sich konservative Katholiken allenfalls in ganz bestimmten weltlichen Angelegenheiten auf kirchliche Autorität berufen: wenn es um Fragen des Lebenswandels geht, und selbst dort nur, wenn es gilt, die angeblichen Gefahren der Homosexualität oder des Feminismus zu bekämpfen. Wenn es ums Geld geht, sind mahnende Worte der Hirten weniger willkommen. Gleichzeitig aber bekommt ein Papst oder die Kirche nur verhaltenes Lob von Links für ihre Kapitalismuskritik. Viele linke Kommentatoren können einfach nichts anfangen mit einer Institution, die sie so lange mit Skepsis betrachtet haben. Die Haltung der Kirche in Fragen des Lebenswandels, die Konservative gerne aufgreifen, hat derart tiefe Gräben zwischen linken Reformstimmen und der Amtskirche aufgerissen, dass sie sich auch in anderen Fragen oftmals kaum annähern können. So bleibt kirchliche Kapitalismuskritik, trotz ihrer Konsequenz, politisch heimatlos, weil sie sich nicht so einfach

 34 Zu „Mater et Magistra“ siehe Klüber, Individuum und Gemeinschaft (wie Anm. 8), 143-190; zum Hintergrund vgl. William F. Buckley, Jr., Rumbles Left and Right. New York 1964, 126 f. Buckley behauptete, er habe das kirchliche Lehramt nie in Zweifel ziehen wollen, selbst wenn er in vielen Fällen die Weisheit der jeweiligen Lehren bezweifelte. 35 William F. Buckley, Jr., Papal Gaucherie, in: ders., The Governor Listeth: A Book of inspired Political Revelations. New York 1970, 257-260. 36 Vgl. George Weigel, Caritas in Veritate in Gold and Red, in: National Review Online, 9.7.2009, online unter http://article.nationalreview.com/399362/icaritas-inveritatei-in-gold-and-red/george-weigel. Vgl. auch David Gibson, The Pope is a Liberal, Who Knew?, in: Politics Daily, 7.7.2009, online unter http://www.politicsdaily.com/2009/07/07/the-pope-is-a-liberal-who-knew/.

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in die politische Debatte einfügen lässt. Konservative wollen sie ignorieren, und Linke nehmen sie erst gar nicht wahr. Für die Union bleibt die Frage nach einer klaren christdemokratischen Haltung gegenüber Marktwirtschaft und Kapitalismus immer noch kontrovers. Der gescheiterte Versuch, 2005 mit einer neoliberalen Botschaft zusammen mit der FDP an die Macht zu kommen, hat zu einer zweiten Großen Koalition mit der SPD geführt. In dieser Konstellation hat Bundeskanzlerin Angela Merkel einen betont sozialen Kurs verfolgt und musste für die angebliche „Sozialdemokratisierung der CDU“ immer wieder Kritik einstecken. Verfechter der Marktwirtschaft, wie der ehemalige Fraktionschef Friedrich Merz, haben solche Versuche, der SPD sozialpolitisch stand zu halten, sehr kritisch begleitet. Merz wurde dafür aus der CDU-Führung gedrängt, doch revanchierte er sich mit einer Streitschrift, deren Titel „Mehr Kapitalismus wagen“ seine Ansichten klar erkennen ließ.37 Selbst nach dem knappen Sieg von Schwarz-Gelb im Jahr 2009 bleibt die Kritik bestehen, dass der Union klare Konzepte in der Wirtschaftspolitik und in anderen Bereichen fehlen.38 Oft wird dies als Kritik an der Person und am Führungsstil von Merkel formuliert, doch liegt das Problem tiefer. Für eine christdemokratische Partei, die den Anspruch erhebt, eine Volkspartei der Mitte zu sein, und die sich auch auf die Traditionen der kirchlichen Soziallehre beruft, wird es nie einfach sein, klar zu sagen wie viel Marktwirtschaft die soziale Marktwirtschaft ertragen kann oder soll.39 Auch die Sozialdemokraten haben es heute schwer, eine klare Antwort auf diese Frage zu finden.40 Was die Union letzten Endes zu einem wichtigen Beispiel für den schwierigen Umgang mit religiöser Kapitalismuskritik macht, ist die verblüffende Tatsache, dass diese manchmal recht widersprüchliche Bewegung trotzdem politisch sehr erfolgreich gewesen ist. Von den 60 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte hat die Union mehr als 40 Jahre lang den Kanzler bzw. die Kanzlerin gestellt. Dabei hat die Union durch ihre inneren Widersprüche gleichermaßen politisch profitiert wie gelitten, was eine restlose Bereinigung der Widersprüche behindert. Man sollte sich daher auch nicht wundern, dass sich ein seit mehr als fünfzig Jahren bestehendes Rätsel heute immer noch nicht lösen lässt. Es wäre einfach zu sagen, die Christdemokratie hat in der Suche nach politischem Erfolg ihre Seele verloren. Jedoch schwerer wiegt die Erkenntnis, dass in Sachen Marktwirtschaft ihre Seele von Anfang an tief

 37 Friedrich Merz, Mehr Kapitalismus wagen: Wege zu einer gerechten Gesellschaft. München 2008. 38 Philipp Wittrock, Merkel will ihre Kritiker einlullen, in: Spiegel Online, 12.1.2010, online unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,671543,00.html. 39 Vgl. Angela Merkel, Primat der Politik über die Finanzmärkte, 11.3.2010, online unter http://www.cdu.de/archiv/2370_30295.htm. 40 Franz Walter, Sozialdesolate Partei Deutschlands, in: Spiegel Online, 11.3.2010, online unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,682832,00.html.

W OHLSTAND

ODER

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gespalten war, ist und bleibt. Die Ursachen und Folgen dieser inneren Spaltung werden Politiker und Akademiker noch lange beschäftigen.

„Diktatur des Lebensstandards“ Wirtschaftliche Prosperität, Massenkonsum und Demokratiebegründungen in liberalen und konservativen Gesellschaftsdeutungen der alten Bundesrepublik F RIEDRICH K IESSLING

Gemäß einer verbreiteten Interpretation ist es vor allem dem wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken, dass das westdeutsche Experiment mit der Demokratie gelang. Das Wirtschaftswunder, so heißt es, habe die Deutschen mit der neuen Ordnung versöhnt und dem jungen Staat nach und nach jene Legitimation verschafft, die aus einem zu Beginn keineswegs von allen geliebten Gebilde am Ende ein stabiles und von seinen Bürgern akzeptiertes Gemeinwesen machte.1 Dieser Sichtweise ist kaum zu widersprechen. Unter den die bundesdeutsche Identität prägenden Grundmythen befinden sich bis heute vor allem solche, die sich auf den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg beziehen lassen. Das gilt für die „Trümmerfrauen“ als Symbol für den materiellen und moralischen Wiederaufbau ebenso wie für den VWKäfer, die „soziale Marktwirtschaft“ oder das „Wirtschaftswunder“ selbst. Auf die Frage, worauf sie stolz seien, bejahten im Jahr 1991 82 % der Westdeutschen die Antwort „Wiederaufbau nach dem Krieg“. Es war der höchste Wert. „Soziale Sicherheit“, „Die Leistungen der deutschen Wirtschaft“ und „Die deutsche Industrie“ fanden sich ebenfalls auf den vorderen Plätzen.2 Bei einer ähnlichen Frage zehn Jahre zuvor waren „Fleiß und Strebsamkeit“ so-

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Vgl. z.B. die überblicksartige Darstellung dieses Zusammenhangs bei Edgar Wolfrum, Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 10., neu bearbeitete Auflage, Bd. 23). Stuttgart 2005, 115 f. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 9: 1984-1992. München u.a. 1993, 395.

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wie „der Wohlstand, den wir erreicht haben“, unter den vier häufigsten Antworten.3 Ist an dem Befund, dass die Zustimmung zum bundesdeutschen Staat nicht zuletzt auf wirtschaftlichem Erfolg gründete, also grundsätzlich nicht zu zweifeln, soll ihm doch für eine Gruppe widersprochen werden: Für viele Intellektuelle erhöhte die einsetzende ökonomische Prosperität keineswegs die Zustimmung zum neuen Staat. Ja mehr noch, manchen von ihnen war das Wirtschaftswunder mitsamt seinen Auswirkungen schlicht ein Grauen. Für linke, für neomarxistische oder nachmarxistische Autoren mag das wenig überraschen, vollzog sich der wirtschaftliche Aufschwung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten doch zunächst innerhalb einer die marktwirtschaftlichen Elemente betonenden Wirtschaftsordnung. 4 Unter diesen Umständen wurde für viele von ihnen das Schlagwort der „sozialen Marktwirtschaft“ zum verhassten konservativen Schwindelbegriff.5 Aber auch für zahlreiche liberale und konservative Intellektuelle war die einsetzende wirtschaftliche Prosperität bis in die späten 1960er Jahre hinein keineswegs die Lösung für die Bundesrepublik, sondern viel eher Teil des Problems. Um diese Schwierigkeiten liberaler und konservativer Intellektueller mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu charakterisieren, möchte ich in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werde ich die Wahrnehmung des in den 50er Jahren einsetzenden ökonomischen Aufschwungs im Kontext der allgemeinen liberalen und konservativen Ideenwelten skizzieren. In einem zweiten Schritt greife ich dann einen Aspekt heraus, der angesichts der eingangs erwähnten Deutung der bundesdeutschen Geschichte besondere Aufmerksamkeit beanspruchen darf. Es ist der Zusammenhang von zeitgenössischen Bewertungen von wirtschaftlichem Erfolg und Demokratie. Die Begegnung vieler bundesdeutscher Intellektueller mit dem Wirtschaftswunder war keine glückliche. Gleichzeitig fanden dieselben Autoren aber sehr wohl Wege in die neu entstehende politische Ordnung. Entgegen der in der historischen Rückschau gewonnenen Analyse blieben ökonomischer Erfolg und Demokratie in den hier vorgestellten Konzepten häufig von einander geschieden. Dies lag, so werde ich argumentieren, nicht zuletzt an den, den jeweiligen Ordnungsvorstellungen zugrunde liegenden Werthaltungen, die zwar Anschlüsse an die bürgerlich-pluralistische Demokratie zuließen, in die aber bestimmte Elemen-

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Elisabeth Noelle-Neumann/Edgar Piel (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 8: 1978-1983. München 1983, 185. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Bonn 2005, z.B. 190 ff. Zur frühen Begriffsgeschichte der „sozialen Marktwirtschaft“: Martin Wengeler, „Der alte Streit ‚hier Marktwirtschaft, dort Planwirtschaft‘ ist vorbei“. Ein Rückblick auf die sprachlichen Aspekte wirtschaftlicher Diskussionen, in: Georg Stölzel/Martin Wengeler (Hrsg.), Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York 1995, 35-91.

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te des Wirtschaftswunders nur schlecht zu integrieren waren. Vor allem zur modernen Konsumwelt ließen sich offenbar nur schwer Brücken bauen. Die beiden weiterführenden Fragen, welche Folgen diese Trennung von Wohlstand und politischer Ordnung für die Demokratiekonzeptionen der Bundesrepublik hatte und ob dabei von einer nationalen Besonderheit zu sprechen ist, seien am Ende zumindest angedeutet. Bei meinen Ausführungen werde ich mich auf wenige Intellektuelle konzentrieren. Im konservativen Lager sind dies Autoren wie Arnold Gehlen, Helmut Schelsky oder Ernst Forsthoff, auf der liberalen Seite Intellektuelle wie Karl Jaspers, Alexander Mitscherlich oder Dolf Sternberger, und damit solche, die weniger für den Wirtschaftsliberalismus als für das Konzept einer liberalen Bürgernation6 stehen. In beiden Fällen kann damit natürlich nicht das ganze Spektrum der Positionen abgedeckt werden. Als führende Vertreter der jeweiligen intellektuellen Richtungen lassen die Genannten aber doch symptomatische Einblicke in die entsprechenden Ideenwelten zu.

I. L IBERALE UND KONSERVATIVE G ESELLSCHAFTSVORSTELLUNGEN IN DER FRÜHEN B UNDESREPUBLIK UND DAS W IRTSCHAFTSWUNDER 1956 erschien Günther Anders’ „Die Antiquiertheit des Menschen“. Der 1902 geborene, 1933 zuerst nach Frankreich und dann in die USA emigrierte Anders schrieb darin über die Technik und ihre Auswirkungen, über die zunehmende „Dehumanisierung“ und immer wieder über die apokalyptische Bedrohung durch die Atombombe.7 Eines der wichtigsten Themen waren darüber hinaus die modernen Massenmedien und deren Konsum. Zum Symptom machte Anders eines der Symbole für die neue Medien- und Konsumwelt, den Fernseher. Schon vor Jahrzehnten, so Anders in einem schönen Bild, habe man beobachten können, „daß das soziale Symptommöbel der Familie: der massive, in der Mitte des Zimmers stehende, die Familien um sich versammelnde Wohnzimmertisch, seine Gravitationskraft einzubüßen begann“. Nun habe er „im Fernsehapparat, einen echten Nachfolger gefunden“, nun sei er „durch ein Möbel abgelöst, dessen soziale Symbol- und Überzeugungskraft sich mit der des Tisches messen darf.“ Doch die Kosten dieser Entwicklung seien hoch. Die Ersetzung des Wohnzimmertisches durch den Fernseher bedeute keineswegs, „daß das TV nun zum Zentrum der Familie geworden wäre. Im Gegenteil: was der Apparat abbildet und inkarniert, ist gerade deren

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U.a. zur Konjunktur des „Bürger“-Konzepts in der Historiographie zur alten Bundesrepublik: Friedrich Kießling, Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit? Zu einigen jüngeren Arbeiten der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik, in: Historische Zeitschrift 287, 2008, 363-389. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956.

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Dezentralisierung, deren Ex-zentrik“. Der Fernseher trenne die Menschen dabei nicht nur voneinander, sondern von der Wirklichkeit insgesamt, die nur noch indirekt erfahren werde. Der Fernseher wird zum „negative[n] Familientisch“ von „Solisten des Massenkonsums“: „Was vor sich geht, ist allein, daß die Familienmitglieder gleichzeitig, im besten Falle zusammen, niemals aber gemeinsam dem Fluchtpunkt entgegen in ein Reich der Unwirklichkeit ausfliegen oder in eine Welt, die sie eigentlich (da auch sie selbst ja nicht wirklich an ihr teilnehmen) mit niemanden teilen; oder wenn teilen, so nur mit all jenen Millionen von ‚Solisten des Massenkonsums‘, die ihnen gleich und die gleichzeitig mit ihnen ihren Bildschirm anstarren.“8 „Die Antiquiertheit des Menschen“ gehört nicht zu den ganz großen, kanonischen Texten der bundesdeutschen Ideengeschichte. Andere Arbeiten, Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände“, Helmut Schelskys Beiträge zur „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, die Publikationen von Ralf Dahrendorf oder die der Autoren der Frankfurter Schule, waren wohl auch zeitgenössisch wirkungsvoller. Ebenso lässt sich Anders nur schwer bestimmten politischen Lagern zurechnen. Sein Bild vom Wohnzimmertisch als Ort der menschlichen Begegnung in den Familien auf der einen Seite und dem Fernseher als „negativem“, d. h. leerem neuen Zentrum auf der anderen führt aber dennoch weit über eine Außenseiterposition hinaus. Es kann durchaus als exemplarisch gelten für viele Gesellschaftsvorstellungen der frühen Bundesrepublik und den Ort von wirtschaftlichem Erfolg und Massenkonsum darin. Das gilt auch und gerade für liberale und konservative Analysen. Um diese angemessen zu beschreiben, muss man sich zunächst die historische Situation und die sich daraus ergebenden ideengeschichtlichen Anforderungen in Erinnerung rufen. Die Herausforderungen an die Ideenwelten im Nachkriegsdeutschland und in der frühen Bundesrepublik waren enorm. Es ging um nichts weniger als eine neue Gesellschafts- und Staatsordnung, um den materiellen Wiederaufbau, die Frage, wie sich Deutschland in einen vollständig veränderten internationalen Rahmen einordnen konnte, und nicht zuletzt um den Umgang mit der Vergangenheit von Krieg und Nationalsozialismus. Die Herausforderungen waren also groß, und mit Fug und Recht kann jede einzelne von ihnen als existentiell bezeichnet werden. Bei den Zeitgenossen lösten sie bekanntlich das Gefühl aus, an einem Anfangspunkt, einem „Nullpunkt“ zu stehen.9 Die historische Situation kann den „Denkstil“ vieler Texte begründen, die auffallende Emphase oder den latenten Alarmismus, der ihnen von heute aus

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Ebd., 106. Zur Ideengeschichte von Nachkriegszeit und früher Bundesrepublik weiterhin: Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995.

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gesehen häufig inne wohnt. 10 Die gedeutete historische Erfahrung ist aber auch für die inhaltliche Analyse bedeutsam. Obwohl die Anforderungen vielfältig waren und ebenso die Zahl und das ideengeschichtliche Herkommen der Autoren, die sich zu Wort meldeten, lassen sich die Debatten doch um wenige Zentralbegriffe gruppieren. Sie bauten letztendlich darauf auf, wie die historische Situation jeweils analysiert wurde. Für Autoren, die den Kapitalismus zum Ausgangspunkt ihrer Zeitdeutungen machten, wurden der „Sozialismus“ und seine Komposita zum Schlüsselbegriff. Für diejenigen, die die Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte in eine allgemeinere Modernediagnose einordneten, war es das „Humane“ und dessen verzweigtes Wortfeld. Auch wenn Verbindungen zwischen den entsprechenden Debatten häufig waren, drehten sich liberale und konservative Autoren vornehmlich um letzteres. Ihnen ging es nach der Erfahrung des Totalitarismus um die Rettung des Einzelnen in der unübersichtlichen und durch anonyme Kräfte bestimmten modernen Welt. Diagnose und Anliegen waren alles andere als neu. Sie waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert feste Bestandteile von Modernedebatte und Kulturkritik. Durch die Erfahrung von Nationalsozialismus schienen sie aber noch einmal an Brisanz gewonnen zu haben, durch den existierenden Kommunismus zudem weiter aktuell zu sein.11 Doch selbstverständlich gibt es Unterschiede. Auch wenn Diagnose und Ausgangspunkt in der Modernedebatte ähnlich waren, unterschieden sich konservative und liberale Positionen in einer Reihe von Punkten erheblich von einander. Während im konservativen Denken zum einen die „Person“ in den Mittelpunkt trat und die Frage, wie diese in der entfremdeten Welt intakt bleiben bzw. gerettet werden könnte, und zum anderen „Staat“, „Nation“ sowie ein existentieller Begriff von „Geschichtlichkeit“ die wichtigen Orientierungspunkte blieben12, betonten liberale Autoren die Chance auf individu-

 10 Anson Rabinbach hat einmal vom „postapokalyptischen“ Schreiben gesprochen. Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley u.a. 1997, 205. 11 Darstellungen der Modernedebatte der Nachkriegszeit finden sich in: Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft. Paderborn u.a. 2005, und Axel Schildt, Moderne Zeiten (wie Anm. 9). Vgl. auch Jin-Sung Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation. 1948-1962. München 2000. 12 Zum Konservatismus u. a.: Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006; Jerry Z. Muller, The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 1998; außerdem, mit Hinweisen zur „Person“: Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens: Carl Schmitt in der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993.

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elle Freiheit bzw. den offenen, „menschlichen“ bzw. „humanen“ Umgang miteinander.13 Der vielleicht wichtigste Unterschied besteht darin, dass sich für Liberale daraus ein positives neues Gesellschaftskonzept entwickeln ließ, die „Bürgernation“ oder die „substantielle Demokratie“, während Konservative, zumindest in den ersten Jahren, sehr viel stärker auf die Kritik zurückgeworfen waren und angesichts der Diskreditierung vieler ihrer Ideen durch den Nationalsozialismus sich sehr schwer damit taten, der Kritik an der Gegenwart ein konkretes positives Gegenmodell entgegenzuhalten.14 Exemplarisch sei dies an Hans Freyers „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1955 gezeigt: Zentralbegriff auch bei ihm ist die „Entfremdung“, die der Mensch in der Geschichte immer wieder erlitten hätte. Im gegenwärtigen Zeitalter, dem industriellen oder „sekundären“, ist diese Entfremdung besonders groß. Die Menschen finden sich, so Freyer, unter die „vorausgeworfene Situation“ des Zeitalters „subsumiert“. Diese trete ihnen „übermächtig“ und „uneinschmelzbar“ entgegen. Die Gefahr ist groß, ein Ausweg ungewiss. Die Menschen können sich unter diesen Umständen „nur behaupten, oder nicht einmal das: sie können sich in ihr nur durchhalten, unter Einbußen an ihrem Menschentum, im Extrem unter Verlust ihres Menschentums.“15 Zentral ist der Begriff der „Masse“. In ihr wird der einzelne auf bestimmte „Funktionen reduziert“, er „vereinzelt“ und wird von der eigenen „Person“ und der daraus resultierenden „eigene[n] Erfahrung“ getrennt. „Der Mensch“, so Freyer mehrmals, „wird gelebt“16. Mehrere Auswege aus dieser Situation weist Freyer zurück. Was bleibt, ist ein „Rückhalt“ außerhalb der gegenwärtigen Lage, der nur aus der „Innerlichkeit des Subjekts“ kommen kann und letztendlich auf der Aneignung und Aktualisierung der Vergangenheit, der eigenen „geschichtliche[n] Struktur“, beruht. 17 Auf welche Elemente konkret zurückgegriffen werden soll, bleibt ungesagt, und ausdrücklich weist Freyer auch darauf hin, dass der skizzierte Ausweg lediglich eine Hoffnung darstellt, eine Möglichkeit, die auch scheitern kann. 18 Unter den konservativen Kulturdiagnosen

 13 Auch liberale Positionen innerhalb der Modernedebatte sind teilweise dargestellt bei Schildt, Moderne Zeiten (wie Anm. 9). 14 Zu solchen „Rückzugstendenzen“ von Konservativen auch: Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960. Göttingen 2007. 15 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalter. Stuttgart 1955, 221. 16 Ebd., 227. Hervorhebung im Original. Die weiteren Zitate ebd., 224 ff. Explizit grenzt sich Freyer an dieser Stelle von einem älteren Massebegriff ab, der mit Gustav Le Bon das Spontane, Unberechenbare und Affekthafte der „Masse“ betont. 17 Ebd., 235. 18 Um sie zu beglaubigen, weicht er gar auf eine Zeitrechnung in Jahrtausenden aus: „Wer die Geschichte der Menschheit nicht mit dem säkularen Maßstab, mit dem wir gewöhnlich ihre Epochen skandieren, sondern im weitesten Überblick denkend betrachtet, würde in ihr im Abstand mehrerer Jahrtausende jene größten Zäsuren gewahren, die in einem gesteigerten Sinne epochalen Charakter haben. Wir haben

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nimmt Freyer damit in den späten 40er bzw. den 50er Jahren insgesamt immer noch eine Mittelposition ein. Sehr viel polemischer ist etwa die Modernekritik bei dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr. 19 In Helmut Schelskys Arbeiten aus der Mitte der 50er Jahre ist das kulturkritische Vokabular im Vergleich zu Freyer dagegen deutlich zurückgenommen. Auch bei Schelsky findet sich allerdings die Wendung zu „unmittelbaren Personenbeziehungen“ als Gegengewicht zur modernen „Abstraktheit“.20 Die Frage nach der Rettung des Individuums in der entfremdeten modernen Welt, für die in der Zwischenkriegszeit schon Lösungen gefunden zu sein schienen, die nun aber durch die erneute historische Erfahrung delegitimiert waren, lässt sich auch in zahlreichen Texten liberaler Provenienz finden. Dolf Sternberger begründete damit nach 1945 seinen Einsatz für das Mehrheitswahlrecht. Die Wahl bestimmter Abgeordneter, und nicht von (durch die Parteien aufgestellten) Listen sollte in der von anonymer Bürokratie und der Herrschaft von Apparaten gekennzeichneten Moderne dem Individuum einen Halt geben. „Alles könnte gut werden“, schrieb Sternberger 1947, „wenn man es auch in der Politik dahin brächte, Personen zu vereinigen statt der Kollektive, der nationalen oder der parteilichen.“ Das Stichwort war auch hier „Humanität“, denn das „eben hieße“, fuhr Sternberger zu seinen Vorschlägen für ein neues Wahlrecht fort, „die Humanität organisieren.“21 Auch Alexander Mitscherlichs zeitdiagnostische Beiträge sind regelmäßig von Hinweisen auf die „Massengesellschaft“ und ihre „vereinheitlichenden, Konformität schaffenden Vorgänge“ durchzogen, die die Selbstbestimmung des Individuums seit der Industrialisierung besonders bedrohten.22 „Verfügbarmachung“, „Versachlichung des Menschen“, „Werkzeugintelligenz“ oder Invektiven gegen die „Apparate“ und die deren Logik vollziehende Manager sind auch bei ihm häufig aufgebotene Schlagwörter aus der Modernedebatte.23 Zu einem wichti-



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schon gesagt, dass der Übergang zum industriellen System unserer Meinung nach zu ihnen gehört. Dabei würde er vermutlich in jedem Fall auf eine sich sehr weit vorauswerfende Situation stoßen und auf eine entsprechend große Entfremdung, die den Menschen des Zeitalters, vielleicht Generationen lang, auferlegt war.“ Ebd., 242. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg/Wien 1948. Helmut Schelsky, Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979, 394-409 (zuerst 1954). Vgl. auch ders., Zukunftsaspekte der industriellen Gesellschaft, in: ebd., 99-117 (zuerst ebenfalls 1954). Dolf Sternberger, Tagebuch. Ausflug nach Zürich, in: Die Wandlung 2, 1947, 378. Alexander Mitscherlich, Neurosen und Psychosen als soziale Phänomene, in: ders., Gesammelte Schriften VII: Politisch-publizistische Aufsätze 2. Frankfurt a. Main 1983, 445-457, hier 445 (zuerst 1956). Alle Begriffe finden sich auf engem Raum in: ders., Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963, 276 f.

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gen Motiv wird die menschliche Begegnung, der richtige persönliche Umgang miteinander – und bei diesen liberalen Autoren, denen auch Karl Jaspers oder Theodor Eschenburg hinzugefügt werden könnten, eben auch bald der Entwurf einer erneuerten politischen Kultur. Recht früh formuliert hat das Alfred Weber. 1949 forderte er die Gestaltung einer neuen „inneren, wirklich demokratischen Lebensform“ in der Bundesrepublik. Nicht nur Politik, sondern auch Erziehung, Verwaltung oder die Presse müssten in diesem Sinne umgestaltet werden.24 Ob liberalen oder konservativen Ursprungs, alle Gesellschaftsdeutungen der ersten Jahre nach 1945 standen unter der Erfahrung des Mangels. Das änderte sich mit dem einsetzenden wirtschaftlichen Erfolg, der bekanntlich nicht sofort 1948/49, sondern mit gewisser Verzögerung begann, und der seit den späten 50er Jahren auch bei weiteren Bevölkerungskreisen zu deutlichen Wohlstandsgewinnen führte.25 Auch in der Bundesrepublik begann das Zeitalter des Massenkonsums.26 In der Ideengeschichte der Bundesrepublik häuften sich etwa seit Mitte der 50er Jahre die Beiträge, die sich nun ausführlich mit dem Wohlstand und dem mit ihm verbundenen Massenkonsum auseinandersetzten. Als Beispiel mag hier ein Blick auf eine der wichtigsten Kulturzeitschriften genügen. In dem von Joachim Morat und Hans Paeschke seit 1947 herausgegebenen „Merkur“ begann die Debatte 1954 mit dem fulminanten intellektuellen Debüt von Jürgen Habermas Fahrt aufzunehmen. Im Augustheft dieses Jahres erschien als Kopfartikel dessen Aufsatz über „Die Dialektik der Rationalisierung.“ Im Mittelpunkt stand unter anderem der von Habermas diagnostizierte

 24 Alfred Weber, Haben wir Deutschen seit 1945 versagt, in: Die Wandlung 4, 1949, 735-745, Zitat 741. 25 Überblick über die Ziffern des einsetzenden Wohlstands: Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft. Göttingen 2008, 136-144. Ausführlich: Michael Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre. Frankfurt a. Main 1996. 26 Diese Periodisierung der (Massen)Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik ist allerdings nicht ganz unumstritten. So ist davor gewarnt worden, sich zu einseitig auf die Nachkriegszeit als Zäsur festzulegen. Z.B. sei die Zwischenkriegszeit als Vorbereitungsphase ernst zu nehmen, in der sich entsprechende Lebensformen sowie die Debatten darüber vorgeformt hätten. Vgl. z.B. Cornelius Torp, Konsum als politisches Problem. Konsumpolitische Ordnungsentwürfe in der Weimarer Republik, in: Jörn Lamla/Sighard Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Wiesbaden 2006, 41-65. Christian Kleinschmidt spricht für die Weimarer Republik vom „‚Take-off‘ der modernen Konsumgesellschaft“. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft (wie Anm. 25), 91. Formen von Konsumgesellschaft – nicht von Massenkonsumgesellschaft – lassen sich natürlich schon sehr viel früher ausmachen. Z.B. Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn u.a. 2003.

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„Pauperismus des Konsums“.27 1955 folgte als dreiteiliger Vorabdruck Günther Anders’ eingangs zitierte „Welt als Phantom und Matrize“; im selben Jahr schrieb Alexander Mitscherlich über den Konsum als „Ersatzbefriedigung“ in der modernen Gesellschaft.28 Und die Debatte riss nicht mehr ab. Wichtige Beiträge in den folgenden Jahren, die den Massenkonsum bzw. die Folgen des steigenden Wohlstands in den Mittelpunkt rückten, stammten von Hannah Arendt, Hans Magnus Enzensberger oder wiederum von Jürgen Habermas.29 Die Deutungen von Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas können hier außen vor bleiben.30 Was die liberalen und konservativen Autoren anbelangt, so wird nach dem bisher Gesagten der Ort, an dem sich die Konsumgesellschaft in die skizzierten Gesellschaftsanalysen einfügte, kaum überraschen. Wohlstand und Massenkonsum wurden zu weiteren Beispielen für die modernen Entfremdungserfahrungen. Das gewählte Vokabular war zum Teil drastisch und stand auch bei den hier untersuchten Autoren dem aus der 68-Bewegung bekannten „Konsumterror“ kaum nach. Alexander Mitscherlich sprach vom „Komfortgreuel“, Arnold Gehlen von der „Diktatur des Lebensstandards“ bzw. der „Konsumdiktatur“.31 Wolfgang König hat in seiner „Geschichte der Konsumgesellschaft“ drei Varianten von Konsumkritik inhaltlich unterschieden und zeitlich grob zugeordnet. Konsumkritik trat als „Kulturkritik“, als „Herrschaftskritik“ und als „Umweltkritik“ auf. Auch wenn alle drei Formen im gesamten 19. und 20. Jahrhundert zu finden sind, lasse sich doch eine gewisse Abfolge erkennen: „Im Verlauf der Industrialisierungsperiode verlagerte sich der Schwerpunkt der Konsumkritik von kulturkritischen über herrschaftskritische zu umwelt-

 27 Jürgen Habermas, Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum, in: Merkur 8, 1954, 701-724. 28 Alexander Mitscherlich, Groß-Stadt und Neurose, in: Merkur 9, 1955, 201-219, sowie Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Gedanken zu Rundfunk und Fernsehen, in: Merkur 9, 1955, 401-416, 533-549 und 636652. 29 Hannah Arendt, Kultur und Politik, in: Merkur 12, 1958, 1122-1145; Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 12, 1958, 701-720; Jürgen Habermas, Notizen zum Missverständnis von Kultur und Konsum, in: Merkur 10, 1956, 212-228. 30 Zur Konsumkritik von Jürgen Habermas in den 50er Jahren: Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000, 19 f. 31 Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. VII (wie Anm. 22), 515-624, hier 517 (zuerst 1965); Arnold Gehlen, Industrielle Gesellschaft und Staat. Über einige Triebkräfte des politischen Lebens in der Gegenwart, in: ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied/Berlin 1963, 247-262, hier 262 (zuerst 1956); ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg 1957, 73.

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kritischen Argumenten.“32 Für die Bundesrepublik sieht König in den 50er und 60er Jahren vor allem die kulturkritische Version, seit etwa 1970 rückten dann zunehmend die Herrschaftskritik sowie die Umweltproblematik in den Mittelpunkt der Kritik an der Massenkonsumgesellschaft. 33 Völlig zurecht verweist König auf Verbindungen und Überschneidungen. Mit Blick nicht zuletzt auf die wenig untersuchten liberalen Positionen seien dem gängigen Bild aber einige Präzisierungen und Ergänzungen hinzugefügt.34 Für die hier untersuchten Autoren lassen sich drei größere Aspekte unterscheiden. Materieller Wohlstand und Massenkonsumgesellschaft führten, so die Befürchtungen, zur Standardisierung und Uniformierung der Gesellschaft; darüber hinaus entfernten sie die Menschen voneinander, von ihrer lebensweltlichen Realität oder von den Dingen, mit denen sie umgingen. Schließlich förderten Wohlstand und Konsum eine Haltung der Passivität. Alle drei Aspekte gehen von kulturkritischen Positionen aus, erhalten aber schnell auch politische Bedeutungen. Gemeinsam ist ihnen zudem, dass materieller Konsum und Medienkonsum weitgehend als zwei Seiten desselben Vorgangs begriffen werden. Konsumkritik verbindet sich mit Medienkritik. Die Umweltproblematik tritt dagegen tatsächlich erst seit etwa 1970 stärker hervor und braucht bei der auf die 50er und 60er Jahre konzentrierten Analyse nicht näher berücksichtigt zu werden.35 Die genannten Elemente sind grundsätzlich bei allen Autoren zu finden, es ergeben sich aber natürlich auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. In Hans Freyers Analysen zum Beispiel erscheinen Maschinen, industrielle Produktion und wissenschaftlich-technische Planung samt ihrer Verbreitung in den Massengesellschaften als übermächtige Apparate, denen der Einzelne mehr oder weniger hilflos ausgesetzt ist und die als anonymes System wie

 32 Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft (wie Anm. 30), 440. 33 Ebd., 445. 34 Auch wenn die konservative Konsumkritik grundsätzlich gut bekannt ist, ist sie doch selten eigenständig und im Detail beschrieben worden. Meist wird sie im größeren Kontext der Kulturkritik thematisiert, wobei sich dann verständlicherweise der Fokus etwas anders darstellt. Vgl. Anm. 11. Vor allem auf die Warenhausdebatte in der Zeit vor 1945 bezieht sich Detlef Briesen, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. Main 2001. Die liberale Konsumkritik ist deutlich weniger beschrieben worden. Auch König verweist vor allem auf Konvergenzen zwischen konservativer und linker Konsumkritik. Vgl. König, Geschichte der Konsumgesellschaft (wie Anm. 30), z. B. 19. 35 Ein gutes Beispiel, wie die Umweltverschmutzung um 1970 in die Zeitdiagnosen eingefügt wird, bietet Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. München 1971, z. B. 27 f. Dort findet sich mit der frühen Gendebatte ein weiteres Beispiel für eine gerade in jenen Jahren auftauchende Diskussion, die sich gut in vorhandene Debatten einordnen ließ.

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eine „zweite Genesis“ auf die Menschen kommen – eine Genesis, die sich allerdings längst verselbständigt hat.36 Was folgt, ist Vereinheitlichung und Schematisierung, der Verlust bzw. die Entwertung von eigener Erfahrung und das „Sichverhalten“ statt des eigengesetzlichen „Tuns“.37 Insgesamt steht der Konsument damit einer übermächtigen Produktionsseite gegenüber, die ihn nicht nur versorgt, sondern seine Bedürfnisse auch schafft und kontrolliert. Der Mensch gibt schließlich selbst in seiner Freizeit, dort „wo er frei sein könnte“, die „Chance seiner Selbsttätigkeit“ auf. Er lässt sich „gängeln, sattfüttern, berieseln“. 38 Die Monumentalität seiner Deutung macht es Freyer schwer, Lösungen zu finden. Durchhalten und die bereits für seine allgemeine Kulturkritik beschriebene vage Hoffnung, dass es sich um eine – lange – Übergangsphase handelt und in der Zukunft neue, heute noch nicht zu bestimmende Lösungen gefunden würden, bleiben einzig übrig. Helmut Schelskys und auch Arnold Gehlens Analysen erscheinen demgegenüber deutlich pragmatischer. Eine Welt jenseits der gegenwärtigen Industrie- und Massenkonsumgesellschaft, für die man sich „bereithalten“ und „bereitmachen“ 39 könnte, spielte in ihren Zeitdiagnosen keine Rolle mehr. 40 Wenn Arnold Gehlen von den durch Wohlstand und Konsum bewirkten Phänomenen von Realitäts- und Erfahrungsverlust, Passivität und erzwungener Anpassung spricht, sind das für ihn unumkehrbare Zustände, dessen letztlich moralische Folgen aber zu bedenken sind: „Der Prozeß ist irreversibel, die Versorgung steigender Bevölkerungen bei steigenden Ansprüchen mit zunehmenden Gütermengen muß gewollt werden, aber die Konstatierung des Vorgangs und die Abrechnung auf der geistigen und moralischen Kostenseite sollten erfolgen, solange das noch möglich ist.“41 Unter den der Vorstellung einer liberalen Bürgernation zuzuordnenden Intellektuellen der Nachkriegszeit war es Alfred Weber, der die Modernedebatte der ersten Jahrhunderthälfte am stärksten repräsentierte und wieder aufnahm. Weber verschärfte seine Diagnose eines in der Industrienation entstehenden „vierten Menschen“ nach 1945 sogar noch. Er stand damit exemplarisch für diejenigen, für die sich die Grundprobleme und Kosten der Moderne für den

 36 Der Begriff der „zweiten Genesis“ fällt in Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur. Stuttgart 1965, z. B. 303. 37 Ebd., 270. 38 Ebd., 246. 39 Ebd., 326. 40 Ein weiterer Unterschied bestand im unterschiedlichen Methodenverhalten. Vor allem Schelsky öffnete sich der empirischen Sozialforschung, während Freyer beim traditionellen soziologischen Systemdenken blieb. Vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000, 237 f. 41 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (wie Anm. 31), 80.

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Einzelnen durch die Erfahrung des Totalitarismus noch verstärkt hatten.42 Der Verlust von reellen Lebensbezügen in Anonymität und Abstraktheit oder die durch Medienkonsum beförderte Standardisierung gehörten zu den Kernelementen seiner Arbeiten. Über solche allgemeine Kritik an den Massenmedien und deren Konsum hinaus fand das „Wirtschaftswunder“ allerdings keinen größeren Eingang mehr in die Arbeiten des 1958 im Alter von fast 90 Jahren gestorbenen Weber.43 Gut verfolgen lässt sich der Einbruch der ökonomischen Prosperität in die Gedankenwelten der frühen Bundesrepublik dagegen bei Karl Jaspers, der ebenfalls das „technische Zeitalter“ vielfach zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen gemacht hatte. Mehrmals während der 50er und 60er Jahre problematisierte er das Wirtschaftswunder. Die Bundesrepublik sei von bloßer „Konsumtion“ bedroht, verkündete Jaspers zum Beispiel in seiner Dankesrede für den „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“, den er 1958 erhalten hatte.44 Noch seine späten Schriften aus der Mitte der 60er Jahre sind voll von Seitenhieben auf das Wirtschaftswunder. Jaspers beklagt die aus dem Wohlstand resultierende Passivität derer, die „mit ihrem Dasein zufrieden sind, solange sie teilhaben am Wohlstand“, oder die Verwechslung der „vordergründigen Realitäten des Augenblicks“ mit der eigentlichen Wirklichkeit, zu der die „immer reicher werdende[n] Konsumwirtschaft“ führe.45 Und bei Alexander Mitscherlich klingt es nicht viel anders. Neben der Konformität der Massengesellschaft beklagt er etwa die „suchthafte Hingabe an das Fernsehprogramm“46, die „Entbindung“ von allem Individuellen oder den Verlust des „Weltbezuges“, der die Menschen immer „widerstandsloser“ zum „Konsumenten“ mache. 47 Immer wieder fragte der Psychoanalytiker Mitscherlich, wie die Menschen unter diesen Bedingungen die notwendigen affektiven Bindungen zu ihrer Umwelt entwickeln könnten, wie es gelingen

 42 Die Erfahrung arbeitete er in das veränderte Schlusskapitel seines 1950 neu erschienenen Hauptwerkes „Kulturgeschichte als Kultursoziologie“ ein. Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie. 2., erw. Aufl. München 1950 (zuerst 1935). 43 Allerdings setzte er sich 1956 noch einmal mit der „Freizeit“ auseinander: Alfred Weber, Die Bewältigung der Freizeit, in: ders., Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906-1958). Alfred-Weber-Gesamtausgabe Bd. 8. Marburg 2000, 644-656 (zuerst 1956). 44 Karl Jaspers, Wahrheit, Freiheit und Friede, in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965. München 1965, 173-185, hier 178 f. 45 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen. Stuttgart/Hamburg 1966, 191 und 233. 46 Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte (wie Anm. 31), 516. 47 Alexander Mitscherlich, Scheinfütterung. Kollektive Ersatzbefriedigungen in der heutigen Kultur, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI: Politisch-publizistische Aufsätze 1. Frankfurt a. Main 1983, 401-410, hier 407 ff. (zuerst 1955).

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könne, sich zu „beheimaten“ 48 . Mit einer Lösung tat auch er sich schwer. Vorderhand sah er vor allem den Verlust von persönlichen, individuellen Bindungen, wie sie etwa in der Familie bisher bestanden hätten, auf der einen Seite und den Rückgriff auf leere Ersatzbefriedigungen, wie eben jenen Fernseher, den Anders als „negativen Familientisch“ bezeichnet hatte, auf der anderen. Auch in die sozialpsychologischen Deutungen Mitscherlichs schob sich dabei immer wieder eine politische Problemstellung. Die nicht zu bestreitende und auch für Mitscherlich nicht mehr hintergehbare Existenz der modernen Massen(konsum)gesellschaft traf mit der Anforderung zusammen, in der Bundesrepublik eine funktionierende und stabile Demokratie zu entwickeln. Konsumgesellschaft und Demokratie zusammenzubringen, erwies sich aber nicht nur für Mitscherlich als sehr schwer. Denn eines war für ihn klar: „Das politische Feld nach dem Vorbild marktwirtschaftlichen Denkens zu behandeln und in ihm Werbetexte auf eine homogenisierte Masse wirken zu lassen, ist nicht die Antwort.“49

II. D EMOKRATIE UND K ONSUMGESELLSCHAFT . G EFÄHRDUNG DER „ DEMOKRATISCHEN L EBENSFORM “ UND K ONSUM ALS „V ERHARMLOSUNG “ Die Frage nach der Verbindung ihres Gegenstandes zur Politik gehört zu den großen Themen der historischen Konsumforschung. 50 Das Verhältnis kann

 48 Dieses „Zu Hause-sein“ ist ein Grundthema Mitscherlichs. Vgl. z. B. Alexander Mitscherlich, Von den Unmöglichkeiten zu Hause zu sein, in: ders., Gesammelte Schriften VII (wie Anm. 22), 630-640 (zuerst 1965). 49 Alexander Mitscherlich, Humanismus heute in der Bundesrepublik, in: ders., Gesammelte Schriften VI (wie Anm. 47), 229-250, hier 236 (zuerst 1962). 50 Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Hartmut Berghoff (Hrsg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; Martin Daunton/Matthew Hilton (Eds.), The Politics of Consumption: Material Culture and Citizenship in Europe and America. Oxford/New York 2001; Nepomuk Gasteiger, Vom manipulierbaren zum postmodernen Konsumenten. Das Bild des Verbrauchers in der westdeutschen Werbung und Werbekritik, 19501990, in: Archiv für Kulturgeschichte 90, 2008, 129-157; Dhavan V. Shah (Ed.), The Politics of Consumption/The Consumption of Politic. The Annals of the American Academy of Political and Social Science 611, 2007; Susan Strasser/Charles McGovern/Matthias Judt (Eds.), Getting and Spending: European and American Consumer Societies in the Twentieth Century. Washington 1998. Als Literaturüberblick zum deutschen Kontext: Alon Confino/Rudy Koshar, Régimes of Consumer Culture: New Narratives in Twentieth-Century German History, in: German History 19, 2001, 135-161, hier v. a. 152-159.

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dabei auf ganz verschiedene Weisen gedacht werden. Am einfachsten ist die Unterscheidung entlang der Frage, ob Konsum „selbst politisches Handeln“ sein kann oder „vor allem Gegenstand politischen Handelns“ ist.51 Ersteres kann zum Beispiel in der bewussten und dann vielleicht auch organisierten Kaufentscheidung liegen, 52 letzteres etwa als „Verbraucherschutzpolitik“ Gestalt annehmen, wie sie heute von der Europäischen Union intensiv betrieben wird, aber auch schon in der frühen Bundesrepublik gang und gäbe war.53 Für die Deutung spannend sind die Fälle, in denen nicht nur Verbindungen zwischen Konsum und Politik hergestellt werden können, sondern wo das eine in das andere überzugehen scheint, wo es zumindest potentiell zu einer Verschmelzung beider Bereiche kommt. Auf der Seite von Konsum als eigenem politischen Handeln steht dann im Extremfall der Vorwurf des „Konsumismus“ im Raum. Politik wird von bloßer Konsumlogik bestimmt, ist selbst dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, der Befriedigung von Bedürfnissen oder den Mechanismen des Werbemarktes unterworfen.54 Ordnungsentscheidungen, die darüber hinausgehen, sind dann nicht mehr möglich. Auf der anderen Seite steht eine Politik, die den Einzelnen nur noch als Konsumenten begreift, der seine „Konsumpflicht“ zu erfüllen hat oder der – in einer nur etwas freundlicheren Variante – als unmündiger Konsument vom Staat paternalistisch geschützt werden muss.55 In einer weiteren Variante der Debatte wird nach dem Zusammenhang zwischen dem Konsumenten in einer entwickelten Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaft und einem emphatischen Bürgerbegriff gefragt. Spätestens an dieser Stelle kommt der Wirkungszusammenhang zwischen Demokratie und Konsumgesellschaft ins Spiel. Für die Situation in den USA ist daraus die Figur des „consumer citizen“ entstanden. Der Begriff ist zwar auch im

 51 Jörn Lamla, Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Kritikmuster und Engagementformen im kulturellen Kapitalismus, in: ders./Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum (wie Anm. 26), 9-37, hier 10. 52 Kleinschmidt, Konsumgesellschaft (wie Anm. 25), 160 f. 53 Michael Wildt, „Wohlstand für alle“: Das Spannungsfeld von Konsum und Politik in der Bundesrepublik, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch. Frankfurt a. Main 2009, 303-316, hier v. a. 307 ff. 54 In der aktuellen Debatte über Markt- und Konsumorientierung steht dabei häufig die Entwicklung von politischen „Marken“ im Mittelpunkt. Z.B. Margaret Scammell, Political Brands and Consumer Citizen: The Rebranding of Tony Blair, in: Shah (Ed.), The Politics of Consumption (wie Anm. 50), 176-192. 55 Zu den Grenzen einer solchen Politik, die den Verbraucher vor allem auch vor sich selbst zu schützen sucht: Robert P. Stephens, „Wowman! The World`s Most Famous Drug-Dog“. Advertising, the State, and the Paradox of Consumerism in the Federal Republic, in: Pamela E. Swett/Jonathan Wiesen/Jonathan R. Zatlin (Eds.), Selling Modernity. Advertising in Twentieth-Century Germany. Durham/London 2007, 230-261.

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amerikanischen Zusammenhang schillernd geblieben, zudem war er immer wieder historischem Wandel unterworfen. Doch ob im späten 19. Jahrhundert, in der Ära des „New Deal“ oder in der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft − Demokratie und Konsum wurden regelmäßig als zwei Seiten einer Medaille verstanden. Zugehörigkeit zur amerikanischen Nation und ein von Konsum geprägter Lebensstil fielen schließlich zusammen und wurden, so die Vorstellung verschiedener Interpreten, zu Bestandteilen einer amerikanischen Identität. 56 Für die Bundesrepublik haben Historiker inzwischen ähnliche Deutungen des „Konsum-Bürgers“ entwickelt.57 Erica Carter hat 1997 darüber hinaus die Herausbildung einer Konsumenten-Identität als wichtigen Bestandteil der deutschen Identitätsbildungen insgesamt nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht.58 Andere Arbeiten haben auf die Verbindung antitotalitärer bzw. demokratisch-aufklärerischer Werte und den jeweiligen Konsumbildern verwiesen. Gerade im Kalten Krieg konnte die Konsumgesellschaft als Träger von ebenfalls politisch konnotierten Werten fungieren. Demokratie und Massenkonsum mochten so in ein „Verhältnis wechselseitiger Verstärkung“ treten.59 Historisch-analytisch gesehen hohe Plausibilität darf schließlich eine Deutung beanspruchen, die zum einen die Chance auf Teilhabe betont, die in der Entwicklung zur Konsumgesellschaft liegt, in der nicht nur wenige, sondern eben viele am Wohlstand und den damit verbundenen Konsum- und Freizeitmöglichkeiten partizipierten 60 , und zum anderen auf den Individualisierungsgewinn von Wohlstand und Konsum verweist. Konsum wird eben nicht als Beschränkung, sondern als Erweiterung von individuellen Möglichkeiten erfahren. Diese Selbstermächtigung des Individuums führt am Ende auch zur Stärkung der Zivilgesellschaft, in der der einzelne seine Inte-

 56 Z.B. Lizabeth Cohen, A Consumer’s Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America. New York 2003; Charles McGovern, Consumption and Citizenship in the United States, 1900-1940, in: Strasser u.a. (Eds.), Getting and Spending (wie Anm. 50), 37-58. Als kompakter Überblick: Sheryl Kroen, Der Aufstieg des Kundenbürgers? Eine politische Allegorie für unsere Zeit, in: Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss (wie Anm. 26), 533-564. 57 Michael Wildt, Konsumbürger. Das Politische als Optionsfreiheit und Distinktion, in: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, 255-283. 58 Erica Carter, How German is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman. Ann Arbor 1997. 59 Wildt, „Wohlstand für alle“ (wie Anm. 53), 315. Dass die Wahrnehmung des VWKäfer demokratische Werte vermitteln konnte, argumentiert: Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute. Frankfurt a. Main/New York 1997. 60 Dass die Konsumgesellschaft zumindest die Partizipationschance über die Klassen hinweg erhöhte, ist ein Ergebnis von Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. 2., durchgesehene Aufl. Göttingen 2008, z. B. 749.

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ressen einfordert, artikuliert und dafür vielleicht auch eintritt. Die „Durchsetzung der Konsumentenemanzipation“ wird zum „Scharnier“ zwischen den frühen Jahren der Bundesrepublik und dem „politischen Aufbruch ab Mitte der sechziger Jahre“ 61 , zum Vehikel einer neuen politischen Kultur. „Statt allein um eine ‚Emanzipation‘ von Ordnungsmustern, die als autoritär empfunden wurden, ging es in den neuen Formen der politischen Kultur um 1970 um Ansprüche auf eine Partizipation, die sich gegen das Gefühl der Steuerung durch Staat, Öffentlichkeit und Markt richtete“, und die in der „Konsumrevolution“ des Jahrzehnts zuvor etwa in der „Erziehung zum ‚freien‘ Verbraucher ohne individuelle Beratung“ durch die Supermärkte schon eingeübt war.62 Neben der bloßen zeitlichen Parallelität der Entwicklung eines Bürgerbewusstseins und der Entstehung der Konsumgesellschaft behaupten solche Deutungen also eine substantielle Verbindung zwischen beidem. Sie führt über Identitätsbildungsprozesse, eine übergreifende Wertedebatte oder die Ausbildung eines verschiedene Bereiche betreffenden neuen Lebensstils. Es ist schnell zu sehen, dass in den Konsumbildern von Freyer und Gehlen, aber auch von Karl Jaspers, Alexander Mitscherlich und anderen solche Konzepte keinen Platz hatten. Wenn sie die Verbindung zwischen Politik bzw. Demokratie und Konsum zogen, überwog eindeutig der negative Befund. Konsum förderte nicht, sondern bedrohte die Teilhabe des Bürgers. Er manipulierte, verführte zu Passivität oder machte Politik und Staat zum bloßen Erfüllungsgehilfen von kurzfristigen Bedürfnissen. Interessant ist der Befund deswegen, weil es denselben Autoren gleichzeitig natürlich sehr wohl gelang, eigene Demokratiekonzepte zu entwickeln bzw. (im Falle der Konservativen) sich am Ende ganz gut mit der neuen politischen Ordnung zu arrangieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass entgegen dem gerade entworfenen Bild vom Zusammenhang zwischen Demokratie und Wohlstand führende Intellektuelle in die westdeutsche bürgerlich-pluralistische Demokratie fanden, ohne die für die Bundesrepublik historisch so wichtige Wirtschafts- und Konsumgeschichte (es sei nur an Werner Abelshausers Satz erinnert, wonach die „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland […] vor allem ihre Wirt-

 61 Habbo Knoch, „Mündiger Bürger“, oder: der kurze Frühling einer partizipatorischen Vision. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007, 9-53, hier 42. 62 Ebd., 42 f. Auf Individualität und Wahlfreiheit als durch den Konsum geförderte Werte und Verhaltensweisen hat auch Michael Wildt in zahlreichen seiner Arbeiten verwiesen: Z.B. Michael Wildt, Plurality of Taste: Food and Consumption in West Germany during the 1950s, in: History Workshop Journal 39, 1995, 23-41. Zur historischen Herleitung dieses Konsumentenbildes des „aktiven“, „souveränen“, aber auch unberechenbaren Konsumenten: Gasteiger, Vom manipulierten zum postmodernen Konsumenten (wie Anm. 50), v. a. 150-156.

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schaftsgeschichte“ sei63) wirklich und vor allem positiv zu integrieren. Um diesen dann doch überraschenden Befund zu erklären, müssen wir uns kurz die jeweiligen Demokratiekonzepte ansehen. Gut beschreiben lässt sich der Weg zur Demokratie zum Beispiel für Karl Jaspers. Bei ihm geschieht die Hinwendung auf zwei Weisen. Zum einen „performativ“: Diesen Aspekt darf man bei ihm und auch bei anderen Autoren aus dem liberalen Spektrum (etwa bei Dolf Sternberger) keineswegs unterschätzen. Jaspers greift in der jungen Bundesrepublik ein, er sieht es nun als Aufgabe des Intellektuellen, die aktuellen Debatten aktiv mit zu gestalten. Damit verbunden ist eine Wandlung seiner Vorstellung von der Aufgabe der Intellektuellen. Während er in der Zwischenkriegszeit eher zu denen gehört hatte, die den Intellektuellen ein allgemeines, aber politisch unverbindliches „Wächter-Amt“ zuschrieben, vollzog er nach 1945 eine deutliche Annäherung an den Typus des sich einmischenden kritischen Intellektuellen.64 Das geschieht nicht in einem Zug, es sind vielmehr Stufen zu unterscheiden, und Jaspers wird bis zu seinem Tod nicht von Intellektuellen, sondern den „Geistigen“ sprechen, am Ende aber steht das politische Tagesgeschäft. 1966 erscheint „Wohin treibt die Bundesrepublik?“, eine Arbeit, die man mit Fug und Recht als politische Kampfschrift bezeichnen darf.65 Bezogen auf seine Position in der Zwischenkriegszeit ist dies eine starke Wendung, die Jaspers immer wieder mit der Erfahrung des Nationalsozialismus begründet hat.66 Neben dieser performativen Dimension geschieht Jaspers’ explizite Wendung zur parlamentarischen Demokratie aber auch theoretisch. Jaspers entwickelt eine eigene Demokratie- und Pluralismus-Theorie – und die ist hoch spannend. Zentralbegriff ist die „Wahrheit“, präziser (aber von Jaspers nicht immer so gebraucht) die „Wahrhaftigkeit“. Pluralismus als Grundlage von Demokratie funktioniert dann, so Jaspers, wenn alle eine gemeinsame Basis haben, nämlich den Bezug und den Willen zur Wahrheit. Nur dann kommt man in ein „echtes“ Gespräch miteinander, kommen Demokratie und, wie Jaspers an solchen Stellen häufig hinzufügt, Freiheit zustande. In seiner Friedenspreisrede von 1958 klingt das so: „Wollen wir Freiheit und Frieden […], müssen wir in einem Raum der Wahrheit uns begegnen, der vor allen Parteiungen und Standpunkten liegt, vor unseren Entscheidungen und Entschlüssen.

 63 Werner Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. 7. Aufl. Frankfurt a. Main 1993, 8. 64 Zum sich wandelnden Intellektuellenverständnisses in Deutschland: Jutta Schlich (Hrsg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11. Sonderheft). Tübingen 2000. Vgl. auch Thomas Hertfelder, Kritik und Mandat. Zur Einführung, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, 11-29. 65 Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik (wie Anm. 45). 66 Vgl. die Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung: Karl Jaspers, Hoffnung und Sorge (wie Anm. 44).

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Wenn wir frei und wahrhaftig werden, kehren wir ständig zurück in diesen gemeinsamen Raum, in dem wir verbunden bleiben auch dann, wenn wir Gegner sind.“ Und: „Erst in der Hingabe an Wahrheit“ sei „erfüllte Freiheit möglich“, nach innen wie nach außen.67 Das zeitgenössisch vorhandene Schlagwort zu solchen Konzepten ist das der „lebendigen“ oder der „substantiellen Demokratie“. Es findet sich weit über das liberale Lager hinaus bei zahlreichen Autoren der Nachkriegszeit.68 In unserem Fall benutzte es Alexander Mitscherlich ebenso wie Dolf Sternberger. Bei Sternberger gehörte es zu dem schon skizzierten HumanismusModell, das seinen Bemühungen für ein Mehrheitswahlrecht zugrunde lag. Aber ebenso bildete es eine Wurzel seines berühmten Konzepts des Verfassungspatriotismus, das er schon in der Nachkriegszeit entwickelt hatte, das aber erst Ende der 70er Jahre seine eigentliche Konjunktur erlebte. Die Verfassung, so Sternbergers wichtigstes Argument, habe „Leben“ gewonnen.69 Wichtig an diesen liberalen Demokratiekonzepten ist, dass sie aus der kulturkritisch gestimmten Modernedebatte Elemente entnahmen und mit ihnen zu eigenen Demokratiekonzepten fanden. Werte wie „echte“ Hinwendung, Verinnerlichung, persönliche Kontakte, auch Gemeinschaftsbezug – man denke an Jaspers’ oben zitierten „Raum der Wahrheit […], der vor allen Parteiungen“ liege – blieben für dieses Demokratieverständnis konstitutiv. Um Missverständnissen vorzubeugen, damit blieben Werte wie Freiheit, Individualität oder auch soziale Gerechtigkeit nicht außen vor, es ergab sich aber doch ein Schwerpunkt aus kulturkritisch vorgeprägten Werthaltungen. Diese waren nun zwar mit dem in Demokratien notwendigen Austausch von Argumenten und Interessen vereinbar, kaum aber mit den Phänomenen der Massenkonsumgesellschaft. Das Beispiel Sternberger ist dabei besonders wichtig, denn obwohl er zu denen gehörte, die den traditionellen Massendiskurs am deutlichsten hinter sich ließen und der breiten Bevölkerung (den „Masse“-Begriff vermied Sternberger in seinen späteren Schriften) mündige Entscheidungen zutrauten70, kreiste seine politische Konzeption weiter um das Problem der

 67 Jaspers, Wahrheit, Freiheit, Friede (wie Anm. 44), 176 f. 68 Etwa auch bei dem SPD-Politiker Adolf Arndt. Adolf Arndt, Deutschlands rechtliche Lage, in: Die Wandlung 2, 1947, 106-116, hier 115. 69 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10. Frankfurt a. Main 1990, 13-16 (zuerst FAZ, 23. 5. 1979). Zum Verfassungspatriotismus u. a.: Mateusz Stachura, Zwischen nationaler Identität und Verfassungspatriotismus. Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland 1972-1989, in: Politische Vierteljahresschrift 46, 2005, 288-312, und Hans Vorländer, Verfassungspatriotismus als Modell. Der Rechts- und Verfassungsstaat im Ordnungsdiskurs der Bundesrepublik Deutschland, in: Thomas Hertfelder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2007, 110-120. 70 Vgl. Dolf Sternberger, Rede wider das Lamentieren über die Massengesellschaft, in: FAZ, 29. 5. 1963, 11.

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Rettung des persönlichen Bezugs in der Massendemokratie. Sein Lehrer Karl Jaspers beschrieb das Problem so: Die Errungenschaften des Wirtschaftswunders reichten nicht aus. Sie dürften vielmehr nicht vom „Wesentlichen“ ablenken. „Die Hauptsache ist damit noch gar nicht geschafft.“71 Für viele Konservative ist der Weg in die parlamentarische Demokratie schwieriger nachzuvollziehen. Performativ gingen sie im Vergleich zu Liberalen wie Jaspers oder Sternberger den umgekehrten Weg, hatten doch nicht wenige konservative Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit dezisionistisch das politische Eingreifen propagiert. Hans Freyer etwa gehörte dem solche Konzepte verfolgenden „Tatkreis“ an. Nach 1945, nach der Diskreditierung ihrer Positionen durch den Nationalsozialismus, gingen sie den Weg aus dem Engagement heraus statt in dieses hinein, wie es für Liberale und andere galt, die sich eher vorwarfen, zu wenig eingegriffen zu haben.72 Auch inhaltlich ist eine gegenläufige Bewegung zu erkennen. Während die liberalen Gesellschaftsvorstellungen, wie gesehen, davon lebten, ethische Positionen nun in das soziale und politische Zusammenleben hineinzutragen und dort Wirklichkeit werden zu lassen, waren konservative Autoren damit beschäftigt, die Werthaltungen aus dem Tagesgeschäft hinauszunehmen bzw. auszulagern. Ihr Arrangement mit der neuen Ordnung geschah über Gewöhnung oder das explizit a-moralische Modell der Sachgesetzlichkeiten, denen in der Industriegesellschaft jenseits von Ideologie und Moral schlicht zu folgen war.73 Paradoxerweise führte das dazu, dass konservative Autoren Konsum und Wohlstand in manchen Fällen noch eher akzeptierten, als dies ihre liberalen Gegenüber taten. Grundsätzlich, so zum Beispiel Hans Freyer, sorge der erreichte Wohlstand für Vertrauen in den modernen Staat, ein Gedanke, den vor allem auch Ernst Forsthoff in seinen Zeitdiagnosen immer wieder äußerte und der für das auf Stabilität bezogene, konservative Denken als nicht ganz unwichtiger Faktor zu gelten hat.74 Gemessen an den ausgelagerten, aber ja noch vorhandenen Werthaltungen, blieben der Massenkonsum und seine Auswirkungen freilich inakzeptabel. Wenn Helmut Schelsky am Ende seiner Ausführungen über Mittelstandsgesellschaft und Sachzwänge schließlich doch wieder personale Beziehungen als die eigentlich notwendige ethisch-moralische Grundlage anmahnte, schloss das die anonymen und standardisierten Mecha-

 71 Jaspers, Wahrheit, Freiheit, Friede (wie Anm. 44), 178 f. 72 Jerry Z. Muller hat diesen Rückzug gerade auch für Freyer als „Deradikalisierung“ bezeichnet: Muller, The Other God that Failed (wie Anm. 12). 73 Hauptstichwortgeber der „Sachgesetzlichkeit“ ist Helmut Schelsky. Zentral ist seine zuerst in Vortragsform veröffentlichte Studie: Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften, Heft 96). Köln/Opladen 1961. 74 Freyer, Schwelle der Zeiten (wie Anm. 36), 288 f.; Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (wie Anm. 35), z. B. 74 und 80.

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nismen des Massenkonsums aus.75 Arnold Gehlen denunzierte die am Wohlstand aller ausgerichteten Maßstäbe moderner Gesellschaften in einer seiner letzten Arbeiten gar als „Glücksgefräßigkeit“ oder „humanitär-masseneudaimonistische Gesinnungsmoral“ und spielte sie gegen das eigentlich notwendige „staatlich-politische[s]“ Ethos aus.76 Wohlstand und Konsum mochten, so das auch bei Hans Freyer und vor allem Ernst Forsthoff fassbare Denken, momentan stabilisierend wirken. Letzten Endes aber waren sie Teil einer, salopp vielleicht am besten als „Schönwetterdemokratie“ zu bezeichnenden Ordnung, in der die eigentlich notwendigen und in einer zu erwartenden, kommenden Notlage zu treffenden Entscheidungen verdunkelt wurden. Sie waren Teil der großen „Verharmlosungen“ in der Bundesrepublik.77 Auch bei den Konservativen lief das Arrangement mit der Bundesrepublik damit am Ende über andere Aspekte als über das Wirtschaftswunder. Gewöhnung, Sachgesetzlichkeit und schließlich auch eine Institutionenlehre, in der dauerhafte und funktionierende Institutionen zum durchaus auch wertgebundenen Stabilitätsanker des Staates werden mochten,78 bildeten die Brücken. Ein zunehmend auf die Geschichte der Bundesrepublik selbst zurückgreifender positiver Vergangenheitsbezug und bestimmte, an stabile Institutionen anschlussfähige Ordnungskonzepte waren damit wichtige Werte, die aus der herkömmlichen Modernedebatte auf die Bundesrepublik und ihre Demokratie übertragen werden konnten. Die vorhandenen Konsumbilder ließen sich darin nicht unterbringen. Konsumgesellschaft und Demokratie blieben auch hier getrennt.

III. S CHLUSS Aus historisch-analytischer Perspektive hat das Wirtschaftswunder ganz offensichtlich zur Entwicklung einer stabilen Demokratie in der Bundesre-

 75 Diese Wendung zur Frage, wie „Person“ und „Humanität“ in der von Sachgesetzlichkeiten geprägten Welt noch eine Rolle spielen könnten, vollzog er auch in seinem zentralen Aufsatz zur „wissenschaftlichen Zivilisation“. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (wie Anm. 73), 32-46. 76 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 6. erw. Aufl. Frankfurt a. Main 2004, 59 bzw. 150 sowie 108 (zuerst 1969). 77 Ebd., 58 ff. und 106-109, „Verharmlosung“ z. B. 68. Vgl. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft (wie Anm. 35), z.B. 103 und 125. Dahinter steckt natürlich Carl Schmitt und dessen staatsrechtliches Denken vom Ausnahmezustand. Zum Carl Schmittschen Dezisionismus in der Bundesrepublik, u. a. mit Verweis auf Forsthoff und Gehlen: Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit (wie Anm. 12), 174194. 78 Vgl. Forsthoff, Staat der Industriegesellschaft (wie Anm. 35), 50. Zur (liberal-) konservativen Institutionenlehre: Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit (wie Anm. 12), 140-157.

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publik beigetragen. Aus Sicht wichtiger liberaler und konservativer Intellektueller war das nicht so. In ihre für die parlamentarische Demokratie gut passbar zu machenden Wertesysteme des „Lebendigen“ und „Humanen“, der „Geschichtlichkeit“ oder der „personalen Integrität“ waren der Konsum und der wachsende Wohlstand kaum positiv einzubeziehen. Angesichts der Plausibilität der These von der Verbindung von Konsumgesellschaft und demokratischer Stabilität in der Bundesrepublik mögen die Schwierigkeiten, die Intellektuelle mit der ökonomischen Prosperität hatten, als Randphänomen erscheinen. Doch abschließend sei hier davor gewarnt, die beschriebenen Befunde vorschnell zu marginalisieren. Zum einen sprechen der bundesdeutschen intellektuellen Geschichte inhärente Gründe gegen eine solche Interpretation. Nimmt man Intellektuelle als Instanzen im gesellschaftlichen Diskurs ernst, die zwar weit davon entfernt sind, die öffentlichen Debatten zu monopolisieren, aber doch bei der „Ideenbildung“ wie der „Ideenzirkulation“ innerhalb der Gesellschaft von Gewicht sind79, sind deren Deutungen nicht von vornherein gegen Mentalitäten oder Lebensstile auszuspielen. (Der Blick auf die für die Verbindung von Konsumgeschichte und Demokratie maßgebende Phase der 60er Jahre mit „1968“ als einem ihrer Zentren verbietet dies ohnehin schon.) Darüber hinaus handelt es sich bei den hier untersuchten Autoren eben keineswegs um solche aus der zweiten Reihe, sondern um führende Vertreter der jeweiligen intellektuellen Richtungen mit erheblicher Medienpräsenz, denen natürlich noch die Häupter der „Frankfurter Schule“ und deren Kritik an der Konsumgesellschaft hinzugefügt werden könnten. Wie fest war also die Verbindung zwischen Demokratie und Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik? Wo lagen vielleicht deren spezifische Grenzen? Die andere hier abschließend angedeutete Überlegung zur Einordnung der intellektuellen Konsumkritik ergibt sich aus transnationalen Zusammenhängen bzw. dem internationalen Vergleich. Sheryl Kroen hat, von der Situation in den USA ausgehend, für die europäische Geschichte eine weitere Überprüfung der am amerikanischen Beispiel gewonnenen Erkenntnisse zur Entstehung der „Verbraucher-Republik“ bzw. des „Kunden-Bürgers“ angemahnt. Es stellt sich die Frage, inwieweit und in welchem Ausmaß in Europa „konkurrierende Modelle“ weiterexistierten. 80 Grundsätzlich gilt, dass die westdeutsche Debatte natürlich eng mit der amerikanischen verbunden war. John Kenneth Galbraiths „The Affluent Society“, David Riesmans „The Lonely Crowed“, James Burnhams „The Managerial Revolution“, aber auch die Arbeiten der industriesoziologischen Elton Mayo-Schule und deren Nachfolger wurden in Westdeutschland häufig zitiert. Die Entwicklung der Konsumgesellschaft in den USA blieb wie bereits vor 1945 der viel beschworene Bezugspunkt, ganz zu schweigen vom Einfluss Amerikas im Bereich der

 79 Gangolf Hübinger, Intellektuellengeschichte und Wissenschaftsgeschichte, in: ders., Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006, 9-28, hier 10 f. 80 Kroen, Aufstieg des Kundenbürgers? (wie Anm. 56), 554-557.

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Massenkultur oder des Marshall-Plans, in dessen Rahmen bekanntlich auch explizit die Idee verfolgt wurde, westlich-demokratische Werte ökonomisch zu vermitteln.81 Transferprozesse waren also wichtiger Bestandteil in der Entwicklung zur Konsumgesellschaft und deren Bewertung. Wenn ich es richtig sehe, ist aber doch inzwischen einige Skepsis angebracht worden, ob sich die Verbindung von Demokratie und Konsum in Deutschland jemals ähnlich fest ausgebildet hat wie etwa in den USA. Aus ideengeschichtlicher Sicht wird man sich beispielsweise die Rezeption der amerikanischen Debatten in Deutschland sehr genau ansehen müssen.82 So ist im Falle von Riesmans „Lonely Crowd“ der deutlich optimistischere dritte Teil, der immerhin rund ein Viertel des Buches umfasst, in Deutschland deutlich weniger bzw. zurückhaltender aufgenommen worden als die zuvor entwickelte Theorie der Außenlenkung und deren Auswirkungen auf „Charakter“ und Politik.83 Zumindest auf eine spezifische Verspätung der theoretischen Hinwendung zum Bild des „souveränen Konsumenten“ angesichts der Vorherrschaft von konsumkritischen Wahrnehmungsmustern in Deutschland haben Christoph Deutschmann und Michael Prinz hingewiesen. 84 Deutschmann hat darüber hinaus die vergleichende Ausdifferenzierung der Forschung zum Konsumverhalten und auch zu seinem „Gegenteil“, dem Sparverhalten, angemahnt. 85 Nicht zuletzt angesichts der unterschiedlichen Reaktionen, die während der Weltfinanzkrise von 2007 bis

 81 Dazu z. B. Hans-Jürgen Schröder, Marshall-Plan-Propaganda in Berlin, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Ed.), Germany and America. Essays in honor of Gerald R. Kleinfeld. New York/Oxford 2001, 146-164. 82 Zum Problem von Transfer im Bereich der Konsumgeschichte, auch mit wichtigen methodischen Hinweisen: Axel Schildt, Amerikanische Einflüsse auf die westdeutsche Konsumentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Haupt/Torp (Hrsg.), Konsumgesellschaft in Deutschland (wie Anm. 53), 435-447. 83 Das gilt bereits für die Einführung von Helmut Schelsky zur deutschen Ausgabe des Buches, die diesem Aspekt nur wenig Raum widmete. David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Darmstadt u.a. 1956, Einführung von Helmut Schelsky, 9-25. Obwohl auch er an der Diagnose von „außen-“ und „innengeleitetem“ Charakter viel fand, erklärte der Literaturkritiker und Sozialpsychologe Erich Franzen in seiner Besprechung Riesman selbst zum außengeleiteten Typus. Die optimistische Schlusspassage sei „beste Time und Life-Manier“ und gehe am Kern des Problems vorbei. Erich Franzen, Soziologie für Konsumenten, in: Merkur 12, 1958, 183-186. 84 Christoph Deutschmann, Anglo-amerikanischer Consumerism und die Diskussion über Lebensstile in Deutschland, in: Volker R. Berghahn/Sigurd Vitols (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt a. Main/New York 2006, 154-165; Michael Prinz, Die konsumgesellschaftliche Seite des rheinischen Kapitalismus, in: ebd., 113-128. 85 Deutschmann, Anglo-amerikanischer Consumerism (wie Anm. 84), 161 f.

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2009 international zu erkennen waren, erscheinen Jürgen Kockas an solche Überlegungen anschließende Vermutungen bedenkenswert, wonach soziale und kulturelle Besonderheiten der Wirtschaftssysteme gerade auch im Konsumverhalten ihren Niederschlag finden und entsprechend in der Bundesrepublik bestimmte „deutsche Elemente“ bestehen blieben.86 Das gilt auch für die von ihm diagnostizierte Betonung von Produktion und Langfristigkeit, die in Deutschland zu verfolgen sei.87 Und wenn nicht alles täuscht, nehmen auch unter den ökonomischen Erinnerungsorten in Deutschland bis heute solche einen besonderen Platz ein, die Konnotationen von Stabilität und Fleiß erlauben bzw. die mit der Produktionsseite verbunden werden können. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Analyse solcher Differenzen in den Wirtschafts- und Konsumbildern in Zukunft auch stärker auf den Bereich ihrer politischen Implikationen auszudehnen. „[W]ie verbreitet war und ist“ die Vorstellung von Konsum als genuinem Bestandteil von Demokratie also „über die USA hinaus?“ 88 Sheryl Kroen selbst hat einige Skepsis angemeldet, dass der „totale Triumph des ‚KundenBürgers’“ nach 1945 auch in Europa stattgefunden hat und Konsum auch dort zum „Königsweg zu einer sozial gerechten Demokratie“ wurde oder sogar „als Demokratie“ definiert werden konnte.89 Die hier untersuchten intellektuellen Traditionen unterstützen für den deutschen Zusammenhang solche Zweifel. Sie tun es gerade deswegen, weil auf der anderen Seite der Anschluss der eigenen Ideenwelten an die pluralistische Demokratie durchaus gut gelang. Es spricht damit einiges dafür, dass die Verbindung zwischen Demokratie und Konsum in Deutschland auch nach dem Durchbruch zur Konsumgesellschaft loser blieb. Als Otto Schily 1990 nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer in der DDR nach den Gründen für den Erfolg der CDU befragt wurde, hielt er eine Banane in die Kamera.90 Die Ostdeutschen hätten die D-Mark und den Konsum gewählt, nicht die Demokratie, war die damals und danach immer wieder zu hörende Botschaft. 91 Dass das eine mit dem anderen zusammenhängen könnte, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelte, gehörte

 86 Jürgen Kocka, Einleitung, in: Berghahn/Vitols (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? (wie Anm. 84), 9-21, hier 16 f. 87 Ebd., 9 f. 88 Kroen, Der Aufstieg des Kundenbürgers? (wie Anm. 56), 557. 89 Ebd., 545 und 557. Vor allem sieht Kroen in Europa auch starke Residuen des Konzepts der „sozialen Staatsbürgerschaft“ als Gegenmodell zum „Kunden Bürger“. Ebd., 562 f. 90 Vgl. z.B. Hellmuth Karasek, Mit Kanonen auf Bananen?, in: Der Spiegel, 26.3.1990, 56 f. 91 Zum Zusammenhang von Konsumorientierung und Demokratieforderungen während der Wende 1989/90 auch: Hartmut Berghoff, Konsumregulierung im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Forschungsansätze und Leitfragen, in: ders. (Hrsg.), Konsumpolitik (wie Anm. 50), 7-21, hier 8 f.

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1990 offenbar nicht zu Schilys Weltsicht. Den meisten der hier untersuchten Intellektuellen wäre dieser Gedanke ebenso ziemlich absurd erschienen.

IV. Religion und Markt, Religion auf dem Markt

Kirchen, Religion und Medienmärkte Interaktionen und Transformationen in der bundesdeutschen Geschichte F RANK B ÖSCH

Die Wahrnehmung, Verbreitung und Praxis der christlichen Religion beruhten von Beginn an auf vielfältigen Kommunikationstechniken. Insofern spielten die jeweiligen Medien und Medienmärkte stets eine bedeutende Rolle für sie. Denn welche Reden, Bilder oder Schriften den christlichen Glauben tradierten, hing auch von der jeweiligen inner- und außerkirchlichen Medialität und Öffentlichkeit ab. Diese Beziehung wurde bislang noch wenig untersucht. Während die klassische Religions- und Kirchengeschichte Interaktionen mit den Medienmärkten kaum berücksichtigte und allenfalls die kirchliche Presse thematisierte, hoben immerhin einzelne Medienwissenschaftler die inhärente Medialität des Christentums hervor. 1 So betonte beispielsweise Jochen Hörisch etwas apodiktisch: „Christologie ist ab ovo Mediologie. Das entspannte bis euphemistische Verhältnis zwischen der christlich-abendländischen Tradition und den Medientechnologien auf seine frühesten Anfänge zu datieren, ist unabweislich.“2 Unter Historikern hat sich insbesondere die Annahme etabliert, dass die Reformation eng mit neuen Medientechniken und -märkten zusammenhing. Die Drucker der reformatorischen Schriften verfolgten zweifelsohne häufig

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Selbstverständlich gibt es Ausnahmen von theologischer und religionswissenschaftlicher Seite. Vgl. als differente Zugänge eher kommunikationstheoretisch: Hartmann Tyrell/Volkhard Krech/Hubert Knoblauch (Hrsg.), Religion als Kommunikation. Würzburg 1998; eher medienwissenschaftlich auf implizite Religion in den Massenmedien: Günter Thomas (Hrsg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven. Opladen 2000. Jochen Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt/M. 2004, 54. Vgl. auch ders., Brot und Wein. Zur Poesie des Abendmahls. Frankfurt/M. 2000.

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auch religiöse Ziele, aber sie folgten zugleich den gewinnorientierten kapitalistischen Logiken des neuen Medienmarktes, was wiederum markante Folgen für Kirche und Religion hatte. Dass etwa die Bibel oder religiöse Schriften im 16. Jahrhundert gegen den päpstlichen Willen massenhaft in Volkssprachen erschienen, lag nicht zuletzt an den großen Gewinnspannen, die sie den Druckern einbrachten. Entsprechend gewinnorientiert und nicht allein religiös oder ästhetisch motiviert war Gutenbergs prachtvoller Bibeldruck.3 Gleiches galt für die Flugblätter und Flugschriften, die entsprechend auflagenstark und wirkungsmächtig die Inhalte, Sprache und Aneignungsformen des Religiösen veränderten. Entsprechend naheliegend erscheint es, gerade für das 20. Jahrhundert die Beziehung zwischen Kirche, Religion und Medienmärkten zu betrachten. Tatsächlich blieb diese Perspektive jedoch weitgehend unberücksichtigt. Allenfalls für die USA entstanden einige Studien, die vor allem die gegenwärtige Kommerzialisierung des Religiösen thematisierten – insbesondere auf Seiten der Evangelikalen. 4 In Deutschland dürfte die bildungsbürgerliche Kulturkritik dazu geführt haben, dass der Medialität auch in der religionsgeschichtlichen Forschung kaum eine eigene Bedeutung beigemessen wurde. Zudem sah die Zeitgeschichtsforschung die Beziehung zwischen der Entwicklung der Medienmärkte und der Religion eher als gegenläufig an: Expandierende Medienmärkte galten als Katalysator der Säkularisierung. Die Ausbreitung des Medienkonsums hielt demnach Menschen nicht nur von der Ausübung religiöser Praktiken ab, sondern eröffnete ihnen neue Weltdeutungen, die die Religion verdrängten. Und tatsächlich scheint die kirchlich praktizierte Religion in jenen Jahrzehnten besonders an Bedeutung verloren zu haben, die durch markante Medialisierungsschübe geprägt waren, wie etwa durch die Etablierung der Massenpresse Ende des 19. Jahrhunderts, des Radios und Films in den 1920er Jahren oder des Fernsehens in den 1960er Jahren. Großstädte mit früher intensiver Mediennutzung waren hierbei Vorreiter. Spätestens die aktuelle Entwicklung seit Ende des Kalten Krieges sensibilisiert jedoch dafür, dass die Beziehung zwischen Religion und neuen Medienmärkten auch anders verstanden werden kann. Denn offensichtlich können Medien das Interesse an der Religion auch fördern: Sei es bei der Veranstaltung religiöser Events wie dem Kölner Weltjugendtag oder dem Begräbnis von Johannes Paul II., sei es bei Kontroversen wie dem Karikaturenstreit. Medien sind dabei nicht einfach ein Abbild einer außermedialen Realität, sondern sie schaffen auch religiös grundierte Ereignisse. Die MohammedKarikaturen etwa wurden gezielt von Journalisten erstellt und Papst-Besuche

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Vgl. Albert Kapr, Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung. München 1988, 180 u. 193; zur breiteren Einordnung des frühen Drucks der Reformation vgl. Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar. Konstanz 2000, 25 ff. Vgl. mit einer gewissen historischen Perspektive: R. Laurence Moore, Selling God. American Religion in the Marketplace of Culture. New York/Oxford 1994.

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von der BILD-Zeitung mit flächendeckender Werbung begleitet.5 Ob derartige Kommunikationsversuche Erfolg haben, hängt ebenfalls nicht einfach von der jeweiligen Religiosität der Bevölkerung oder dem Verhalten der Kirchen ab, sondern auch von der Struktur der Medienmärkte. Zudem sind die Kirchen Medienmärkten nicht einfach passiv ausgeliefert. Zu fragen ist vielmehr, wie sie auf diese reagieren und mit ihnen zu interagieren versuchen. Die mediale Herausforderung der Kirchen ist allerdings nicht allein ein Gegenwartsphänomen. So bestimmten Massenmedien in der Bundesrepublik spätestens seit den 1950er Jahren flächendeckend den Alltag der meisten Menschen, da Medien nun durch die Vollversorgung mit Radios, dem Boom von Kino und Illustrierten, dem Auflagenanstieg der Tagespresse und dem Beginn des Fernsehzeitalters neue Reichweiten erlangten. Dementsprechend soll im Folgenden diskutiert werden, inwieweit der nach ökonomischen Logiken geprägte Medienmarkt seit den 1950er Jahren Deutungen über Kirche und Religion etablierte, die wiederum auch Folgen für die religiöse Praxis haben konnten. Entsprechend geht es sowohl um die Frage, wie die Medialisierung den öffentlichen Status von Kirche und Religion veränderte, als auch darum, wie die Kirchen auf den Medienmarkt reagierten. Der Artikel fragt somit vor allem nach dem Verhältnis zwischen der Religion und den kommerziell geprägten (nicht-kirchlichen) Medien und schließt dabei an die Ansätze und Ergebnisse unserer DFG-Forschergruppe zur „Transformation von Kirche und Religion in der Moderne“ an.6

I. D ER M EDIENMARKT UND DIE B ESTÄRKUNG G LAUBENS IN DEN 1950 ER J AHREN

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Selbstverständlich lassen sich bereits vor den 1950er Jahren Medienmärkte mit sehr hoher Reichweite ausmachen, die für die Kirchen und Religion von größerer Bedeutung waren. So wird der Beginn der medialen Massenmärkte, die regelmäßig weite Teile der Bevölkerung erreichten, zumeist auf das 19. Jahrhundert datiert. Die Entstehung der Massenpresse erhielt in den USA,

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Der Weltjugendtag als „Medienereignis“ fand besonders große Aufmerksamkeit in der Forschung; vgl. Andreas Hepp/Veronika Krönert, Medien, Event und Religion. Die Mediatisierung des Religiösen. Wiesbaden 2009; Winfried Gebhardt u. a., Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis − Medien – Organisation. Wiesbaden 2007; Christian Klenk, Ein deutscher Papst wird Medienstar. Benedikt XVI. und der Kölner Weltjugendtag in der Presse. Berlin 2008. Erste Ergebnisse dazu in: Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945. Göttingen 2009; Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Medien, Religion und Kirche in der Bundesrepublik 1945-1980. Göttingen 2010; Benjamin Städter, Verwandelte Blicke. Massenmediale Bilder von Religion und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980) i. E. Frankfurt 2011.

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Frankreich und England bereits in den 1830er Jahren einen ersten Schub, setzte dann aber vor allem seit den 1870er Jahren in den westlichen Ländern mit einer rasanten Dynamik ein.7 Welche Bedeutung diese Medienmärkte für die Kirchen und Religion hatten, ist bislang unerforscht. Blickt man stichprobenartig auf die Blätter, die maßgeblich diese Entwicklung einleiteten, so standen sie nicht einfach für eine Säkularisierung, sondern setzten das Religiöse in andere Kontexte um. So kooperierte das erste und wegweisende PennyPaper der USA, der 1835 gegründete New York Herald, durchaus mit Geistlichen und druckte montags ausgewählte Predigten ab.8 Noch deutlicher waren die legendären Kampagnen der Pall Mall Gazette, die in den 1870/80er Jahren den populären und investigativen Journalismus in Großbritannien etablierten, durch das christliche Sendungsbewusstsein ihres Herausgebers W. T. Stead geprägt. 9 Nach seiner berühmten Kampagne gegen die türkischen Christenmorde in Bulgarien im Jahr 1876 notierte Stead etwa in sein Tagebuch: „I believe that in God’s hands I have been instrumental in doing much to prevent a great national crime, a war with Russia on the side of the Turks.“ 10 Ebenso waren seine Kampagnen gegen Prostitution, Armut oder ehebrechende Politiker von seinen religiösen Moralvorstellungen geprägt und mit Geistlichen abgestimmt. Sensationeller marktorientierter Journalismus und christlicher Glaube schlossen sich also in dieser Formierungsphase der massenmedialen Märkte nicht per se aus. Diese beiden Beispiele zeigen zugleich die Pole, zwischen denen sich die Religion in Medienmärkten bewegte: Auf der einen Seite lässt sich ein Aufgreifen der kirchlichen Kommunikation ausmachen, die aber in neue Kontexte und Gebrauchsweisen wanderte und dadurch eine andere Bedeutung erhielt. Auf der anderen Seite finden sich eigenständige Initiativen von Journalisten, die ein Thema mit Bezügen zu Kirchen und Religion selbst aufbauten, um sich auf dem Medienmarkt zu behaupten und damit das Religiöse eigenständig neu zu verorten. Zugleich reagierten die Kirchen und kirchennahe Verleger auf diese Medienmärkte mit eigenen Publikationen, die sich Medienlogiken anpassten. In Deutschland galt dies bekanntlich insbesondere für die katholische „Zentrumspresse“, die auch im Gewand der modernen Groß-

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Vgl. Jane Chapman, Comparative Media History. London 2005, 71-100; Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehzeitalter. Frankfurt/M. 2011. 8 Vgl. Moore, Selling God (wie Anm. 4), 33 f. 9 Vgl. Raymond Schults, Crusader in Babylon: W. T. Stead and the Pall Mall Gazette. Lincoln 1972; Frank Bösch, Volkstribune und Intellektuelle. W. T. Stead, Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Großbritannien und Deutschland, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten, Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern 2006, 99-120. 10 Eintrag 14.1.1877, in: J. W. Robertson Scott, The Life and Death of a Newspaper. London 1952, 104.

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stadtpresse religiös geprägte Deutungen verbreitete.11 Mit der Massenpresse entstand zudem ein Anzeigenmarkt, dessen Bedeutung für die Etablierung neuer und alternativer Formen von Religiosität noch genauer zu untersuchen wäre, da hierüber zahlreiche Bücher zu alternativen und esoterischen Religionsformen vertrieben wurden. Trotz der vielfältigen Vorläufer entfaltete sich in der Bundesrepublik erst seit den 1950er Jahren ein Medienmarkt, dessen Reichweite und inhaltliche Religionsdarstellung eine neue Qualität aufwies. Blickt man zunächst auf die Printmedien der 1950er Jahre, so fällt die immense Reichweite der Zeitschriften auf. So erreichten der Stern und die Hör Zu im Jahr 1954 jeweils 8,5 Millionen Leser wöchentlich und ein heute vergessenes Blatt wie die Revue immerhin noch 5,7 Millionen Menschen.12 Eine Komplettauswertung diverser Zeitschriften (wie Spiegel, Stern, Quick, Kristall und Neue Illustrierte/Revue) ergab, dass religiöse Themen eine starke Präsenz in diesen Blättern hatten.13 Hierbei lassen sich vor allem zwei Gruppen von Artikeln unterscheiden: Einerseits finden sich zahlreiche anlassorientierte Berichte, die insbesondere öffentliche Auftritte von hohen Geistlichen thematisierten. Wohlwollende Berichte über den Katholizismus standen dabei deutlich im Vordergrund, da er offensichtlich deutlich besser der visuellen Logik der Blätter entsprach und eine größere visuelle Außeralltäglichkeit versprach. Entsprechend der Nachrichtenwerte kommerzieller Medien waren die Berichte anlassbezogen, personalisiert und exotisiert. Die kirchliche Hierarchie wurde nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr visuell und diskursiv konstituiert (vgl. die folgende Abb. 1).

 11 Letzteres gilt insbesondere für die Kölnische Volkszeitung. Zur Entwicklung der katholischen Presse vgl. grundlegend: Michael Schmolke, Die schlechte Presse. Katholiken und Publizistik zwischen „Katholik“ und „Publik“ 1821-1968. Münster 1971. 12 Diese Zahlen beziehen sich auf die Leser, nicht die Auflage; Rüdiger Schulz, Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1999, 401-425, hier: 419. 13 Hier folge ich den Auswertungen meiner Mitarbeiter Nicolai Hannig und Benjamin Städter; Hannig, Religion (wie Anm. 6); Städter, Blicke (wie Anm. 6).

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Abb. 1: Anlassorientierte Religionsbestärkung in den 1950er Jahren. Der Katholizismus wird personalisiert und zugleich exotisiert; Quick 20 (1957) über Papst Pius XII.





Noch interessanter für unseren Zusammenhang ist eine zweite Gruppe von Zeitschriftenartikeln, die unabhängig von den Kirchen initiiert wurden. Sie präsentierten häufig scheinbar neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Recherchen von Journalisten, die die Bibel oder den christlichen Glauben rational verifizieren sollten. Auch diese Berichte folgten den kommerziellen Nachrichtenwerten, die jeweils Relevanz und Aufmerksamkeit versprachen. Selbst biblische Ereignisse wurden dabei mit dem zentralen medialen Nachrichtenwert der Neuigkeit verbunden. So stellten die Zeitschriften neue Funde vor, die die biblische Geschichte von der Arche Noah verifizieren sollten (vgl. die nachstehende Abb. 2).14

 14 Vgl. Gerd Hennenhofer, Wir fanden die Arche Noah, in: Stern 20, 1957; vgl. bereits Kristall 19-22, 1949; Kristall 26, 1958.

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Abb. 2: Moderne mediale Beweisführungen für die Wahrheit der Bibel; Belege für die Arche Noah (Stern 20/1957) und Rekonstruktion von Jesus anhand des Turiner Grabtuches (Quick 46/1953).

 Diese scheinbar wissenschaftliche Bestärkung des Glaubens wurde mit den sonst üblichen Präsentationsformen des Zeitschriftenmarktes verbunden: den heldenhaften Entdeckergestalten, dem Exotismus ferner Länder und den neuen Techniken in der Moderne, die bislang Verborgenes sichtbar machen könnten. Charakteristisch dafür waren etwa auch Artikel über die Versuche

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eines Professors, anhand des Turiner Grabtuches das genaue Aussehen von Jesus zu rekonstruieren (vgl. oben Abb. 2).15 Diese Zeitschriftenartikel mit Millionenauflagen korrespondierten mit einem entsprechend kommerziell erfolgreichen Sachbuchmarkt. Der Anteil von religiösen Neupublikationen betrug in den 1950er Jahren rund sieben Prozent (2003 waren es noch 5,7 Prozent).16 Darunter verbargen sich viele Bestseller mit ähnlichem Duktus wie die Massenpresse. Werner Kellers Buch „Und die Bibel hat doch recht“ verkaufte sich etwa bereits 1955, unmittelbar nach seinem Erscheinen, 100.000 Mal, bis heute angeblich in 22 Millionen Exemplaren. Inhaltlich belegt es Bibelpassagen wie die Sintflut anhand von Lehmschichten und den Turm von Babel mit Trümmerteilen.17 Und Peter Bamm hielt es in seinen als Buch publizierten Rundfunkberichten für möglich, Stücke von Moses Gesetzestafel oder Adams Grab zu entdecken. 18 Derartige religiöse Beglaubigungen korrespondierten übrigens auch mit einem boomenden Markt für archäologische Sachbücher.19 Alle diese Beispiele zeigen, dass expandierende Medienmärkte nicht mit einer Religionskritik gleichzusetzen sind, sondern dass auch eine Bestärkung der Religion den Marktlogiken entsprechen konnte. Eine derartige Verbindung zwischen moderner Populärkultur, technischer Rationalität und konservativer religiöser Deutung war kommerziell offensichtlich erfolgreich und fand deshalb schnell nachahmende Veröffentlichungen. Dennoch dürfte diese kirchenferne Thematisierung von Religion ambivalente Folgen für die Verbreitung des Glaubens gehabt haben. Die Autoren intendierten zwar die Festigung des Glaubens durch eine wissenschaftlich-rationale Argumentation, die durch mediale Aufmerksamkeitserregung auch jenseits der Kirchgänger viele Menschen erreichen sollte. Aber zugleich förderten derartige Beweisführungen die Annahme, Religion beruhe weniger auf Transzendenz und Glauben denn auf visualisierbaren Beweisen, was wiederum implizit ein säkularisiertes Verständnis von Religion eröffnete. Nicht weniger ambivalent war die Plat-

 15 Quick 46, 1953. 16 Das war freilich bereits deutlich weniger als in früheren Zeiten; vgl. Olaf Blaschke, Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Religion (1800-1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter, in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, Graphik, in: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke/index_html#d53e305. 5 [11.10.2009]. 17 Vgl. hierzu Hannig, Religion (wie Anm. 6), 99 f.; ferner Johannes Lehmann, Sachliteratur zur evangelischen Theologie und allgemeinen Religionswissenschaft, in: Rudolf Radler (Hrsg.), Die deutschsprachige Sachliteratur. München/Zürich 1978, 179-203, hier: 183 f. 18 Peter Bamm, Frühe Stätten der Christenheit. München 1955, 17 f. 19 David Oels, Ceram – Keller – Pörtner. Die archäologischen Bestseller der fünfziger Jahre als historischer Projektionsraum, in: Wolfgang Hardtwig/Erhard Schütz (Hrsg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2005, 345-370.

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zierung zwischen anderen unterhaltsamen Berichten: Religionsfragen erreichten so zwar mehr Menschen als bei den wöchentlichen Gottesdienstbesuchen, aber ihre Positionierung zwischen weltlichen Trivialitäten nahm ihnen das Sakrale. Ähnliches lässt sich für die 1950er Jahre auch für das Radio und das Fernsehen feststellen. Nachdem in der Weimarer Republik religiöse Radiosendungen rund 1,5 bis zwei Prozent des Gesamtprogramms ausgemacht hatten20, sendeten die Kirchen in der Bundesrepublik nicht nur eigene Verkündigungssendungen wie insbesondere Gottesdienste und Morgenfeiern.21 Ebenso fanden sich im Radio regelmäßig kirchliche Nachrichten und Berichte über die christlichen Glaubensgemeinschaften, die zwar Kirchenfunkredakteure verantworteten, aber oft Geistliche und Theologen verfassten. Charakteristisch war damit ebenso wie beim frühen Fernsehen eine mediale Bestätigung des Glaubens – etwa wenn Reporter des SWF 1959 für eine einstündige Dokumentation zu den Schauplätzen der Bibel reisten und in ihrem Film diese anhand der angeblich unveränderten Stätten verifizierten.22 Ähnlich wie die Zeitschriften erschloss dies neue „Konsumenten“ des Religiösen. So gaben 1954 ein Viertel der Hörer von Radio-Gottesdiensten an, solche persönlich nie zu besuchen. Aber ebenso wie bei den Zeitschriften schuf auch diese Platzierung auf dem Medienmarkt einen Formenwandel: Religion wurde zu einem wählbaren Element der Unterhaltungskultur, das per Knopfdruck gewechselt werden konnte. Und anstatt des gemeinschaftlichen Erlebnisses und der Performanz im Kirchenraum kam es zu einer Privatisierung der religiösen Aneignung.

II. K RITIK

UND K RISE ALS V ERKAUFSSCHLAGER IN DEN LANGEN SECHZIGER J AHREN

Dieser mediale Markt veränderte sich seit den späten fünfziger Jahren, die bekanntlich in vielfacher Hinsicht als eine Zäsur gelten. Dies gilt auch für die Medienentwicklung insgesamt: Ab 1958 kam auch in Deutschland ein verstärkt investigativer Journalismus auf, der sich kritisch positionierte; sei es von linksliberaler Richtung, sei es, dass er ins konservative Lager wanderte.23 Ebenso wandelten sich in dieser Zeit das Verhältnis zwischen den Medien

 20 Renate Schumacher, Programmstruktur und Tagesablauf der Hörer, in: JoachimFelix Leonhard (Hrsg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Bd. 1. München 1997, 353-420, hier: 383. 21 Die BBC hatte hierbei eine Vorbildfunktion; vgl. Heinz Glässgen, Katholische Kirche und Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1962. Berlin 1983, 102-105. 22 Vgl. zum Folgenden: Hannig, Religion (wie Anm. 6), 95 f. 23 Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973. Göttingen 2006, 293-360.

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und der Religion sowie die mediale Präsenz der Religion. Bemerkenswerterweise stieg gerade in den 1960er Jahren, als die Kirchenbindungen signifikant abnahmen, das mediale Interesse an Kirche und Religion besonders an. Zeitschriften und Fernsehen setzten sich nun regelmäßig mit Kirche und Religion auseinander. Wie die Auswertungen unserer Forschergruppe ergaben, thematisierten etwa im neuen Fernsehmagazin Panorama immerhin zehn Prozent der Sendungen zwischen 1961 und 1972 explizit Kirchen und Religion. Dies lässt sich wiederum nicht allein mit den Interessen der Journalisten erklären, sondern auch mit der Quoten- und Gewinnorientierung der Medien. So ist für den Spiegel zu belegen, dass Ausgaben mit religionsbezogenen Titelgeschichten überdurchschnittlich hohe Verkaufsauflagen erreichten24 und damit auch kommerziell den Marktlogiken entsprachen. In den 1960er Jahren galt offensichtlich nicht nur „Sex sells“, sondern auch „Religion sells“. In der wechselseitigen Wahrnehmung von Medien und Kirchen zeichnete sich ebenfalls ein gegenläufiger Trend ab: Während die Kirchen semantisch auf eine Inklusion setzten und sich von ihrem Selbstverständnis her gegenüber der Welt öffneten, wurden sie in den Medien exkludiert, also als ein Teilsystem innerhalb der Gesellschaft abgegrenzt, das damit neben und nicht über anderen Teilsystemen stand.25 Diese Wende hin zu eigenständigen kritischen Religions- und Kirchendeutungen der Medien markierte Ende 1958 ein 14-seitiger Artikel über „Jesus von Nazareth“. Hier begann Rudolf Augsteins lange Beschäftigung mit der Religion, wobei die Abhandlung versuchte, in kritischer Abgrenzung zur Bibel und Kirche Jesus als historische Gestalt zu fassen. 26 Sowohl der kommerzielle Erfolg dieser Spiegel-Ausgabe als auch die gewaltige öffentliche Reaktion markierten den Umbruch. Zugleich etablierte sich um 1960 ein kritischer Mediendiskurs, der die Reform der Institution Kirche forderte. Und als die Kirchenreform dann insbesondere mit dem Zweiten Vatikanum einsetzte, kritisierten die Medien diese wiederum als ungenügend. Frühzeitig diagnostizierten sie zudem Anfang der 1960er Jahre eine Krise des Glaubens: Bevor die Kirchenbänke sich tatsächlich leerten, waren die Bilder von leeren Kirchen in den Medien präsent. 27 Die neuen kritischen Fernsehmagazine, wie Panorama, brachten dabei ähnliche Bilder wie die Illustrierten. Nicht nur das neue journalistische Selbstverständnis, das in den Kirchenredaktionen größere Autonomie von den Kirchen durchsetzte,

 24 Daten nach Hannig, Religion (wie Anm. 6), 170. 25 Ebd., 391. 26 Die Ausgabe erschien in: Der Spiegel 52, 1958 (24.12.1958); zu seinem Religionsverständnis vgl. auch Rudolf Augstein, So stell ich mir die Christen vor. Berlin 1965; ders., Jesus Menschensohn. Hamburg 1972. Die große Bedeutung dieses Artikels betonte bereits Hans-Joachim Dörger, Religion als Thema in SPIEGEL, ZEIT und STERN. Hamburg 1973. 27 Vgl. insbesondere die 12-teilige (!) Stern-Reportage über die Situation der Kirchen in Deutschland: Joachim Heldt/Herbert Ludz, Gott in Deutschland, in: Stern 3850, 1962.

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sondern auch der kommerzielle Erfolg der Kirchenkritik auf dem Medienmarkt dürften derartige Berichte gefördert haben. Dennoch erschöpfte sich das öffentliche Interesse auch in den 1960er Jahren nicht in einer Kritik an Kirche und Religion. Ebenso verkauften sich Berichte über Kirchenreformer und alternative religiöse Praktiken. Der Amtskirche stellten die Medien einzelne engagierte Prediger gegenüber. Dazu zählte etwa Pater Leppich, der auf den Marktplätzen und Fabrikhallen medienkompatibel predigte und von sich selbst sagte: „Ich verkauf die beste Ware der Welt“. 28 Seine spektakulären Auftritte waren idealer Stoff für lebhafte Reportagen und Bilder. Gleiches galt für Berichte über Pastor Preuß aus St. Pauli, der „Teenagern am Hamburger Hafen die Sache mit Gott“ erkläre und für 1.300 Dirnen zuständig sei.29 Die Medienpräsenz derartiger amtskirchlicher Randfiguren folgte ebenfalls ökonomischen Medienlogiken; neben Nachrichtenwerten wie Neuigkeit, Konfliktorientierung oder Exotismus kam auch der Verkaufsfaktor Erotik hinzu, wenn Spiegel-Redakteure ausgerechnet über Geistliche nahe der Reeperbahn schrieben. Derartigen einfachen Wanderpredigern stellten die Medien die Kirche als reiche Institution gegenüber, die im finanziellen Überfluss lebe.30 Sendungen wie Panorama unterstrichen ebenfalls diesen Gegensatz zwischen der finanziell reichen Kirche und ihrer Armut an Gläubigen. Den Geldsegen sahen sie als Bremse für das religiöse Engagement – sowohl bei den Kirchenmitarbeitern als auch bei den „Kirchensteuer-Christen“. Dagegen idealisierten sie die evangelische Kirche in der DDR, die zwar kaum finanzielle Mittel habe, aber durch ihre zwangsweise Trennung vom Staat authentisch für den Glauben kämpfe. Als Reaktion auf die Vorwürfe gewährten bereits ab 1964 einige westdeutsche Diözesen transparentere Einblicke in ihre Finanzen.31 Auch im Rundfunk orientierten sich die Kirchenredaktionen stärker an diesen neuen Regeln des Medienmarktes. Das zeigte sich bereits bei den Namen der Sendungen: Mit dem Aktualitätsprinzip korrespondierte etwa die Sendung „Aktuelles aus der Christenheit“, die seit 1962 Freitag nachmittags im WDR zu hören war, und mit dem Nachrichtenwert „Konflikt“ die SDRReihe „Kritik an der Kirche“ 1958, die im Kontext der neuen zeitkritischen Ausrichtungen des Senders stand, die sich schnell auch beim Fernsehen etablierten.32 Diese verstärkt kritische Distanz der Medien zu den Kirchen lässt sich sicher mit dem Sozialprofil der Journalisten erklären. Gerade diese Berufsgruppe war seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ganz überdurch-

 28 Vgl. Kristall 24, 1961. 29 Vgl. Der Spiegel 52, 1968 (in der Weihnachtsausgabe zum 24.12.1968). 30 Vgl. etwa Der Spiegel 22, 1964, oder die Titelgeschichte „Kirchensteuer. Zu hoch und zu viel“, in: Der Spiegel 13, 1969. 31 Hannig, Religion (wie Anm. 6), 160. 32 Jürgen K. Müller, Die Anfänge des Fernsehens im Süddeutschen Rundfunk, in: Konrad Dussel/Edgar Lersch/Jürgen K. Müller (Hrsg.), Rundfunk in Stuttgart 1950-1959. Stuttgart 1995, 209-250, hier: 234-246.

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schnittlich oft konfessionslos. In der Bevölkerung waren zu Beginn der 1970er Jahre nur fünf Prozent ohne Kirchenmitgliedschaft, unter den Pressejournalisten bereits 40 Prozent und in der Führungsetage des WDR beispielsweise 25 Prozent.33 Eine starke Präsenz auf dem Medienmarkt hatten zudem Berichte, die den individuellen Glauben gegen die Institution Kirche stellten, wobei wiederum der Blick auf die Katholiken im Vordergrund stand. Insbesondere selbst erstellte Meinungsumfragen zum Thema Glaube versprachen sensationelle Neuigkeiten darüber, was den aktuellen Glauben ausmache. Ende 1967 ermittelten etwa die Marktforscher von EMNID im Auftrag des Spiegels umfassend (mit 70 Fragen), welche religiösen Deutungen in Deutschland vorherrschten, und zeigten wie deutlich diese von der Lehrmeinung der Kirchen abwichen, selbst bei katholischen Kirchgängern. 34 Andere Medien zogen nach, wie der Stern mit seiner Umfrage über das Pillenverbot von Paul VI. und dem Befund: „68 Prozent der deutschen Katholiken: Der Papst hat sich geirrt“. 35 Techniken der Konsumforschung wurden damit medial auf die Religion übertragen. Wie bei Umfragen zur Sexualität etablierte sich mit dem Glauben ein weiterer äußerst privater Bereich auf dem Markt der Öffentlichkeit. Folglich kam es seit den 1960er Jahren nicht einfach nur zu einer Privatisierung der Religion, sondern zugleich zu einer öffentlichen Vermessung und Markierung des individuellen Glaubens, was das Individuell-Persönliche am Glauben wiederum reduzierte.

III. ANPASSUNG UND S CHEITERN : K IRCHLICHE R EAKTIONEN AUF DEN M EDIENMARKT Wie reagierten die Kirchen auf diese medialen Veränderungen? In den 1950er Jahren hatten sie noch vor allem an der Konsumentenseite angesetzt. Die Mediennutzer sollten durch eigene Schriften und Institutionen zum christlichen Gebrauch der Medien erzogen werden, um so zugleich auch die Hersteller zu beeinflussen. Organisationen wie die Katholische Filmliga und die Evangelische Filmgilde vereinten immerhin jeweils zwei Millionen Menschen, die sich auf eine Beschränkung von kirchlich empfohlenen Filmen verpflichteten, mit dem Ziel, kommerziellen Druck auf die Medienmacher auszuüben.36 Der Erfolg der amerikanischen Catholic League of Decency, die seit den 1930er Jahren über den angedrohten Protest der katholischen Kinobe-

 33 Reinhart Stalman, Über die Professionalisierungstendenzen bei den Pressejournalisten der Bundesrepublik Deutschland. Diss. Zürich 1974, 272. 34 Titelgeschichte „Was glauben die Deutschen“, in: Der Spiegel 52, 1967. 35 Stern 39, 1968. 36 Letzteres galt vor allem auf Seite der Katholiken; vgl. Christian Kuchler, Kirche und Kino. Katholische Filmarbeit in Bayern (1945-1965). Paderborn u. a. 2006, 185f.

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sucher Einfluss auf Filminhalte nehmen konnte, war zweifelsohne ein Vorbild. Ebenso sollten Organisationen wie der Katholische Zeitschriftendienst oder Zeitschriftenbeobachtungsdienst der Evangelischen Kirche im Rheinland fundierte Informationen geben, welche Printmedien zu tolerieren, empfehlen oder abzulehnen seien, um so Einfluss auf die Verlage und den Printmarkt zu gewinnen.37 Durch ihre Kritik und Beteiligung an Kontrollbehörden wie der FSK gelang es den Kirchen zudem, die Zensur zahlreicher Filme und Schriften zu forcieren.38 Mitunter lösten die Kirchen mit derartigen Eingriffen im Medienmarkt jedoch gegenteilige Effekte aus, indem sie indirekt skandalisierte Filme oder Romane zu Kassenschlagern machten. In den 1960er Jahren setzten die Kirchen dagegen stärker bei der Produzentenseite an. Dabei versuchten sie, ihre eigene Kommunikation stärker den medialen Logiken anzupassen. Gefördert wurde diese Reaktion dadurch, dass ihre eigenen Medien seit Mitte der 1960er Jahre nicht mehr konkurrenzfähig waren. Die Bistumsblätter verloren seit 1963 an Auflage und die Leser der großen christlichen Wochenblätter wie Christ und Welt schwanden zugunsten liberaler Wochenblätter wie Die Zeit und Der Spiegel. Und auch die Quote von „Wort am Sonntag“ brach in den fünf Jahren nach 1963 von 40 auf 27 Prozent ein.39 Wichtige kirchliche Medien, die den Mediengebrauch kanalisieren sollten, kappten ihre Bindungen. Die erfolgreiche katholische Fernsehzeitschrift Gong löste sich 1969 ganz von der Kirche, weil der Spagat zwischen den kommerziellen Interessen und den kirchlichen Ansprüchen zu schwierig erschien. Konfessionelle Filmzeitschriften wie der katholische Film-Dienst oder der Evangelische Film-Beobachter professionalisierten ihre Kritik und folgten bei ihren Bewertungen zunehmend weniger religiösmoralischen Leitlinien. Doch obwohl der Evangelische Filmbeobachter nun Themen und Vokabular von Cineasten übernahm und auch Plattenkritiken veröffentlichte, ging er 1971 mangels Abonnenten ein.40 Tatsächlich zeigten die Kirchen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durchaus mutige Ansätze, sich auf den Medienmarkt einzulassen. Auf den Erfolg von neuen Jugendzeitschriften wie Bravo und Twen reagierten sie

 37 Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948-1989). Bonn 2008, 132-142; Hannig, Religion (wie Anm. 6), 165. 38 Vgl. Jürgen Kniep, Von den „unblutigen Martyrern unserer Zeit“. Die Kirchen und die Filmzensur in Westdeutschland zwischen Nachkriegszeit und siebziger Jahren, in: Bösch/Hölscher (Hrsg.), Kirchen (wie Anm. 6), 115-143; Stephan Buchloh, „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt/M. 2002. 39 Ruth Ayaß, Das Wort zum Sonntag. Fallstudie einer kirchlichen Sendereihe. Stuttgart 1997, 68-71. 40 Kniep, Von den „unblutigen Martyrern unserer Zeit“ (wie Anm. 38), 140; vgl. auch, obgleich eher mit dem Charakter einer Jubiläumsschrift: Thomas Schatten, Geschichte der katholischen Zeitschrift „film-dienst“. Düsseldorf 1999.

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1960 mit dem katholischen Jugendmagazin Kontraste und 1959 mit dem evangelischen Jugendblatt Horizont. Diese stellten bewusst moralische Restriktionen zurück und zogen auch Fotografen von Twen heran.41 Auf den Erfolg von Illustrierten wie Stern reagierte die Kirche mit neuen Zeitschriften wie Hallo, Top und Impuls. Und auf den Auflagenanstieg der Zeit antwortete die katholische Kirche mit der Gründung der modern und auflagenstark konzipierten Wochenzeitung Publik, der sie immerhin rund 15 Millionen Mark Anschubfinanzierung gewährte.42 Auf die kritische Diskussionskultur reagierten die Kirchen zudem mit zahlreichen kleinen Blättern, die bereits im Titel Dialogbereitschaft unterstrichen. Inhaltlich folgten auch die kirchlichen Medien nunmehr stärker dem Medienmarkt als theologischen Leitlinien. Dies lässt sich besonders bei kontroversen Themen wie der Verhütung ausmachen, bei denen die kirchlichen Medien durchaus liberalere Positionen bezogen, da die Bevölkerungsmehrheit die Positionen der katholischen Kirchenführung kritisch sah.43 Auch kirchliche Veranstaltungen folgten stärker den Regeln des Medienmarktes. Sie wurden verschiedentlich so umgestaltet, dass sie nicht nur die Jugend ansprachen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Medien erreichten. Gottesdienste fanden etwa mit Bands oder in Kinos statt, und Gemeinden mieteten sich in ungewöhnlichen Orten ein, wie etwa als „Ladenkirchen“ in Geschäftsräumen der Einkaufstraßen, um so ihre Nähe zur Alltagswelt der Konsumenten zu demonstrieren. 44 Nicht weniger mediale Aufmerksamkeit erregten christliche Gruppen, die abgrenzend mit „urchristlichen“ Riten experimentierten und sich damit scheinbar von aller Kommerzialisierung entfernten, Journalisten aber anscheinend bereitwillig Zugang gewährten. Die Kirchen selbst maßen Bedeutung und Erfolg ihrer Veranstaltungen ebenfalls zunehmend an der massenmedialen Aufmerksamkeit. So begann der offizielle Bericht des Präsidiums des Essener Katholikentages 1968 mit langen Aufzählungen über die starke Präsenz von Journalisten (424 akkreditierte), Presseberichten (2538 Artikel) und Radio- und Fernsehsendungen über den Katholikentag (37 Stunden im Radio, 17 Stunden im Fernsehen).45 Auch die selbst-

 41 Detlef Siegfried, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006, 314. 42 Zur Gründung von „Publik“, das bis heute als Signum des Aufbruches in den 1960er Jahren gilt, vgl. Benjamin Ziemann, Öffentlichkeit in der Kirche. Medien und Partizipation in der katholischen Kirche der Bundesrepublik 1965-1972, in: Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, 179-206. 43 Eva-Maria Silies, Familienplanung und Bevölkerungswachstum als religiöse Herausforderung. Die katholische Kirche und die Debatte um die Pille in den 1960er Jahren, in: Historical Social Research 32, 2007, 187-207. 44 Vgl. Darstellungen zu den hier genannten Beispielen in: Der Spiegel 52, 1967. 45 Vgl. den offiziellen Bericht des Präsidiums des Katholikentages: Mitten in dieser Welt. 82. Deutscher Katholikentag Essen 1968. Paderborn 1968, 15 f.

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gestellte Frage „Wie stehen wir nun da?“ beantwortete man eingangs mit einer Reflexion der journalistischen Artikel. Nicht die Gläubigen, sondern der Medienmarkt und die Öffentlichkeit wurden damit zum Referenzpunkt der Selbstwahrnehmung. Auch der Vatikan reagierte entsprechend auf den neuen Medienmarkt. So führte um 1960 nicht nur der deutsche Kanzlerkandidat Willy Brandt Fotound Fernsehjournalisten durch seine Privatgemächer, sondern auch Papst Johannes XXIII. ließ zeitgleich erstmals Kameras in die päpstlichen Privatgemächer, bis hin zu seinem Schlafzimmer. Ebenso medienkompatibel trat Johannes XXIII. mit Witz an ungewöhnlichen Orten wie einem italienischen Gefängnis vor laufenden Filmkameras auf.46 Und bereits Pius XII., der frühzeitig eine Öffnung gegenüber den Medien gefordert und praktiziert hatte, setzte durch seine „Medienenzyklika“ „Miranda Prorsus“ 1957 entsprechende Akzente, die vielleicht sogar weitreichender waren als die medienbezogenen Passagen im „Inter Mirifica“ des Zweiten Vatikanischen Konzils.47 Auch im Fernsehen zeigte sich die Kirche aktiv und ließ sich auf die Medienlogiken ein. Das scheint gerade für die Protestanten zu gelten, deren eigens gegründete evangelische Produktionsfirma „Eikon“ vielfältige Aktivitäten entfaltete. Größeren Raum bot den Kirchen das ZDF, das bereits von seinem Staatsvertrag her die Berücksichtigung der Kirchen besonders deutlich hervorhob. Schon gleich nach Sendebeginn reüssierte zwischen 1963 und 1978 die regelmäßig ausgestrahlte Sendung „Pfarrer Sommerauer antwortet“, in der der evangelische Pfarrer als Ratgeber in allen Lebenslagen auftrat. Ebenso produzierte die „Eikon“ 1969 die erfolgreiche fiktionale Familienserie „Familie Mack verändert sich“, die sozialkritisch das Auseinanderbrechen einer Familie zeigte und hierbei sehr dezent religiöse Fragen anriss. Selbst auf die medial aufgebrachte Demoskopie antwortete die Kirche. Die EKD startete seit 1970 Mitgliederbefragungen, die katholische Kirche reagierte sogar mit einer Vollumfrage. Obgleich sie sich dabei bewusst von den Methoden der Konsumforschung distanzierten, reagierten sie jedoch auf diese marktgesteuerte Technik der Demoskopie.48 Dies suggerierte eine neue demokratische Form der Kommunikation und Partizipation für die „schweigende Mehrheit“, die nicht öffentlich oder in kirchlichen Gremien ihre Stimme erheben konnte.

 46 Zahlreiche entsprechende Originalaufnahmen von Johannes XXIII. vereint die ansonsten vom Drehbuch mitunter undifferenzierte ZDF-Dokumentation: Johannes Paul XXIII und der Aufbruch (Mainz 1997). 47 Vgl. zur breiteren Einordnung: Matthias von Gersdorff, Der Einfluß von Film und Fernsehen auf den Menschen. Die Lehre der Päpste von Pius XI. bis Johannes Paul II. Frankfurt/M. 1997; Giselbert Deussen, Ethik der Massenkommunikation bei Papst Paul VI. München 1973. 48 Vgl. Benjamin Ziemann, Meinungsumfragen und die Dynamik der Öffentlichkeit. Die katholische Kirche in der Bundesrepublik nach 1968, in: Historisches Jahrbuch 126, 2006, 493-520.

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Alle diese unterschiedlichen Beispiele verdeutlichen, dass sich die Kirchen in den 1960er Jahren vielfach bemühten, sich an die Mechanismen des Medienmarktes anzuschließen. Tatsächlich scheiterten sie damit jedoch in Deutschland bereits Anfang der 1970er Jahre weitgehend. Im Segment der Jugendzeitschriften verschwand ein neues marktorientiertes Blatt wie Horizont schon 1967 wegen zu hohen Subventionsbedarfs; und moderne Illustrierte wie Hallo mussten entweder verkauft werden oder fusionieren. Ebenso machte die Wochenzeitung Publik derartige Verluste, dass das geplante Flaggschiff schon 1971 eingestellt wurde.49 Ebenso umstritten und ergebnislos blieben letztlich die aufwändigen Befragungen. Die größte Reichweite erlangten die Kirchen vermutlich mit den in ihrem Auftrag produzierten Fernsehserien im ZDF. Allerdings entfernten sie sich damit fast bis zur Unkenntlichkeit von Glaubensfragen und verlagerten sich stark auf die Bewältigung von Alltagskonflikten. Ohnehin erlangten sie im Fernsehen nicht ansatzweise die Rolle der „electronic church“ in den USA. Bekehrungen per Fernsehen, wie sie insbesondere Billy Graham in den USA etablierte, blieben aus, obgleich Graham auch bei seinen Auftritten in Deutschland 1970 neue Übertragungstechniken erprobte. 50 Und schon gar nicht erreichte die „electronic church“ in Deutschland eine auch nur annähernd vergleichbare ökonomische Bedeutung wie in den USA, wo bereits 1980 aus einer Kopplung von Fernsehen, Anrufen und Spenden rund 600 Millionen Dollar umgesetzt wurden.51 Die Gründe dafür sind nicht einfach zu klären. Insgesamt ließen sich die westdeutschen Kirchen trotz aller Ansätze vermutlich zu zögerlich auf die Logiken des Medienmarktes ein. Generell ist aber zu fragen, inwieweit weltanschauliche Großorganisationen sich überhaupt auf modernen (Medien-) Märkten behaupten können, da der Spagat zwischen kommerziell orientierter journalistischer Freiheit und einer Entfernung von den eigenen Grundsätzen stets eine Zerreißprobe bedeutet. Aus den gleichen Gründen scheiterten die Gewerkschaften und Parteien trotz ähnlicher Reformversuche auf dem Medienmarkt. Gerade der Niedergang der SPD-Presse wies dabei, bei allen inhaltlichen Differenzen, große Gemeinsamkeiten mit dem Erosionsvorgang der kirchlichen Medien auf: Weder Subventionen noch Neugründungen ermöglichten es der SPD, sich auf dem kommerziell strukturierten Medienmarkt zu behaupten. Finanziellen Erfolg erreichte die SPD erst durch den Kauf von Anteilen an überparteilichen Medien bei gleichzeitiger inhaltlicher Zurückhaltung, was letztlich eine Anpassung an die kapitalistische Logik des Marktes bedeutete.

 49 Ziemann, Öffentlichkeit (wie Anm. 42), 201. 50 Vgl. Uta Balbier, Billy Grahams Crusades der 1950er Jahre. Zur Genese einer neuen Religiosität zwischen medialer Vermarktung und nationaler Selbstvergewisserung, in: Bösch/Hölscher (Hrsg.), Kirchen (wie Anm. 6), 66-88. 51 Angabe nach: Artikel „Fernsehen“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11. Berlin 1983, 90.

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Wie sehr sich die Kirchen um eine mediale Massenkommunikation bemühten, um ihre Positionen zu verbreiten, zeigte sich bei der Abtreibungsdebatte Anfang der 1970er Jahre. Während linksliberale Medien wie der Stern offensiv für eine Liberalisierung des § 218 eintraten, produzierten die Kirchen Gegenschriften in deutlich größerer Auflage. Ihre farbige Broschüre „Reform des § 218“ wurde in einer Auflage von acht Millionen Exemplaren gedruckt und als Postwurfsendung an einen Großteil der Haushalte versendet. Angeblich 80 Prozent der Plakatwerbeflächen in der Bundesrepublik waren mit dem Slogan beklebt: „Ja zum Leben, Nein zum Töten. Mutter und Kind brauchen Rat und Hilfe. Abtreibung löst keine Konflikte. Abtreibung zerstört.“52 Und rund 3,5 Millionen Exemplare des „Hirtenworts der deutschen Bischöfe zum Schutz des ungeborenen Lebens“ wurden an die katholischen Gläubigen verteilt. Nicht die kommerzielle Anbiederung an den Medienmarkt, sondern die zwar hochsubventionierte, aber klare Positionierung der Kirchen rückte damit wieder in den Vordergrund. In den 1970er Jahren verlor der kommerzielle Medienmarkt jedoch insgesamt sein Interesse an den Kirchen und der Religion. Die nicht-kirchlichen Medien entdeckten stattdessen andere religiöse Themen, die ihren Aufmerksamkeits- und Marktmechanismen mehr entsprachen. Dazu zählten seit 1973 Berichte über außerkirchliche esoterische Praktiken und Sekten, über die politische Positionierung von Geistlichen und über außereuropäische Religionsformen.53 Ebenfalls 1973 traten im Spiegel erste ausführliche Warnungen vor dem Vordringen des Islams auf.54 Die Zahl derjenigen, die Religionsformen jenseits der christlichen Kirchen praktizierten, blieb jedoch auch in den folgenden Jahrzehnten verschwindend gering und konnte bei weitem nicht die Zahl der Kirchenaustritte aufwiegen, die seit 1969 stark zunahm.55 Die Medien schenkten den alternativen religiösen Praktiken jedoch eine derartige Beachtung, dass sie eine große gesellschaftliche Bedeutung erhielten und Menschen auf solche Angebote erst aufmerksam wurden. Auch die regelmäßig abgedruckten Horoskope in auflagenstarken populären Printmedien dürften den Glauben an die „Sterne“ frühzeitig und dauerhaft etabliert haben. Mit dem „New Age“ entfaltete sich nicht nur eine „Somatisierung der Religion“, indem Techniken der Körper- und Selbstdisziplinierung Verbreitung fanden,

 52 Simone Mantei, Nein und Ja zur Abtreibung: die evangelische Kirche in der Reformdebatte um § 218 StGB. (1970-1976). Göttingen 2004, 232. 53 „Der Gott, der Geld und Haare frisst“. Sternreporter Hans Conrad Zander schlich sich als Mönch in die Hare Krishna-Sekte ein, in: Stern 28, 1974; „Hare Krishna – die Bettelmönche, die Millionen kassieren“, in: Bild, 17.12.1974. 54 Vgl. „Mohammeds Lehre: Religion im Angriff“, in: Der Spiegel, 17, 1973. 55 Dies betont insbesondere: Detlef Pollack, Religion und Moderne, Zur Gegenwart der Säkularisierung in Westeuropa, in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2007, 73-103, hier: 94-99.

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sondern zugleich ein eigener religiöser Medienmarkt mit zahlreichen Zeitschriften und Buchpublikationen.56 Die Kirche passte sich diesem medial stark hervorgehobenen alternativen Religionsmarkt schnell an. Ihre Akademien setzten sich mit esoterischen Ansätzen auseinander, und die Diakonie öffnete sich für therapeutische Angebote und schuf Beratungsstellen, die sich wiederum in den Psychologiemarkt einfügten.57 Alternative Religionen und Spiritualität waren dabei nicht nur eine Konkurrenz für die Großkirchen, die eine wechselseitige Profilschaffung und Abgrenzung förderte. Zugleich entstand gerade hier ein vielfältiger Markt, der sich recht dauerhaft nicht nur neben, sondern auch innerhalb der christlichen Gemeinden etablierte – sowohl auf Seiten der Anbieter von Schriften und Kursen als auch bei den Konsumenten.58 Bei der Ab- und Ausgrenzung der alternativen Religionsangebote benutzten die Kirchen und die Medien sehr ähnliche anti-kapitalistische Semantiken. Gerade den als „Sekten“ bezeichneten religiösen Gruppen wurde von beiden Seiten vor allem Geldgier unterstellt. Sie „verkaufen Gott wie ein Sonderangebot im Supermarkt: preiswert und zur Probe“, schrieb Quick in einer Reportage über die Jesus People.59 Berichte über sexuelle Verführungen und Drogenmissbrauch ergänzten diese gemeinsame Kritik. Im Zuge derartiger Abgrenzung von den kapitalistisch-ausbeuterischen Sekten fanden die Medien und die Kirchen in gewisser Weise wieder zusammen.

IV. F AZIT

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AUSBLICK

Kirche, Religion und Medienmärkte standen seit den 1950er Jahren in einer spannungsreichen Beziehung, die sich stark veränderte. Dabei wurde deutlich, dass expandierende Medienmärkte nicht automatisch zu einer Kritik an und Abwendung von der Religion führen müssen. Vielmehr konnte gerade für die

 56 Pascal Eitler, Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970-1990), in: Zeithistorische Forschungen 4, 2007, 116-136. 57 Thomas Mittmann, Moderne Formen der Kommunikation zwischen „Kirche“ und „Welt“. Der Wandel kirchlicher Selbstentwürfe in der Bundesrepublik in evangelischen und katholischen Akademien, in: Bösch/Hölscher (Hrsg.), Kirchen (wie Anm. 6), 216-246, hier 238; Benjamin Ziemann, Zwischen sozialer Bewegung und Dienstleistung am Individuum. Katholiken und katholische Kirche im therapeutischen Jahrzehnt, in: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, 357-393. 58 Vgl. zur gegenwärtigen Vielfalt als empirische Bestandsaufnahme zu NordrheinWestfalen: Markus Hero, Auf dem Weg zum religiösen Markt? Neue Religiosität und Esoterik, in: ders./Volkhard Krech/Helmut Zander (Hrsg.), Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort. Paderborn 2008, 165-177. 59 Hannig, Religion (wie Anm. 6), 378.

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1950er Jahre gezeigt werden, wie kommerzielle Medien zur Verifizierung der Bibel und somit zur Stärkung des Glaubens beizutragen versuchten, indem sie Glaubensinhalte mit Elementen scheinbar neuartiger Wissenschaftserkenntnis, modernen Entdeckergeschichten oder personalisierten Charismatisierungen verbanden. Der christliche Glaube wurde so marktgerecht nach den Nachrichtenwerten und Logiken der Medien verkauft. Die Ambivalenz dieser medialen Legitimation des Glaubens lag freilich nicht allein darin, dass die Kirchen stärker als zuvor die Definitionsmacht über Glaubensfragen an die Medien abtraten, sondern dass der Glaube so ein Teil einer wählbaren Unterhaltungskultur auf dem Medienmarkt wurde, auf dem er sich gegen andere Angebote behaupten musste. Das religiöse Bekenntnis wurde zudem stärker aus der Performanz herausgelöst, hin zu einer anschaulichen Außendarstellung oder rationalen Evidenzbildung. Für die „langen“ 1960er Jahre konnte eine ebenso intensive wie kritische mediale Auseinandersetzung mit den Kirchen ausgemacht werden, die die jeweiligen Auflagen steigerte. Die Krise der Kirche, die insbesondere von den Austrittszahlen her erst Ende der 1960er Jahre einsetzte, thematisierten die Medien bereits einige Jahre früher und stießen so mit Reformdebatten an. Wie gezeigt wurde, reagierten die Kirchen mit erstaunlich vielfältigen und neuen eigenen Medienangeboten und versuchten, sich an den gewandelten kommerziellen Medienmarkt anzupassen. Dennoch scheiterten ihre Annäherungsversuche weitgehend, da die kirchlichen Medien offensichtlich nicht vergleichbar frei und flexibel auf die Nachfrage der Medienkonsumenten eingehen konnten oder wollten. Abschließend mag man fragen, welche gegenwärtigen Trends man seit den 1990er Jahren ausmachen kann. Im Zeitalter des dualen Rundfunks begannen die Kirchen unverkennbar erneut, sich auf mediale Marktlogiken einzulassen. Die von der Kirche selbst gestalteten Kurzprogramme auf Privatsendern wie RTL, Pro 7 und Sat 1 haben kaum noch etwas mit dem „Wort zum Sonntag“ gemein, sondern sind modern gestaltete Clips, die zumindest kurz ein kirchenfernes Millionenpublikum erreichen.60 Vor allem im Kinobereich gelang es mit Unterstützung der Kirchen, religiöse Themen mit großem Erfolg zu platzieren. Das gilt etwa für die rund neun Millionen Zuschauer, die der von den Evangelischen Kirchen mit erstellte Luther-Film in kurzer Zeit erreichte 61 , aber auch für Mel Gibsons „Passion Christi“, der nicht zuletzt dank der werbenden Unterstützung der Kirchen zu einem der kommerziell erfolgreichsten Filme wurde.62

 60 So (Stand 2008) Bibelclip auf RTL Sonntag ca. 18.30 Uhr; Mo 7.00 Uhr; Mittelpunkt Mensch; Sat 1: Gedanken zum Montag früh; auf Vox das amerikanische „The Hour of Power“ (2004-2007, jetzt auf dem Sender Das Vierte). 61 3,5 Mill. im Kino 2003/04; 5,8 Mill. bei der Fernsehausstrahlung 2005. 62 Reinhold Zwick/Thomas Leutes (Hrsg.), Die Passion Christi. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte. Münster 2004.

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Ein unverkennbarer Ausdruck dafür, wie die Kirchen sich in letzter Zeit erfolgreich an mediale Marktmechanismen anpassten, scheint die Eventisierung der Religion zu sein. Leere Kirchen haben keinen Nachrichtenwert, wohl aber Gottesdienste mit Festivalcharakter oder Motorrädern. Das zeigt nicht nur ein Blick auf die USA, wo spektakuläre Massengottesdienste zugleich eine hohe mediale Aufmerksamkeit sichern und deren Fernsehübertragungen, wie „The Hour of Power“, äußerst hohe Einschaltquoten erreichen. Gleiches galt für die spektakulären Reisen von Papst Johannes Paul II., dessen Massenveranstaltungen in exotischen Ländern äußerst medienkompatibel angelegt waren. Derartige „Events“ geben der Religion eine Präsenz, die durchaus Rückwirkungen auf religiöse Praktiken haben kann, da sie sowohl die Liturgie, die religiöse Performanz und die individuelle Vorstellung über die Religion verändern. Insofern kann man etwa über die massive Werbung spotten, die ein Boulevardblatt wie Bild für einen Papstbesuch in Köln und damit gleichzeitig für sich selbst machte. Dass die Religion durch diese Interaktion mit der kommerziellen Populärkultur eine neue Sichtbarkeit gewinnt, ist jedoch unverkennbar. Auch für das Fernsehen wurde jüngst argumentiert, dass Medien durchaus mit religiösen Themen Quoten zu erreichen versuchen und so die Religion in der Gesellschaft präsent halten.63 Dass ausgerechnet ein Fernsehkomiker wie Hape Kerkeling mit dem Millionenerfolg „Ich bin dann mal weg“ eine maßgeblich religiöse Lektüre produzierte, ist dafür symptomatisch. Die Religion gewinnt durch den kommerziellen Medienmarkt ebenso an Präsenz, wie die Kirchen dadurch an Deutungshoheit über das Religiöse verlieren.

 63 Vgl. Thomas Böhm, Religion durch Medien – Kirche in den Medien und die „Medienreligion“. Stuttgart 2005, 107-142; Elisabeth Hurth, Der kanalisierte Glaube: Wie das Medium Fernsehen Religion und Kirche in Szene setzt. Nürnberg 2006.

„Der Tanz um das Goldene Kalb der Finanzmärkte“ Konjunkturen religiöser Semantik in deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren S VEN -D ANIEL G ETTYS /T HOMAS M ITTMANN

Rechtzeitig zu Weihnachten 2008 wetterten kirchliche Würdenträger beider Konfessionen im Zusammenhang mit der Finanzkrise massiv gegen die „gnadenlose Religion des Marktes und Konsums“. 1 Auf protestantischer Seite verdammte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber Raffsucht als „Tanz ums goldene Kalb“ und hielt dem Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, eine „Form des Götzendienstes“ vor. 2 Huber, dessen Kirche genau wie ihr katholisches Pendant selbst im schlagartig verrufenen Aktienund Wertpapiergeschäft investiert hat, bettete seine Kritik an den Symptomen der Finanzkrise in der Hoffnung auf öffentliche Zustimmungsbereitschaft bewusst in religiöse Semantik. Auch aus der katholischen Kirche meldete sich vermehrt religiös untermauerte Kapitalismuskritik und sogar Marxsche Kapitalismuskritik, obgleich diese mit dem Vornamen Reinhard statt Karl verbunden ist. Der Erzbischof von München und Freising nutzte in seiner mit „Das Kapital“ betitelten Abrechnung mit dem kriselnden Kapitalismus jedoch selbstredend weniger die Argumente seines verstorbenen Namensvetters, als vielmehr päpstliche Enzykliken und die katholische Soziallehre für seine Kritik an einer durch Profitgier charakterisierten und stets auf Gewinnmaxi-

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Zit. nach: „Bischöfe gegen ‚Religion des Marktes‘“, in: Focus-Online, 25.12.2008. Vgl. vor allem: „Jeder Mensch hat die Möglichkeit zur Umkehr“. Ein Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Wolfgang Huber, über Gier und ihre Folgen, in: Berliner Zeitung, 24.12.2008. Vgl. auch: „Kirchen prangern Gier und Ausbeutung an. Deutsche Bank verärgert über Kritik von Bischof Huber an Vorstandschef Ackermann“, in: Süddeutsche Zeitung 300, 27./28.12.2008, 7.

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mierung ausgerichteten Gesellschaft. 3 Christliche Religion diente in diesen kirchlichen Äußerungen als Steuerungsprinzip gegen die Auswüchse eines grenzenlosen Kapitalismus. Oder, anders gewendet, die Krisendebatte über den Kapitalismus scheint das Feld zu sein, auf dem die Relevanz der christlichen Lehre gemessen werden kann. Aber nicht nur Repräsentanten der beiden Großkirchen, sondern auch populäre Politiker bedienten und bedienen sich in der Öffentlichkeit der Strategie, über eine Revitalisierung religiös-ethischer Bezüge das Wirtschaftsleben überweltlich zu kontextualisieren. Das dokumentieren prominente Beispiele wie dasjenige des seinerzeitigen Bundesumweltministers Sigmar Gabriel, der Ende 2008 ebenfalls den folgenreichen „Tanz um das Goldene Kalb der Finanzmärkte“ 4 beklagte oder das des ehemaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering, der das alttestamentarische Schreckensbild unersättlicher „Heuschrecken“ im April 2005 massenwirksam zur Illustrierung turbokapitalistischer Umtriebe internationaler Finanzinvestoren aktivierte.5 Diese Tendenz, religiöse Sprache, Bilder, Symbole, Metaphern oder Semantiken zur Kritik oder zur Unterstützung kapitalistischer Wirtschaftsmärkte zu mobilisieren, ist an sich nicht neu. Das dokumentieren Begriffe wie der des „Black Friday“, mit dem der Börsencrash an der New Yorker Wall Street am 25. Oktober 1929 in die Geschichte der weltweiten Wirtschaftskrisen einging. Durch den Titel „Schwarzer Freitag“ wurde ein Bezug zum Neuen Testament hergestellt. Das Synonym für den Karfreitag verwies auf den Tag der Kreuzigung Jesu Christi.6 Wechselseitige Relationen von religiösen Weltbildern und ökonomischem Handeln werden in der Kulturtheorie schon lange prominent behauptet. Doch auch aus historischer Perspektive lassen sich schwankende Konjunkturen religiöser Zuschreibungen innerhalb ökonomischer Debatten konstatieren. 7 Das zeigen die Diskussionen über den Nutzen und Nachteil des Kapitalismus

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Reinhard Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen. Pattloch 2008. „In der Finanzkrise steckt eine große Chance“. Interview mit Sigmar Gabriel, in: Westfalenpost 252, 28.10.2008. Auslöser war vor allem das Interview mit Franz Müntefering in der Bild am Sonntag 16, 17.4.2005, 4 f., unter dem Titel „Manche Finanzinvestoren fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her“. Vgl. Gustav Jungbauer, Artikel „Freitag“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 3. Berlin/New York 2000, Sp. 45-73. Vgl. auch: Joachim von Soosten, Schwarzer Freitag. Die Diabolik der Erlösung und die Symbolik des Geldes, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kapitalismus als Religion. Berlin 2003, 121-143. Neben Max Weber ist hier vor allem Pierre Bourdieu zu nennen. Vgl. daran anschließend: Friedrich Wilhelm Graf, Beeinflussen religiöse Weltbilder den ökonomischen Habitus?, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt/Main 2004, 241-264, sowie ders., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. 3. Aufl. München 2004, 179-202.

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in Deutschland, die im Folgenden seit Beginn der 1970er Jahre in ihrem Bezug zu religiösen Deutungs- und Sprachmustern, Topoi und Begriffen untersucht werden sollen. Dabei wird ein verstärkter Trend zur religiösen Codierung von Wirtschaftsdiskursen seit Ende der 1980er Jahre erkennbar. Offenbar bot und bietet sich in den Debatten über die Ordnung des Wirtschaftslebens wie in keinem anderen Bereich seit der Wiedervereinigung die Möglichkeit, religiöse Semantik zu mobilisieren und im öffentlichen Diskurs anschlussfähig zu machen. Im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen steht die Frage, wie es zum Ende der 1980er Jahre zu einem Bedeutungsgewinn des Religiösen bei der Absicherung oder Kritik ökonomischer Positionen gekommen ist, und aus welchen Gründen die Implementierung religiöser Semantiken in den ökonomischen Diskurs in Deutschland erfolgreich war.

I. D IE „G RENZEN DES W ACHSTUMS “, DIE Z UKUNFT DER M ARKTWIRTSCHAFT UND M ARGINALISIERUNG DES R ELIGIÖSEN

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Für die Entwicklung der bundesrepublikanischen Kapitalismusdebatten stellt die Zeit zwischen Mitte der 1960er und den frühen 1970er Jahren eine wichtige Inkubations- und Umbruchphase dar. Einmal waren die Forderungen der studentischen Protestbewegungen im Verlauf der 1960er Jahre stark mit der Kritik an ungleichen Besitzverhältnissen und an einem uferlosen Kapitalismus verbunden. Zudem geriet in dieser Phase die neu entdeckte „Dritte Welt“8 und ihre ökonomische Abhängigkeit von den entwickelten Industriestaaten im Westen zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Eine wichtige Funktion nahmen dabei die Medien, besonders das Fernsehen, ein. So führte etwa die öffentliche Wahrnehmung der Hungerkatastrophe in Indien zu Beginn der 1960er Jahre in Deutschland 1962 zur Gründung der Deutschen Welthungerhilfe e.V.9 Und auch der Bürgerkrieg beziehungsweise

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Die Herkunft des Begriffs geht auf das Jahr 1949 zurück und bezeichnete zunächst die innenpolitische Initiative einer von der kommunistischen Partei in Frankreich unabhängigen Oppositionspolitik gegenüber den rechten, kapitalistischen Parteien. In der 1952 veröffentlichten Schrift des französischen Demographen Alfred Sauvy wurde der Terminus analog zum Begriff „Dritter Stand“ gebraucht. 1955, auf der Bandung-Konferenz in Indonesien, diente er zur Selbstbezeichnung der Blockfreien Staaten im Sinne eines „Dritten Weges“. Im Laufe der 1960er Jahre wurde die „Dritte Welt“ dann immer stärker zu einem Synonym für die „hungernden“ Entwicklungsländer. Zu den Hintergründen vgl. u. a. Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt. Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen. 9. Aufl. Reinbek 1996, 176-177. Vgl. „30 Jahre Kampf gegen Hunger und Armut – Bilanz und Perspektiven.“ Symposium der Deutschen Welthungerhilfe e.V. am 10. Dezember 1992 in Bonn

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Genozid an dem Volk der Ibos in Nigeria (1966-1970) fand unter dem Schlagwort „Biafra-Krieg“ weltweite Aufmerksamkeit. So veröffentlichte der Spiegel am 19. August 1968 eine Titelgeschichte zum Völkermord in Biafra und weckte darin Erinnerungen an den Holocaust.10 Als besonderes Merkmal dieses Ereignisses aber stellten die Autoren die mediale Präsenz des Sterbens dar. „Erstmals wird ein Völkermord im Fernsehen gezeigt, wird die ganze Welt durch Filme, Photos und Berichte aus Biafra zum Zeugen des Genozids“11, so hieß es. Eine Woche später verstärkte das Hamburger Nachrichtenmagazin seine öffentliche Kritik an dem Genozid mit einem Artikel, der den eindrucksvollen Titel „Ein Volk stirbt“ trug.12 Dieser Bericht kam fast gänzlich ohne Text aus und entfaltete seine Wirkung durch große Fotografien von hungernden und sterbenden Kindern. Vor allem diese erschütternden Bilder trugen die Krise in die Wohnzimmer der westlichen Welt und lösten weitreichende Solidaritätsmaßnahmen wie etwa große Spendenkampagnen und die durch kirchliche Hilfsorganisationen und das Rote Kreuz initiierte Luftbrücke nach Biafra aus. Einen Wendepunkt in der bundesrepublikanischen Geschichte markiert auch die sogenannte „erste Ölkrise“, die, ausgelöst durch das Ölembargo der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), und verbunden mit einer hohen Verschuldung des amerikanischen Staates infolge des Vietnamkriegs, zu einer Stagflation in den USA führte und negative Auswirkungen auf alle wichtigen Industrienationen hatte. In Deutschland bedeutete sie nicht weniger als das Ende des Wirtschaftswunders mit bis dato weitgehend unbekannten Phänomenen wie Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und steigenden Sozialausgaben. Zu Beginn der 1970er Jahre schärfte zudem der Club-of-Rome-Bericht den Blick für vermeintliche „Grenzen des Wachstums“ und gab ebenfalls wichtige Impulse für eine grundsätzliche Diskussion über den Nutzen und Nachteil der sozialen Marktwirtschaft.13 In den populären Massenmedien brachte das mutmaßliche „Ende der Überflußgesellschaft“14 eine umfassende Debatte über die Zukunftsfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Gang. Zum Ende des Jahres 1974 griff der Spiegel das Thema mit der Titelgeschichte „Bleibt die Marktwirtschaft?“ auf. Aktueller Anlass war eine Diskussion, die eine kleine Minderheit in der SPD, in erster Linie Jungsozialisten sowie Gewerkschaftsvertreter, entfacht hatte. Auch wenn die Widersacher sich bei der Illustrierung der Vorund Nachteile der sozialen Marktwirtschaft kaum religiöser Semantik bedien-



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(Dokumente. Tagungsbericht der Deutschen Welthungerhilfe e.V, Bd. 2). Bonn 1993, 11. „Biafra. Todesurteil für ein Volk“, in: Der Spiegel 34, 1968, 71-76. Ebd. Der Spiegel 35, 1968, 94 f. Donella Meadows/Dennis L. Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. München 1972. So titelte Der Spiegel am 19.11.1973.

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ten und rein politisch argumentierten, kommentierte das Hamburger Nachrichtenmagazin, die Kontrahenten verhielten sich „wie zwei verfeindete Religionsgemeinschaften, von denen die eine für gut hält, was die andere böse findet, und jede eine eigene Kirchensprache pflegt“. 15 Andere Beobachter werteten die wachsenden Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ebenfalls als „Religionskrieg“.16 Auch die beiden Großkirchen schalteten sich bald in die Diskussionen ein. Die Evangelische Akademie Bad Boll etwa griff die Debatte in einer Tagung im Juni 1975 auf und diskutierte über die Frage, ob ein Christ Anhänger der kapitalistischen Marktwirtschaft sein könne.17 Im Ergebnis wurden dabei die Prinzipien der Marktwirtschaft „Freiheit“, „Konkurrenz“ und „Leistung“ biblisch legitimiert und als grundsätzlich kompatibel mit dem christlichen Menschenbild präsentiert.18 Hintergrund (bzw. Gegenfolie) dieser offensiven kirchlichen Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft waren vor allem Kommentare linker Theologen – unter ihnen Schwergewichte wie Helmut Gollwitzer oder Dorothee Sölle −, die behaupteten, Christen könnten nur Sozialisten sein.19 Speziell im Verlauf der 1970er Jahre waren dergleichen Fragen Gegenstand zahlreicher kontroverser Auseinandersetzungen in den kirchlichen Akademien.20 Das geschah angesichts einer umfassenden Debatte über den Umfang und die Reichweite des politischen Mandats der Kirche, die insbesondere innerhalb des Protestantismus seit Mitte der 1960er Jahre geführt wurde. Aber auch auf katholischer Seite formulierten kirchliche und randkirchliche Gruppierungen unter dem Etikett „Kritischer Katholizismus“

 15 „Wo der Geldschein Wahlzettel ist“, in: Der Spiegel 49, 1974, 36-52. Lediglich der Juso-Theoretiker und Aachener Ökonomie-Dozent Karl Georg Zinn bemerkte in der Diskussion, die Marktwirtschaft trage „Kainsmale“. Ebd., 36. 16 Dieter Lösch/Heinz-Dietrich Ortlieb, Kapitalismuskritik. Der Streit um die Marktwirtschaft. München/Wien 1974, 9. 17 Vgl. den Beitrag des Volkswirtes und Pfarrers Rolf Kramer, Soziale Marktwirtschaft und christliche Ethik, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Unternehmerische Entscheidung und Investitionspolitik. Tagung für Unternehmer und leitende Damen und Herren der Wirtschaft mit ihren Ehegatten in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsgilde vom 6. bis 8. Juni 1975 in der Evangelischen Akademie Bad Boll (Protokolldienst 8/75). Bad Boll 1975, 13-24. 18 Kramer, Soziale Marktwirtschaft (wie Anm. 17). 19 Helmut Gollwitzer, Die kapitalistische Revolution. Gütersloh 1974. Vgl. auch Wolfgang Teichert (Hrsg.), Müssen Christen Sozialisten sein?. Zwischen Glaube und Politik. Hamburg 1976. 20 Vgl. etwa: Müssen Christen Sozialisten sein?. Auszüge aus der Podiumsdiskussion mit Vertretern politischer Parteien, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Paul Tillich und der religiöse Sozialismus. In Zusammenarbeit mit der PaulTillich-Gesellschaft vom 26. bis 28. Mai 1978 in der Evangelischen Akademie Bad Boll (Protokolldienst 11/78). Bad Boll 1978, 32-36.

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im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil insbesondere im Rahmen der regelmäßigen kirchlichen Versammlungsöffentlichkeiten wie der Katholikentage vermehrt Ansprüche auf ein stärkeres gesellschaftskritisches Engagement.21 Die kirchlichen Vorstöße zur Kompetenzgewinnung im ökonomischen Diskurs blieben allerdings weitgehend erfolglos. Anders als noch in den 1950er Jahren, in denen die Medien Kirchen als wesenhaften, integrativen und prägenden Teil der modernen Gesellschaft wahrgenommen hatten, wurden diese in der medialen Fremdbeschreibung seit Ende der 1950er Jahre zunehmend gesellschaftlich marginalisiert. Diesen medialen Exklusionsstrategien, in deren Folge das Religiöse generell zunehmend an der Peripherie der Gesellschaft verortet und seine gesellschaftlichen und moralischen Deutungskompetenzen infrage gestellt wurden, begegneten die Kirchen ihrerseits mit semantischen Inklusionsmodellen, das heißt, sie entwarfen sich in ihren semantischen und diskursiven Selbstbeschreibungen nun nicht mehr länger als „Gegenüber“ zur „Welt“, sondern zunehmend als integrale Bestandteile und Faktoren innerhalb der Gesellschaft.22

 21 Für den Protestantismus vgl. vor allem Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hrsg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, Bd. 47). Göttingen 2007; für den Katholizismus Antonius Liedhegener, Politischer Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland heute: ein irrelevanter Faktor, in: ders./Wilhelm Damberg (Hrsg.), Katholiken in den USA und Deutschland. Kirche, Gesellschaft und Politik. Münster 2006, 199-214. Vgl. ferner Thomas Mittmann, Kirchliche Akademien in der Bundesrepublik. Gesellschaftliche, politische und religiöse Selbstverortungen. Göttingen 2011, 68-147 sowie Sven-Daniel Gettys, Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/68), in: Klaus Fitschen/Siegfried Hermle/Katharina Kunter/Claudia Lepp/Antje Roggenkamp (Hrsg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahr. Göttingen 2011, 221-242. 22 Zum Zusammenhang von medialen Exklusions- und kirchlichen Inklusionsstrategien in der Bundesrepublik vgl. Nicolai Hannig, Von der Inklusion zur Exklusion?. Medialisierung und Verortung des Religiösen in der Bundesrepublik (19541970), sowie Thomas Mittmann, Moderne Formen der Kommunikation zwischen „Kirche“ und „Welt“. Der Wandel kirchlicher Selbstentwürfe in der Bundesrepublik in evangelischen und katholischen Akademien, in: Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirche − Medien − Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945. Göttingen 2009, 33-65 und 216-246. Auch zeitgenössische Beobachter konstatierten für Anfang der 1970er Jahre anhand des Spiegels, der Zeit und des Sterns einen bemerkenswerten „Rückgang religiöser Themen und Innovationen“. Hans Joachim Dörger, Religion als Thema in SPIEGEL, ZEIT und STERN. Hamburg 1973, 155.

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II. D IE K IRCHEN ALS T EIL „E STABLISHMENTS “

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DES KAPITALISTISCHEN

Ein wichtiger Grund für den wachsenden Kompetenzverlust religiöser Deutungen in den Wirtschaftsmedien ergibt sich aus der Tatsache, dass die Kirchen als vermeintliche Vertreter des „Establishments“ seit Beginn der 1960er Jahre ebenfalls vermehrt in den Sog einer allgemeinen Kapitalismuskritik gerieten, insbesondere vor dem Hintergrund einer breiten Diskussion über die Beibehaltung der Kirchensteuer.23 Bereits 1962 startete der Bund der Steuerzahler in mehreren Städten Deutschlands eine Kampagne gegen die Praxis und die Höhe der staatlichen Alimentierung der Kirchen.24 Auch das Fernsehen begann Anfang der 1960er Jahre mit der Berichterstattung über die fiskalischen Einnahmen der Kirchen.25 Ebenfalls 1962 veröffentlichte der Schriftsteller Karlheinz Deschner mit seinem Buch „Abermals krähte der Hahn“ einen Klassiker der Kirchenkritik, in dem auch auf die Widersprüche zwischen dem biblischen Armutsideal und dem kirchlichen Vermögen in Grundeigentum, Finanzen und Unternehmensbeteiligungen sowie den Kirchensteuereinnahmen aufmerksam gemacht wurde.26 Deschners Kritik stieß auf große Resonanz. Noch im Herbst 1969 sprach er in der überfüllten Nürnberger Kleinen Meistersingerhalle vor über 600 Zuhörern „Über die Notwendigkeit, aus der Kirche auszutreten“.27 Ein weiteres Beispiel ist der Journalist Klaus Martens, der in seiner 1969 erschienenen Schrift „Wie reich ist die Kirche?“ das Vermögen der christlichen Institutionen ermittelte und angesichts des überproportionalen Anstiegs der Kirchensteuern zu der Überzeugung kam, keine andere Institution habe „nach dem Kriege so sehr von der Wohlstandsgesellschaft profitiert wie die Kirchen“.28 Dabei sprach er sich wie viele andere für die Ablösung der staatlich erhobenen Kirchensteuer durch ein freiwilliges System aus. Die Kirche sei zu reich, erklärten im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren prominente Kritiker wie der Schriftsteller Günter Grass.29 Verbunden damit

 23 Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979, in: Hermle/Lepp/Oelke (Hrsg.), Umbrüche (wie Anm. 21), 51-90, hier: 65. 24 Vgl. Waldemar Wilken, Unser Geld und die Kirche. 3. Aufl. München 1967, 10. 25 Vgl. ebd., 12-15. 26 Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu Papst Pius XII. Stuttgart 1962, 419-435. 27 Abgedruckt in: Karlheinz Deschner u. a., Die Kirche des Unheils. Argumente um Konsequenzen zu ziehen. München 1974, 111 ff. Vgl. auch Helmut Steuerwald, Begegnungen mit Karlheinz Deschner, in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 9, 2004, 92-97, hier: 93. 28 Klaus Martens, Wie reich ist die Kirche?. Der Versuch einer Bestandsaufnahme in Deutschland. München 1969, 37. 29 „Glöckner Grass“, in: Die Zeit 28, 1970, 16.

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waren Forderungen, wonach die Kirchen „ihren Finanzbedarf öffentlich begründen“ sollten.30 Gegen den beschriebenen Trend bedienten sich Kirchenkritiker dabei in den Massenmedien durchaus religiöser Semantik, um den vermeintlichen Widerspruch zwischen der biblischen Botschaft und der Praxis der Kirchen zu verdeutlichen. „‚Köstlicher denn großer Reichtum’, so lehrt die Bibel, ‚ist ein guter Ruf’“, kommentierte etwa der Spiegel, doch „die Hüter der Heiligen Schrift, die Kirchen, ließen sich von dem frommen Wort bisher nicht beirren“.31 In populären Wirtschaftsblättern rückten die Finanzen der Kirchen an der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren ebenfalls vermehrt ins Zentrum der kritischen Aufmerksamkeit. „Nicht mehr allein Gottes Wort lenkt die größte Religionsgemeinschaft der Erde“, hieß es etwa im Capital über die katholische Kirche, denn eine „Heerschar weltlicher Manager entscheidet mit über das Wohl und Wehe des multinationalen Unternehmens“.32 Auch die politischen Parteien schalteten sich in die Debatte über die Finanzen der Kirchen ein. Für Brisanz sorgte insbesondere das 1974 vorgelegte „Kirchenpapier“ der FDP „Freie Kirche im Freien Staat.“ Darin wurde nicht nur die Verweisung der Kirchen ins Privatrecht mit dem Rechtsstatus eines Vereins anstelle einer über Artikel 140 des Grundgesetzes garantierten öffentlich-rechtlichen Körperschaft vorgeschlagen, das FDP-Papier enthielt darüber hinaus die Forderung nach Abschaffung der Kirchensteuern zugunsten eines kircheneigenen Beitragssystems.33 Bereits zum Ende der 1960er Jahre begannen einzelne Landeskirchen und Diözesen vor dem Hintergrund der wachsenden öffentlichen Kritik über die Verwendung der Kirchensteuereinnahmen aufzuklären.34 „Die Kirchen sehen ein, daß ihr Image im finanziellen Bereich miserabel ist, und sie treten deshalb die Flucht nach vorn an, um vielleicht jetzt noch zu retten, was eines

 30 Rainer Frenkel, „Trittbrettfahrer des Fiskus. Die Kirchen sollen endlich ihren Finanzbedarf öffentlich begründen“, in: Die Zeit, 37, 6. September 1974, 34. Diese Forderung findet sich auch bei Theologen, die sich gegen eine sofortige Abschaffung der Kirchensteuern aussprachen. Vgl. etwa: Wilken, Unser Geld und die Kirche (wie Anm. 24). Zur innerkirchlichen Kritik am Kirchensteuersystem vgl. SvenDaniel Gettys, Theologische Kontroversen um Gestalt und Zukunft der Kirchen. Die Debatten über die „Volkskirche“ und das „Volk Gottes“ in kirchlichen Zeitschriften, in: Bösch/Hölscher (Hrsg.), Kirche (wie Anm. 22), 177-215, hier: 197 f. 31 „Nörgeln und zahlen“, in: Der Spiegel 44, 1969, 96-101, hier: 96. 32 „Laienmanagement. Wie die katholische Kirche ihr Geld verwaltet“, in: Capital 12, 1974, 146-150, hier: 146. 33 Freie Kirche im freien Staat. Beschluß des 25. Bundesparteitages der F.D.P. in Hamburg vom 30. September bis 2. Oktober 1974. Bonn 1974. 34 Vgl. den Vortrag von Oberkirchenrat Helmut Kamm, Was macht die Kirche mit ihrem Geld?, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Durchhalten und Weitergehen. Tagung der Evangelischen Akademie, Bad Boll vom 11. bis 13. Dezember 1970 in Bad Boll (Protokolldienst 38/70). Bad Boll 1970, 33-41.

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Tages nicht mehr zu retten ist“35, diagnostizierte der bereits erwähnte Klaus Martens 1969. Würdenträger beider Konfessionen legitimierten die staatliche Alimentierung ihrer Kirchen meist mit dem Argument, Kirche habe auch eine weltliche Seite und brauche Finanzen, um ihre Aufgabe in der Welt zu erfüllen.36 Die unter Verwendung religiöser Metaphern formulierte Kritik an dem finanziellen Status der Kirchen verstärkte sich in den aktuellen Kapitalismusdebatten seit der Wiedervereinigung deutlich. „Beim Geld ist die Kirche keusch“, betitelte der Spiegel 1995 einen Bericht über die „Geschäfte der deutschen Bischöfe“ und wollte in den christlichen Institutionen ganz gewöhnlichen Kapitalismus entdecken. 37 Das Hamburger Nachrichtenmagazin gab den christlichen Institutionen angesichts der durch die massiven Austritte sinkenden Steuereinnahmen zudem einen biblischen Rat und zitierte aus dem Buch Jesus Sirach: „Wer mit Wenigem nicht haushält, der kommt bald zu Fall.“38 Diese Beispiele zeigen, dass sich die Kirche nicht nur selbst als Unternehmen und als Teil des kapitalistischen „Establishments“ betrachtete, sondern dass dies vor allem auch in der Öffentlichkeit zunehmend so gesehen wurde. Dabei diente religiöse Semantik seit Ende der 1980er Jahre generell zur Illustrierung der kirchlichen Verstrickung in das ökonomische Marktgeschehen, etwa wenn die Ausstattung kirchlicher Institutionen mit Computern als „Tanz ums goldene PC-Kalb“39 bewertet, wenn die Bilanzen der Kirchen als „heilige Geschäfte“40 und kirchliche Marketingstrategien als „segensreiche Vermarktung“ 41 oder „himmlische Kampagnen“ 42 präsentiert wurden. Die

 35 Martens, Wie reich ist die Kirche? (wie Anm. 28), 9. 36 Vgl. für die katholische Kirche etwa: „Die Kirche hat nichts zu verbergen“. Spiegel-Interview mit Weihbischof Heinrich Tenhumberg, Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe in Bonn, in: Der Spiegel 13, 1969, 67 f., sowie „Beim Geld sind Vadder und Sohn Ausländer“. Ruhrbischof Franz Hengsbach, Essen, über die Finanzen der katholischen Kirche, in: Der Spiegel 34, 1982, 64-74, hier: 74. Für die Evangelische Kirche vgl. etwa die Spiegel-Titelgeschichte „Kirchensteuer zu hoch und zu viel“ sowie dazu gehörig: „Mit der Kirchensteuer am kritischen Punkt“. Spiegel-Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden der EKD, Landesbischof D. Hermann Dietzfelbinger (München), in: Der Spiegel 13, 1969, 52-65. 37 „Beim Geld ist die Kirche keusch. Die Geschäfte der deutschen Bischöfe“, in: Der Spiegel 10, 1995, 84 f. 38 „Der Himmel muss warten“, in: Der Spiegel 10, 1995, 76-95, hier: 95. 39 Ulrich Groothuis, Computer vor dem Herrn, in: Wirtschaftswoche 25, 1989, 162166, hier: 162. 40 „Heilige Geschäfte“, in: Wirtschaftswoche 27, 1995, 11. 41 „Segensreiche Vermarktung“, in: Wirtschaftswoche 23, 1996, 12. 42 Michael Roth, Himmlische Kampagne, in: Wirtschaftswoche 52, 1992, 21-24.

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Kirchen ereile angesichts sinkender Steuereinnahmen eine „Erleuchtung des Marktes“43, so hieß es 1995 dazu in der Wirtschaftswoche. Die Verwendung religiöser Metaphern und Bilder für die Kritik am unternehmerischen Handeln der christlichen Institutionen entpuppte sich auch bei den kirchlichen Versammlungsöffentlichkeiten als eine medienwirksame Strategie. Beim Evangelischen Kirchentag in Frankfurt im Jahr 2001 etwa zogen rund 800 Teilnehmer mit einem goldenen Kalb aus Pappmaschee durch das Bankenviertel und skandierten antikapitalistische Lieder. 44 Einige Kirchentagsteilnehmer zündeten gar Banknoten an, und wieder andere verteilten Aufkleber mit dem Aufdruck „Die Deutsche Bank hat Jesus vermarktet und an der Religion profitiert.“ Mit dem Kapital, so kommentierten kritische Beobachter, scheine die Evangelische Kirche auf dem Kirchentag endgültig ihren Frieden geschlossen zu haben. Die Verbindung von „Kirche“ und „Kapital“ wurde zudem performativ greifbar, denn überall in der Stadt waren auf den Dächern großer Geldhäuser Christusfiguren aus der Hand des Künstlers Manfred Stumpf aufgestellt. Für das Unternehmen Kirche, so hieß es nun auch regelmäßig aus den Massenmedien, „sei nicht mehr Gott das Höchste“, sondern vielmehr „das allmächtige Kapital“; sie habe den „Markt“ auf den „Sockel des gestürzten Gottes gestellt und so selbst sakralisiert“.45 Auch im Rahmen der Diskussionen über die 2008 erschienene EKDDenkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“46, in der sich die protestantische Kirche klar zur sozialen Marktwirtschaft bekannte, wurden religiöse Semantiken mobilisiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa überschrieb ihre Besprechung der Denkschrift mit dem Titel „Die Heuschrecke als Gottesanbeterin“.47 Die katholische Kirche blieb von den Vorwürfen einer zu unkritischen Unterstützung des Kapitalismus genauso wenig verschont, ihr wurde aufgrund ihres Barvermögens, der diversen Einnahmen aus Mieten, Titeln und Anleihen sowie Anlagevermögen ebenfalls Doppelmoral vorgeworfen. Die „Vatikanbank“, so hieß es etwa, besitze „als heilige Heuschrecke selbst Hedgefonds oder Liechtensteinkonten“.48 Die Kirchen legitimierten sich mit dem Argument der notwendigen Modernisierung ihrer Institutionen. Einem modernen Bild von Kirche entspreche es nicht, dass „Pfarrer, Bischöfe und Diakonissen wie im Mittelalter betteln

 43 Antje Sirleschtov, Büro in der Kuppel, in: Wirtschaftswoche 52, 1995, 50-56, hier: 56. 44 Miriam Hollstein, Die Aktie Gott, in: Welt am Sonntag 24, 17.6.2001, 12. 45 Hermann-Josef Zoche: Lob der Jesus AG, in: Welt am Sonntag 52, 25.12.2005, 12. Der Artikel bezieht sich auf die Schrift des Augustinerpaters und ManagementTrainers Hermann-Josef Zoche, Die Jesus AG. Wien 2002. 46 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2008. 47 Reinhard Bingener, Die Heuschrecke als Gottesanbeterin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.7.2008, 10. 48 Alexander Smoltczyk, Wir waren Papst, in: Der Spiegel 1, 2009, 104 ff., hier: 104.

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gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten“ 49 , kommentierte etwa der EKD-Finanzchef Werner Hofmann 1995.

III. D IE R EVITALISIERUNG RELIGIÖSER S EMANTIK IN DER U MWELTDEBATTE Ohne Frage ist der Beginn der 1970er Jahre, ausgelöst vor allem durch die erste „Ölkrise“ und die Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts „Die Grenzen des Wachstums“, durch einen grundlegenden Wandel im Verhältnis der deutschen Öffentlichkeit zur Umwelt markiert. Das zeigt sich nicht nur in der medialen Berichterstattung, sondern auch in der Institutionalisierung der Umweltproblematik. 1970 wurde eine Abteilung „Umweltschutz“ im Innenministerium eingerichtet, im selben Jahr nahm mit Max Streibl in Bayern der erste Umweltminister in Deutschland sein Amt auf, und ein Jahr darauf legte die Bundesregierung ein erstes umfassendes Umweltprogramm vor. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass es den Kirchen in der Bundesrepublik vornehmlich in der Umweltdebatte gelungen ist, die Anschlussfähigkeit religiöser Semantik zu verbessern und damit ihre bleibende gesellschaftliche Relevanz abzusichern. Das zu Beginn der 1970er Jahre erwachte Bewusstsein einer unkontrollierten Ausweitung des kapitalistischen Wachstums und der damit verbundenen Schädigung der Umwelt löste nicht nur eine öffentliche Diskussion in den säkularen Medien, sondern ebenso eine umfangreiche theologische Debatte aus. 50 Um dabei die Tragfähigkeit theologischer Argumente zu verbessern, war allerdings eine Umcodierung biblischer Quellen nötig. Das gilt vor allem für den immer wieder laut werdenden Vorwurf, der alttestamentarische Dominium-terrae-Gedanke sei für die ökologische Krise maßgeblich verantwortlich, der seit 1966 zunächst im angelsächsischen Sprachraum durch den Mediävisten Lynn White51 und dann seit Beginn der 1970er Jahre im deutschen Sprachraum speziell von dem Schriftsteller und dem linkskatholischen Spektrum zugehörigen Umweltaktivisten Carl Amery resonanzstark behauptet

 49 „Sollen die Pfarrer betteln gehen?“. EKD-Finanzchef Werner Hofmann über Kirchensteuer und Austritte, in: Der Spiegel 10, 1995, 98-104, hier: 104. 50 Vgl. Martin Schloemann, Ethische und Theologische Maßstäbe des Wachstums – einleitender Beitrag, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Das unbewältigte Wachstum. Umweltpolitische Tagung vom 29. April bis 2. Mai 1976 in Bad Boll in Verbindung mit dem Bund Natur- und Umweltschutz Deutschland e.V. Bad Boll 1976 (Protokolldienst 9/76), 69-74. 51 Lynn White jr., Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise, in: Michael Lohmann (Hrsg.), Gefährdete Zukunft. Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler. München 1970, 20-28.

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worden war.52 Dieser richtete sich nicht nur gegen den in der Genesis formulierten unbedingten Herrschaftsbefund des Menschen über die Schöpfung, sondern auch gegen die „Entgottung“ der Natur, wie sie vom Christentum wegen der von ihm angestoßenen Verdrängung der Naturreligionen zu verantworten sei.53 Der Topos von der Mitverantwortung des Christentums für die grenzenlose Ausbeutung der Natur hatte in den 1970er Jahren Hochkonjunktur. Dass der christlichen Religion eine derart zentrale Mitschuld an den negativen Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems gegeben wurde und ihr daher alles andere als Lösungskompetenzen zuzusprechen waren, dokumentieren entsprechende Kommentare in den Wirtschaftsmedien. „In der Umweltverschmutzung rächt es sich nun“, so hieß es etwa in der Wirtschaftswoche, „daß der moderne westliche Mensch, zusammen mit seinen Nachahmern in Ländern wie Japan, die Ratschläge des ersten Kapitels des Buches Genesis befolgte.“ 54 Angesichts der negativen Auswirkungen dieser Ratschläge, so lautete der Befund, sei es zu begrüßen, dass die Menschheit gerade beginne, sich „klugerweise davon zu distanzieren“. 55 In einer Titelgeschichte der Wirtschaftswoche über die „Unregierbarkeit der Welt“ wurde ebenfalls behauptet, der Mensch habe „den biblischen Auftrag aus der Genesis zu Überbevölkerung und Umweltverschmutzung ‚Erfüllt die Erde und macht sie euch untertan‘ allzu gewissenhaft erledigt“. 56 Dabei wurde der Religion nicht nur Inkompetenz bei der Lösung der Probleme attestiert, sondern ihr Schicksal schien darüber hinaus angesichts der düsteren Prognosen selbst besiegelt zu sein. „Materie und Moral, Rohstoffe und Religion haben für das Abendland etwa gleich lang gereicht“, nun aber gingen „beide rasant dem Ende entgegen“57, so lautete die bittere Krisenerkenntnis. Die These vom christlichen Ursprung der Umweltzerstörung wurde von kirchlicher Seite mit dem Hinweis auf eine einseitige, inkorrekte und zu revidierende Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes zurückgewiesen. 58 Dabei wurde der biblische Herrschaftsbefund des Menschen über die Schöp-

 52 Carl Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums. Reinbek 1972. 53 Schloemann, Maßstäbe des Wachstums (wie Anm. 50). 54 „Machet Euch die Erde unterthan ...“. Arnold J. Toynbee über die Schuld des Christentums an der Umweltverschmutzung, in: Wirtschaftswoche 47, 1973, 70. 55 Ebd. 56 „Fische auf dem Land“. Claus Jacobi über die Unregierbarkeit der Welt, in: Wirtschaftswoche 12, 1974, 24 ff., hier: 24. 57 Ebd. 58 Vgl. etwa Hans Dieter Haller, Mensch und Natur. Theologischer Beitrag, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Ökologische Situation des Oberrheins. Tagung für Biologielehrer an Gymnasien vom 9. bis 11. Mai 1975 im Hotel „Stadthaus“ in Müllheim/Baden. Bad Boll 1975 (Protokolldienst 9/75), 38-42, hier: 40.

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fung, das dominium terrae, insofern umgedeutet, als der Herrschaftsauftrag zwar bestehen blieb, aber im Sinne eines verantwortlichen Umgangs mit derselben.59 Aus dem Herrschaftsverhältnis wurde ein Haushalterschaftsverhältnis, aus der „Weltherrschaft“ die „Weltverantwortung“.60 Der Dominiumterrae-Gedanke bestand also nicht länger in der durch die jüdisch-christliche „Entdivinisierung der Welt“ 61 verbundenen Legitimierung unbegrenzten Wachstums, sondern gerade in der Begrenzung desselben. Durch die Umcodierung des Dominium-terrae-Gedankens schrieb sich speziell die protestantische Kirche besondere Kompetenzen in der Umweltdebatte zu. Dass der Schutz der Umwelt zu Beginn der 1970er Jahre zu einem kirchenpolitischen Problem avancierte, zeigt sich nicht zuletzt in der Einsetzung kirchlicher Umweltbeauftragter seit 1972. Die Kirchen agierten nun als kompetente Ansprechpartner für diverse Umweltinitiativen. Evangelische Akademien etwa organisierten entsprechende Tagungen seit Mitte der 1970er Jahre gemeinsam mit nationalen Organisationen wie dem Bund für Umweltschutz und Natur, aber auch mit regionalen und lokalen Bürgerinitiativen. Aus kirchlicher Sicht war die ökologische Krise dagegen in erster Linie ein Zeichen fortschreitender Säkularisierung. Folglich ging es darum, das Theologische in den Umweltdiskurs einzubetten.62 Einer der erfolgreichsten Leitbegriffe dafür war die „Bewahrung der Schöpfung“. Andere semantische Vehikel zur Kompetenzgewinnung theologischer Argumente waren die „Ehrfurcht vor der Schöpfung“ oder die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“. Theologen wie Gerhard Liedke oder Günter Altner von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft etablierten während der 1970er Jahre den Begriff einer „ökologischen Theologie“ 63 , die den Konflikt zwischen

 59 Arbeitsgruppe IX. Weltanschauliche und theologische Voraussetzungen des dominium terrae und der Wachstumsideologie, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Das unbewältigte Wachstum (wie Anm. 50), 128 f. 60 Haller, Mensch und Natur (wie Anm. 58), 40. Vgl. auch Hansjörg Siegel, Macht euch die Erde untertan. Theologischer Beitrag, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Gesellschaftliche Folgen der Anwendung technischer Entwicklungen. Eine Tagung für Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler aus Entwicklung, Forschung und Fertigung vom 12. bis 14. Dezember 1975 in Bad Boll. Bad Boll 1975 (Protokolldienst 17/75), 97-106, hier: 103. 61 Wilhelm Korff, Moraltheologische Bemerkungen zur ökologischen Krise, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Rechtsnormen und ihre Anwendung im Umweltschutz. Tagung vom 2. bis 4. Dezember 1977 in Bad Boll. Bad Boll 1977 (Protokolldienst 1/78), 71-78, hier: 72. 62 Vgl. etwa: Siegel, Macht euch die Erde untertan (wie Anm. 60), 98. 63 Vgl. Gerhard Liedke, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie. Stuttgart/Berlin 1979, sowie Günter Altner (Hrsg.), Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung. Stuttgart 1989. Zur katholischen Diskussion vgl. die Schriftenreihe: Hans Halter/Wilfried Lochbühler, Ökologische Theologie und Ethik, Bde. 1-3. Graz u.a. 1999. Zur neueren Diskussion vgl. Thomas Schaack, Ecclesia

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Mensch und Natur theologisch reflektierte und die kirchliche Schöpfungsverantwortung in den Mittelpunkt stellte. Ziel der kirchlichen Anstrengungen war es, die Theologie „zum scharfen Kritiker aller menschlichen Allmachtsphantasien“64 zu machen. In den 1980er Jahren heizten Meldungen über das Waldsterben und der Schock über die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl die Umweltdiskussion an; nicht zuletzt sorgten die Grünen, die sich von einer Bewegung zu einer Partei formiert hatten, für die bleibende Brisanz dieses Themas. Das strahlte durchaus auch auf die theologisch geführten Debatten um Umweltschutz aus, die nun vermehrt verknüpft wurden mit weiterführenden Fragen, etwa nach einer angemessenen Energiepolitik, nach den Auswirkungen der Gentechnik, nach Möglichkeiten der atomaren Abrüstung, Friedenssicherung und internationaler Entwicklungshilfe. Kurzum: Überall dort, wo sich ethische Konflikte ankündigten, reagierten die Kirchen angesichts eines vermeintlichen Beratungsbedarfs der Gesellschaft erfolgreich mit der Mobilisierung von religiösen Semantiken. Auf evangelischer Seite ist hier etwa die Denkschrift „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß“65 von 1984 zu nennen. Wichtige Impulse gingen ebenso vom 1985 publizierten gemeinsamen Wort der evangelischen und der katholischen Kirche „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung“66 und vom vier Jahre später vorgelegten „Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens“67 aus. Bereits 1980 hatte



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semper recyclanda oder: Was die Ökologie in der Kirche zu suchen hat und manchmal auch findet, in: Lernort Gemeinde, H. 3, 2003, 26-29. Wolfgang Schoberth, Schöpfungsglaube, Naturerkenntnis und ökologische Krise. Ansätze zur Theologie der Natur bei Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und Günter Altner, in: ders. u. a., Natur = Schöpfung. Theologische Annäherungen und Fragen, Bd. 3/91, hrsg. von Kirchenrat Erhard Ratz. Beauftragter für Technik und Naturwissenschaften der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. München 1991, 6-21, hier: 18. Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Soziale Ordnung, hrsg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1984. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Gütersloh 1985. Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz in Verbindung mit den übrigen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in

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die Deutsche Bischofskonferenz die Erklärung „Zukunft der Schöpfung – Zukunft der Menschheit“68 zu Energiefragen vorgelegt, 1998 dann das Papier „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“.69 Den Kirchen gelang es über ihren Kompetenzgewinn in der Umweltdebatte somit nicht nur, religiöse Semantiken im öffentlichen Diskurs zu revitalisieren, diese wurden nun auch verstärkt in den politischen Raum transferiert. Die Christdemokraten etwa setzten Schöpfungssemantiken seit Ende der 1980er Jahre bewusst zur konservativen Wählermobilisierung ein. Bundeskanzler Helmut Kohl etwa stellte seine Regierungserklärung im März 1987 unter das Motto „Die Schöpfung bewahren – Die Zukunft gewinnen“.70 Bis Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich der neue Programmbegriff „Bewahrung der Schöpfung“ zu einem zentralen Bestandteil der CDU-Ideologie. Nach der Vereinigung der Christdemokraten im Westen und Osten Deutschlands wurde 1994 das erste gesamtdeutsche Programm der CDU mit dem Titel „Freiheit in Verantwortung“ verabschiedet. Es dokumentiert in den Kapiteln über „eine ökologische und soziale Marktwirtschaft“ und über „die Bewahrung der Schöpfung“ ebenfalls ein gesteigertes Umweltbewusstsein. 71 Auch angesichts der Klimakrise argumentierten die Christdemokraten mit dem genannten Programmbegriff. Am 23. April 2007 setzte der Bundesvorstand der CDU Deutschlands die Kommission „Bewahrung der Schöpfung“ einstimmig ein. Für die Christdemokraten sei die „Bewahrung der Schöpfung“, die während der 1970er und 1980er Jahre zu Unrecht in den Hintergrund gerückt sei, wieder ein „essentielles Thema“, das sich aus dem christlichen Selbstverständnis der Partei ergebe, unterstrich der damalige Generalsekretär Ronald Pofalla im Juni 2008.72 Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte auf einem Kongress der Christdemokraten in Hanau 2007 erklärt, für Klimaschutz habe die CDU ein geeignetes Wort, und das heiße „Bewahrung der



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Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Gütersloh 1989. Zukunft der Schöpfung − Zukunft der Menschheit. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen der Umwelt und der Energieversorgung, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 1980. Handeln für die Zukunft der Schöpfung (22. Oktober 1998). Die Deutschen Bischöfe-Kommission für Gesellschaftliche und Soziale Fragen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die Deutschen Bischöfe/Erklärungen der Kommissionen, 19). Bonn 1998. Rainer Nahrendorf, Auf Wiedervorlage. Kohls Regierungserklärung, in: Handelsblatt 55, 19.03.1987, 2. CDU, Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands: „Freiheit in Verantwortung“. Hamburg 1994. Vgl. Stephan Löwenstein/Wulf Schmiese, Rausklettern aus den alten Schützengräben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Juni 2008.

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Schöpfung“, und aus diesem Gedankengang heraus seien Klimaschutz oder sorgfältiger Umgang mit Ressourcen zutiefst moralische Verpflichtungen.73 Auch bei den Grünen finden sich nach 1989 verstärkt entsprechende religiöse Metaphern und Semantiken. Noch im Februar 2009 wertete ihr Bundesvorsitzender Cem Özdemir die „Bewahrung der Schöpfung“ als ein zentrales Instrument zur „wertkonservativen“ Wählermobilisierung.74

IV. D ER B EDEUTUNGSGEWINN DES R ELIGIÖSEN DEN K APITALISMUSDEBATTEN NACH 1989

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Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse ist es kaum verwunderlich, dass das Religiöse seit Ende der 1980er Jahre nun auch zunehmend der Kritik oder aber Absicherung ökonomischer Vorgänge diente. Das geschah angesichts eines wachsenden Krisenbewusstseins infolge der Auswirkungen der Japankrise 1991 und der Asienkrise Ende der 1990er Jahre, des „Platzens“ der Dotcom-Blase im März 2001 und des Aktiencrashs nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sowie der damit verbundenen öffentlichen Diskreditierung neoliberaler Lösungskompetenzen. Die wachsende Akzeptanz religiöser Deutungsmuster lässt sich auf der semantischen Ebene zunächst einmal in prominenten Wirtschaftsmedien erkennen, in denen das Religiöse wieder inkludiert wurde. Das gilt insbesondere für die Berichterstattung über den Aktienmarkt, in der etwa vermehrt von „Kult-Aktien“, „Anlage-Sünden“ oder „Börsen-Gurus“ die Rede war.75 Darüber hinaus kam es angesichts der wachsenden Krisenanfälligkeit eines invaliden Kapitalismus seit Ende der 1980er Jahre und der fehlenden Systemkonkurrenz nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus zu einer breiteren Diskussion über die normativen Grundlagen kapitalistischen Handelns in den Wirtschaftsmedien. Hintergründe waren etwa umstrittene Finanzmethoden von Hedgefonds, Diskussionen über überzogene Managergehälter sowie politische und kirchliche Finanz- und Spendenaffären. Aber auch im Globalisierungsdiskurs, in dem der Kapitalismus seit Ende der 1980er Jahre kritisch als „Neoliberalismus“ konnotiert war, gewann religiöse Semantik zunehmend an Bedeutung. 76 Ein prominentes Beispiel in dieser Diskussion ist Marion Gräfin Dönhoff, die 1996 in ihrer Dresdener Rede „Zivilisiert den Kapitalismus“ den Verlust einer ethischen Normierung der

 73 Zit. nach: Peter Müller, So grün ist Angela Merkel wirklich, in: Die Welt 38, 23.9.2007, 4. 74 Vgl. etwa: „Wir bewahren die Schöpfung“. Interview mit Cem Özdemir, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, Februar 2009, 48 f. 75 Vgl. „Kult-Aktie", in: Capital 7, 1999, sowie Christoph Seeger, Orakel und Debakel. Aktiengurus, in: Manager-Magazin 1, 2000, 118-122. 76 Vgl. Michael Dellwing, Globalisierung und religiöse Rhetorik. Heilsgeschichtliche Aspekte in der Globalisierungsdebatte. Frankfurt/Main u.a. 2008.

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Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus reklamierte. „Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug“ sei „ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich: Produzieren, Konsumieren, Geldverdienen“, beklagte die Herausgeberin der Zeit und kam zu der Erkenntnis: „Eine Zeitlang war das ganz schön, aber dann spüren plötzlich viele: Dies kann doch nicht der Sinn des Lebens sein.“77 Dönhoff bediente sich in ihren Gedanken zur Zukunft des kapitalistischen Westens nach dem Wegfall der sozialistischen Alternative bewusst religiöser Semantik. Die Marktwirtschaft habe sich durchgesetzt und alle – „der Osten, der Westen und die Dritte Welt – huldigen diesem neuen Gott“78, erklärte sie. Für Dönhoff wurde der Markt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als „säkularisierte Eschatologie angesehen“.79 In ihren „Zwölf Thesen gegen die Maßlosigkeit“ behauptete sie, die rein „diesseitige“ Sinngebung der „entzauberten“ Welt könne den modernen Menschen nicht befriedigen.80 Ganz ähnlich griffen die Massenmedien auf religiöse Sprache in Form von Symbolen, Metaphern und Semantiken zurück, um damit kapitalistisches Wirtschaftsgebaren zu kritisieren. Das Nachrichtenmagazin Spiegel beispielsweise sah die deutsche Gesellschaft zum Ende der 1990er Jahre „in einer tiefen ethischen Krise“. 81 Die Auseinandersetzung mit zunehmendem Eigennutz in Wirtschaft und Politik, dem Auftreten eines unkontrollierten „Raubtierkapitalismus“ und dem fehlenden Konsens über „Gut und Böse“ bettete das Hamburger Blatt in die Titelgeschichte „Tanz ums goldene Kalb“.82 Gerade diese alttestamentarische Geschichte war in den Medien seit Ende der 1980er Jahre als Synonym für eine vermeintlich moralresistente und gewinnorientierte Gesellschaft sehr verbreitet. So avancierte etwa die Aktie in der medialen Berichterstattung zum „goldenen Wirtschaftskalb“ der neunziger Jahre.83 Auch die Kritik an überzogenen Managergehältern oder am verwerflichen Verhalten politischer Handlungsträger wurde nun zunehmend mit religiöser Semantik kommuniziert. „Was für die Managerklasse das siebte Gebot, ,Du sollst nicht stehlen‘, auch keine Arbeitsplätze, ist für die Politikerkaste das achte mit seiner lapidaren Forderung: ,Du sollst nicht lügen.‘ Oder ins Politische übersetzt: ‚Du sollst den Wählern keine falschen Versprechungen ma-

 77 Abgedruckt in: Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus. Grenzen der Freiheit, Stuttgart 1997, 34. 78 Marion Gräfin Dönhoff, Macht wird zur Ohnmacht (1991), in: ebd., 39-43, hier: 43. 79 Marion Gräfin Dönhoff, Vorwort, in: ebd., 7-14, hier: 14. 80 Marion Gräfin Dönhoff , Zwölf Thesen gegen die Maßlosigkeit (1995), in: ebd., 219-223, hier: 220. 81 Carolin Emcke/Ulrich Schwarz, Tanz ums goldene Kalb, in: Der Spiegel 51, 1999, 50-66, hier: 50. 82 Ebd., 50. 83 Ebd., 53.

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chen‘“, kommentierte der Spiegel.84 Das Hamburger Nachrichtenmagazin sah den alttestamentarischen Verhaltenskodex, der im Neuen Testament durch Jesu „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun“ markiert war und die zivilreligiöse Grundlage ethisch-moralischen Handelns in der modernen Gesellschaft bildete, erstmals in der Menschheitsgeschichte massiv gefährdet. Zugleich schien nun eine christlich fundierte Wirtschaftspolitik nicht mehr (wie noch in den 1970er Jahren) ein Hindernis für ökonomischen Erfolg zu sein. Die Akzeptanz des Religiösen wurde auch dadurch erleichtert, dass es in den prominenten Wirtschaftsblättern zur Darstellung entsprechender christlicher Unternehmen und ihrer Erfolgsgeschichte kam. So stellte etwa die Wirtschaftswoche im Mai 1997 in der Titelgeschichte „Macht Glauben reicher?“ eine Verbindung zwischen religiösen Leitbildern und wirtschaftlichem Wohlstand her.85 Dass Religion in der Wirtschaft nicht schade, sondern Vorteile bringe, bestätigten nun auch kirchliche Würdenträger oder christliche Unternehmer.86 Die zunehmende Akzeptanz des Religiösen in der Wirtschaft zeigt sich darüber hinaus in entsprechenden Schriften wie dem 2001 erschienenen, vom Bund katholischer Unternehmer initiierten „Manager-Gebetbuch“, das Führungskräfte in den Stand versetzen sollte, „ihre verantwortungsvolle Tätigkeit und den hektischen Geschäftsalltag zu reflektieren und im Gebet vor Gott zu bringen“.87 Weitere Beispiele sind die „Buddhistische Wirtschaftsethik“ von 2002 oder die 2008 erschienenen „heiligen Ratschläge“ des Dalai Lama in einer buddhistischen Managerfibel88, aber auch Gründungen wie die des 1999 eingerichteten Kongresses christlicher Führungskräfte, der stetig wachsende Teilnehmerzahlen melden konnte.89 Gerade christlich abgesicherte Wirtschaftspolitik avancierte also zu einer echten Alternative jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, religiös-

 84 Ebd., 56. 85 Olaf Gersemann u.a., Öffentliches Gut, in: Wirtschaftswoche 23, 1997, 34-39. 86 Vgl. etwa: „Genuß für Leib und Seele“. Wirtschaftswoche-Reporter Harald Schumacher über den unternehmerischen Erfolg moderner Mönche, in: Wirtschaftswoche 22, 1996, 100 ff. Vgl. auch: „Kältetod der Einsamkeit“. Erzbischof Paul Josef Cordes über den Wettbewerb der Religionen und die Rolle der Kirchen in einer globalen Welt, in: Wirtschaftswoche 23, 1997, 41, sowie Harald Schumacher, Die betenden Bosse, in: Wirtschaftswoche 52, 1998, 154-158. 87 Zitiert aus der Produktbeschreibung des Verlags Butzon und Bercker. Michael Bommers/Mechthild Löhr/Lothar Roos (Hrsg.), Manager-Gebetbuch. Besinnung für Führungskräfte. Kevelaer 2001. 88 Dalai Lama/Laurens van den Muyzenberg, Führen, gestalten, bewegen. Werte und Weisheit in einer globalisierten Welt. Frankfurt/Main u.a. 2008. Vgl. Claus G. Schmalholz, Heilige Ratschläge, in: Manager-Magazin 5, 2008, 180. 89 Dazu gehört auch die „Politikerbibel“ aus dem Jahre 2004. Vgl. Matthias Dobrinski, Die Schrift und die Handschrift. Warum die „Politikerbibel“ mehr als nur Sprache bietet, in: Süddeutsche Zeitung, 22.09.2004, 3.

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ethisch nicht fundiertes Wirtschaften dagegen schien zum Scheitern verurteilt. „Das Grundproblem der westlichen Gesellschaften“ liege in einer „völligen Monetarisierung des Lebens“, behaupteten christlich orientierte oder theologisch ausgebildete Unternehmer wie Ulrich Hemel, Vorstandsvorsitzender der Paul Hartmann AG, der nebenbei als Professor katholische Theologie lehrte. 90 Erfolgreiche Wirtschaftsführer forderten zu einer „Rückbesinnung auf christliche Werte“91 auf und bekannten sich in prominenten Wirtschaftsmedien zu ihrem Christentum, wie etwa Peter Barrenstein, Direktor der Unternehmensberatung McKinsey und gleichzeitig Topberater sowie Vorstand des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer, der sich für die Einbettung der Wirtschaft in einen christlichen Lebensentwurf aussprach.92 Auch die Kirchen selbst schalteten sich nun vermehrt in die Kapitalismusdebatte ein und beriefen sich dabei in erster Linie auf die katholische Soziallehre beziehungsweise auf die protestantische Sozialethik. Mit der Sozialenzyklika „Centesimus annus“ aus dem Jahre 1991 warnte Papst Paul II. vor der „Vergötzung des Marktes“ und suchte nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus das katholische Gegenmodell zum scheinbar alternativlosen Neoliberalismus zu definieren. Und die Evangelische Kirche in Deutschland stellte im selben Jahr in ihrer Wirtschaftsdenkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ eine Verbindung zwischen christlicher Ethik und Ökonomie her.93 Weitere aussagekräftige Beispiele, wie der christliche Glaube nach der Wiedervereinigung in den Entwürfen beider Konfessionen als Regulativ gegen den kapitalistischen Machbarkeitswahn entworfen wurde, lassen sich unschwer aufführen.94 So wurden etwa im gemeinsamen Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, das 1997 unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ erschien, dezidiert die aus der Genesis abgeleitete Verantwortung des Menschen für die „Weltgestaltung“ und die prophetische Kritik der Bibel an Unrechtssituationen

 90 „Manager ohne Moral“, in: Manager-Magazin 6, 2002, 138-148, hier: 147. 91 „Bescheiden leben“. Nach den jüngsten Skandalen fordert DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun eine Rückbesinnung auf christliche Werte, in: Manager-Magazin 3, 2007, 113-119. 92 Eva Buchhorn, Sinn und Haben, in: Manager-Magazin 1, 2005, 126-136. 93 Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hannover 1991; zur päpstlichen Enzyklika siehe auch den Beitrag den Goldschmidt in diesem Band (dort Kap. V). 94 Vgl. etwa: „Paulus würde im Internet surfen“. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, über virtuelle Gottesdienste, die Risiken der Atomenergie und Flüge ins All, in: Wirtschaftswoche 52, 2008, 110 ff.

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betont.95 Stimmen einzelner kirchlicher Würdenträger, die sich in die Debatte einschalteten, kamen hinzu. Die „pure Spekulation“ sei „Sünde“, so wurden etwa die wachsende Aktienbegeisterung und die Tatsache kommentiert, dass selbst nach dem Gottesdienst Börsentipps gehandelt würden.96 Der Forderung von Erzbischof Reinhard Marx, Kirche müsse sich als gesellschaftliche Größe „provozierender und unangepasster äußern, dass Geld in unserer Gesellschaft nicht alles sein kann“, kommen Kirchenvertreter bis heute nach, wie die einleitend genannten Beispiele verdeutlichen.97 Dabei stellen sie ihre Äußerungen – wie die bereits erwähnte Schrift „Das Kapital“ von Reinhard Marx in deutlicher Weise zeigt –, nicht selten in die Tradition kirchlicher Kapitalismuskritik, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Am Beispiel von Adam Heinrich Müller und Franz von Bader erinnert Reinhard Marx darin in einem fingierten „Brief“ an seinen verstorbenen Namensvetter an die dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ vorausgehende Kapitalismuskritik sozial engagierter Katholiken. Auch der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, so unterstreicht Reinhard Marx, habe zur Zeit der Entstehung des „ersten“ Kapitals eine Alternative zur Revolution durch das Proletariat entwickelt, in dem er die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung gegründet habe, der es um die Unterstützung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Arbeitern gegangen sei. 98 Reinhard Marx macht dabei vor allem deutlich, was den prinzipiellen Abstand zwischen der katholischen und marxistischen Kapitalismuskritik ausmacht. Während Karl Marx das Ziel in einer Revolution gegen den bürgerlichkapitalistischen Staat erblickt habe, hätten die katholischen Kapitalismuskritiker eine konsensorientierte Lösung im Sinne einer „Sozialpartnerschaft“ zwischen Arbeitern und Unternehmern ins Zentrum ihrer Bemühungen gerückt. Historisch, so unterstreicht der Erzbischof, habe die katholische Initiative Recht bekommen, und somit seien der Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft unter anderem ein Verdienst der katholischen Kapitalismuskritiker.99 Das Argument, dass die katholische Kapitalismuskritik die bessere, weil historisch bewährte und beglaubigte gegenüber dem Kommunismus sei, findet sich auch bei anderen katholischen Theologen. So äußerte sich bereits 1986, also mehr als zwanzig Jahre vor Reinhard Marx, der „Nestor der katho-

 95 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hannover 1997. 96 „Die pure Spekulation ist Sünde“. Weihbischof Reinhard Marx warnt vor Auswüchsen der Aktienbegeisterung, in: Welt-Online, 24.2.2000, 27. 97 Ebd. 98 Marx, Kapital (wie Anm. 3), 12 f. 99 Ebd., 15.

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lischen Soziallehre“ Oswald von Nell-Breuning100 zu den vielfältigen Dimensionen des Begriffs „Kapitalismus“. Und wie der Erzbischof sah er den Grundstein der Kapitalismuskritik sowohl durch die Kirche als auch durch den Kommunismus gelegt. Während allerdings letzterer lediglich weltimmanente, analytische Kritik an den Funktionsweisen des Kapitalismus formuliert habe, sei den kirchlichen Initiativen eine transzendente, normative Kritik eigen, die ins „Metaökonomische“ ziele und dadurch sowohl ethische als auch juridische und theologische Maßstäbe setze.101 Den Kapitalismuskritikern innerhalb der katholischen Kirche fiel es vor allem nach 1989 leicht, sich als regulative Akteure in die ökonomischen Krisendiskurse einzuschalten, da sie sich nach dem historischen Zusammenbruch des Kommunismus nun als alternativlose Instanzen zur Interessensvertretung der „Verlierer“ einer moralvergessenen neoliberalen Marktwirtschaft definieren konnten. Ob dieser Anspruch berechtig ist und etwa die Freien Gewerkschaften, wie suggeriert, ihre Anwaltschaft für die Arbeitnehmer nicht mehr in dem Maße wahrnahmen, wie sie die Kirche für sich selbst reklamierte, sei dahingestellt. Fakt ist jedoch, und das zeigt nicht zuletzt der Bestsellererfolg von Reinhard Marx, dass die Kirchen in der Wertedebatte, die durch die Wirtschaftskrisen seit Ende der 1980er Jahre und die Terroranschläge vom 11. September in den USA angekurbelt wurde, in einem Maße ein Vakuum füllen konnten, wie es noch in den 1960er und 1970er Jahren, vielleicht auch in den politisch bewegten 1980er Jahren, undenkbar schien.102 Als Instanzen für den Wertemarkt und die Nachfrage nach einer religiösethischen Grundlegung der Wirtschaftsordnung haben die Kirchen demnach an Glaubwürdigkeit und Relevanz gewonnen, vielleicht, weil politische Alternativen von links – beachtet man etwa die Bemühungen der Partei „Die Linke“, diesen Sektor zu bedienen – nicht mehr ihre alten Kompetenzen auszuspielen vermochten. Auch die Grünen, die lange Zeit den christlichethischen Diskurs mit bestimmten, haben sich längst in die etablierte und damit für die Wertediskussion von der Öffentlichkeit mit Skepsis betrachtete Parteienlandschaft eingereiht.

 100 Oswald von Nell-Breuning, Kapitalismus kritisch betrachtet. Zur Auseinandersetzung um das bessere „System“. Freiburg 1986. Das Zitat stammt aus dem Klappentext. 101 Ebd., 74. 102 Das dokumentiert auch die enorme Resonanz auf die Überlegungen des protestantisch-konservativen Journalisten Peter Hahne, dessen Buch „Schluss mit lustig“ aus dem Jahre 2004 das Ende der hedonistischen „Spaßgesellschaft“ verkündete. Die naheliegende Hypothese, dass die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 die religiöse Codierung der ökonomischen Diskurse in Deutschland ebenfalls befördert haben, wäre ein interessanter Gegenstand einer gesonderten Untersuchung.

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Für eine wachsende Mobilisierung religiöser Semantik in den Wirtschaftsmedien seit Ende der 1980er Jahre spricht auch, dass die Diskussionen über die Zukunft des Kapitalismus dort zunehmend ins religiöse Feld transferiert wurden. Damit erschien der Kapitalismus nicht nur wie etwa bei Max Weber als eine durch Religion bedingte Erscheinung, sondern im Sinne Walter Benjamins selbst als religiöse Ausdrucksform.103 So wurde die nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus scheinbar allein dominierende westliche Wirtschaftsordnung nicht nur in kirchlichen Stellungnahmen seit Ende der 1980er Jahre über religiöse Zuschreibungen zunehmend als „Gegenreligion“ verhandelt, an deren schlechtem Beispiel die Vorzüge einer christlich fundierten Wirtschaftsordnung fassbar gemacht werden konnten; die weit verbreiteten semantischen Vehikel für diesen Topos vom „Kapitalismus als Gegenreligion“ wurden schon erwähnt: der „Tanz um das goldene Kalb“, der „Götzendienst“, „Gott oder Mammon?“ oder der „Turmbau zu Babel“. 104 Ähnlich klangen pessimistische Stimmen zur Zukunft des Kapitalismus, die sich an biblischen Endzeitprophezeiungen orientierten. Im Manager-Magazin etwa wurde das „wirtschaftliche Armageddon-Szenario“105 in Anlehnung an die endzeitliche Entscheidungsschlacht im Johannes-Evangelium entworfen. Religiöse Rhetorik findet sich aber auch bei Verteidigern der liberalen Marktwirtschaft. Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze etwa forderte in der Wirtschaftswochen-Reihe „Zukunft des Kapitalismus“ im Jahre 2008 dazu auf, „nicht in den Chor der politischen Gegenwartskleriker einzustimmen, die das ganz natürliche Haben-Wollen der Menschen wieder als Todsünde verdammen“, denn schließlich habe „Gott“ die Welt nicht als „Rosengarten“ geschaffen.106 Auch in der sogenannten „Heuschrecken-Debatte“, die Franz Müntefering im Jahre 2005 angestoßen hatte, sind kritische Kommentare auf der Ebene religiöser Semantik dokumentiert. Während Teile der CDU

 103 Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion [Fragment], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde. Frankfurt/Main 1991, Bd. 6, 100 ff. Vgl. auch: Marc Jongen (Hrsg.), Der göttliche Kapitalismus. Ein Gespräch über Geld, Konsum, Kunst und Zerstörung mit Boris Groys, Jochen Hörisch, Thomas Macho, Peter Sloterdijk und Peter Weibel. München 2007. 104 Für die thematische Verbindung von Kapitalismus und Religion stehen vor allem Max Weber, Walter Benjamin, Georg Simmel und Christoph Deutschmann. Vgl. Baecker, Kapitalismus (wie Anm. 6). 105 Müller/Rickens, Zocken bis zum Ende. Die Finanzkrise droht die Weltwirtschaft in die heftigste Krise seit Generationen zu stürzen, in: Manager-Magazin 10, 2008, 114-123, hier: 116. 106 „Risiko ertüchtigt uns“. Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze über die Vorzüge der Habgier, die Freude am Risiko, die Möglichkeiten der offenen Moderne – und die Langeweile im Paradies, in: Wirtschaftswoche 49, 2008, 140 ff.

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Müntefering zustimmten, kommentierte etwa die damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, im Alten Testament seien Heuschrecken in großer Zahl über das Land gekommen und hätten alles kahl gefressen und dies könne von den Unternehmen bei aller Kritik nicht behauptet werden.107 Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ging weiter, adressierte das Müntefering-Argument um und behauptete, nicht Finanzinvestoren seien die Heuschrecken, sondern die Gewerkschaftsfunktionäre seien die „wahre Plage in Deutschland“.108 Die Effektivität religiöser Semantik in den Diskussionen erkannte Reinhard Bütikofer, der seinerzeitige Bundesvorsitzende von „Bündnis 90/Die Grünen“, der betonte, Münteferings Sprache sei seine Sache nicht, doch in der ökonomischen Debatte, die eine „Wertedebatte“ mit „Orientierungsfunktion“ sei, helfe eine „schärfere Sprache, Probleme zu Gehör zu bringen.“109

VI. R ESÜMEE Die Untersuchung der bundesrepublikanischen Kapitalismusdebatten von den 1970er Jahren bis zu den Diskussionen über die Finanzkrise im Frühjahr 2009 hat ergeben, dass sich auf der semantischen Ebene seit Ende der 1980er Jahre ein Bedeutungszuwachs des Religiösen in den Diskussionen über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung vollzog. Bis dahin war dies anders. Wie schon der in sachlicher Soziologensprache verfasste Club-of-Rome-Bericht, der seine ernüchternden Befunde bis auf zwei kleinere Ausnahmen ohne religiöse Bezüge präsentierte, marginalisierten auch die untersuchten Wirtschaftsmedien das Religiöse in den 1970er Jahren in ihren Analysen weitgehend. Religion stellte hier nur einen gesellschaftlichen Teilbereich unter anderen dar und wurde wie Politik, Kunst, Recht oder Erziehung gewertet. Die Debatten über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung wurden mit dem Anspruch auf autonome Eigengesetzlichkeit in erster Linie ökonomisch verhandelt. Im Gegensatz zu dieser Marginalisierung des Religiösen in ökonomischen Fachperiodika bewährte sich religiöse Semantik in den an die breite Öffentlichkeit adressierten Organen allerdings bereits seit den frühen 1960er Jahren als geeignetes Instrument zur Kritik an der Finanzpraxis und materiellen Ausstattung der Kirchen. Über den scheinbaren Widerspruch zwischen der biblischen Botschaft und der kirchlichen

 107 Zit. nach: „Grüne nehmen Wirtschaft in Schutz“, in: Spiegel-Online, 2.5.2005. 108 Zit. nach: Ansgar Graw, Heuschrecken und andere Plagen in Deutschland. Müntefering, Westerwelle und die CDU-Arbeitnehmer streiten über Kapitalismus, Managergehälter und Gewerkschaften – und kaum noch über Arbeitsplätze, in: Die Welt, 2.5.2005, 3. 109 Zit. nach: „Die Grünen nehmen die Wirtschaft in Schutz“. Fraktionschefin Göring-Eckardt: Unternehmen müssen Gewinne machen dürfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.5.2005, 11.

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Praxis konnten die Kirchen, die als wichtigste religiöse Agenturen identifiziert wurden, als Teil des kapitalistischen Establishments und somit als Teil der Probleme präsentiert werden. Jedoch gelang es den Kirchen in der zu Beginn der 1970er Jahre aufkommenden Umweltdebatte dann vermehrt, religiöse Semantiken zu revitalisieren. Diese Entwicklung war von einem wachsenden Kompetenzgewinn der christlichen Institutionen in der öffentlichen Wahrnehmung begleitet, da sich die Diskussionen über einen angemessenen Schutz der Umwelt im weiteren Verlauf sukzessive auf Bereiche ausweiteten, in denen ethisch-normative Begründungen gesellschaftlichen Handelns ganz allgemein eingefordert wurden. Religiöse Semantiken fanden sich seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre so zunehmend auch im politischen Raum. Nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus, der im öffentlichen Bewusstsein einherging mit einer gesteigerten Wahrnehmung wirtschaftlicher Krisenerscheinungen, gelang es den Kirchen überdies das Feld der Kapitalismuskritik vermehrt für sich zu reklamieren. So präsentierten sich etwa Vertreter der katholischen Kirche unter Verweis auf die Tradition ihrer Soziallehre und den früh begonnenen Dialog mit dem Kommunismus/Marxismus110 als die „wahren Sozialisten“111. Die protestantische Kirche wiederum verstand sich als „Stimme für die Stimmlosen“. Beide Kirchen verließen hier ihre Mitgliedergrenzen und schalteten sich vermehrt in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs ein. Vor diesem Hintergrund ist die wachsende Akzeptanz religiöser Semantiken in den Debatten über den Kapitalismus seit dem Ende der 1980er Jahre zu sehen. Religiöse Semantik wurde also in erster Linie infolge der sich verschärfenden Krisensymptome des Kapitalismus und der damit verbundenen Forderungen nach einer ethisch-normativen Begründung der Wirtschaftsordnung angesichts der fehlenden sozialistischen Alternative wieder anschlussfähiger. Religiöse Deutungsmuster erschienen geeignet, das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem des globalisierten Kapitalismus zu beschreiben, wobei sich religiöse Semantik sowohl bei den Verteidigern der liberalen Marktwirtschaft als auch bei ihren Kritikern findet. Durch diese Befunde lässt sich eine generelle „Wiederkehr der Religion“ freilich noch nicht bestätigen, sondern lediglich eine stärkere Präsenz des Religiösen in den Medien. Das kann einerseits auf das gesellschaftliche Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung in der kapitalistischen Welt zurückgeführt werden und verweist damit auf die „ordnungsstrukturierenden und kon-

 110 Vgl. zum christlich-marxistischen Dialog die jüngst erschienene Dissertation von Pascal Eitler, „Gott ist tot - Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968. Frankfurt am Main 2009. 111 Vgl. für die katholische Seite etwa Nell-Breuning, Kapitalismus (wie Anm. 100), 13.

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tingenzreduzierenden Leistungen religiöser Deutungssysteme“.112 Zum anderen kommt der Religion ganz allgemein nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 eine größere öffentliche und auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu. Religion wurde nicht mehr in dem Maße medial exkludiert, wie das noch bis zu den 1980er Jahren der Fall war. Zu fragen wäre, ob dieses Interesse eher aus „wiedererwachter Frömmigkeit“ oder aus der Neugier nach dem „Anderen“ resultierte. Die Mitgliederentwicklung der religiösen Institution „Kirche“ blieb jedenfalls von dieser Entwicklung nahezu unberührt113, und auch der Markt alternativer Religionen, der über eine große mediale Präsenz verfügt, sollte in seinem tatsächlichen gesellschaftlichen Gewicht nicht überschätzt werden.114 Die erfolgreiche Mobilisierung religiöser Semantik in der medialen Öffentlichkeit ist so auch als ein geeignetes Instrument zu bewerten, den Relevanzverlust religiöser Institutionen auf anderen Feldern zu kompensieren. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht sollten die hier zitierten kirchlichen Stellungnahmen in den bundesrepublikanischen Kapitalismusdebatten gedeutet werden. Da im Zuge der viel zitierten „Deinstitutionalisierung“ von Religion religiöse Semantik nicht einfach verschwindet, wird sie verstärkt in anderen Diskursen – wie hier am Beispiel der ökonomischen Debatten gezeigt − freigesetzt und durch säkulare Akteure genutzt. Dabei können die Kommunikationspartner jenseits von Dogmatik und Kirchenlehre auf einen religiösen Sprachhaushalt zurückgreifen, ohne dass dabei zwangsläufig auf einen Transzendenzbezug geschlossen werden darf. Vielmehr dient religiöse Semantik der Komplexitätsreduktion, in dem sie politische und ökonomische Sachverhalte einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt. Die ausdifferenzierte religiöse

 112 Hartmut Berghoff/Jakob Vogel, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: dies. (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 7), 9-41, hier: 28. 113 So belegen Studien der katholischen Kirche, dass die „Wir sind Papst“-Euphorie des Weltjugendtages in Köln keine messbaren Auswirkungen auf die Mitgliedschaftsentwicklung hatte und auch nur eine geringe Belebung des kirchlichen Alltags bewirkt hat. Von einer Rückkehr in die Kirche kann also keinesfalls die Rede sein. Vgl. dazu die Sinus-Studie von Carsten Wippermann/Marc Calmbach, Wie ticken Jungendliche? Sinus-Milieustudie U27, hrsg. von Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) & Misereor. Düsseldorf 2008; ferner den Kommentar von Michael N. Ebertz, Eine gewichtige Kinder- und Jugendstudie. Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft betrachtet, in: BDKJ-Journal 17. Jg., 2008, 10 f. Ebertz konstatiert tiefe Gräben zwischen der „Mutterkirche“ und der „Jugendkultur“. 114 Vgl. dazu Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos?. Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003, 88-92; vor allem aber die dezidierte Studie von Markus Hero/Volkhard Krech/Helmut Zander (Hrsg.), Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort. Paderborn u. a. 2008.

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Sprache mit ihrem Reichtum an Bildern, Metaphern und Sprüchen ist auch in einer säkularen abendländischen Kultur weiterhin geeignet, „Unvertrautes“ „vertrauter“ zu machen und so letztlich „die Welt in Ordnung [zu] bringen“.115

 115 Zu den Funktionsweisen religiöser Kommunikation vgl. Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3. Frankfurt/Main 1989, 259-357, hier: 273.

Autorinnen und Autoren

Bösch, Frank, Prof. Dr., Universität Gießen Brechenmacher, Thomas, Prof. Dr., Universität Potsdam Geppert, Dominik, Prof. Dr., Universität Bonn Gettys, Sven-Daniel, M. A., Universität Bochum Goldschmidt, Nils, Prof. Dr., Universität der Bundeswehr München Granieri, Ronald J., Prof. Dr., Syracuse University, Syracuse, NY (USA) Hochgeschwender, Michael, Prof. Dr., Universität München Karabelas, Iris, Dr., Max-Planck-Gesellschaft München Kießling, Friedrich, Privatdozent Dr., Universität Erlangen-Nürnberg Koch, Anne, Privatdozentin Dr., Universität München Leonhard, Jörn, Prof. Dr., Universität Freiburg Löffler, Bernhard, Prof. Dr, Universität Regensburg Mittmann , Thomas, Dr., Universität Bochum Reese-Schäfer, Walter, Prof. Dr., Universität Göttingen Wallacher, Johannes, Prof. Dr., Hochschule für Philosophie München Wischermann, Clemens, Prof. Dr., Universität Konstanz

Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7

Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0

Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0

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Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne Social Engineering im 20. Jahrhundert 2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1153-3

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Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsen tationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3

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