Ästhetik im Umbruch: Zur Funktion der >Rede über Kunst< um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund [Reprint 2011 ed.] 9783110943825, 9783484350885

What happened around 1900 to universal semantic systems like aesthetics and ethics when German society underwent a radic

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German Pages 281 [284] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
2. Zur Konzeption von ›Gesellschaft‹ um 1900
2.1 Forschungsansätze und Kritik
2.2 Die Funktion von ›Milieus‹ in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft
3. Ästhetikentwürfe um 1900
3.1 Funktionen einer Semantik des Schönen und Guten
3.2 Gebremste Dialektik: Die Natur als Letztwert monistischer Ästhetik
3.3 Alle Macht dem Subjekt? Die objektiven Werte neukantianischer Ästhetik
3.4 Dynamik der Form versus Statik des Mediums: Georg Simmels Lebensphilosophie
3.5 Universal per definitionem: ›katholische‹ Ästhetik
3.6 Fluchtpunkt objektive Wahrheit: die historisch-materialistische Ästhetik als Mediendidaktik
3.7 Normative Ästhetik und beobachterabhängige Semiotik: eine Zwischenbetrachtung
4. Die Funktion der Ästhetik in der Debatte um Schmutz und Schund
4.1 Die christlich-konservative Sittlichkeitsbewegung
4.2 Die ›Hamburger Bewegung‹ und Heinrich Wolgast
4.3 Sozialdemokratische Positionen
4.4 Die Mobilisierung der Intellektuellen
4.5 Gruppierungen im Buchhandel
5. Schluß
6. Literaturverzeichnis
Register
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Ästhetik im Umbruch: Zur Funktion der >Rede über Kunst< um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund [Reprint 2011 ed.]
 9783110943825, 9783484350885

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 88

Mirjam Storim

Ästhetik im Umbruch Zur Funktion der >Rede über Kunst< um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

D Philosophische Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Storim, Mirjam: Ästhetik im Umbruch : zur Funktion der >Rede über Kunst< um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund / Mirjam Storim. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 88) ISBN 3-484-35088-1

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort

VII

1.

Einleitung

l

2.

Zur Konzeption von >Gesellschaft< um 1900

5

2.1 Forschungsansätze und Kritik 2.2 Die Funktion von >Milieus< in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft

13

3.

21

Ästhetikentwürfe um 1900

3.1 Funktionen einer Semantik des Schönen und Guten 3.1.1 >Ästhetik< und >Ethik< als Reflexionstheorien von Kunst und Moral 3.1.2 Die Homologie von >Kunstwerk< und >SubjektSache selbstkatholische< Ästhetik 3.5.1 Kompetenz aus Tradition: Neuscholastische Ansätze 3.5.2 Die Nivellierung des Spezifischen bei Karl Muth 3.6 Fluchtpunkt objektive Wahrheit: die historisch-materialistische Ästhetik als Mediendidaktik

5

21 22 30 34 37 44 50 54 59 64 71 76 81 88

3.7 Normative Ästhetik und beobachterabhängige Semiotik: eine Zwischenbetrachtung 4.

99

Die Funktion der Ästhetik in der Debatte um Schmutz und Schund

102

4.1 Die christlich-konservative Sittlichkeitsbewegung 4.1.1 Christliche Universalsemantik und ihre konfessionelle Präzisierung 4. l .2 >Heimat< als Hoffnungsträger von Religiosität und Sittlichkeit - >Nation< als problematischer Begriff 4.1.3 Werkbegriff und gesellschaftliche Harmonie 4.1.4 Die Tendenz und das >Außen< der Kunst 4.2 Die >Hamburger Bewegung< und Heinrich Wolgast 4.2. l Anlehnungskontext Beruf? Zum Stand der Volksschullehrer 4.2.2 Das Konzept der Volkspoesie 4.3 Sozialdemokratische Positionen 1.3.l Sozialdemokratie als Weltanschauung: der Universalismus der Partei 4.3.2 Was heißt »wahre Realistik«? Unanständigkeit und Patriotismus in der Kritik 4.4 Die Mobilisierung der Intellektuellen 4.4. l Der Goethebund als improvisierte »Barrikade« gegen die Bevormundung der Kunst 4.4.2 Distanz und Integration, Gebildetenkritik und Massenkritik: Die zwiespältige Position der Intellektuellen 4.5 Gruppierungen im Buchhandel 4.5. l Moral und Kunst als Medien der Hierarchiebildung im Wirtschaftsystem 4.5.2 Geschäfte im Namen des Herrn: der christliche Vereinsbuchhandel 4.5.3 Verteidigungsstrategien des Kolportagebuchhandels - »ein Kind der Neuzeit«

110 110 121 126 132 140 140 145 151 151 156 167 167 177 189 192 205 213

5.

Schluß

222

6.

Literaturverzeichnis

229

Register VI

269

Vorwort

Diese Arbeit entstand am Institut für Deutsche Philologie der LudwigMaximilians-Universität München in den Jahren 1998 bis 2000. Ohne geeignete Rahmenbedingungen und ein gutes Umfeld hätte sie in der vorliegenden Form nicht abgeschlossen werden können. Deshalb danke ich an dieser Stelle Wolfgang Frühwald, an dessen Lehrstuhl ich während dieser Zeit eine Assistentenstelle vertreten konnte, meinen Kollegen Martin Huber, Gerhard Lauer und Kirsten Steifen, die immer für Diskussionen offen waren, und vor allem meinem akademischen Lehrer Georg Jäger, der die Arbeit intensiv betreute. Seine Begeisterung für theoretische Modelle, die Offenheit gegenüber anderen Disziplinen und das Interesse am Phänomen >Trivialliteratur< haben diese Untersuchung entscheidend mitgeprägt. Das Evangelische Studienwerk e. V. Villigst hat meine Dissertation finanziell für einige Monate unterstützt. Mit bewährter Sorgfalt und Kompetenz hat Christian Topp das Manuskript abschließend Korrektur gelesen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken - besonders der Bibliothek des Instituts für Deutsche Philologie und der Universitätsbibliothek in München, der Bayerischen Staatsbibliothek, der Bibliothek des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main und der Bibliothek des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (Berlin) - danke ich ebenfalls für ihre Hilfsbereitschaft. Ein besonderer Dank für Zuneigung, Unterstützung und Begleitung nicht nur in den letzten Jahren gilt Martin Gorbahn und vor allem meinen Eltern Renate und Wolfgang Storim und meinem Bruder Björn. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

VII

1. Einleitung

In den letzten Jahren ist das Thema Kunst und Moral wiederholt öffentlich in so leidenschaftlicher, nicht selten zugleich in so oberflächlicher Weise verhandelt worden, daß nun, wo der Lärm für eine Weile ausgetobt, eine ruhige ernsthafte Untersuchung dieses Problems angemessen erscheint. Wer hier die Üblichen pikanten Auseinandersetzungen Über Sexualfragen erwartet, wurde sich freilich bitter enttäuscht sehen; es ist aber charakteristisch, wie sehr man sich daran gewöhnt hat, nur dieses kleine Segment aus dem großen Kreis von Moralfragen zu beachten. Vielleicht wäre es, um solchen Mißverständnissen auszuweichen, besser gewesen, der Schrift den Titel zu geben [...]: >Über das Verhältnis der Ästhetik zur EthikMenschennatur< bildet dabei einen Bestandteil des Feldes, das sich insgesamt durch die Eckpunkte Ästhetik, Ethik, Anthropologie und, in ihrer Verlängerung, Gesellschaftstheorie bestimmen läßt. Dies ist kein ungewöhnliches Konzept für idealistische Systemphilosophien, überrascht jedoch in einer Zeit, die gemeinhin mit dem Begriff der 1 2

3

Emil Reich: Kunst und Moral. Eine ästhetische Untersuchung. Wien: Manz'sche k. u. k. Hof-Verlags- u. Universitäts-Buchhandlung 1901, S. III. Ebd., S. III, l, 7 und 9. Der Titel lehnt sich an die Studie Thomas Nipperdeys an: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1914. München: C. H. Beck 1988. l

>Moderne< verbunden wird. Wo Frank Wedekind mit Lulu die ungebundene Sinnlichkeit ins Werk setzt, der Naturalismus das soziale Elend zeigt und die Kolportageromane massenhaft von Sex und Crime erzählen, erinnern gleichzeitig Ästhetiken aus verschiedenen Zusammenhängen - der Wissenschaft, Teilen der Künstlerwelt, Kreisen des Bildungsbürgertums - an die originäre Beziehung zwischen Kunst und Moral. Die Positionen, so eine leitende These der folgenden Untersuchung, schließen sich primär nicht deshalb aus, weil sie inhaltlich unterschiedliche Vorstellungen von Kunst und Moral propagieren. Das Problem liegt vielmehr in der Differenz der verschiedenen Konzeptionen von Kunst und Moral: Ästhetik im Umbruch problematisiert den Wandel von den Universalsemantiken des Schönen hin zum funktionalen Einsatz partiell gültiger Ästhetiken. Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird allgemein als eine von Widersprüchen gekennzeichnete Übergangszeit charakterisiert. Mit dem systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns läßt sich dies präzisieren: Gesellschaft um 1900 setzt sich nach der Umstellung von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Differenzierungsform mit ihren Sinnbildungsprozessen auseinander. Indem sich Gesellschaft laufend selbst thematisiert, stellt sie sich selbst her: Gesellschaft besteht aus Kommunikation. Auch Ästhetik und Ethik sind Formen der Kommunikation. Die Frage nach dem, wie es Reich ausdrückte, »allgemein menschheitlichen Wert einer Sache« hat gerade in den Überlegungen zur Kollektivität von Geschmacksurteilen und moralischen Werten eine besondere Tradition. Dabei bedienen sich, so eine weitere These der folgenden Arbeit, die Semantik des Schönen und die Semantik des Guten homologer Denkfiguren: Das >Kunstwerk< als dialektischer Zusammenhang von Form und Inhalt wird mit dem >Subjekt< als Einheit von Individuum und Gesellschaft in Einklang gebracht. Dies schafft zunächst die Voraussetzung für Analogisierungen, wie sie in den Autonomieästhetiken nach der Aufklärung auch vorgesehen sind, denn schließlich soll die Trennung oder Differenz der Systembereiche nicht als Isolation interpretiert werden. Die Grenzen dienen stattdessen dazu, zwischen Kunst und anderen Bereichen der Gesellschaft überhaupt erst einen Kontakt herstellen zu können.4 Ein Kontakt zwischen Kunst und Moral, so bekräftigt auch Reich, habe nichts mit Abhängigkeit, Sklaverei oder »unbedingte[m] Folgeleistenmüssen[ ]« zu tun.5 Darüberhinaus prädestiniert diese Denkfigur die Rede über Kunst und Moral als festen und unersetzlichen Bestandteil einer Semantik, die im wesentlichen auf stratifikatorischen Denkfiguren beruht. Kunst wird auf eine Mimesis-Funktion reduziert, die die Form aus einem ontologischen Gegenüber, dem Inhalt, ableitet. Moral geht ausdrücklich von einem geschlossenen Subjekt aus, dessen genuiner Anlehnungskontext in der Ge4 5

2

So etwa Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1995, S. 136. Reich: Kunst und Moral (Anm. 1), S. 9.

Seilschaft als Menge von Subjekten gefunden wird. Die ästhetisch-moralische Kommunikation um 1900 zeigt, daß >Stratifikation< nicht mehr auf die >Stände< feudaler Gesellschaften - Bauern, Bürger, Adel, Klerus - bezogen werden kann. Stattdessen treten >Klassen< oder auch >Milieus< in den Vordergrund. In jedem Fall handelt es sich jedoch um Kategorien, die das Subjekt als Ganzes erfassen. Eine >moderneKunst< einschränken. Ausgeschlossen werden um 1900 häufig die Unterhaltungsliteratur und unterschiedlichste Produkte der >ModerneKlasseHeimatVolk< oder auch Religion bzw. Weltanschauung sollen diese Funktion erfüllen - für die Kritiker ebenso wie für Volk, Jugend oder das Proletariat, das man von den Produkten besonders der Massenkultur bedroht sieht. Daß die Debatte nicht von allen beteiligten Kreisen in dieser Weise funktionalisiert wird, steht hier als These und soll in der folgenden Arbeit fundiert werden: von den Kolportagebuchhändlern beispielsweise, den Produzenten und Distributoren der heftig kritisierten Kolportageromane, dürfte eine andere Haltung zu erwarten sein. Im Schnittpunkt von Wirtschaft, Literatur und Moral vollzieht sich ein Umbruch der Ästhetik. Auf diesen einführenden Überlegungen baut sich die Grobgliederung der Arbeit auf: Kapitel 2 »Zur Konzeption von >Gesellschaft< um 1900« und 3 »Ästhetikentwürfe um 1900« versuchen, den Zusammenhang von Ästhetik und Ethik theoretisch zu entwickeln und anschließend anhand einiger Ästhetiken zu verdeutlichen. Dies geschieht auf systemtheoretischer Basis in Abgrenzung zu ausgewählten sozialgeschichtlichen Studien und nimmt seinen Ausgangspunkt deshalb bei der Frage, wie >Soziales< bzw. >Gesellschaft< überhaupt sinnvoll gefaßt werden kann.6 Vorgestellt werden dann monistische, neukantianische Die Kapitel 2 und 3.1 liefern in diesem Sinn auch den eigentlichen Forschungsbericht zum Thema. Die für meine Herangehensweise wesentlichen Publikationen zu einzelnen Fragestellungen - den verschiedenen Ästhetikkonzeptionen sowie Gruppierungen in der Debatte um Schmutz und Schund - sind an gegebener Stelle eingearbeitet.

und lebensphilosophische Ansätze ebenso wie Ästhetiken aus dem Katholizismus und der Sozialdemokratie. Kapitel 4 »Die Funktion der Ästhetik in der Debatte um Schmutz und Schund« spielt anhand der Debatte um Schmutz und Schund im Deutschen Kaiserreich diese Grundlagen durch. Hier geht es weniger um die nüchterne, ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Kunst und Moral bzw. Ästhetik und Ethik, wie sie Emil Reich mit den anfangs zitierten Worten anstrebt, sondern genau um jene Texte, die als leidenschaftlich und oberflächlich kritisiert werden. Leidenschaftlich und oberflächlich sind sie für Reich als Professor der Ästhetik im Fachbereich Philosophie was aber bedeuten sie im Zusammenhang einer scharfen Debatte, die sich ausserhalb akademischer Zusammenhänge abspielt und möglicherweise ganz andere Ziele verfolgt? Welche Funktion kann Ästhetik im Umbruch innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft, die über variable Semantiken verfügt, einnehmen?

2. Zur Konzeption von >Gesellschaft< um 1900

2. l Forschungsansätze und Kritik Die Forschungslage zur Gesellschaft im wilhelminischen Kaiserreich ist ebenso breit wie homogen: Seit rund dreißig Jahren beziehen sich diejenigen Wissenschaftler, die eine theoretische Fundierung ihrer Forschung für unausweichlich halten, auf den Garanten der Milieutheorie M. Rainer Lepsius. Den Initialfunken lieferte sein Aufsatz Parteiensystem und Sozialstruktur von 1966, in dem er das »relativ stabile[ ] Parteiensystem[ ]« Deutschlands zwischen Reichsgründung und Ende der Weimarer Republik auf dessen »unmittelbare[ ] Verbindung mit je relativ geschlossenen Sozialmilieus« zurückführte. Der Begriff der »sozialmoralischen Milieus« diente ihm dabei als Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein sozio-kulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird.

Das Parteiensystem, so Lepsius' Erklärungsansatz für die Krise der Jahre 1929 bis 1933 und die Liquidierung der bisherigen Ordnung, sei zusammengebrochen, »als sich im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung, der wachsenden Mobilität und sozialen Differenzierung diese Milieus langsam auflösten.«1 Seit diesem Aufsatz widmet sich die Forschung dem empirischen Nachweis von Stabilität / Instabilität und Grenzdurchlässigkeit dieser Milieus anhand von Beispielen. Im Bereich katholischer Sozialstruktur und Semantik, den Lepsius bei der Formulierung seiner Milieutheorie als Prototyp im Auge hatte, erscheint kaum mehr eine Studie ohne den Milieubegriff. Der deutsche Vereinsund Verbandskatholizismus bietet ebenso wie zum Beispiel die katholische Literaturlandschaft ausreichend Material, um die Stabilität und Homogenität des katholischen Milieus im Deutschen Kaiserreich laufend zu bestätigen. Zu1

M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. In: Gerhard A. Ritter (Hg.): Die deutschen Parteien vor 1918. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1973, S. 56-80, hier S. 66-68. Früher als Lepsius, allerdings terminologisch unklarer und auf den Katholizismus v. a. nach 1945 konzentriert, verwendet Carl Amery 1963 den Begriff des >MilieusBildungsbürgertum< weiter? Wird die übliche Unterteilung in vier Milieus - das sozialdemokratische, das katholische, das bürgerlich-liberal protestantische sowie das konservative Milieu - der wilhelminischen Gesellschaft gerecht? Oder, was Hübinger mit Blick auf sein Vereinsbeispiel selbst zu bedenken gibt, können kulturelle Denkstile und soziale Trägergruppen überhaupt sinnvoll aufeinander abgebildet werden?5 Freilich muß der Milieubegriff keine Zementierung von Fragestellungen einerseits und einmal erkannten Grenzen in der Gesellschaft andererseits zur Folge haben. So hat beispielsweise Dieter Langewiesche in seinem Aufsatz Vom Gebildeten zum Bildungsbürger die Struktur eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland entworfen und damit die forschungsübliche Ehe von Protestantismus und Bildungsbürgertum durchbrochen. Der von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann herausgegebene Band Religion im Kaiserreich: Milieus — Mentalitäten — Krisen zeigt ebenfalls diese Durchlässigkeit. Sowohl für ihren Mentalitäts- als auch für den Milieubegriff schlagen die beiden Herausgeber ein »Modell konzentrischer, zugleich aber durchlässiger Kreise« vor; die Mitte eines Kreises diene dabei der Bildung »klare[r] Idealtypen«, während an den Rändern sich durchaus andere Wertinhalte anlagern könnten.6 Ganz in diesem Sinne formulieren einige Autoren des Bandes ihre Thematik: Thomas Mergel etwa schreibt unter dem Titel Grenzgänger über »Das katholische Bürgertum im Rheinland zwischen bürgerlichem und katholischem Milieu 1870-1914«, Karl Heinrich Pohl bezeichnet die Alternative Katholische Sozialdemokraten oder sozialdemokratische Katholiken in München gar als »Identitätskonflikt«.7

Vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (Anm. 3), S. 21. Die obige Milieueinteilung fußt ebenfalls auf der Studie von Lepsius (Parteiensystem und Sozialstruktur, Anm. 1); umstritten ist z. B. die Lokalisierung der judischen Deutschen: bürgerlich-liberal protestantisches Milieu oder eigenes Milieu? Vgl. Dieter Langewiesche: Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.): Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850-1918 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 59). Tübingen: Niemeyer 1996, S. 107-132; Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich: Milieus - Mentalitäten - Krisen (Religiöse Kulturen der Moderne 2). Gütersloh: Kaiser / Gütersloher Verlagshaus 1996, Zitat aus dem einleitenden Artikel von Blascke / Kuhlemann zu diesem Band: Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, S. 7-56, hier S. 21. Ahnlich Loths Terminologie, in der das ultramontane Milieu als »Verbund« »regional und sozial unterschiedlich akzentuierter Sozialmilieus« definiert wird, in: Integration und Erosion (Anm. 2), S. 267. Beide Aufsätze im Band von Blaschke / Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich (Anm. 6), S. 166-192 (Mergel: Grenzgänger. Das katholische Bürgertum im Rheinland zwischen bürgerlichem und katholischem Milieu 1870-1914) und S. 233-253

Auch mit der von Hübinger verwendeten Formulierung der »politischen, moralischen und ästhetischen Überzeugungen« läßt sich operieren, sofern man diese »Überzeugungen« ähnlich durchlässig und idealtypisch wie die »Milieus« auffaßt. So kann etwa die Kunst als Teilkomponente im Bereich des »Idealen«, die eine Art Gegenwelt zur Welt der Arbeit und des Geldes bilden soll, nicht nur als Gegenstand ästhetischer Betrachtungen und Überzeugungen verstanden werden. Die detaillierte Untersuchung von Georg Bollenbeck über Bildung und Kultur hat auf die enge Verschränkung von Kunst- und Bildungsideal eingehend aufmerksam gemacht und die praktische Relevanz von Ästhetik aufgezeigt.8 Das Wahre, Gute und Schöne, der Erkenntnis zugänglich über Logik, Ethik und Ästhetik als die drei Zweige der praktischen Philosophie, zeigt in dieser Dreiheit ebenfalls, daß kulturelle Vergesellschaftung nicht den Weg des Entweder / Oder wählt.9 Untersuchungen wie Wolfgang Frühwalds Büchmann und die Folgen, die sich mit der sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt, oder, weniger in die Tiefe gehend, von Karlfried Gründer über Die Bedeutung der Philosophie in der Bildung des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, unterstreichen diese Verbindung.10 Die hier ausgewählten Studien zeigen, daß die erkenntnisleitenden idealtypischen Kategorien genug Spielraum lassen, um sogenannte »weiche« (HansUlrich Wehler), unabhängig vom Betrachter vorhandene Strukturen der Geschichte nicht durch die eigene wissenschaftliche Beobachtung rücksichtslos zu verhärten.11 Aber sie erlauben nur bedingt die Frage nach der Beobachtung bzw. Unterscheidung, die weiche Strukturen als solche wahrscheinlich werden läßt. Die Forschungsthemen und Argumentationen ziehen sich infolgedessen häufig auf vermeintlich sichere, idealtypische Standpunkte zurück. Bezogen auf Milieu und Kunst zeigt dies beispielsweise der Aufsatz von Rüdiger vom Bruch über Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich, in dem der übliche Dualismus von mo-

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(Pohl: Katholische Sozialdemokraten oder sozialdemokratische Katholiken in München: ein Identitätskonflikt). Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 215. Vgl. für viele Friedrich Jodl: Allgemeine Ethik. Hg. von Wilhelm Bömer. Stuttgart, Berlin: J. G. Cottasche Buchhandlung 1+21918, S. 3. Beide erstgenannten Aufsätze in: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsguter und Bildungswissen (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert II). Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 197-219 (Frühwald) und S. 47-56 (Gründer). Vgl. Reinhard Aulich, der Wehler zitiert, dessen sozialgeschichtlichen Zugang jedoch mit einer »funktionale[n] Betrachtungsweise« Luhmannscher Prägung reformuliert wissen will, in: R. A.: Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur. Überlegungen zu Form und Wirklichkeit von Zensur als einer intentional adäquaten Reaktion gegenüber literarischer Zensur. In: Herbert G. Göpfert/ Erdmann Weyrauch (Hg.): »Unmoralisch an sich ...« Zensur im 18. und 19. Jahrhundert (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 13). Wiesbaden: in Kommission bei Harrassowitz 1988, S. 177-230, hier S. 206f.

dernefeindlichem Bildungsbürgertum und elitärer Avantgarde vertreten wird.12 Der Raum der Kunst zerfallt in zwei Teile, und ähnlich wird die Palette der Reden über Kunst differenziert. Eine Ausnahme bildet beispielsweise der Forschungsbericht von Ernst Fischer über Literatur und Ideologie in Österreich 1918-1938, der die einzelnen Positionen stärker differenziert. Allerdings kritisiert er mit seinen Lager- und Versäulungsbegrifflichkeit ebenfalls nicht die sozialgeschichtliche Perspektive von vorhandenen, (im Sinne Wehlers) >weichen< Strukturen.13 Diese empirische Aufteilung geschichtlicher Phänomene auf zwei oder mehr idealtypische Kategorien begleitet häufig eine scharfe Gegenüberstellung von Denken und Handeln, von Idee und sozialem Fakt, oder, um auf die Untersuchung Hübingers zurückzukommen, von kulturellen Denkstilen und sozialen Trägergruppen. Hübinger fragt deshalb mit Rückgriff auf Max Weber danach, wie und über welche Trägergruppen sich Ideen zu kollektiven Deutungsmustern von Wirklichkeit bündeln und ihre soziale Gestaltungskraft gewinnen. Außerdem bemüht er sich, über eine erhöhte Anzahl an Kriterien die Bezüge zu verfeinern.14 Vom Bruch versucht eine Brücke zwischen sozial- und ideengeschichtlichen Positionen zu bauen, indem er den Begriff »Kommunikationssystem Bildungsbürgertum« verwendet. Was aber seiner Ansicht nach darunter zu verstehen sei, führt er nicht näher aus.15 Blaschke und Kuhlemann wählen den Ausweg in die Mentalitätengeschichte.16 Ihren Begriff der Mentalität im Sinne einer >»geistig-seelische[n] HaltungLebensrichtungLebenswelt< von prägender Bedeutung sind.« Dies sei dann der Fall, wenn der Zusammenhang zwischen einer Idee und einer Trägergruppe, die ihr Verhalten an ihr ausrichtet, hinreichend stark sei.17 Wann aber läßt sich von einem solchen Verhältnis sprechen, wann bestimmen Ideen die Sinn- und Handlungskonstruktion einer Lebenswelt bzw. eines Milieus mit? Der Unterschied zwischen Mentalität und Idee verschwimmt an dieser Stelle; ebenso unklar erscheint der Begriff der Sinn- und Handlungskonstruktion. Peter Burke, auf den sich die beiden Autoren unter anderem berufen, umschreibt in seinem Aufsatz Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte diese schwer faßbare, kollektive und Lebenswelt produzierende Beschaffenheit von Mentalität als »>System[ ]< von Meinungen«, als Denkgebäude, »in dem jeder Bestandteil zugleich die anderen stützt und von ihnen gestützt wird, so daß sich das ganze System dem Eindringen von Falsifikationen verschließt.« Wo Ideen und Theorien anzusiedeln sind, innerhalb oder außerhalb dieses Systems, wie bestimmt wird, was Falsifikation ist und was nicht, oder über welche wechselnden Beobachtungen sich diese Konstellation selbst als homogen beschreibt und Konflikte zu synthetisieren sucht, bleibt ebenso ungeklärt wie die Funktion eines solchen Meinungssystems im gesellschaftlichen Zusammenhang.18 Hintergrund dieses Problems ist meines Erachtens nicht etwa die Gesellschaft oder die Schwierigkeit einer Rekonstruktion geschichtlicher Fakten selbst, sondern die gewählte Begründungshierarchie. Die sozial- wie mentalitätengeschichtlich inspirierte Milieutheorie geht davon aus, daß die Gesellschaft als ganze zunächst in einzelne sozialmoralische Milieus, und davon ausgehend in noch kleinere Untereinheiten zerfällt. Subjekte, die durch ihre religiösen, kulturellen oder politischen Wertvorstellungen diese verschieden großen Einheiten der Gesellschaft bestimmen, bilden dementsprechend die Letztbegründung von Handeln, Denken oder auch Veränderungen in der >Gesamtgesellschaftder< Katholizismus bzw. >das< Christentum stehe jedoch mit dem momentan herrschenden Milieu des deutschen Katholizismus in keinem Zusammenhang. Die zentrale Frage laute deshalb (S. 32), »ob und wie rasch ein westdeutscher Katholizismus außerhalb der Grenzen des Milieus erst aufgebaut werden kann, und welche Ansätze dazu benützt werden können.«

ehe der Gesellschaft strukturell nicht erklärt werden können, muß das Subjekt um eine ihm vorausgehende Ebene erweitert werden: vor sein Handeln und Denken von etwas tritt das Denken seiner selbst, das Bewußtsein. Dieses mag zwar als eine soziale und moralische Größe über Analogieschlüsse des beobachtenden Sozialhistorikers erahnbar sein, bleibt aber letztlich eine stillschweigend vorausgesetzte Komponente der Milieutheorie.19 In der begrifflichen Konstruktion des >sozialmoralischen Milieus< offenbart sich diese Problematik. Lepsius will mit ihr den unzulänglichen Klassenbegriff ersetzen, um einen »weiter gesteckten Bezugsrahmen[ ]«20 zu ermöglichen. Gesucht wird also eine Kategorie, die sich einerseits aufgrund sozialer Differenzierung und zunehmender Mobilität bereits im Auflösungsprozeß befindet, andererseits aber nach wie vor im Bereich der Wertsysteme und kulturellen Denkstile starke Grenzen besitzt. Gesucht wird ein Bezugssystem, das die höhere Mobilität und Spezialisierung der Individuen ausdrücken kann und zugleich das Individuum als Subjekt vollständig integriert. Gefunden wird eine Kategorie mit dezidiert statistischem Charakter - und obwohl doch erkannt wird, daß andere Zuweisungen wie »Bildungsbürgertum« oder »Kulturprotestantismus« um 1900 »nicht primär Selbst- sondern Fremdbezeichnungen in pejorativer Absicht« gewesen seien, wird nicht nach der Herkunft der neuen Kategorie selbst und ihren Prämissen gefragt.21 Das Konzept Wehlers von den Vergangenheiten, die unabhängig vom erkennenden Subjekt Strukturen besitzen, wird hier zwiespältig. Während dem beobachtenden Subjekt der Vergangenheit Wille und Fähigkeit, objektive Strukturen zu erkennen, aberkannt werden, glaubt der moderne Sozialhistoriker als zeitlich nachgeordnetes Subjekt eben diese Strukturen erkennen zu können. Der formale Status des eigenen Beobachtens bleibt unberücksichtigt. So fußt die moderne Sozial- oder Gesellschaftsgeschichtsschreibung mit ihrem Begriff des >sozialmoralischen Milieus< ebenso wie die Soziologie um 1900 mit ihren Begriffen des >Bildungsbürger-

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Denn ein Subjekt ohne Individualität und ohne eigene Gedanken kann schwerlich Subjekt genannt werden (vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [2 Bde.]· Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 872). Damit sieht sich die Milieutheorie der Sozialgeschichte den gleichen Schwierigkeiten wie z. B. Ernst Mach um 1900 ausgesetzt: »Meine Gedanken sind unmittelbar nur mir zugänglich, wie die meines Nachbars nur ihm direkt bekannt sind. Dieselben gehören dem psychischen Gebiet an. Erst durch deren Zusammenhang mit dem Physischen: Geberden, Mienen, Worten, Taten, kann ich auf Grund meiner Physisches und Psychisches umfassenden Erfahrung einen mehr oder weniger sicheren Analogieschluß auf die Gedanken des Nachbarn wagen.« (Ernst Mach: Eine psycho-physiologische Betrachtung. In: E. M.: Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung. Neudruck der 5. Auflage Leipzig 1926. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 20-30, hier S. 20.) Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur (Anm. 1), S. 68. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (Anm. 3), S. 15.

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tums< oder >Kulturprotestantismus< auf Subjekt- und konsenstheoretischen Annahmen, die sie zu Tatsachen erklärt und nicht weiter problematisiert.22 Die folgende Arbeit versucht bei ihrem Blick auf die Texte zur Ästhetik, Begriffe wie >SubjektMilieu< sowie >Kunstwerk< aus systemtheoretischer Perspektive Luhmannscher Provenienz alternativ zu formulieren. Sie bleibt dabei auf Ergebnisse und Quellenarbeit bereits vorliegender, sozialgeschichtlicher Studien angewiesen, stellt jedoch die Prämissen der hier zugrundeliegenden Milieutheorie auf den Prüfstand. Ihr geht es nicht um den empirischen Nachweis der Existenz gesellschaftlicher Milieus und die Zurechnungsmodi zwischen Denken und Handeln sowie Subjekt und Milieu, sondern vielmehr um die Frage nach der Funktion dieser Letztelemente in den Selbstbeschreibungen verschiedener Gruppierungen. Damit versucht sie den Blick auf die Produktion und Reproduktion von Wertideen und ethischen bzw. ästhetischen Normen (Hübinger) - einen Blick, der reich an Konsequenzen, aber nicht eben neu sei, wie Hans-Georg Soeffner betont hat - um die Ebene der Produktion und Reproduktion der dafür notwendigen Denkfiguren zu erweitern.23 Mit diesem Ansatz betritt sie in weiten Teilen Neuland. Niklas Luhmann selbst hat sich zwar innerhalb seiner Theorie mit Kunst, Kunstsystem und Ästhetik auseinandergesetzt, so an erster Stelle in Die Kunst der Gesellschaft und Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Auch in dem Monumentalwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft sind einige Abschnitte der Kunst gewidmet.24 Da sich die meisten dieser Darstellungen in ihren (literar-)historischen Bezügen jedoch als nur wenig fundiert erweisen, interessieren für die folgende Untersuchung außerdem jene Studien, in denen Luhmanns Konzept spezifische Anwendung gefunden hat. Ansätze zu einer systemtheoretisch fundierten Literaturgeschichtsschreibung und -Wissenschaft finden sich besonders bei Georg Jäger, Siegfried J. Schmidt und seiner Gruppe in Siegen oder auch bei Gerhard Plum-

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft l (Anm. 19), S. 27. Ähnlich kritisch Jürgen Fonrmann: Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur). In: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 105-112, bes. S. 107f. Vgl. Hans-Georg Soeffner: Verstehende Soziologie und sozialwissenschaftliche Hermeneutik - Die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. In: Berliner Journal für Soziologie l (1991), S. 263-269, hier S. 263. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Bern: Benteli 1994; Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft2 (Anm. 19); Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Eine frühere Auseinandersetzung ist der Aufsatz: Ist Kunst codierbar? In: N. L.: Soziologische Aufklärung 3 (Soziales System, Gesellschaft, Organisation). Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 245266. Die Problematik wissenssoziologischer und sozialgeschichtlicher Ansätze, die v. a. nach dem Zusammenhang von Wissen und Trägergruppen fragen, hat Luhmann ausführlich dargelegt in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21998, bes. Kapitel l (Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition).

pe und Niels Werber.25 Ihren unterschiedlichen Konzeptionen soll an entsprechender Stelle genügend Raum gegeben werden.

2.2 Die Funktion von >Milieus< in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft Die systemtheoretische Perspektive beginnt, weil sie sich selbst als Vollzug einer Beobachtung und damit einer Unterscheidung versteht, nicht am Subjekt oder Bewußtsein, sondern am Prinzip der Unterscheidung. Bewußtsein setzt sie voraus;26 Denken und Handeln im üblichen Sinne werden nicht unterschieden. Aus dieser Perspektive verlieren Milieus und Subjekte ihre Rollen als ontische Ordnungskategorien der Gesellschaft. Gesellschaft als soziales System erhält eine neue Definition: Sie ist, wie jedes soziale System, Kommunikation, und das heißt in der Formulierung Luhmanns: das sich ständig wiederholende Prinzip einer Unterscheidung, das »Prozessieren von Selektion«. Milieu- oder Subjektbegriff lassen sich darin konzipieren als Zurechnungskategorien von Daten, mit Hilfe derer die Kommunikation als Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen erfolgreich und anschlußfähig werden kann. Sinn konstituiert sich in dieser Beschreibung wesentlich über die Sozialdimension, die über ihre Unterscheidung von Ego und Alter einen Subjekt- oder Milieubegriff sowie die Rede von Konsens und Dissens provoziert.27 Auch der Begriff der Klasse oder eine marxistisch orientierte Epocheneinteilung der gesellschaftlichen Entwicklung kann auf diese Weise funktional interpretiert werden: Wenn der historische Materialismus Sklavengesellschaft, Feudalgesellschaft und bürgerliche Gesellschaft mit ihren jeweiligen Herrscher- und Unterdrücktenklassen unterscheidet, registriert dies eine systemtheoretische Untersuchung nicht als historische Tatsache, die es mit Daten der industriellen Revolution oder 25

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Vgl. hierzu Kapitel 3.1.1; insgesamt zur Forschung siehe die drei Forschungsberichte zu Systemtheorie und Literatur, erschienen im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Teil I von Georg Jäger: Der Systembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft (19,1 [1994], S. 95-125); Teil II von ClausMichael Ort: Der literarische Text in der Systemtheorie (20,1 [1995], S. 161-178); Teil III von Oliver Jahraus / Benjamin Marius Schmidt: Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990em (23,1 [1998], S. 66-111). Dies tut zumindest die Systemtheorie Luhmanns, die nach der Differenz von Kommunikation und Bewußtsein die Bewußtseinsseite vergessen läßt. Andere Ansätze bemühen sich, beispielsweise über den Begriff der strukturellen Kopplung, die gegenseitige Abhängigkeit hervorzuheben, siehe etwa Oliver Jahraus mit seinem einleitenden Beitrag zum lASLonline-Diskussionsforum >Bewußtsein, Kommunikation, Zeichens Bewußtsein und Kommunikation. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/jahrausl.htm (15.12.1998). Niklas Luhmann: 6Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 194; vgl. ebd., S. 119-127, und Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft l (Anm. 19), S. 191.

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Kindersterblichkeit in Arbeiterfamilien zu belegen gilt.28 Sie betrachtet diese Epocheneinteilung stattdessen als Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die es ermöglicht, »in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren.«29 Kurz: mit ihrem Blick auf Milieus beobachtet die Systemtheorie Beobachtungen des Sozialsystems Gesellschaft, beobachtet damit Unterscheidungen und unterscheidet ihrerseits mit ihrer Beobachtung. Es ist also entscheidend, daß die Beobachtung selbst als die erste Unterscheidung zu gelten hat, die aber nur durch eine andere Beobachtung (eines anderen Beobachters, aber auch desselben Beobachters zu einem späteren Zeitpunkt) unterschieden und im Moment ihrer Benutzung durch den Benutzer nur ungesehen praktiziert werden kann.30 Die Semantik der marxistischen Epochenbildung beruht auf Klassendifferenzierung, der Differenz von Arbeit und Kapital.31 Der gewählten Differenz läßt sich aus der Beobachterperspektive eine spezifische Differenzierungsform zuordnen. Luhmann nennt vier Formen, in denen Kommunikation ablaufen kann: (1) die segmentäre Differenzierung, (2) die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) die stratifikatorische Differenzierung und (4) die funktionale Differenzierung.32 Für das genannte Beispiel der Klassendifferenzierung und weitere Differenzierungen, die in der folgenden Arbeit eine Rolle spielen, sind nur die beiden letzteren Formen relevant. Stratifikation liegt vor, »wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist.« Den höchsten Rang nimmt die Oberschicht ein; sie ist relativ klein und als Ordnung von Familien, nicht von Individuen zu verstehen. Statt einer persönlichen Entscheidung bestimmen Herkunft und Anhang die Zugehörigkeit zum einen oder anderen Rang.33 Dieses Ordnungssystem behauptet nicht eine statische Schichtung der Gesellschaft, sondern bezieht den Prozeß der Ausdifferenzierung von Teilsystemen und damit eine zunehmende Komplexität der Gesellschaft mit ein. Stratifikation betrifft also die »interne Systemdifferenzierung«, so Luhmann, und beschreibt einen Differenzierungsvorgang dann, »wenn und soweit sich Teilsysteme der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz im Verhältnis zu anderen Systemen ihrer gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenzieren.«34

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Siehe Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus [1848]. Mit einem Nachwort von Iring Fetcher. Stuttgart: Reclam 1993, S. 19f. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 867. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 74. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 728. Vgl. ebd., S. 613. Vgl. ebd., S. 679f. (Zitat S. 679). Ebd., S. 685.

Mit der funktionalen Differenzierung verliert das Kriterium der Herkunft an Einfluß. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert differenzieren sich in Europa Teilsysteme nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz aus, sondern nach dem Schema spezifischer Kompetenzen. Das Differenzierungsschema wird »autonom« gewählt; die sozialen Systeme etablieren sich in der Gesellschaft über ihre spezifische Funktion und reproduzieren sich über ihre Codierung, deren binäres Selektionsschema die systemspezifischen Operationen steuert.35 Zwar gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen arm und reich und, damit verbunden, unterschiedliche Lebensformen und Chancen in der Gesellschaft. Die dominierende Ordnung, »ohne die überhaupt keine Ordnung möglich wäre«, stellt sich aber nicht mehr über die Schichtendifferenz her. Schichten und Klassen werden der neuen Differenzierungsform angepaßt. Eine Überschneidung verschiedener Differenzierungsformen ist zwar als Gemengelage grundsätzlich denkbar, kann aber nicht von Dauer sein, da dies »die Form, das heißt: die Markierung der Differenz, zerstören« würde.36 Der Wechsel zur funktionalen Differenzierungsform vollzieht sich auch in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft.37 Statussymbole werden neu definiert, und es mangelt nicht an Versuchen einzelner Gruppen, sich selbst als tonangebende Oberschicht zu bestimmen. Der Weg dahin führt, weil über Geburt, alten Reichtum und herausgehobenen sozialen Rang nicht mehr allein möglich, über Ersatzkriterien. So bedient sich etwa die marxistische Semantik der Perspektive der Wirtschaft, die über den Begriff der Klassengesellschaft die Oberhand gewinnt. Dem Proletariat wird mit Hilfe einer dialektischen Konstruktion von Geschichte der Spitzenplatz zugewiesen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert löst der Begriff des >Milieus< nach seiner erfolgreichen Popularisierung durch den französischen Philosophen Hippolyte Taine zunehmend den Klassenbegriff ab.38 Welche Perspektive gewinnt in dieser neuen Semantik die Oberhand? Die Perspektive der Wirtschaft hat ihre führende Position klar eingebüßt. Dafür wird nun an mehreren Fronten gekämpft und Terrain abgesteckt: Sozialdemokraten gelten als vaterlandslose Gesellen, Katholiken und konservative Protestanten als reformunfähige Moralapostel, bürgerlich-liberale Reformer als 35 36 37

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Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 27), S. 264; vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 748f. Ebd., S. 772 und 611. Eine genaue Erklärung zu diesem Vorgang liefert Luhmann nicht. Keinesfalls will er die Veränderung als »Widerspiegelung von Tatsachen in der Erkenntnis« verstanden wissen, »sondern im Sinne der Anpassung mentaler Reduktionen und Bündelungen, Raffungen und Vereinfachungen an Veränderungen der Selektivität im Relationieren der Elemente«. Die neue veränderte Semantik muß sich also selbst auch für gut halten, N. L: Gesellschaftsstruktur und Semantik (Anm. 24), S. 24, vgl. auch S. 33. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 1059. Zur Begriffsgeschichte von >Milieu< und der Popularisierungsleistung Taines siehe den Artikel J. Feldhoffs zum Lemma >Milieu< in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lizenzausg.) 1980, Sp. 1393-1395. 15

gottlos und kirchenfeindlich. Die Milieus wollen Gemeinsamkeiten aufzeigen und Gesellschaft strukturieren, können ihren Individuen aber keine soziale Heimat mehr bieten. Denn diese müssen sich an all jenen Kommunikationen Vaterland, Reform, Gott und die Welt - beteiligen können und »wechseln entsprechend ihre Koppelungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment.«39 Mit Gotthard Günther läßt sich eine solche nichtlimitierte Vielheit der Zusammenhänge als Polykontexturalität40 bezeichnen. Günther wie - an ihn anschließend - Peter Fuchs haben dabei hervorgehoben, daß dieser Begriff sein Profil überhaupt erst vor dem Hintergrund eines zweiwertigen Selektionsraums gewinnt, Kontexturalität und Polykontexturalität sich also gegenseitig bedingen: »Zwar ist alles menschliche Denken zweiwertig, und es wird, wie wir noch einmal betonen möchten, in alle Ewigkeit so bleiben. Die Welt aber, deren sich dieses Bewußtsein theoretisch zu bemächtigen versucht, ist ontologisch mehrwertig.«4 Diese Mehrwertigkeit führt die moderne Sozialgeschichtsschreibung laufend zu der Frage, wie viele und welche Milieus die Gesellschaft denn ausreichend aufteilen könnten, oder anders formuliert: welcher Kontext für das eine Subjekt als der historisch dominierende und damit historiographisch legitimierte bezeichnet werden könne. Weil diese Frage je nach Aktenmaterial unterschiedlich beantwortet wird, haben Werner Conze und Jürgen Kocka parallel zum Milieukonzept eine umfassendere Theorie - allerdings nur für das Bildungsbürgertum - formuliert. Ihre Professionalisierungsthese will das Erklärungsdefizit bei der geschlossenen und zugleich sich auflösenden Kategorie des Milieus < beseitigen. »Bildungswissen«, so Conze und Kocka, werde im Laufe des 19. Jahrhunderts von »professionelle[m] Leistungswissen« abgelöst, der Beruf verändere sich zum Expertenberuf mit wissenschaftlicher Ausbildung, spezialisiertem Fachwissen und eigenen Berufsorganisationen.42 Folge dieser Entwicklung sei die Fraktionierung des Bildungsbürgertums und seine Dezentralisierung in enger definierte Berufsgruppen. Möglicherweise, so das Fazit der Autoren, »kann das Bildungsbürgertum als Phänomen einer kurzen Zwischen-

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 625. Zu den Begriffen Polykontexturalität, Kontextur, zweiwertiges System siehe das Glossar zur polykontexturalen Logik Gotthard Günthers (URL: http://www.techno. net/pkl/glossary/items.htm), erstellt aus G. G.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik (3 Bde.). Hamburg: Meiner 1976/79/80. Gotthard Günther: Die Theorie der »mehrwertigen« Logik. In: G. G.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Band 2. Hamburg: Meiner 1979, S. 181-202, hier S. 198; vgl. auch Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt/M.: Suhrkampl992, S. 46 und 51. Werner Conze / Jürgen Kocka: Einleitung. In: W. C. / J. K. (Hg.): Bildungssystem und Professionalisierung (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert I). Stuttgart: KlettCotta 1985, S. 9-26, hier S. 26, vgl. auch S. 18.

pause zwischen der Aufhebung der ständischen Gesellschaft und der modernen arbeitsteiligen >Leistungsgesellschaft< gesehen werden.«43 Problematisch an dieser Theorie ist zum einen, daß sie den sogenannten ganzen Menschen, das Subjekt, den Bildungsbürger nur in einer Hinsicht thematisiert: Bildung als Lebenskonzept, Beruf als Berufung. Damit stützt sie sich genau auf jene Selbstbeschreibungen, die die Sozialmilieus zur Konstitution und Demonstration ihrer internen Homogenität verwenden. Bildung und Bildungswissen spielen hier sicherlich die größte Rolle, daneben auch Manieren und schöner Schein, die Rede über Kunst, Geselligkeit und Moral.44 Wie diese Ersatzkriterien mit den Milieus als Ersatzgebilde der verlorenen Oberschicht stratifikatorischer Differenzierungsform zusammenhängen, bleibt offen. Zum anderen erscheint es fraglich, ob die Gesellschaft um 1900 sich von der »modernen arbeitsteiligen >LeistungsgesellschaftMilieu< - klimatische und terrestrische Einflüsse, politische und soziale Bedingungen49 - sowie der erklärten Absicht Taines, diese auf induktivem (empirischem, positivistischem) Weg nachzuweisen. In einem zweiten, systematischen Teil entlarvt die Forschung Taines Methode als eigentlich deduktiv (idealistisch, metaphysisch). Der Milieubegriff, so die Kritik, stehe als Allgemeines bereits vor seiner Erarbeitung aus dem Besonderen fest. Aus der Anwendung dieser methodischen Inkonsequenz auf die Gesellschaftstheorie wird gefolgert, daß das Verhältnis von Individuum und Milieu nicht einseitig deterministisch, sondern nach dem 46 47

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Ebd., S. 173 und 172. Ebenso verdeutlicht die SINUS-Studie (erstmals erstellt 1984, aktualisiert 1991/92) die Problematik einer gesellschaftlichen Aufteilung in Milieus. Sie erkennt anhand der Kategorien >soziale Lage< und >Grundorientierungen< neun (1991/92: zehn) Milieus, die untereinander jeweils mehr oder weniger starke Überschneidungen aufweisen, siehe Auflistung und Diskussion bei Andreas Hahn: Die Modelle der Wahlforschung. URL: http://www.aillyacum.de/Dt/Wahlen-Deutschland/Wahlforschung/ Wahlforschungsmodelle.html (06.05.1999). Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 869; vgl. auch Gotthard Günther: Sein und Ästhetik. In: G. G.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Band 1. Hamburg: Meiner 1976, S. 429-440, bes. S. 435. Diese Milieudefinition erinnert an die historischen Dimensionen Wehlers (Herrschaft, Wirtschaft, Kultur). Wie die Einzelkomponenten zusammenhängen oder Bewegung in die Konstellation kommt, bleibt bei beiden Ansätzen offen, siehe hierzu Ren6 Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750-1950. Bd. 3. Berlin, New York: de Gruyter 1977, S. 27 (zu Taine), und Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte - und »Das Warum der Entwicklung«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21,2 (1996), S. 1-26, S. 10 (zu Wehler, der die Einteilung von Marx übernehme, aber die Hierarchie und so die Erklärung für gesellschaftliche Bewegung - auflöse).

Prinzip einer wechselseitigen Beziehung ablaufe.50 Diese Beobachtung läßt sich nach unterschiedlichen Seiten auch weltanschaulich ausdeuten, wie die Forschungsdiskussion zu Taine um 1900 zeigt: »Der Name Taine ist ein Schild gegen den zerfahrenen fiebernden Subjektivismus und gegen die unfruchtbare Genieschwärmerei«, behauptet die Seite, die das Wechselverhältnis vom Milieu aus motiviert sehen will.51 Der Einzelne sei imstande, »sich andere Bewusstseinsinhalte zu erwerben und dadurch selbst wieder sein Milieu zu beeinflussen, zu verändern, zu heben«, müsse dafür jedoch alle Kraft auf die Entwicklung der Individualität verwenden, konstatiert die andere Seite, die das Wechselspiel stärker vom Subjekt her verstanden wissen will.52 Subjekt und Objekt treten sowohl in der Gesellschaftstheorie - über die Begriffe Individuum und Milieu - als auch in der Erkenntnistheorie - über die logischen Operationen Induktion und Deduktion - als objektiv getrennte und voneinander trennbare Komponenten auf. Die gesellschaftstheoretische Semantik scheint auf Unterscheidungen wie diese angewiesen zu sein. Wenn Schulze in seiner Erlebnisgesellschaft soziale Milieus »als Konstruktionen, die Sicherheit geben sollen«,53 definiert, thematisiert er nicht den Ordnungs- und Orientierungsakt einer jeden Forschung bzw. Beobachtung, sondern eines vom ihm beobachteten empirischen Subjekts in der Gesellschaft. Dieses >Subjekt< gilt ihm als ebensowenig konstruiert wie die eigene wissenschaftliche Begrifflichkeit seiner milieuorientierten Forschung. Faßt man im Gegensatz dazu den Milieubegriff als Sammelbegriff für alle gesellschaftstheoretischen Kategorien, die sich selbst als ein aus geschlossenen Subjekten zusammengesetzter homogener Teil der Gesamtgesellschaft verstehen, so läßt sich als Arbeitshypothese der folgenden Abschnitte formulieren: Der Klassenbegriff, der zum Milieubegriff bzw. vergleichbaren Begriffen inflationär geweitet wird, dient ebenso wie der Subjektbegriff als Beschreibung oder Vorstellungshilfe, die nach dem Übergang zur funktionalen Differenzierung notwendig wird. Als wesentliche Bestandteile der gesellschaftstheoretischen Semantik behalten beide die alte Ordnung im Blick und versuchen, neue

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Siehe u. a. Eugenie Dutoit: Die Theorie des Milieu (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte 20). Bern: C. Sturzenegger 1899, bes. S. 35; Kurt Marcard: Taines Milieutheorie im Zusammenhang mit ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen. Kiel: [o.V.] [1910], bes. S. 41 und 69f.; Leo Kofler: Hippolyte Taine (18281893). In: Alphons Silbermann (Hg.): Klassiker der Kunstsoziologie. München: C. H. Beck 1979, S. 11-27, bes. S. 13, 17 und 20; Wellek: Geschichte der Literaturkritik (Anm. 49), bes. S. 34; Philippe Desan: Taine: positiviste ou idoaliste? In: Dialogue 21 (1982), S. 661-669, bes. S. 664f. Julius Zeitler: Die Kunstphilosophie von Hippolyte Adolphe Taine. Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger 1901, S. 2; vgl. auch S. 21: »Wie die zwei Schalen einer Wage [sie!] kämpfen stets Milieu und Selbstbewusstsein um die Hegemonie«. Dutoit: Die Theorie des Milieu (Anm. 50), S. 133, vgl. auch S. 134. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (Anm. 45), S. 72 (Hervorhebung M. S.). 19

Komplexitätsprobleme über alte Kategorien und dies mit einem Schwerpunkt auf der Sozialdimension zu lösen.54

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Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 19), S. 1025.

3. Ästhetikentwürfe um 1900

3. l Funktionen einer Semantik des Schönen und Guten Die gesellschaftstheoretische Semantik um 1900 vermeidet funktionale Beschreibungsformen. Sie spricht vom »Ganze[n]«, vom »allen guten Menschen Gemeinsame!n]« oder dem »deutschen Wesen«,1 das es zu erstreben bzw. wiederzufinden gilt. Ähnlich strapaziert sie den Kulturbegriff, indem nahezu sämtliche Gesellschaftskonflikte als »Kulturfrage« thematisiert werden.2 Angesichts der Polykontexturalität von Zurechnungseinheiten wie dem Individuum wird es jedoch zunehmend schwierig, das Wesen des >Ganzen< zu bestimmen. Hierin liegt die Berechtigung einer Semantik, die mit >Subjekten< oder >Milieus< operiert: Nur als die offenen Kategorien, als die sie oben beschrieben wurden, können die Milieus ihren Alleinvertretungsanspruch für die Gesellschaft formulieren und damit über die funktionale Differenzierungsform hinweg die Einheit der Gesellschaft suggerieren. Dafür benötigen sie Themen und Begriffe, die sich durch eine hohe Abstraktheit und Universalität auszeichnen. Die Reden über Moral und Kunst, Ethik und Ästhetik, eignen sich für diese Aufgabe in hohem Maße.

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Zitate in der Reihenfolge: Rudolf Eucken: Ethische Aufgaben der Gegenwart. In: R. E. / Max von Gruber: Ethische und hygienische Aufgaben der Gegenwart. Vorträge, gehalten am 8. Januar 1916 in der Neuen Aula der Berliner Universität. Berlin: Mäßigkeits-Verlag des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke 1916, S. 3-18, hier S. 12; aus der Schrift: [Wilhelm Foerster]: Die ethische Bewegung in Deutschland. Vorbereitende Mitteilungen eines Kreises gleichgesinnter Männer und Frauen zu Berlin (Frühjahr 1892). Berlin: Ferd. Dümmler 1892, S. 5. Zur Autorschaft der Schrift - Wilhelm Foerster, Direktor der Berliner Sternwarte und Vorreiter der ethischen Bewegung in Deutschland - vgl. Horst Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß bürgerlich-weltanschaulicher Reformvemunft in der Monismusbewegung des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe zur Geschichte und politischen Bildung 16). Kastellaun: Aloys Henn 1976, hier S. 134; Otto von Leixner: Zum Kampfe gegen den Schmutz in Wort und Bild. Ein Mahnwort und ein Aufruf (Sozialer Fortschritt 10). Leipzig: Felix Dietrich 1904, S. 6. Vgl. Rüdiger vom Bruch / Friedrich Wilhelm Graf/ Gangolf Hübinger: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900. In: R. v. B. / F. W. G. / G. H. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Wiesbaden: Steiner 1989, S. 9-24, bes. S. 19. 21

3.1.1 >Ästhetik< und >Ethik< als Reflexionstheorien von Kunst und Moral Die Karriere der Moral steht mit der Konstruktion des Subjekts in enger Verbindung. Moralität entsteht erst dort, wo überkommene Sitte und gesetztes Recht einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Für diese Prüfung wird ein kritisches Subjekt benötigt, das eine >eigene< Anschauung und die Ausdehnung dieser auf eine allgemein-gesellschaftliche Moral überhaupt ermöglicht. Auf dieser Basis formuliert schließlich Kant seinen kategorischen Imperativ, der als Modernisierung, Rationalisierung und Säkularisierung der »Goldenen Regel« aller Religionen verstanden werden kann und zum Beispiel im Monismus um 1900 ebenso wie in philosophischen Konzepten Ende des 20. Jahrhunderts als Grundlage für eine universale Ethik bemüht wird. Auf dieser Basis wird auch Hegels dynamisch-dialektische Geistphilosophie möglich, die das sich seiner selbst bewußt werdende Individuum und zugleich die Beziehung aller Individuen untereinander eine sittliche Stufenfolge durchlaufen läßt. »Sittlichkeit« als Gemeinsamkeit des Lebens erlebt seit dem Ende der griechischen Antike eine geschichtliche Entfaltung, die nicht nur als Verfall, sondern auch als Entwicklung menschlichen Selbstverständnisses interpretiert wird.3 Die Universalisierung und Generalisierung moralischer Ansprüche als Folge einer sich ausweitenden Kommunikation durch den Buchdruck, der wachsende interregionale Verkehr sowie vor .allem der Wechsel von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierungsform beschleunigen die Verbreitung eines sogenannten allgemeinen Moralkodex.4 Während ältere Gesellschaften Fremden schlicht mit »moralische[r] Unverbindlichkeit« begegnen und Moral als »Binnenregulierung der Teilsysteme« fungiert, muß jetzt ein erweiterter Mechanismus sozialer Koordination gefunden werden. In der Form einer allgemeinmenschlichen Moral, die - wie jede moralische Kommunikation - mit der Unterscheidung von Achtung / Mißachtung operiert, wird dieser Mechanismus bereitgestellt. Es wird erwartet, »daß man sich aktiv mit der guten Seite des Moralschemas iden-

Zu Subjekt und Moral vgl. den Artikel Gesellschaft / Gesellschaft und Christentum (philosophisch-systematischer Abschnitt von Maximilian Forschner), in: Gerhard Krause / Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. Bände XII und XIII. Berlin, New York: de Gruyter 1984, insgesamt S. 740-780 und 1-39, hier S. 745; zu Kant und Hegel vgl. den Artikel zu Sitte, Sittlichkeit, Moral von KarlHeinz Ilting in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 5. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 863-921, bes. S. 891-894 und 900-904. Zur »goldenen Regel« und der Diskussion3 um das »Weltethos« siehe Hans Kling: Projekt Weltethos. München, Zürich: Piper 1991, bes. S. 84; vgl. auch, zum Monismus und seiner Rezeption des Grundsatzes, Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Basel, Stuttgart: Benno Schwabe & Co. 1963, S. 144. Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bde.). Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 1037 und 1041. Ebd.; vgl. auch Band l, S. 245. 22

tifiziert und dies zeigt.«6 Was aber ist die gute Seite oder was überhaupt konditioniert Achtung / Mißachtung? Für die Diskussion dieser Frage reicht das Universalitätsschema der Moral nicht mehr aus. Soziologische Ansätze in der Folge Max Webers erweitern deshalb das Universalitätsprinzip gerne um das »Prinzip diskursiver Einigung«, anders ausgedrückt: das Konzept einer »rationale[n] Konsensfindung.« Dieses diene als Überprüfungsinstanz für Überlegungen, die auf dem Universalisierungsgrundsatz gründen, und ersetze dadurch den Letztbezug auf den religiösen Glauben, so beispielsweise Klaus Eder in seiner Studie Geschichte als Lernprozeß? Zur Pathogenese politischer Modernität in Deutschland.7 Ähnlich wie die Milieutheorie setzt auch dieser Ansatz ein (rationales) Subjekt voraus, dessen Konsensfähigkeit in objektivierbaren Streitigkeiten die Voraussetzung für eine universelle moderne Moral darstellt. Mit Luhmann erhält man eine andere Antwort auf die oben gestellte Frage: Im konkreten Fall entscheidet jedes einzelne Funktionssystem über die Regeln von Achtung / Mißachtung. Nicht allein Universalität und ebensowenig ihre Ergänzung durch ein diskursives konsenserarbeitendes Prinzip, sondern die Kombination von Universalität und Spezifität charakterisiert dann die moderne Moral.8 Die Ethik sucht als reflektierende Instanz das moralische Dilemma - gut ist, was gut ist, und was im einzelnen gut ist, regelt jedes Funktionssystem nach seinen Unterscheidungen einzuholen. Sie muß selber ein moralisches Unternehmen darstellen, mit der ganzen damit verbundenen Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit. Luhmann bezeichnet den »Name[n] >EthikMilieu< in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Wenn Milieus als Ersatzgebilde der verlorenen Oberschichten einer stratifikatorischen Differenzierungsform und damit als konsenstheoretische Vorstellungshilfe in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft konziEbd. Band 2, S. 1038. Klaus Eder: Geschichte als Lernprozeß? Zur Pathogenese politischer Modernität in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, hier S. 68. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 4), S. 1044 und l, S. 402. Zur Verbindung von Universalität und Spezifität siehe Ilting: Sitte, Sittlichkeit, Moral (Anm. 3), S. 863. Hegel (s. o.) kommt in diesem Zusammenhang wohl eine theoretische Schlüsselposition zu: »Obwohl er >Sittlichkeit< im Lichte einer sich geschichtlich verwirklichenden, aber nicht geschichtlich bedingten Idee der Freiheit versteht, hatte er doch Moralität und Sittlichkeit zu sehr zu bloßen «Standpunkten» des Bewußtseins herabgesetzt, als daß er sie noch als universal verbindliches Normensystem hätte begreifen und darstellen können.« (Ebd., S. 904.) Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2 (Anm. 4), S. 1044. 23

piert werden müssen, läßt sich ihr Alleinvertretungsanspruch nur innerhalb eines scheinbar freien funktionsunabhängigen Raumes (sozialmoralisches Milieu) formulieren. So steht etwa ein Verleger um 1900 für Gerechtigkeit und eine gute Gesellschaft ein; konkret mißt er Gerechtigkeit an seinem Talent, >das< Volk befriedigen zu können, den Geschmack bestimmter Berufskreise getroffen zu haben oder auch einen einzelnen Leser zu intellektuellen Höchstleistungen angeregt zu haben. Moral läßt sich also aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als Medium für Operationen konzipieren. Operationen sind Formbildungen, strikte Kopplungen von Elementen, die im Medium nur lose gekoppelt vorliegen. Der Gegensatz von Achtung und Mißachtung, von gut und schlecht, codiert dabei die Operationen, aber genau diese Codierung unterliegt in modernen Gesellschaften je nach Funktionszusammenhang unterschiedlichen Bedingungen. Medien und Formen gibt es nicht »an sich«, sondern immer nur im Zusammenhang mit Systemreferenzen.10 Die Ethik versucht ihren polykontexturalen Gegenstand begrifflich einzuholen, und im Falle einer spezifisch-universalen Moral geht dies nur über eine strukturell ähnlich ausgerichtete spezifisch-universale Formulierung wie beispielsweise den kategorischen Imperativ. Bei der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung um 1900 fällt auf, daß diese Formulierungen allerdings nicht auf diejenige spezifische Universalität abzielen, die sich aus der Konstellation von Teilsystem und der Gesamtheit aller Systeme herleitet.11 Stattdessen übersetzen sie nach altem Muster die funktionale in eine subjektund milieuorientierte Unterscheidung, stellen das geschlossene Individuum der Gesellschaft als Körper aller Individuen, das Besondere dem Allgemeinen gegenüber und konzipieren den jeweiligen Zusammenhang zwischen zwei Komponenten als einen notwendigen. Die Richtlinien des Verhaltens ergeben sich deshalb in dieser Semantik nicht aus einer Reihe situativ abhängiger Normen, sondern aus einem stabilen System universal gültiger, von Raum und Zeit unabhängiger Werte.12 10

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Vgl. ebd., Band l, S. 198 und S. 377: die Konditionierung eines Codes je nach Systemreferenz nennt Luhmann auch 2»Programm«; vgl. auch N. L.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 166. Eine solche Konstellation reflektieren erst spätere Ethikkonzepte des 20. Jahrhunderts, die bereits explizit von einer funktionalen Differenzierung ausgehen (Beispiel Wirtschaftsethik) und zugleich auf eine moralische Integration derselben in die sog. Gesamtgesellschaft nicht verzichten wollen. Allerdings zielen auch diese Konzeptionen nach wie vor darauf ab (Beispiel Hans Jonas und Das Prinzip Verantwortung), »Menschen durch Konditionierung von Achtung und Mißachtung als ganze Personen anzusprechen.« (Niklas Luhmann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 [Laudatio von Robert Spaemann]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 25.) Diese Unterscheidung von abstrakten / allgemeinen Werten und konkreten / an Situationen gebundenen Normen übernehme ich von Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte Legitimation. Paderborn u. a.: Schöningh 1996, S. 89-91.

Modellierung von Kunst und Ästhetik Für die Modellierung von Kunst und Ästhetik greift Luhmann den allgemeinen Medienbegriff nicht auf. In seinem ersten Aufsatz zur Kunst, Ist Kunst codierbar? von 1974, konzipiert er Kunst als »symbolisch generalisierte^] Kommunikationsmedi[um]«; mit dem gleichen Begriff beschreibt er Kunst 1997 in der Gesellschaft der Gesellschaft. Wie das Medium Moral dienen auch die Kommunikationsmedien als Grundlage für Formbildungen, konditionieren also ihrerseits Annahme- und Ablehnungswahrscheinlichkeiten. Während aber die Moral auf Vereinheitlichung abzielt, setzen die Kommunikationsmedien auf problemspezifische Konstellationen.13 Wegen dieser Spezialisierung können sie im Unterschied zur Moral als »Katalysator für die Ausdifferenzierung besonderer Sozialsysteme [...] dienen«.14 Eine Folge dieses strukturellen Unterschieds von Medium und symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium zeigt sich darin, daß die spezifischen binären Codierungen der Kommunikationsmedien bzw. ausdifferenzierten Sozialsysteme nicht wie die Codierung gut / schlecht der Moral in jedem Funktionssystem einem anderen Programm unterliegen. So besitzt etwa der binäre Schematismus schön / häßlich nur im Bereich der Kunst Relevanz und wird ausschließlich von zeit- oder epochenabhängigen Programmen näher bestimmt. Daß Kommunikationsmedien und Funktionssysteme diese strukturellen Gemeinsamkeiten aufweisen und sich so vom Medium der Moral unterscheiden, beweist jedoch nicht ihren kausalen Zusammenhang: Es gibt [...] keine sich automatisch ergebende Kongruenz von Medienbildung und Systembildung [...]. Die wohl wichtigste Bedingung eines solchen Zusammenhangs ist: daß der Code eines Mediums sich eignet, die Einheit eines Systems im Unterschied zu anderen Systemen seiner Umwelt zu definieren. [...] Das allein genügt jedoch nicht. Die Operationen, die das Medium [...] ermöglicht, müssen sich für das Ingangbringen und Schließen eines autopoietischen Reproduktionszusammenhanges eignen. [...] Medien müssen, mit anderen Worten, Kommunikationen verketten können.

In der Gesellschaft der Gesellschaft bezweifelt Luhmann die Fähigkeit von Kunst, Kommunikationen verketten zu können. Er weist der Kunst ein nur geringes »Systembildungspotential« zu, was seine frühe Skepsis in Ist Kunst co-

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Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft l (Anm. 4), S. 316f. Als weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Medium Moral und den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nennt Luhmann die Selbstplacierung des Codes in einem seiner Werte, im Normalfall seines Positivwerts: Die Kommunikation der Wahrheit ist eine wahre Kommunikation, ebenso wie die Kommunikation, die etwas als gut bzw. schlecht bezeichnet, eine gute Kommunikation ist (vgl. ebd., S. 369f.). Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? In: N. L: Soziologische Aufklärung 3 (Soziales System, Gesellschaft, Organisation). Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 245-266, hier S. 254; gleiche Formulierung in: Die Gesellschaft der Gesellschaft l (Anm. 4), S. 358; vgl. auch ebd., S. 387ff. 25

dierbar? unterstreicht.15 Daß sich die Kunst dann aber trotz der geringen Wahrscheinlichkeit des Vorgangs als Funktionssystem und die Ästhetik als dessen Reflexionstheorie konzipieren lassen, zeigen Die Kunst der Gesellschaft und der Vortrag Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Luhmann setzt darin die autopoietische Schließung im Bereich der Kunst bereits in der frühen Neuzeit, der italienischen Renaissance, an.16 Der entstehende Kunstmarkt löst die Künstler aus ihrer Abhängigkeit von einzelnen Auftraggebern; die Betrachtung von Kunstwerken als Kunstwerke führt zu Reflexionen über das Wesen der Kunst. Mit der Aesthetica Baumgartens, die das Nachdenken über Kunst als einen von anderen menschlichen Aktivitäten abgegrenzten, autonomen Bereich begründet, wird die Ausdifferenzierung des Kunstsystems dann auch registriert.17 Die entstehenden Ästhetiken können als »Reflexionstheorien« bezeichnet werden, da nun »die Identität des Systems im Unterschied zu seiner Umwelt nicht nur bezeichnet wird (so daß man weiß, was gemeint ist), sondern begrifflich so ausgearbeitet wird, daß Vergleiche und Relationierungen anknüpfen können.«18 Dieser Schritt, etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts, markiert den oben bereits erläuterten Wandel der Differenzierungsformen. Aus dem Fundus der eigenen Probleme, Semantiken und Themen19 heraus reproduziert das Kunstsystem sich selbst. Die Bestimmung eines Produktes als Kunst oder Nicht-Kunst wird über den binären Code schön / häßlich und seine epochenspezifische Programmatik geregelt.20 Wie in jedem funktionalen System 15

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Ebd., S. 388 und S. 389. Infolgedessen sind Funktionssysteme ohne eigenes Kommunikationsmedium (Bildung, Recht), wie auch Kommunikationsmedien ohne eigenes Funktionssystem (Vertrauen) denkbar. Zum Unterschied dieses Konzepts zur Medientheorie Talcott Parsons, die hier nicht betrachtet werden soll, siehe Georg Jäger: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung einer Theorie des Buchverlags. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Empirische Literatur- und Medienforschung. Beobachtet aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des LUMIS-Instituts 1994 (LUMIS-Schriften Sonderreihe VII). Siegen: LUMIS-Selbstverlag 1995, S. 24-40, hier S. 24-29. Vgl. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Bern: Benteli 1994, S. 9 (gemeint ist die operative Schließung »einer auf sich selbst bezogenen künstlerischen Produktion bei schon vorhandenem artistischem Können«) und 13. Auch Siegfried J. Schmidt geht von der Konzeptionierbarkeit eines Sozialsystems Literatur aus, in: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. Vgl. Luhmann: Die Ausdifferenzierung (Anm. 16), S. 12-26. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 61996, S. 620. Semantiken verstanden als »interne Erzeugnisse operativ geschlossener Systeme«, so Luhmann in: Die Ausdifferenzierung (Anm. 16), S. 53 (Hervorhebungen im Original). Sie können als eine Bedingung für die Konstitution von Themen betrachtet werden, die Kommunikationszusammenhänge ordnen und Beiträge zu einem Sinnzusammenhang zusammenfassen, wobei folgender Regulierungsmechanismus einsetzt: »Themen diskriminieren die Beiträge und damit auch die Beiträger«, so Luhmann in: Soziale Systeme [Anm. 18], S. 213.

Vgl. Luhmann: Ist Kunst codierbar (Anm. 14), S. 246; zur selbstkritischen Diskussion und Rechtfertigung des Codes vgl.: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 10), S. 308-314.

liegt der Schwerpunkt jetzt auf der Selbstreferenz; aber wie an allen Punkten einer Theorie, die Differenz zu ihrem Ausgangspunkt macht, läßt sich auch hier die eine Seite der Form nicht ohne die von ihr unterschiedene denken: Selbstreferenz erinnert Fremdreferenz. Genau diesen Aspekt erklärt Luhmann zur Funktion der Kunst; sie soll »Welt in der Welt erscheinen [...] lassen - und dies im Blick auf die Ambivalenz, daß alles Beobachtbarmachen etwas der Beobachtung entzieht, also alles Unterscheiden und Bezeichnen in der Welt die Welt auch verdeckt.«21 Diese Funktion der Kunst ist ebenso wie die Codierung schön / häßlich von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Sowohl Gerhard Plumpe und Niels Werber als auch Georg Jäger haben in ihrer Kritik den Kontingenzerweis für die Gesellschaft als nicht kunstspezifisch bestimmt22 und den binären Codeschematismus schön / häßlich den Operationen der Ästhetik zugeordnet. Ihre Gegenvorschläge für die Codierung des Literatursystems lauten interessant/ langweilig (Plumpe / Werber) und mit / ohne Geschmack (Jäger), die Funktion des Literatursystems sei dann Unterhaltung (Plumpe / Werber) bzw. Funktionslosigkeit oder Dauerreflexion (Jäger). Die Konsequenz ihres Ansatzes führt Plumpe / Werber zu dem Schritt, die Ästhetik als »Frewuibeschreibung« des Kunstsystems und »Beobachtungsposten« des Wissenschaftssystems zu modellieren: »Die Code-Werte >schön< und >häßlich< sind von der wissenschaftlichen Leitdifferenz >wahr< / >falsch< übercodiert.«24 Die Instanz der Reflexion im Kunstsystem wird von den Autoren nicht neu besetzt; ihr Hinweis auf eine sich ständig fortsetzende »Kunstkommunikation«, die sich am Kommunikationsmedium »Werk«, verstanden als Differenz von Medium und Form, 21 22

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Ebd., S. 241f. »In einer Gesellschaft multipler Kommunikationssysteme ist die Welt aber ohnehin kontingent. [...] Luhmanns Vorschlag, die Funktion der Kunst in der Herstellung von Weltkontingenz zu sehen, greift also nicht. Die Kunst würde nichts Besonderes tun, jedes System produziert Kontingenz.« So explizit Gerhard Plumpe / Niels Werber in: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 943, hier S. 27f. Vgl. ebd., S. 30, und Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 221-244, hier S. 226f. Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar (Anm. 22), S. 29 (Hervorhebung im Original); der Begriff des »Beobachtungsppstens« (Plumpe) stammt aus der Rezension von Niels Werber: Systemtheorie als Literaturwissenschaft. Zu Siegfried J. Schmidts Buch über »Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert«. In: Zeitschrift für Germanistik NF1 (1991), H. 2, S. 398^02, hier S. 401. Siehe auch Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne (2 Bde.). Band 1. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 21f.; Ästhetik gilt Plumpe nur als akademisch-philosophische Rede über Kunst; andere Kunstdiskurse seien das »Wissen der Künstler von sich selbst«, die »einzelwissenschaftliche, empirische Kunstforschung« und der »Diskurs der Kunst- und Literaturkritik«. 27

entzündet, schließt mehr an die Reproduktions- als an die Reflexionsebene des Systems an.25 Abgesehen von dieser nicht bestimmten Reflexionsinstanz bleibt auch die Neuformulierung der Funktion als »Unterhaltung« unscharf: Denn »Unterhaltung« können ebenso Sport oder Aktienhandel bieten. Eine Übercodierung von schön / häßlich und folglich die Abschiebung der Ästhetik ins Wissenschaftssystem kann Jäger nicht feststellen, weil er zwischen einzelnen historischen Formen des Literatursystems unterscheidet. Das sogenannte >bürgerliche< Literatursystem arbeitet leistungsorientiert; hier stellt die funktionslose Schönheit gerade die freie Basis dar, die zu Leistungen für andere Subsysteme befreit. Diese sind in der sozialen Dimension die »Bildung eines autonomen Subjekts und darüber hinaus oft einer freien Gesellschaft«, in der kognitiven Dimension eine »wie immer geartete begrifflose Erkenntnis, eine letzte Sinnvergewisserung.«26 Die bürgerliche Ästhetik mit ihren Begriffen des Schönen, Guten und Wahren muß demzufolge weder als Fremdbeschreibung des Wissenschaftssystems noch (was angesichts der gängigen Interpretation der freien Gesellschaft als sittlicher Gesellschaft ebenfalls zu vermuten wäre) als zweite Reflexionstheorie des Mediums Moral konzipiert werden. Jäger gilt sie schlicht als Reflexionstheorie des leistungsorientierten bürgerlichen Literatursystems. Dies ändert sich im sogenannten avantgardistischem Sozialsystem Literatur. Mit der Frage >Was ist Kunst?< bzw. >Wer hält was warum und mit welchen Konsequenzen für Kunst?< etabliert sich Kunstreflexion als Motor von Kunst. Nicht das Kunstwerk mit seiner Funktionslosigkeit weist Selbstreferenz auf, sondern die Kommunikationen selbst. Nicht leistungsorientiert, sondern reflexionsorientiert kommuniziert das avantgardistische Literatursystem; die Avantgarde sollte nicht als »Stilepoche, sondern als Institutionalisierung der Dauerreflexion über Kunst behandelt werden«, so Jäger.27 Dieser zweite Ansatz macht im Gegensatz zur Argumentation Plumpes/ Werbers auf eine Besonderheit der Ästhetik aufmerksam, die sich die folgende Arbeit zunutze machen will. In dem von Jäger konzipierten bürgerlichen Literatursystem läßt sich die Ästhetik zwar als Reflexionstheorie formulieren, weist aber durch ihren zentralen Begriff der Schönheit einen anderen Code als den des Literatursystems (mit / ohne Geschmack) auf, der zudem je nach Leistungsorientierung flexibel programmiert werden kann. Die genannten Leistungsbeispiele - Subjektkonstruktion, Gesellschaftsutopie, Welterkenntnis - opponieren dabei deutlich gegen eine Funktionsorientierung der Systembildung überhaupt. Eine Ästhetik, die diese Ziele reflektiert, ähnelt derjenigen Ethik und ihrer Funktion, wie sie zu Beginn dieses Kapitels entwickelt wurde. Nun bezieht sich zwar in Jägers Entwurf die Ästhetik anders als die Moral nicht auf ein Medium, sondern ein System. Dieses >bürgerliche< Literatursystem kommt al25 26 27

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Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar (Anm. 22), S. 34f.; vgl. ebd., S. 26. Jäger: Die Avantgarde (Anm. 23), S. 227f. Ebd., S. 236 (Hervorhebung im Original), vgl. auch S. 233-236.

lerdings seiner Struktur nach einem moralischen Zusammenhang sehr nahe. Als bürgerliches System verweist es zwar auf eine funktionale, als bürgerliches System jedoch auf eine stratifikatorische Differenzierungsform der Gesellschaft. Infolgedessen muß Ästhetik nicht als philosophische Reflexionstheorie eines Kunstsystems, des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Kunst oder aber des Wissenschaftssystems eingesetzt werden. Ihre Funktion liegt vielmehr in der eigenen Ortlosigkeit selbst. Sie bleibt damit für verschiedene funktionale Zusammenhänge offen und unterstützt Semantiken, die aus unterschiedlichen Gründen gerade nicht an Funktionssysteme gebunden sein wollen. Der Volksbildungsanspruch einzelner Gruppierungen im Schmutz- und Schundkampf des Deutschen Kaiserreichs kann auf die Ästhetik ebenso zugreifen wie buchhändlerische Branchenzweige, die sich im Konkurrenzkampf ihres Marktes zu behaupten suchen. Auch die Soziologie am Ende des 20. Jahrhunderts macht sich mit ihren Begriffen >Alltag< und >Lebenswelt< unter der Parole einer »Ästhetisierung des Alltagslebens«28 diese flexible Semantik zu eigen. Das Verhältnis von Ästhetik und Kunst entspräche demnach der Beziehung von Ethik und Moral. Gebhard Rusch hat für die Literatur als »Gesamtheit literarischer Phänomene« bereits die These formuliert, daß literarische Phänomene kein eigenes System bilden, sondern in die sozialen Systeme von Wirtschaft, Recht, Politik, Bildung »integriert gedacht werden« müssen.29 Daß diese Integration in soziale Systeme überhaupt möglich ist, kann dabei über die Konzeptionierung von Kunst als Medium erklärt werden. Wie die Moral gibt es dann auch Kunst nicht an sich, sondern nur im Zusammenhang mit Systemen, was zu so unterschiedlichen Formbildungen wie zum Beispiel kulturindustrieller Kunst (>SchundBewußtsein, Kommunikation, ZeichenKunstwerk< und >Subjektstratifikatorischen HändenIdealismus< steht in dieser Bedeutung dem >Formalismus< gegenüber: Während der Idealismus Form und Inhalt stets als ein dialektisches Verhältnis auffaßt, betont der Formalismus die Selbständigkeit der Form. Aus der Sicht des Formalismus besteht das Problem des idealistischen Standpunktes deshalb nicht darin, daß die Form zu wenig, sondern daß sie in Abhängigkeit zum Inhalt gedacht wird.35 Da sich formalästhetische Ansätze in der Nachfolge Johann Friedrich Herbarts und Robert Zimmermanns an der Schwelle zum 20. Jahrhundert lediglich in engeren Wissenschaftskreisen behaupten,36 finden sie in den folgenden Kapiteln keine eigene Berücksichti32

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Dieser Rückgriff kann am Anfang des Philosophierens stehen oder aber - wie etwa bei Ästhetiken in der Nachfolge Kants - an späterer Stelle erfolgen. Das Problem >Form oder Inhalt< bzw. >Stoff< muß nicht explizit formuliert sein, um als Streitfrage zu existieren, vgl. hierzu K[aarle] S[anfrid] Laurila: Ästhetische Streitfragen. Helsinki: Akateeminen Kirjakauppa 1934, S. 219f. Vgl. Gerhard Wagner, der mit diesen Überlegungen Luhmanns Differenzdenken als Neuauflage der spekulativen Dialektik Hegels entlarven will, in: Am Ende der systemtheoretischen Soziologie. Niklas Luhmann und die Dialektik. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23 (1994), H. 4, S. 275-291, bes. S. 280 und 282. Siehe zur Erläuterung dieser Denkfigur am Beispiel der Begriffe Sein, Nichts und Werden Hans-Georg Gadamer: Die Idee der Hegeischen Logik. In: H.-G. G.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2 1980, S. 65-85, bes. S. 77: »Worin Sein und Nichts allein sind, ist das Übergehen selbst, das Werden. [...] Sein und Nichts sind also eher als analytische Momente im Begriff des Werdens zu behandeln.« Vgl. Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 38f. - Zum idealistischem Komplex in diesem Sinne muß auch die sog. >psychologische< Ästhetik gerechnet werden, der Moos einen von zwei Bänden seines Ästhetikkompendiums widmet, vgl.: Die deutsche Ästhetik (Anm. 31). Wiesing diskutiert für diese Zeit die Ästhetiken Alois Riegls, Heinrich Wölfflins und Konrad Fiedlers; eine weitere Verbreitung finden formalästhetische Ansätze dagegen in Österreich siehe hierzu Georg Jäger: Die Herbartianische Ästhetik - ein österreichischer Weg in die Moderne. In: Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische 31

gung. Allerdings werden sie immer wieder in anderen Kontexten zum Vorschein kommen: Ästhetikern wie Friedrich Jodl dienen die Überlegungen des Herbartianismus als Negativfolie des eigenen Nachdenkens, Jonas Cohn, Georg Simmel und Karl Liebknecht nähern sich dagegen in Ansätzen über Begriffe wie >MitteilungForm< oder >Medium< dem — im Sinne Wiesings - formalistischen Denken an. Zwar bleibt dieser Kontakt stets Annäherung und führt nicht zu einer semiotisch fundierten Semantik des Schönen, wie sie an manchen Stellen zu erwarten wäre. Dennoch zeigen derartige Tastversuche, daß die idealistischen Ästhetiken mit ihrem dialektischen Fundament zunehmend auf Schwierigkeiten stossen. Dialektik bietet die Möglichkeit einer flexiblen und unendlichen Denkfigur - wie weit aber kann die Dialektik noch dialektisiert werden, ohne daß zentrale Werte wie Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit entwertet werden? Welche Kategorien können die dialektische Bewegung feststellen? Schließlich werden Universalbegriffe wie >Leben< (Vitalismus bei Simmel und Liebknecht), >Gott< (Neuscholastik) oder >Geschichte< (historischer Materialismus) gefunden und durch einen spezifischen Erkenntniszugang legitimiert. Die Theoretiker verorten sich dabei in einem gegensätzlich angelegten Feld von Erkenntniswegen: Idealismus - im engeren Sinne - versus Positivismus bzw. Realismus oder Substantialismus versus Funktionalismus lauten zwei der hier möglichen Begriffspaare.37 Damit bleibt freilich fast alles offen, wie bereits der Romanist Karl Vossler 1904 festgestellt hat: >Der Idealist sucht das Kausalitätsprinzip in der menschlichen Vernunft, der Positivist sucht es in den Dingen, in den Erscheinungen selbst. Auf beiden Seiten ist eine Reihe von Spielarten möglich: der Idealismus kann illusionistisch oder realistisch gestimmt sein, je nachdem er das kausale Denken vom kausalen Sein abtrennt, oder mit ihm identifiziert. Der Positivismus kann pantheistisch resp. atheistisch, oder dualistisch gestimmt sein, je nachdem er das Kausalitätsprinzip mit den Dingen identifiziert, oder von ihnen löst.Moderne< vgl. insgesamt Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: G. v. G. (Hg.): Konzepte der Moderne (Germanistische Symposien, Berichtsbände 20). Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1999, S. 1-16. Karl Vossler in Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904), zitiert von Hübinger / vom Bruch / Graf: Einleitung (Anm. 2), S. 10; die Herausgeber haben den Gegensatz von Idealismus und Positivismus zum Titel des 2. Bandes erhoben (Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 2: Idealismus und Positivismus. Stuttgart: Steiner 1997); vgl. darin z. B. den Beitrag von Klaus Christian Köhnke mit dem programmatischen Titel Neukantianismus zwischen Positivismus und Idealismus? (S. 41-52).

Sprache kommen läßt, sondern ebenso in den Popularästhetiken der Schmutzund Schunddebatte. Auch die Künstlerästhetiken schließen sich, soweit ihre Autoren wie etwa Wilhelm Bölsche oder Arno Holz mit den Theorien ihrer Zeit eng vertraut sind, von der Problematik nicht aus. Daß Texte aus solchen Funktionszusammenhängen in der folgenden Diskursentfaltung unberücksichtigt bleiben, liegt am Rahmen der Arbeit; keinesfalls soll damit ein Feld ästhetischer Kommunikation abgewertet werden. Die Selbsteinschätzung der Künstler bestätigt dieses Vorgehen: Während Schiller sich selbst noch als »Hermaphroditen«, als Kreuzung zwischen Philosoph und Dichter, bezeichnet und seine philosophisch-ästhetischen Texte von philosophischer Seite deshalb auch häufig als zu poetisch und unklar kritisiert werden,39 verzichten ein Jahrhundert später die meisten Künstler auf diese doppelte Option: »Nichts lag mir ferner, als an den Verstand, an das Gehirn zu appellieren«, formuliert zum Beispiel Kandinsky über die Bücher Das Geistige in der Kunst und Der blaue Reiter. Stattdessen habe er in den einzelnen Menschen die »Fähigkeit des Erlebens des Geistigen« in den materiellen wie abstrakten Dingen hervorrufen wollen. Der Künstler will seine Rede über Kunst bewußt in einem anderen Zusammenhang wissen als die Rede über den vermeintlich gleichen Gegenstand auf Seiten des Wissenschaftlers. Die philosophische Ästhetik reagiert darauf unterschiedlich. Wilhelm Dilthey etwa betrachtet die Künstlerästhetiken als Bereicherung der philosophischen Perspektive. Andere bewerten die KünstlerÄsthetiker als »>theoretisierende, in Gehirnarbeit sich verirrt habende >verunglückte< KünstlerMaterie und Geist< lassen sich auf dreifache Weise diskutieren: (1) >Materie< und >Geist< sind dekkungsgleich, im Sinne Haeckels: zwei Worte für dieselbe Begriff-Sache; (2) >Materie< und >Geist< sind identisch in einem gemeinsamen und ihnen zeitlich und kausal vorausliegendem Dritten, der Substanz; (3) >Materie< und >Geist< sind durch eine harmonische Wechselwirkung miteinander verbunden. Die Synthesenbildung verläuft in jedem Bezugssystem nach anderen Maßstäben; was »Einheit« oder »Vereinigung« konkret heißt, wird in jedem Fall neu bestimmt.94 Das Wesen des Schönen bleibt damit unklar. Haeckel zieht sich auf eine einfache Grundformel zurück, die etwa lauten könnte: >Schön ist was Natur ist< und die ist, zumindest in der Darwin-Rezeption Haeckels, immer schön. Dem Naturwissenschaftler bzw. Philosophen, der eine »gründliche biologische Bildung« vorweisen kann und dessen »Sinn für Naturbeobachtung und Naturgenuss« immer wieder »geweckt und geschärft« worden sei, gibt Haeckel dabei nicht nur den Vorrang in der Erkenntnisfähigkeit. Er allein sei überhaupt befähigt dazu, über philosophische Grundfragen - und das heißt bei Haeckel analog zu Jodl immer auch über eine sittliche Grundordnung - zu entscheiden.95 Der 93 94

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Haeckel: Die Welträthsel (Anm. 80), S. 140. Bayertz: Die Deszendenz (Anm. 48), S. 102; zur Substanz als Relation vgl. auch Haeckel: Der Monismus als Band (Anm. 80), S. 40 (Anmerkung 7), siehe außerdem die Kritik von Schnehens: Haeckels »reiner« (Anm. 87), S. 141. Haeckel hat das Grundproblem dieser konkurrierenden Auffassungen selbst benannt, was das Verständnis seiner Schriften freilich nicht einfacher macht, in: Monismus und Naturgesetz (Anm. 51), S. 9. Haeckel: Die Welträthsel (Anm. 80), S. 160, sowie Ernst Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus. In: Monistische Bausteine. Mit einer Einleitung hg. von Wilhelm Breitenbach. Heft 1. Brackwede i. W.: W. Breitenbach 1914, S. 35-50, S. 49 (These 28: Monistische Erziehung). Die Auffassung der grundsätzlich schönen Natur folgt aus der Konzentration Haeckels auf den Entwicklungsgedanken (Deszendenz des Schönen) und seinem Desinteresse am Selektionsprinzip (Ästhetik des Schreckens), vgl. Bayertz: Die Deszendenz (Anm. 48), S. 88ff., auch Daum: Das versöhnende Element (Anm. 9248), S. 21 If.

Naturgenuß des fortschrittlichen Monisten setzt Wissen voraus; der >Gebildete< dagegen gilt Haeckel als Anhänger ungesicherter Glaubensinhalte. Zwar erscheint in seinen Schriften der Begriff des >Gebildeten< auch positiv konnotiert: schließlich wenden sich ja auch die Welträthsel ausdrücklich an die »Gebildeten aller Stände«. Gemeint sind damit jedoch nur diejenigen, die »denk[en]Beim Lesen [des Manuskripts der Welträthsel, M. S.] bin ich als Ignorant und als solcher wohl als Typus des gebildeten, aber nicht gelehrten Publikums vielfach über die zoologische Terminologie gestolpert und mußte manches als unverstanden übergehen. Dabei kam mir der Gedanke, ob es nicht zweckmäßig wäre, dem Buche einen kleinen Index von Verdeutschungen der gelehrten Fachausdrücke in usum delphini beizufügen? Es wäre das vielleicht97 ungewöhnlich, aber zweifellos den meisten Lesern notwendig und willkommen!i Kunstkompetenz fordert Haeckel von >seinem< Gebildeten nicht. Naturverständnis und Naturbewunderung sind die entscheidenden Qualitäten, die sich nach den ersten Kontakten mit monistischen Sätzen von allein einstellen. Die Kritik schweigt hier nicht lange; sie nimmt den Begriff des >Gebildeten< kampfbereit auf und hofft auf dessen integrierende Wirkung. So verfaßt beispielsweise E. Pfennigsdorf ein »Flugblatt für Gebildete« und entlarvt bei der Diskussion zentraler monistischer Thesen Haeckels >Wahrheit< als »DogmenQR gebäude« und »Begriffsdichtung«. Die >Sache selbstRealitäten< des Wahren, Guten und Schönen zum Programm erhebt, ist der Neukantianismus. Er will dem Subjekt eine größere Kompetenz einräumen - was aber bedeutet das für mögliche objektive Werte in der Ästhetik?

3.3 Alle Macht dem Subjekt? Die objektiven Werte neukantianischer Ästhetik Was der ideengeschichtliche Überblick dieses 3. Kapitels der Arbeit insgesamt spiegelt: daß sich Gesellschaftsstruktur und Semantik, am augenfälligsten innerhalb eines sogenannten bürgerlichen Milieus mit monistischen ebenso wie lebensphilosophischen oder neukantianischen Denkansätzen, nicht aufeinander abbilden lassen,99 zeigt sich innerhalb des Neukantianismus erneut. Der Neukantianismus, so der Tenor der Forschungsliteratur, zeichne sich besonders durch seine »verwirrendet ] Vielfalt« aus. Bevorzugt umschreibt sie ihn als »Spektrum« oder »Bewegung« statt als »Schul«-Philosophie oder »philosophische Richtung«.100 Mit den Selbstbezeichnungen >transzendental< und >kritizistisch< oder schlicht dem Bekenntnis zu Kant und der deutschen philosophischen Ahnenreihe außerhalb der spekulativen Philosophie grenze sich der Neukantianismus zwar gegen fremde Positionen, namentlich gegen den >NaturalismusMaterialismusPositivismus< oder >Klerikalismus< ab, stellt Friedrich Tenbruck fest. Die eigenen Differenzen überwinde er jedoch nicht - und dies strebt er offenbar auch gar nicht an. Gerade führende Theoretiker des Neukantianismus werden nicht müde zu betonen, daß sie sich keinesfalls als solche bezeichnen würden.101 Tenbruck nennt diese >Distanzierungskultur< eine spezifisch akademische und betont trotz aller Argumente für die Differenz die innere Einheit. Denn neben die gemeinsame Feindbestimmung aus Sicht der neukantianischen Philosophen trete noch die einheitliche Fremdwahrnehmung. Von Freund wie Feind sei der Neukantianismus »meist kurzweg als Ganzes ge99

Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensso2 ziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 7. 100 Friedrich Tenbruck: Neukantianismus als Philosophie der modernen Kultur. In: Ernst Wolfgang Orth/Helmut Holzhey (Hg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme (Studien und Materialien zum Neukantianismus 1). Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 71-87, S. 71 und 75; Köhnke: Neukantianismus (Anm. 38), S. 41. 101 Als Beispiele der Distanzierung siehe die Selbsteinschätzungen Ernst Cassirers und Heinrich Rickerts, aufgeführt von Rainer A. Bast in der Einleitung des von ihm hg. Buchs: Heinrich Rickert. Philosophische Aufsätze. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1999, S. VII-XXXII, S. X, sowie Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Studien und Materialien zum Neukantianismus 8). Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 2.

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nommen« worden: »Wo seine Autoren unversöhnt miteinander über die Lehren stritten, hielten seine Anhänger sich an eine gemeinsame Sache, die sie darin erkannten und als ihre eigene betrachteten.«102 Zeitlich läßt sich die Kantrenaissance in einer >früheklassische< sowie eine >jüngere< Phase einteilen; als dominierende Schulrichtungen bilden sich während der klassischen Phase die >Marburger< und die >Südwestdeutsche< Schule aus.103 Die ihnen gemeinsame »Rückkehr zu Kant«104 impliziert vor allem ein methodisches Interesse, nämlich die Frage nach dem Grund der jeweiligen Wissenschaft, nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Begriffe, nach den Prinzipien, »unter deren Voraussetzung sich Gedanken auf Objekte beziehen können.«105 Philosophie ist damit in erster Linie Erkenntnistheorie (Logik) und infolgedessen abgesetzt von den Wissenschaften insgesamt. Die weitere Ausgestaltung dieses Verhältnisses verläuft unterschiedlich: Für den Marburger Hermann Cohen etwa tritt neben die Logik ebenbürtig die Ethik. Sie hat nicht das Sein, sondern das Sollen bzw. den Willen im Auge. Philosophie als Einheit dieser beiden »Stämme« lokalisiert sich innerhalb dieses Konzepts sowohl vor den Natur- als auch vor den Geisteswissenschaften.106 102

Tenbruck: Neukantianismus (Anm. 100), S. 76, vgl. auch S. 71-73 und S. 82, sowie Friedrich Tenbruck: Geschichte und Geschichtsschreibung der Philosophie am Beispiel des Neukantianismus. In: Philosophische Rundschau 35 (1988), S. 1-15, bes. S. 2 (den Begriff der >Distanzierungskultur< prägte Hermann Lübbe); zum Klerikalismus vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 321. - Gegen Tenbrucks Einschätzung ermittelt Ulrich Sieg in seiner Dissertation durchaus eine eindeutige Schuldoktrin und einen abgegrenzten Lehrkanon für Marburg: Aufstieg und Niedergang des Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft (Studien und Materialien zum Neukantianismus 4). Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, bes. S. 473. 103 Vgl. die Einteilung von Hans-Ludwig Ollig: Der Neukantianismus. Stuttgart: J. B. Metzler 1979, die auf Siegfried Marck zurückgeht und wie die strenge »Schul«Einteilung in der Forschung als umstritten gilt, vgl. Jürgen Oelkers / Wolfgang K. Schulz / Heinz-Elmar Tenorth: Wiederentdeckung einer Tradition (Einleitung). In: J. O. / W. K. S. / H. E. T. (Hg.): Neukantianismus. Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 4). Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1989, S. 7-35, hier S. lOf. 104 So [Hans Vaihinger]: Zur Einführung. In: Kant-Studien l (1897), S. 1-8, hier S. 1. Die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin beschließt in diesem Zusammenhang eine neue Kantausgabe und beauftragt Dilthey mit der Edition, vgl. die Notiz im selben Band, S. 148-154. 105 Gerd Wolandt: Idealismus und Faktizität. Berlin, New York: de Gruyter 1971, hier S. 224. 106 Nicht für alle Neukantianer in gleicher Weise, hier Hermann Cohen: Die Geisteswissenschaften und die Philosophie [1913]. In: Albert Görland / Ernst Cassirer (Hg.): Hermann Cohens Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte. Band 1. Berlin: Akademie 1928, S. 520-526, bes. S. 521; dadurch entsteht bei Cohen die Analogie folgender Gebiete: Logik der reinen Erkenntnis - Ethik des reinen Willens (Philosophie), Mathematik - Rechtswissenschaft (zugehörige Sprachen), Naturwissenschaften - Geisteswissenschaften (Objektbereiche), vgl. Gianna Gigliotti: Ethik und das Faktum der Rechtswissenschaft bei Hermann Cohen. In: Helmut Holzhey 51

Die Südwestdeutsche Schule dagegen stellt die Wissenschaft als einen Geltungs- und Wertbereich der Kultur neben andere, zum Beispiel Recht, Kunst, Religion oder Wirtschaft. Damit erweitert sie inhaltlich die Perspektive. Systematisch bleibt es allerdings bei der Nähe von Logik, Ethik und Ästhetik.107 Daß dieser Ansatz einer philosophischen Kritik nicht wie im Monismus als institutionelle Etablierung einer Weltanschauung zu verstehen ist, zeigt sich an fehlenden Vereinsgründungen. Prominente Ausnahme ist die Kant-Gesellschaft, zum 100. Todestag Kants 1904 ins Leben gerufen, die jedoch nach eigenen Angaben bescheiden den Zweck verfolgt, von der Grundlage der Kantischen Philosophie aus die Weiterentwicklung der Philosophie überhaupt zu fördern. Ohne ihre Mitglieder irgendwie zur Gefolgschaft gegenüber der Kantischen Philosophie zu verpflichten, hat die Kant-Gesellschaft keine andere Tendenz als die von Kant selbst ausgesprochene, durch das Studium seiner Philosophie philosophieren zu lehren.10* Dafür ruft sie landesweit Gruppen ins Leben, in denen zusammen mit den Universitäten, den philosophischen Zeitschriften und anderen gelehrten Institutionen »frei philosophiert« wird,109 und organisiert Preisausschreiben, die zur Diskussion wissenschaftsinterner Fragen wie zum Beispiel »Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Litteratur des 18. Jahrhunderts, mit bes. Rücksicht auf Kant und Schiller«, oder »Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht hat«, anregen sollen.110 Seit 1896 erscheinen die Kant-Studien, die

(Hg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 166-184, hier S. 170. 107 Vgl. Hans-Ludwig Ollig: Einleitung. In: H.-L. O. (Hg.): Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker. Stuttgart: Reclam 1982, S. 5-52, hier S. 48f.; allerdings differiert besonders die Rolle der Religion je nach System, vgl. Hermann Lübbe: Die politische Theorie des Neukantianismus und der Marxismus. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 44 (1958), S. 333-350, hier S. 337. 108 So die Formulierung (Hervorhebung im Original) im Umschlagtext der Philosophischen Vorträge. Veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft. Unter Mitwirkung von (zunächst Ernst Cassirer, dann) Hans Vaihinger und Max Frischeisen-Köhler hg. von Arthur Liebert. Berlin: Verlag von Reuther & Reichard, H. l (1912); ab H. 28 (1925) erscheinen die Philosophischen Vorträge im Pan-Verlag Rolf Heise, Charlottenburg. Gegen die Identifikation von »Wissenschaft« und »Weltanschauung« hat sich besonders Rickert gewehrt, vgl. Bast: Vorwort und Einleitung (Anm. 101), S. XIII. 109 So Heinz L. Matzat: Rückschau und Vorblick der Kant-Gesellschaft. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 4 (1949), S. 126-128, hier S. 127; diese Arbeit dient laut Matzat auch als Vorbild für die Wiederaufnahme der Gesellschaft nach 1945. 110 Vgl. Hans Vaihinger: Jahresbericht und Mitgliederverzeichnis der Kant-Gesellschaft für das Jahr 1909. In: Kant-Studien 15 (1910), H. l, S. 163-178, hier S. 168f. Eine vollständige Auflistung der Preisausschreiben bis 1916 findet sich in: Hans Vaihinger / Arthur Liebert: Die ersten zwölf Jahre der Kantgesellschaft. In: Kant-Studien 21 (1916/17), S. 351-354, hier S. 354. 52

durch verschiedene Beilagen oder Extraveröffentlichungen ergänzt werden.111 Das hohe Niveau der Beiträge korrespondiert mit dem Bildungsstand der Rezipienten: Die Mitglieder führen überwiegend einen Doktor- und / oder Professorentitel. Von den - nach Abzug der korporativen Mitglieder - 235 Jahresmitgliedern im Jahr 1909 beispielsweise sind es 168. Verglichen mit den monistischen Vereinen präsentiert sich die Palette der vertretenen Berufe homogener und konzentriert sich im wesentlichen auf Lehrberufe an Universitäten und Schulen; außerdem tauchen als größere Gruppen Ärzte und Studenten auf.112 Philosophiegeschichte konstruiert der Neukantianismus nicht auf der Differenz von Monismus und Dualismus, sondern von Kant-Rezeption und KantVerleugnung. So schreibt Hans Vaihinger in seiner Einleitung zum ersten Heft der Kant-Studien: Welches Gebiet wir auch betreten mögen - Erkenntnistheorie, Metaphysik, Logik, Ethik, Aesthetik, Naturphilosophie, Religionsphilosophie etc. - überall zeigt das Gewebe des modernen Denkens die Einschlagsfäden der Kantischen Lehre. Die Vertreter der entgegengesetzten Systeme begegnen sich auf Kantischem Boden, sei es, dass sie auf demselben als ihrer Basis weiterbauen, sei es, dass sie erst das Kantische Lehrgebäude bis zum Fundament abtragen, um ihren Neubau aufführen zu können. Die ganze Philosophie der Gegenwart ist so von Kantischen Gedanken und von Auseinandersetzungen mit Kant durchzogen: Evolutionismus, Empirismus, Positivismus, Gnosticismus und Agnosticismus etc. - keine Richtung, die nicht entweder mit Waffen aus der Rüstkammer Kants kämpfte, oder sich nicht wenigstens erst im Gegensatz zu Kant ihrer eigenen Bedeutung erst wahrhaft bewusst geworden wäre.113 Zwei Ästhetikentwürfe des Neukantianismus sollen im folgenden näher betrachtet werden: zum einen derjenige Hermann Cohens als Beispiel der Marburger, zum anderen Jonas Cohns Ansatz als Beispiel der Südwestdeutschen Schule. Die Grundlage der Diskussion bilden die Texte Kants Begründung der Aesthetik (1889) und Ästhetik des reinen Gefühls (1912) Cohens sowie die All111

Gemeint sind die Ergänzungshefte der -Studien, die Neudrucke seltener philosophischer Werke des 18. und 19. Jahrh. sowie die von der Gesellschaft veröffentlichten Philosophischen Vorträge. Die Kant-Studien erscheinen seit 1896 zunächst bei Leopold Voss (Hamburg und Leipzig), später bei Reuther & Reichard (Berlin), dann im Pan-Verlag Kurt Metzner (Berlin); auf Hans Vaihinger als erstem Herausgeber folgen Bruno Bauch, Max Frischeisen-Köhler und Arthur Liebert. 112 Vgl. Vaihinger: Jahresbericht (Anm. 110), S. 171-176, vereinzelt sind auch Pfarrer, Schriftsteller und Buchhändler verzeichnet. Nach 1945 hofft Matzat angesichts der Diktatur-Erfahrung und erkannten »Begabung des Deutschen für spekulative Dinge« auf eine »breitere[ ] Öffentlichkeit« der Kant-Gesellschaft und ihrer Arbeit auch in anderen gesellschaftlichen Kreisen, in: Rückschau und Vorblick (Anm. 109), S. 128. 113 [Vaihinger]: Zur Einführung (Anm. 104), S. 4. Der idealistische Sammelbezug erreicht auch den im vorherigen Kapitel diskutierten Friedrich Jodl und die Society of Ethical Culture, vgl. Vaihinger: Jahresbericht (Anm. 110), S. 177f. Umgekehrt läßt sich auch eine Nähe des Neukantianismus zur Gesellschaft für ethische Kultur nachweisen; Jonas Cohn tritt ihr 1892 bei, vgl. Margret Heitmann: Jonas Conn: Philosoph, Pädagoge und Jude. Gedanken zum Werdegang und Schicksal des Freiburger Neukantianers und seiner Philosophie. In: Walter Grab / Julius H. Schoeps (Hg.): Juden in der Weimarer Republik. Skizzen und Porträts. Darmstadt: Primus 2 1998,S. 179-199, hier S. 181.

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gemeine Ästhetik Cohns (1901). Anders als die Ästhetiken Jodls oder Haeckels erheben die neukantianischen Äquivalente in erster Linie114 nicht den Anspruch, eine universale Weltanschauung zu entfalten. Die Annahme naturalistischer Grundelemente, absoluter Letztwerte oder eines Indifferenzpunktes Gott, die Einheit der Differenz, die Geschichte - erscheint deshalb als entbehrlich. Läßt sich diese Vermutung bestätigen?

3.3.1 Die Kulturtatsachen in der Ästhetik Hermann Cohens »Begründung will Ableitung aus dem Grunde sein«, so leitet Cohen seinen Kommentartext zu Kants Kritik der Urteilskraft mit dem Titel Kants Begründung der Ästhetik ein. Dabei versteht er den »Grund« in zweifacher Weise: einmal die Basis und das Fundament; vorher aber noch den Grund und Boden. Das Fundament ist Stütze für den Bau, der darüber errichtet wird. Der Boden aber ist die Voraussetzung und die Grundlage ebenso für das Fundament, wie für dessen Hochbau. Und in dieser doppelten Richtung soll hier die Begründung verstanden und versucht werden.115

Weder die Basis oder auch das Fundament noch der Grund und Boden verfügen über absolute Objekte. Ebensowenig finden hier das >Ding für mich< als Erscheinung des >Dings an sich< oder gar das >Ding an sich< selbst ihren Platz. Der Grund und Boden, »aus welchem alle Kultur in je ihren besonderen Principien erwächst,« ist das System der kritischen Philosophie. Somit liegt der Beginn allen Nachdenkens über Wissenschaft (Logik), Sittlichkeit (Ethik) und Kunst (Ästhetik) in einem systematischen Denkprinzip, das die sinnliche Erkenntnisform, die >Anschauung< Kants, beiseite läßt.116 Diese systematische Ordnung ist auch eine zeitliche: Denn Wissenschaft und Sittlichkeit sind laut Cohen und in seiner Interpretation Kants der Stoff der Kunst und mithin die Voraussetzungen derselben.117 Alle drei Teilgründe des Grundes >sind< deshalb nicht als solche, sondern werden erzeugt bzw. »gesetzlich gemacht«. Logik, Ethik und Ästhetik beschäftigen sich mit den Erzeugungsweisen der Objekte durch das Subjekt, oder treffender formuliert: mit den Erzeugungsweisen der Bewußtseinsinhalte durch das Bewußtsein.118 Dabei interessiert nicht das faktische, individuelle und geschichtliche Bewußtsein, wie es nach dem Ersten Weltkrieg in der deutschen 114

Der Aktivismus des Neukantianismus innerhalb der Sozialdemokratie wird hier vernachlässigt, siehe hierzu Holzhey (Hg.): Ethischer Sozialismus (Anm. 106), sowie Hans J. Sandkühler / Rafael de la Vega (Hg.): Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970. 115 Hermann Cohen: Kants Begründung der Aesthetik. Berlin: Ferd. Dümmler 1889, S. 1. 116 Ebd., S. 3. 117 Vgl. ebd., S. 94. 118 Ebd., S. 5; vgl. auch S. 95ff. 54

Philosophie Nicolai Hartmanns oder Martins Heideggers an Einfluß gewinnt. Die Sinnlichkeit des Einzelnen sei schließlich Gegenstand der Psychologie, nicht der Philosophie, so Cohen. Ebensowenig vertritt Cohen einen subjektiven Idealismus im Sinne Berkeleys. Stattdessen postuliert er ein reines (Ur-)Bewußtsein, in dem Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt als Differenzeinheit nebeneinander stehen. Cohens 1912 veröffentlichte Ästhetik trägt infolgedessen den Titel Ästhetik des reinen Gefühls und beschäftigt sich mit einem ästhetischen Ur-Bewußtsein, das absoluten Wert besitzt. Der Begriff der >»AllheitMenschheitmancherlei MehrheitenDing an sichWie< oder >Warum< ihrer Konstitution erst gar nicht aussetzt. So gelten ihm eine klar bestimmte >reine< Sittlichkeit genauso wie Kunst als »Kulturthatsache[n]«, anhand derer sich dann die spezifischen Gesetzlichkeiten des ethischen und ästhetischen Bewußtseins ermitteln lassen.121 Beliebige Fakta und zeitlich gebundene Bewußtseinsformen einzelner Gruppierungen haben innerhalb dieser kritischen Systemphilosophie keinen Ort. Würde die Ästhetik von den »Vorsichtsmaßregeln, mit denen eine Sitten119

Cohen, zitiert und kommentiert von Eggert Winter: Ethik als Lehre vom Menschen [1980]. In: Helmut Holzhey (Hg.): Hermann Cohen (Auslegungen 4). Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1994, S. 311-338, hier S. 312ff.; vgl. Wolandt: Idealismus (Anm. 105), S. 225. 120 Diesen Standpunkt vertritt Geert Edel: Die Entkräftung des Absoluten. Ursprung und Hypothesis in der Philosophie Hermann Cohens. In: Orth / Holzhey (Hg.): Neukantianismus (Anm. 100), S. 329-342, bes. S. 333f. (hier auch das Beispiel Cohens). 121 Cohen: Kants Begründung (Anm. 115), S. 144. Die Elimination der ontologischen Problematik einerseits und das Festhalten an einem Faktum von Wissenschaft und Kultur andererseits ist mehrfach als »Ambivalenz« beschrieben und kritisiert worden, vgl. Hans-Ludwig Ollig: Aporetische Freiheitsphilosophie. Zu Hermann Cohens philosophischem Ansatz [1978]. In: Holzhey (Hg.): Hermann Cohen, Auslegungen (Anm. 119), S. 293-310, bes. S. 299f.; zur Subjekt-Objekt-Problematik vgl. Rede Paul Natorps zur Gedächtnisfeier Cohens 1918, Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems, auch im Band von Holzhey, S. 75-105, bes. S. 77f. 55

polizei die Freiheit der Kunst bevormundet«, und den »Gewaltmaßregeln, mit denen die staatlichen Schergen die Urgewalt der Kirchen zu stützen pflegen«, ausgehen, dann müßte sich die Kunst »von der Beiordnung zur Sittlichkeit« ablösen, so Cohen - eine systematische Unmöglichkeit.122 Ernst Cassirer hat diese Konstruktion philosophischen Denkens klar hervorgehoben: Der Ethiker könne den Inhalt des Sittengesetzes ebensowenig erzeugen wie der Ästhetiker Regel und Gesetz der Kunst aufstellen könne. »>Nicht das Gesetz des Schönen ist philosophisch zu erfinden, sondern, worin ein solches bestehen dürfe und bestehe, ist auszumachen^«123 Mit Paul Natorp läßt sich die Bemerkung als Vorwurf formulieren: In einer »unbegründeten Scheu auch vor dem Scheine eines unzulässigen Erzeugens oder Konstruierens« scheine Cohen »überall nur ein nachträgliches Vereinigen im System ins Auge zu fassen.«124 Dieses System unterscheidet drei Erzeugungsweisen des Bewußtseins. Während die Natur nach der Idee des Wahren mit Hilfe von Begriffen als ein Wirkliches erzeugt werde, werde die sittliche Welt nach der Idee des Guten über die Willenstriebe als ein Sollen vorgestellt. Das ästhetische Bewußtsein als Spielwiese des Gefühls unterscheidet sich laut Cohen von beiden Bewußtseinsarten darin, dass in ihm nicht einzelne Vorstellungen mit einander, sondern dass die Bewusstseinsgebiete, die in Gemüthskräften abgesondert werden, mit einander ins Spiel gerathen, sodass man sagen darf: dass das ästhetische Bewusstsein als solches mit den Bewusstseinsgebieten spiele. Denn in dem freien Spiele, in dem Verhältnisse, welches dieses freie Spiel vollzieht, besteht das ästhetische Gefühl. [...] Wenn sich das Bewusstsein 125 auf einen bestimmten Sonderinhalt fixierte, so wäre es um das freie Spiel gethan. Das freie Spiel, Grundbegriff der Autonomieästhetik Schillers, identifiziert Cohen mit der Verhältnisbestimmung der Bewußtseinsgebiete untereinander. Gespielt wird im Medium der »Natur- und Sittlichkeits-Gedanken«. Weil diese als »Stoffe« bereits vorliegen, richtet sich das ästhetische Bewußtsein - des Künstlers ebenso wie des Rezipienten - statt auf einen bestimmten Erkenntnisinhalt auf die Erkenntnis an sich.126 Kunst hat es also zunächst mit Formen zu tun, da ihr die erzeugte Natur ebenso wie die erzeugte Sittlichkeit als Stoff zur Verfügung steht. Zugleich führt Cohen jedoch Kunst auf ein Urmedium zurück, weil die Erzeugung von Natur und Sittlichkeit in der Philosophie nur von einem >reinen< Bewußtsein aus gedacht werden soll. Nur so kann Cohen dem Vorwurf eines Wertrelativismus in der Ästhetik vorbeugen: Die ästhetische 122 123

Cohen: Ästhetik (Anm. 40), S. 40f. Vgl. Ernst Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie [1912]. In: Holzhey (Hg.): Hermann Cohen, Auslegungen (Anm. 119), S. 3959, hier S. 45; das von Cassirer angeführte Zitat stammt aus Cohens Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, dem Buch Kants Theorie der Erfahrung (Berlin: Ferd. 2 Dümmler 1871, hier 1885, S. 578). 124 Natorp: Hermann Cohens philosophische Leistung (Anm. 121), S. 90. 125 Cohen: Kants Begründung (Anm. 115), S. 173 und 174; vgl. auch S. 97f. 126 Ebd., S. 318 und 173. 56

Gesetzlichkeit »bedeutet die Vereinbarung des Selbstbewusstseins des Gefühls mit dem allgemeinen Gefühle. Sie bedeutet ein allgemeines Selbstbewusstsein des Gefühls.«127 Übertragen auf das erzeugte Objekt: »Die Kunst ist das Selbstbewusstsein der Menschheit.« »Naturgebild«, »Kunstgebild« und »Sittlichkeit« stellen die Erzeugnisse der drei genannten Erzeugungsweisen dar. Dem »Kunstgebild« als drittem kommt die Funktion zu, Natur auf Sittlichkeit oder aber Sittlichkeit auf Natur zu beziehen. Diese Dreiheit setzt Cohen voraus; das Ästhetische überformt nie nur das Theoretische oder nur das Praktisehe.128 Dieser Systematik entsprechend entwirft Cohen am Ende seines Kommentars zur Kritik der Urteilskraft in klaren Zügen das Bild einer »neuen Welt« mit der »Einen ästhetischen Menschheit«, die vom völkerumspannenden Gefühl der »Eintracht«, »Harmonie« oder »Humanität« gekennzeichnet sei.129 Ebenso klar sind seine Beispiele aus der Musik- und Literaturgeschichte, die seine Ästhetik illustrieren sollen. Anhand von Bach, Beethoven, Goethe und Schiller verweist Cohen darauf, daß gerade die Deutschen die Aufgabe der »neuen Welt« erfüllt hätten: »Ist es zufällig, dass die Deutschen die Begründung der Aesthetik vollzogen haben?«130 Die Reinheit und Allheit des Bewußtseins wird hier mit einem >deutschen< Bewußtsein identifiziert. Die Ableitung >aus dem Grundegrossen Beispiele< dienen nicht nur der inhaltlichen Verankerung, sondern ebenso und zuallererst als Vorlage systematischer Kategorien. So lobt Cohen Bachs Kompositionen mit dem Hinweis, daß dessen große Kunst nicht aus dem christlichen Glauben erklärt werden könne;

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Ebd., S. 215 (Hervorhebung M. S.); vgl. auch S. 216f. Ebd., S. 222 und S. 230. Ebd., S. 427f., S. 411 und S. 216. Ebd., S. 433. 131 Das Gegenüber von konstituierender Subjektivität und konstituierter Gegenständlichkeit lasse keinen Raum für eine konstituierte Subjektivität, so Wolandt hierzu in: Idealismus (Anm. 105), S. 29. 132 Cohen: Ästhetik (Anm. 40), S. X. 133 Vgl. Sieg: Aufstieg und Niedergang (Anm. 102), S. 247. 57

am Beispiel des Judentums diskutiert Cohen in den Jahren kurz vor seinem Tod die systematische Position der Religion.134 Der Vorteil dieses Spiels von Systematik und Exempel liegt darin, die eigentliche Philosophie als Erkenntnistheorie von individuellen Vorlieben freihalten zu können. Daß dieser Versuch nicht überzeugt, zeigt sich neben der grundlegenden Rolle der >großen Beispiele< auch an dem Denkgebäude insgesamt: Woher weiß Cohens Philosophie überhaupt, daß es neben der Logik auch eine Ethik gibt, fragt Eggert Winter in seinem Artikel Ethik als Lehre vom Menschen. Vor aller Methode stehe der Sinn ethischer Fragestellungen bereits fest: Cohens Philosophie, so Winter zusammenfassend, fehle eine »hermeneutisch-phänomenologische Dimension«.135 Funktional gewendet: Philosophie reproduziert sich selbst aus den eigenen Fragen und Systematiken. Eine Systemphilosophie, wie sie auch Cohen verfolgt, kann sich als Systemphilosophie nicht in Frage stellen. Schließlich müßte sie dazu eine Position außerhalb des Systems einnehmen können - eine unmögliche Operation, weil das neukantianische kritische System bereits alle Formen des Bewußtseins beinhaltet. Sie kann lediglich reflektieren, welchen Bestandteilen des Systems sie wann die höchste Gewichtung zubilligt.136 Deshalb bleibt der Dreischritt des kritischen Philosophierens von Erkenntnistheorie bzw. Logik, Ethik und Ästhetik bestehen und aus diesem Grund diskutiert Cohen die Ästhetik nur im Zusammenhang mit der Kunst und nicht - wie sonst üblich in seiner Zeit - mit dem irgendwie gearteten >LebenInternationale Kongreß für historische Wissenschaftern 1908 für die Geschichte der Philosophie weder einen übergeordneten Ehrenplatz noch wenigstens eine einzelne Sektion vorsieht, klagt Cohen: »Soll von Deutschland etwa die

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Die Kritiker der Ästhetik des reinen Gefühls loben bezeichnenderweise vor allem deren systematischen Teil. Für den Bereich der Kunstkritik im zweiten Teil der Studie wird dem »ganzen Mann« Cohen dagegen die Fähigkeit eher abgesprochen. Der Marburger Kollege Heinz Heimsoeth etwa spricht deutlich von »persönlich beschränkten, in allen kunstwiss. u. kunstgeschichtl. Fragen blutig laienhaften >gesammelten Bemerkungen eines deutschen Professors klassizistischer Observanz, vorgetragen im Stil eines Weltpredigers .. .«.138 Cohens Ästhetik wendet sich von zwei Seiten gegen eine funktionale Differenzierung: Zum einen setzt sie die Differenz von Wissenschaft und Einheitsphilosophie voraus und bemüht sich um die Standortsicherung ihrer Disziplin. Das Paradigma vom Schönen und Guten bzw. Schönen, Guten und Wahren reduziert für den Marburger Neukantianer die Anlehnungskontexte potentieller Reden über Kunst und ermöglicht der Ästhetik ihren selbständigen Platz innerhalb der Philosophie. Umgekehrt garantiert die Ästhetik den Fortbestand des Systems und dadurch der Philosophie, die überhaupt nur als systematische denkbar ist.139 Zum anderen bindet Cohens Ästhetik diese Systematik an eine überindividuell konstruierte Sittlichkeit und Kunst und versucht, die Einheit der Gesellschaft über die ideale Kollektivität ihrer Individuen zu erweisen. Cohen tituliert die ästhetischen oder ethischen Erzeugnisse des Bewußtseins als >deutsch< oder >jüdisch< und setzt die postulierte Allheit und Reinheit mit volks- bzw. milieugebundenen Größen gleich.

3.3.2 Dialektisierung statt Dialektik im Ansatz Jonas Cohns Den wesentlichen Unterschied zwischen dem Marburger und dem Südwestdeutschen Neukantianismus erkennt die Forschung meist im Geltungsmodus des Bewußtseins: Die >Gesetzlichkeiten des logischen, ethischen und ästhetischen Bewußtseins im Sinne Cohens seien funktional, die >Werte< Heinrich Rickerts oder Wilhelm Windelbands dagegen substantial zu verstehen.140 Die Weisung ausgehen, daß die Rechtsgeschichte unverträglich sei mit der Rechtsphilosophie? Und daß die Wirtschaftsgeschichte unberührt und unbeeinflußt von der philosophischen Ethik betrieben werden müsse?« (Auch ein Zeichen vom Geiste der Zeit [1908]. In: Görland / Cassirer (Hg.): Hermann Cohens Schriften [Anm. 106], S. 335-340, hier S. 338 [Hervorhebung im Original]). 138 Zitiert von Holzhey: Einleitung (Anm. 136), S. 12f. Heimsoeth promoviert und habilitiert sich zwar in Marburg (letzeres 1913), distanziert sich aber bereits von seinen Marbuger Lehrern Cassirer und Görland (vgl. ebd.). 139 Gedanken wie diese sind nur »scheinbar paradox«, so Cohen im Anschluß an folgende Sätze in: Ästhetik (Anm. 40), S. 3 (Hervorhebung im Original): »Erst die Einordnung der Ästhetik in das System der Philosophie hat die Selbständigkeit und die Eigenart der Ästhetik zu begründen vermocht. Und man darf vielleicht sagen, daß die Einordnung der Ästhetik in ein System auch erst die abschließende Ursache zur Begründung des Systems der Philosophie geworden ist.« 140 Vgl. etwa Paul Maerker: Die Ästhetik der Südwestdeutschen Schule. Bonn: Bouvier 1973,8.21. 59

Funktionalität Cohens, die am Prinzip der Identität von Erzeugen und Erzeugnis ansetzt, bleibt jedoch ihrerseits angewiesen auf vorgelagerte Fakta. Eine Ästhetik ohne die >großen Beispiele^ die wiederum von einem nicht weiter befragten >reinen< Subjekt konstituiert werden, läßt sich nicht konstruieren. Jonas Conns Philosophie141 reagiert auf diese paradoxe Lage. Sie unterscheidet die Form des Denkens vom denkfremden Inhalt, um anschließend beide als »gleich ursprüngliche [gegenseitig aufeinander angewiesene, M. S.] konsumtive Momente des Erkennens jeder Art, der Tatsachen- wie der Werterkenntnis« zu bestimmen. Diese Lehre des »Utraquismus« ergänzt Cohn um einen zweiten Grundsatz seines Denkens, die »Prävalenz des Positiven«. Sie formuliert das Postulat, »daß im philosophierenden Erkennen kein gegebener Inhalt unterdrückt, wegkonstruiert und gleichsam unterschlagen werden darf.«142 In diesem Zusammenhang überrascht es kaum, daß sich die frühe Forschung zum bereits historisch gewordenen Neukantianismus in den 1920er Jahren mit Themen wie Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus beschäftigt und in den Ansätzen aller führenden Marburger und Südwestdeutschen Philosophen nach dialektischen Spuren sucht.143 Das Zurechnungsproblem zwischen Subjekt und Objekt und damit auch die Frage nach ihrer gegenseitigen Bedingtheit rückt mit Cohn wieder explizit ins Zentrum philosophischen Interesses. Was heißt das für seine Ästhetik und den Werkbegriff? Eine Wissenschaft, so Cohn zu Beginn seiner Allgemeinen Ästhetik, sei zum einen durch ihren Gegenstand bezeichnet. Zum anderen gehöre zu ihrer Begriffsbestimmung notwendig die Angabe des Gesichtspunktes der Behandlung. Urteil und Beurteiltes, Form und Inhalt bzw. »Wertschätzung« und »Gewertete[s]« konstituieren deshalb auch die zwei Seiten der Ästhetik, die jene »besondere An von Werten zu untersuchen hat, die im Schönen und der Kunst herrschen.«** Dies schließt nicht aus, daß das Schöne und die Kunst nicht auch Gegenstand anderer nicht-ästhetischer Betrachtung sein können, das heißt als Medium in verschiedene Zusammenhänge eintreten können. Nur die Ästhetik aber erkennt die »allgemein wesentlichen Elemente« und somit den ästheti141

Über die Zuordnung der Ästhetik Cohns zur Sudwestdeutschen Schule ist sich die Forschung uneinig. Maerker schließt Cohn aus, weil er dessen Theorie des Schönen nicht im Wertsystem der Südwestdeutschen Schule fundiert sieht (vgl. ebd., S. 25), Ollig dagegen behauptet, die Allgemeine Ästhetik sei als »die Ästhetik der Schule akzeptiert« worden, in: Der Neukantianismus (Anm. 103), S. 83. 142 Siegfried Marck: Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus. Ein Gedenkblatt für Richard Hönigswald und Jonas Cohn. In: Archiv für Philosophie 3,2 (1949), S. 144^164, hier S. 161 (Hervorhebung M. S.). 143 Heinrich Levy: Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus (Philosophische Vorträge 30). Charlottenburg: Pan-Verlag Rolf Heise 1927; die Schrift geht auf einen Vortrag vor der Berliner Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft zurück. 144 Jonas Cohn: Allgemeine Ästhetik. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1901, S. 7 (Hervorhebung im Original), vgl. auch ebd., S. 5. 60

sehen Wert für sich als rein »intensiven«. Der Geschichtswissenschaft beispielsweise geht es laut Cohn nur um die Interpretation der Werke als »Dokumente menschlicher Kenntnisse«; sie interessiert sich für deren »consecutiven« Wert und betrachtet Kunst infolgedessen als Mittel zu ihrem Zweck.145 Das Merkmal der Intensität teilt der ästhetische Wert allerdings mit dem logischen und ethischen Wert: »Denn auch die Wahrheit und der sittliche Wille werden nicht nach ihrem Nutzen für etwas, sondern an sich selbst geschätzt.« Deshalb führt Cohn ein weiteres Merkmal ein: Der intensive Wert des Schönen schließt nicht nur eine Funktion als Mittel zum Zweck aus, sondern ebenso den Verweis auf einen übergeordneten Zusammenhang des einzelnen Schönen. Im Gegensatz zur >Wahrheit< oder >Sittlichkeit< ist die »Kunst als Ganzes« immer nur »Allgemeinbegriff«. Der ästhetische Wert bleibt immer auf das einzelne Werk beschränkt und damit isoliert bzw. >immanenttransgredient< funktionieren.146 Die Kunst gilt Cohn als »Einheit von Ausdruck und Gestaltung«, ein Begriff, der sich aus der systematischen Position des Kunstwerks im »Mitteilungs«Prozeß herleiten läßt. Der Rezipient empfängt Werk und Künstler, genauer: das Werk des Künstlers. Er rezipiert die in dieser Genitivformulierung ausgedrückte dialektische Vermittlung von Subjekt und Objekt als »Inhalt der ästhetisch bewerteten Erlebnisse«.147 Auch wenn nun diese ästhetische Mitteilung lediglich »um ihrer selbst willen rein intensiv gepflegt« wird, weist ihr Cohn als solche jedoch eine klare Funktion zu. Seine Argumentation setzt an der Grunddialektik von Erkennen und Handeln an, deren allgemeine Grundsätze nur im Zusammenhang mit besonderen Inhalten und damit individuellen »Gegebenheiten« offensichtlich würden. Allgemeines und Besonderes stünden sich so gegenüber. Statt die Gegebenheiten aus allgemeinen oder reinen Denk- und Bewußtseinsformen abzuleiten, wählt Cohn zur Lösung dieses Problems die Empirie: die eigenen Besonderheiten müßten mit den gewählten Inhalten anderer Subjekte abgeglichen und ergänzt werden. Diese vergleichende Mitteilung des je Besonderen führt zu Verständnis und Konsens unter den beteiligten Subjekten und damit zur Ermittlung wirklich allgemeiner Grundsätze.148 Weil Er-

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Ebd., S. 6, vgl. auch ebd., S. 23, sowie Jonas Cohn: Die Dialektik des Kunstwerks [aus: Theorie der Dialektik, 1923]. In: Ollig (Hg.): Neukantianismus (Anm. 107), S. 227-242, hier S. 228. 146 Cohn: Allgemeine Ästhetik (Anm. 144), S. 24-30 (Zitate S. 24f. und 27). 147 Ebd., S. 228, vgl. auch S. 233. In seiner Theorie der Dialektik spricht Cohn präziser von »Gehalt« und »Gestalt«: »Gestalt ist wesentlich von einem Gehalt her organisierte Form, Gehalt ist wesentlich sich gestaltender Inhalt oder Leben.« Diese Einheit von Gestalt und Gehalt ist eine »spannungshaltige[ ]« (Cohn: Die Dialektik des Kunstwerks [Anm. 145], S. 231 und S. 234). 148 Cohn: Allgemeine Ästhetik (Anm. 144), S. 230f. und 236, vgl. auch S. 236-238. Dialektik wird durch allgemeines und nicht-dialektisches Verstehen ausgehebelt: »Man soll den Menschen nur zu dem zwingen, was er von selbst thun würde, wenn sein möglicher sittlicher Wille ein wirklicher wäre. Ein solches Verhalten ist aber 61

kennen jedoch sukzessive und Schritt für Schritt, sittliches Handeln dagegen nur im steten Kampf abläuft, überformt Cohn deren jeweils inhaltsbezogene Mitteilungen mit dem Prinzip der Mitteilung an sich: der ästhetischen Mitteilung. In ihr erscheinen das Ideal des vollständigen Systems ebenso wie das Ideal des »heiligefn] Willen[s], in welchem Pflicht und Neigung eine notwendige Einstimmigkeit haben«, nicht mehr als Verlangen, sondern als Besitz. Die Kombination zweier Ideale ergibt dabei kein neues ästhetisches Ideal, sondern - wie bereits bei der Mitteilung bestimmt - das Prinzip des Ideals an sich. Der Kunst wird die Funktion der befriedigenden und erfüllenden Ergänzung zugewiesen; Größe, Harmonie und innerlicher Reichtum bestimmen ihr Wesen. Allerdings bleibt sie dabei einzeln und isoliert, wirkungslos in Bezug auf Handeln und Erkennen.149 Wo bleibt in diesem Konzept die Frage nach der Vermitteltheit des philosophierenden Subjekts? Mit Alfred Schäfer läßt sich zu Recht davon ausgehen, daß das dialektische Prinzip ein dialektisierendes bleibt, dem das Prinzip der Werte und ihre Anordnung vorgeordnet wird.150 An keiner Stelle stellt Cohn die klassische Dreiheit von Wahrheit, Sittlichkeit und Kunst selbst in Frage.151 Logischer, ethischer und ästhetischer Wert erheben gleichermaßen Anspruch auf einen umfassenden und nicht lediglich partialen Geltungsbereich. Dies unterscheidet sie von Werten, die nur eine »thatsächliche Wertschätzung einschliessen«, denn ihre Wertung tritt als ein Sollen auf: Ein wahrer Satz fragt nicht danach, ob er mir gefällt oder nicht; als wahr muss ich ihn anerkennen, wofem ich nicht in mir selbst zu schänden werden soll. Eine Pflicht tritt mit dem Ansprüche auf, befolgt zu werden, und wenn ich, trotzdem ich meine Pflicht kenne, ihr zuwider handle, so weiss ich, dass ich gegen mein Sollen gehandelt habe. So tritt das Schöne, das grosse Kunstwerk an mich heran, mit dem Ansprüche, von mir nachgefühlt zu werden. [...] Die Wahrheit freilich verlangt stets von jedem Individuum Anerkennung; es ist begrifflich falsch, zu sagen, dies ist für mich wahr. [...] In den meisten Fällen werden auch ethische Werte mindestens einer ganzen Gruppe von Personen gemeinsam sein. Denn es handelt sich bei ihnen meist um Herstellung einer wesentlichen Kulturgemeinschaft. Solche kulturell vereinigende Bedeutung haben nun in ganz hervorragendem Masse die ästhetischen Werte. Ihr augenscheinlich nur möglich, wenn wir uns dazu ausbilden, unsere Mitmenschen verstehen zu lernen, uns in ihr inneres Leben hineinzuversetzen.« (Ebd., S. 264) 149 Vgl. ebd., S. 238, 272 und 286f. (Zitat S. 284). Siehe oben ähnlich Cohen: die Ausrichtung des ästhetischen Bewußtseins auf die Erkenntnis an sich. 150 Vgl. Alfred Schäfer: Halbierte Desillusionierung. Jonas Conns »Theorie der Dialektik«. In: Oelkers / Schulz / Tenorth (Hg.): Neukantianismus. Kulturtheorie (Anm. 103), S. 327-350, hier S. 343; Schäfer spricht auch von einer »methodische[n] Unversöhntheit von Dialektik und Prinzipientheorie« (S. 331). Insofern bleibt auch Cohns dialektisch vermitteltes Subjekt ein reines und nicht-faktisches Subjekt, vgl. Maerker: Die Ästhetik (Anm. 140), S. 7, auch Heitmann: Jonas Cohn (Anm. 113), S. 189. 151 Zumindest nicht in der Allgemeinen Ästhetik; in der Theorie der Dialektik betont Cohn allerdings, daß mit der Dreiheit vom ästhetischen, ethischen und logischen Wert vermutlich nicht alle (und ursprünglichen) Wertarten erschöpft seien, vgl. Jonas Cohn: Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie. Leipzig: Felix Meiner 1923, S. 187. 62

Forderungscharakter ist also auch in dem Sinne überindividuell, dass er sich an eine ganze Gruppe von Individuen richtet.152 Das große Kunstwerk ist bereits groß, bevor es zu seiner Beurteilung in den Ring geworfen wird. Der Rezipient muß dies anerkennen, denn: »Wer den Forderungscharakter des ästhetischen Wertes prinzipiell leugnet, dem fällt das Schöne mit dem Angenehmen zusammen, die Kunst wird ihm eine besondere Art des Luxus und kommt in dieselbe Kategorie mit der Herstellung weicher Betten oder der Thätigkeit des Parfümeurs.«153 Cohns Begriff des ästhetischen Wertes, des Schönen und der Kunst engt sich damit auf die üblichen idealistischen Merkmale ein. Konsequent diskutiert seine Allgemeine Ästhetik in ihrem letzten Kapitel »Die Bedeutung des ästhetischen Wertgebietes« Kunst nur im Zusammenhang mit Wahrheit und Sittlichkeit, nicht aber beispielsweise mit Wirtschaft im Sinne einer kulturindustriellen Betrachtung. Im Unterschied zu ökonomischen Überlegungen verstellen Ethik (Sittlichkeit) und Logik (Wahrheit) den Blick auf den rein intensiven Charakter des ästhetischen Wertes nicht - denn sittliches Handeln und Erkenntnis rechtfertigen in der Konstruktion Cohns ja genau das rein Ästhetische.154 Um nicht beim einzelnen immanenten Kunstwerk als »Symbol des Ideals« stehenzubleiben, führt die Allgemeine Ästhetik in ihrem letzten Kapitel die Religion als »Glaube an das Ideal« ein. Cohns Philosophie findet ihren Abschluß in dieser höchsten Hierarchiestufe, der »Erfüllung« aller »unerfüllbaren Forderungen«: Glauben ist kein Wissen, besitzt aber vom Wissen die Gewissheit. Glaube ist kein Gegenstand sittlichen Entschlusses, sondern eine Gnade, besitzt aber die lebendige Wirksamkeit des guten Willens. Glaube ist keine ästhetische Anschauung, sondern eine Ahnung, besitzt aber die Selbstgenügsamkeit und ErfÜlltheit des Schönen.155 Dialektik kommt an den zentralen Werten der Wahrheit, Sittlichkeit und Kunst zum Stillstand. Nur so kann Philosophie ihren Systemcharakter behalten und auf ein Telos - »das Ganze des Lebens und der Welt«156 - hin formuliert werden. Zwar geht Cohn in der Theorie der Dialektik davon aus, daß alle »dialektologischen Begriffe« ihrerseits dialektisch sein müssen: Der adäquate Ausdruck der »Theorie der Dialektik« sei die »Dialektik der Dialektik«.157 Insofern müßte auch jedes Erkennen und Handeln wiederum Gegenstand weiteren Erkennens und Handelns werden können. Dennoch glaubt Cohn zwischen einem Gegenstand wie etwa einer Zahl, einem Dreieck, einer Farbe oder der Erde und 152 153 154 155

Cohn: Allgemeine Ästhetik (Anm. 144), S. 38. Ebd., S. 41. Vgl. erneut ebd., S. 287. Ebd. Diesen Schritt zur Religion als eigenständigem Element außerhalb der Ethik bis zu seiner Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie nicht deutlich vollzogen zu haben, kritisiert Natorp wiederum an Cohen, vgl. Natorp: Hermann Cohens philosophische Leistung (Anm. 121), S. 100. 156 So Jonas Cohn im Vorwort zu seinem Alterswerk: Wertwissenschaft. Stuttgart: Fr. Frommann (H. Kurtz) 1932, S. VII. 157 Cohn: Theorie der Dialektik (Anm. 151), S. 130. 63

zum Beispiel dem Gegenstand »Erkennen« unterscheiden zu müssen: Denn während erstere durchaus Objekte für weitere Prozesse werden könne, verweise letzterer auf sich selbst. Cohn nennt diesen Selbstverweis auch »Denaturiertwerden«. So enthalten die zentralen »Sollens«-Werte ihre Dialektik bereits in sich und wissen zugleich, ohne einen Verweis von Außen, um diesen Vorgang.158 Normativ gesetzt erscheinen das Schöne und die Kunst auch in diesem Konzept. Statt auf die Reinheit und Allheit eines schaffenden oder rezipierenden Bewußtseins zu verweisen, weist Cohn auf das empirische Urteil von Individuen hin - dennoch aber gibt es den ästhetischen Wert bereits vor seiner Präsentation. Grund und Begründung fallen in ihm wie in den übrigen kulturellen Werten zusammen. Diese Einheit der Differenz zweier Bestandteile bildet dann die homologe »Einheitsform« aller Werte.159 Cohn zieht die Entrücktheit seiner Werte einer dynamisch-semiotischen Betrachtung von Wahrheit, Sittlichkeit und Kunst vor und beendet den Mitteilungs- oder Kommunikationsprozeß, um einem Werterelativismus vorzubeugen. Trotz der dialektischen Konfrontation des Subjekts mit dem Objekt ist sein Subjekt kein faktisches, sondern bleibt letzten Endes ein ideales. Allerdings schlägt sich diese Abwägung in seiner Philosophie nieder und zeigt bereits Möglichkeiten eines anderen Denkens auf. Nicht Kultur und Bewußtsein, sondern Leben, Wirklichkeit, Sein, Dasein und Existenz sind hier die Stichworte, die dann plötzlich auch bisher unentbehrliche systemphilosophische Disziplinen entbehrlich machen: Das philosophische Werk Heideggers etwa enthält keine »Ästhetik« mehr, sondern Überlegungen zum Ursprung des Kunstwerks.160 Zeitlich näher liegt der Komplex der Lebensphilosophie, wie sie etwa Georg Simmel vertritt.

3.4 Dynamik der Form versus Statik des Mediums: Georg Simmels Lebensphilosophie Im Gegensatz zu Jodl, Cohen oder Cohn verfaßt Simmel kein Werk unter dem Titel einer >ÄsthetikEthos< als >Aufenthalt< im Denken des Seins), vgl. Helmut Holzhey: Die praktische Philosophie des Marburger Neukantianismus. Versuch einer moralischen Bilanz. In: Orth / Holzhey (Hg.): Neukantianismus (Anm. 100), S. 136-155, hier S. 137.

Kulturgebiete für unmöglich.161 Sein Denken, vor allem in den Schriften nach 1900, die als Beispiele der >Lebensphilosophie< hier näher betrachtet werden sollen,162 folgt einer zweiwertigen Grundfigur: Stets bringe »die schöpferische Bewegung des Lebens gewisse Gebilde hervor [...], an denen sie ihre Äußerung, die Formen ihrer Verwirklichung findet, und die ihrerseits die Flutungen des nachkommenden Lebens in sich aufnehmen und ihnen Inhalt und Form, Spielraum und Ordnung geben«.163 Weil diese Differenz von Leben und Form die Möglichkeit einer abstrakten Theoriebildung mit minimalen Bausteinen in Aussicht stellt, ist es kaum verwunderlich, daß Simmels Ansatz seit kurzem etwa in der Dissertation von Enrik Lauer über die Homologie von Sinn und Geld - auch auf seine Verwertbarkeit für systemtheoretische Ansätze hin gelesen wird.164 Ähnlich wie Cohn, der mit seiner Theorie der Dialektik eigentlich eine Dialektik der Dialektik anstrebt, versucht auch Simmel über seine methodischen Prinzipien der Analogie und Symbolik eine Vermitteltheit jeder Erkenntnis zu formulieren und damit den Beobachter in die Theorie zu integrieren. >Äußere< Ereignisse ließen sich nur nach Maßgabe von >inneren< Analogien bilden, >innere< Selbstwahrnehmungen immer nur nach Maßgabe von >äußerlichenLebensphilosophie< läßt Landmann mit Simmels Bergson-Rezeption 1908 beginnen; wesentliche Gedanken zur Kulturproblematik finden sich jedoch bereits zuvor. 163 Simmel: Der Konflikt (Anm. 161), S. 183; im engeren Sinne liefert Simmel an dieser Stelle eine Definition von >Kultur«. 164 Vgl. Georg Simmel: L'art pour art [1914]. In: G. S.: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze. Hg. von Gertrud Simmel. Potsdam: Gustav Kiepenheuer 1922, S. 79-86, hier S. 82. Die Studie Enrik Lauers, die neben anderen Konzepten auch Simmels antimaterialistischen und funktional definierten Begriff des Geldes untersucht, trägt den Titel: Literarischer Monetarismus. Studien zur Homologie von Sinn und Geld bei Goethe, Goux, Sohn-Rethel, Simmel und Luhmann (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 2). St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1994; zu Simmel und Luhmann vgl. S. 167. 165 Vgl. Klaus Lichtblau: Georg Simmel und die Tradition einer hermeneutischen Kultur- und Sozialwissenschaft. In: Thomas Jung / Stefan Müller-Dohm (Hg.): »Wirklichkeit« im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 27-56, hier S. 39; zu Analytik 65

Wie allerdings Cohns Dialektik der Dialektik bei den genannten, der klassischen Systemphilosophie wohlbekannten und nicht weiter dialektisierbaren Werten endet, fixiert auch Simmel sein dynamisches Konzept an entscheidender Stelle. Der umfassende Begriff für diese Stelle ist die »Ganzheit des Lebens«.166 Dabei erscheinen die Begriffe des Ganzen, des Lebens oder der Einheit austauschbar, jedoch immer angewiesen auf ihr Gegenüber, das sie erst konstruieren bzw. das sie erst konstruiert: die Glieder, Elemente oder Teile. Simmel selbst nennt dieses Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen ein »Urphänomen der geistigen Welt«, und jene Denkbewegung, die - ausgehend vom Einzelnen - um dieses Verhältnis weiß, im Unterschied zur wissenschaftlichen die philosophische.167 Die genannten Theoriebausteine thematisieren zwei zusammenhängende Aspekte. Die Prozeßhaftigkeit des Lebens: im Medium >Leben< finden unterschiedliche Formbildungen - Ausbildungen von Kulturgebieten wie etwa der Kunst ebenso wie die Formung von sozialen Ordnungen bzw. der Gesellschaft durch beteiligte Individuen - statt. Diese unterliegen einer eigenen »Logik und Gesetzlichkeit« und wirken ihrerseits auf »Wesen und Gestaltung« des »allgemeinen Lebens« zurück. Einmal »festgewordene Erzeugnisse« halten dem Strom des Lebens nicht mehr stand und werden schließlich von neuen Formen, die sich wiederum im Ursprungsmedium >Leben< bilden, verdrängt.168 Dieser Grundgedanke der Bewegung wird ergänzt durch den Begriff der Repräsentativität: Denn eine Formbildung gilt Simmel nicht nur als Teil eines einheitlichen Ganzen, sondern beansprucht selbst »ein einheitliches in sich geschlossenes Ganzes« zu sein.169 Die Unterscheidung vom Ganzen und seinen Teilen setzt sich also in einem beliebigen Teil selbst fort. Im Zusammenhang seiner Kunstphilosophie verwendet Simmel für diese Konstellation den Begriff der »Doppelstellung«: das Kunstwerk als »um uns und alle Verflechtungen der Realität unbekümmerte Welt« einerseits und als »in unser Leben eingestellt« andererseits.170 Was bedeuten diese beiden Aspekte - die Art der Unterscheidung von und Symbolik siehe auch Georg Simmel: Henri Bergson [1914]. In: G. S.: Zur Philosophie der Kunst (Anm. 164), S. 126-145, bes. S. 143. 166 Simmel: L'art pour l'art (Anm. 164), S. 82. 167 Ebd., S. 80; vgl. auch Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. Hg. von David P. Frisby und Klaus4 Christian Köhnke (Georg Simmel. Gesamtausgabe 6). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 9. Nicht als Urphänomen, aber als ähnliches Konzept wie die Naturphilosophie um 1800 hat Wolfgang Riedel diese Denkbewegung der Lebensphilosophie um 1900 beschrieben, vgl.: »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 7 [241]). Berlin, New York: de Gruyter 1996, hier S. XIII. 168 (In der Reihenfolge der Zitate) Simmel: Philosophie des Geldes (Anm. 167), S. 11, sowie Simmel: Der Konflikt (Anm. 161), S. 183f. 169 Simmel: L'art pour l'art (Anm. 164), S. 80. 170 Ebd., S. 84; ganz ähnlich Theodor W. Adorno mehr als ein halbes Jahrhundert später in: Ästhetische 13Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, z. B. S. 270 (hier auch der Begriff des >principium individuationisLeben< seinerseits jedoch nicht als Form eines vorausliegenden Mediums thematisiert wird, bleibt das >Leben< selbst ungeklärt. Hinzu kommt, daß Formen im Ansatz Simmels nicht ihrerseits als Medien für weitere Formbildungen zur Verfügung stehen, sondern im Moment ihres Absterbens für diese den Platz freimachen. Diese Vorstellung hat für die Beurteilung konkreter Kunststile und Kunstepochen klare Folgen. Denn Kunst, die Kunst zitiert oder imitiert, gilt lediglich als Form, die auf Form - nicht aber auf das Medium >Leben< - Bezug nimmt. Auf dieser Basis läßt Simmel beispielsweise die Geschichte der Plastik mit Michelangelo enden und mit Rodin neu beginnen, weil er Werke der Zwischenzeit als »Epigonenwerk« oder, unter dem Etikett des »Konventionalismus«, als Gegenentwürfe zur »wirkliche[n] Kunst« abwerten kann.171 Abgewertet werden kann andererseits auch dort, wo nach Meinung Simmels erst gar keine Formbildung stattgefunden hat: etwa im Naturalismus, der sein Medium nur abschreibe, oder im Expressionismus, der die »innere Bewegtheit des Künstlers« ganz »unmittelbar« im Werk fortsetzen wolle.172 Da Simmel weder für die Kunst noch für andere Formbildungen spezifische Codes benennt, sondern nur übergreifend in den unterschiedlichsten Bereichen - wie in der Philosophie des Geldes Handlungen von Subjekten nach einer dominierenden Vorgabe ablaufen läßt, bleiben diese Einschätzungen schwer nachvollziehbar. Immerhin reserviert er für die Kunst den Ort der Vergegenständlichung von Harmonie, die, so partiell sie sein mag, uns eine Ahnung und ein Pfand dafür [ist], daß die Elemente des Lebens im allertiefsten Grunde auch ihrer Wirklichkeit doch vielleicht nicht so hoffnungslos gleichgültig auseinanderliegen, wie das Leben selbst uns so oft glauben machen will.173 Unter dem Schlagwort »mehr als Kunst« und »mehr als Künstler« erfährt die eigengesetzliche Formbildung Kunst eine Anbindung an ihr Medium. So bezeichnet Simmel den Künstler erst dann als vollkommen, wenn dieser aus den Tiefen seiner »Persönlichkeit« schöpft; in gleicher Weise bringe es erst derjenige zum »höchsten Grad des Ethischen«, der sich »nach der Rhythmik der ganzen Persönlichkeit irgendwie wert- und kraftvoll« - etwa religiös oder indie - trotz der Gemeinsamkeit der Konzepte - distanzierende Schrift Adornos von Simmel findet sich unter dem Titel: Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: Noten zur Literatur (Gesammelte Schriften 11). Frankfurt/M.: Suhrkamp 31990, S. 556566. 171 Georg Simmel: Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart [1902]. In: Rüdiger Kramme / Angela Rammstedt / Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 92-100, hier S. 92 und 95. 172 Vgl. ebd., S. 95 und Simmel: Der Konflikt (Anm. 161), S. 190. 173 Georg Simmel: Das Problem des Porträts [1918]. In: G. S.: Zur Philosophie der Kunst (Anm. 164), S. 96-109, hier S. 109. 67

tellektuell - verhalte.174 Künstlerisches und ethisches Individuum weisen über den Begriff der >Persönlichkeit< dabei die gleiche entsubstantialisierte, relationale Struktur auf wie ein literarischer Text über den Begriff des >KunstwerksLebens< die Kunst stets wieder mit dem Gesamtpool aller möglichen Formbildungen in Zusammenhang. Dieser Universalbezug schränkt sich auch dadurch nicht ein, daß >möglich< hier das >Je-mögliche< meint: »Nur die einheitliche individuelle Ganzheit meines Lebens kann bestimmen, wie ich mich zu verhalten habe«, behauptet 174 175

Simmel: L'art pour l'art (Anm. 164), S. 82f. und 86. Zur relationalen Konstruktion des entsubstantialisierten Subjekts in der Nachfolge des Deutschen Idealismus, die auch Simmel unternimmt, siehe z. B. (hier mit Blick auf Heidegger) Walter Schulz: Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers. In: Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks. Weinheim: Beltz Athenäum31994, S. 95-139, bes. S. 99-101. Simmels Begriff der >Persönlichkeit< dürfte also mehr eine Spielart bereits gedachter Argumentationsfiguren als einen grundsätzlich neuen Ansatz nach Kant darstellen, wie dies offenbar Ferdinand Fellmann zeigen will, in: Georg Simmels Persönlichkeitsbegriff als Beitrag zur Theorie der Moderne. In: Orth / Holzhey (Hg.): Neukantianismus (Anm. 100), S. 309-325. 176 Simmel: Rodins Plastik (Anm. 171), S. 95. 177 Simmel: L'art pour l'art (Anm. 164), S. 85. Simmels Bewunderung für die Lyrik Stefan Georges und damit einer Form der L'art pour l'art stehe dabei - obwohl Simmel auch hier den Bezug vom Besonderen zum Allgemeinen herzustellen versuche - außerhalb dieses Bezugsrahmens, so Ute Faath: Mehr-als-Kunst. Zur Kunstphilosophie Georg Simmels (Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft 238). Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 230. In Kant und Goethe präzisiert Simmel seine Kant-Interpretation: Kant sehe in dem sittlichen Menschen den Endzweck der Welt, den alleinigen, absoluten Wert. Die Position der Moral sei es deshalb, »allein aus der Welt des Lebens in die transzendente hinaufzureichen, in dem der Mensch im sittlichen Handeln alle sinnlich-empirischen Triebfedern hinter sich läßt.« (Georg Simmel: Kant und Goethe [1906/31916]. In: Michael Behr / Volkhard Krech/ Gert Schmidt (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 119-166, hier S. 156.) Eine präzise Gegenüberstellung zur Erkenntnistheorie Kants und Simmels gibt Antonius M. Bevers: Dynamik der Formen bei Georg Simmel: eine Studie über die methodische und theoretische Einheit eines Gesamtwerkes (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft 13). Berlin: Duncker & Humblot 1985, S. 48-52. 178 Simmel: L'art pour l'art (Anm. 164), S. 85. 68

Simmel 1917, und, bezogen auf die Kunst: »das wirklich nur künstlerische Kriterium ist ein individuelles Gesetz, das aus der Kunstleistung selbst aufsteigt und als ausschließlich ihr eigene ideale Notwendigkeit sie zu beurteilen dient.«179 Das Selbst ist immer ein zu seinem Ganzen relationales: dies meint Simmel, wenn er in seinem Aufsatz zur Gesetzmäßigkeit des Kunstwerks es als den legitimen »Anspruch« der Kunst bezeichnet, »nur aus sich selbst, als Kunst, nicht von einem Außerhalb her, verstanden und beurteilt zu werden«.180 Simmel selbst, nicht als Wissenschaftler sondern als Philosoph im oben erklärten Sinne, glaubt mit seinen Studien diesem Anspruch gerecht werden zu können. Als die jeweiligen Normen aus dem Inneren erkennt er zum Beispiel die symmetrische Anordnung der Elemente im Kunstwerk als »Bild« des einheitlichen Zusammenhangs der Elemente im wirklichen Sein, die Gesellschaftsbezogenheit des Individuums oder die genuine, vor jeder Beobachtung bzw. vor jedem Tausch bereits feststehende Qualität eines Gegenstandes.181 Weil er sich bewußt ist, daß Erkenntnis - auch die eigene - nur eine von vielen Formen ist, worin der Inhalt der Wirklichkeit Gestalt annehmen kann, und daß Wirklichkeit erst mittels der formgebenden Aktivitäten eines erkennenden Subjekts ebenso wie ein Kunstwerk erst durch einen formgebenden Künstler entsteht, muß Simmel als jener Beobachter, der die Dinge >richtig< zu erfassen weiß, seinen Standpunkt durch ein absolutes Theorieelement abschließen. Der Begriff der Intuition aus der Lebensphilosophie Henri Bergsons, die Vorstellung intuitiven Erlebens und Erfahrens vor jeder weiteren Formgebung, kommt ihm hier zu Hilfe.182 Die Intuition als »metaphysische Mitseinsschaft«183 ermöglicht die für Simmels Konzept notwendige Differenz von Bezeichnen und Unterscheiden: Intuition hält sich von jeder formgebenden Unterscheidung fern und sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Nur über diesen Theoriebaustein, der die Position eines Dritten schafft, wird auch Simmels Begriff der Repräsentativität gerechtfertigt. Eine Ähnlichkeit zwischen dem Gesamtzusammenhang und einem Teil dessen läßt sich (ebenso wie die Beobachtung einer Unähnlichkeit) schließlich nur außerhalb des Ganzen konstatieren. 179

Georg Simmel: Gesetzmäßigkeit im Kunstwerk. In: Logos 7 (1917/18), S. 213-223, hier S. 217 und 218 (Hervorhebung im Original). 180 Ebd., S. 218. 181 Zur Kunst vgl. ebd., S. 222 (als normierende Gesetze der Kunst nennt Simmel z. B. die »Gleichheit und Symmetrie der Teile«, die »Einheit des Größenmaßes« oder den »angemessene[n] Wechsel der Stimmung«). Vgl. auch Georg Simmel: Über ästhetische Quantitäten [1903]. In: Kramme / Rammstedt / Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe 7 (Anm. 171), S. 184-189, Zitat S. 189 (Hervorhebung im Original); zum Gegenstand >an sich< vgl. Simmel: Philosophie des Geldes (Anm. 167), S. 538f. 182 Vgl. Bevers: Dynamik (Anm. 177), S. 62, sowie - deutlich kritischer - HansJoachim Lieber / Peter Furth: Zur Dialektik der Simmelschen Konzeption einer formalen Soziologie. In: Kurt Gassen / Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Berlin: Duncker & Humblot 1958, S. 39-59, bes. S. 42-46. 183 Simmel: Henri Bergson (Anm. 165), S. 142f. 69

Simmel selbst hat einen Metablick dieser Art auch als einen >ästhetischen< Blick bezeichnet. Das »Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung« bestehe darin, faßt er 1898 in seinem Essay Soziologische Ästhetik zusammen, »daß in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Aeusserlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten.«184 Nicht etwa wie oder ob, sondern daß sich im Einzelnen etwas anderes offenbart, steht dabei im Zentrum der Theorie. Zwar ermöglicht Simmel mit dieser Begriffserweiterung ästhetische Perspektiven auf Kunst ebenso wie auf die menschliche Persönlichkeit oder auch auf Gebrauchsgegenstände: Die Studie Der Henkel. Ein ästhetischer Versuch macht diese Wende deutlich.185 Ausgenommen bleiben jedoch Formbildungen, die laut Simmel nicht mehr auf etwas Allgemeines verweisen: beispielsweise das Geld oder Gold und Silber in ihrer Funktion als Geld.186 Außerdem führt die Erweiterung des Begriffs >Ästhetik< nicht zu einer Verfügbarkeit des Qualitätsmerkmals >Kunst< für alle Phänomene des Lebens und, darauf aufbauend, zu einer funktionalen Betrachtung dessen, was Kunst genannt wird. Kunst geschieht nur dort, wo jenes Grundverhältnis vom Ganzen und seinen Teilen in Höchst- und Reinform vorliegt, wo der metaphysische Ganzheitsbegriff unter dem Etikett der Repräsentativität in den Werkbegriff und dessen Bestandteile Form / Inhalt hineinkopiert ist.187 Zwar wird die Ästhetik zum Grundgesetz von Darstellung und intuitiver Erfahrung erklärt; allerdings geht Simmel keineswegs von einer »ästhetische[n] Gleichwerthigkeit der Objekte« aus.188 184

Georg Simmel: Soziologische Ästhetik [1896]. In: Heinz-Jürgen Dahme/David P. Frisby (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe 5. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 197-214, hier S. 198. Damit wird >ästhetisch< bei Simmel gleichbedeutend mit >pnilosophischLebenÄsthetik< im Sinne Simmels vermag diese Formen dann in ihrem Ganzheitsbezug zu beschreiben, kann jedoch Neubildungen von Formen sowie Formen, die nur auf Formen zurückgreifen, nicht integrieren.192

3.5 Universal per definitionem: >katholische< Ästhetik Simmel wurde in den Ansätzen katholischen Philosophierens ebenso wie die meisten anderen der genannten Ästhetiker kaum rezipiert. Eine prominente und in der Forschung aufgearbeitete Ausnahme dürfte die Auseinandersetzung zwischen dem Jesuiten Erich Wasmann und Ernst Haeckel 1907 gewesen sein, wobei hier ebenso wie in anderen Diskussionen zwischen Monismusbewegung nossen Simmels offenbar ein ernsthaftes Problem dar; Emil Utitz sieht beispielsweise die »Sicherheit des eigenen Kunstverhaltens« gefährdet, in: Georg Simmel und die Philosophie der Kunst. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1919), S. l^tl.S. 5. 189 Vgl. Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt: Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern, München: Francke 1984, S. 388. 190 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Die Lebensphilosophie (Verständliche Wissenschaft 70). Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1958, S. 4 und 12; damit stelle der Lebensbegriff um 1900 ein ideengeschichtliches Äquivalent zum Naturbegriff um 1800 dar, so Riedel in: »Homo natura« (Anm. 167), S. XIII. 191 Der Begriff des individuellen Gesetzes< wird von Simmel ursprünglich in moralphilosophischer Absicht entwickelt, vgl. Niehues-Pröbsting: Das individuelle Gesetz< (Anm. 184), S. 106, also in einem philosophischen Zusammenhang, der in hohem Maße auf die Trennung von Subjekt und Objekt (Nicht und Nicht-Ich) angewiesen ist. 192 Das Problem des Dritten hat Simmel wohl auch mehr als empirischen Soziologen denn als Philosophen interessiert, vgl. hierzu den Beitrag (mit Diskussion) von Julien Freund: Der Dritte in Simmels Soziologie. In: Böhringer / Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie (Anm. 162), S. 90-101. 71

und katholischer Orthodoxie nicht direkt die Ästhetik, sondern die VorrangSchaft in Religion und Weltanschauung den eigentlichen Streitpunkt darstellte.193 Seit der Enzyklika Aeterni Patris des Papstes Leo XIII. von 1879 stehen die Argumente und Referenztexte katholischer Theologie bzw. Philosophie fester als je zuvor. Der darin durchgesetzte Neuthomismus194 verhindert eine genauere Auseinandersetzung mit den als nicht katholisch definierten Ansätzen; die eigenen Grundsätze sollen »auf der ganzen Linie, [...] im kirchlichen, staatlichen und socialen Leben, sowie auf dem wissenschaftlichen Gebiete« verteidigt und dargelegt werden.195 Außerhalb des offiziellen katholischen Denkens findet der Kontakt mit dem >Anderen< dennoch statt, motiviert durch den Versuch, Kirche und Katholizismus gegenüber moderner Kultur, moderner Bildung und moderner Wissenschaft zu öffnen. Das Programm ist vielseitig es reicht vom politischen Linkskatholizismus bis zum literarischen Erneuerungsprogramm Karl Muths -, erscheint insgesamt jedoch als zu >modernNeuthomismus< gilt im engeren Rahmen als die vorherrschende Form der Neuscholastik nach 1879; die zeitgenössischen Autoren selbst unterscheiden hier jedoch weniger exakt, so daß >NeuscholastikNeuthomismus< oder >neuthomistische Scholastik< im folgenden synonym und im Sinne einer philosophia bzw. theologia perennis, d. h. einer über den Zufällen der Zeit stehenden und von ihnen unabhängigen Philosophie bzw. Theologie, gebraucht werden, vgl. Karl Heinz Neufeld: Jesuitentheologie im 19. und 20. Jahrhundert. In: Sievernich / Switek (Hg.): Ignatianisch (Anm. 193), S. 425^43, bes. S. 431^32. 195 Aus der Vorrede zum ersten Heft der katholischen Monatsschrift Stimmen aus Maria-Laach, (1871, Freiburg: Herder), die diese Universalausrichtung des Neuthomismus im eigenen Programm widerspiegelt: Kirchengeschichte und Dogmen sind ebenso wie Strafrecht, Biologie oder Gehimforschung Themen der Artikel. 196 Vgl. Michael Klöcker: Emeuerungsbewegungen im römischen Katholizismus. In: Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal: Hammer 1998, S. 565-580, bes. S. 570f., sowie Heinz Hurten: Karl Muths Hochland in der Vorkriegszeit - oder der Preis der Integration. In: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitäsbildung 1850-1918 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 59). Tübingen: Niemeyer 1996, S. 133-146, bes. S. 135; ebenso 72

gration aller gesellschaftlichen Teilbereiche in den übergeordneten Glauben einerseits und das Bewußtsein über die Existenz eines >Außen< des eigenen Systems, mit dessen Hilfe die Öffnung gegenüber anderen Ansätzen überhaupt denkbar wird, andererseits, stehen sich gegenüber. Die neuscholastische Philosophiegeschichtsschreibung registriert die unter den Etiketten >Modernismus< oder >Reformkatholizismus< zusammengefaßten Richtungen als Störung und stellt sie in die Reihe ihrer Kritiker aus neuerer Zeit. So tritt der >Modernismus< die Nachfolge des >Kantismus< an: Doch verschwommener als der Kantismus legt der Modemismus nicht mehr in den strengen und gebieterischen kategorischen Imperativ die Norm der Gewißheit, sondern in etwas viel Schwankenderes, viel Nebelhafteres, Willkürlicheres: in die inneren Triebe des ganzen physischen Lebens: Gedanken, Wollungen, Wünsche; in die unbewußten Neigungen: das Heimweh nach dem Übernatürlichen und das Bedürfnis des Absoluten; kurz, in eine Menge unfaßbarer Dinge, die den Papst zu dem Ausspruch veranlaßt haben, die Modemisten hielten sich selbst für das alleinige Kriterium der Wahrheit.197 Die eigentlichen Konkurrenten ihrer Philosophie sieht die neuscholastische Literatur offiziell allerdings nicht in Kantismus oder Modernismus, sondern in weitaus älteren Denkansätzen. Sie zehrt von ihrem dogmatischen Sieg über Augustinismus und Nominalismus im ausgehenden Mittelalter und rechtfertigt davon ausgehend Entscheidungen des 19. Jahrhunderts. Päpstliche Weisungen werden gebilligt, weil sie auf Grundsätzen fußen, die »nach sechshundertjähriger Prüfung und Erprobung« als wahr befunden werden können.198 Ebenso traditionsbewußt richtet sich die philosophische Terminologie nach den mittelalterlichen Begriffen. So gilt beispielsweise Franz Ehrle S. J. der >Realismus< nicht als positivistische oder materialistische Absage an ein übergeordnetes, göttliches Weltprinzip, wie es das zeitgenössische Philosophieverständnis nahelegen könnte, sondern als Sieg der Objektivität und Inbegriff »jeglicher philosophischen Betätigung« überhaupt - ein Verständnis, das den Realismus in der Differenz zum Nominalismus verhaftet sieht.199 Darüberhinaus schlägt sich die Treue zur Tradition in den zahlreichen lateinischen Quellentexten nieder, die als Beleg für die eigene Argumentation herangezogen werden. Lediglich

hierzu Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch.. Deutschland 1870-1914. München: C. H. Beck 1988, S. 32-38. 197 Karl Sentroul: Was ist Neu-scholastische Philosophie? Münster: Theissingsche Buchhandlung 1909, S. 28. 198 Franz Ehrle: Grundsätzliches zur Charakteristik der neueren und neuesten Scholastik (Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit. Erste Reihe: Kulturfragen, 6). Freiburg: Herder'sche Verlagshandlung 1918, S. 27; gemeint sind die päpstlichen Schreiben Leos XIII. (1879) zum philosophischen und theologischen Unterricht an katholischen Schulen, der auf der Basis eines verbindlichen Textbuches zur Scholastik erfolgen soll. 199 Ebd., S. 25. 73

Grundrisse oder Handbücher für Schulen und den Selbstunterricht verzichten auf diese Verweise.200 Im Unterschied zu neuscholastischen Ansätzen vor 1879, wie sie in erster Linie die >Römische Schule< der Gesellschaft Jesu verfolgt, berücksichtigt der Neuthomismus nach 1879 kaum die historische Bedingtheit theologischer und philosophischer Schriften. Die geschichtliche Forschung wird an den Rand verwiesen, ihr Status ist »der eines Antiquars, aus dessen Arsenal Illustrationen, Beispiele und Bestätigungen zu entnehmen sind, wie es gerade gefällt.« Geschichte dient der Entlarvung von Irrtümern, und dies geschieht mit den Werkzeugen stets gültiger Sätze der philosophia perennis. Historic und Dogmatik, früher scharf getrennt, vermischen sich. Als >historisch< bzw. relativ erscheint nur jene Philosophie, die vor Thomas von Aquin bzw. seiner Renaissance in der Neuscholastik betrieben wird.201 Im Denken Thomas von Aquins, so die Neuscholastik, vollziehe sich die Synthese der beiden einzigen gesicherten Quellen: zum einen die christliche Offenbarung, zum anderen die aristotelische Philosophie. Freilich sei der Grundstein zu dieser »gesunde[n] und vernunftgemäße[n] Philosophie« bereits seit Gottes Menschwerdung gelegt: Durch die Predigt des Heilandes und das Lehramt seiner Kirche, welche seine Heilsbotschaft bis an die Grenzen der Welt und der Zeiten tragen soll, trat zu dem durch die rein natürliche Denkkraft erarbeiteten philosophischen Wissensschatz die christliche Offenbarung mit ihrem Überreichen Maß naturlicher und Übernatürlicher Erkenntnisse. Diese Offenbarung bedeutet nicht nur die Erschließung der Übernatürlichen, unserem Geiste unzugänglichen Welt, sondern auch eine Erleuchtung und Vervollkommnung der Welt der natürlichen, unserer Vernunft einigermaßen zugänglichen Wahrheiten.202

Die Offenbarung Gottes reicht weiter als die Philosophie des Menschen. Dementsprechend ergänzen sich die beiden Komponenten nicht nur, sondern die Philosophie steht zur Offenbarung in einem AbhängigkeitsVerhältnis. Zwar gilt: was die Vernunft als wahr erkennt, ist notwendig wahr. Andererseits kann die Offenbarung nur Wahrheit enthalten - deshalb könne »ein rechtmäßiges Ergebnis der Philosophie niemals einer Offenbarungslehre widersprechen; denn Wahrheit kann Wahrheit nicht widerstreiten.«203 Um an dieser Stelle keinen di200

Siehe hierzu die beiden Ästhetiken des Jesuiten Gerhard Gietmanns, die unterschiedliche Ziele verfolgen: (1) Grundriß der Stilistik, Poetik und Ästhetik. Für Schulen und zum Selbstunterricht. Freiburg: Herder* sehe Verlagsbuchhandlung 1897, (2) Allgemeine Ästhetik (G. G. / Johannes Sörensen [Hg.]: Kunstlehre in fünf Teilen 1). Freiburg: Herder'sche Verlagsbuchhandlung 1899; letztere formuliert weniger dogmatisch ihre Lehrsätze, enthält jedoch zahlreiche lateinische Zitate (Thomas von Aquins) und Literaturhinweise. 201 Vgl. Neufeld: Jesuitentheologie (Anm. 194), S. 430f. (Zitat S. 432); zur lediglich dogmatischen Gliederung vgl. z. B. den Abschnitt zu Geschichte und System der Ästhetik bei Gietmann: Allgemeine Ästhetik (Anm. 200), S. 19-36; zu Wahrheit und Irrtum vgl. Sentroul: Was ist Neu-scholastische Philosophie (Anm. 197), S. 21. 202 Ehrle: Grundsätzliches (Anm. 198), S. 3f. 203 Alfons Lehmen: Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage zum Gebrauch an höheren Lehranstalten und zum Selbstunterricht. Band l: Lo74

alektischen Weg einschlagen oder aber im Widerspruch verharren zu müssen, löst die hierarchische Organisationsform des Katholizismus das Problem: Das kirchliche Lehramt, von Gott zum Schütze und zur Auslegung seiner Offenbarung eingesetzt, könne rechtmäßig eine philosophische Meinung verurteilen, »falls diese im Widerspruch mit einer geoffenbarten Lehre steht oder zu einem solchen Widerspruch folgerichtig hinfährt.«204 Auch die Ästhetik gehört zum System der Philosophie und damit zu jenen Themenbereichen, innerhalb derer eine philosophische Meinung geäußert werden kann. Weil die Neuscholastik auf die Überlegungen Kants und Hegels zu verzichten versucht, weist sie ihr zwar, wie noch näher gezeigt werden soll, einen anderen Platz zu. Dennoch gilt die Ästhetik als Disziplin, die sich auf ihr Verhältnis zur geoffenbarten Lehre prüfen lassen muß. Gerhard Gietmanns Allgemeine Ästhetik (1899) sowie sein Kompendium Grundriß der Stilistik, Poetik und Ästhetik (1897) sollen im folgenden als Beispiele eines solchen Denkansatzes näher betrachtet und an einigen Stellen mit Joseph Jungmanns Überlegungen zum System der Ästhetik kontrastiert werden. Beide Autoren sind Jesuiten und als solche ebenso beauftragt wie befähigt, theologische und philosophische Arbeit innerhalb der katholischen Kirche zu leisten.205 Diesen Texten gegenübergestellt wird die reformkatholische Ästhetik Karl Muths. Anders als die Neuscholastik referiert Muth immer wieder, wenn auch betont kritisch, auf Überlegungen des deutschen Idealismus. Worin unterscheiden sich außerdem diese beiden katholischen Ästhetikansätze?206

gik, Kritik, Ontotogie. Hg. von Karl Frick. Freiburg: Herder & Co. G.m.b.H. Verlagsbuchhandlung 1923, S. 7 (Hervorhebung im Original). 204 Ebd. (Hervorhebung im Original). 205 Daran hat sich seit der Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu für die Kirche 1814 nichts geändert, vgl. Neufeld: Jesuitentheologie (Anm. 194), S. 426. Zu den genannten Texten siehe Anm. 194; außerdem Joseph Jungmann: Aesthetik. Erster Band: Die ästhetischen Grundbegriffe. Zweiter Band: Die schönen Künste. Freiburg: Herder'sche Verlagshandlung 31886 (21884; '1865, unter dem Titel Die Schönheit und die schöne Kunst), sowie J. J.: Das Gemüth, und das Gefuhlsvermögen der neu2 eren Psychologie. Freiburg: Herder'sche Verlagsbuchhandlung 1885. 206 Die neuere katholisch-orthodoxe Forschung benennt diesen Unterschied freilich anders und folgt der bereits erwähnten Differenz von Aristotelismus / Thomismus und Platonismus / Augustinismus. Muths Ansatz mußte mit der Neuscholastik Jungmanns oder Gietmanns grundsätzlich in eine gewisse Konfrontation geraten, so z. B. Vincent Beming, weil er eine deutlich ausgeprägte Vorliebe für die platonischaugustinische Theorie des Schöpferisch-Spirituellen zeigte, in: Geistig-kulturelle Neubesinnung im deutschen Katholizismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Anton Rauscher (Hg.): Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800. Paderbom u. a.: Schöningh 1986, S. 47-98, hier S. 67. 75

3.5.1 Kompetenz aus Tradition: Neuscholastische Ansätze Neuscholastik und Systemphilosophie lassen sich nicht voneinander trennen. Was aber heißt in der Neuscholastik System? Einen Verweis auf die Dreiheit von Logik, Ethik und Ästhetik, von Denken, Wollen und Können oder auch von theoretischer sowie praktischer Vernunft und Urteilskraft sucht man vergeblich. Das neuscholastische System beschränkt sich auf zwei Komponenten: das Erkenntnisvermögen und das Begehrungs- oder Strebevermögen. Die zahlreichen »trichotomistischefn]« Systeme von Kant bis Hegel hält Jungmann für einen »argen philosophischen Mißgriff« und eine »folgenschwere Verwirrung«; Gietmann bemerkt, daß die Ästhetik seit ihrer Etablierung als philosophischer Wissenschaft ihr Haupt vielleicht allzu stolz getragen und vornehm über die bereits gesicherten Erkenntnisse griechischer und mittelalterlicher Denker hinweggesehen habe.207 Seine weiterführenden Literaturhinweise im Grundriß der Stilistik, Poetik und Ästhetik zu Begriff und System der Ästhetik beschränken sich deshalb auf die katholischen Philosophen Joseph Jungmann, Albert Stock!, Joseph Dippel, Martin Deutinger208 und Anton Kirstein. Die einzigen »Ästhetiken nichtkatholischer Verfasser«, die Gietmann guten Gewissens empfehlen kann, sind jene von Friedrich Theodor Vischer (die »ausführlichste«), Eduard von Hartmann (die »genaueste«) und Max Schasler (»ganz brauchbar«).209 Texte formalästhetischer Provenienz finden, anders als im Umkreis Karl Muths, keine Erwähnung. Gietmanns Rezeption von Hartmann liegt unter anderem darin begründet, daß dieser in seinem Forschungsüberblick zur Ästhetik als einziger und wohlwollend auf Deutinger eingeht - ein Schritt, der von katholischen Philosophen sofort registriert wird.210 Die durch Kant und seine dritte Kritik eröffnete Konzeption einer Autonomieästhetik verwirft Gietmann ebenso wie Jungmann. So liegen die Unterschiede der neuscholastischen Ästhetikkonzepte nicht in der entsprechend ak207

Jungmann: Das Gemüth (Anm. 205), S. 5; vgl. Gietmann: Allgemeine Ästhetik (Anm. 200), S. 7. 208 Die Stellung des Neuthomismus zu Deutinger ist zweispaltig: als katholischer Philosoph wird er geschätzt, als katholischer Philosoph des Idealismus eher abgelehnt; Muth u. a. loben die Arbeit Deutingers dagegen meist vorbehaltlos. 209 Gietmann: Grundriß (Anm. 200), S. 244. Neben dieser (Verkaufs-)Förderung neuerer katholischer Philosophie durch gezielte Literaturhinweise bemühen sich Jesuiten und katholische Verleger auch um Neuausgaben scholastischer Klassiker. Franz Ehrle glaubt aufgrund von Zahlen aus dem antiquarischen Markt große Nachfrage erkennen zu können: Exemplare aus aufgelösten Privatbibliotheken würden schnell gekauft, die Preise stiegen, momentan bestehe noch Hoffnung auf Doubletten aus Gemeindebibliotheken (Die Scholastik auf dem antiquarischen Büchermarkte. In: Zeitschrift fiir katholische Theologie 9 [1885], S. 178-185). 210 Vgl. Ettlinger: Die Ästhetik Martin Deutingers (Anm. 40), S. 3 (Verweis auf Robert Zimmermanns Ästhetik von 1885, genannt werden außerdem Hermann Lotze, Schasler und Hartmann) und S. 5 (zu Hartmann). Allerdings kritisiert Ettlinger an Hartmanns Vorgehen, daß dieser Deutingers >»katholische Grundtendenz< als möglichst belanglos für sein ästhetisches Denken« hingestellt habe. 76

zentuierten Synthesenbildung von Denken und Wollen im Können - der Kunst -, sondern in der systematischen Zuordnung der Kunst bzw. Schönheit zur Erkenntnis oder aber zum Begehren. Während Gietmann primär den Erkenntnisbezug sieht, entscheidet sich Jungmann für das Begehren - allerdings wägen beide ihre Thesen so differenziert ab, daß sie letzten Endes doch ein Sowohl/Als auch konstatieren müssen.211 Dabei verhindert diese von anderen Ansätzen um 1900 stark abweichende systemphilosophische Basis nicht, daß im neuscholastischen Diskurs >Ästhetiken< verfaßt und unter diesem Titel veröffentlicht werden. Im Gegenteil: die aus der protestantischen Philosophie bekannte Begrifflichkeit wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts offenbar immer wichtiger. So erscheint die Erstauflage der Aesthetik Jungmanns 1865 noch unter dem Titel Die Schönheit und die schöne Kunst, erst die zweite Auflage 1884 trägt, wie die folgenden Auflagen auch, den Titel einer >Ästhetikverhält< sich die Kunst, die den Gegenstand als Objekt bzw. Inhalt ihrer anschließenden künstlerischen Behandlung nimmt. Überträgt man diese Vorstellung auf ein semiotisches Dreieck, wie es etwa Alfons Lehmen in seinem Lehrbuch der Philosophie auf aristotelischscholastischer Grundlage versucht, könnte sich mit Rückgriff auf Thomas von Aquin folgender Satz ergeben: »ZEICHEN ist alles, was etwas von ihm Verschiedenes der Erkenntniskraft kundmacht. Wir haben demnach,« erläutert Lehmen diese Definition, »beim Zeichen ein Dreifaches zu beachten, nämlich die Erkenntniskraft, den zu erkennenden Gegenstand und das Mittel, das die Fähigkeit mit dem Erkenntnisgegenstand in Verbindung setzt.« Auch wenn der Gedankengang beim Zeichen als mittlerer Komponente ansetzt, bleibt die treibende Kraft dieses Zeichenprozesses der Gegenstand selbst: Jede Wirkung, so Lehmen, gelte schließlich als Zeichen ihrer Ursache, eben in der Weise, wie zum Beispiel die Geschöpfe als Zeichen Gottes gelten: sie sind »Mittel [...], durch die unsre Vernunft Kenntnis von Gott erhält.«219 Die Semiose wird, in gleicher Weise wie bereits bei Aristoteles, als statische und eigentlich hierarchische Reihe von ihrer ursprünglichen Ursache her motiviert.220 Das Subjekt, auch >Erkenntniskraft< genannt, spielt im Zusammenhang von Zeichen und Gegenstand eine Statistenrolle. Erkenntnis nennt sich nur der Blick, der die Dinge »sub specie creationis« betrachtet,221 der etwa den Men217 218

Ebd., S. 287. Vgl. Thomas von Aquin: Über das Sein und das Wesen [1252/53]. Deutschlateinische Ausgabe, übersetzt und erläutert von Rudolf Allers. Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 19f. Das Kunstwerk kommt also einer zusammengesetzten Substanz gleich, entsteht als Drittes aus zwei Dingen, vgl. ebd., S. 29f. 219 Lehmen: Lehrbuch (Anm. 203), S. 25f. (Hervorhebungen im Original). 220 Vgl. zur Semiotik von Aristoteles zusammenfassend Hans-Heinrich Lieb: Das >semiotische Dreieck< bei Ogden und Richards: eine Neufprmulierung des Zeichenmodells von Aristoteles. In: Jürgen Trabant (Hg.): Geschichte der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft (Logos Semantikos 1). Berlin, New York, Madrid: de Gruyter / Editorial Credos 1981, S. 137-156, sowie Hermann Weidemann: Grundzüge der Aristotelischen Sprachtheorie. In: Peter Schmitter (Hg.): Sprachtheorien der abendländischen Antike (Geschichte der Sprachtheorie 2). Tübingen: Gunter Narr 1991, S. 170-192. 221 Ein Grundgedanke der philosophia perennis, jüngst reformuliert von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer 79

sehen, insofern er Mensch ist, unter den Merkmalen der »Vernünftigkeit und der Lebendigkeit«, nicht aber unter Merkmalen »wie weiß oder schwarz« thematisiert - denn letztere, so Thomas von Aquin, gehörten nicht »zum Sinngehalt von Menschhaftigkeit«.222 Thomas von Aquin ebenso wie Aristoteles sehen für eine Stärkung des Subjekts in dessen Rolle als Beobachter bzw. Rezipient keinen Anlaß. Richard von Kralik, Redakteur des Gral und der Neuscholastik im Gegensatz zur Karl Muth durchaus gewogen, relativiert die Tradition in diesem Punkt leicht. Zwar muß auch bei ihm die Beziehung zwischen Zeichen und Objekt nicht erst hergestellt werden, sondern wird als bereits bestehende vom Betrachter erkannt. Allerdings betont er, daß »wir Neueren« im Unterschied zu Aristoteles, der eben keine erkenntnistheoretische Umwälzung der Philosophie durchgemacht habe, die Subjektivität des Erkenntnisaktes berücksichtigen müßten. Kunst definiert er deshalb nicht als Nachahmung der Natur, sondern als Nachahmung unserer Eindrücke von der Natur: eine Überlegung, die ihn anschließend in vertraute Problematiken nicht-katholischer Philosophie wie etwa die Frage nach dem wahren Eindruck eines transzendentalen Subjekts führen wird.223 Die Neuscholastik beharrt an der Stelle von Subjekt und Erkenntniskraft auf der Autorität des priesterlichen Lehramts. Einem katholischen Laien-Akademiker wie Karl Muth - Publizist, seit 1903 Herausgeber des Hochland - fehlt bei der Formulierung ästhetischer Grundbegriffe diese Autorität. Die Bestimmtheit des eigenen Auftretens beeinflußt das allerdings keineswegs. Muths Verständnis von Kunst, Glaube und Autorität unterscheidet sich in mehreren Punkten von der neuscholastischen Auffassung, die sich zuvor als universal gültige Semantik eines homogenen katholischen Milieus inszenieren konnte. Die Basis dieser Alternativsemantik wird nicht zuletzt durch das veränderte Selbstverständnis katholischer Gebildeter seit 1900 ermöglicht. Dieter Langewiesche hat das am Beispiel des Akademischen Bonifatius-Vereins verdeutlicht: »Der Gebildete beanspruchte eine Führungsposition im Katholizismus, ohne die Kirche als oberste Autorität in Glaubensfragen anzuzweifeln.« Dies schließt auch den Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 49. 222 Thomas von Aquin: Über das Sein (Anm. 218), S. 37. 223 Kralik formuliert diese Gedanken in seinem Buch Die ästhetischen und historischen Grundlagen der modernen Kunst (1904), das drei Vorträge zum Thema zusammenfaßt; die zitierten Überlegungen stammen aus der Rezension von Josef Popp: Die ästhetischen und historischen Grundlagen der modernen Kunst. In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 1,2 (1904), S. 472477, bes. S. 473. - Auf die Auseinandersetzung zwischen Muths Hochland und Richard von Kraliks bzw. Franz Eicherts Gral, dem umgekehrt auch die Jesuiten wohlwollend gegenüberstehen und dessen Redaktion später auch in jesuitischer Hand liegt (Friedrich Muckermann), wird nicht detailliert eingegangen, siehe hierzu Jutta Osinski: Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert. Paderbom u. a.: Schöningh 1993, S. 373-380, auch Berning: Geistig-kulturelle Neubesinnung (Anm. 206), S. 69ff. 80

Versuch ein, den Gebildeten - nach dem Vorbild des protestantischen Bildungsbürgers - »in seiner Bedeutung für den gesamten Katholizismus neben oder gar vor den Priester zu stellen.«224 In diesem Sinne würde der >gesamte< Katholizismus als milieutheoretische, ganze Individuen integrierende Kategorie funktional aufgespalten: dem Priester bliebe die Autorität in Glaubensfragen als Teilbereich aller möglichen Lebensfragen. Der katholische Gebildete würde analog zu seinem protestantischen Verwandten die Universalintegration des >gesamten< Katholizismus übernehmen. Läßt sich eine solche Interpretation bei Muth und seinem Begriff des >Katholischen< nachvollziehen?

3.5.2

Die Nivellierung des Spezifischen bei Karl Muth

Karl Muths Ästhetik ist in erster Linie eine Entstehungs- und Wirkungstheorie von Kunst bzw. Literatur. Diese Denkrichtung legt den Ausgangs- und Endpunkt seiner Schriften, in der Veremundus-Schrift von 1898 ebenso wie zum Beispiel in seiner »poetologische[n] Hauptschrift«225 über Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis von 1909, eindeutig fest: Muth geht es um den Menschen und die Gesellschaft. Überlegungen zum Kunstwerk als autonomen Gebilde schließen sich daran an, werden aber immer rückbezogen auf den Künstler oder Rezipienten. Das bisherige ästhetische Denken, so Muths Kritik am Idealismus Kants und am Empirismus des 18. Jahrhunderts, gehe immer am konkreten Menschen - seiner leiblich-geistigen Natur - vorbei: wäh224

Dieter Langewiesche: Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland. In: Huber / Lauer (Hg.): Bildung und Konfession (Anm. 196), S. 107-132, hier S. 118 (Hervorhebung M. S.) und 119. Die Deutungsmacht liegt allerdings nach wie vor bei neuscholastischen Philosophen und dem Organ Stimmen aus Maria-Laach (später Stimmen der Zeit); Hochland und Gral bilden kleinere Lektüregemeinden, die erstere auch interkonfessionell, aus, vgl. Josef Brunner: Die Literaturkritik in den Historischpolitischen Blättern 1838-1923. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses der deutschen Katholiken zur nationalen Kultur (Freiburger Forschungen zur Kunstund Literaturgeschichte 3). Ohlau i. Schlesien: Dr. Hermann Eschenhagen KG 1935, hier S. 106f. 225 Osinski: Katholizismus (Anm. 223), S. 340. Für die folgenden Überlegungen sind v. a. relevant: Veremundus [i. e. Karl Muth]: Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage. Mainz: Franz Kirchheim 1898, sowie die Duplik, diesmal unter dem Namen Karl Muth: Die litterarischen Aufgaben der deutschen Katholiken. Gedanken über katholische Belletristik und litterarische Kritik, zugleich eine Antwort an seine Kritiker. Mainz: Franz Kirchheim 1899; außerdem Karl Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. Kempten, München: Jos. Kösel'sche Buchhandlung 1909, sowie Muths theoretisch anspruchsvolle Schrift, die sich auch länger mit der Ästhetik Martin Deutingers auseinandersetzt: Religion, Kunst und Poesie. In: Festschrift Georg von Hertling zum siebzigsten Geburtstag am 31. August 1913 dargebracht von der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im kath. Deutschland. Kempten, München: Jos. Kösel'sche Buchhandlung 1913, S. 403-414. 81

rend der Idealismus lediglich bei Begriffen und Schönheitsidealen seinen Ausgangspunkt nehme, beziehe der Empirismus seine Motivation nur aus der sinnlichen Erfahrung.226 Daran scheitert nach Muth auch der »konkret formulierte Idealismus« des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Hegels: Dieser formuliere zwar objektive Prinzipien und lasse das Wahre, Schöne und Gute als »absolute fyyj Realitäten« gelten; dennoch bewege er sich immer noch »viel zu einseitig in den Bahnen logischer und dialektischer Gedankenoperationen«: »Er blieb im Grunde ein Gedankending, dem gegenüber das individuelle, persönliche Leben zu nichts verpflichtet war, weil jenen Kategorien der substantielle Persönlichkeitscharakter abging.«228 Muths Ästhetik, die über den Vermittlungsversuch der Hegeischen Dialektik zugunsten einer stärkeren Hinwendung zum Menschen hinausgehen will, muß zunächst eine anthropologische Basis schaffen. Was also versteht Muth unter dem »substantielle[n] Persönlichkeitscharakter«? Den bereits erwähnten Gegensatz von Geist und Leib setzt er dem Begriffspaar Geist / Natur und Freiheit/Bestimmtheit gleich. »Der Mensch ist [...] keine widerspruchslose Einheit«; er ist eine »Doppelnatur«. Als Persönlichkeit bezeichnet Muth nur jenen Menschen, der sich dieser Doppelnatur bewußt geworden ist. Diese Bewußtwerdung vollzieht sich in einer dialektischen Gedankenfigur. Sie beschreibt die Möglichkeitserfahrung des Einzelnen, seine innere Natur - durch Denken, Können oder Wollen und somit zielgerichtet auf die Idee des Wahren, Schönen oder Guten - zu überwinden. »Echte Dichter« und Künstler müssen »charaktervolle Persönlichkeiten« sein; ihre Möglichkeitserfahrungen übertragen sich auf ihre Werke. Mit ihnen begründen sie ein »Reich der Freiheit [...], in dem das innere Gesetz der Harmonie waltet«. Ihr Blick »auf das Wesen der Dinge, auf das Ursprüngliche und Göttliche« dehnt sich über das Kunstwerk als Medium auf den Betrachter aus.230 Dieses anthropologische Grundverständnis führt Muth zu einer idealistischen Definition von Kunst: AMQ

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Das Wesen aller Kunst besteht (objektiv) in der sinnlich-schönen und wahren Wiedergabe eines mit geistigem Wohlgefallen innerlich erschauten, d. h. übersinnlichen Ideals. Ihr nächster und unmittelbarer Zweck ist daher die Darstellung des Schönen, das Schöne begriffen als die Harmonie des Geistigen und Sinnlichen aller Teile in einer höheren Einheit. Dir Inhalt ist demgemäß immer ein Geistiges, Ideelles, das, weil ihm sinnliche Anschauung zu Grunde liegt, auch nur in der Formsprache der Natur ausgedruckt werden kann. Weit davon entfernt, ein bloßes Idealisieren der Wirklichkeit, mit anderen Worten, geläuterte Natur zu sein, ist alle Kunst (subjektiv) vielmehr nur geistige Thätigkeit, ein Denken in sinnlich-konkreten Formen, in Bildern und Anschauungen.231 226 227 228 229 230

Vgl. Muth: Religion (Anm. 225), S. 404 und 406. Ebd., S. 404. Ebd., S. 405. Ebd., S. 406; vgl. auch S. 408, Muth stützt sich hier auf Gedanken Deutingers. In der Reihenfolge der Zitate: Muth: Die litterarischen Aufgaben (Anm. 225), S. 104; Muth: Religion (Anm. 225), S. 403. 231 Muth: Die litterarischen Aufgaben (Anm. 225), S. 57 (Hervorhebung im Original). 82

Der hier formal definierte Vermittlungs- und Verweisungsakt verbindet die Kunst mit der Religion. Für Muth, der die zitierte Kunstdefinition als »kunstphilosophische[s] Glaubensbekenntnis« bezeichnet, stellt diese Homologie eine innere Verwandtschaft dar: Auch die Religion begründe ein Reich der Freiheit, das religiöse Erlebnis weise ebenso wie ein einzelnes Kunstwerk auf das Wesen der Dinge hin. Mit den Worten Deutingers spitzt er diese Aussage so zu, daß aus der Wesensverwandtschaft eine Kausalität wird: Denn nur weil der Mensch die Freiheit von Naturzwängen und die Nähe zu Gott erlebe, erreiche "511 er überhaupt die Fähigkeit zur künstlerischen Gestaltung. Die Instanz Gott ermöglicht erst die Bewußtwerdung des Menschen und sein Gefühl der Freiheit. Diese Theoriebausteine, die das Kunstwerk auf die Persönlichkeit des Künstlers und die Kunst auf die Religion als übergeordnete Instanz zurückführen, eröffnen der Rede über Kunst einige Möglichkeiten. Muth kann sich bei der Unterscheidung von Form und Inhalt auf die Seite der Form stellen, ohne zentrale christliche Werte relativieren zu müssen. Denn der Inhalt steht als innerlich - im Künstler als Persönlichkeit, nicht als empirischer Gestalt - erschauter bereits fest. »Der große Irrtum, in dem unsere Ästhetik in Bezug auf den Roman sich verfangen hat, besteht darin [...], daß sie das Epische nicht hauptsächlich in der Form, in der Art der Darstellung, sondern fast ebensoviel im Stoff selbst sucht und sieht«,234 kann er deshalb formulieren. Ein Kunstwerk, das beweisen, belehren oder bessern will, hat keinen Anspruch auf ästhetische Würdigung und gilt Muth als Tendenzkunst. Dennoch besitzt jedes echte Kunstwerk einen ethischen Gehalt, den er kurz mit der »ewigen Norm des christlichen Sittengesetzes« umschreibt.235 Für dessen Existenz bürgt allerdings niemals eine appellative Absicht, sondern eine überzeugte, positiv christliche Künstlernatur.236 Dieser Gedanke läßt sich von der einzelnen Persönlichkeit auch auf die Gesellschaft übertragen. Anthropologie verlängert sich zur Gesellschaftstheorie. Die Natur des Menschen, seine Bestimmtheit, parallelisiert Muth mit den Klassen, Ständen, Stammeseigentümlichkeiten oder Konfessionen der Gesellschaft. Der menschlichen Persönlichkeit, des sich seiner 232

Ebd.; vgl. Muth: Religion (Anm. 225), S. 403. Auf die Popularität von Glaubensbekenntnissen im Deutschen Kaiserreich, angeregt von der Wissenschaftsreligion des Monismus Ernst Haeckels, hat Wolfgang Frühwald hingewiesen, in: Katholische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland. In: Rauscher (Hg.): Religiöskulturelle Bewegungen (Anm. 206), S. 9-26, hier S. 17. 233 Vgl. Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung (Anm. 225), S. 42; der Gedanke stammt aus Deutingers Schrift Über das Verhältnis der Poesie zur Religion (1861). 234 Veremundus: Steht die katholische Belletristik (Anm. 225), S,15. 235 Muth: Die litterarischen Aufgaben (Anm. 225), S. 104. Die Norm des christlichen Sittengesetzes muß ewig sein, da laut Muth jeder Inhalt (im Gegensatz zur Form) »als ein geistiges Prinzip nur als ein Unendliches gedacht werden kann.« (Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung [Anm. 225], S. 82.) 236 Vgl. Muth: Die litterarischen Aufgaben (Anm. 225), S. 61f. und 104, sowie Veremundus: Steht die katholische Belletristik (Anm. 225), S. 25. 83

selbst durch das religiöse Erlebnis bewußt gewordenen Menschen, entspricht im größeren Rahmen die Nation - also eine Gesellschaft, die sich durch Denken, Können oder Wollen, und deshalb letztes Endes durch die Religion, ins Reich der Freiheit erhoben hat. Für den Bereich des Könnens, der Kunst, beschreibt Muth diesen Vorgang folgendermaßen: Eine wirklich nationale Literatur muß alles, was nur irgendwie stark und kräftig im Volke lebt, ohne Rucksicht auf Parteiengegensätze, in sich schließen. Nicht nur die Stammeseigentiimlichkeiten, nicht nur die Verschiedenheiten der Stände und Klassen, noch die historisch gearteten Besonderheiten des Volkstumes müssen darin ihre dichterische Vertretung finde. Ebenso wichtig, ja vielleicht noch wichtiger sind die großen geistigen Unterschiede der religiösen, der kirchlichen Bekenntnisse. In diesen Unterschieden offenbart und bewährt sich oft geradezu das ureigenste Leben einer Nation. Eine Literatur, in der sie nicht Widerhall und Ausdruck finden, wird daher niemals eine nationale im vollkommenen Sinne heißen können.237

Die in dieser Definition ebenso wie in der Anthropologie oder Ästhetik dominierende Denkfigur von Harmonie und deshalb Freiheit beschreibt für Muth den Inhalt des Adjektivs >katholischKatholizismus< und >Christentum< insgesamt - »wenn ich Christentum sage, so sage ich Katholizismus. Und umgekehrt!«238 -, sondern ebenfalls mit anderen Kategorien universaler Reichweite wie etwa jener der >Kunst< oder auch der >NationStandNation< fungiert die >Heimat< als einer der zentralen Referenzbegriffe des frühen Hochland. So stellt 1904 ein Artikel den Leser bereits im Titel vor die Alternative »Heimatkunst oder Ständekunst« und grenzt im folgenden das »Volksleben« und die »Vaterlandesfreudigkeit« vom »Standes-

237 238 239

Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung (Anm. 225), S. 172. Ebd., S. 3. Dies ist bei Muth (siehe etwa: Die litterarischen Aufgaben [Anm. 225], S. 57) nicht anders als im Gral, der Gegenpositionen zum Reformkatholizismus formulieren will, vgl. hierzu A. J. Peters: »Unmoderne« Ästhetik. Eine prinzipielle Untersuchung. In: Der Gral. Monatsschrift für schöne Literatur 3 (1908/09), S. 435-445 und 473-482, bes. S. 436. 240 Vgl. Karlheinz Rossbacher: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung Möglichkeiten sozialgeschichtlicher und soziologischer Analyse. In: Viktor Zmegac (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Scriptor, Hanstein 1981, S. 123-144, hier S. 135; angeknüpft wird damit an Wilhelm Heinrich Riehls Bürgerliche Gesellschaft. 84

milieu« und den »Berufszweigen« scharf ab.241 Heimatkunst soll keineswegs »mit bewußter Einseitigkeit« lediglich eine Dorf- und Waldwelt beschreiben, sondern der technisierten Kunst der Moderne eine Alternative mit »ganze[nj Menschen« und einer »ganzen und weiten Gedanken-, Gemüts- und Charakterwelt« bieten.24 Zugleich wird jedoch registriert, daß die Universalität des Begriffs >Heimatkunst< auch Probleme mit sich bringt: Wie jeder »lebendige Begriff« sei auch dieser nicht einseitig aufzufassen - aber eben deshalb auch weit interpretierbar, so weit, daß etwa der Naturalismus ihn in seinem milieuorientierten Sinn verwendet habe.243 >Stand< und >Milieu< verwendet der Autor synonym und, im Unterschied zur Muth, in einem engeren Sinn berufsbezogen. Allerdings geht es auch ihm bei dieser Terminologie nicht um eine funktionale Differenz von Beruf und beispielsweise Freizeit. >Milieu< dient hier ebenso wie der >Stand< Muths als (wenn auch feinere) Kategorie, die die Einheit der Gesellschaft anhand der Orientierung geschlossener Individuen beschreibt.244 Dem Mißbrauch scheinbar >offener< Begriffe läßt sich im Bereich der Kunst nur mit Aktionen einer Instanz wie dem Hochland entgegenwirken, die kritisch und regelmäßig die künstlerischen und literarischen Phänomene diskutiert. Hier sieht Muth seine eigentliche Aufgabe. Hartnäckig tritt er für eine Öffnung katholischer Philosophie gegenüber protestantischen Denkern ein und plädiert für die differenzierte Rezeption der Ansätze. Kant deshalb abzulehnen, weil er als »>Philosoph des ProtestantismusSäkularisierung< als die »gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens« definiert.248 Neu ist dieses Problembewußtsein um 1900 nicht: Martin Deutinger, der als katholischer Philosoph des deutschen Idealismus eine doppelte geistige Wahlheimat besitzt, hat bereits ein halbes Jahrhundert zuvor über eine adäquate Lösung nachgedacht. Sein Vorschlag sucht Subjekt und Autorität zu vermitteln und, was sich auch auf Muths Konzeption auswirken wird, den Katholizismus als Formprinzip zu bestimmen: Eine Philosophie, die zur Freiheit führen wolle, 246 247

Muth: Die litterarischen Aufgaben (Anm. 225), S. 66f. Herman Schell: Der Katholizismus als Princip des Fortschritts. Würzburg: Andreas Göbel's Verlagsbuchhandlung 41897, S. 12 (Hervorhebung im Original). Schells Ansatz kann an dieser Stelle nicht näher betrachtet werden; eine Einfuhrung gibt Vincent Berning: Gott, Geist und Welt. Herman Schell als Philosoph und Theologe. Einführung in die spekulativen Grundlinien seines Werkes (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie, Soziologie der Religion und ökumenik 37 NF). Paderborn u. a.: Schöningh 1978; eine zeitgeschichtliche Einbettung in den Reformkatholizismus unternimmt Karl J. Rivinius: Integralismus und Reformkatholizismus. Die Kontroverse um Herman Schell. In: Wilfried Loth (Hg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne (Konfession und Gesellschaft 3). Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1991, S. 199-218. 248 Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt/M.: Suhrkamp 41996, S. 232 (Hervorhebung im Original); vgl. zum Begriff der >Säkularisierung< und seiner Deutung bes. im katholischen Diskurs Susanna Schmidt: »Handlanger der Vergänglichkeit«. Zur Literatur des katholischen Milieus 1800-1950. Paderborn u. a.: Schöningh 1994, S. 27-29. 86

könne nicht die unbeschränkte Emanzipation der Vernunft zu erreichen streben. Sie müsse im Gegenteil das Prinzip der Autorität integrieren, und das hieße: »>katholisch werdenkatholisch< genannt wurde, kündigt jedoch zugleich die Auflösung einer durch Gralshüter und Zensoren geschützten katholischen Corporate identity an. So fragt sich beispielsweise Muths Hochland-Kollege Fritz Lienhard, warum denn eine Literatur, die ohnehin aus der »Persönlichkeit« und dem »Volkstum« geboren sei, noch >katholisch< genannt werden müsse. Wie auch immer es eigentlich zu verstehen sei - heute sei das Wort zum »Parteiwort« geworden und es sei besser, auf es zu verzichten.250 »Anschluß an Gott oder nenn's das Ewige, nenn's die Quelle des Lichtes und der Kraft« - hierin liege das anthropologische und ästhetische Ideal, nivelliert Lienhard.251 Daß etwa zur selben Zeit der Soziologe Emile Durkheim Religion als Kollektivbewußtsein definiert, das in der modernen Gesellschaft eine integrierende Funktion für die einzelnen Individuen übernimmt, ist kein Zufall. Um konkrete Bewußtseinsinhalte kann es Durkheim ebensowenig wie'Muth oder Lienhard gehen, denn diese können als religiöse Erfahrungen konstruktiv oder destruktiv wirken, soziale Ordnungen ebenso stützen wie in Frage stellen.252 Stattdessen steht die Bewußtseinsform im Vordergrund: Um die postulierte Kollektivität der Individuen überall und allzeit garantieren zu können, setzt Muth auf das Prinzip der Religiosität statt auf Tendenz und Bewußtseinsinhalt. Damit verliert er klare Kriterien für den Begriff des >Katholischen»eine wirkliche Synthese erreicht, sondern statt derselben überall nur ein Indifferenzpunkt gewonnen und an die Stelle der Synthese gesetztGralshütem und Zensorem siehe die Programmatik zum Gral von Franz Eichert: Gralfahrt - Höhenfahrt! In: Der Gral. Monatsschrift für schöne Literatur l (1906/07), S. 1-7, sowie den akribischen Nachweis antikatholischer Tendenzen in protestantischen historischen Romanen von Heinrich Keiler: Konfessionelle Brunnen Vergiftung. Die wahre Schmach des Jahrhunderts. Regensburg, Leipzig: Heinrich Keiter 1896. 251 Fritz Lienhard: Jahrhundertwende. Eine ethische Betrachtung [1899]. In: F. L.: Neue Ideale (Anm. 242), S. 259-271, hier S. 268. Daß Lienhard überhaupt als Protestant am Hochland mitarbeitet, verstärkt die Kritik des Gral an der nivellierenden //oc/z/a«if-Definition von >Katholizismus< noch um einen personellen Aspekt, vgl. Rossbacher: Programm und Roman (Anm. 240), S. 142. 252 Vgl. den Artikel zu Gesellschaft / Gesellschaft und Christentum (Abschnitt zur Neuzeit von Christofer Frey), in: Krause / Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie (Anm. 3), bes. S. 16ff., sowie Luhmann: Funktion der Religion (Anm. 248), S. lOf. 87

3.6 Fluchtpunkt objektive Wahrheit: die historisch-materialistische Ästhetik als Mediendidaktik Ein Charakteristikum des sozialdemokratischen Milieus, so die einschlägige Forschung in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den Studien zu den übrigen sozialmoralischen Milieus, sei dessen uneinheitliche Semantik. Aus politischer Perspektive reiche das Spektrum der Richtungskämpfe innerhalb der Sozialdemokratie vor 1914 von der radikalen Verweigerung (Linke), der Mitwirkung im System bei theoretisch radikaler Opposition (Zentristen um Karl Kautsky), der praktischen Mitwirkung (Reformisten um Georg von Vollmar) bis hin zu dem Versuch, Theorie und Praxis in Übereinstimmung zu bringen (Revisionisten um Eduard Bernstein), so Peter Friedemann zusammenfassend.253 Dieter Langewiesche hat die Relevanz dieser Zersplitterung in seinem Überblick zur Arbeiterkultur in Österreich sogleich relativiert: Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung seien ohnehin getrennte Bereiche, schließlich hätten die sozialistischen Kulturtheoretiker die »sozialistische Subkultur« weder geschaffen noch entscheidend zu lenken vermocht.254 Eine sozialgeschichtliche Milieutheorie müßte an dieser Stelle die Unterscheidung von sozialdemokratischem und Arbeitermilieu einführen - ein Weg, der für die folgende Argumentation wenig sinnvoll erscheint.255 Semantik dient dazu, ausgewählte Beschreibungen der Gesellschaft als plausibel und real zu benennen. Die sozialdemokratische Semantik kennt >den< Arbeiter ebenso wie dessen Klasse oder Milieu. Sie differenziert wenig und argumentiert, wenn auch von den genannten unterschiedlichen Positionen aus, bewußt universal. Das Konzept einer »Arbeiterbewegungskultur«, in der die »etablierte Gesamt253

Vgl. Peter Friedemann: Zwischen Internationalismus und Nation. Das Europabild der Vorkriegssozialdemokratie im Spiegel der Zeitschrift Die Neue Zeit (18831914). In: Michel Grunewald (Hg.): Le Discours europien dans les Revues allemandes (1871-1914) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (18711914). Bern u. a.: Peter Lang 1996, S. 205-231, hier S. 207; ähnlich Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849-1914. München: C. H. Beck 1995, S. 1046f. 254 Dieter Langewiesche: Arbeiterkultur in Österreich: Aspekte, Tendenzen und Thesen. In: Gerhard A. Ritter (Hg.): Arbeiterkultur. Königstein/Taunus: Athenäum 1979, S. 40-57, hier S. 51; Langewiesche zieht in diesem Aufsatz die Denkfigur der diversen >Kulturen< jener der >Milieus< vor und differenziert theoretisch zwischen »Gesamtkultur«, »Subkultur« und »Gegenkultur« (S. 40). Weniger scharf trennt Langewiesche dagegen Führung und Basis in: Arbeiterbildung in Deutschland und Österreich. Konzeption, Praxis und Funktionen. In: Werner Conze / Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 439^64, vgl. etwa S. 455. 255 Offensichtlich um Irritationen zu vermeiden, sprechen Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde vom »proletarischen Milieu« oder »Milieu der Arbeiter« statt vom »sozialdemokratischen Milieu«, in: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1971-1914 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 5). Bonn: Dietz Nachf. 1992. 88

kultur« im dreifachen Sinne des Wortes >aufgehoben< - also konserviert, negiert und auf eine höhere Ebene transformiert - werden soll, liefert ihr für diesen Standpunkt die Rechtfertigung.256 Wo dieses Aufheben mißlingt, die Einheit der Gesellschaft sich nicht im prophezeiten Sinn vollzieht, hantiert die zeitgenössische sozialdemokratische Semantik ebenso wie teilweise auch die neuere Forschung mit dem Begriff der >Verbürgerlichungmarxistischen Spezialdisziplin