Steirisches Jahrbuch für Politik 2019 [1 ed.]
 9783205211754, 9783205211730

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Steirisches Jahrbuch für Politik 2019

Herausgegeben von Beatrix Karl Wolfgang Mantl Klaus Poier Manfred Prisching Anita Ziegerhofer

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. & Co. KG, Zeltgasse 1/Top 6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtredaktion: Klaus Poier, Graz Veröffentlicht mit Unterstützung des Vereins für Politik und Zeitgeschichte sowie des Landtagklubs der Steirischen Volkspartei Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21175-4

Vorwort

Mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik 2019 können wir die 20. Ausgabe dieses mittlerweile etablierten Standardwerks der Dokumentation und Analyse des steirischen Zeitgeschehens, eingebettet in den größeren österreichischen, europäischen und internationalen Zusammenhang, vorlegen. Leitmotiv der Herausgeberinnen und Herausgeber ist es, mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik eine umfassende und pluralistische Darstellung der wesentlichen Entwicklungen der Politik und Gesellschaft in der Steiermark zu bieten, wobei die Kombination von authentischen Darlegungen und zeitnahen, kontextbezogenen Kommentierungen einen vertieften Einblick ermöglichen soll. Die vorliegende Ausgabe des Steirischen Jahrbuchs für Politik ist in sieben Kapitel gegliedert. Zu Beginn steht unter der traditionellen Rubrik „Perspektiven der Zeit“ ein Beitrag der ersten Bundeskanzlerin in der Geschichte der Republik Österreich, Brigitte Bierlein, die unter dem Motto „Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit“ einen persönlichen Rückblick auf die von ihr geführte Beamtenregierung wirft. Wie dieser Beitrag und viele weitere Beiträge und Kapitel des Jahrbuchs zeigen, war das Jahr 2019 ein besonders ereignisreiches. Freilich kam es dann im Jahr 2020 mit der COVID-19-Krise zu besonders dramatischen Entwicklungen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle Beiträge des Jahrbuchs 2019 vor dem exponentiellen Ausbruch des Corona-­Virus in Österreich im Februar/März 2020 abgeschlossen wurden. Da sich das Jahrbuch 2019 auf das Jahr 2019 bezieht, wurden die Beiträge auch nicht adaptiert und überarbeitet. Sie sind, insoweit COVID-19 unser Leben und unsere Gesellschaft massiv veränderte, auch nicht als überholt anzusehen, sondern sind authentische kontextbezogene Einschätzungen der Zeit vor diesem einschneidenden Wandel. Das zweite Kapitel „Steiermark und Österreich live“ ist – außerhalb der Schwerpunktkapitel – wieder wichtigen Ereignissen bzw. Entwicklungen und ihrer Analyse der österreichischen und steirischen Politik bzw. Gesellschaft im abgelaufenen Jahr gewidmet. So werden aus Sicht der zuständigen steirischen Landesrätinnen Herausforderungen der steirischen Gesundheitspolitik, Wirtschaftspolitik sowie Sozialpolitik und aus Sicht des Vorsitzenden der Industriellenvereinigung die wirtschaftliche Entwicklung analysiert. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Landtagswahlen in Vorarlberg, der nachhaltigen Entwicklung sowie den Maßnahmen für mehr Transparenz der Rechtsquellen in der Landeshauptstadt Graz, der Entwicklung der Universität Graz aus Sicht ihrer ersten Rektorin in der Geschichte und den Herausforderungen der Vorwort

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Bildungsdirektion. Schließlich finden sich auch Beiträge zum Literaturnobelpreis für Peter Handke und zur politischen Sprache auf dem linguistischen Prüfstand. Die Landtagswahl in der Steiermark 2019 und ihre Folgen für die Steiermark sind Thema des dritten Kapitels, in dem sich neben wissenschaftlichen und journalistischen Analysen Beiträge der Spitzenpersönlichkeiten von fünf im Landtag vertretenen Parteien finden. Im vierten Kapitel des Jahrbuchs werden aus journalistischer und wissenschaftlicher Sicht die bestimmenden Ereignisse auf Bundesebene im Jahr 2019 kommentiert und analysiert, vom Ibiza-­Skandal über das Misstrauensvotum bis zur Neuwahl des Nationalrates. Die Europäische Integration nach der Europawahl 2019 und der endgültigen Entscheidung über den Brexit ist Thema des fünften Kapitels des Jahrbuchs, in dem sich Beiträge von steirischen Europapolitikerinnen bzw. Europapolitikern sowie dem Leiter des Steiermark-­Hauses in Brüssel und einer Europaforscherin finden. Zum vor dem COVID-19-Ausbruch weltweit bestimmenden politischen Thema des Klimawandels finden sich im sechsten Kapitel des Jahrbuchs Beiträge von Seiten der Politik, Interessenvertretung, Wissenschaft und eines jungen Aktivisten. Das abschließende siebente Kapitel des vorliegenden Jahrbuchs ist wieder einem „Weltpanorama“ gewidmet. Beiträge finden sich zum Brexit, zur Entwicklung der Rolle Amerikas in der Welt, zum Stand der europäischen Integration des Kosovos und Nordmazedoniens, zum Brand von Notre-­Dame und den Schlussfolgerungen für Österreich sowie zum „Tatort“ Museum. Eine grundsätzliche Analyse unter dem Motto „Politik der Enttäuschungen“ schließt dieses Kapitel ab. Jahresrückblick, Bildteil sowie Zusammenstellung der Wahlergebnisse seit 1945 finden sich auch im Anhang des Jahrbuchs 2019. Großer Dank der Herausgeberinnen und Herausgeber gilt den 50 Autorinnen und Autoren dieses Jahrbuchs für ihre facettenreichen und spannenden Beiträge. Für die organisatorische und redaktionelle Mitarbeit danken wir ganz besonders ­Gudrun ­Bergmayer, Herta Miessl, Mag.a Sophie Muskatelz, Mag. Manuel P. Neubauer, Mag.a Sandra SaywaldWedl sowie Johann Trummer. Ebenso gilt unser Dank dem Böhlau ­Verlag, namentlich Mag.a Eva Buchberger sowie Mag.a Bettina Waringer für die Herstellung. Mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik 2019 können wir – durch die COVID -19Krise zeitlich leider verspätet – wieder eine umfassende pluralistische Darstellung und Analyse der politischen und zeithistorischen Entwicklung in der Steiermark bzw. der Rahmenbedingungen vorlegen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind stolz auf das qualitativ hochwertige Werk und hoffen wie stets auf entsprechende Resonanz. Klaus Poier, Gesamtredakteur und Mitherausgeber

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Vorwort

Inhalt Steirisches Jahrbuch für Politik 2019 Vorwort  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Perspektiven der Zeit Brigitte Bierlein Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit. Ein persönlicher Rückblick  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Steiermark und Österreich live Juliane Bogner-­Strauß Herausforderungen der steirischen Gesundheitspolitik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Barbara Eibinger-­Miedl Die steirische Wirtschaft zwischen Sorge und Hoffnung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Doris Kampus Sozialpolitik: Neue Wege gehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Georg Knill Von guten Absichten und verbindlichen Zielen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Kathrin Stainer-­Hämmerle Die Landtagswahlen in Vorarlberg  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Günter Riegler Die nachhaltige Entwicklung der Stadt Graz in Zukunftsbildern  . . . . . . . . . . . . .  Verena Ennemoser, Walther Nauta Alles in bester Verordnung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Christa Neuper Acht Jahre Rektorin der Universität Graz – eine Bilanz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Elisabeth Meixner Herausforderungen für die Bildungsdirektion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Lojze Wieser Handke lesen!  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Oswald Panagl Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln. Politische Sprache auf dem linguistischen Prüfstand  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

23 27 31 35 41 45 51 57 63 67

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Inhalt

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Herausforderungen für die Steiermark nach der Landtagswahl 2019 Hermann Schützenhöfer Die Steiermark gemeinsam gestalten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87 Anton Lang Mit der „Agenda Weiß-Grün“ die großen Herausforderungen bewältigen!  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  91 Sandra Krautwaschl Die Klima-Krise ist die größte Herausforderung unserer Zeit und ihre Bewältigung eine Chance, die wir auch in der Steiermark nützen müssen!  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Claudia Klimt-­Weithaler Wohnen: Die soziale Frage unserer Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 Nikolaus Swatek Zukunft Steiermark – eine Frage der Postleitzahl?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 Ernst Sittinger Chronik eines angekündigten Sieges  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 Heinz P. Wassermann „Die Schmach von 2005 ist getilgt“. (Statistische) Analysen der steirischen Landtagswahl vom 24. November 2019   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 Ibiza-Skandal, Misstrauensvotum und Neuwahlen 2019 Florian Klenk Sieben Lehren aus Ibiza  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Anna Thalhammer Alles Huren? Ibiza und die vierte Staatsmacht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Klaus Poier Die Rolle von Parlament und Bundespräsident bei der Regierungsbildung (und Regierungsentlassung) in Österreich – Reformbedarf?  .. . . . . . . . . . . . . . . .  Matthias Huber, Stefan Rothbart, Dirk Seybold TV-Duelle im Nationalratswahlkampf 2017 und 2019 im Vergleich: Bedeutung, Darstellung, Themen, Wirkung und mediale Rezeption  .. . . . . . . . 

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Europäische Integration nach der Europawahl 2019 und dem Brexit Simone Schmiedtbauer Groß denken und zusammenhalten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  169 Bettina Vollath Eine starke Zukunft Europas gelingt nur miteinander!  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173 8

Inhalt

Georg Mayer Der Brexit und die europäische Integration  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Lara Köck Wie Europa zerbricht und zusammenrückt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Ronald Rödl Die Steiermark in der Europäischen Union  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Anita Ziegerhofer Frauenpower an der Spitze der Europäischen Union  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Christopher Drexler Kultur, Europa und die Steiermark  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Klimawandel Ursula Lackner Klimaschutz: Jede und jeder Einzelne muss die Möglichkeit bekommen, einen Beitrag zu leisten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Johann Seitinger Landwirtschaft und Klimawandel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Josef Herk Selbstverständlich selbständig: ein Plädoyer für mehr Unternehmertum und Eigenverantwortung in unserem Land  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Gottfried Kirchengast, Eva Schulev-­Steindl, Karl W. Steininger Klimaschutzrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Karl W. Steininger „Listen to the Scientists“ – Wissenschaft und Politik in der Klimakrise  . . . . . .  Thomas Drage Neue Strategien: Graz rüstet sich für den Klimawandel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Manuela Khom Katastrophen mehren sich: das Beispiel Region Murau-Murtal  .. . . . . . . . . . . . .  Jakob Prettenthaler Wie Fridays For Future Graz entstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Welt-Panorama Melanie Sully Brexit entfesselt  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  253 Franz-Stefan Gady Was bedeutet eine Welt ohne Amerika für Europa?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  257

Inhalt

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Verena Walzl Kosovo und Nordmazedonien auf dem Weg in die EU? Eine kurze Bestandsaufnahme  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Heinrich Schnuderl Der Brand von Notre-Dame – wie sicher sind Österreichs Dome?  .. . . . . . . . . .  Peter Grabner Schlussfolgerungen aus der Brandkatastrophe von Notre-Dame  .. . . . . . . . . . .  Alexia Getzinger Tatort Museum: Wie sicher ist das Universalmuseum Joanneum?  . . . . . . . . . .  Manfred Prisching Politik der Enttäuschungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Anhang Bildteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Klaus Hatzl Jahresrückblick 2019  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Wahlergebnisse seit 1945  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Autorinnen und Autoren  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Inhalt

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Perspektiven der Zeit

BRIGITTE BIERLEIN

Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit Ein persönlicher Rückblick

Die Regierung Kurz I, bekanntermaßen eine Koalitionsregierung gebildet von der ÖVP als stimmenstärkster Partei und der FPÖ, trat nach vorgezogenen ­Nationalratswahlen am 18. Dezember 2017 ihr Amt an. Die nächste reguläre Nationalratswahl war für Herbst 2022 vorgesehen. Doch nach Auftauchen des „Ibiza-­Videos“ war plötzlich alles anders: Zwei deutsche Medien – die Online-­Portale der „Süddeutschen Zeitung“ und des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ – veröffentlichten am 17. Mai 2019 überraschend Ausschnitte aus dem schon im Juli 2017 verdeckt aufgenommenen, jedoch aus ungeklärten Gründen lange unveröffentlicht gebliebenen „Ibiza-­Video“. Infolge ­dieses für Vizekanzler Heinz-­Christian Strache und den geschäftsführenden FPÖ -Klubobmann Johann Gudenus und letztlich für die gesamte FPÖ mehr als kompromittierenden Videos zerbrach die Regierung. Strache und Gudenus traten am 18. Mai 2019 zurück. Bundeskanzler Sebastian Kurz beendete die Koalition mit der FPÖ mit der Erklärung, Neuwahlen anzustreben. Der damalige Bundesminister für Inneres, Herbert Kickl (als Generalsekretär der FPÖ im Zeitpunkt des Ibiza-­Videos bei möglichen Ermittlungen über Finanzströme der FPÖ allenfalls nicht unbefangen), lehnte (im Einklang mit der FPÖ) eine Demissionierung ab und wurde vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen aus dem Amt entlassen. Sämtliche anderen Regierungsmitglieder der FPÖ erklärten daraufhin ihren Rücktritt. Kickls Nachfolge trat am 22. Mai 2019 der frühere Präsident des Obersten Gerichtshofes, Eckart Ratz, an. Valerie Hackl wurde Infrastruktur-­Ministerin, Johann Luif Bundesminister für Landesverteidigung, Walter Pöltner übernahm das Ressort Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. In einer Sondersitzung am 27. Mai sprach der Nationalrat über Initiative der SPÖ mit den Stimmen von SPÖ, FPÖ und JETZT – erstmals erfolgreich in der Geschichte der Zweiten Republik – der gesamten Regierung das Misstrauen aus. Am nächsten Tag enthob der Bundespräsident sämtliche Regierungsmitglieder ihres Amtes und betraute Brigitte Bierlein

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gleichzeitig die Mitglieder der bisherigen Bundesregierung gemäß Art. 71 B-VG mit der interimistischen Fortführung der Verwaltung. Der als Vizekanzler angelobte Bundesminister für Finanzen, Hartwig Löger, wurde am 28. Mai 2019 mit dem Vorsitz in der Bundesregierung sowie mit der Führung der Agenden des Bundeskanzlers betraut und damit einstweiliger Bundeskanzler. Nach formaler Enthebung wurden die bisherigen Regierungsmitglieder (ohne Vizekanzler) vom Bundepräsidenten neuerlich angelobt; die interimistische Bundesregierung Löger setzte sich somit aus dem am 22. Mai umgebildeten Kabinett der Regierung Kurz I zusammen, allerdings ohne Kanzler Kurz und ohne Staatssekretäre. In dieser Zeit hatte ich (seit Februar 2018) die Leitung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs in der Funktion als dessen Präsidentin inne. Davor hatte ich dem Gerichtshof seit Jänner 2003 (als Vizepräsidentin) angehört. Am 29. Mai 2019 konfrontierte mich der Bundespräsident völlig überraschend mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, bis zur Bildung einer neuen Regierung – nach vorgezogener Nationalratswahl – die Funktion der Bundeskanzlerin zu übernehmen. Ich war sprachlos und erbat mir kurze Bedenkzeit. Die Intention des Bundespräsidenten, angesichts der angespannten innenpolitischen Lage rasch eine handlungsfähige Regierung zu ernennen, war nicht nur verständlich, sondern staatspolitische Weisheit. Und unsere Bundesverfassung idF der Novelle 1929 hatte – wenngleich diese Konstellation wohl kaum vor Augen – vorgesorgt: Dem Bundespräsidenten kommt – abweichend von der üblichen Vorgangsweise, dass der/die mit der Regierungsbildung betraute Politiker/in dem Bundespräsidenten eine vom Wählerwillen getragene Bundesregierung (quasi als Spiegelbild der im Nationalrat vertretenen politischen Parteien) vorschlägt – die Kompetenz zu, einen Bundeskanzler/eine Bundekanzlerin einzusetzen und über dessen/deren Vorschlag die Mitglieder der Bundesregierung. Eine ­solche Regierungskonstellation hat es in der Geschichte unsers Landes bis dahin noch nie gegeben. Mir war nach dieser für mich völlig neuen Situation wichtig, den renommierten Verfassungsgerichtshof nicht gleichsam „über Nacht“ ohne Leitung zu belassen. Der damalige Vizepräsident Christoph Grabenwarter (seit 19. Februar 2020 ist Grabenwarter Präsident dieser Institution) war in dankenswerter Weise sofort bereit, den Gerichtshofes interimistisch zu leiten. Am 30. Mai 2019, dem Christi Himmelfahrts-­Tag, sagte ich dem Bundespräsidenten zu, die für mich unerwartete und ungemein ehrenvolle Funktion der Bundeskanzlerin – im Wissen um die damit verbundene große Verantwortung – mit Demut zu übernehmen. Mir war bewusst, dass sich unser Land in einer besonders sensiblen Phase befand und ehestmöglich Ruhe, Gelassenheit und Vertrauen in das Funktionieren unserer rechtsstaatlichen Institutionen eintreten sollte. Auch schien mir die Möglichkeit, als erste Bundeskanzlerin in der Geschichte unserer Republik tätig sein zu dürfen, ein 14

Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit

­einmaliges und starkes Signal für das Anliegen der Frauen, Spitzenfunktionen im öffentlichen Bereich bekleiden zu können. Nachdem ich unserer Republik seit 1972 in verschiedenen juristischen Berufen, als Richterin, Staatsanwältin, Oberstaatsanwältin und Generalanwältin, als Vizepräsidentin bzw. Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes stets mit Freude, vollem Einsatz und großem Respekt dienen durfte, schien es mir das Gebot der Stunde, unserem schönen Land, wenn es in einer schwierigen Lage Unterstützung braucht – und der Bundespräsident mich für geeignet hält –, mit ganzer Kraft zur Verfügung zu stehen. Noch am 30. Mai 2019 wurde ich vom Bundespräsidenten mit der Regierungsbildung betraut. Der plötzliche Abschied aus dem traditionsreichen und großartigen österreichischen Verfassungsgerichtshof, dem ältesten der Welt mit einer konzentrierten Normen­ prüfungskompetenz, in dem ich das Privileg hatte, als Hüterin der Bundesverfassung 16 Jahre lang tätig zu sein, fiel mir alles andere als leicht; allerdings wusste ich den Gerichtshof in den Händen des Vizepräsidenten sehr gut aufgehoben. Ich legte das Präsidentenamt am 2. Juni zurück. Es gelang mir, die Regierungsmitglieder  – durchwegs anerkannte, in leitender Funktion tätige (bzw. tätig gewesene) Expertinnen und Experten aus Höchstgericht, Ministerien und Finanzprokuratur – innerhalb von Stunden bzw. wenigen Tagen dem Bundes­präsidenten vorzuschlagen. Das umsichtige, ruhige und vertrauensvolle Vorgehen des Bundespräsidenten in dieser heiklen Situation war äußerst konstruktiv und beispielgebend. In kurzer Zeit wurden zahlreiche Gespräche mit möglichen Ministerinnen und Ministern in der Präsidentschaftskanzlei geführt. Dem Staatsoberhaupt und mir war die paritätische Besetzung mit Frauen und Männern großes Anliegen. Ich konnte dem Bundespräsidenten bald sechs weibliche und sechs männliche Regierungsmitglieder vorschlagen, darunter den vormaligen Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes, Universitätsprofessor Clemens Jabloner, sowie durchwegs namhafte Spitzenbeamtinnen und -beamte, etwa den auch in der Regierung Kurz II nunmehr als Außenminister fungierenden früheren Sektionsleiter im Bundeskanzleramt, ­Alexander Schallenberg. Wir verstanden uns mit Blick auf eine möglichst schlanke Struktur in der Regierung sowie in den einzelnen Kabinetten darauf, ohne Staatssekretäre und ohne Generalsekretäre auszukommen. Die Mitglieder der Bundesregierung waren – anders als die Abgeordneten des Nationalrates – weder direkt noch indirekt gewählt. Am 3. Juni 2019 erfolgte die Ernennung und Angelobung durch den Bundespräsidenten.

Brigitte Bierlein

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Der Bundesregierung gehörten – neben mir als Bundeskanzlerin – folgende Personen an: • Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, Vizekanzler (bis zum 1. Oktober 2019) und Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz • Dipl.-Kfm. Eduard Müller, MBA, Bundesminister für Finanzen und Bundesminister für öffentlichen Dienst und Sport DI •  Maria Patek, MBA, Bundesministerin für Nachhaltigkeit und Tourismus • Dr. Wolfgang Peschorn, Bundesminister für Inneres • Dr. Iris Rauskala, Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Forschung • Mag. Andreas Reichhardt, Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie • Mag. Alexander Schallenberg, LL.M, Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres sowie Bundesminister für EU, Kunst, Kultur, Medien im Bundeskanzleramt Mag. Ines Stilling, Bundesministerin für Frauen, Familien und Jugend im Bundes•  kanzleramt • Mag. Thomas Starlinger, Bundesminister für Landesverteidigung • Mag. Elisabeth Udolf-­Strobl, Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort • Dr. Brigitte Zarfl, Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz Die Verlässlichkeit unserer Verfassung sowie der darin festgeschriebenen Gewaltenteilung und die Stabilität unserer Institutionen konnte damit eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden. Unser Amtsverständnis, das ich in meiner an alle in unserem Land lebenden Menschen gerichteten Antrittsrede sowie im Rahmen unserer Regierungserklärung vor unseren Volksvertretern zum Ausdruck gebracht habe, war es, gemäß dem Auftrag des Bundespräsidenten die Regierungsgeschäfte verantwortungsvoll – gleichsam als Treuhänder – zum Wohle Österreichs wahrzunehmen, unserem Land zu dienen, Stabi­ lität und Verlässlichkeit zu garantieren. Die Bedeutung der Legislative und die Wertschätzung für die gesetzgebenden Körper­ schaften hatten hohen Stellenwert. Dialog und konstruktives Miteinander auf allen Ebenen waren unverzichtbar. Unser Leitmotiv: „Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit.“ Für Verlässlichkeit zu stehen und um Vertrauen zu werben, war unser erklärtes Ziel. Der österreichische Rechtsstaat mit seiner nun 100-jährigen Bundesverfassung, seinen starken Institutionen und seinen pflichtbewussten Beamtinnen und Beamten ermöglichte es, die uns übertragene Verantwortung mit Demut wahrzunehmen, die besondere Verantwortung der Abgeordneten als gewählte Volksvertreter zu respektieren und die Gesetze bis zur Angelobung der nächsten Bundesregierung bestmöglich zu vollziehen. 16

Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit

Im breiten Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der politischen Parteien, den Landeshauptleuten, Gemeindevertretern, Interessenvertretungen, der Zivilgesellschaft und den Religionsgemeinschaften sowie den Vertreterinnen und Vertretern der Europäischen Institutionen gemeinsam Problemlösungen zu suchen und das Verbindende vor das Trennende zu stellen, war uns tiefes Anliegen. Unsere Regierung hatte kein Programm abzuarbeiten, keine Wahlversprechen einzulösen und keine tagespolitischen Aktualitäten zu kommentieren. Wir hatten nicht das Mandat der Bevölkerung, strebten aber nach Kräften die Erringung des Vertrauens der Bevölkerung an. Unsere Leitlinien waren: Die Arbeit für unser Land mit höchstmöglicher Qualität und größtmöglicher Sparsamkeit zu leisten, auf tagespolitisches Kalkül zu verzichten, Schaden von der Republik abzuwenden, unsere Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nie aus den Augen zu verlieren. In ­diesem Sinne blieb die Anzahl der Mitglieder der Bundesregierung gering. Zudem wurde darauf verzichtet, Staatssekretäre zu ernennen. Auch die Bestellung von Generalsekretären in den Bundesministerien unterblieb (soweit eine ­solche nicht, wie im Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, zwingend vorgesehen ist). Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den zur Beratung und Unterstützung im Bundekanzleramt und in den anderen Ministerien eingerichteten Kabinette sowie der diesen zugewiesenen Assistenzkräfte wurde ebenfalls bewusst eingeschränkt. Ebenso haben wir von weitreichenden Personalentscheidungen bei der Besetzung von Leitungsfunktionen abgesehen. Dennoch wurde sichergestellt, dass wichtige Funktionen im Interesse der Republik besetzt bzw. den Vorschriften entsprechend ausgeschrieben wurden, wie etwa das Amt des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes. Eine für unser Land besonders wichtige Entscheidung betraf den Vorschlag der Bundesregierung für die Ernennung von Mitgliedern der Europäischen Kommission, die in Österreich verfassungsrechtlich determiniert ist und das Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates nach Art. 23c Abs. 1 und 2 B-VG voraussetzt. Nach enger Abstimmung mit allen Mitgliedern der Bundesregierung sowie mit den Fraktionsvorsitzenden und Parteichefs konnte bereits am 18. Juli 2019 die Wiederbestellung von Unionskommissar Johannes Hahn im Ministerrat einstimmig beschlossen und anschließend im EU-Hauptausschuss einstimmig bestätigt werden. Ich verständigte umgehend die damals designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Seit 1. Dezember 2019 ist Johannes Hahn als EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung mit einem bedeutenden Ressort betraut. Während meiner gesamten Amtszeit pflegte ich engen und konstruktiven Austausch mit dem Bundespräsidenten. Im Herbst 2019 habe ich Österreich gemeinsam mit dem Bundespräsidenten bei der UN-Generalversammlung vertreten. Regierungsvorlagen wurden im Hinblick auf das Selbstverständnis der Bundesregie­ rung lediglich in dringenden Fällen erarbeitet. Brigitte Bierlein

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Gegenstand im Ministerrat bildeten vorwiegend administrative Beschlüsse. Insgesamt wurden 310 Ministerratsbeschlüsse gefasst. Diese reichten von humanitären Hilfestellungen bei ausländischen Krisen bis zur Vorbereitung der Nationalratswahl. Ferner wurden vier Regierungsvorlagen (im Zusammenhang mit entsprechenden EURichtlinien und deren verzögerte oder unvollständige Umsetzung samt eingeleiteten bzw. drohenden Vertragsverletzungsverfahren) und fünf Verordnungen der Bundesregierung eingebracht. Nach der am 29. September 2019 abgehaltenen Nationalratswahl wurde unsere Regierung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, wie nach jeder Nationalratswahl üblich, am 1. Oktober zunächst des Amtes enthoben und – wie üblich – mit der Fortführung der Amtsgeschäfte bis zur Angelobung einer neuen Regierung betraut. Bis zum Ende der Amtszeit am 7. Jänner 2020 habe ich nach Beschlussfassung durch den Ministerrat namens der Bundesregierung insgesamt 77 schriftliche parlamentarische Anfragen von Abgeordneten des Nationalrats und des Bundesrates beantwortet. Im internationalen Bereich blieb unsere Regierung den traditionellen europa- und außenpolitischen Prinzipien verpflichtet. Ich nahm an drei ordentlichen und einem außerordentlichen Europäischen Rat teil, vertrat Österreich im September bei der UNO-Generalversammlung in New York sowie bei der zweiten Pariser Friedenskonferenz im November 2019. Im Europäischen Rat waren insbesondere die anstehenden Personalentscheidungen von Bedeutung. Nach zähen und zeitintensiven Verhandlungen konnte in einer Sondersitzung am 1. Juli 2019 Einigung auf Charles Michel (Belgien) zum Präsidenten des EU-Rates, die Nominierung von Ursula von der Leyen (Deutschland) zur Präsidentin der EU-Kommission, von Josep Borrell Fontelles (Spanien) als Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und von Christine Lagarde (Frankreich) zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank erzielt werden. Weitere ­Themen waren der mehrjährige Finanzrahmen, der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien, die Klimaziele 2050, Wirtschaftssanktionen gegen Russland oder das Vorgehen nach dem Brexit. Wenn es uns gelungen ist, nach einer spannungsgeladenen Zeit wieder Ruhe, Besonnenheit und den Glauben an die Integrität der Politik in unserem Land zu festigen, ist das mehr, als wir zu Beginn unserer Amtszeit zu wünschen wagten. Mein Resümee nach sieben ehrenvollen Monaten an der Spitze dieser Bundesregierung: Eine Frau an der Spitze war in meiner Jugend eine Rarität. Heute schaue ich auf ein Land mit mehr Chancen denn je für alle – unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, religiöser oder sexueller Orientierung. Den Jungen, vor allem den jungen Frauen, gilt mein Aufruf: Unser Land braucht Ihre Leidenschaft, Ihren Mut, Chancen zu ergreifen. In Österreich leben zu dürfen, ist für uns alle ein großes Privileg.

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Eine außergewöhnliche Bundesregierung in einer außergewöhnlichen Zeit

Größten Respekt zolle ich besonders den vielen Ehrenamtlichen, die sich für ihre Mitbürger einsetzen. Sie zeichnen unser Land aus, Tag für Tag. Alles in allem darf ich bekennen: Den Österreicherinnen und Österreichern in ­diesem besonderen Amt dienen zu dürfen, war, ist und bleibt die größte Ehre meines Lebens.

Brigitte Bierlein

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Steiermark und Österreich live

JULIANE BOGNER-­S TRAUSS

Herausforderungen der steirischen Gesundheitspolitik

Dem österreichischen Schriftsteller Alfred Polgar wird bekanntermaßen das Zitat zugeschrieben, wonach die Österreicher ein Volk sind, „das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt“. Diese treffende Feststellung hat zweifelsohne in vielerlei Hinsicht ihre Berechtigung. Sie gilt – regional heruntergebrochen – gerade für die Vorhaben der steirischen Gesundheitspolitik. Diese war mit Sicherheit nach der im Jahr 2015 vollzogenen Gemeindestrukturreform jener Themenbereich, an dem sich die Gemüter der Steirerinnen und Steirer seither am stärksten erhitzten. Wie bei Ausblicken in die Zukunft üblich, gilt es vorab einen ­kurzen Blick zurück zu werfen, um zu erkennen, in welcher Ausgangslage wir uns in der Steiermark hinsichtlich gesundheitspolitischer Fragestellungen befinden. Die vergangene Legislaturperiode von 2015 bis 2019 brachte wohl die größten Umwälzungen der letzten Jahrzehnte mit sich. So wurden einige Krankenhäuser geschlossen und manche Einzelstandorte zu sogenannten „Krankenanstalten-­Verbünden“ zusammengeführt. Mit dem „Steirischen Gesundheitsplan 2035“ wurde zudem eine große gesundheitspolitische Vision präsentiert. Diese schlug sich auf der konkreten Planungsebene im sogenannten „Regionalen Strukturplan 2025“ nieder, welcher im Jahr 2017 beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Im sogenannten „Niedergelassenen Bereich“, neudeutsch auch „extramural“ genannt, wurden die ersten Primärversorgungseinheiten vulgo „Gesundheitszentren“ und im April 2019 auch ein neues Bereitschaftsdienstmodell etabliert. Die geneigte Leserschaft und insbesondere die steirischen Bürgerinnen und Bürger mögen sich nun in schönstem steirischen Dialekt fragen: „Wozu brauch’ ma des?“ Diese Frage indes lässt sich lapidar beantworten: „Weil es so wie bisher einfach nicht weitergehen gehen kann!“ Diese auf den ersten Blick mäßig originell scheinende Feststellung hat aber handfeste Gründe. Zum einen sind hier Begriffe wie medizinischer Fortschritt, geändertes Berufsbild, Ärzte- und Pflegekräftemangel sowie demografische Veränderungen zu nennen. Zum anderen muss man sich eingestehen, dass, ungeachtet aller international schon vor langer Zeit zu beobachtenden Entwicklungen allzu lange an einem alten Rezept festgehalten wurde, nämlich: Mehr desselben! Auf gesundheitspolitische Fragestellungen bezogen bedeutet das konkret, dass auf der einen Seite Juliane Bogner-­Strauß

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viel zu lang darauf geschaut wurde, dass Spitäler nach ihrer Bettenzahl und nicht nach ihrer Funktionalität für die zu versorgende Region beurteilt wurden. Auf der anderen Seite besteht noch immer der weitreichende Irrglaube, dass es möglicherweise an der zu geringen Bezahlung liegt, wenn es der Sozialversicherung steiermarkweit oftmals nicht gelingt, Kassenstellen zu besetzen. Versorgungswirksame Ärztinnen und Ärzte sind aber ein rares Gut. Davon weiß auch die Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft mbH (KAGes) ein Lied zu singen. Nun ist es aber keineswegs so, dass ich mich als neue Landesrätin für Gesundheit mit dem Status quo einfach abfinden will, wiewohl es gerade im Bereich der niedergelassenen Ärzte so ist, dass dieser in der Verantwortung der neu formierten Österreichischen Gesundheitskasse ÖGK liegt, die im Zusammenwirken mit der Ärztekammer für die Besetzung von Kassenstellen verantwortlich ist. Wohin geht also die Reise in der steirischen Gesundheitsversorgung? Diese Frage ist theoretisch einfach, in der Praxis jedoch schwierig zu beantworten: Jeder soll die adäquate Behandlung an der richtigen Stelle erhalten oder, wie es im Fachjargon heißt, am „Best Point of service“! Nun stellt sich die berechtigte Frage, was das in der Praxis für die Patientin beziehungsweise den Patienten bedeutet – das Prinzip der ­„abgestuften Versorgung“ lässt sich aber einfach übersetzen: Hausarzt vor Facharzt vor Ambulanz vor Krankenhausaufenthalt! Es ist weder im Interesse der Gesundheit der Patientin/des Patienten noch aus finanziellen Gründen zielführend, wegen eines grippalen Infekts als „Selbstzuweiser“ die Ambulanz einer öffentlich finanzierten Krankenanstalt aufzusuchen. Man bindet dort wertvolle Ressourcen und beschert somit denjenigen, die wirklich eine Behandlung brauchen, zusätzliche Wartezeiten. Als Draufgabe kostet ­dieses Verhalten sowohl den Beitrags- wie auch den Steuerzahler Geld, welches dadurch wiederum für andere notwendige medizinische Leistungen nicht zur Verfügung steht. Ein weiteres Problem stellt in ­diesem Zusammenhang das „Ärzteshopping“ dar, welches sich in Österreich durchaus brauchtumsähnlicher Beliebtheit erfreut. Zuerst wird bei dieser Variante gerne der Hausarzt konsultiert, dessen Diagnose danach mit jener der mittlerweile weltweit berühmtesten Ärztin, „Frau Dr. Google“, verschnitten wird, was natürlich zu weiteren fachspezifischen Fragen Anlass gibt, die es dann mit einer Fachärztin/einem Facharzt zu bereden gilt. Deren/Dessen neuerliche Diagnose – mittlerweile die Dritte [sic] – sollte natürlich genau geprüft werden, weshalb weitere alternative Meinungen eingeholt werden müssen. Dafür, dass nun möglicherweise noch immer nicht alle fachlichen Unklarheiten beseitigt sind, wurden bei ­diesem zugegebenerweise überspitzten (aber keineswegs praxisfremden) Beispiel mittlerweile zumindest vier Ärztinnen beziehungsweise Ärzte („Dr. Google“ eingerechnet) konsultiert und die aus einem solidarisch finanzierten Topf dotierte E-Card zum Glühen gebracht (die investierte Zeit und Mühe aller Beteiligten noch gar nicht eingerechnet). 24

Herausforderungen der steirischen Gesundheitspolitik

Was kann und muss die steirische Politik nun tun? Hinsichtlich der hausärztlichen Versorgung gibt es ein vor allem in skandinavischen Ländern vielfach erprobtes und in seiner Effektivität bestätigtes Mittel: „Gesundheitszentren“ – in österreichischem Beamtendeutsch „Primärversorgungseinheiten“ genannt! In diesen multiprofessionellen Einrichtungen sind mehrere Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner mit Pflegekräften und weiterem Gesundheitspersonal wie etwa Physio- und Psychotherapeuten unter einem Dach tätig. Die unmittelbare Zusammenarbeit in einer Organisationseinheit hat den Vorteil, dass die Kräfte gebündelt, die Patientenwege verkürzt und ein breiter gefächertes Therapieangebot an ein und derselben Stelle angeboten werden können, als dies bei Einzelpraxen (die natürlich nach wie vor nach örtlicher Gegebenheit ihre volle Berechtigung haben) der Fall ist. Ich bin stolz, dass in der Steiermark mittlerweile mehr als zehn – österreichweit der Spitzenwert – dieser Zentren etabliert werden konnten. Deshalb bin ich auch zuversichtlich, dass wir unser im „Regionalen Strukturplan Gesundheit“ formuliertes Ziel von 30 Gesundheitszentren bis zum Jahr 2025 realisieren können. Die größte Herausforderung der nächsten Jahre im steirischen Gesundheitswesen stellt jedoch ganz sicher der Umbau der steirischen Spitalslandschaft dar, den die Regierungspartner ÖVP und SPÖ aber mutig weiter vorantreiben werden. Ich bin daher mehr als froh, dass sich die Steiermärkische Landesregierung im Regierungsprogramm „Agenda Weiß-­Grün“ zur Fortsetzung ­dieses Weges bekannt hat. Nicht, weil es so lustig ist, Standortdiskussionen zu führen (Stichwort: „Leitspital Liezen“). Auch nicht, weil es so erfreulich ist, allen Betroffenen erklären zu müssen, warum diese oder jene organisatorische beziehungsweise strukturelle Maßnahme an ­diesem oder jenem Spitalsstandort unbedingt notwendig ist. Es geht hier keineswegs um Reformen als Selbstzweck, sondern um die bestmögliche Versorgung der Steirerinnen und Steirer für die nächsten Jahrzehnte! Als abstrakte Zielsetzung formuliert, würden ­diesem Satz vermutlich über 90 % aller Steirerinnen und Steirer ihre Zustimmung erteilen. Das Ergebnis der am 7. April 2019 stattgefundenen Volksbefragung zum Thema „Soll es im Bezirk Liezen anstelle der bestehenden drei Krankenhausstandorte in Bad Aussee, Rottenmann und ­Schladming nur mehr ein zentrales ‚Leitspital‘ geben?“ hat – nicht unerwartet – ein anderes Ergebnis gezeigt. Dabei haben sich 67,27 %1 der an der Befragung teilnehmenden Bevölkerung für den Erhalt der bestehenden Standorte Schladming, Bad Aussee und ­Rottenmann ausgesprochen. Angesichts ­dieses zutage getretenen Stimmungsbildes vor Ort wären – im negativen Sinn – populistische Politiker sicherlich verleitet gewesen, den eingeschlagenen Kurs zu verlassen und das Projekt abzusagen. Insbesondere deshalb, weil die von FPÖ und KPÖ initiierte Volksbefragung auch als Ouvertüre für den nahenden Landtagswahlkampf zu sehen war. Dieser Versuchung wurde seitens der Steiermärkischen ­Landesregierung Juliane Bogner-­Strauß

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jedoch weitestgehend widerstanden. Die Steirische Volkspartei ist jedenfalls ihrer Linie treu geblieben und konnte bei der am 22. November 2019 stattgefundenen Landtagswahl – trotz der schwierigen Ausgangsposition – auch im Bezirk Liezen mit 34,15 % bei einem Stimmenzuwachs von 4,98 % ein sehr erfreuliches Ergebnis 2 erzielen. Ich vermag, wenn ich das Ergebnis der Volksbefragung mit jenem der Landtagswahl in Relation setze, daraus nur den Schluss ableiten, dass die Bürgerinnen und Bürger des Bezirks sehr genau ­zwischen Einzelentscheidungen (die zweifelsohne aus regionalpolitischer Sicht schmerzhaft sein können) und politischer Verantwortung für das große Ganze, das in meinem Ressort „Gesundheitsversorgung“ heißt, abwägen. Diese Verantwortung nehme ich wahr – im Interesse aller Steirerinnen und Steirer!

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Endgültiges Ergebnis der Volksbefragung am 7. April 2019 im politischen Bezirk Liezen zum Thema „Zentrales Leitspital“, abgerufen am 18. 2. 2020 unter https://www.kommunikation.steiermark.at/ cms/beitrag/12729593/29767960/: Stimmberechtigte: 61.953, Wahlbeteiligung: 42,18 %, Gesamtsumme der abgegebenen gültigen und ungültigen Antworten: 26.130, ungültige Antworten: 97, gültige Antworten: 26.033, Summe der gültigen Ja-­Antworten: 8.521 (32,73 %), Summe der ­gültigen Nein-­Antworten: 17.512 (67,27 %), Gesamtsumme: 26.033. Abgerufen am 18. 2. 2020 unter: https://egov.stmk.gv.at/wahlen/LT2019/LT2019_61200.html.

Herausforderungen der steirischen Gesundheitspolitik

BARBARA EIBINGER-­M IEDL

Die steirische Wirtschaft zwischen Sorge und Hoffnung

Die steirische Wirtschaft kann im Jahr 2019 auf eine erfolgreiche Entwicklung zurückblicken, die nur begrenzt Anlass zur Sorge, aber viele Gelegenheiten zur Hoffnung bot. Auch wenn die Eintrübung der weltweiten Wirtschaftsentwicklung auf einen exportorientierten Wirtschaftsstandort, zu dem die Steiermark in den letzten 30 Jahren geworden ist, natürlich Einfluss hat, konnte von einer Wirtschaftskrise keine Rede sein. Vielmehr zeigen erste Berechnungen des Wirtschaftswachstums in Österreich, dass die steirische Wirtschaft in einem nicht gerade einfachen Wirtschaftsumfeld nicht nur über dem österreichischen Durchschnitt von 1,5 Prozent gewachsen ist, sondern mit einer Wachstumsquote von 2,4 Prozent sogar an der Spitze der österreichischen Bundes­länder steht. Das Wachstum fiel zwar niedriger aus als im Jahr zuvor (2,7 %), der Rückgang ist jedoch weit geringer als dies beim gesamtösterreichischen Wachstum (2018: 2,4 %, Rückgang um 0,9 %) der Fall war. Eine weitere, für die steirische Industrie und Wirtschaft wichtige Kennzahl, die die gute Performance der Steiermark unterstreicht, ist jene des Exportzuwachses. Mit einer Steigerung von 13,9 Prozent auf 24,7 Milliarden Euro im Jahr 2018 konnte die Steiermark bereits zum zweiten Mal neue Rekordwerte vermelden. Und auch die Berechnungen für das Jahr 2019 zeigen, dass sich dieser Trend für das vergangene Jahr fortsetzt. So legten die heimischen Exporte im ersten Halbjahr 2019 gegenüber dem Jahr 2018 um 7,6 Prozent oder rund eine Milliarde auf 13,4 Milliarden Euro zu. Damit verzeichnete die Steiermark knapp hinter Wien (+ 7,8 %) den zweithöchsten Zuwachs aller Bundesländer. Einer der Hauptgründe für den Erfolg der Steiermark auf Inlands- und Auslandsmärkten ist bekanntermaßen ihre starke Innovationsorientierung, die durch die exzellente Zusammenarbeit ­zwischen Wissenschaft und Wirtschaft entsteht. Neben unseren Hochschulen, die entsprechende Kooperationen mit den Unternehmen pflegen, der landeseigenen Forschungsgesellschaft Joanneum Research und der Beteiligung an 25 von 42 österreichischen Kompetenzzentren, die ebenfalls angewandte Forschung auf internationalem Spitzenniveau betreiben, sind es auch die Unternehmen selbst, die die steirische Wirtschaft auf ihrem Innovations- und Wachstumskurs halten. Rund 75 ­Prozent der steirischen Forschungsleistung wird von der Wirtschaft finanziert, 62,6 Prozent Barbara Eibinger-­Miedl

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aller steirischen Unternehmen ab zehn Mitarbeitern beteiligen sich aktiv an der Entwicklung von Innovationen. Nicht zuletzt daraus resultiert auch die herausragende Forschungsquote der Steiermark. Die Steiermark investiert – gemessen an der Forschungsquote, ­welche den Anteil der Ausgaben für F&E am Bruttoregionalprodukt darstellt – mehr als alle anderen Bundesländer in Forschung und Entwicklung. Derzeit beträgt die Forschungsquote in der Steiermark 4,9 Prozent. Diese liegt deutlich über den Werten der nachfolgenden Regionen Wien (3,6 %) und Oberösterreich (3,5 %) sowie über dem österreichischen Durchschnitt (3,1 %). In der Steiermark wurden zuletzt etwa 2,3 Milliarden Euro jährlich in Forschung investiert. Diese Investitionen sind an konkreten Ergebnissen sichtbar. So konnte die Steiermark bei der letzten Erhebung für das Jahr 2016, was den Anteil an allen Erfindungen mit österreichischer Beteiligung beim europäischen Patentamt (angemeldete Patente) anbelangt, zum österreichischen Spitzenreiter Oberösterreich aufschließen. Konkret wiesen 21,4 Prozent aller Patentanmeldungen mit mindestens einem österreichischen Erfinder im Jahr 2016 eine steirische Beteiligung auf (2015: 16 %). Die Steiermark ist somit in den letzten Jahren nicht nur zum Land der Forscher, sondern auch zum Land der Erfinder geworden. Dies alles hat einen positiven Effekt auf den heimischen Arbeitsmarkt. Trotz der Konjunkturabkühlung stieg die Zahl der unselbständig Beschäftigten in der Steiermark im Jahr 2019 weiter an. Im Jahresschnitt konnte die Zahl an Aktivbeschäftigten gegenüber dem Vorjahr um 1,6 Prozent oder 8.300 auf 520.433 wachsen. Für 2020 wird ein weiterer Beschäftigungsanstieg – wenn auch in geringerem Ausmaß – auf rund 526.000 Beschäftigte erwartet. Besonders interessant ist dabei ein Blick auf die Altersverteilung: Den höchsten Zuwachs an Beschäftigten gab es in der Gruppe der über 50-Jährigen mit plus 4,1 Prozent (+5.749 Beschäftigungsverhältnisse). Die Zahl an Beschäftigten in der Gruppe der 25- bis 49-Jährigen stieg um 1,3 Prozent (+3.876), während in der Gruppe der unter 25-Jährigen ein Rückgang von 1,2 Prozent (-775) zu verzeichnen war. Nachdem die Steiermark seit dem Sommer 2016 einen durchgehenden Rückgang der Arbeitslosigkeit vermelden konnte, steigt diese seit dem Herbst 2019 wieder leicht an. Was dem Fachkräftemangel jedoch keinen Abbruch tut. Weiterhin sind qualifizierte Arbeitskräfte am steirischen Arbeitsmarkt hoch gefragt. Hier entsprechende Maßnahmen zu setzen, wird damit eine Hauptaufgabe der Politik für die kommenden Jahre sein. Erfreulich ist auch die Bilanz der Neugründungen von Unternehmen. 2019 wurden hierzulande 4.405 Neugründungen gezählt, das sind um 164 oder 3,9 Prozent mehr als im bisherigen Rekordjahr 2018. Inklusive der selbständigen Personenbetreuer waren es in der Steiermark sogar 5.996 neu gemeldete Firmen. Dabei weist die Statistik auch für 2019 einen starken Frauenanteil aus – so wurden hier 47,8 Prozent aller ­Unternehmen 28

Die steirische Wirtschaft zwischen Sorge und Hoffnung

(ohne Personenbetreuer) von Chefinnen gegründet. Und die Gründungsstatistik zeigt auch, dass erneut die Sparte Gewerbe und Handwerk mit knapp 40 Prozent den größten Anteil an Neugründungen verzeichnet, gefolgt von der Sparte Handel (32,6 %) sowie Information und Consulting (15,6 %). Die Abflachung des Wirtschaftswachstums stellt die Wirtschaftspolitik der Steiermark jedoch vor Herausforderungen. Diesen erfolgreich zu begegnen wird eine Hauptaufgabe der steirischen Landespolitik für das Jahr 2020 sein. Dabei gilt es zunächst, das Unternehmertum in der Steiermark verstärkt zu fördern. Dies betrifft zunächst die innovativen Gründerinnen und Gründer, die durch eine neue Beteiligungsoffensive bei der Expansion unterstützt werden. Darüber hinaus setzt das Land mit den Hochschulen weitere Schwerpunkte, um Ausgründungen aus wissenschaftlichen Einrichtungen durch neue Impulszentren weiter zu forcieren. Auch bei der Vernetzung ­zwischen Gründerinnen und Gründern, Start-­ups und etablierten mittelständischen Unternehmen werden neue Akzente gesetzt. Eine aus wirtschaftspolitischer Sicht ebenso interessante und wichtige Zielgruppe ist jene der Betriebsübergeber und Betriebsübernehmer. Bis zum Jahr 2027 stehen laut KMU Forschung Austria über 5.000 Betriebe in der Steiermark zur Übergabe an, die insgesamt mehr als 50.000 Arbeitsplätze sichern. Bereits im Jahr 2019 wurde daher seitens des Wirtschaftsressorts eine spezielle Förderaktion für Betriebsübernahmen geschaffen, weitere Maßnahmen werden im heurigen Jahr folgen. Um größere Betriebsansiedelungen und Investitionsvorhaben zu erleichtern, wird zudem erstmals auf Landesebene ein „Key Account Manager“ eingesetzt, der die Aufgabe haben wird, diese Großprojekte von Seiten der Verwaltung optimal zu begleiten und Verfahrenszeiten zu verkürzen. Ein großer Schwerpunkt des heurigen Jahres wird einmal mehr die Bekämpfung des Fachkräftemangels sein. Unsere hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zum echten Standortfaktor geworden, entsprechend wichtig ist es auch für das Land Steiermark, den Nachwuchs zu fördern und auch entsprechende Weiterbildungsangebote zu unterstützen. Dies geschieht einerseits durch eine Erweiterung des Angebotes des WKO -Talentcenters, das sich seit seiner Entstehung zu einem international beachteten Projekt entwickelt hat. Auf Initiative des Landes wird es ab sofort für die jungen Besucherinnen und Besucher des Talentcenters und deren Eltern das Angebot von kostenlosen Beratungsgesprächen geben. Damit wollen wir die Nachhaltigkeit der Checks erhöhen und den Jugendlichen sowie deren Eltern die Gelegenheit bieten, die Ergebnisse des Talentechecks genau zu analysieren sowie die Möglichkeiten in der eigenen Region auszuloten. Hinzu kommt im Jahr 2020 die neugeschaffene Meisterprämie, durch die wir nicht nur wie bisher Unternehmen bei der Finanzierung der Ausbildungskosten unterstützen, sondern auch die Absolvierung der Meister- oder Befähigungsprüfung persönlich honorieren. Barbara Eibinger-­Miedl

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In der Lehrlingsausbildung wird die Ausrichtung der EuroSkills 2020 in Graz einen besonderen Schwerpunkt bilden, an den steirischen Fachhochschulen soll das Studien­ angebot weiter ausgebaut werden. Parallel wird auch der Ausbau der steirischen Hochschulen durch Großprojekte wie das zweite Modul des Medcampus an der Medizinischen Universität Graz oder den Neubau des gemeinsamen Center of Physics von Karl-­Franzens-­Universität und Technischer Universität weiter voranschreiten. Ein weiteres Erfolgsgeheimnis der steirischen Wirtschaft sind seit vielen Jahren die steirischen Cluster, die die Vernetzung der Unternehmen untereinander, aber auch mit den steirischen Forschungseinrichtungen entscheidend vorantreiben. Sie werden uns auch im heurigen Jahr dabei unterstützen, die steirischen Stärkefelder Mobilität, Green Tech, Human Technology und Mikroelektronik weiter auszubauen. Für die Metallund Materialwirtschaft konnten wir unter dem Titel „Digital Materials Valley Styria“ gemeinsam mit der Austrian Society for Metallurgy and Materials (ASMET), mehreren steirischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie namhaften Unternehmen der Branche einen neuen Forschungsverbund ins Leben rufen, um die Digitalisierung der gesamten für die Steiermark so wichtigen Branche weiter voranzutreiben. Inhaltlich waren bereits die letzten Jahre in der steirischen Wirtschaft von der zunehmenden Digitalisierung geprägt. Diese verändert nicht nur das Konsumverhalten, sondern sorgt auch für neue Produktionsabläufe und teilweise gänzlich neue Geschäftsmodelle und Produkte. Dabei hat die steirische Wirtschaft die Digitalisierung immer als Chance begriffen, die es verantwortungsvoll zu ­nutzen gilt, damit sowohl Betriebe als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von den damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen profitieren können. Im Jahr 2020 sollen daher bestehende Initiativen in einer „Modellregion Digitalisierung“ gebündelt werden, die den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Steiermark unter dem Gesichtspunkt der Digitalisierung weiter stärkt und international noch sichtbarer macht. Konkret zählen dazu der Ausbau des neuen Spitzenforschungszentrums Silicon ­Austria Labs und des Silicon Alps Clusters im Bereich der Mikroelektronik, der Aufbau eines neuen Cybersecurity-­Campus an der TU Graz sowie die Stärkung unserer Forschungszentren ALP.Lab (Testregion für automatisiertes Fahren) und der neuen A ­ IRLabs – einem Forschungszentrum für unbemanntes Fliegen, das unter Federführung der steirischen Fachhochschule Joanneum entsteht. Auf Ebene der Landesverwaltung wird zudem an einer gesamtsteirischen Digitalisierungsstrategie gearbeitet, um die Digitalisierung auch ressortübergreifend stärker voranzutreiben. Von einer wirtschaftlichen Krise kann man in der Steiermark – trotz einer Eintrübung der Konjunktur – nicht sprechen. Aber die Zeiten werden auch für uns herausfordernder. Die steirische Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Forschung sind auf diese Herausforderungen vorbereitet.

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Die steirische Wirtschaft zwischen Sorge und Hoffnung

DORIS KAMPUS

Sozialpolitik: Neue Wege gehen

Sozialpolitik ist in den vergangenen Jahren zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geraten – eingekeilt ­zwischen bloßem Leistungsdenken und rechtspopulistischen System­ angriffen. Das zeigte zuletzt auch die Debatte rund um die Mindestsicherung. Statt sie bloß zu kürzen, sollte man vielmehr überlegen, wie eine moderne Sozialpolitik ausgestaltet sein sollte. Beginnen wir sozusagen an der Basis unseres sozialen Systems. Seit mehreren Jahren wird die sozialpolitische Frage mit wechselnder Intensität diskutiert, in welcher Form das so genannte letzte soziale Netz ausgestaltet werden soll. Selbstredend handelt es sich dabei um eine zutiefst gesellschaftspolitische Angelegenheit. Aus der Antwort auf diese Herausforderung lässt sich nämlich auch das Grundverständnis darüber ableiten, wie wir Gesellschaft sehen, ­welchen Wert wir dem Zusammenhalt beimessen und wie wichtig uns der einigermaßen faire Ausgleich an Lebenschancen ist. Rückblickend kann gesagt werden, dass mit der Einführung der ­Bedarfsorientierten Mindestsicherung am 1. September 2010 erstmals die Mindeststandards österreichweit vereinheitlicht worden sind, während den Bundesländern ein Gestaltungsspielraum eingeräumt wurde, um regionale Unterschiede auszugleichen. Von ihrer Grundkonzeption her hat sich diese Lösung durchaus bewährt. Deshalb waren politische Initiativen, wie jene, die 2016 am Veto eines Bundeslandes gescheitert ist, sowie ein neuerlicher Anlauf im Frühjahr 2018, darauf ausgerichtet, die Bedarfsorientierte Mindestsicherung zwar weiter zu harmonisieren, aber dennoch in der Kompetenz der Länder zu belassen. Schien zunächst ein Kompromiss ­zwischen den Bundesländern auf der eine Seite und der damaligen Bundesregierung, gebildet von ÖVP und FPÖ, auf der anderen Seite möglich, stellte sich im April 2018 sehr schnell heraus, dass die Bundesregierung die Neuregelung im Alleingang durchführen würde. Nach mehreren Monaten wurden dann zunächst Grundzüge und im Frühjahr 2019 die Details der neuen Sozialhilfe präsentiert, die dann letztlich in ihren Kernelementen vom Verfassungsgerichtshof aber aufgehoben wurde. Stand Jänner 2020 ist, dass es ein Rumpfgrundsatzgesetz gibt, das von den Ländern (je nach ihren sozialpolitischen, regionalen Besonderheiten) adaptiert Doris Kampus

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werden muss. Das Ziel, einen österreichweit möglichst einheitlichen Mindeststandard festzulegen, ist damit in weite Ferne gerückt. Dieser Zustand bietet aber die Möglichkeit, im Grundsätzlichen nachzufassen und einige fundamentale Leitlinien für eine Sozialpolitik zu skizzieren, die den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen und Herausforderungen des Jahres 2020 entsprechen. Erstens muss die neue strategische Ausrichtung – auch der neuen Sozialhilfe – dem Prinzip moderner Sozialpolitik entsprechen, Menschen zu befähigen, möglichst rasch ihr eigenes Leben wieder so in die Hand nehmen zu können, dass sie nicht mehr (oder nicht mehr in ­diesem Umfang) Leistungen aus dem Basissystem brauchen. Zweitens muss ganz generell die Bekämpfung der Armut im Mittelpunkt stehen statt die der Armen. Dauerhaft können nur gute und bessere Ausbildung und damit mehr Chancen am Arbeitsmarkt Menschen davor bewahren, von Armut bedroht zu sein. Unbestreitbar bleibt die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme für all jene Menschen, die – aus ­welchen Gründen auch immer – in eine Notlage geraten und Hilfe durch die Allgemeinheit brauchen. So ist die Anhebung der Nettoersatzrate, also die Höhe des Arbeitslosengeldes, ein Gebot der Stunde, um die Gefahr von Verarmung einzudämmen. Drittens muss es das Ziel sein, nicht nur die Arbeitslosigkeit zu senken, sondern auch die Erwerbseinkommen zu erhöhen. In den vergangenen Jahren hat es in aller Regel keine Zuwächse bei den Realeinkommen gegeben, während die Wertschöpfung deutlich zugelegt hat. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen Anspruch, in fairer Weise an den wirtschaftlichen Leistungen und Erfolgen teilzuhaben. Viertens ist ein größerer Anteil an Sachleistungen im Rahmen der Mindestsicherung – analog dem System der Integrationshilfe, wie es in der Steiermark etabliert wurde – grundsätzliche Überlegungen wert. Allerdings wird man dabei immer im Auge behalten müssen, dass die allermeisten Bezieherinnen und Bezieher von Mindest­ sicherung kein Problem im Umgang mit Geld, sondern schlicht zu wenig davon haben. Fünftes muss in ­diesem Kontext auch ein anderes, zugegeben kontrovers bewertetes Instrument der Sozialpolitik mitgedacht werden: das solidarische Grundeinkommen, das sich von einem bedingungslosen Modell dadurch entscheidet, dass die Geldleistungen an gemeinnützige Arbeiten wie Müllbeseitigung, Pflege des öffentlichen Raumes oder Begleit- und Einkaufsdienste geknüpft sind, dennoch aber ein Auskommen in Würde ermöglichen. Wir müssen die Armutsbekämpfung mit neuen politischen Ansätzen verfolgen und dabei ohne ideologische Scheuklappen diskutieren. Das Augenmerk muss dabei auch auf soziale Gruppen wie Working Poor gerichtet sein – Menschen, die trotz Arbeit von Armut bedroht oder betroffen sind, weil sie zu wenig verdienen. An dieser Stelle muss ein fairer Mindestlohn ebenso genannt werden wie der Umstand, dass Qualifizierung in einigen Segmenten der Wirtschaft durchaus der Weg zu einem besseren Einkommen ist. 32

Sozialpolitik: Neue Wege gehen

Gelänge es, aus dem Kontext der bloßen Kürzungs- und negativen Sozialneiddebatte rund um die Neuordnung der Mindestsicherung auszubrechen und gleichzeitig einen Spielraum für moderne und kreative Basislösungen zu eröffnen, ergäbe sich damit auch ein strategischer Wechsel: Die Diskussion rund um soziale Fragen würde anders als bisher nicht in einer reinen Verteidigungsposition geführt, sondern aufzeigen, dass es möglich ist, zeitgemäße Antworten auf aktuelle, sozialpolitische Herausforderungen zu finden. Wir müssen neue Wege gehen – nicht nur in der klassischen Sozialpolitik. Die Veränderungen der Gesellschaft erfordern auch in anderen Bereichen einen Prozess dynamischer Anpassung. Wer stehen bleibt, fällt aber auch sozialpolitisch zurück oder erbringt Leistungen, für die der Bedarf möglicherweise nicht mehr (oder aktuell anders) gegeben ist. Im Aufgabengebiet des Sozialressorts des Landes kann in ­diesem Zusammenhang ebenso beispielhaft auf die Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der Behinderten­hilfe hingewiesen werden, die die Sozialpolitik inhaltlich und finanziell vor Heraus­forderungen stellen. Zwar hat die Steiermark dank der gesetzlichen Absiche­ rung rechtlicher Ansprüche Betroffener ein Niveau, das sich sichtbar von anderen Bundes­ländern unterscheidet, klar ist aber auch, dass weiterhin massive Anstrengungen notwendig sind, um das Ziel einer inklusiven Steiermark und einer möglichst fairen Chancen­gerechtigkeit zu erreichen. Dabei handelt es sich um international eingegangene Verpflichtungen Österreichs wie etwa die UN-Behindertenrechtskonvention, aber auch selbstgesteckte Arbeitsprogramme wie nationale Aktionspläne. Ganz besonders gilt es in ­diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Behindertenhilfe ebenfalls durch die Tatsache herausgefordert ist, dass erfreulicherweise immer mehr Menschen mit Behinderung alt werden. Damit tun sich im Übergang zum Pflegethema ganz neue Fragen auf, auf die wir Antworten finden müssen. In diesen Kontext gehört auch die begrüßenswerte Forderung, so genanntes „Taschengeld“ durch einen Lohn einschließlich sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche auch mit Hinblick auf eine eigene Pensionsleistung zu ersetzen – eine Forderung, für deren Umsetzung der Bund zuständig ist. Was das Land Steiermark in der Behindertenhilfe neu zu regeln hat wie etwa die Schnittstellen zu anderen Ressortbereichen wie Bildung, Gesundheit und Pflege oder auch Baurecht (Stichwort: Barrierefreiheit), muss sich in einem neuen zeitgemäßen Inklusionsgesetz wiederfinden, das in den nächsten Monaten und somit zu Beginn dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden soll. Dabei gilt generell: Eine moderne Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik, die in partizipativen Prozessen unter Einbindung Betroffener und Berücksichtigung von professioneller Expertise entwickelt wird. Wir haben in der Steiermark, insbesondere in der Behindertenpolitik mit der Partnerschaft Inklusion, aber auch in anderen Politikfeldern Doris Kampus

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wie etwa dem Armutsnetzwerk oder dem Gewaltschutzbeirat Institutionen etabliert, in denen Problemstellungen gemeinsam definiert und diskutiert werden, um daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es zu diesen Prozessen keine Alternativen gibt, wenn man nicht Politik von oben herab machen will. Unbestreitbar eine Frage aktueller Sozialpolitik betrifft die Gleichstellung von Männern und Frauen, Jungen und Älteren, Menschen, die in Österreich geboren sind, und solchen, die anderswo zur Welt gekommen sind. In keinem Bereich dürfen Menschen aufgrund von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder Herkunft benachteiligt werden. Die Steiermark soll zu einer Menschenrechtsregion werden. Auf der Weiterentwicklung des Gewaltschutzrechtes liegt dabei ein besonderer Fokus. Gewalt- und Kinder­ schutz sind ständigen Herausforderungen einer modernen Sozialpolitik – ebenso wie die wachsende Gruppe von älteren Menschen mit der Vielfalt ihrer Lebenssituationen. Die Grundwerte unseres Rechtsstaates und unserer Gesellschaft besitzen umfassende Gültigkeit. Dieses Bekenntnis stellt einen Teil der Pflichten von Menschen, die zu uns kommen, dar. Dass wir sie auf ihrem Weg zur Integration im Sinne des Prinzips „Fordern und Fördern“ unterstützen, ist unser Angebot und Bekenntnis zu begleiteter und gestalteter Integration. Gelingende Integration ist auch ein Beitrag zu einer friedlichen Steiermark. Grundlegende Verstöße gegen unsere demokratiepolitischen, gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden sanktioniert. Auch dies ist ein Wesenszug moderner Sozialpolitik, die dem Prinzip des ­zivilisierten Ausgleichs von Interessen als Kitt der Gesellschaft folgt.

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Sozialpolitik: Neue Wege gehen

GEORG KNILL

Von guten Absichten und verbindlichen Zielen

Die weltweite Konjunktur trübt sich nach einigen sehr positiven Jahren wieder ein. Alle wirtschaftlichen Indikatoren gehen nach unten, das gilt für Europa genauso wie für den asiatischen Markt. Die stark exportorientierte steirische Industrie braucht in diesen volatilen Zeiten die Unterstützung der Politik, um ihren wichtigen Beitrag zum Wohlstand im Land trotz Gegenwind aufrechterhalten zu können. Und sie bekommt ihn auch. Wobei es, das ist zu betonen, nicht um freundliche Gesten geht, sondern um die Aufrechterhaltung und den unentwegten Ausbau der bestmöglichen Rahmenbedingungen für den Standort Steiermark als Wirtschafts-, Technologie- und Arbeitsregion, kurz als Lebensregion für hunderttausende Menschen, die von einer erfolgreichen Industrie profitieren. Um überhaupt handlungsfähig zu sein, muss die öffentliche Hand sich vor allem finanzielle Spielräume schaffen. Das zu betonen, war die Industrie niemals müde. Es ist daher höchst erfreulich, in einem weiß-­grünen Regierungsprogramm diesen Satz zu lesen: „Wir werden im Sinne des Handlungsspielraums künftiger Generationen die notwendigen Maßnahmen treffen, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, keine neuen Schulden zu machen und den Schuldenstand des Landes zu verringern. Hierdurch werden wir auch die Beibehaltung des hervorragenden Ratings der Steiermark gewährleisten.“ Auch wenn das nur als Absichtserklärung ohne zeitliche Festlegung formuliert ist, kann die Tatsache, dass dieser Wille im Programm 2019 – 2024 niedergeschrieben ist, ja wohl nur eines bedeuten: Die Maßnahmen werden ab sofort gesetzt, damit spätestens 2024 der Erfolg umfassend sichtbar und spürbar ist. Als Industrie haben wir die Konsolidierung des Landeshaushalts bis 2023 (vor der Wahl noch als Vision) in den Raum gestellt. Aber diese Vision kann, nein, sie muss wahr werden, wenn das Programm, die „Agenda Weiß-­Grün“ wahr werden soll.

Georg Knill

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Effizienz ohne Qualitätseinbußen Deswegen wird niemand darben müssen. Es geht schlicht um Effizienz. Eco Austria hat überzeugend nachgewiesen, dass einige Bundesländer die Mittel etwa für Bildung, Gesundheit oder Pflege einfach nur wirkungsvoller einsetzen und daher mit dem gleichen Geld zu besseren Ergebnissen bzw. mit weniger Geld zu gleich guten Ergebnissen kommen wie andere. In einem Effizienzvergleich der Bundesländer hat Eco Austria bereits 2018 ein Einsparungspotenzial von knapp sechs Milliarden Euro errechnet. Untersucht wurden dafür öffentliche Verwaltung, das Spitalswesen (stationäre und ambulante Gesundheitsleistungen), die Pflegedienstleistungen, das Pflichtschulwesen, das Kinderbetreuungswesen und die Wohnbauförderung. Dabei schneiden je nach Kapitel unterschiedliche Bundesländer jeweils am besten ab. Laut Eco Austria entspricht das Einsparungspotenzial „1,6 % bis 1,7 % des österreichischen BIP, die gehoben werden könnten, ohne das Niveau öffentlicher Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger zu senken“. Es geht also keineswegs darum, die Leistungen zu verschlechtern. Das Ziel kann es nur sein, das Bestmögliche mit den verfügbaren Mitteln zu erreichen und sie nicht zu verschwenden, wie es einige offenbar tun. Wobei die rund sechs Milliarden Euro oder 1,6 bis 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in etwa den Konjunkturprognosen entsprechen. Das heißt, wir könnten durch sorgsameren Umgang mit den öffentlichen Mitteln das prognostizierte Wirtschaftswachstum mehr als verdoppeln – ohne, dass die Österreicherinnen und Österreicher auf irgendetwas verzichten müssten.

Steuerreform Abseits aller ideologischen Differenzen gibt es doch einen weiten Konsens darüber, dass Menschen einer sinnstiftenden Arbeit nachgehen können sollten. Nun ergibt eine wissenschaftliche Untersuchung der Effekte einer Senkung der steuerlichen Belastung von Einkommen und einer Reduktion der Körperschaftssteuer, dass dadurch mehrere 10.000 Arbeitsplätze zusätzlich entstehen könnten, was die Arbeitslosigkeit senken würde. Eine ­solche Steuerreform kostet auf den ersten Blick dennoch Geld. Aber auf den zweiten Blick löst sie allerdings auch Wirtschaftswachstum aus. Damit finanziert sie sich zu einem erheblichen Teil selbst. Senkung der Belastungen und Nulldefizit der öffentlichen Haushalte sind also gemeinsam mit der Hebung der Effizienzpotenziale durchaus kein Widerspruch. Ein schlankerer Staat ist also keineswegs einer, der weniger auf die Bürgerinnen und Bürger schaut, er ist nur einer, der weniger (ver-)braucht.

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Von guten Absichten und verbindlichen Zielen

Kleine Rädchen – große Wirkungen In dem Papier „Lösungen für die Steiermark“ hat die steirische Industriellenvereinigung auf Grundlage der Impulse von mehr als 100 Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern aus Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft eine Vielzahl von Maßnahmen formuliert, die den Lebens- und Wirtschaftsraum Steiermark stimulieren. Darunter sind viele kleine Projekte, die wenig oder gar nichts kosten bzw. sich weitestgehend selbst finanzieren. Im Themenfeld „Lernen und Arbeiten“ geht es etwa darum, Nachbarregionen – Kärnten, Slowenien und andere – gemeinsam mit der Steiermark zu betrachten. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, Grenzkontrollen für slowenische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steirische Unternehmen weniger zeitaufwändig gestaltet werden können, nützt das sowohl den Unternehmen als auch den betroffenen Menschen. Bildung so zu gestalten, dass Absolventinnen und Absolventen (die das wollen) auch angemessene Arbeitsplätze finden können, gehört ebenfalls dazu. Wir wissen, dass es im so genannten MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) für Unternehmen ungemein schwierig ist, ausreichend qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden. Talentierte junge Menschen sollten also dazu motiviert werden, sich das entsprechende Wissen und Können in ­diesem Bereich anzueignen. Wenn es aber keine geeigneten Schulen in der näheren Umgebung gibt, wirkt das das demotivierend. Das gehört also geändert. Der Ausbau der – im Österreich-­Vergleich unterdurchschnittlich geringen – Betreuungsangebote vor allem für kleine Kinder erleichtert es Eltern, am Berufsleben teilzunehmen und Vollzeit-­Jobs anzunehmen. Unternehmen, die Betriebskindergärten ­schaffen, sollten jede erdenkliche Hilfe bekommen und sich nicht im Kompetenz-­ Dschungel verirren können. Bei Forschung, Entwicklung und Innovation schneidet die Steiermark hervorragend ab – vor allem dank renommierter wissenschaftlicher Einrichtungen und engagierter Unternehmen, die sich hier stark einbringen und viel investieren, um auf der Welt bestehen zu können. Das Land Steiermark verfügt über eine herzeigbare Forschungsstrategie, auf die es stolz sein kann. Es braucht aber auch eine Human-­Resources-­ Strategie, damit es die Menschen gibt, die forschen und entwickeln. Und es braucht ein Umfeld, in dem sich innovative Start-­ups gut entwickeln können.

Infrastruktur, auf die wir bauen können Der Koralmtunnel ist auf Schiene – im übertragenen und wörtlichen Sinn. Wenn er fertiggestellt sein wird, sollten aber auch alle Begleitmaßnahmen, die dazu beitragen,

Georg Knill

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das Potenzial ­dieses Jahrhundertbauwerks optimal zu ­nutzen, bereits Wirklichkeit oder zumindest eingeleitet sein. Die ähnlich wichtige Pyhrn-­Schober-­Achse braucht jedenfalls noch Unterstützung, wenn die verstärkte Nutzung der Schiene gelingen soll. Dazu ist regionale, nationale und internationale Koordination nötig. Die Breitbandinitiative muss ebenfalls entschlossen vorangetrieben werden  – ­schnelles Internet ist für die Steigerung der Wertschöpfung unabdingbar. Der Ausbau muss dort ansetzen, wo bereits heute die Wertschöpfung der Steiermark angesiedelt ist. Stärken stärken ist auch hier die Devise. Der Flughafen Graz, der die Steiermark mit der Welt verbindet, muss in seiner Bedeutung gesichert und ausgebaut werden. Mit dem Süden (A9) und dem Osten (S7) können die Steiermark nur leistungsfähige Straßen verbinden.

Alles ist vernetzt – eine große Vision als Überbau Dieser kleine Auszug aus einem umfangreichen Maßnahmenkatalog zeigt: Alles hängt miteinander zusammen. Forschung und Bildung, Infrastruktur und Arbeitsplätze, Ökologie und Ökonomie, sie alle bedingen einander, bauen aufeinander auf, sind ohne einander nicht denkbar. Also braucht es eine große steirische Vision als Überbau. Es braucht ein Zukunftsbild, in das sich die kleinen und großen Maßnahmen einfügen. Diese „Vision 2024“ für die hochentwickelte Industrie- und Wissenschaftsregion Steiermark ist die große Klammer, der Wegweiser.

Ohne Verzögerung beginnen Das neue Regierungsprogramm der Steiermärkischen Landesregierung, aber auch das Programm der Bundesregierung sind ambitionierte und mutige Papiere, die Hoffnung machen. Hoffnung darauf, dass wir unseren Vorsprung halten, ja sogar ausbauen können und dass wir Defizite, die wir in einigen Bereichen auch haben, ausgleichen werden. Um diese Programme Wirklichkeit werden zu lassen, ist aber eines notwendig: Entschlossenheit. Nur wenn Projekte und Maßnahmen sofort angegangen werden, können sie gegen Ende der Regierungsperioden bereits Wirklichkeit oder so greifbar sein, dass sie nicht mehr aufzuhalten sind. Bekenntnisse und Absichtserklärungen sind ermutigend. Um aber handfest zu werden, bedarf es einer glaubwürdigen zeitlichen Festlegung. Wann soll gestartet werden, was sind die Meilensteine, bis wann soll der Abschluss gelingen?

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Von guten Absichten und verbindlichen Zielen

Die Ziele sind festgelegt, es sind viele erfreuliche Ziele. Der verbindliche Kurs, auf dem sie erreicht werden können, ist aber noch abzustecken. Damit die Steiermark und Österreich nicht in guten Absichten steckenbleiben.

Literatur Lösungen für die Steiermark: https://steiermark.iv.at/de/loesungen

Georg Knill

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KATHRIN STAINER-­H ÄMMERLE

Die Landtagswahlen in Vorarlberg

2019 sollte ein eher ruhiges politisches Jahr in Österreich werden mit nur zwei größeren Wahlen: der EU-Wahl im Mai und der Vorarlberger Landtagswahl im September. Dann kam Ibiza und die Wahlen im Westen rutschten nicht nur zeitlich nach hinten, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung nach unten. Die vorgezogene Nationalratswahl am 29. September eröffnete für Österreich erstmals eine Koalitionsvariante, die zwei Wochen ­später in Vorarlberg bereits zur Wiederwahl stand: Schwarz-­Grün. Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) hat rückblickend richtig entschieden, die Regionalwahlen nicht gleichzeitig mit der Bundeswahl abzuhalten. So wurden nicht nur logistische und rechtliche Risiken aufgrund der unterschiedlichen Wahlgesetze vermieden, sondern auch der Rückenwind aus Wien optimal genutzt. Doch niemand konnte zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Wahltermin ahnen, dass vor allem die Grünen eine derartige politische Auferstehung feiern würden. Die Hoffnung der FPÖ , dass die Unzufriedenheit durch die skandalträchtigen Aussagen zweier Parteispitzen auf einem Urlaubsvideo bereits von den Wählern abgetan wäre, erfüllte sich hingegen nicht. Im Ländle herrschte jedenfalls alles andere als eine Wechselstimmung. Sechs von zehn Wählern waren laut SORA -Wahltagsbefragung zufrieden mit der Arbeit der schwarz-­grünen Landesregierung. Als Koalitionsvariante stand Schwarz-­Blau ohnehin nicht zur Verfügung. Wallner schloss eine Koalition mit der FPÖ weiterhin aus und deren Chef Christoph Bitschi unternahm im Wahlkampf wenig, um das Verhältnis ­zwischen den Parteien zu verbessern, dessen Bruch sein Vorgänger Dieter Egger mit einem antisemitischen Sager 2009 verursacht hatte. Wenig überraschend war die Abgrenzung beinahe aller Parteien von ihrer Mutterpartei in Wien. Selbst die ÖVP zog nach dem 29. September rasch die türkisen Westen aus und kämpfte in gewohntem Schwarz weiter. Immerhin lag das Potenzial der ÖVP bei Landtagswahlen weit über den erreichten 36,6 Prozent Wählerstimmen von der Nationalratswahl. Manche hofften gar wieder auf eine Absolute. Markus Wallner blieb in seinen Aussagen während des Wahlkampfes immer bescheiden und vorsichtig, den Unterschied ­zwischen Landes- und Bundespolitik stets betonend. Zu ­Themen Kathrin Stainer-­Hämmerle

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wie Zuwanderung und Sozialversicherung, Schulpolitik und Föderalismusreform lagen offen kommunizierte Welten ­zwischen Bregenz und Wien. Beim Mordfall an der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn kritisierte Wallner mit deutlichen Worten den damaligen FPÖ -Innenminister Herbert Kickl. Dessen Parteikollege Christoph Bitschi, der sich bei seiner Wahl am FPÖ-Parteitag noch mit Daumen-­hoch-­Pose neben Heinz-­Christian Strache stellte, forderte inzwischen den Rauswurf seines gefallenen Ex-­Parteichefs. Auch wenn Wahlkämpfe in Vorarlberg traditionell ohne große Einmischung von Bundespolitikern vonstattengehen, fiel die Betonung der Eigenständigkeit 2019 noch deutlicher aus. Ähnlich hatte die Vorarlberger SPÖ keine Freude mit den Personaldiskussionen rund um Pamela Rendi-­ Wagner nach ihrer „Die Richtung stimmt“-Aussage nach der verlorenen Nationalratswahl. ­Martin Staudinger hielt sich mit Kritik an seiner Parteichefin zwar zurück, doch sein Slogan „Mitanand“ – eine alemannische Form des sozialdemokratischen Kampfbegriffs Solidarität – zündete ebenso wenig wie er als Frontrunner. Neben Bitschi war er der einzige „Neuling“ unter den Spitzenkandidaten und hatte zusätzlich mit dem Nachteil zu kämpfen, als Rückkehrer aus Wien bisher weder ein Mandat im Land noch in einer Gemeinde inne gehabt zu haben. So fehlte neben dem Bekanntheitsgrad auch die politische Bühne. Johannes Rauch sah sich hingegen nach der Nationalratswahl ein gutes Stück seinem Ziel näherrücken: der Fortsetzung der Koalition seiner Grünen mit der ÖVP. Doch bei Infrastrukturprojekten wie der Autobahnverbindung in die Schweiz oder dem Stadttunnel in Feldkirch galt es im Wahlkampf vorsichtig konkreten Antworten auszuweichen. So harmonisch die Regierungsarbeit im Bregenzer Landhaus oft erschienen ist, so bekannt waren auch die unüberbrückbaren Differenzen ­zwischen den Partnern in diesen Fragen. Die Neos boten mit Sabine Scheffknecht die einzige weibliche Spitze auf und hatten hauptsächlich zwei Hoffnungen: das dritte Mandat und damit die Klubstärke zu erreichen und wenn schon nicht im Bund, so vielleicht im Ländle als Mehrheitsbeschaffer gefragt zu werden. Der Wahlabend brachte zwei Sieger, zwei durchwachsene Ergebnisse und einen klaren Verlierer. Die ÖVP konnte zwar nur leicht auf 43,5 Prozent zulegen, sich aber deutlich als Nummer eins von der Konkurrenz absetzen. Die Grünen erreichten mit beinahe 19 Prozent Platz zwei und übertrafen damit noch ihr Fabelergebnis von 2014. Die SPÖ scheiterte erneut an der 10-Prozent-­Marke, die Neos blieben aber einen Prozentpunkt hinter ihr und mit 8,5 Prozent auf dem letzten Platz. Das reichte dennoch für das dritte Mandat. Von den sonstigen Parteien schaffte keine den Einzug in den Landtag. Insgesamt erreichten die sieben Kleinparteien HAK (Heimat aller Kulturen), Männerpartei, CPÖ (Christliche Partei), Wir (Plattform für Familien- und Kinderschutz), Xi, Gilt und Der Wandel aber erstaunliche 5,7 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 61 Prozent. 42

Die Landtagswahlen in Vorarlberg

Ergebnis Differenz in Prozent LTW 2014

Differenz NRW 2019

Ergebnis in Differenz absoluten LTW 2014 Stimmen

Differenz Mandate NRW 2019

ÖVP

43,5

+1,7

+6,9

71.911

+706

+4.371

17 (+1)

Grüne

18,9

+1,8

+0,8

31.201

+2.008

-2.261

7 (+1)

FPÖ

13,9

-9,5

-0,8

23.011

-16.881

-4.110

5 (-4)

SPÖ

9,5

+0,7

-3,6

15.635

+687

+8.597

4 (+1)

Neos

8,5

+1,6

-5,1

14.064

+2.321

-10.953

3 (+1)

Tabelle: Wahlergebnisse der Vorarlberger Landtagswahlen 2014 und 2019 sowie der Nationalratswahlen 2019 im Vergleich in Prozenten und in absoluten Stimmen. Quellen: http://apps.vorarlberg.at/wahlen/wahl/LT?id=LT_2019-10-13; https://wahl19.bmi.gv.at/8. html.

Die größte Wählerabwanderung traf erwartungsgemäß die FPÖ, die sogar das schlechte Nationalratswahlergebnis unterbot. Jeder vierte ihrer Wähler blieb zu Hause, 7.000 entschieden sich für die ÖVP. Immerhin 6.000 ehemalige Nichtwähler konnten die Grünen ansprechen. In der Gruppe der unter 30-Jährigen wie bei Akademikern wurde der Juniorpartner sogar stärkste Partei. Die FPÖ punktete hingegen bei Arbeitern und den Unzufriedenen. Für die ÖVP-Wähler war Landeshauptmann Wallner der Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung. Bei allen anderen Parteien standen die Inhalte im Vordergrund, wobei sich die dominierenden ­Themen unterschieden: Bei den Grünen war dies der Klimaschutz, bei der FPÖ die Zuwanderung, bei der SPÖ die Kosten des täglichen Lebens und bei den Neos Arbeitsplätze und Wirtschaft.1 Bemerkenswert ist noch der Umstand, dass es die ÖVP schaffte, in allen 96 Gemeinden die stärkste Kraft zu werden, während bei Platz zwei ein Teppich im grün-­blauen Mix entstand – mit wenigen roten und pinken Flecken. Somit wurden bei dieser Wahl im Westen die Karten nicht wirklich neu gemischt, auch wenn die schwarzen Bäume trotz der Verluste der FPÖ nicht in den Himmel wuchsen. Rasch war klar, dass Wallner und Rauch zügig gemeinsam am nächsten Regierungsprogramm arbeiten wollten. Statt 100 Tage wie im Bund benötigten sie gerade zwei Wochen für ihre Verhandlungen. Am 5. November präsentierten sie bereits ihr Arbeitsübereinkommen mit dem zentralen Motto „Unser Vorarlberg – chancenreich und nachhaltig“. Somit blieb auch nach der Wahl mit Schwarz-­Grün alles wie gehabt. Eine Premiere ereignete sich dann doch noch: Mit Barbara Schöbi-­Fink wurde erstmals eine Frau zur Statthalterin gewählt. Als letztes Bundesland besetzte endlich auch Vorarlberg zumindest die Landeshauptmannstellvertretung weiblich. Fehlt nur noch, dass diese Position auch einmal an eine andere Partei übergeht. Denn Schöbi-­Fink und ihren vier Regierungskollegen von der ÖVP sitzen nur zwei Grüne gegenüber. Womit dann doch klar ist, wer im Ländle das Sagen hat. Kathrin Stainer-­Hämmerle

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Sebastian Kurz sieht in der türkis-­grünen Koalition „das beste zweier Welten“. In Vorarlberg zeigte sich, dass diese Zusammenarbeit für beide Partner zu Wahlgewinnen führen kann, wenn wenig Streit nach außen dringt. Die Regel, dass Juniorpartner nie gewinnen können, wurde somit in Vorarlberg widerlegt. Die Wähler entschieden sich für die Koalition und nicht nur für eine Partei. Die Grünen wurden sicher von vielen taktischen Wählern unterstützt, die den möglichen Juniorpartner stärken wollten, nachdem die Position des Landeshauptmannes nie in Frage stand. Es ging also doch um eine Richtungswahl ­zwischen Rechts und Links, ­zwischen Blau und Grün. Wenn auch nur in zweiter Reihe. Welche Schlüsse können nun die Beobachter im Bund aus der Regionalwahl im Westen ziehen? Zweiter in einer Regierung muss nicht unbedingt Mist sein. Die Wähler unterstützen inzwischen auch Koalitionen, nicht nur Parteien. Vorausgesetzt sie treten als Koalition auf. Und hier bestimmt dann doch der stärkere Partner die Regeln. Aber nicht immer. Beim unlösbaren Konflikt um die Landesgrünzone entscheiden über Betriebsansiedelungen auf der grünen Wiese immer wieder die Bürger in einer Volksabstimmung. So stimmte bald nach der Angelobung der neuen Regierung die Bevölkerung gegen die Expansionspläne der Firma Rauch, aber für die Erweiterung des Kiesabbaus in einer anderen Gemeinde. Das löst für die Koalitionspartner einen scheinbar unlösbaren Konflikt: Sie lassen einfach das Volk ­zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen entscheiden. Vorarlberg hält das aus – sowohl die Koalition wie auch die Bevölkerung. Hauptsache die Regierung hält. Kritik wird lieber an den Zuständen hinter dem Arlberg geübt.

1

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Siehe SORA/ISA-Wahltagsbefragung, https://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2019_ LTW-Vbg_Wahlanalyse-­Grafiken.pdf.

Die Landtagswahlen in Vorarlberg

GÜNTER RIEGLER

Die nachhaltige Entwicklung der Stadt Graz in Zukunftsbildern Ein Beitrag zur Frage, wie wir leben wollen!

Politische Arbeit zielt darauf ab, einen Ausgleich ­zwischen Interessensgegensätzen zu vermitteln und einen Kompromiss ­zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen über einen gewünschten Sollzustand des Zusammenlebens zu finden. Es geht also letztlich um die Frage, „wie wir leben wollen“. Nichts weniger ist die zentrale Fragestellung des Kulturjahres 2020. Im Kulturjahr 2020 wollen wir mit den Mitteln der Wissen­schaft, des Diskurses und der Kunst die zentralen Fragen verhandeln, die Einfluss auf das künftige Zusammenleben in unserer Stadt haben werden. Es sind dies global wirkende Einflussfaktoren wie Klimawandel, Urbanisierung und Digitalisierung. Für all diese Kraftfelder und Veränderungstreiber gilt, dass diese erstens global wirksam sind, zweitens durch den Einzelnen nicht oder nur geringfügig beeinflussbar sind und dass es drittens Anpassungsstrategien braucht, wie wir deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, wie wir sie kennen und schätzen, in sinnvolle Richtungen lenken. Wissenschaftliche Kerndisziplinen für die Bewältigung dieser Herausforderungen sind Ökonomie und Technologie. Erstere, weil durch die Wahl ökonomischer Instrumente die Spielregeln für die Entstehung, Verwendung und Verteilung von Wohlfahrtsgewinnen gelenkt werden und Anreize für individuelle Verhaltensänderungen bewirkt werden können. Zweitere, weil durch technologische Entwicklungen Effizienzgewinne erzielt werden können. Daher haben wir die Eröffnung des Kulturjahres 2020 am 23. Jänner 2020 als Konferenz entlang dieser Themenstellungen programmiert und Sprecher aus den genannten Fachdisziplinen eingeladen, ihre Einschätzungen und Modelle für die Zukunft zu beschreiben. Im Folgenden versuche ich einige Bilder zu zeichnen, die ein mögliches Zukunftsbild für Graz 2050 beschreiben könnten.

Ökonomie und Klimawandel – und was Graz bereits für die nachhaltige Infrastruktur tut Ich bin mir sicher, dass sich in den meisten Ökonomien mittelfristig die Idee einer CO 2-Besteuerung durchsetzen wird. Der Ausbau des schienengebunden öffentlichen Günter Riegler

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­ erkehrs, auch des öffentlichen Nahverkehrs, wird an Fahrt gewinnen. Die Erschließung V von erneuerbaren Energiequellen durch Photovoltaik, Wasserkraft und Windenergie wird fortgesetzt und durch staatliche Förderungen und Investments ­incentiviert. Logistiklösungen für die Anlieferung von Gütern und Dienstleistungen werden optimiert werden. Wärmedämmung und Gebäudekühlung durch Fassadenbegrünung werden wichtige Beiträge liefern und daher zu fördern sein. Die Marktwirtschaft wird ihren Erfolg fortsetzen und ist alternativlos. Zentralisierte Planungen, wie im Sozialismus erprobt, haben sich als fehleranfällig, korrupt und politisch manipulierbar und somit ineffizient erwiesen und sind gescheitert. Aspekte einer „Gemeinwohlökonomie“ werden in sinnvollen Einzelaspekten – etwa bei der Budgetierung öffentlicher Haushalte – Einfluss gewinnen, eine Abkehr von der kapitalmarktorientierten Produktionswirtschaft wird nicht stattfinden. Für Graz bedeutet es, dass wir jenen Weg fortsetzen müssen, der in der #agenda2022 bereits sehr klar umrissen wird: • Fortgesetzter Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und Verbesserung der Anschlüsse an den überregionalen Verkehr, Erforschung und Entwicklung innovativer Nahverkehrskonzepte wie Stadtseilbahn•  und Metrolösungen entlang der Hauptverkehrs- und Pendlerrouten, • Förderung des Umstiegs auf erneuerbare Energieträger sowie zur Effizienzverbesserung bei Wärmedämmung und Kühlung von Gebäuden, • Ausbau des Radverkehrs und Verkehrsberuhigung in den innerstädtischen Bezirken, • Förderung von intelligenten Logistiklösungen für die Anlieferung von Gütern und Dienstleistungen, • Sicherung und Ausbau von Grünraum, Begrünung von Fassaden, Baumpflanzungen, • Verbesserungen bei der Abfall- und Recyclinginfrastruktur sowie bei der Abwasserwirtschaft uvm. Dazu einige Zahlen: • In den Ausbau des Straßenbahnnetzes fließen in der Mittelfristplanung 120 Mio. Euro. Hier ist nicht nur die Anbindung des neuen Stadtteils Reininghaus und der Smart City zu nennen, sondern auch der zweigleisige Ausbau nach Mariatrost, die Planung einer Innenstadtentflechtung zur Entlastung der Herrengasse und die Planung eines zweigleisigen Ausbaus der Verbindung nach Puntigam. • Hinzu kommen Investitionen in das rollende Material und Taktverdichtungsmaßnahmen jenseits der 60 Mio. Euro. Für 14 neue Busse werden in der Holding Graz 5,6 Mio. Euro investiert. Für •  Klimamaßnahmen sind 30 Mio. Euro vorgesehen („Grazer Klimafonds“), 1.500 neue Baumstandorte im öffentlichen Raum werden in zwei Jahren mit Bäumen bestückt. • Photovoltaik wird gefördert und ausgebaut. 46

Die nachhaltige Entwicklung der Stadt Graz in Zukunftsbildern

• In das Recyclingcenter Sturzgasse werden 30,6 Mio. Euro investiert, der zentrale

Speicherkanal zur Reinhaltung der Mur hat 81,4 Mio. Euro gekostet, durch das Murkraftwerk wird saubere Energie gewonnen. • In den Fernwärmeausbau werden jährlich 18 Mio. Euro investiert, die Stromnetzinvestitionen der Energie Graz betragen 2020 15,5 Mio. Euro. • Für den Ausbau von Radwegen gibt es klare politische Willenserklärungen von Stadt Graz und Land Steiermark. Die Grazer Stadtregierung bemüht sich auf allen Ebenen (Bund, Land Steiermark) um die Erlangung von Förderungen für diese Infrastrukturausbauten. Mit dem Land Steiermark konnte im Jahr 2018 eine Mitfinanzierung der oben genannten ­Ausbaumaßnahmen im Ausmaß von 43,8 Mio. Euro erreicht und vereinbart werden. Mit der Bundesregierung werden laufend Gespräche mit Hinblick auf die bereits 2017 angekündigte und im neuen Regierungsprogramm erneut und prominent positionierte Nahverkehrsmilliarde geführt. Hier wäre wünschenswert, wenn – wie am Beispiel Deutschlands – nicht nur Metro-, sondern auch Straßenbahnerweiterungsprojekte gefördert würden.

Digitalisierung, Sharing Economy und neue Arbeitswelten Unter dem Schlagwort „Sharing Economy“ werden Geschäftsmodelle zusammengefasst, die unter Ausnützung der technischen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation entstanden sind. Auf den ersten Blick erscheinen die Modelle sozial und nachhaltig. Wohnungen, die vorübergehend nicht gebraucht werden, können über Onlineplattformen ver- und angemietet werden, Mitfahrgelegenheiten werden via Internet organisiert, Projekte können agil und flexibel organisiert werden, E-Scooter können geteilt werden und vieles mehr. Auf den zweiten Blick erweisen sich diese Modelle als Ausbeutung von Arbeitskraft auf Grund von neuen Selbständigkeiten, als Crowding-­Out von teurem Wohnraum und folgen daher der Logik einer Verdrängung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards sowie des Gewerbe- und Betriebsanlagenrechts. Die Onlineplattformen profitieren von Vermittlungsentgelten, aus dem vermeintlichen „Teilen“ wird ein Geschäftszweig, für den die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Gastronomie, Hotellerie, Fahrdienste u. ä. nicht mehr uneingeschränkt gelten. Wohnungen werden zu Ferienwohnungen, Mitfahrgelegenheiten werden zu organisierten Autofahrten und konkurrenzieren Bus und Bahn. Die gesamtstaatliche und europäische Politik hat hierfür bislang keine einheitlichen Lösungen gefunden. Eine Gesamtstrategie ist nicht gegeben – vereinzelt werden Verbote ausgesprochen. Die Frage ist, ob der Megatrend der Sharing Economy unaufhaltbar ist, oder ob die hohen sozialen und unternehmerischen Standards in Europa letztlich erfolgreich durchgesetzt werden können. Letzteres ist anzustreben. Günter Riegler

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Was die Wohnungsvermietung über Onlineplattformen anbelangt, beobachtet die Stadt Graz die Entwicklung sehr genau und sucht das Gespräch mit den Anbietern. Ziel muss sein, verbindliche Regelungen über Abgabenabfuhr und Einhaltung von Regeln durchzusetzen, um die Einhaltung der geltenden Standards sicherzustellen. Auf gesamtstaatlicher Ebene müssen Regelungen geschaffen werden, die den Städten erlauben, Kooperationsverträge zu schließen und zonenweise Verbote aussprechen zu dürfen, die dort gelten sollen, wo die negativen externen Effekte der Sharing Economy das Zusammenleben der ansässigen Bevölkerung unzumutbar erschweren würde. Eine konkrete Maßnahme wurde in Graz unlängst gesetzt: das Verbot von E-Scooter-­ Verleihsystemen, die in anderen Städten bereits zu chaotischen Verhältnissen führen. Längerfristig ist Anreiz- und Lenkungssystemen der Vorzug zu geben – kurzfristig müssen gelegentlich, wie im hier vorliegenden Fall, auch Verbote sein.

Budgets, Finanzausgleich und Finanzierung – wer soll alles bezahlen? Die Stadt Graz schreibt laufende Überschüsse und kann einen erheblichen Teil der Neuinvestitionen aus eigener Kraft finanzieren. Dennoch müssen für die großen Investitionsprogramme auch Fremdmittel aufgenommen werden, weil der ­gesamtstaatliche Finanzausgleich die nötigen Ausbaumaßnahmen an der Infrastruktur nicht ausreichend unterstützt. Die Stadt Graz hat sich auf eine Budgetierung auf Basis einer dynamischen Obergrenze der Gesamtverschuldung festgelegt. Die Leitlinie und das Maß aller Dinge ist die laufende Ertragskraft der Stadt aus den Haupteinnahmen, das sind die Erträge aus den gemeinschaftlichen Bundesabgaben, die Kommunalsteuer, die Grundsteuer sowie Gebühren, Abgaben und Beiträge. Die Verschuldung bewegt sich im Rahmen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – mindestens 30 Prozent der langfristigen Neuinvestitionen (Schulbau, ÖV -Ausbau, Kanal-/Netzinfrastrukturen, Sportanlagenbau, Städtischer Wohnbau) müssen aus eigener Kraft – also aus dem laufenden Cashflow – finanziert werden. Das Gesamtbudgetvolumen beträgt rund 1,1 Mrd. Euro, das jährliche Investitionsvolumen liegt bei konsolidierten (Stadt Graz und Beteiligungen zusammengefasst) jährlichen rund 190 Mio. Euro. Betrachtet man die Langfristentwicklung der Fremdfinanzierung, wird man feststellen, dass die Entwicklung auch hier eine nachhaltige ist: Seit 2004 sind die Einnahmen aus Erträgen und Kommunalsteuer kumuliert um insgesamt rund 90 Prozent gewachsen, die Finanzschuldenentwicklung lag etwa auch in ­diesem Bereich. Die Bevölkerung ist seit 2004 um ca. 60.000 auf nunmehr annähernd 300.000 gestiegen.1 Kernaussage ist, dass die Stadt Graz bislang in der Lage war, die neue Gründerzeit der ersten 48

Die nachhaltige Entwicklung der Stadt Graz in Zukunftsbildern

20 Jahre des neuen Jahrtausends im Ausmaß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und im Rahmen des Bevölkerungswachstums zu bewältigen. Dennoch liegt hier ein echter Problempunkt in der Verteilungsgerechtigkeit ­zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Seit Jahrzehnten liegt der Anteil der Ertragsanteile pro Einwohner von Graz um mehrere hundert Euro unter jenen von Wien, Salzburg und Innsbruck. In geringerem Ausmaß gilt dies auch für die übrigen Landeshauptstädte. Hauptursache dafür ist der mehrstufige vertikale und horizontale Ausgleichsmechanismus, der zunächst die Länder untereinander nivelliert und erst danach zur Verteilung an die Gemeinden führt. Ohne das Thema hier zu vertiefen, ist bereits jetzt erhöhter Gesprächsbedarf für die nächsten Verhandlungen anzumelden.

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag hat versucht, die Bemühungen um Nachhaltigkeit der Stadt Graz in großen Themenblöcken entlang der ­Themen des Kulturjahres 2020 ­darzustellen und Entwicklungstendenzen zu skizzieren. Die Entwicklung von Graz ist höchst erfolgreich – die Herausforderungen sind machbar!

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Siehe: http://www1.graz.at/Statistik/Bevölkerung/Bevoelkerung_2016_final.pdf.

Günter Riegler

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VERENA ENNEMOSER, WALTHER NAUTA

Alles in bester Verordnung

Die Schaffung von transparenten Strukturen fördert das Vertrauen des Bürgers in die Verwaltung und in die Politik. Transparenz ist daher ein oft gehegter Wunsch. Das Informationsrecht des Bürgers bedingt die Informationspflicht der Verwaltung. Um sich dem Schritt für Schritt zu nähern, hat die Präsidialabteilung der Stadt Graz ein Projekt gestartet, mit dem die wichtigsten Vorschriften der Stadt jederzeit und für jedermann online zur Verfügung stehen.

Aller Anfang ist schwer Die Ausgangslage war nicht einfach. Die Rechtsvorschriften der Stadt Graz (Verordnungen und Richtlinien) werden laufend geändert bzw. angepasst. Aber beim Projektstart war niemandem in der Stadtverwaltung genau bekannt, wie viele ­Rechtsverordnungen tatsächlich in Geltung stehen. Daher konnten die Vorschriften der Stadt Graz bis zum Projektstart auch nicht „auf Knopfdruck“ zentral, vollständig und digital abrufbar gemacht werden. Zu Projektbeginn waren auf der Website der Stadt Graz unter dem Link www.graz. at/verordnungen lediglich 16 Verordnungen zentral abrufbar, nämlich die ortspolizeilichen Verordnungen und die Alkoholverbotsverordnungen. Es gab keine Stelle der Stadt Graz, die einen Gesamtüberblick über die geltenden Verordnungen und Richtlinien geben konnte.

Projektnutzen Eine ­solche Transparenz der geltenden Vorschriften, die von Organen der Stadt erlassen wurden, ist für Bürgerinnen und Bürger, Politik und Verwaltung hilfreich und hat einen dreifachen Nutzen: 1.) Vorschriften richten sich an Bürgerinnen und Bürger. Diese müssen daher wissen, was geltendes Recht ist. Mit der Transparenzinitiative der Stadt Graz können Bürgerin­ nen und Bürger die Entscheidungsgrundlagen besser nachvollziehen. 2.) Die Politik und Verena Ennemoser, Walther Nauta

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die Verwaltung müssen einen Überblick darüber behalten, was geltendes Recht ist. Eine strukturierte, digitale und übersichtliche Rechtsdatenbank zum Gemeinderecht ist dafür eine Voraussetzung. 3.) Transparenz ist die Grundlage dafür, um auch über eine Rechtsbereinigung nachzudenken bzw. eine ­solche anzustoßen. Aufgabenkritik und Deregulierung gehen oftmals Hand in Hand. Das Projekt bietet dafür eine Grundlage.

Wie alles begann: Initiator des Projekts war die Präsidialabteilung der Stadt Graz, die dem Trend zur ­Digitalisierung folgen wollte. Zusätzlich hatte auch das Landesverwaltungsgericht Steiermark bereits angeregt, dass die Gemeindevorschriften der Stadt Graz bei Beschwerdeverfahren besser zugänglich sein sollten. Ziel des Projektes der Präsidialabteilung der Stadt Graz war somit die Erfassung und die anschließende Dokumentation des „Acquis communautaire“ der Landeshauptstadt Graz. a) Im ersten Schritt wurden sämtliche Vorschriften der Stadt Graz in geltender Fassung gesammelt und erfasst. Der Text wurde mit dem Amtsblatt abgeglichen und im Falle von Novellen wurde die gültige Fassung dokumentiert. b) Im zweiten Schritt wurden Ideen entwickelt, wie diese Rechtsdatenbank für die Bürgerinnen und Bürger übersichtlich und leicht zugänglich sein sollte.

Warum soll Recht eigentlich transparent sein? Ein wichtiger Grund ist: Wie effektiv ein Recht ist, hängt im Wesentlichen davon ab, wie bekannt es überhaupt ist. Rechte, die niemand kennt, sind schwer einzuhalten und zu befolgen. Zwar könnte sich die Gemeinde „zurücklehnen“ und auf den rein formaljuristischen Standpunkt beschränken: Mit einer Verlautbarung im Amtsblatt ist eine Vorschrift ja bereits rechtsgültig erlassen worden. Wer diese Vorschrift dennoch nicht einhält, ist „selbst schuld“ und unterliegt damit juristisch gesprochen einem vorwerfbaren Rechtsirrtum (§ 2 ABGB). Moderne, serviceorientierte Stadtverwaltungen denken aber anders. Sie sind „näher“ bei den Menschen und haben daher ein Interesse daran, dass diese über Handlungsspielräume Bescheid wissen und diese auch nachvollziehen können.

Ein Vorzeigeprojekt zur Digitalisierung – digitaler Lösungsansatz Der Vergleich mit anderen Gemeinden zeigt das Innovationspotenzial der Grazer Lösung. Ansätze dazu, die eigenen Vorschriften zugänglich zu machen, sind freilich auf den 52

Alles in bester Verordnung

Websites vieler Städte und Gemeinden vorhanden. Allerdings fehlt auf kommunalen Websites durchwegs der kompromisslose Zugang zu ­diesem Thema. Zwar werden Verordnungen, zusätzlich zur Kundmachung im Amtsblatt, auf den Homepages anderer Gemeinden veröffentlicht, aber oft ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ein wesent­ licher Grund dafür ist, dass es im vordigitalen Zeitalter eine ­solche zentrale Übersicht nicht gegeben hat. Eine zentrale Evidenz der Rechtsvorschriften einer Gemeinde steht somit in direktem Zusammenhang mit der Digitalisierung. Auch, wenn es lange üblich gewesen sein, Rechtsvorschriften einer Gemeinde im Amtsblatt zu veröffentlichen und dann abzulegen, ist eine ­solche Form der Rechtsdokumentation im digitalen Zeitalter absolut überholt. Sobald man aber beginnt, die bestehenden Gemeindevorschriften aus den Amtsblättern konsolidiert zu erfassen und zu digitalisieren, wächst dieser Bestand zu einer digitalen Rechtsdatenbank zusammen. Eine ­solche Gemeinde-­RDB ist auch für künftige politische Maßnahmen ein wirksames und effizienteres Steuerungsinstrument, weil sie den Einsatz von Suchfiltern, Wortsuche im Text und die Einteilung in Kategorien ermöglicht.

Ausnahmen von Projekt Damit das Projekt praxistauglich ist, hat die Stadt Graz folgende Einschränkungen vorgenommen: Nicht vom Projekt umfasst sind straßenpolizeiliche Verordnungen, die nach der StVO durch Kundmachung mittels Verkehrszeichen bzw. Bodenmarkierungen wirksam werden. Ferner bezieht sich das Projekt nicht auf straßenrechtliche Trassenbzw. Einreihungsverordnungen von Gemeindestraßen, da das Gemeindestraßennetz über die Winterdienstleistungen der Holding Graz betreut wird. Und schließlich werden vom Projekt bloß temporäre Verordnungen ausgenommen wie z. B. Verordnungen über Waldbrandgefahr, temporäre Verordnungen nach dem Katastrophenschutzgesetz, dem Bienenseuchengesetz bzw. Verordnungen über Jagdgebiete und dergleichen. Solche temporären Verordnungen werden nicht auf dem Webbeitrag www.graz.at/ verordnungen, sondern nur im Amtsblatt der Stadt Graz verlautbart.

Die Auswirkungen Das verbesserte Online-­Angebot hat sich direkt auf die Nachfrage ausgewirkt. Die Seite www.graz.at/verordnungen wurden im Monatsvergleich 2018/2019 von 5.303 Usern mehr aufgerufen. Das bedeutet eine Zunahme um 542 %. Vor der Projektumsetzung waren auf der Website der Stadt Graz zentral maschinenlesbar nur 16 Verordnungen verfügbar. Inzwischen sind es 138 Vorschriften.

Verena Ennemoser, Walther Nauta

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Intern war bereits nach kurzer Zeit eindeutig feststellbar, dass Abteilungen sich an dem im Webbeitrag bzw. im RIS dokumentierten und konsolidierten Rechtsbestand orientieren und diesen sowohl für den täglichen Dienstgebrauch als auch für Überlegungen zu Änderungen verwenden. Auch in Medienberichten der Lokalpresse wird häufiger wörtlich aus der Vorschriftensammlung zitiert, die vor dem Projekt öffentlich nicht zugänglich war. Dies lässt den Schluss zu, dass diese Informationsquelle von öffentlichem Interesse ist. Zusätzlich wurden die Grazer Vorschriften im „RIS – Rechtsinformationssystem der Bundesregierung“ hochgeladen. Der Vorteil dieser Informationsquelle ist, dass dort zu jeder Vorschrift auch die einzelnen Novellen (Vorversionen) mit ihrer Fundstelle im Amtsblatt online abrufbar sind. Auf diese Weise hat die Präsidialabteilung aktuell über 700 Grazer Vorschriften im RIS zugänglich gemacht. Graz ist damit die erste Stadt in Österreich, die ihre gemeindeeigenen ­Vorschriften in ­diesem Umfang zentral zur Verfügung stellt. Übrigens: Wenn Sie immer up to date bleiben möchten, können Sie sich jederzeit beim Amtsblatt-­Newsletter der Stadt Graz anmelden. Sie erhalten damit tagesaktuell Infos über das Erscheinen eines neuen Amtsblattes und damit über Vorschriftenänderungen.

Lücken in der Transparenz – Ist das Projekt auf andere Bereiche übertragbar? Österreich ist in Bezug auf die Transparenz von Rechtsvorschriften im internationalen Vergleich Vorreiter. Mit der Plattform „RIS – Rechtsinformationssystem des Bundes“ wurde schon in den 1990er Jahren der Weg eingeschlagen, dass Vorschriften im Internet unentgeltlich und in konsolidierter (geltender) Fassung zugänglich sind. Dies wurde rasch für Bund und die Bundesländer lückenlos umgesetzt. Das RIS ist mittlerweile für das Bundesgesetzblatt und die Landesgesetzblätter auch offizielles Kundmachungsorgan. Ab der Jahrtausendwende wurden auch sämtliche höchstgerichtlichen Entscheidungen unentgeltlich online gestellt. Die bis dahin am Markt befindlichen Angebote von Verlagen haben sich damit weitgehend erübrigt. Durch ­dieses Online-­Angebot erspart sich die Republik den Druck von vielen Seiten Papier. Aber bei kritischer Betrachtung ist das Thema Rechtsinformatik noch nicht auf allen Ebenen der Republik lückenlos verwirklicht. Denn für die zahlreichen Selbstverwaltungskörper ist die Veröffentlichung von Vorschriften im RIS noch nicht gesetzlich zwingend vorgesehen. Das Projekt hätte somit Transferpotenzial auch für andere Selbstverwaltungskörper wie Sozialversicherungsträger, Universitäten, Kammern. Auf den Websites dieser Körperschaften findet man zwar in der Regel einzelne Vorschriften, kaum eine dieser Körperschaften öffentlichen Rechts verfolgt dabei allerdings rigoros den Ansatz, ihre jeweiligen Verordnungen, Richtlinien bzw. Erlässe als Serviceleistung 54

Alles in bester Verordnung

vollständig im Internet zu publizieren und diese Webbeiträge in ­diesem Umfang am aktuellen Stand zu halten. Man könnte im Bereich der universitären bzw. beruflichen Selbstverwaltungskörper zwar damit argumentieren, dass die darauf Bezug habenden ­Regelungen nur an einen eingeschränkten Personenkreis adressiert sind, der Kreis der Norm­adressaten ist allerdings immerhin so groß, dass eine Website durchaus als geeignete Informationsquelle angesehen werden muss. Die Rechtsinformatik hat mit dem RIS der Bundes­regierung große Schritte in das Digitalzeitalter gemacht und damit europaweit in vorbildlicher Weise Recht für die Allgemeinheit zugänglich gemacht. Gerade im Verordnungsrecht finden sich aber durch dezen­ trale Verlautbarungsorgane (Amtsblätter, Mitteilungsblätter) immer noch „Inseln“ von Rechtsquellen, die für Außenstehende nicht leicht auffindbar und damit nur für Insider überblickbar sind. Eine mögliche Lösung ­dieses Problems wäre die Schaffung von weiteren Kategorien im RIS (Rechtsinformationssystem). Das RIS enthält in der Rubrik „Sonstige Kundmachungen, Erlässe“ einen Teil dieser sonstigen, nicht im Bundesgesetzblatt (BGBl) bzw. in den Landesgesetzblättern (LGBl) publizierten Kundmachungen bzw. Verordnungen. Beispielsweise könnten dort künftig auch Vorschriften von Kammern oder ­Universitäten publiziert werden. Dies analog zu den Amtlichen Verlautbarungen der Sozialversicherung, die unter dem Link www.ris.bka.gv.at/Avsv/ abrufbar sind.

Was sind die „lessons learned“? Ein Projekt wie das vorliegende benötigt je nach Größe der öffentlichen Organisation, in der es umgesetzt wird, eine entsprechende Vorlaufzeit und einen „langen Atem“. Es bedarf auch einer gewissen Überzeugungsarbeit bei den betroffenen Dienststellen. Die Kenntnis von generellen Rechtsvorschriften darf „keine Geheimwissenschaft“ sein. Die Lösung sind somit leicht überblickbare Websites. Damit lässt sich am Leichtesten vermeiden, dass Vorschriften nur einem eingeweihten Kreis zugänglich sind oder dass sie nur mit archivarischem Fleiß auffindbar sind. In ­diesem Sinn können Transparenz und Rechtsinformatik für die drei wesentlichen Stakeholder-­Gruppen, nämlich Bürger, Politik und Verwaltung eine Win-­win-­Situation bewirken.

Die Grazer Kampagne „Alles in bester Verordnung“ beruht auf drei Säulen: • Verordnung und Richtlinien im Web: www.graz.at/verordnungen • Gemeinderecht Graz im RIS: https://www.ris.bka.gv.at/Gemeinderecht/ • Das Digitale Amtsblatt der Stadt Graz: www.graz.at/amtsblatt Ein weiteres Service ist die Newsletter-­Anmeldung zum Amtsblatt

• https://www.graz.at/cms/beitrag/10311647/8737131/Newsletter_Amtsblatt.html Verena Ennemoser, Walther Nauta

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• https://www.graz.at/cms/beitrag/10311043/8106444/Das_Amtsblatt_kommt_zu_ Ihnen.html https://www.graz.at/cms/beitrag/10330226/8106444/Alle_Verordnungen_auf_ •  einen_Blick.html

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Alles in bester Verordnung

CHRISTA NEUPER

Acht Jahre Rektorin der Universität Graz – eine Bilanz

Als ich am 1. Oktober 2011 an der Universität Graz das Amt der Rektorin antrat, war das für mich eine neue Herausforderung. Für meine Alma Mater war es ein Bruch mit einer Tradition: Nach 246 Rektoren übernahm erstmals eine Frau die Leitung der Universität Graz. In dieser Rolle wurde mir von Anfang an viel Sympathie entgegengebracht, wofür ich bis heute dankbar bin. Dabei betrachtete ich die große Aufmerksamkeit, die ich als erste Rektorin der Steiermark erfuhr, keineswegs als selbstverständlich, sondern vielmehr als besonderen Auftrag, die Universität Graz engagiert und verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln. Es war eine große Verantwortung und es gab viele Herausforderungen zu meistern: 30.000 Studierende, 3.200 AbsolventInnen pro Jahr, 4.300 MitarbeiterInnen in Forschung, Lehre und Management – allein die Größenordnung verdeutlicht, dass die Universität Graz ein wesentlicher Faktor am Standort ist. Im Laufe meiner Amtszeit waren drei Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen mit dem Bund abzuschließen und ich durfte sechs WissenschaftsministerInnen miterleben, die alle im Austausch mit den Rektorinnen und Rektoren individuelle Schwerpunkte setzten. Auch sind in diesen acht Jahren wichtige Veränderungen in den rechtlichen und finanziellen Rahmen­ bedingungen für die Universitäten erfolgt, wie etwa zuletzt die Einführung eines neuen Finanzierungsmodells, das mit einer deutlichen Budgetsteigerung in den kommenden Jahren einen Ausbau der Universität sowie eine signifikante Verbesserung der Betreuung der Studierenden ermöglicht. Bei einer traditionsreichen Universität gilt es einerseits, eine gewisse Kontinuität zu wahren und ihren wesentlichen Kern zu erhalten. Andererseits muss sie sich aber auch dem Wandel sowie den sich laufend verändernden Anforderungen der Gesellschaft stellen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Nur so kann sie als moderne Stätte der Wissenschaft Antworten auf aktuelle Fragen geben und ihre Studierenden auf die Herausforderungen gesellschaftlicher Umbrüche und rasanter technologischer Entwicklungen vorbereiten. Zudem war ich stets davon überzeugt, dass die Zukunft unserer Universität wesentlich von der richtigen Forschungsstrategie abhängen wird. Daher habe ich in meiner Christa Neuper

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F­ unktion als Rektorin von Beginn an einen besonderen Fokus auf die Forschung gerichtet. Ziel war, international sichtbare Spitzenforschung zu stärken und damit die Attraktivität der Universität Graz im internationalen Wettbewerb zu erhöhen.

Universität mit Profil Der gezielte Ausbau und die Bündelung bestehender Forschungsstärken sollte zur Schärfung des Profils der Universität Graz beitragen, verbunden mit der strategischen Entwicklung von Zukunftsfeldern, in ­welchen ForscherInnen verschiedener Disziplinen übergreifend an Lösungen für gesellschaftliche und globale Herausforderungen zusammenarbeiten. Ein Ergebnis ­dieses Prozesses war die Etablierung fünf sogenannter Profilbildender Bereiche, die Forschungsthemen von besonderer gesellschaftlicher Relevanz bündeln und sich durch herausragende wissenschaftliche Leistungen sowie internationale Anerkennung auszeichnen. Die interdisziplinäre Klimaforschung, für ­welche die Universität Graz sowohl in der Scientific Community als auch in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genießt, bildet den Profilbereich „Climate Change Graz“. Gemeinsam suchen über hundert WissenschafterInnen nach Antworten auf die Frage, wie wir eine nachhaltige Transformation zu einer nahezu emissionsfreien und klimarobusten Gesellschaft und Wirtschaft schaffen können. Im Profilbereich „BioHealth“ erforschen BiowissenschafterInnen die Ursachen altersassoziierter und krankheitsbedingter Veränderungen auf molekularer Ebene und entwickeln neuartige Interventionen, um Gesundheit bis ins hohe Alter erhalten zu können. Die Erforschung komplexer Systeme in Natur und Gesellschaft steht im Mittelpunkt des Profilbereichs „Complexity of Life in Basic Research and Innovation“ (COLIBRI ), der beispielsweise durch spektakuläre Erfolge in der Kommunikation ­zwischen Tieren und Robotern besondere internationale Aufmerksamkeit erzielt hat. Der Profilbereich „Smart Regulation“ widmet sich den rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaft­lichen Heraus­forderungen, die technische Innovationen wie etwa das autonome Fahren mit sich bringen. Auf dem historisch gewachsenen Südosteuropaschwerpunkt der Universität Graz baut ein neuer Profilbereich („Dimensionen der Europäisierung“) auf, in welchem die Herausforderungen der Europäisierung im Mittelpunkt stehen. Ein sichtbares ­­Zeichen, dass unsere Forschungsstrategie erfolgreich war, ist der Anstieg der Zahl der Publikationen in wissenschaftlichen Fachjournalen um 45 Prozent von 2011 bis 2018. Deren hohe Qualität hat der Universität Graz im renommierten Leiden-­Ranking 1 einen Platz unter den 200 publikationsstärksten Universitäten weltweit gesichert.

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Acht Jahre Rektorin der Universität Graz – eine Bilanz

Kooperationen am Standort Um in einem Forschungsgebiet internationale Sichtbarkeit zu erlangen, bedarf es neben Exzellenz auch einer kritischen Masse an WissenschafterInnen. Um diese nachhaltig aufzubauen und damit die Bedeutung des gesamten Wissenschaftsstandortes zu stärken, war es mir als Rektorin ein besonderes Anliegen, die Vernetzung am Standort weiter voranzutreiben. Die seit über 15 Jahren bestehende Partnerschaft mit der Technischen Universität Graz „NAWI Graz“ 2 wurde schrittweise ausgebaut. Sie umfasst mittlerweile über zwanzig gemeinsame Studien sowie eine beeindruckende Ausstattung an gemeinsam genutzter Forschungsinfrastruktur. Darauf aufbauend konnten wir mit dem neuen Forschungsverbund im Bereich der Life Sciences einen weiteren Meilenstein setzen: „BioTechMed-­ Graz“ vernetzt seit 2011 exzellente Forschungsgruppen der Universität Graz, der Medizinischen Universität Graz und der Technischen Universität Graz an der Schnittstelle von Biomedizinischen Grundlagen, Technologischen Entwicklungen und Medizinischen Anwendungen mit dem Ziel einer gemeinsamen Forschung für Gesundheit. Der Schulterschluss aller neun Hochschulen in der Steirischen Hochschulkonferenz, die wir kurz nach meinem Amtsantritt gegründet haben, hat nicht nur die Bedeutung der Wissenschaft am Standort gestärkt, sondern auch eine solide Vertrauensbasis für zukünftige Kooperationen – unter anderem im Zusammenwirken mit der Wirtschaft und Industrie – geschaffen.

Erfolgreiche Berufungspolitik und Nachwuchsförderung Um Spitzenforschungsbereiche nachhaltig zu stärken, bedarf es einer gezielten Berufungspolitik und Nachwuchsförderung. Zwischen 2011 und 2019 hat sich die Zahl der Professuren an der Universität Graz um 28 Prozent, von 393 auf 503, erhöht. In den letzten Jahren wurde auf mehreren Ebenen angesetzt, um ein Höchstmaß an Chancengleichheit von Frauen und Männern auf den unterschiedlichen Karrierestufen zu erreichen. In Folge konnten insgesamt mehr Frauen für die Forschung und Lehre gewonnen werden, wobei der Anstieg des Frauenanteils bei den WissenschafterInnen bei über 40 Prozent lag. Der Anteil der Professorinnen konnte von 23 Prozent im Jahr 2011 auf einen historischen Höchststand von rund 30 Prozent gesteigert werden. Ein wichtiger Faktor im Zusammenhang mit der Förderung von Frauen in der Wissen­ schaft ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Hierzu hat die Universität Graz ihre Betreuungsangebote ausgebaut und weitere Maßnahmen gesetzt. Diese führten nach zwei Top-­Plätzen als frauen- und familienfreundlichste öffentliche Einrichtung der ­Steiermark 2007, 2011 und 2017 im Jahr 2018 zur Auszeichnung mit dem ­Staatspreis „Familie & Beruf“ in der Kategorie „Öffentlich-­rechtliche Unternehmen und Institutionen“. Christa Neuper

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Die Förderung von exzellentem wissenschaftlichem Nachwuchs ist Voraussetzung für Leistungsfähigkeit auch in der Zukunft. Eine effektive Maßnahme, den Start in eine wissenschaftliche Karriere zu erleichtern, ist die strukturierte Doktoratsausbildung 3, die mittlerweile fast flächendeckend etabliert wurde. Die 2016 gegründete ­Doctoral Academy an der Universität Graz hat internationale Vorbildwirkung. Hier werden hervorragende Forschungskonsortien mit DoktorandInnen aus den verschiedenen Fakultäten unter einem Dach zusammengeführt. Damit sind die jungen NachwuchswissenschafterInnen von Beginn an gut vernetzt und in die internationale Scientific Community eingebunden.

Forschungsgeleitete Lehre Die Universität Graz ist eine anerkannte Bildungsinstitution mit rund 30.000 Studierenden. Etwa die Hälfte aller MaturantInnen der Steiermark, die sich für ein Studium entscheiden, kommen an die Universität Graz. Damit erfüllt diese mit ihrem breiten Fächerangebot eine wichtige Aufgabe in der Region. Ein Blick in die Unternehmen und Institutionen am Standort zeigt, dass AbsolventInnen der Universität Graz hoch qualifizierte und stark nachgefragte MitarbeiterInnen sind. Weiterführenden Datenanalysen zufolge sind 85 Prozent unserer Alumni gut in den heimischen Arbeitsmarkt integriert, drei Viertel davon in den südlichen Bundesländern Österreichs. Diese Verantwortung für den Standort habe ich als Auftrag verstanden, das Ausbildungsangebot kontinuierlich zu erweitern und zu verbessern, Forschung in den Hörsaal zu bringen sowie die Inhalte der Lehre an den aktuellen Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft auszurichten. Beispiele dafür sind die Einführung neuer Masterstudien, wie etwa des Masterprogramms „Digitale Geisteswissenschaften“, oder Ergänzungsangebote wie das Erweiterungsstudium „Leadership – eigenverantwortlich Handeln in Gesellschaft und Wirtschaft“, das mit dem Wintersemester 2018 startete. Es unterstützt – ergänzend zu den Fachstudien – den Erwerb zentraler Kompetenzen, um Fachwissen besser in die Arbeitswelt zu bringen. Als besonderer Erfolg kann die neue Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe betrachtet werden. Die Einführung des Studiums, das von den acht Institutionen des sogenannten „Entwicklungsverbund Süd-­Ost“ gemeinsam betrieben wird, war ein wichtiger Meilenstein, denn hochqualifizierte PädagogInnen prägen als Schlüsselkräfte die Zukunft unseres Landes.

Internationale Vernetzung Auch wenn die Universität Graz in der Region eine außerordentlich wichtige Aufgabe erfüllt, darf sie sich nicht darin genügen, Bildungsnahversorgerin zu sein. Exzellente 60

Acht Jahre Rektorin der Universität Graz – eine Bilanz

Forschung und Lehre brauchen internationale Vernetzung. In ­diesem Sinne zählte die Internationalisierung im Rahmen der strategischen Weiterentwicklung der Universität zu den wichtigsten Zielen. Der Anteil internationaler Berufungen erhöhte sich von 33 Prozent im Jahr 2011 auf 80 Prozent 2018. Bei der Studierenden-­Mobilität (outgoing) gab es in dieser Zeit ein Plus von 38 Prozent. Insgesamt 5.000 internationale Studierende aus etwa 100 Nationen machen den Campus zu einem lebendigen Ort des Dialogs. Die hervorragende Vernetzung belegen nicht nur diese Mobilitätszahlen, sondern auch Kooperationen mit rund 500 Partnerinstitutionen weltweit, darunter viele langjährige Partnerschaften in Südosteuropa. Ein besonderer Meilenstein und Erfolg war die Gründung der European University Alliance ARQUS im Herbst 2018. Ihr gehören neben der Universität Graz die Universitäten Granada (Spanien), Bergen (Norwegen), Leipzig (Deutschland), Lyon (Frankreich), Padua (Italien) und Vilnius (Litauen) an. Der Zusammenschluss soll einen europäischen Campus schaffen, der die Mobilität von Studierenden und Lehrenden erleichtert sowie eine intensive Kooperation in Forschung, Lehre, Administration und gesellschaftlichem Engagement ­zwischen den beteiligten Institutionen herbeiführt. Mit ihren Aktivitäten auf europäischer Ebene nimmt die Universität Graz unter den österreichischen Universitäten eine Vorreiterrolle ein.

Moderne Infrastruktur Für den Ausbau von Spitzenforschung ebenso wie im Wettbewerb um die besten Köpfe schafft moderne Infrastruktur wesentliche Voraussetzungen. Somit lag eine wichtige Aufgabe darin, diese Rahmenbedingungen für unsere Forschenden und Studierenden stetig zu verbessern. Zu den größten Projekten in den letzten Jahren zählte die umfassende Sanierung und Erneuerung der Chemiegebäude, im Rahmen derer auch die Laborinfrastruktur modernisiert und ausgebaut wurde. Seit Anfang 2019 ist das neue Zentrum für ­Wissensund Innovationstransfer (ZWI) in Bau. Auf 3.000 Quadratmetern werden dort Unternehmen, Start-­ups und unternehmerisch tätige ForscherInnen mit Co-­Working-­Spaces Platz finden. Als Ideenwerkstatt soll das ZWI, in das zwölf Millionen Euro investiert werden, die Vernetzung von JungunternehmerInnen mit renommierten Firmen sowie der Scientific Community erleichtern. Bereits ihrer Bestimmung übergeben wurde die neue Universitätsbibliothek, deren Eröffnung zum Ende meiner Amtszeit als Rektorin im Herbst 2019 für mich ein besonders schönes Erlebnis war. In drei Jahren Bauzeit wurde der Um- und Ausbau zur modernsten Bibliothek Österreichs realisiert. Insgesamt 27,6 Millionen Euro investierten die Bundes­immobiliengesellschaft und die Universität Graz in das Vorzeigeprojekt. Herzstück ist nach wie vor der historische Lesesaal, darüber scheint der spektakuläre Christa Neuper

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­ laskubus zu schweben. Das erweiterte Gebäude schafft einen attraktiven, offenen G Raum für Begegnung sowie rund 500 Lern- und Leseplätze für Studierende. Dass es gelungen ist, die Qualität der Universität insgesamt auf ein hohes Niveau zu heben, bezeugt schließlich auch das renommierte FINHEEC-Gütesiegel, das unsere Hochschule seit über sechs Jahren führt. Unter Berücksichtigung sämtlicher Bereiche, von der Forschung über das Studienangebot bis hin zum Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung, wurde der Universität Graz – und damit allen ihren Angehörigen – ein ausgezeichnetes Zeugnis ausgestellt. Darauf kann die Universität auch in Zukunft bauen und neue Gestaltungsfreiräume ­nutzen, um ihre Forschungsstärken weiter auszubauen, die Bedingungen für ihre Studierenden zu verbessern und sich im internationalen Wettbewerb erfolgreich zu positionieren.

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Das vom Centrum voor Wetenschap en Technologische Studies, CWTS, an der niederländischen Universität Leiden herausgegebene CWTS Leiden-­Ranking ist ein multi-­dimensionales Ranking, das ausschließlich auf bibliometrischen Analysen basiert. In die Kalkulation der Indikatoren ­fließen nur Publikationen in internationalen Zeitschriften ein. NAWI Graz gilt als eines der Best-­Practice-­Modelle der österreichischen Hochschullandschaft. 2004 entschlossen sich die Universität Graz und die TU Graz, die naturwissenschaftlichen Disziplinen an beiden Einrichtungen abzustimmen und gemeinsame Studien anzubieten. Im Rahmen eines strukturierten Doktorats sind die DoktorandInnen in die Aktivitäten einer Gruppe von Forschenden eingebunden, was eine effiziente Betreuung sicherstellt und die Erfolgschancen des Promotionsvorhabens sowie die Karrierechancen erhöht.

Acht Jahre Rektorin der Universität Graz – eine Bilanz

ELISABETH MEIXNER

Herausforderungen für die Bildungsdirektion

„Herausforderung“ ist ein Begriff, der in unserer Gesellschaft oftmals sehr ambivalent verwendet wird. So schwingt zumeist unterschwellig mit, dass es sich um eine Problemstellung mit (zu) hohen Anforderungen handle. Auch wird häufig zur Beschönigung der Tatsachen von „Herausforderungen“ gesprochen, wenn eigentlich ­Proble­me, Schwierigkeiten, Erschwernisse zu befürchten sind. Das ist eine pessimistische Perspektive, die vor Herausforderungen zurückschrecken lässt und die dazu verleiten kann, Hindernisse grundsätzlich zu meiden. Im Wörterbuch ist hingegen folgende Definition zu finden: Anlass, tätig zu werden; Aufgabe, die einen fordert. Eine Verortung ­dieses Begriffs, die Chancen und Gestaltungsspielräume in Aussicht stellt. Im Bildungswesen ist ohne Zweifel eine Sichtweise angebracht, die zwar die Grenzen des Machbaren kennt, aber dennoch von lebendigem Optimismus beseelt ist. Es gibt unterschiedlichste Arten von Herausforderungen, die uns tagtäglich im Alltag begegnen: Beispielsweise eine große Prüfung in der Schule oder einen übervollen Terminkalender auf die Minute genau einzuhalten. Manche Herausforderungen wählen wir freiwillig, bei anderen bleibt uns oftmals keine andere Wahl. Dabei ist es in erster Linie eine Sache der Herangehensweise, ob man Herausforderungen als bedrohlich wahrnimmt oder sie als Chance sieht. Ein Zitat, dass einem in ­diesem Zusammenhang in den Sinn kommt, stammt vom amerikanischen Unternehmer Henry Ford: „Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“ In anderen Worten: Wer sich nicht an Herausforderungen heranwagt, wächst nicht über sich hinaus. Wer nie an seine Grenzen stößt, wird sie niemals überwinden können. Wie die jahrelange Erfahrung zeigt, mangelt es im Bildungswesen nicht an Herausf­ orderungen. Täglich begegnen einem neue Bewährungsproben. Doch gerade in ­diesem Neuen ist der Reiz des Bildungswesens begründet, wenn man ihm mit Optimismus, Zuversicht, Freude und Neugier – Grundpfeiler des klassischen Bildungsideals – entgegentritt. Neben den Herausforderungen des Alltags gibt es jedoch auch größere Herausforderungen zu bewältigen. So freue ich mich beispielsweise auf die kommenden Elisabeth Meixner

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­ erausforderungen und Chancen, die sich mit der Neuaufstellung des Bildungswesens H auf Grundlage des Bildungsreformgesetzes 2017 ergeben. In ­diesem Zusammenhang ist die auch die gelungene Aufstellung der Bildungsdirektion für Steiermark als Nachfolge des Landesschulrats zu erwähnen. Im Zuge dieser Reform musste die Behörde von Grund auf umgebaut werden, um den Erfordernissen einer modernen, effizienten Verwaltung und eines niederschwelligen Dienstleistungsangebotes gerecht zu werden. Eine Bund-­Land-­Mischbehörde mit Kompetenzen, die das gesamte Bildungswesen eines Bundeslandes umfassen, war bis dahin ein ­völliges Novum. Sämtliche MitarbeiterInnen wurden bestmöglich in alle Prozesse eingebunden; die Schulleitungen, LehrerInnen sowie das Unterstützungspersonal wurden mit Rückhalt und Begeisterung gestärkt. Dies ist auch als maßgebliche Voraussetzung anzusehen, um den steirischen SchülerInnen Chancengleichheit und Bildungserfolg, vor allem auch Freude am Lernen zu ermöglichen. Die Verantwortung, die auf den Schultern des Bildungswesens und damit auf den Schultern aller Personen und Institutionen, die aufgrund ihrer Rolle im Bildungswesen von Belang sind, lastet, wird öffentlich kaum wahrgenommen. Dennoch würde auf eine spontane Frage hin niemand die umfassende Wichtigkeit der Bildung für die Zukunft eines Landes verneinen – die Bedeutung Österreichs bzw. der Steiermark als attraktiver Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort ist unumstritten. Grundlage dafür ist ein solides, umfassendes Bildungswesen, das die Potenziale und Defizite jeder Schülerin und jedes Schülers bestmöglich zu fördern bzw. zu kompensieren vermag. Standardisierte nationale und internationale Messungen und Testungen in den Schulen – exemplarisch ­seien die Bildungsstandards, PISA oder die sRDP genannt – zeigen, dass die Steiermark im Österreichvergleich gute Ergebnisse erzielt. Diese Tatsache zeigt, wie intensiv die Schulaufsicht gemeinsam mit den Pädagogischen Hochschulen bemüht ist, allen Anforderungen gerecht zu werden und die LehrerInnen bestens zu begleiten. Dabei ist es im Bildungssystem unerlässlich, auf jedwede Veränderung der Gesellschaft oder der allgemeinen Lebensumstände flexibel und professionell abgestimmt reagieren zu können. Anpassung und Weiterentwicklung sind alternativlos. Die Aufgabe der Bildungsdirektion ist es, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Entwicklungsprozesse im Schulwesen stattfinden können. Die beste Bildung und Ausbildung unserer jungen Menschen ist und bleibt dabei stets oberstes Ziel. Migration ist eine Herausforderung, der wir uns stellen. Unsere Gesellschaft befindet sich im stetigen Wandel, im Zeitalter der Globalisierung ist auch die Migration zu einem wesentlichen gesellschaftlichen Faktor geworden. Insbesondere in den Ballungsräumen sind Schulen mit einem hohen Migrationsanteil keine Seltenheit, daher ist es unerlässlich, vonseiten des institutionalisierten Bildungswesens die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um die gelungene Integration nicht nur auf den Weg zu 64

Herausforderungen für die Bildungsdirektion

bringen, sondern auch bestmöglich zu fördern. Herausforderungen dahingehend werden oftmals als „soziale Probleme“ zusammengefasst, wie beispielsweise inadäquate Grundversorgung der Kinder, die Notwendigkeit mehrsprachiger Unterstützung und „Bildungsferne“. Hierbei handelt es sich um eine Thematik, die oftmals herunter­gespielt wird. Aus unserer Sicht können jedoch nur ein realistischer Blick und konkret umgesetzte Maßnahmen eine Veränderung zum Positiven bewirken, von denen nachfolgend exemplarisch einige Maßnahmen Erwähnung finden sollen: So arbeiten wir energisch daran, die Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe laufend zu optimieren sowie die Schülerströme so zu lenken, dass maximal ein Drittel einer Schulklasse eine andere Erstsprache als Deutsch spricht. Ebenso wichtig ist auch der Ausbau der Unterstützung durch Schulsozialarbeit, Schulpsychologie, Schularzt voranzutreiben sowie eine unmissverständliche Verdeutlichung der Regeln und Umgangsformen, die in Österreich gepflegt werden. Unser Ziel ist es, den demografischen Entwicklungen unseres Landes adäquate Lösungen entgegenzustellen und dabei laufend sämtliche Unterstützungsmaßnahmen zu evaluieren und gegebenenfalls auszubauen. Daneben ist auch das sich wandelnde Klima der Erde eine Herausforderung, die bereits in der Schule von Relevanz ist. Schwere Wetterereignisse nehmen zu, selbst Österreich ist davor nicht gefeit. Der Klimawandel und seine Folgen zählen sicherlich auch zu den größten Herausforderungen unserer und der kommenden Generationen. In den Schulen werden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um nicht nur ein Bewusstsein für die Umwelt und deren Schutz zu schaffen, sondern auch aktive Maßnahmen einzuleiten, um das Klima, aber auch die atemberaubende Schönheit – und damit die hohe Lebensqualität – unseres Landes zu ­schützen. Der Klimaschutz beginnt bereits in der Schule! Das heißt, wir müssen die Kinder und Jugendlichen zu einem nachhaltigen Lebensstil erziehen und die Wichtigkeit einer intakten Umwelt und Natur in den Köpfen der SchülerInnen verankern. Die Bildungsdirektion für Steiermark hat hier eine Vorreiterrolle eingenommen und wurde nach rund 20-jähriger Unterstützung des ÖKOLOG-Programms zur ersten ÖKOLOG -Bildungsdirektion Österreichs. Mit rund 540 Schulen aller Schultypen aus allen Bundesländern handelt es sich dabei um das größte Netzwerk für Schule und Umwelt in Österreich. Sukzessive werden in vielfältigen Themenbereichen wie z. B. Wasser, Abfall, Energie, Schulgelände, Gesundheit, Schulklima, Partizipation usw. konkrete Maßnahmen ergriffen, um das Thema Umwelt deutlich sichtbar zu machen. Bereits jetzt können die Nationalparkschulen und die Klimabündnisschulen, die je eine enge Zusammenarbeit ­zwischen Schulen und Anknüpfungspunkten in der Natur initialisieren, sowie das österreichische Umweltzeichen, mit welchem hohes Umweltengagement und eine nachhaltige und soziale Schulentwicklung ausgezeichnet werden, als erfolgreiche Initia­tiven bezeichnet werden. Elisabeth Meixner

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Auch Bewegungsmangel und mangelhafte Ernährung zählen zu den Problemen unserer Wohlstandsgesellschaft. Zahlreiche Maßnahmen sollen diesen Fehlentwicklungen vorbeugen. Um die Essgewohnheiten der SchülerInnen zum Positiven zu verändern, werden Evaluierungen durchgeführt und Schulungen des Verkaufspersonals der Schulbuffets verstärkt, um eine qualitative Anhebung des Schulbuffetsystems zu erwirken. Dem allgemeinen Bewegungsmangel soll auf mannigfaltige Art entgegengetreten werden. So wird beispielsweise regelmäßig das Schulsportgütesiegel an Schulen verliehen, die ihre SchülerInnen sportlich besonders fördern und ihnen ein umfassendes Bewegungsangebot bieten. Auch in Kooperation mit dem „Bewegungsland Steiermark“ sollen die Bewegungszeiten der SchülerInnen erhöht und so die wichtige Verbindung von kognitivem Lernen und bewegtem Lernen gestärkt werden. Unser grundlegendes Bestreben war es von jeher, Entscheidungen stärker an die einzelnen Schulstandorte zu überantworten. Das breit gefächerte Spektrum der steirischen Schulen zeigt den unvergleichlichen Mehrwert, wenn mehr Eigenverantwortung in der Region und am einzelnen Standort übernommen werden. Für die Bildungsdirektion rückt damit ins Zentrum der Überlegungen, die geografischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und demografischen Bedingungen dahingehend zu prüfen und Umstände zu schaffen, in denen sich die Schulen optimal entfalten können. Die Bildungsdirektion lebt vom regen Austausch und der starken Vernetzung der einzelnen Abteilungen des Haues, aber auch vom intensiven Kontakt mit den Schulen. Eine spannende Herausforderung, die noch vor uns liegt, besteht darin, die bereits jetzt schon sehr elaborierte Dialogkultur durch strukturierte, verlässliche und regelmäßige Initiativen noch weiter auszubauen. Damit soll die Bildungsdirektion sukzessive durch weiteren, angeregten und nachhaltigen Austausch zum pädagogisch-­administrativen Kompetenzzentrum der Steiermark ausgebaut werden. Auf all die bereits gemeisterten Herausforderungen rückblickend, ist eine ganz klare Bilanz zu ziehen: Herausforderungen sind nichts weiter als Aufgaben, die völlig neue und oftmals höhere Anforderungen an uns stellen als wir es in der Regel gewohnt sind. Man kann Herausforderungen als lästige Beschwernisse, sie aber auch als Benchmarks oder als Chancen sehen – als Gelegenheiten, zu wachsen. Allerdings sind Herausforderungen so unterschiedlich wie Schneeflocken, Arbeitseffizienz und Innovationsgeist sind daher in der Regel erfolgversprechender als sture Beharrlichkeit. Daher soll das Fazit ­dieses Beitrags mit der nachfolgenden Formel zusammengefasst werden: Work smarter, not harder.

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Herausforderungen für die Bildungsdirektion

LOJZE WIESER

Handke lesen!

I. Wir leben in einer Zeit der Begriffslosigkeit und wir erleben in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, nach dem Zerfall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall von Jugoslawien, eine Zeit, in der das politische und das literarische Denken vollkommen durcheinandergeraten ist und neu geordnet wird. In ­diesem Zusammenhang hat Peter Handke, als einer der wenigen, in der Literatur eine Begrifflichkeit zu entwickeln begonnen, die hinter all die scheinbar klar definierten Positionen schaut, die das Denken, das Hinterfragen, das Befragen als Wegweiser für eine neue oder andere Sicht der Welt eröffnet. Es geht schon längst nicht mehr um Handke und die Gegensätze im damaligen Jugosla­wien. Es geht, anhand der Sprache, um eine andere Welt, da gerade in der Sprache das Alte fortlebt, wir aber neue Worte finden müssen und wollen, um die Welt in eine ideologiefreie zu wandeln; um Frieden und Freiheit durch Worte zur Wirklichkeit werden, entstehen, wachsen zu lassen. Suchen, fragen, kratzen, hinterfragen, neu verstehen, nichts so nehmen, wie es uns vorgesetzt wird. Wohin biegen wir an der Kreuzung ab? Trotten wir in die falsche, mit Falschinformationen und Instrumentalisierungsoptionen bis in die letzte Nische der Kultur verseuchte Welt, oder finden wir verständliche, andere, die Menschheit zu friedlichem Beisammensein und Liebe fördernde Worte, Sätze, Geschichten? Es verdichtet sich das Gefühl, dass mit den derzeit hinausgespülten Anklagen, Vorwürfen, Behauptungen den Worten mit dieser Sprache zukünftige Lösungen verbaut, verhindert, diskreditiert werden sollen, um in diesen Rauchschwaden den Blick zu vernebeln, das Schweigen zu fördern und die Menschen formbar zu machen. Wir haben seitens der Politik keine Worte und keine Handlungen, die der neu entstandenen Situation von Armut, Flucht, Vertreibung – glaubhaft – gerecht werden. Es werden längst schon überholte und von den Ereignissen widerlegte – wie man so sagt, von der Geschichte – Neuordnungs- und Machtteilungsstrategien gewälzt, die Menschen in zunehmendem Hass zueinander getrieben haben, und jeglicher Versuch, ­diesem Treiben, ­diesem Sog, durch Verständigung, durch Erkennen, durch Fragen, Lojze Wieser

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durchs Irren und durchs Aufeinanderzugehen zu begegnen, wird im Keim erstickt und jegliche Sprachkritik und ideologiefreie Betrachtung des Um-­uns-­Herum soll gar nicht erst Fuß fassen können. Eine Neubewertung des Wahrnehmens ist im Gange, damit einher geht die Zertrümmerung aller vorgefertigten Einheitsmeinungen und Bilder. Handke ist der größte Neuschöpfer der Sprache und ich wage zu sagen, dass es kein Werk von ihm gibt, in dem dieser Versuch nicht von der jeweils anderen, wieder neuen, erweiterten, von der Erfahrung angereicherten, widerlegten und in Frage gestellten Sicht durchdrungen ist. In einer Welt der Ideologien und der uniformierten Schubladisierung muss ein derartiges beharrliches Bestreben, die Welt um sich in anderen Sätzen zu lesen, mehr als befremdlich wirken. Es wird durch die Konsequenz zur Bedrohung an sich und – für das auf tönernen Füßen stehende Gebäude der derzeitigen Welt!

II. Peter Handke, der Wanderer ­zwischen den Sprachen, der das Wort zum Wanderstab erkoren hat, und mit der eigenen Kindheitssprache als Echo, Lot und Kompass, im Inneren, durch die eigene Literatur navigiert, erinnert einmal, dass z. B. Kito Lorenc in seinen Gedichten „die sorbische Geschichte aber auch noch anders erzählt, (…) wo das spezielle Geschichtswissen übergegangen ist in etwas Universelles, die Ahnung. Und diese Ahnung geht, gedichtweise, das heißt: Weise des Gedichtes, wiederum über ins Bild, in die Bilder, in den Klang, in die Klänge, und wird so Gegenwart, anders als die Vergegenwärtigung selbst der lebendigsten Geschichtsschreiber.“ Die Sprachen haben in sich wohl eine geheimnisvolle Triebfeder, sie geben dem Sprecher und der Leserin, sie geben dem Sänger und dem Vor- und Nachbeter Elan, sich durch das Dickicht der Zeitläufte zu zwängen, sich mit den Gegebenheiten zu kratzen. Die Sprachen mögen still und leise dahinplätschern oder versickern, auf einmal sind sie wieder da, tauchen oft, an andrer Stelle als erwartet, auf und sind meist erfrischender als zuvor. Oder, Peter Handke abschließend, „die dritte Beflügelung, die spüre ich Leser, die spürt das Leser-­Ich, alias das Gemein-­Ich, herrührend von den sorbischen Dingen, den Tieren alldort, den Leuten allhier – den Fluren, den Fluren der Lužica. Die dritte der Ahnungen macht, dass auch das Deutsch bei Kito Lorenc sich zur Sprache des Landes, des Landes schlechthin, aufschwingt, frei wieder nach Friedrich Hölderlin, dem gemäß ›die Sprache der Liebenden‹ ›Sprache des Landes‹ werden und sein möge“. Im Laufe von Jahrzehnten hat Peter Handke durch seine Übersetzungen von gut 50 Werken aus dem Altgriechischen, Slowenischen, Englischen, Französischen, Serbischen u. a. Sprachen einen unermesslichen „Entzifferungsprozess“ der Welt-­ Kultur geleistet. 68

Handke lesen!

III. Ich erinnere mich an eine Erzählung, wie Peter Handke vom plötzlichen Hereinbruch eines Gewitters überrascht wurde, bei seinem Freund im Friaul im Weingarten sitzend und mit der mechanischen Schreibmaschine ein Manuskript abschreibend. Mitten im Weingarten, auf einer kleinen Anhöhe sitzend, umgeben von Holundersträuchern, Akazien, mitten unter jungem Wein. In ­diesem werkten Weinbauern. Wie verrückt klopfte er in eine mechanische Schreibmaschine, in der Ferne ein Wetter aufkommend. Mit einem Finger einer Hand, denn die andere Hand brauchte er, um sich ein Taschentuch vor den Mund und die Nase zu halten. Die Weinbauern haben zu dieser Zeit gerade ihre Reben behandelt. Sie haben sie mit Pestiziden besprüht. Um den Giftnebel von sich fernzuhalten, den die Weinbauern versprühten, hat er sich mit der zweiten Hand das Taschentuch aufs Gesicht gedrückt. Dann kommt von einer Minute zur anderen ein starker Wind auf, der Himmel verdunkelt sich, es donnert, blitzt, er fürchtet sich, dass seine mechanische Schreibmaschine einen Blitz anziehen und er in diese einschlagen könnte, war doch das Gehäuse aus Gusseisen. Der Regen ergießt sich auf die Maschine, die Blätter und ihn. Er flucht, faucht und flüchtet. Und so schildert Peter Handke in einem Brief an den Autor ­dieses Beitrages am 1. Mai 2007 seine Lage: „Dragi Lojze dan dela. Also versuche ich doch ein paar Zeilen zu den Goriška Brda. Als ich mich ans ‚Spiel vom Fragen‘ machte, war das im Juni 1988 in Brazzano. Im heimeligen ‚Mummelhaus‘ von Hans K. war es gar nicht so heimelig düster, und ich bin mit der Schreibmaschine täglich hinaus, gepilgert zu einem winzigen Wäldchen, inmitten der Weinfelder. Das Wäldchen, fast ein Hain, licht und anscheinend eine Oase der Luftigkeit und der Stille, war nicht weit vom Haus und lag leicht erhöht, obenauf stand ein Steintisch. Die Sonne schien schon junihaft warm im Friaul, aber die Bäume gaben Schatten, und die Blätter fächelten dem Pilger-­Schreiber Wind zu. Es begann also gut, nah am Paradies. Aber gegen Mittag wurde es schwül. Dann ferner Donner, von den Goriška Brda (sagen wir). Das Gewitter kam näher. Widerschein der Blitze – noch in der Sonne – auf der Schreibmaschine. Eine Zeitlang tippte ich weiter, den Blick auf die innere Bühne gerichtet, auf den Mauerschauer mit seinem Frohblick, auf den Spielverderber mit seinem bissigen In-­Frage-­Stellen. Dann: Ganzmetall der Schreibmaschine, erhöht auf dem Hügelchen: Wird ein Blitz einschlagen, mitten im Dialog? Schnell ins Haus. Dort im Düstern, umdonnert, weitergetan. Und so dann Tag für Tag. Reines Blau am Morgen, heute einmal kein Gewitter? Also hinaus in den Schreibhain. Im Freien schreiben! Aber dann, noch vor dem Mittagsläuten, doch wieder der Donnerblitzgott des Friaul, mit Schwefellicht und Krachen nah am Schreibarm. Und wieder geduckt ins Mummelhaus zurück. Fast zwei Wochen ging das so. Der Himmel wollte mein Stück nicht, bedrohte Lojze Wieser

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mich, hatte vielleicht recht? Und dann kam noch etwas dazu: Bevor der Donner jeweils eintraf, erschien ein anderer ‚Widersacher der Kunst‘: die Weinbauernschaft: Rund um das Wäldchen sprühten sie die Weinfelder. Umzingelt von Traktoren, zusätzlich von den Gewittern, war ich täglich. Seltsam: Gerade wie sich das Widrige – in meinen Augen halt – häufte, dachte ich: Jetzt erst recht. Und so blieb ich, hell oder finster entschlossen, eigens unter den Hainbäumen und schrieb, umdonnert und umblitzt einerseits, umsprüht von den Chemikalien und umdröhnt von den Traktoren andererseits, hielt mir mit der einen Hand ein Taschentuch vor die Nase und tippte mit der anderen, mit einem Finger, und immerhin schaffte ich so den ersten Teil des Spiels vom Fragen, das im Untertitel ‚Die Reise zum Sonoren Land‘ heißt. – Zum Hain pilgere ich heute noch gerne, freilich ohne Schreibmaschine, nie mehr!, und den Wein der Gegend (Isonzo-­ Appellation, glaube ich) kann ich, in Maßen, empfehlen (der Hügelwein der Goriška Brda ist leichter, und mir lieber). Also – Pozdrav Peter“ (Wer mehr von Goriška Brda erfahren möchte, liest im Band der Reihe Europa erlesen Goriška Brda/Collio auch die Korrespondenz Sivec an Tratnik nach).

IV. Aus Anlass des Erscheinens der „Tablas von Daimiel: ein Umweltzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević“ sandte ich 2006 an Peter Handke den folgenden Brief, den ich Die Siphons vom Zirknitzer See betitelte. Bezieht man auch die Werke „Abschied des Träumers“, die „Winterliche Reise“ und den „Sommerlichen Nachtrag“ (Suhrkamp), „Noch einmal vom Neunten Land“, „Die Sprachenauseinanderdriftung“, „Wut und Geheimnis: Peter Handkes Poetik der Begriffsstutzigkeit“, (Wieser); „Die Wiederholung“ und „Immer noch Sturm“ (Suhrkamp) – um nur einige der Eckpfeiler zu nennen – mit ein, so sind Handkes Fragen und Hinterfragungen keineswegs fragwürdig, sondern zeigen sich in aller Deutlichkeit als konsequenter Versuch einer Wortfindung für das Unsagbare, das nicht selten in einem sprachlichen Rhythmus zur Melodie wird, aus der Tiefe der Kindheitserinnerung in der von ihm geschriebenen deutschen Sprache die slowenisch-­slawische Tonalität herausklingt und ihr eine einzig­ artige Poetik verleiht. Er mag den gegenwärtigen politischen und vor allem journalistischen „gesunden Menschenverstand“ verstören, aber dadurch wird seine Literatur um nichts weniger wegweisend: als – unbequemer – Frager. „Seine Beziehung zu Serbien und Slobodan Milošević brachte Peter Handke nicht nur viel Kritik, sondern oft auch undifferenzierte Diffamierungen ein. (…) In Die Tablas von Daimiel (zunächst ­erschienen 70

Handke lesen!

in Literaturen, Juli/August 2005, 2006 in Buchform) erzählt Peter Handke, warum und in welcher Form er zum Zeugen der Kriege auf dem Balkan wurde. Hier macht er seine Einstellung zu den mörderischen Auseinandersetzungen, ihren Voraussetzungen und Konsequenzen, unmissverständlich – für jeden, der lesen will – ­deutlich“, gibt die Suhrkamp-­Homepage den Inhalt wieder. „Dragi Peter! Ein Nachdenken, ein Fragen, ein Wissen-­Wollen, ein In-Frage-­Stellen, ein Sich-­nicht-­ zufrieden-­Geben mit dem, womit sich die Mehrheit zufrieden gibt, ein Hinsagen und vor allem das trotzige Hinterfragen: Gericht ist nicht Gericht, Zeuge ist nicht Zeuge, dort nachhaken, wo andere schweigen, dort hingehen, wo andere nicht hingehen. Ein sich selbst in Zweifel ziehen, alles, nur nicht als Partei auftreten, das tun die andern schon. Wer entscheidet über richtig und falsch. Wer begann und wer reagierte? Wo gab es die Ungleichzeitigkeit des Gleichen mit umgekehrten Vorzeichen? War der Krieg gerecht oder die Gegenwehr, ist die Verteidigung gegenüber dem Aggressor schon ­­Zeichen für eigene Unschuld? Wer hat begonnen, wer hat reagiert? Genügt ein Ausschnitt aus der zeitlichen Wahrnehmung oder ist dieser schon Folge von vorausgegangenen Manipulationen und Handlungen? Wer benutzte wen, wovon profitierten die Internationalen und wen haben sie für sich arbeiten lassen? Wo ist ihr Teil der Schuld und wird über diesen hinweggegangen oder genügt es, nach getaner Selbstverschuldung die Hände in Unschuld zu waschen? Und die, die in Trauer verharren aufgrund der Ungerechtigkeit – und wenn auch nur aus subjektiver Sicht –, die von keiner Seite gehört und deren stumme Fragen übergangen und übersehen werden? Und auch das Feststellen, M. zwar ganz und gar nicht für ‚unschuldig‘ (zu) halte(n) (das, wie gesagt, ist nicht meine Sache) und der beharrliche Verweis auf das Politische der Justiz, die Analogien zu Dimitroff in den Dreißigern – Verteidigung, nicht Selbstverteidigung, allein gegen alle – das Gefühl für die, die alleine sind, allein gelassen werden, ihnen Gerechtigkeit zukommen zu lassen, trotzig, wiederholend, suchend – wer hat angefangen, wer sich verteidigt und hat der, der sich verteidigt hat, gleichzeitig auch schon wieder angefangen? Das tiefe Misstrauen gegenüber den Gerichten, der Verdacht auf Einseitigkeit, das Nicht-­Benennen der Hintergründe und der dahinterstehenden Mächte, die in der Folge von den Entwicklungen profitierten und noch immer profitieren, die globalen Strategien, gegen die nicht zu Gericht gesessen wird und gegen die möglicherweise keine Zeugen aufgerufen werden. Der Verdacht – aus der innersten Tiefe herrührend –, hier ein Schauspiel, ein ­Theater zu erleben (die Szenen selektiv und nicht im Ganzen wiedergegeben), nährt die Zweifel, die Welt der Gerechtigkeit gehe unter und doch erschien mir niemand in der Menge eigens böse. Die Tablas von Daimiel erinnern an die Geschichte des Zirknitzer Sees / Cerkniško jezero in Slowenien, der einmal im Jahr verschwindet, und dann wieder auftaucht, mit Lojze Wieser

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all seinen Fischen, Krebsen, Aalen und Algen, in dem in der wasserlosen Zeit die Menschen säen, Heu einbringen und jagen. Ende der Fünfziger wollte man die Siphons, in denen das Wasser verschwindet, zubetonieren, um einen Badesee zu bekommen. Der Versuch misslang, der See kommt und geht nach wie vor alljährlich, wie es schon Valvasor im 17. Jahrhundert in einem topografischen Bericht erzählt. Die Tablas zerstörte die Gier aus Menschenhand, der Zirknitzer See hat sich dieser widersetzt. Der bittere Zorn, der Ingrimm herrscht vor, der Widerstand des Sees und der Lebenswille der Menschen um den See hat Dauer. Prisrčno! Lojze“

V. Peter Handke war unter den Ersten, die die Qualität der slowenischen Literatur in Österreich erkannten. In seinem mehr als 70 Bände umfassenden literarischen Werk, von den „Hornissen“, über „Wunschloses Unglück“, „Die Wiederholung“, „Das Jahr in der Niemandsbucht“, „Immer noch Sturm“ bis zur „Obstdiebin“ folgen wir der Vielschichtigkeit und Lebendigkeit und Wiedergeburt der Sprache und erleben das Aufblitzen der Kindheitssprache, die man in der Melodik der Erzählung als Ahnung, wie ein unterirdisches Plätschern des Baches – žuborenje potoka – liest und hört und durch das Kratzen des Bleistifts in die Phantasie erweckende Reibung verzaubert gesogen wird. Wie Peter Handke beim Lesen des slowenisch-­deutschen Wörterbuchs von Maks ­Pleteršnik aus dem Jahre 1894/95: „Das alte Wörterbuch wirkte auf mich als Sammlung von Ein-­Wort-­Märchen, mit der Kraft von Weltbildern.“

Literatur Handke, Peter; Wieser, Lojze; Baker, Frederick: Die Sprachenauseinanderdriftung: Peter Handke und Lojze Wieser im Gespräch mit Frederik Baker, 2010, 71 S.; 22  cm + 1 DVD -Video, ISBN : 978 – 3 – 85129 – 861 – 1 (Gehört gelesen; 6) Handke, Peter; Kerbler, Michael: … und machte mich auf, meinen Namen zu suchen. Peter Handke im Gespräch mit Michael Kerbler; inklusive Audio-­CD / ORF 1, Radio Österreich 1, 2007, 66 S.; 22 cm; 1 CD, ISBN: 978 – 3 – 85129 – 543 – 6 (Gehört gelesen; 1) Handke, Peter; Amann, Klaus: Wut und Geheimnis: Peter Handkes Poetik der Begriffsstutzigkeit; zwei Reden zur Verleihung des Ehrendoktorates der Universität Klagenfurt am 8. November 2002 an Peter Handke; [eine Publikation des Robert-­Musil-­Instituts der Universität Klagenfurt/Kärntner Literaturarchiv] / Peter Handke; Klaus Amann, 2002, 58 S.: Ill.; 22 cm, ISBN: 978 – 3 – 85129 – 402 – 6 Handke, Peter; Horvat, Jože: Noch einmal vom Neunten Land: Peter Handke im Gespräch mit Jože Horvat, 1993, 110 S.; 22 cm, ISBN: 978 – 3 – 85129 – 091 – 2 Handke, Peter: Die Wiederholung = Ponovitev / Peter Handke. [Ins Slowen. übertr. von Silvija Borovnik und Klaus Detlef Olof], 1988/2005, 600 S.; 25 cm, ISBN: 978 – 3 – 85129 – 540 – 5 (Wolfs ­Wörterbücher 72

Handke lesen!

und Handkes Wiederholung; 5) (Wolfs Wörterbücher, 2005/6, https://www.wieser-verlag.com/ buch/wolfs-woerterbuecher-und-handkes-wiederholung/) Handke, Peter: [Immer noch Sturm] Še vedno vihar / Peter Handke. Iz nemščine Brane Čop, 2011, 145 S., 23 cm, ISBN: 978 – 3 – 99029 – 000 – 2

Zu Handke Nenning, Günther: Wenn ich an Handke denke, denke ich an Dante oder Auf dem Läuterungsberg, ein Fragment / Günther Nenning, 2012, 44 S.; 23 cm, ISBN: 978 – 3 – 99029 – 011 – 8 Kapellari, Egon: Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr: religiöse Dimensionen im Werk Peter Handkes / Egon Kapellari, 2014, 27 S.; 23 cm, ISBN: 978 – 3 – 99029 – 121 – 4 (Ultramarin-­Reihe; 3) In drei Bänden der Reihe „Europa erlesen“ (Wieser Verlag), sind jeweils Originalbeiträge von Handke, Erstveröffentlichungen Baloch, Harry: Ob Gott oder nicht Gott. Peter Handke und die Religion. / Harry Baloch, 2010, 300 S.; 23 cm, ISBN: 078 – 3 – 85129 – 873 – 4; https://www.wieser-­verlag.com/buch/ob-­gott-­oder-­nicht-­ gott-­peter-­handke-­und-­die-­religion/

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OSWALD PANAGL

Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln. Politische Sprache auf dem linguistischen Prüfstand

Lesarten politischen Sprechens Politische Sprache ist nur scheinbar ein eindeutiger Gegenstand öffentlicher Redeweise, während der Ausdruck tatsächlich ein breites Spektrum sowie ein reichhaltiges Register möglicher Deutungen und Verwendungsvarianten bzw. denkbarer Gebrauchsweisen umspannt. Ich halte mich für die folgenden Definitionen an drei fast schon klassische Autoritäten, deren Darlegungen sich durch besondere begriffliche Trennschärfe und erwiesenen Praxisbezug terminologisch bewährt haben. Walter Dieckmann unterscheidet in seinem etablierten Standardwerk „Sprache in der Politik“ (1975) in erster Instanz ­zwischen ‚objektiver‘ Funktionssprache und ‚subjektiver‘ Meinungssprache, wobei die erstere den Organisationen und Institutionen zugehört, während ihr Pendant der Propaganda sowie der Verbalisierung von Ideologien verpflichtet ist. In einer idealtypischen Gegenüberstellung beschreibt die genormte Sprechart politische bzw. institutionelle Wirklichkeit, während das individuelle Raster diese semantisch und pragmatisch sortiert, gewichtet und interpretiert. Wenn dem einen Typus der Fachterminus als Schibboleth zukommt, so dient der Gegenseite das Schlagwort als verbale Signatur. Freilich wird diese anscheinend klare Opposition gelegentlich durch sprachliche Grenzgänger überbrückt: Ein Muster­ beispiel ist da die soziale Marktwirtschaft, die sich aus der aphoristischen Unverbindlichkeit eines parteilichen Neologismus zu einem Fachvokabel mit definierbaren Rändern verdichtet hat. Der Germanist und Soziolinguist Josef Klein wiederum hat in einem wegweisenden Aufsatz „Wortschatz, Wortkampf, Wortbilder in der Politik“ (1989) vier prototypische Inventare politischer Lexik vorgeschlagen: Im Institutionsvokabular mit seinen fachsprachlichen Zügen dominieren Ausdrücke für staatliche Organisationen, politische Rollen, Richtlinien des institutionellen Handelns und Wortlisten für öffentliche Vorgänge und Verfahren. Das Ressortvokabular zielt auf gesellschaftlich angrenzende Sinnbezirke ab, sieht aber zugleich auch emotional besetzte Wortprägungen vor. Im allgemeinen Oswald Panagl

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Interaktionsvokabular, das sich an der Standardsprache ausrichtet, herrschen Aus­drücke für die sozialen Umgangsformen und zwischenmenschlichen Netzwerke vor. Das Ideologievokabular endlich enthält „Wörter, in denen politische Gruppierungen ihre Deutungen und Bewertungen der politisch-­sozialen Welt, ihre Prinzipien und Prioritäten formulieren“. Damit werden bestimmte Ausdrücke spontan mit den entsprechenden politischen Lagern assoziiert, man denke an Gottesfurcht, Klassenbewusstsein oder Nationalgefühl. Wenn dabei von unwillkürlicher, bewusster parteilicher Zuordnung die Rede ist, so erinnert man sich in Österreich vielleicht noch an das typische Wortpaar AKH-Prozess vs. WBO-Skandal, während sich beim Gegensatz von Fremd- und Eigenbezeichnungen im geteilten Deutschland der Kontrast ­zwischen Kriegs- und Verteidigungsministerium einprägte. In einer weiteren, besonders reich rezipierten Taxonomie hat Wolfgang Bergsdorf in seinem Buch „Herrschaft und Sprache: Studie zur politischen Terminologie der Bundes­ republik Deutschland“ (1983) ein fünfgliedriges Modell vorgestellt. In dieser pentagonalen Gliederung präsentiert er als Idealtypen die Sprache von Gesetzgebung und Rechtsprechung, das Idiom der Administration und Bürokratie, die Ausdrucksweise diplomatischer Verhandlungen oder offizieller Communiqués, die verbalen Register der politischen Bildung und den Wortschatz der Massenmedien, schließlich den Jargon der politischen Propaganda und die Diktion des parteilichen Diskurses in der Öffentlichkeit. Dieser Variante der öffentlichen Sprache sollen die folgenden Ausführungen vorbehalten sein.

Verfahren parteipolitischer Werbung Der Grazer Philosoph Kurt Salamun hat in seinem lesenswerten Text „Verbalstrategien in der Politik“ (1988) eine empirisch fundierte Liste taktischer Manöver erstellt, die Politiker bei Wahlveranstaltungen, in propagandistischen Schriften, aber auch in Parlamentsreden bevorzugt verwenden. Identifikationsformeln mit einem inkorporierenden Wir (als Bescheidenheits- oder Herrscherplural), zudem mit vorausgesetzter Zustimmung des Publikums, suggerieren die unausgesprochene Übereinstimmung des Sprechers mit seinen Adressaten. Mit Euphemismen der Branche, also den beschönigenden oder verharmlosenden Umschreibungen unschöner Sachverhalte bzw. Vorgänge, ließe sich allein aus der politischen Szene in Österreich eine stattliche Sammlung erstellen. Es sei an dieser Stelle nur exemplarisch an die Fälle von Preiskorrektur, Freisetzung von Arbeitskräften, Umverteilung oder Stilllegung von Kapazitäten erinnert. Bruno Kreisky hatte einst die verfänglichen, in Linz hergestellten Panzer zu Kettenfahrzeugen verniedlicht. Jörg Haider wiederum wies nach der Einigung auf eine Koalition seiner Partei mit der ÖVP unter Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 den ihm vorgehaltenen politischen Wortbruch so zurück: „Es werden keine Steuern erhöht, sondern nur 76

Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln. Politische Sprache auf dem linguistischen Prüfstand

Tarife angepasst.“ C. Julius Caesar aber hat vor mehr als zwei Jahrtausenden mit dem Verbum pacare als „befrieden“ für die Unterwerfung besiegter Völker tabuisierende Pionierarbeit geleistet. In der Strategie synonymischer Unterscheidungen setzt der Politjargon neutralen, sogar positiven Vokabeln der eigenen Seite abträglich konnotierte Ausdrücke des ‚feindlichen‘ Lagers entgegen, wie die bereits historischen Wortpaare Aufklärung vs. Spionage, Information vs. Propaganda oder patriotisch neben chauvinistisch demonstrieren. Suggestivdefinitionen als ein weiteres Verfahren „definieren Begriffe aus einer bestimmten Wort- und Interessenperspektive neu, indem der deskriptive Bedeutungsumfang entweder erweitert oder eingeschränkt, der stark emotive Bedeutungsakzent aber unverändert beibehalten wird“. Dabei wird sogar, so füge ich hinzu, zu volksetymologischen Prozessen gegriffen, wenn etwa im Falle von Wahrnehmung, das ja eigentlich zu Gewahrsam gehört, also „Beobachtung“ bedeutet, der nachträgliche Anschluss an das Hochwertadjektiv wahr gesucht wird. Bei dynamischen Begriffen und Wendungen hat man ein bereits per se brisantes Substantiv durch ein quasi ‚beschwingtes‘ Attribut noch zusätzlich beflügelt. Wir kommen auf diese Strategie unter einem anderen Stichwort ­später zurück. Die Endstufe semantischer Aushöhlung in der politischen Sprechweise findet sich unter dem Etikett Leerformel, für das ich gern mein eigenes Lieblingsbeispiel zitieren möchte. Auf höhere Lebensqualität wird man sich rasch und ohne Gegenstimme einigen können, auf den konkreten Inhalt dieser verbalen Hülse hingegen schon weit weniger: Denn der eine versteht darunter etwa bei der erwünschten Gestaltung des Wochenendes langes Ausschlafen, während es andere schon im Morgengrauen zu einer Bergwanderung lockt. Im essentialistischen Wortgebrauch endlich versucht der Sprecher oder Schreiber, den wahren Sinn und die eigentliche Bedeutung eines Ausdrucks freizulegen und ins rechte Licht zu setzen. Ideelle Basiswörter wie Freiheit oder Gerechtigkeit werden dabei gleichsam ontologisch aufgemöbelt, die Sprachwissenschaft avanciert damit zur Sprachwesenschaft. Um das Thema „Sprache der Wahlkämpfe“ zu illustrieren, verweise ich zunächst auf einige Stationen der einschlägigen verbalen Auseinandersetzungen in Österreich. Wer angesichts heutiger Strategien den alten Zeiten nach Inhalt und Tonfall nostalgisch nachtrauert, dem ­seien etliche Parolen der Plakatwerbung im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik vorgeführt: So sind etwa die österreichischen Parteien in der unmittelbaren Nachkriegszeit recht harsch miteinander umgegangen, was auch die Vorliebe für Reime nicht wettmacht. „Schlagt die Faschisten, wählt Kommunisten“, dröhnte es von links außen, während die SPÖ verkündete: „Der Kater lässt das Mausen nicht, die ÖVP das Lügen nicht“. Die Volkspartei aber entwirft ein anderes Feindbild: „Sozialismus der Weg – Volksdemokratie das Ziel“. Oswald Panagl

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Auch in den 1950er Jahren bleibt der Umgangston aggressiv: „Wir wollen nicht in ­ irchen hausen, in dumpfen Höhlen nicht verlausen“ begegnet der Devise „Sie reden K vom Frieden – und wollen den ewigen Hass“. Gerade 1956, beim ersten Wahlkampf im freien Österreich, erklingen besonders raue Töne. Die SPÖ rührt an alte Wunden („Wehrt euch gegen die Henker von 1934“), während die ÖVP den Heimkehrern in den Mund legt: „Bringt die Heimat nicht dorthin, wo wir herkommen!“ Drei Jahre ­später rät die SPÖ dem Kanzler: „Herr Raab, gehen Sie mit der Zeit… gehen Sie!“ Sie setzt auf den eigenen Kandidaten mit dem Wortspiel „Pittermann für jedermann, jedermann für Pittermann“, das die ÖVP negativ fortschreibt: „Wählt jedermann den Pittermann, wird’s bitter dann für jedermann“. Und die schon als FPÖ kandidierende dritte Kraft warnt deftig: „Wählt ihr die beiden noch einmal, bleibt wieder nur der Ferkelstall!“ In den frühen 1970er Jahren suchte die Propaganda für Bruno Kreisky einen neuen verbalen Stil – oder modisch gesagt, einen New Look – der einschlägigen Verfahren, der in manchem an die Register der kommerziellen Reklame mit ihren Nischen der Huckepack- bzw. Testimonialwerbung anknüpfte. Prominente Zeitgenossen meldeten sich da zu Wort und wollten „ein Stück Weges gemeinsam“ mit der erfolgreichen Galionsfigur gehen. „Geschichten vom Dr. Kreisky“ gab es zu lesen und die Devise aus 1971 „Lasst Kreisky und sein Team arbeiten“ ist meinem inneren Auge immer noch gegenwärtig. Freilich war diese ungewohnte Linie nicht allen genehm, denn eine damit wenig vertraute, ältere Parteigängerin soll ihre Bezirksorganisation damals mit der Frage konfrontiert haben: „Den Bruno kenne ich – aber wer ist der Team?“ Bei einer rezenten Wahl zum Nationalrat im Herbst 2013 war eine Werbung zu sehen, die über den Einzelfall hinaus Aufschlusswert vermittelt: Schon auf den ersten Plakaten der SPÖ für ihren Kanzlerkandidaten Werner Faymann las man neben dem Konterfei des Politikers „Stürmische Zeiten. Sichere Hand“, das sich ­später leitmotivisch mit besonderen Agenden wie Pensionssicherung verband. Wer das konventionelle Sprachbild des Sturmes näher betrachtet und mit der zugehörigen Tugend verschränkt, denkt unwillkürlich an einen erfahrenen Kapitän, der sein Schiff in schlimmer Wetterlage, sogar in der Gefahr des Scheiterns sicher in den heimatlichen Hafen steuert. So weit, so gut! Doch diese Assoziation ist bereits in einer Metapher ‚verankert‘, die sich durch die griechisch-­römische Literatur zieht. Das ‚Staatsschiff‘, also die Vorstellung des Gemeinwesens als ein Fahrzeug auf hoher See mit allen Implikationen und Begleitgefühlen, gewinnt besonders einprägsam in einer Ode des Horaz (I, 14) Gestalt und Kontur: „O Schiff, es sollen neue Fluten dich ins Meer tragen! O was tust du? Gewinne mit Kraft den Hafen!“ Was sich zunächst wie eine Naturszene liest, ist in Wahrheit eine politische Anspielung, mit welcher der Dichter vor den Gefahren eines neuen Bürgerkriegs warnt. Und so kommt denn auch bald der Stratege ins Spiel: „Nimmer gewinnt der zagende Seemann Vertrauen durch das bemalte Schiff. O nimm dich in Acht, wenn 78

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du nicht ein Spiel den Winden werden sollst!“ Doch selbst ­dieses alte Zeugnis greift schon auf eine ehrwürdige Tradition zurück. Der frühgriechische Lyriker Alkaios hat die stimmige Allegorie vielleicht geprägt. In der „Antigone“ des Sophokles vergleicht dann der Machthaber Kreon die vertraute Heimat mit einem zuverlässigen Schiff. Der Überlieferungsstrang zieht sich ­später über viele Stationen bis in die Moderne. Ist es verwegen, noch in der angesprochenen Wahlpropaganda Spuren dieser Bilderkette zu erblicken? Wenigstens – um im nautischen Bild zu bleiben – als ‚gesunkenes‘ Kulturgut! Das Wortfeld der Seefahrt hat auch sonst in den Sinnbezirk der Politik Einzug gehalten und sich darin verbal niedergelassen. Das zeigt sich bereits am lateinischen Zeitwort mit griechischer Herkunft gubernare, das, zunächst für die Steuerung eines Schiffes geprägt, schon bald die Leitung von Institutionen und Personenverbänden, damit aber auch die Lenkung des Staatswesens bezeichnete. Die Bedeutung „regieren, herrschen“ hat den etymologischen Ursprung fast überdeckt und die fachsprachliche Verwendung verdrängt. Es sei nur an die Ausdrücke ital. governare, franz. gouverneur, engl. government erinnert. Und als vor etlichen Jahren Arnold Schwarzenegger sein politisches Amt in Kalifornien antrat, war in den Medien alsbald in Analogie zu seiner erfolgreichen Filmrolle als Terminator von einem Governator die Rede. Auch die vor einiger Zeit im Zuge einer Regierungsbildung fast inflationär zitierten Sondierungsgespräche haben eine entsprechende Lesart. Sonde bedeutete als französisches Lehnwort des 18. Jahrhunderts sowohl die Senknadel in der Medizin als auch das Lot in der Schifffahrt. Ein Politiker, der zu sondieren weiß, avanciert damit gleichsam zum sachverständigen Kapitän, der seiner verantwortungsvollen Aufgabe gewachsen ist. Zahlreiche Sprachbilder aus dem Seewesen haben politische Konnotationen angenommen und sind zu Bestandteilen des einschlägigen Wortschatzes geworden: Man streicht die Segel, verankert Bestimmungen im Gesetz, rudert zurück, hat Land in Sicht oder erblickt einen Silberstreif am Horizont. Und wer sich als politische Gruppierung auf Abenteuer begibt, nennt sich einfach „Piratenpartei“. Dass die Textsorte Wahlwerbung ihre eigenen Gesetze hat, zeigt ein Traktat, den Cicero zur Kandidatur für das Konsulat im Jahre 63 v. Chr. als „Commentariolum petitionis“, also ein propagandistisches Angebinde von seinem Bruder Quintus erhielt. Darin werden unseriöse Wahlversprechen ebenso gebilligt wie die Verunglimpfung des Gegners nahegelegt und ein gefälliges Auftreten empfohlen („dass deine ganze Bewerbung voller Prunk ist, dass sie der Masse willkommen ist, dass sie größtes Aufsehen erregt“). Die Televisionen unserer Tage lassen von Ferne grüßen.

Politjargon und Standardsprache Nicht selten gibt es Interferenzen und Wechselbeziehungen ­zwischen den beiden vorgegebenen Ausdrucksregistern, die dem linguistischen Röntgenblick keineswegs triviale Oswald Panagl

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Aufgaben stellen. So gab es in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Bündnisses ­zwischen der SPD unter Willy Brandt bzw. Helmut Schmidt und der FDP das Schlagwort vom „sozial-­liberalen Kurs“, das eine mediale Diskussion unter Experten auslöste. Die einen Fachleute nannten es unpassend, der Politik des Juniorpartners die gewichtige Endstelle in der Wortzusammensetzung zuzugestehen, während die Gegenseite auf die prinzipielle Gleichwertigkeit der beiden Elemente hinwies. Wie ist das zu erklären? Mit der Tatsache jedenfalls, dass es in ­diesem Bereich zwei unterschiedliche Wortbildungstypen gibt: In den Determinativkomposita vom Typus Kirchturm oder Geburtstag bestimmt die erste Position das Schlussglied, bei Kopulativkomposita von der Sorte nasskalt oder Malerkomponist sind die beiden Bauteile hingegen gleichwertig. Bei einem Farbadjektiv nach der Art von blaugrün aber sind beide Lesarten denkbar. Der ÖVP -Politiker und zeitweilige Parteichef Josef Riegler war seinerzeit für das Modell einer ökosozialen Marktwirtschaft eingetreten und hatte damit eine attraktive Wortschöpfung sowie ein ­zwischen alternativen und konkurrierenden Formen vermittelndes Konzept populär gemacht. Ein Moment der verbalen Schlagkraft lag dabei sicher in der Ambivalenz der semantischen Interpretation. Denn wie auch bei anderen Bildungen dieser Sorte konnte man das beliebte Vorderglied öko- entweder auf Ökonomie oder auf Ökologie beziehen. Die beiden Deutungsmuster sind demnach keineswegs identisch, da unterschiedlich gewichtet, wenn auch kompatibel. Man kann sich als Empfänger der Botschaft also die passende Variante wählen. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ heißt es zu ­diesem Thema im „Vorspiel auf dem ­Theater“ zu Goethes „Faust“. Politische Wortkreationen sind immer wieder ins Visier der Sprachkritik geraten, was wenigstens am Musterbeispiel Volksdemokratie erörtert sei. Wer den tautologischen Charakter der ersten beiden Elemente hervorhebt, hat aus etymologischem Blickwinkel sicher Recht, und der Hinweis auf Fälle wie Windhund, Lindwurm oder Maulbeere trifft den Kern der Sache. Aber die eingedeutschte Wiederholung eines Wortteils kann auch Akzente setzen oder eingeschliffene Lesarten abändern bzw. umpolen. Für wen das lexikalisierte Fachvokabel Demokratie seine ursprüngliche Motivation verloren hat, der mag durch die Hinzufügung des deutschen Pendants eine Kurskorrektur oder Tendenzwende herbeiführen. Dass aus dem neuen Fahnenwort für die Gegenseite ein Stigmawort werden kann, sei nur als Fußnote vermerkt. Viel journalistische Tinte ist für eine triftige Definition des unscharfen Ausdrucks politische Kultur geflossen. Die semantische Bündigkeit eines Ausdrucks verhält sich oft verkehrt proportional zur Häufigkeit seines Gebrauchs. Wovon alle ungeschützt und folgenlos reden, das verfällt der Beliebigkeit. Der Mangel an Verbindlichkeit, die fehlende Kontrolle des Gehalts führen zu Willkür in Richtung Worthülse, Endstation Leerformel. Wie leicht fällt die klare Definition voraussetzungsreicher Berufsbilder wie Versiche­ rungsmathematiker, Halbleiterphysiker oder gar Astronaut! Wie schwer ­bekommen 80

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wir dagegen den notorischen Mann von der Straße, den Durchschnittsbürger oder den Kollegen von nebenan sprachlich exakt in den Griff. So steht es auch mit der vielberufenen politischen Kultur. Jeder führt sie im Mund, jeder versteht etwas anderes darunter: liberale Gesinnung, Toleranz gegenüber Andersdenkenden, klare inhaltliche Konzepte, ausgereifte Ideen – oder auch: höfliche Umgangsformen, korrektes Diskussionsverhalten, vielleicht auch bloß das Vermeiden von groben Verbalinjurien und Schreiduellen im Parlament. Kurzum von allem etwas, aber nichts davon eindeutig und ausschließlich! Kann uns die Sprachgeschichte aus der Verlegenheit helfen? Dass Kultur seiner Herkunft nach ein lateinisches Fremdwort ist und letztlich auf das Verbum colere „pflegen, bebauen“ zurückgeht, ist uns noch geläufig oder kann leicht nachgeschlagen werden. Doch gibt es dafür den berühmten ‚Sitz im Leben‘? Wie so oft im gehobenen Wortschatz geht die konkret-­dingliche der abstrakt-­ sublimen Lesart voraus: Man denke nur an den noch durchschimmernden Ursprung von Intellektualverben wie verstehen, erfassen oder begreifen. Die cultura animi, also die Erziehung zum geselligen Leben, zur Kenntnis der freien Künste und zum ehrbaren Dasein, wurzelt demnach in der agricultura, im Ackerbau, in der Bestellung der Felder. Im Rückgriff auf diese Grundbedeutung ließe sich für politische Kultur vielleicht ein minimaler gemeinsamer Verständnisnenner gewinnen: nach einer Auseinandersetzung das Terrain so zu verlassen, dass darauf wieder der Weizen blühen oder wenigstens darüber das Gras wachsen kann – und nicht nur das Unkraut gedeiht.

Stilfiguren im Dienst der politischen Rhetorik Wer den Begriff Stil in den Mund nimmt oder darüber liest, denkt zumeist an erhabene Bezirke der Sprachlandschaft: an abgehobene poetische Diktion oder mustergültige Redeweisen. Und in der Tat gibt es ästhetische und normativ-­präskriptive Definitionen, die dieser elitären Auslegung entgegenkommen. Aber aus deskriptivem Blickwinkel versteht sich Stil als Sprachgebrauch, als Performanz, als neutrales Merkmal von Sprechakten jeglicher Provenienz und Ausdruckshöhe. Das gilt auch für die sogenannten Stilfiguren, die sich zwar für den Interessenten und Informationsbedürftigen auf Abruf in die Nischen und Regale von Nachschlagewerken zurückgezogen haben, aber in der Tat durchaus lebendig geblieben sind und dem ‚spitzen Ohr‘ auf Schritt und Tritt im Alltag zugänglich sind. Man kann diese rhetorischen Muster kleinformatig rastrieren und mit selektiven Namen wie figura etymologica, Anapher, Zeugma, Litotes oder Apo koinu belegen, wie es in den zahlreichen Handbüchern mit Recht geschieht. Daneben gibt es aber auch die Alternative einer Zusammenfassung und Zuordnung zu gemeinsamen Parametern, wie ich es in ­diesem abschließenden und titelgebenden Kapitel versuche. Als ein Oswald Panagl

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e­ rstes Gliederungsprinzip bieten sich da die gegenläufigen Tendenzen zur Verknappung oder Ausweitung der Aussagen, zur Einsparung oder Expansion in der Rede, pointiert gesprochen, zur Ellipse oder Hyperbel an. Wie auch der Terminus Parabel sind diese beiden Fachwörter in unseren Tagen eher als Bezeichnungen verschiedener Typen der Kegelschnitte aus dem mathematischen Funktionalstil bekannt, obgleich sich alle drei in der Sprache ihrer Herkunft zunächst als transparente Ausdrücke der Standardsprache etabliert hatten. Ellipse bedeutet eigentlich „Weglassung“ und ist als verbales Phänomen allenthalben anzutreffen: Wer sich im Kaffeehaus einen kleinen Schwarzen bestellt oder nach der Illustrierten verlangt, wer beim Fleischhauer nach Faschiertem fragt oder in Wien die Elektrische besteigt, macht von dieser Abbreviatur ebenso Gebrauch wie der Lateiner bei der Prägung von oriens (sol) als Bezeichnung des Ostens, oder von Persica (mala), woraus ­später unser Lehnwort Pfirsich hervorgegangen ist: Sprachliche Ökonomie ist dabei nur die eine Seite der Medaille, der Hang zu neuen, pointierten Bezeichnungen hat wohl gleichfalls diesen Trend begünstigt, womit der Verwendung als Stilfigur Tür und Tor geöffnet waren. Als zwei typische elliptische Muster, die unter hochgestochenen, elaborierten Termini firmieren, nenne ich die Aposiopese und die Praeteritio. Das erstere Verfahren mit dem Namen „Verschweigung“ etikettiert die Neigung, eine Aussage an einem bestimmten Punkt und gegen das Regelwerk der Syntax abzubrechen. Dadurch entstehen erhebliche Lücken in der Botschaft, die vom Verzicht auf Verbum oder Objekt bis zum Fortbleiben eines ganzen erwarteten Folge­satzes reichen können. Was (durch Unaufmerksamkeit oder Ermüdung im Redefluss) als Defizit begonnen hat und in dieser Auslegung immer noch begegnet, hat sich ­später zum Stilelement entwickelt, das in bewusster Setzung Mündlichkeit und Spontaneität vermitteln soll. Bei der Verwendung in politischer Rede kommt noch die Möglichkeit hinzu, bestimmte Sachverhalte nur anzubahnen, ohne – aus Rücksicht oder Sorge um unliebsame Folgen – ausführlich davon zu sprechen. Denn der Adressat, so lautet die Annahme, weiß ohnehin, was zur Sprache kommen sollte und wer oder was gemeint ist. Deutlicher noch, weil explizit und dazu noch paradox, ist da das Procedere der Praeteritio, also der „Übergehung“. Scheinbar aus Höflichkeit oder um Zeit zu sparen, erweckt der Redner den Eindruck einer Aussparung, die er freilich sofort de facto widerlegt. In den Orationes Ciceros lassen sich dutzende Fälle festmachen, in denen der Sprecher die angekündigte Auslassung in Wahrheit meuchlings in eine wohlgeformte Periode umsetzt, sie also geradezu genüsslich auskostet. Auch im Deutschen lassen sich Situationen ausmalen, in denen der Politiker Sätze des folgenden Musters ausspricht: „Ich möchte erst gar nicht davon reden (bzw. näher ausführen), wie oft uns XY belogen, ­welche Ämter er kumuliert hat und wie viele Male ihm das Vertrauen entzogen wurde.“ 82

Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln. Politische Sprache auf dem linguistischen Prüfstand

Bei einer wörtlichen Übersetzung der Hyperbel als Stilfigur schießt der Sprecher oder Schreiber über das Ziel hinaus, er verdoppelt eine Aussage oder ergeht sich in überflüssigen, da bereits klargestellten Scheinpräzisierungen, was als Pleonasmus oder gar Tautologie unter den Varianten der Redundanz verbucht wird. Auch in solchen ­Fällen stehen mangelnde Aufmerksamkeit, Defizite im logischen Denken oder Mängel in der semantischen Trennschärfe, also jedenfalls ‚Fehler‘ am Anfang. Doch erneut kann ­dieses Ungenügen zu einer sprachlichen Tugend gemacht werden, wenn der ‚Sender‘ im kommunikativen Prozess den verbalen Überfluss methodisch nützt, um seinen Adressaten bestimmte Schwerpunkte der Aussage nachdrücklich zu vermitteln, ja geradezu einzuhämmern und damit das Überangebot also gleichsam funktional nützt. Superlativische Ausdrucksweisen haben in unseren Tagen ja auch anderweitig Hochkonjunktur: Man sendet herzlichste Grüße, bestimmte Zustände erscheinen uns optimalst (was sprachlich betrachtet eher suboptimalst ist!), und im Sinne einer Affekterneuerung ersetzen das Präfix ur- oder Adverbien wie riesig, irrsinnig und echt (cool) das schlichte sehr. Das Hendiadyoin, das „Eins durch zwei“ also, diente zunächst als kompensatorisches Mittel, um fehlende Begriffe alternativ zu umschreiben oder um die mangelnde Tauglichkeit einer Sprache zur Bildung von Komposita auszugleichen. Erst ­später – und bis heute – wurde ­dieses Verfahren zur hyperbolischen Stilfigur ausgebaut. Auch Politiker neigen nicht selten zur Verdoppelung sprachlicher Elemente: erlauben und gestatten, Kraft und Stärke, ärger und schlimmer. Im politischen Jargon, wir sprachen schon auf dem Nenner der Verbalstrategien davon, zählen dynamische Wendungen zu den beliebten Mustern im sprachlichen Angebot: Man hört und liest von begeisterter Anstrengung, beschleunigtem Aufschwung oder rasanter Blitzaktion. Die Parabel, als Parabolḗ eine Ableitung vom griechischen Verbum paraballein „daneben stellen (-werfen)“ war demnach ursprünglich ein „Vergleich“, den man ­später zu einem Gleichnis, einer Fabel, gar zu einer Legende ausgebaut hat. Vergleiche – mit der Vergangenheit, mit anderen Ländern oder Konzepten des anderen Lagers – zählen zum Grundinventar politischen Sprechens; das Ziel der Taktik kann dabei wechseln: Man kann auf Unterschiede abheben, die Kontinuität unterstreichen, die Gegenseite diskreditieren – wie man es eben braucht. Dass die „Geschichten vom Dr. Kreisky“ einst eine eigene Textsorte begründet haben, war bereits im Rückblick auf Wahlkämpfe der Vergangenheit zu erwähnen. In knappster Form, quasi in nuce, begegnen wir der Parabel in der Reduktionsstufe der Analogie, also einer Gegenüberstellung im Taschenformat, die dem menschlichen Denken als Typus des Schließens und kreativen Weiterbildens innewohnt. Man denke nur an analogische Prozesse in der Sprachentwicklung, die sich im banalen Alltag in Neologismen wie Spaghetteria (nach Pizzeria), Cheeseburger oder Fischburger – sogar Salzburger! (im Gefolge der Hamburger) oder Ludothek und Vinothek (nach altem Pinakothek) zeigen. Oswald Panagl

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Am Ende soll freilich ein Caveat stehen: Der alte griechische Ausdruck hat sich über lateinisch parabola zu italienisch parola und französisch parole mit der jeweils bescheidenen Bedeutung „Wort“ verknappt. Mit einer Umstellung von zwei Lauten im Wortinneren aber ist aus der Grundform die spanische Variante palabra entstanden. Und von dieser führt ein direkter Weg zum typisch wienerischen Ausdruck Palaver. Die Warnung an die Nutznießer des politischen Jargons muss demnach lauten: Wer von Stilfiguren unüberlegten und inflationären Gebrauch macht, der vermittelt keine Botschaft, sondern palavert nur vor sich hin. Und das wollen wir doch alle nicht!

Literatur Dieckmann, Walther. 19752: Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. Heidelberg: Winter. Klein, Josef. 1989: Wortschatz, Wortkampf, Wortbilder in der Politik. In: Ders. [Hrsg.]: Politische Semantik: bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 3 – 51. Bergsdorf, Wolfgang. 1983: Herrschaft und Sprache: Studie zur politischen Terminologie der Bundesrepublik Deutschland. Pfullingen: Neske. Salamun, Kurt. 1988: Verbalstrategien in der Politik. In: Ders. Ideologie und Aufklärung: Weltanschauungstheorie und Politik. Wien, Köln, Graz: Böhlau. S. 11 – 28.

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Parabeln, Ellipsen, Hyperbeln. Politische Sprache auf dem linguistischen Prüfstand

Herausforderungen für die Steiermark nach der Landtagswahl 2019

HERMANN SCHÜTZENHÖFER

Die Steiermark gemeinsam gestalten

Das Jahr 2019 war ein sehr bewegtes Jahr und zu dessen Beginn hätte sich niemand gedacht, dass in den darauffolgenden Monaten nicht nur die EU -Wahl stattfindet, sondern dass infolge des Ibiza-­Videos auch der Nationalrat neu gewählt wird. Um der Steiermark einen Dauer-­Wahlkampf zu ersparen, hat dann auch der Landtag mit einer breiten Mehrheit beschlossen, die Wahl vom Frühjahr 2020 in den Herbst 2019 vorzuverlegen. Alle drei Wahlen waren für die Volkspartei von Erfolg gekrönt. Bei der Europawahl im Mai konnte die Volkspartei in der Steiermark um über zehn Prozentpunkte zulegen und mit Simone Schmiedtbauer wieder eine Vertreterin ins Europäische Parlament entsenden. Wenige Tage vor ­diesem Wahlgang wurde jenes Video bekannt, das zum Rücktritt des Vizekanzlers und in weiterer Folge zur Neuwahl des Nationalrats führte. Auch bei ­diesem Wahlgang sprach die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Volkspartei ihr Vertrauen aus und seither vertreten zehn Abgeordnete der Steirischen Volkspartei die steirischen Interessen im Nationalrat. Zwei Monate nach der Nationalratswahl krönte der große Erfolg bei der Landtagswahl am 24. November das intensive Jahr 2019. Mit über 36 Prozent der Stimmen wurde die Steirische Volkspartei wieder die stärkste Kraft im Landtag. Es ist persönlich überwältigend, wenn man erlebt, dass der Zuspruch, der über viele Jahre hindurch spürbar war, zur Zustimmung wurde. Es war eine Wahl der Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit wurde gewählt. Das Votum ist somit auch ein Auftrag, den erfolgreichen steirischen Weg des Miteinanders weiterzugehen. Das partnerschaftliche Miteinander hat in der Steiermark in den vergangenen Jahren zahlreiche große Reformen hervorgebracht. Diese sind notwendig, damit die Steiermark fit für die Herausforderungen der Zukunft ist, denn wir leben in einer Zeit der Veränderungen. Manche davon kommen von heute auf morgen. Andere kommen schleichend. Davon unabhängig ist es wichtig, Veränderung aktiv zu gestalten. Dafür braucht es den Willen zu gestalten und klare Verhältnisse. Das ist auch notwendig, wenn wir uns in der Welt umschauen: Die Konjunktur trübt sich ein, die Auswirkungen des Brexit sind schwer abzuschätzen und bergen insbesondere für die exportorientierte steirische Industrie Unwägbarkeiten. Auch die weltpolitischen Entwicklungen Hermann Schützenhöfer

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dürfen nicht außer Acht gelassen werden und es ist daher gut, dass wir in der Steiermark rasch Klarheit geschaffen haben. Wir haben in der Steiermark schnell eine tragfähige Regierung gebildet und durch die Bildung der neuen Koalition im Bund kann man gemeinsam durchstarten. Wichtig ist dabei, dass wir uns auf unsere steirischen Tugenden besinnen, denn es gibt zwei Möglichkeiten mit Veränderungen umzugehen: Sie zu beklagen und hinzunehmen. Oder sie aktiv zu gestalten und die Chancen wahrzunehmen. Der steirische Weg war immer der Weg des Gestaltens. Auch in der Politik. Wir haben in der Steiermark seit einem Jahrzehnt einen Politikstil, der in Österreich besonders – und in dieser Konsequenz wahrscheinlich einzigartig – ist. Zwei Parteien – ein Interesse: das Land. Zwei Parteien – ein Prinzip: Wichtig ist, was für das Land besser ist, nicht, was für die eine oder andere Partei besser oder schlechter ist. Entscheidender Grundsatz für alle Maßnahmen ist aber stets, dass unser Handeln begründbar sein muss. Deswegen braucht es Werte, die Halt geben. Und ein Programm, das in die Zukunft blickt. Mit der „Agenda Weiß-­Grün“ haben wir in der Steiermark ein umfassendes Regierungsprogramm ausgearbeitet, das nicht nur durch den Umfang überzeugt, sondern vor allem durch seinen Inhalt. Die Agenda Weiß-­Grün ist die steirische Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Das wichtigste Thema war und ist für mich das Thema „Arbeit sichern“. Denn Arbeit bedeutet soziale Sicherheit und Wohlstand. Arbeit ist die soziale Frage unserer Zeit. Wir müssen alles daransetzen, dass es in unserem Land Arbeit gibt. Dass es Arbeit gibt, von der man auch leben kann und die in Zukunft Bestand hat. Das bedeutet, dass wir mehr denn je in Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung investieren müssen. Die Steiermark ist mit einer Forschungs- und Entwicklungsquote von rund fünf Prozent das innovativste Bundesland Österreichs und auch im europäischen Vergleich an der Spitze zu finden. Diese Vorreiterrolle gilt es für die Zukunft zu sichern und weiterzuentwickeln. Mit Investitionen in Innovation entstehen nicht nur Arbeitsplätze an Universitäten, Fachhochschulen und in Forschungseinrichtungen, sondern auch in der Industrie. Im Zusammenwirken von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik entsteht der Wohlstand zukünftiger Generationen. Für uns als Koalition Weiß-­Grün ist klar, dass man sich auf ­diesem Erfolg nicht ausruhen darf. Daher enthält unser Programm zahlreiche Maßnahmen zur Stärkung des Wissenschaftsstandorts. Darüber hinaus wird ein großes Augenmerk auf das Forcieren von Zukunftstechnologien gelegt, damit es in der Steiermark Arbeit gibt, die auch in Zukunft Bestand hat. Für ein Innovationsland wie die Steiermark bietet etwa die Digitalisierung zahlreiche Möglichkeiten. Daher werden wir den Breitbandausbau als infrastrukturelle Basis vorantreiben und eine ressortübergreifende Digitalisierungsagenda erarbeiten. 88

Die Steiermark gemeinsam gestalten

Mit der Etablierung der Steiermark als europaweit sichtbare „Modellregion Digitalisierung“ – etwa in den Bereichen Mikroelektronik und Mobilität – schaffen wir die Rahmenbedingungen für gute Arbeitsplätze mit Zukunft. Eine wichtige Voraussetzung für die steirische Vorreiterrolle in Wissenschaft und Forschung ist die Bildung. Mit der Gemeindestrukturreform haben wir die Grundlage dafür geschaffen, dass das Kinderbildungs- und -betreuungsangebot massiv ausgebaut wurde. Dieser Weg soll auch in Zukunft konsequent fortgesetzt werden, denn unser Ziel ist ambitioniert, aber wir wollen, dass den Eltern in jeder steirischen Gemeinde ein ganztägiges Angebot zur Verfügung steht. Damit verbessern wir maßgeblich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Steiermark ist keine Insel, sondern wir stehen in einem globalen Wettbewerb und vor großen Herausforderungen. Wir können und wir wollen uns der Veränderung nicht verschließen. Wir wollen die Zukunft nicht über uns hereinbrechen lassen, sondern sie aktiv gestalten. Dazu braucht es starke Regionen. Vor fünf Jahren war das Ziel, die Steiermark vom Mittelfeld nach vorne bringen. Das haben wir geschafft. Jetzt wollen wir die Steiermark ganz nach vorne bringen und das heißt natürlich immer: Die ganze Steiermark nach vorn. Es gibt natürlich unterschiedliche Chancen in Stadt und Land, ­zwischen Regionen und Hauptstadt. Es gibt Unterschiede in den Möglichkeiten. Es gibt Unterschiede in den Voraussetzungen. Aber es darf keinen Unterschied in unseren Anstrengungen und in unserem Einsatz dafür geben. Das bringt mich schon zu einer der drängendsten Zukunftsfragen, den Erhalt unserer Steiermark als lebenswerte Heimat. Dazu legen wir ein Augenmerk auf den umfassenden Klimaschutz. Mit der Einrichtung des Klimakabinetts und der regelmäßigen Durchführung von Klimagesprächen wird dafür gesorgt, die Klimathematiken ressortübergreifend zu koordinieren und im direkten Austausch mit Expertinnen und Experten die notwendigen Entscheidungsgrundlagen aufzubereiten. Darüber hinaus wird auch ein unbürokratischer Klimacheck für neue Gesetze, Verordnungen und Förderprogramme entwickelt, um die Erreichung der steirischen Klimaziele bis 2030 sicherzustellen. Dieser Weg folgt unserem Credo, wonach Klimaschutz nur gemeinsam geht. Wir müssen alle möglichen Kräfte aufbieten, um gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten. Und gemeinsam mit Wirtschaft und Landwirtschaft können wir auch als kleines Land einen großen Beitrag leisten. Mit steirischen Technologien wird schon heute weltweit 40-mal mehr CO 2 eingespart als unser Land ausstößt. Damit ­schützen wir das Klima und schaffen steirische Arbeitsplätze. Das ist der steirische Weg. Wir verschließen unsere Augen aber nicht vor der globalen Herausforderung, deshalb wird auch die Forderung nach CO 2-Zöllen auf europäischer Ebene unterstützt. Es muss sich aber auch jeder Einzelne fragen, was er beitragen kann. Das beginnt zum Beispiel beim Einkaufen, wo jede und jeder es in der Hand hat, im Alltag einen Beitrag zu leisten, etwa durch den Kauf von Hermann Schützenhöfer

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Produkten aus der Region, denn diese stärken unsere Landwirtschaft und vermeiden klimaschädliche Transporte. Ein weiterer Punkt sind die Investitionen in den Klimaschutz. Sowohl private als auch öffentliche Investitionen können einen nachhaltigen Beitrag leisten. Die Steiermark nachhaltig in allen Lebensbereichen gestalten, das haben wir uns mit der Agenda Weiß-­Grün für die kommenden Jahre vorgenommen und das werden wir mit unserer Schwerpunktsetzung auf die genannten Zukunftsthemen erreichen. Damit stärken wir die Steiermark und alle Regionen und Gemeinden. Gemeinsam setzen wir den steirischen Weg des Miteinanders und der Zusammenarbeit fort und sichern damit auch für nachfolgende Generationen unser Land als lebenswerte Heimat, denn die Steiermark soll und wird auch weiterhin für alle Steirerinnen und Steirer ein Land der Möglichkeiten sein.

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Die Steiermark gemeinsam gestalten

ANTON LANG

Mit der „Agenda Weiß-Grün“ die großen Herausforderungen bewältigen!

Der Landesparteivorstand der steirischen SPÖ hat mich bereits am Tag nach der Landtagswahl, die für die Sozialdemokratie leider nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat, ermächtigt, die Koalitionsverhandlungen mit dem Wahlsieger LH Hermann ­Schützenhöfer zu führen. Diese Gespräche sind in einer sehr korrekten Atmosphäre verlaufen. Wir haben diese Verhandlungen auf inhaltlicher Basis unseres Wahlprogrammes geführt. Schließlich sind darin sehr wichtige Punkte enthalten – zahlreiche Maßnahmen, um die Lebensqualität der Steirerinnen und Steirer weiter zu verbessern. Die Befragung über die Wahlmotive hat ja auch ergeben, dass unsere inhalt­ lichen Standpunkte ein Hauptmotiv für die Wählerinnen und Wähler waren, uns ihre Stimme anzuvertrauen. Das hat für uns eine gute Grundlage für die Gespräche und Verhandlungen geschaffen. Dieses neue Regierungsprogramm unter dem Titel „Agenda Weiß-­Grün – Gemeinsam Steiermark gestalten“ enthält auch eine Vielzahl an sozialdemokratischen Markierungen. Um den kommenden Generationen Zukunft zu geben, haben wir zentrale Punkte in das Programm hineinverhandelt. Unsere Steiermark ist eine der lebenswertesten Regionen Europas. Das liegt gleichermaßen an der Landschaft und an den Menschen. Wir wollen unsere lebenswerte Steiermark in einem intakten Zustand erhalten und unseren zukünftigen Generationen so übergeben, damit unseren Enkeln die Möglichkeit geboten wird, im Einklang mit der Natur zu leben, zu arbeiten und ­dieses Land auch im Sinne gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen weiter zu gestalten. Die neue steirische Landesregierung ist angetreten, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Wir wollen den erfolgreichen steirischen Weg der letzten Jahre im Interesse der Steirerinnen und Steirer fortsetzen. Ich kann versprechen, wir werden alles unternehmen, damit es mit unserer Steiermark weiterhin aufwärts geht. Eine unserer wichtigsten Aufgaben wird es sein, den im Doppelbudget der Jahre 2019 und 2020 eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Dieses Doppelbudget ist von einem übergeordneten Gedanken getragen, nämlich: „Vernünftig haushalten – gezielt Anton Lang

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investieren.“ Und vernünftig haushalten bedeutet schlichtweg, dass wir mittelfristig nicht mehr ausgeben dürfen, als wir einnehmen. Damit schaffen wir für die vielfältigen Herausforderungen der Zukunft wieder entsprechende Gestaltungsspielräume, um gezielt in unserem Land zu investieren. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir im immer härter werdenden Wettbewerb der Regionen große Probleme bekommen. Wir haben uns in dieser „Agenda Weiß-­Grün“ dazu bekannt, nicht nur einen ausgeglichenen Landeshaushalt anzustreben, sondern vor allem auch die Vorgaben des österreichischen Stabilitätspaktes einzuhalten. Stabile Finanzen sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass die Möglichkeit gegeben ist, durch gezielte und wohldurchdachte Investitionen dafür zu sorgen, dass sich der Wirtschafts- und Beschäftigungsstandort Steiermark auch in Zukunft behaupten kann. Nur wenn entsprechende finanzielle Spielräume gewahrt werden, können z. B. das erstklassige steirische Gesundheits- und Sozialsystem abgesichert und der Wohlstand bei uns bewahrt werden. Wir forcieren in der „Agenda Weiß-­Grün“ auch eine moderne Umweltpolitik. Wir stehen für eine Klimapolitik, die diesen Namen verdient. Wir werden ein Klimakabinett etablieren und wir werden einen unbürokratischen Klimacheck einführen. Unsere Regierungsbeteiligung ist der Garant dafür, dass die Steiermark auch künftig sozial verlässlich bleibt. Wir werden auf ­diesem Weg, den wir gemeinsam gehen, keinen Menschen in der Steiermark zurücklassen. Der soziale Zusammenhalt ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine tragende Säule für eine friedliche und chancenreiche Zukunft. Wir werden selbstverständlich auch weiterhin vernünftig investieren. So werden in den nächsten Jahren etwa für den weiteren Ausbau und die Attraktivierung der Mobilität beträchtliche Mittel in die Hand genommen. Schließlich ist eine funktionierende Mobilität die Grundvoraussetzung, um am Erwerbsleben sowie an sozialen und gesellschaftlichen Aktivitäten teilhaben zu können. Mobilität der Zukunft muss vernetzt, umweltfreundlich und leistbar sein. Und wir werden auch beim Thema Wohnen spürbare Impulse setzen. Wohnen ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse und wir werden Sorgen dafür tragen, dass Wohnraum für die Steirerinnen und Steirer langfristig und nachhaltig leistbar bleibt. Ferner ist das Thema Arbeit für uns ein zentraler Punkt. Arbeit schafft nicht nur soziale Sicherheit, sondern sie gibt dem Leben Inhalt, Sinn und Teilhabe an der Gesellschaft. Aus ­diesem Grund setzen wir Maßnahmen, um von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen möglichst rasch wieder in die Beschäftigung zu bringen. Ich werde in meiner neuen Funktion auf jeden Fall alles unternehmen, um im Interesse unserer Landsleute das Maximum zu erreichen. Unsere Welt befindet sich in einem permanenten Wandel, die Menschen aber sehnen sich nach Stabilität und Vertrauen. Mit dieser „Agenda Weiß-­Grün“ wollen wir gemeinsam die Antworten auf 92

Mit der „Agenda Weiß-Grün“ die großen Herausforderungen bewältigen!

die Fragen der Zeit geben. Stabilität und Innovation, Umweltbewusstsein und sozialer Ausgleich gehen Hand in Hand. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit ­diesem ­ambitionierten Regierungsprogramm unsere Steiermark weiterhin als wirtschaftlich dynamische, umweltfreundliche und sozial verlässliche Region im Herzen Europas weiter­entwickeln werden. Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass unsere Steiermark auch weiterhin allen Menschen eine gute und lebenswerte Heimat ist.

Anton Lang

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SANDRA KRAUTWASCHL

Die Klima-Krise ist die größte Herausforderung unserer Zeit und ihre Bewältigung eine Chance, die wir auch in der Steiermark nützen müssen!

2019 war laut Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG ) eines der drei wärmsten Jahre in Österreich in der 252-jährigen Messgeschichte. Die Serie der extrem warmen Jahre setzte sich damit fort – 2018 liegt auf dem ersten Platz. Unter den 15 wärmsten Jahren der Messgeschichte liegen 14 Jahre seit 1994, die vergangen sechs Jahre bis 2019 sind allesamt in dieser Reihung zu finden. An einigen Wetterstationen der ZAMG war 2019 das allerwärmste Jahr der jeweiligen Messreihe: zum Beispiel an der Station Graz-­Universität mit einem Jahresmittel von 11,8 °C (alter Rekord: 11,5 °C im Jahr 2018) oder in Bad Gleichenberg mit 11,3 °C. Der Klimawandel ist längst nichts Abstraktes mehr: Alleine in den letzten beiden Jahren entstand durch klimawandelbedingte Wetterextremereignisse wie Spätfrost, Dürre, Hagel, Sturm und Überschwemmung in Österreich ein Gesamtschaden in der Landwirtschaft von mehr als 500 Millionen Euro, wie die Hagelversicherung berechnet hat. Und apropos Kosten: Wenn Österreich die im Pariser Vertrag vereinbarten Klimaziele nicht einhält, drohen Strafzahlungen von bis zu zehn Milliarden Euro… Die Klimakrise ist bei uns bereits angekommen: Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen zu spüren bekommt – und wir sind die letzte Generation, die noch etwas dagegen unternehmen kann. Das ist die größte Herausforderung für die Politik in den kommenden Jahren. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Als Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer Anfang September bei einem Medientermin festhielt, dass „Neuwahlen das Beste für das Land“ wären, er damit also die Koalition mit der SPÖ beendete, war für uns Grüne schnell klar, dass wir einen Neuwahlantrag unterstützen werden. Denn wenn eine Regierung nicht mehr arbeitsfähig ist, weil sie zur Hälfte arbeitsunwillig ist, kann sie von einer Oppositionspartei nicht mehr unterstützt werden. Und dazu kam, dass die Landesregierung seit viereinhalb Jahren bei den ­Themen, in denen es um unsere Lebensgrundlagen geht, also um den Klima- und Umweltschutz, versagt hat. Über ein halbes Jahr Wahlkampf und weiterer Stillstand beim Klimaschutz – das war für uns inakzeptabel. Sandra Krautwaschl

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Wir Grüne riefen daher die Landtagswahl auch zur „Klima-­Wahl“ aus – aus dem einzigen Grund, weil der Kampf gegen die Klimakrise die größte politische Herausforderung auf allen Ebenen ist. Ausgehend von den rund sechs Prozent, die wir 2015 bei der Wahl erhalten hatten (das bis dahin beste Ergebnis aller Zeiten bei steirischen Landtagswahlen), war für uns klar, dass wir möglichst viele Steirerinnen und Steirer davon überzeugen wollten, dass nur durch gestärkte Grüne endlich etwas beim Klimaschutz in der Steiermark weitergehen könnte. Denn Sonntagsreden zum Klimaschutz gab es schon genug. Doch wir sind es unseren Kindern schuldig, ihnen eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Und dafür treten die Grünen seit jeher ein! Die steirischen Fakten in Sachen Klimaschutz waren gleichermaßen klar wie traurig: Es war (und ist) nicht einmal sichergestellt, dass die Steiermark die niedrigen Ziele des Klimaschutzplans 2010 – minus 16 % Treibhausgasemissionen bis 2020 – erreichen wird, denn die Emissionen sind in der Steiermark zuletzt (von 2016 auf 2017) um 7,3 % gestiegen. Eine signifikante Abnahme der Emissionen war und ist nicht absehbar. Expertinnen und Experten, die sich den steirischen Aktionsplan zur Klima- und Energiestrategie 2030 angesehen hatten, kritisier(t)en die fehlenden messbaren und nachvollziehbaren Zielvorgaben – und sie bezweifeln stark, dass mit all den Maßnahmen zusammen das 2030-Ziel von minus 36 % Treibhausgasen erreicht werden könne. Abgesehen davon wissen wir inzwischen, dass ­dieses Ziel ohnehin zu niedrig angesetzt ist, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Im Wahlkampf endeckten dann plötzlich auch (einige) andere Parteien das Thema Klimaschutz für sich: Nachdem SPÖ und ÖVP in der letzten Legislaturperiode im Landtag rund 150 Grüne Umwelt- und Klimaschutzinitiativen abgelehnt (oder ignoriert und in Unterausschüssen schubladisiert) hatten, sprach SPÖ-Spitzenkandidat Michael Schickhofer plötzlich davon, er wolle die Steiermark zum Klimaschutzland Nummer eins machen. ÖVP-Spitzenkandidat und Landeshauptmann Schützenhöfer kündigte an, dass Klimaschutz in der nächsten Regierung „Chefsache“ werden solle. Doch selbst wenige Wochen vor der Wahl ließen SPÖ und ÖVP ihren Reden keine Taten folgen. Mitte Oktober brachten wir im Landtag „Dringliche Anfragen“ sowohl an Schützenhöfer („Chefsache!“) und an Schickhofer zum Thema Klimaschutz ein und forderten die Landesregierung auf, fünf Maßnahmen rasch umzusetzen: • Sie solle umgehend Maßnahmen voranzutreiben, die den Ausstoß von Treibhausgasen nachweislich verringern. Ziel muss es sein, die Emissionen ehestmöglich, doch noch vor Mitte des Jahrhunderts und sozial verträglich auf Netto-­Null zu reduzieren, um einen angemessenen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C zu leisten, bei •  zukünftigen Entscheidungen sollen auch stets die Auswirkungen auf das Klima und den Klimaschutz festgestellt, transparent und nachvollziehbar dargestellt und berücksichtigt werden (Stichwort „Klimacheck“), 96

Die Klima-Krise ist die größte Herausforderung unserer Zeit

• die steirische Bevölkerung soll umfassend und beständig über die Klima- und Umweltkrise, ihre Ursachen und Auswirkungen sowie über die Maßnahmen, ­welche gegen diese ergriffen werden, informiert werden und • bei der Umsetzung entsprechender Maßnahmen soll mit dem Bund, den anderen Bundesländern und den steirischen Gemeinden kooperiert und sich mit diesen abgestimmt werden.

Jetzt könnte man meinen, dass diese Punkte – vor allem knapp vor der Landtagswahl – auch von SPÖ und ÖVP unterstützt werden, doch wir wurden eines Besseren belehrt: Unsere Initiative wurde abgelehnt. Anfang November präsentierten wir schließlich 41 konkrete Klimaschutz-­Maßnahmen für die Steiermark („das Grüne Klima-­Rettungspaket“), die grundsätzlich schnell umzusetzen wären. Denn es reicht einfach nicht, nur über Klimaschutz zu reden – SPÖ und ÖVP haben in der Steiermark fast fünf Jahre Zeit gehabt und diese nicht genutzt. Bei der Landtagswahl am 24. November gaben die Steirerinnen und Steirer dann erfreulicherweise ein klares Signal für besseren Klimaschutz ab: Wir Grüne konnten uns von drei auf sechs Mandate, beziehungsweise von sechs auf zwölf Prozent verdoppeln und rechnerisch gab es plötzlich eine Mehrheit im Landtag abseits einer schwarz-­roten Koalition. Eine Allianz der Wahlsieger wäre möglich gewesen, doch Landeshauptmann Schützenhöfer entschied sich für den – aus seiner Sicht – sichereren Weg und damit für die Fortsetzung der Regierungszusammenarbeit von ÖVP und SPÖ, was sich gerade im Klimaschutz katastrophal auswirken könnte. Es fehlen klare Maßnahmen, es gibt keine messbaren Ziele oder nachvollziehbare Zeitpläne, es gibt bloß Bekenntnisse, aber keinen Punkt, bei dem wir sagen könnten: Hier hat die Landesregierung einen Pflock in Sachen Klimaschutz eingeschlagen. Das innovativste am Regierungsprogramm ist wohl noch der Name: Schwarz-­Rot nennt sich „Agenda Weiß-­Grün“ – doch Grün kommt dabei kaum vor. Statt wirklich konkrete Maßnahmen anzugehen, hat man sich lieber entschieden, einen mehr oder weniger stabilen Stillstand fortzuführen. Dabei drängt die Zeit mehr denn je: Wir haben noch maximal zehn Jahre, also zwei Regierungsperioden, Zeit, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen und sie als Chance ­nutzen, um unseren Wohlstand zu erhalten. Dass es anders geht, zeigt die neue Bundesregierung: Das türkis-­grüne Regierungsübereinkommen ist „ein Vertrag für das Klima“ mit klaren Zielen und klaren Maßnahmen: Wir reißen das Ruder herum und machen Österreich zum Land der ­Klimaneutralität. Das heißt zum Beispiel: Klimacheck für alle Gesetze, Bestbieter-­ Prinzip ist gleich „Klima­bieter“-Prinzip, 1 – 2 – 3-Ticket und Schiene statt Straße, Sonne statt Öl und Gas. Die neue Umwelt- und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler bekam erstmals echte Klimaschutz-­Kompetenzen in ihren Verantwortungsbereich und Sandra Krautwaschl

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auch entsprechende Budgetmittel: Von der Regionalverkehrsmilliarde über die Nahverkehrsmilliarde bis zum Projekt „Eine Million Dächer mit Photovoltaik“. Und endlich wird es – nachdem die Grünen diese Forderung vor zirka 30 Jahren erstmals erhoben haben – auch eine ökosoziale Steuerreform geben: Bereits die erste Etappe der kommenden Steuerreform wird mehrere Ökologisierungs-­Maßnahmen (zum Beispiel Erhöhung der Flugticketabgabe, Ökologisierung der NoVA, Ökologisierung des Dienstwagenprivilegs, Kampf gegen Tanktourismus…) beinhalten. Gleichzeitig wird in der ersten Etappe die erste Stufe der Lohn- und Einkommensteuer für niedrige und mittlere Einkommen gesenkt werden. Weitere Steuersenkungen (KöST) stehen in Verbindung mit der Ökologisierung des Steuersystems und der Bepreisung von CO2. Hier wird die Regierung Zug um Zug vorangehen und das Grüne Kernanliegen Anliegen einer ökosozialen Steuerreform mit der ÖVP gemeinsam umsetzen. In einem zweiten Schritt soll dann Kostenwahrheit bei den klimaschädlichen CO2-Emissionen hergestellt werden: Im Jahr 2022 werden CO2-Emissionen in Österreich einen Preis haben. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten (zum Beispiel Zertifikatshandel mit Mindestpreisen, oder CO2-Bepreisung über bestehende Abgaben). Wichtig ist, dass die ökosoziale Steuerreform aufkommensneutral ist. Das bedeutet, die Mehreinnahmen werden an die privaten Haushalte unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Verträglichkeit und an die Unternehmen rückverteilt werden. Ökologisch nachhaltiges Verhalten wird dadurch belohnt. Von solchen konkreten Projekten und Zielen können wir in der Steiermark leider weiterhin nur träumen. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass auch in der Steiermark die Regierung einmal aufwachen und erkennen wird, dass wir im Klimaschutz endlich mit Mut, finanziellen Mitteln und konkreten Handlungen voranschreiten müssen. Für uns Grüne verschwindet das Thema nicht von der Tagesordnung, nur, weil die Landtagswahl vorbei ist und ein Klimakabinett eingerichtet wurde, von dem wir noch nicht wissen, ob es mehr ist als eine Beruhigungspille – wir werden keine Sekunde lockerlassen, bis endlich den schönen Worten auch konkrete Taten folgen!

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Die Klima-Krise ist die größte Herausforderung unserer Zeit

CLAUDIA KLIMT-­W EITHALER

Wohnen: Die soziale Frage unserer Zeit

Die Wohnkosten werden zu einer immer größeren Belastung für große Teile der Bevölkerung. Österreich liegt nicht im Spitzenfeld bei den absoluten Kosten, ist aber Europameister bei der Teuerung. Die Wohnungsfrage ist zur sozialen Frage unserer Zeit geworden. Lösungen gibt es, sie würden allerdings einen Bruch mit gewohnten Politikmustern bedeuten. Rund ein Viertel der Konsumausgaben in der Europäischen Union werden für Wohnkosten, vor allem für Mieten und Betriebskosten, getätigt. Das erhob Eurostat vor kurzem. Von 2005 bis 2015 haben sich die Wohnkosten von 22,5 Prozent der Gesamtausgaben auf 24,4 Prozent erhöht. Die Statistik Austria wies 2019 nach, dass sich in Österreich alleine im Zeitraum von 2015 bis 2019 die Mieten um 13 Prozent erhöhten. Die Kaufpreise für Wohnungen und Häuser stiegen sogar um 25,5 Prozent, allein 2018 um 4,7 Prozent. Österreich ist EUweiter Spitzenreiter bei der Teuerung der Kosten, die für Mieten und Betriebskosten aufgewendet werden müssen. Während Mieten und Betriebskosten im Zeitraum von 2011 bis 2017 in der Steiermark um 22 Prozent anstiegen, blieb die Entwicklung der Einkommen der Haushalte bei unter zwölf Prozent. Der überwiegenden Mehrzahl der heimischen Haushalte bleibt somit immer weniger Geld für andere Ausgaben. Durch diese enorme Preissteigerung weit jenseits der Inflation sinkt besonders für Mieterinnen und Mieter der Lebensstandard. Gleichzeitig rückt der als Alternative angepriesene Erwerb von Eigentumswohnungen oder Häusern für immer mehr Menschen außer Reichweite. Wenn immer höhere Anteile des Einkommens für Wohnkosten ausgegeben werden müssen, bleibt weniger für Freizeit, Sport, gesunde Lebensmittel, Bildung, Erholung und alle anderen Bedürfnisse. Durch Immobilienspekulation und den weitgehenden Rückzug der Politik aus dem öffentlichen Wohnbau verschärft sich das Problem von Jahr zu Jahr. Besonders in den Ballungszentren wird am Bedarf der Bevölkerung vorbei eine riesige Immobilienblase genährt. Die Anleger sind oft nicht unter den Großverdienern und Superreichen zu finden, sondern rekrutieren sich aus der Masse der Nullzins-­Sparbuchflüchtlinge, die gerade genug verdienen, um kleine Beträge auf die Claudia Klimt-­Weithaler

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Seite legen zu können. Möglich ist das nur, weil der Gesetzgeber ­diesem Treiben keinen Riegel vorschiebt. Die Interessen von Banken, Versicherungen und Immobilienkonzernen wiegen in unserer Gesellschaft schwerer als das Menschenrecht auf Wohnen. Je weniger Regulierung es gibt, desto schneller steigen die Preise. Die Mieterinnen und Mieter haben aber nicht denselben Einfluss auf die Politik wie die Immobilienbranche.

Öffentliche und private Interessen Die Wohnungspolitik darf nicht privaten Profitinteressen untergeordnet werden. Bei neuen Mietverträgen fallen in Österreich 61 Prozent auf private Vermieter. Die Durchschnittsmieten liegen laut aktuellem Mietpreisspiegel schon bei über zehn Euro pro Quadratmeter. Wo es ein breites Angebot an nicht profitorientierten Wohnungen gibt, wirkt sich das auch auf den privaten Wohnungsmarkt aus. Deshalb ist der soziale Wohnbau vielen ein Dorn im Auge. Alarmierend ist der steigende Anteil befristeter Mietverhältnisse. Am privaten Markt sind 70 Prozent der neuen Verträge befristet. So entstehen bei jedem Wechsel neue Unsicherheit und neue Kosten – etwa für Kautionen, Provisionen, Umzugsfirmen oder Baukostenbeiträge. Unbefristete Mietverträge müssten im Interesse der Bevölkerung die Regel sein, nicht die Ausnahme. Österreich hatte ein gutes Mietrechtsgesetz. 1994 begann die schleichende Rücknahme von Rechten, die Mieterinnen und Mieter zuvor erreicht hatten. Die Richtwertmieten haben die Situation verschärft, weil die Lage- und andere Zuschläge die Kosten in die Höhe treiben. Dabei ist unumstritten, dass es zu Eingriffen kommen muss. Die Wohnbeihilfe ist ein solches Instrument. Dadurch werden aber überhöhte Mieten subventioniert, statt günstigen Wohnraum zu finanzieren. So entsteht eine Spirale, denn die Preise steigen dadurch weiter. Es ist vielmehr eine Vermieterförderung, auch wenn sie unverzichtbar ist, solange es kein ausreichendes Angebot an erschwinglichen Wohnungen gibt.

Wohnpolitik jenseits der „Marktlogik“ Um die wichtigsten Kriterien zu erfüllen, muss eine an den Interessen der Bevölkerung orientierte Wohnungspolitik darauf abzielen, Wohnungen zu errichten, die a.) erschwinglich sind, b.) eine gute Wohnqualität aufweisen, wozu auch gesundheit­liche und soziale Aspekte zählen, und schließlich Stabilität ermöglichen – etwa durch unbefristete Mietverträge. Eine Obergrenze für Mieten ist ein erster, notwendiger Schritt. Nur dadurch kann die Preisspirale durchbrochen werden. Ohne eine Forcierung des sozialen Wohnbaus wird sich in den Ballungszentren kaum etwas zum Besseren wenden. Die ­Zufriedenheit 100

Wohnen: Die soziale Frage unserer Zeit

der Mieterinnen und Mieter mit Gemeindewohnungen, das ergaben Umfragen in Graz, basiert vor allem auf der Sicherheit und den erschwinglichen Kosten. Wie bei Krankenhäusern und Schulen handelt es sich beim Wohnen um ein Grundbedürfnis, das nicht dem Gewinnstreben Einzelner ausgeliefert werden darf. Der Verkauf von Gemeindewohnungen, etwa in Köflach oder Trofaiach, hat großen Schaden angerichtet. Die Privatisierung der BUWOG -Wohnungen unter dubiosen Umständen hat zu einer Vervielfachung der Wohnungspreise geführt. Für den Immobilienkonzern war es ein gutes Geschäft. Die Mieterinnen und Mieter haben draufgezahlt. Nicht ohne Grund wünschen sich 92 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher mehr staatliches Engagement für sozialen Wohnbau und befürworten Obergrenzen bei Mieten. Es liegt auf der Hand: Je mehr Wohnungen sich in öffentlichem Eigentum befinden, desto geringer sind die Mieten am privaten Sektor. Wer eine günstige Alternative hat, ist nicht auf teure Wohnungen angewiesen, deren Zweck es nicht ist, Menschen guten und günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sondern Vermietern und Investoren Profite zu bescheren. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass Gemeindewohnungen eine gute Investition für Kommunen sind. Langfristig liefern sie verlässliche Einnahmen, die zur Instandhaltung des Wohnungsbestandes und zur Errichtung neuer Wohnungen verwendet werden können. Der von Investoren getriebene private Wohnungssektor ist Hauptverursacher der Teuerung. Besonders in der Landeshauptstadt Graz wird das Wohnkostenproblem deutlich. Trotz allgegenwärtiger Bautätigkeit entspannt sich die Lage nicht. Der steirische Armutsbericht 2017 weist darauf hin, dass durch die steigenden Wohnkosten die Wohnversorgung von immer mehr Steirerinnen und Steirern schwierig wird. Bei vielen Haushalten machen die Wohnkosten mehr als die Hälfte der verfügbaren Mittel aus. Trotzdem wurde die steirische Wohnunterstützung 2016 so gestaltet, dass es ein Drittel weniger Bezieherinnen und Bezieher gibt als bei der alten Wohnbeihilfe. Angesichts der steigenden Miet- und Immobilienpreise brauchen wir ein klares Bekenntnis zum geförderten Wohnbau. Dafür müssen die Mittel aus der Wohnbauförderung wirklich im Wohnbau und bei der Sanierung ankommen. Auch ein Zuweisungsrecht seitens des Landes für eine bestimmte Anzahl an Wohnungen in jenen Wohnbauten, die mit Hilfe von Fördergeldern gebaut werden, würde den Druck am Wohnungsmarkt mindern. Auch die generelle Befristung von Mietverträgen sollte abgeschafft werden. Und mit der Abschaffung der Maklerprovision für Mieterinnen und Mieter könnte die Bundesregierung ein – überraschendes – Wahlversprechen einlösen. Und zwar bald, damit es kein leeres Versprechen bleibt.

Claudia Klimt-­Weithaler

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Eigentum ist keine Alternative zum sozialen Wohnbau Das Eigentum wird von der derzeitigen Bundesregierung ebenso hochgejubelt wie von der letzten. Es ist aber kein sozial verträgliches Modell, da es die Mehrheit von vornherein ausschließt. Stattdessen sind Veränderungen „jenseits der Marktlogik“ nötig. Nicht nur bei den Mieten machen die Preissteigerungen immer mehr Menschen Sorgen, auch die Betriebskosten stellen viele vor große Probleme. Bei privaten und gewinnorientierten Wohnungen gibt es auch eine Reihe von diskriminierenden Kriterien, für die es Regulative braucht. Weniger als ein Drittel der Wohnungen in Österreich sind dem öffentlichen und sozialen Wohnbau zuzurechnen, somit können diese nicht sämtliche Probleme lösen. Der private Markt muss in die Pflicht genommen werden. Menschen mit niedrigen Einkommen muss der Zugang ermöglicht werden, dafür müssen die Förderkriterien stimmen. Ende 2019 wurde im steirischen Landtag eine Neufassung des Wohnbauförderungsgesetzes beschlossen, die vor allem die Errichtung von Anlegerwohnungen begünstigt und damit öffentliches Geld am tatsächlichen Wohnbedarf vorbeifließen lässt. Das wird die Wohnkosten in den Ballungszentren weiter in die Höhe treiben und lediglich „Investoren“ begünstigen. Es ist ein Schritt weg von einer sozialen und vernünftigen Wohnungspolitik. Wohnbaufördermittel müssen zweckgewidmet für öffentlichen und sozialen Wohnbau eingesetzt werden, nicht zur Subventionierung einer Immobilienblase. Die profitorientierte Vermietung von Wohnungen muss schrittweise zurückgedrängt werden, wenn der Politik die Lösung der Wohnungsfrage tatsächlich ein Anliegen ist. Denn, wie es der CSU-Ehrenvorsitzende Horst Seehofer formulierte: Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit.

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Wohnen: Die soziale Frage unserer Zeit

NIKOLAUS SWATEK

Zukunft Steiermark – eine Frage der Postleitzahl?

Die Steiermark steht vor großen Herausforderungen. Die Digitalisierung und die Globalisierung ändern alles. Die Welt um uns herum dreht sich immer schneller und wird immer vernetzter. Informationen, Waren und Dienstleistungen werden heute mittels Knopfdruck bestellt und durchgeführt. Lange Wege und ein unnötiger Zeitverlust gehören der Vergangenheit an. Dadurch befindet sich unsere gesamte Lebensund Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen, im Umbruch. Ein Umbruch, der auch viele Chancen mit sich bringt – Chancen, die wir ergreifen und ­nutzen müssen. Nutzen wir sie nicht, werden es andere tun! Doch die steirische Politik hat die rasante Entwicklung der letzten Jahre verschlafen und die wichtigsten Schritte und Voraussetzungen für das 21. Jahrhundert nicht gesetzt. Damit ist der Wohlstand, den die Generationen vor uns hart erarbeitet haben, bedroht. Um unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand langfristig zu sichern, braucht es endlich eine mutige Politik, die die ­­Zeichen unserer Zeit erkennt und durch das Setzen auf Innovation die Chancen des 21. Jahrhunderts endlich nützt. Das haben auch die Steirerinnen und Steirer erkannt und am 24. November 2019 erstmals seit 19 Jahren eine neue Kraft in den steirischen Landtag gewählt. 32.346 Steirerinnen und Steirer entschieden sich dazu, die steirische Landespolitik innovativ zu gestalten, indem sie NEOS, einer Bewegung, die für Innovation, Transparenz und Bildung steht, ihr Vertrauen schenkten. Im Gegensatz zur alteingesessenen Politik setzen die Steirerinnen und Steirer nämlich schon heute auf technologischen Fortschritt und sorgen mit einer der höchsten F&E-Quoten Europas dafür, dass Innovation in ihren Sektoren vorangetrieben wird. Mit ihren Investitionen in Forschung und Entwicklung, legen die Steirerinnen und Steirer einen wichtigen Baustein für die Zukunft unseres Bundeslandes. Doch für einen stabilen Stand benötigt ein Baustein stets ein Fundament. Dieses Fundament fehlt der Steiermark heute noch. Denn um Forschung und Wissenschaft voranzutreiben, braucht es die beste Bildung und die richtige Infrastruktur. In beiden Bereichen hinkt die Steiermark der Welt stark hinterher. Dieser fehlende Weitblick für ein talenteförderndes Bildungssystem und die fehlenden Investitionen in eine zeitgerechte flächendeckende Infrastruktur wie etwa dem Breitbandinternet nimmt unserer Steiermark Nikolaus Swatek

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das Potenzial, sich zu entfalten und damit auch die Möglichkeit, den Wohlstand in unserer Steiermark zu erhalten oder sogar auszubauen. Umso wichtiger ist es, heute das Ruder herumzureißen und die Steiermark durch ein besseres Bildungssystem und einen Ausbau der Infrastruktur so schnell wie möglich für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit zu machen. Dabei sollte das Augenmerk besonders auf unsere ländlichen Regionen gerichtet werden. Denn die steirischen Bezirke wurden im Vergleich zur Landeshauptstadt vernachlässigt. Doch um das Potenzial unserer Steiermark voll zu entfalten, braucht es jede Steirerin und jeden Steirer, denn die Steiermark wächst mit ihren Menschen!

Bildung Die Digitalisierung und neue Technologien bringen fast täglich neue Herausforderungen mit sich. Um ihnen Herr zu werden, braucht die Steiermark die klügsten Köpfe. Menschen, die sich neuen, schwierigen Rahmenbedingungen schnell anpassen ­können und durch ihr Wissen und ihre Anpassungsfähigkeit Fortschritt vorantreiben. Das Fundament hierfür legt ein gutes Bildungssystem. Ein System, dass die Talente unserer Kinder fördert und ihre Potenziale voll erweckt. Doch genau das Gegenteil ist in Österreich der Fall. Unser österreichisches Bildungssystem ist sozial selektiv. Denn nach wie vor gibt es kein anderes Land in Europa, in dem der Bildungserfolg eines Kindes so stark vom Status und Bildungsniveau der Eltern abhängt wie in Österreich.1 Das heißt, Bildung wird in Österreich größtenteils vererbt. Kinder aus finanziell schwächeren oder bildungsfernen Familien haben damit schlechtere Chancen als beispielsweise Kinder aus wohlhabenderen Akademiker-­Familien. Die Folgen daraus sind für uns alle sichtbar. Statt Potenziale zu wecken nehmen wir unseren Kindern die Chance, ihren Talenten und Leidenschaften nachzugehen. Dabei schafft es unser Bildungssystem derzeit nicht einmal, unseren Kindern die wichtigsten Grundkompetenzen zu vermitteln. Es ist daher kein Wunder, dass in der Steiermark fast jedes vierte Kind nicht mehr sinnerfassend lesen oder gar schreiben kann.2 Doch um Kinder für Berufe auszubilden, von denen wir uns die meisten heute noch nicht mal vorstellen können, ist es nötig, Fähigkeiten weit über die Grundkompetenzen hinaus zu fördern. In der Steiermark stößt das österreichische Bildungssystem auf noch weitere Probleme: Bildung ist hier nicht nur eine Frage der Eltern, sondern auch der Postleitzahl. Dies führt zu dem Paradoxon, dass sich in der Steiermark sowohl die höchsten als auch die niedrigsten Bildungsabschlüsse Österreichs finden lassen. So gibt es die meisten Akademikerinnen und Akademiker Österreichs in unserer Landeshauptstadt, doch nur wenige Kilometer von Graz entfernt finden sich fünf der zehn Bezirke Österreichs, die den niedrigsten Bildungsabschluss ihrer Bevölkerung vorweisen.3 Grund 104

Zukunft Steiermark – eine Frage der Postleitzahl?

dafür sind die in der Steiermark regional nach wie vor ungleich ­zwischen Stadt und Land verteilten Bildungsinstitutionen. Dies wird nicht nur durch die fehlende Angebote der höheren Bildung wie Berufsschulen oder Universitäten in unseren Bezirken sichtbar, sondern besonders auch durch das fehlende Angebot flexibler frühkindlicher Bildung wie Kinder­gärten oder Tagesmütter/väter. So schließen nach wie vor in der Steiermark rund 44 % der Kindergärten vor 14 Uhr.4 Im Durchschnitt haben die steiermärkischen Kindergärten außerhalb von Graz über sieben Wochen im Jahr geschlossen.5 Nur 57 der 287 Gemeinden in der Steiermark bieten Betreuungszeiten an, die es beiden Elternteilen ermöglichen würden, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen. Darüber hinaus gibt es nach wie vor 29 Gemeinden, die keinerlei Betreuungsangebote für unter Dreijährige ermöglichen.6 Hier muss eine zukunftsfähige Politik ansetzen. Deshalb ist es in der Steiermark an der Zeit, einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr des Kindes zu begründen. Dies soll Eltern endlich eine Wahlfreiheit ermöglichen. Denn nur mit einem Rechtsanspruch werden die steirischen Gemeinden ihrer Verpflichtung endlich nachkommen und ein flächendeckendes, flexibles Angebot schaffen. Dabei ist aber auch die Landespolitik gefordert. Investieren wir endlich in unseren Nachwuchs und bieten wir weiters ein zweites kostenloses Kindergartenjahr an. Wir wissen, dass jeder Euro, den wir frühzeitig in ein Kind investieren, sich im späteren Leben tausendmal rentiert. Sparen wir also nicht am falschen Fleck, investieren wir in unsere Zukunft, nämlich in unsere Kinder!

Infrastruktur Der technologische Fortschritt schreitet stetig und ohne Rücksichtnahme voran. Wohin uns der technologische Fortschritt schlussendlich führen wird, können wir heute nur erahnen. Deshalb sind Investitionen in die steirische Infrastruktur so wichtig. Die Steiermark braucht Bewegung, doch derzeit herrscht leider Stillstand. So ist es an der Zeit, endlich den Ausbau des Breitbandinternets voranzutreiben. In den Städten mögen schnelles Internet und gute Verbindungen zum Alltag gehören, doch am Land gibt es immer noch teils lächerliche Probleme. In manchen Gemeinden bestimmt gar das Wetter, ob es Internet gibt oder nicht: Regen? Schlecht gelaufen, kein Internet. Kein Wunder, dass Österreich bei der wichtigsten Anbindungstechnologie unserer Zeit, der Glasfaser, zu den Ländern mit dem größten Nachholbedarf gehört. Während in Österreich nur knapp 2,5 % aller Anschlüsse mittels Glasfaser betrieben werden, sind es im OECD-Schnitt 26 %. Vorreiter wie Südkorea mit 80 % oder Schweden mit rund 66 % sind uns hier fast schon uneinholbar voraus.7 Täglich wächst die Menge an übertragenen Daten, die durch das Netz müssen. Täglich wachsen damit weltweit Nikolaus Swatek

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auch Anwendungen und Innovationen, nur in Österreich stehen wir hier nach wie vor auf der Bremse. Sorgen wir in der Steiermark also für einen zeitgerechten Ausbau des Glasfasernetzes und holen wir die Steiermark damit endlich ins 21. Jahrhundert! Generell ist es wichtig, nicht bloß an heute, sondern auch an übermorgen zu denken. Es gilt, neue Lösungen zu erarbeiten, und zwar ohne die üblichen parteipolitischen Scheuklappen. Maßstab für Ideen muss immer die Frage sein, ob und wie sie die Steiermark voranbringen. Hier gilt es auch, auf innovative Ideen wie etwa autonom gesteuerte Züge zu setzen. Insbesondere im ländlichen Raum können diese eine klaffende Lücke im öffentlichen Verkehrsnetz füllen. Denn selbstfahrende Züge erlauben mehr Fahrten bei geringeren Kosten. Immer wenn es um das Thema Infrastruktur geht, ist es stets auch essentiell, auf unsere Umwelt zu achten. Denn das Herz der grünen Mark ist unsere schöne Naturlandschaft. Deswegen müssen Umwelt und Wirtschaft stets miteinander verbunden werden. Nur so fördern wir steirische Innovation, wirken dem Klimawandel entgegen und sichern nachhaltig Arbeitsplätze.

Fazit Nur mit den klügsten Köpfen und der richtigen Infrastruktur können wir Fortschritt und Wissenschaft in der Steiermark vorantreiben und uns so dem internationalen Innovationswettbewerb stellen. Angesichts der vielen Probleme in unserer Bildungslandschaft wird jedoch klar, dass unser Bildungssystem das größte Innovationshemmnis ist. Der fehlende flächendeckende Ausbau des Breitbandinternets verstärkt diesen Effekt nur zunehmend. Die weltweit zu beobachtende Spaltung ­zwischen Stadt und Land gewinnt damit auch in der Steiermark an Momentum. Doch die Zukunft der Steiermark wird bereits heute gestaltet. Es ist daher endlich an der Zeit, die Zügel in die Hand zu nehmen und unsere Steiermark in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Eine Zukunft, in der wir den Wohlstand in unserem Land noch weiter ausbauen können und für jede Steirerin und für jeden Steirer einen Arbeitsplatz haben. Dafür dürfen wir in der Steiermark kein Kind mehr zurücklassen, wir müssen für die beste Bildung sorgen und endlich in einen zügigen Ausbau moderner Infrastruktur investieren. Die Steiermark wächst mit ihren Menschen. Die Politik bietet hierfür die Rahmenbedingungen – schlafen wir nicht länger, packen wir’s an!

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Zukunft Steiermark – eine Frage der Postleitzahl?

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Education and Training Monitor der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/education/ sites/education/files/document-­library-­docs/et-­monitor-­report-2019-austria_en.pdf. Landesbericht 2016, 83: https://www.bifie.at/wp-­content/uploads/2017/04/BiSt-­UE_D8_2016_ Landesergebnisbericht_Steiermark.pdf & https://www.diepresse.com/5732371/wie-­osterreichs-­ schuler-­bei-­pisa-­abgeschnitten-­haben. Https://orf.at/stories/3134965/. Lösungen für die Steiermark, 22. Eigene Berechnung, https://docs.google.com/spreadsheets/d/1htY58KHOgel5HBhWGgGuIf9y2na_ GdYP8aNe-­rZGP5s/edit?usp=drive_web&ouid=110520427182372502537. AK Bildungsatlas 2019. Https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tin00073/default/table?lang=de.

Nikolaus Swatek

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ERNST SITTINGER

Chronik eines angekündigten Sieges Landtagswahl 2019: Wie die ÖVP mit einem ­Nichtwahlkampf Kalender- und Geländegewinne erzielte.

Als Hermann Schützenhöfer am Ende eines langen Sommers am 29. August 2019 de facto das Ende seiner ersten Regierungskoalition öffentlich verkündete, war nur die Begründung überraschend: Der Brexit, die abflauende Wirtschaftskonjunktur, die internationalen Handelskriege und überhaupt der „Dauerwahlkampf“ hätten ihn zu ­diesem Schritt bewogen, sagte der Landeshauptmann. Wie bitte? Die verbalen Unfreundlichkeiten und das lausbubenartige Muskelspiel ­zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem chinesischen Staatschef sollten Grund für eine Regionalwahl ­zwischen Bad Aussee und Bad Radkersburg sein? Schützenhöfer nahm sich in ­diesem Augenblick selbst nicht ganz ernst, aber das musste er auch nicht. Denn er wusste, dass seine Umfragewerte exzellent, sein Image stabil, sein Machtanspruch im Wollen der Bevölkerung verankert waren. Und er kannte die Schwächen seines einzigen Gegners: SPÖ-Landesvorsitzender und Vizelandeshauptmann Michael Schickhofer war auf diesen Wahlgang nicht vorbereitet. Dabei hatte es Warnungen zuhauf gegeben. Schon das ganze Jahr 2018 über war ein Raunen zu vernehmen gewesen: Sollte es der ÖVP in den Kram passen, dann werde sie zu Ende des Sommers 2019 ein rasches Ende der Legislaturperiode vorschlagen. Das konnte man in den Flüstercouloirs ­zwischen Burg und Landstube jederzeit hören, und auch dem SPÖ-Chef war es beizeiten zugetragen worden. Ende Juni 2019 hatte es sogar einen geheimen, aber dezidierten „Auftrag“ des ÖVP-Landesvorstands an den Parteiobmann gegeben, im Hinblick auf die guten Umfragewerte so rasch wie möglich Neuwahlen vom Zaun zu brechen. Auch das hatte man Schickhofer vorsorglich hinterbracht. Aber was blieb ihm übrig? Der SPÖ-Chef konnte nur bangen Blickes auf die mehrfachen Zusagen Schützenhöfers verweisen, dass man sich in der Landeskoalition wechselseitig nicht überstimmen werde. Das war dann im Ernstfall ein Muster ohne Wert. Als der Landtag am 5. September seine vorzeitige Auflösung beschloss, konnte Schickhofer ­dieses Pfand nur mehr zum Restwert veräußern: Erstens gebe es für die Neuwahl „keinen Grund“, zweitens sei der Neuwahlbeschluss ein „Wortbruch“ der ÖVP. Ernst Sittinger

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Mit beidem hatte der SPÖ -Chef punktgenau recht. Aber in der Politik steht der Rechthaber gegen den Machthaber auf verlorenem Posten. Schickhofer war der „last man standing“ in der Koalition, aber mit Ausnahme exzellenter Haltungsnoten konnte er am Ende nichts für sich verbuchen. An Schützenhöfer hingegen prallte die wirklich schlechte Optik, den treu verbundenen Regierungspartner SPÖ auf offener Bühne hintergangen zu haben, umstands- und folgenlos ab. Der Landeshauptmann, Berufspolitiker seit Jahrzehnten und vielfach gestählt in drehenden Rücken- und Gegenwinden, schätzte die Thermik des Moments goldrichtig ein: Es war möglich, in ­diesem Landtagswahlkampf am Ende eines quälend langen Politik-­ Jahres den Wunsch nach Stabilität und Berechenbarkeit an die Spitze der Agenda zu setzen. Und für diesen Wunsch kam nur Schützenhöfer selbst als Auftragnehmer infrage. Das wahre Neuwahl-­Motiv der ÖVP war nämlich keineswegs nur die stabile Führung in den Umfragen, sondern tatsächlich die Angst vor Unsicherheit: Nach dem Ibiza-­Skandal und dem Scheitern der Bundesregierung standen ja im Bund gerade Neuwahlen an. Dass Sebastian Kurz neuerlich siegen werde, war zwar weitgehend absehbar. Aber was dann? Die Konturen der ersten türkis-­grünen Bundesregierung waren im vergangenen Frühherbst nur schemenhaft erkennbar. Was das alles für das Land, für die ÖVP und besonders für ihren Wirtschaftsflügel bedeuten würde, ließ sich nicht abschätzen. Schützenhöfer selbst strebte also nach jener Sicherheit, als deren Garant er sich auf den ÖVP-Wahlplakaten ausschildern ließ. Man darf unterstellen, dass für die ÖVP ein Neuwahlbeschluss gegen die SPÖ sogar noch vorteilhafter war als ein hypothetisch in schwarz-­roter Eintracht besiegeltes Koalitions-­Ende. Denn wahlstrategisch kam es der Volkspartei zupass, vor dem Urnengang die Fronten ­zwischen Regierung und Opposition noch einmal kräftig durcheinanderzuwirbeln. Das Pro-­Neuwahl-­Lager hieß ja ÖVP-FPÖ-Grüne, und das hatte aus ÖVP-Sicht gleich eine ganze Reihe von positiven Effekten: Zwei der drei Oppositionsparteien saßen plötzlich mit im Boot und konnten zumindest beim (für ­Schützenhöfer besonders heiklen) Thema der Neuwahl-­Hintergründe nicht mehr attackieren. Die FPÖ wurde überhaupt für die Dauer des gesamten Wahlkampfs an die Leine gelegt, indem Schützenhöfer dosiert die Option offenließ, nach der Wahl mit den Freiheitlichen zu regieren. Die ÖVP schuf außerdem Distanz zur schwach aufgestellten SPÖ, die sofort nach dem Neuwahlbeschluss in die Doppelmühle tappte: Einerseits war sie noch Regierungspartei (und wollte das auch nach der Wahl wieder sein), andererseits sah sie sich plötzlich halbherzig und vorübergehend in die Oppositionsrolle verbannt. Im Anti-­ÖVP-Lager entstand solcherart ein „Gleichgewicht der Verschreckten“: Niemand schaltete auf bedingungslose Konfrontation, weil jeder viel zu verlieren hatte. Die SPÖ flüchtete in Donnerstags-­Pressekonferenzen, wo jeweils bessere Politikkonzepte vorgestellt werden sollten. Keine schlechte Idee und auch thematisch war 110

Chronik eines angekündigten Sieges

Schickhofer am Punkt: Modelle wie das „499-Euro-­Wohnen“ oder die Öffi-­Jahreskarte um 300 Euro haben durchaus ihren Reiz, einmal abgesehen von der Finanzierbarkeit. Aber Schickhofer vermittelte nicht den Eindruck, sich radikal von der Bindung an die ÖVP loszusagen. Er blieb als Herausforderer auf halbem Weg stecken. FPÖ -Chef Mario Kunasek hätte die strategisch bessere Rolle gehabt, aber ihm kam die fundamentale Hoffnungslosigkeit der Bundes-­FPÖ in die Quere. Als Kunasek die Neuwahl im Landtag mitbeschloss, hatte er noch geglaubt, nach dem frühsommerlichen Knall des Ibiza-­Videos auf ein kurzes Zwischenhoch setzen zu dürfen. Man meinte, die ersten Wogen hätten sich geglättet und die Partei habe sich unter dem neuen Bundesobmann Norbert Hofer wieder leicht stabilisiert. Doch dann kam der Spesenskandal rund um das Ehepaar Strache. Diese Affäre richtete in der FPÖ-Wählerschaft weit mehr Schaden an als Ibiza, das man noch als bösartige „Falle“ der politischen Feinde hatte hinstellen können. Bekanntlich versammelten sich ja kurz nach „Ibiza“ die FPÖ-Oberen hinter der eher stupiden Formel, sie schätzten Strache weiterhin hoch ein, da man „einen Menschen nach seiner Lebensleistung beurteilen soll und nicht nach sieben Minuten Video“. Nun aber war Strache endgültig vor aller Welt entblößt – und die eben noch protokollierten Treueschwüre mussten verschämt entsorgt werden. Kurz: Die FPÖ kam in der gesamten steirischen Wahlbewegung nicht aus der Defensive heraus. Für die ÖVP bedeutete all dies eine kolossal gemütliche Konstellation: So lange sich niemand dazu aufraffte, den Amtsinhaber ernstlich aus der Reserve zu locken, konnte man mit ausgedehntem „Nichtwahlkampf“ tägliche Kalender- und damit Geländegewinne erzielen. Schützenhöfer setzte dieser ohnehin offenkundigen Strategie eine kräftige Pointe auf, indem er sogar öffentlich verkündete, im Oktober auf jeden Wahlkampf zu verzichten und erst im November in den Ring zu steigen. Mit jedem Tag, der ereignislos verstrich, wurde dieser Wahlkampf desto sicherer zur „Chronik eines angekündigten Sieges“. Dabei hätte es durchaus Minenfelder gegeben, die Raum für ernsthaftes politisches Kräftemessen eröffnet hätten. In der Spitalspolitik ist zwar das ÖVP -Konzept, viele kleine durch wenige große Spitäler zu ersetzen, fachlich kaum angreifbar. Aber mit dem für das Leitspital Liezen in Aussicht genommenen Grundstück in Stainach-­Pürgg dürfte man sich einen „Problembären“ eingehandelt haben. Prognose: Dieses Projekt wird die Landespolitik noch in ordentliche Schwierigkeiten bringen. Als jahrzehntelang „steirisch geeichter“ Journalist sieht man vor dem geistigen Auge schon die dramatischen Rechnungshofberichte der Jahre 2025 ff. aufsteigen. Oder, weitere Problembereiche: Was ist eigentlich mit der Causa „Shoppingcity Seiers­berg“? Da hat der Landtag auf Geheiß der Regierung extra ein neues Straßengesetz erlassen, was an sich schon ein Affront für jeden Häuslbauer ist, der sich an Bauauflagen hält. Aber damit nicht genug, wird auch ­dieses Gesetz wohl rechtlich Ernst Sittinger

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unhaltbar sein. Die Regierung war jahrelang säumig – bei einem Konflikt von kolossaler Größenordnung für die heimische Wirtschaft. Erst nach der Wahl erließ die neue Raumordnungslandesrätin Ursula Lackner eine Einzelstandortverordnung, die aber auch ein fragwürdiges Instrument ist. Aber da gab es im Landtagswahlkampf keinen Ankläger. Und auch das leidige Thema Landesbudget (Stichwort: fünf Milliarden Schulden, seit Jahren hinhaltende Leerversprechen) war niemandem mehr als eine Randnotiz wert. So blickt man auf diesen Wahlgang zurück mit dem eigentümlichen Gefühl, dass eh allen der Status quo gut in ihre Konzepte passt. Es verbreitet sich in unserem Bundesland eine wundersame „pax styriensis“. In den Jahren ab 2010 war zunächst nur die Landesregierung davon erfasst, in der plötzlich kooperativ statt konfrontativ gearbeitet wurde. Nun greift der Burgfrieden über auf das Landhaus. Die neuen und alten Oppositionsfraktionen, also FPÖ, Grüne, KPÖ und Neos, werden zwar gewiss um Aufmerksamkeit wetteifern und sich da und dort als Regierungskritiker überbieten, aber fundamentale Obstruktion ist nicht in Sicht. Hermann Schützenhöfer kann sich also mit Ruhepuls in das „fade out“ seiner Regierungszeit begeben. Der geschichtliche Ruhm ist ihm sicher – nämlich, das wichtige Bundesland Steiermark nach 14 Jahren SPÖ-Dominanz wieder zurückgeführt zu haben in die angestammte, altvertraute ÖVP-Mehrheit. Die Zimmerordnung in der Grazer Burg stimmt wieder: Der Landeshauptmann sitzt im zweiten Stock, sein Stellvertreter „nur“ im ersten. Wie zu der beiden Krainer Zeiten. Es wird aber trotzdem mindestens einen absehbaren, unausweichlichen Knackpunkt in dieser Legislaturperiode geben: Irgendwann kommt der Tag, wo Schützenhöfers Nachfolge an der Partei- und Landesspitze auch öffentlich orchestriert werden muss. Der Landespatron tut sich schwer mit ­diesem Thema, und nach allem, was man weiß, wird er die Entscheidung so lange wie möglich hinausschieben. Denn Schützenhöfer ist ein cunctator, ein Zauderer. Er hält sich auf mit Skrupeln, er ist nicht immun gegen Zuruf und Widerspruch. Das kann man als Kompliment auffassen, aber es birgt – wie etwa paradigmatisch geschehen im Fall Christian Buchmann – die Gefahr, dass man zu lange abwartet. Und dann können sich Spannungen unkontrolliert entladen. Die Landespolitik bleibt also jedenfalls ein interessantes Kraftfeld.

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Chronik eines angekündigten Sieges

HEINZ P. WASSERMANN

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“ 1 (Statistische) Analysen der steirischen Landtagswahl vom 24. November 2019

Einleitung Das Ergebnis der (vorverlegten) Landtagswahl am 24. November 2019 „stellt“ mit dem Stimmenstärksten – Hermann Schützenhöfer – „als beglaubigte Führungskraft die alte Ordnung wieder her“.2 Bestätigt von der Wählerschaft beendete es – nach dem „geblufft-­geschenkten“ 3 Landeshauptmann 2015 – das „rote“ Interregnum (oder war es in Anbetracht der Landeshistorie seit 1945 nur ein Intermezzo?4) ­zwischen 2005 und 20155 mit der relativen Stimmenmehrheit von 36,1 % für die Steirische Volkspartei. Nach einer kontextualisierten Analyse des Wahlergebnisses, die den Erfolg der Steirischen Volkspartei zwar nicht schmälern soll, aber relativieren wird, stehen (wahl-) statistische Untersuchungen zu den ­Themen • Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung, • Bevölkerungsstruktur, • Migration und Flüchtlinge, • Urbanisierungsgrad, • Bildung, • Stellung im Beruf, • Wirtschaftssektoren, und • ökonomische Indikatoren im Fokus des Beitrags.6

Das Wahlergebnis Aus Sicht von SPÖ (23 %; -6,3 Prozentpunkte) und Freiheitlichen (17,5 %; -9,3 Prozentpunkte) war – um die Phrase zu strapazieren – das Glas jeweils halbleer und aus Sicht von Grünen (12,1 %; +5,4 Prozentpunkte), KPÖ (5,9 %; +1,8 Prozentpunkte) und Neos (5,4 %; +2,7 Prozentpunkte) mit Sicherheit (mehr als) halbvoll. Bei der Steirischen Volkspartei war es ein Sowohl-­als-­auch: 36,1 % bedeuten einen unangefochtenen Wahlsieg Heinz P. Wassermann

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und die 13 Prozentpunkte Vorsprung auf die zweitplatzierte SPÖ den drittgrößten Vorsprung bei einer Landtagswahl seit 1945. Diese Kennziffern können aber über Zweierlei nicht hinwegtäuschen: Zum einen war es das zweitschlechteste Wahlergebnis der Volkspartei bei einer Landtagswahl nach 1945,7 zum anderen – wie aus der folgenden Abbildung ablesbar ist – liegt die Steirische Volkspartei im Ländervergleich der Volksparteien lediglich am Anfang des unteren Mittelfeldes.8

Abbildung 1: VP-Landtagswahlergebnisse 2015 bis 2020.

Statistische Analysen Die Datenbasis liefern zum einen die Wahlergebnisse am Wahltag (Urnenwahl), zum anderen statistische Daten auf Gemeindeebene. Der Aufbau der folgenden Unter­ suchungen basiert auf einem Schema, das in einem ersten Schritt die generelle kommu­ nale Datenlage steiermarkweit analysiert und in einem zweiten die unterschiedlichen Parameter statistisch auswertet und interpretiert.

Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung In absoluten Zahlen gab es mit 343 Wahlberechtigten in der Gemeinde Hohentauern die wenigsten und mit 193.544 in der Landeshauptstadt die meisten Wahlberechtigten. Pro Gemeinde waren es durchschnittlich 3.330 Wahlberechtigte. Mit, gemessen an der Gesamtbevölkerung, 67 % war die Anzahl der Wahlberechtigten in Graz am geringsten, mit 89 % in der Gemeinde Radmer am höchsten. Im Landesschnitt waren 81 % der Wohnbevölkerung wahlberechtigt.

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„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Die Wahlbeteiligung (Urnenwahl) war mit 43,4 % in Kapfenberg die niedrigste und mit 78,1 % in Gasen die höchste.9 Im Vergleich zur Landtagswahl 2015 sank die Wahlbeteiligung (Urnenwahl) in 284 Gemeinden (N = 953.254 Wahlberechtigte) und stieg lediglich in drei (N = 2.350 Wahlberechtigte).10 Am stärksten war der Rückgang mit 15,9 Prozentpunkten in der Gemeinde St.  Georgen am Kreischberg, den stärksten Zuwachs verzeichnete die Gemeinde Fischbach mit sechs Prozentpunkten. Im kommunalen Durchschnitt sank sie um 8,7 Prozentpunkte. In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen polarisierte 11 Positionierungen 12 ediert. Wahlberechtigte absolut

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Signifikanzen

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Wahlberechtigte in Prozent

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Wahlbeteiligung in Prozent

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Wahlbeteiligung Ppd

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Tabelle 1: Signifikanztabelle Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung.

Im Rahmen der 24 durchgeführten statistischen Tests sind 14 hoch signifikante 13 Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 58,3 %. Die Anzahl der Wahlberechtigten auf kommunaler Ebene korreliert hoch signifikant negativ mit dem VP-Ergebnis und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Grünen, Kommunisten und Neos.14 Je höher der Prozentwert ist, umso schlechter schneidet die Volkspartei ab – für die drei anderen Parteien trifft das Gegenteil zu. Der Prozentanteil von Wahlberechtigten an der kommunalen Gesamtbevölkerung korreliert hoch signifikant positiv mit dem Ergebnis der Volkspartei und hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Abschneiden von Grünen, Kommunisten und Neos.15 Je höher der jeweilige Prozentwert ausgeprägt ist, umso besser ist das Ergebnis der Volkspartei – für die drei anderen Parteien verhält es sich gegensätzlich. Dasselbe gilt für die Wahlbeteiligung auf Gemeindeebene.16 Je höher diese jeweils ist, umso besser ist das jeweilige Ergebnis der Volkspartei und umso schlechter das von FPÖ, Grünen, KPÖ und Neos. Die – fast durchgehend gesunkene – Wahlbeteiligung korreliert signifikant negativ mit dem jeweiligen Gemeindeergebnis der Freiheitlichen.17 Je stärker sie fällt, umso schlechter fällt deren jeweiliges Ergebnis aus.

Heinz P. Wassermann

115

Bevölkerungsstruktur Zwischen 2014 und 201918 war der Bevölkerungsrückgang mit 13,6 % in Eisenerz am stärksten ausgeprägt. Hingegen weist die Gemeinde Kalsdorf bei Graz mit einem Plus von 16,4 % den stärksten Bevölkerungszuwachs auf. Im Landesdurchschnitt hat sich die Wohnbevölkerung um 0,35 % pro Gemeinde erhöht. 46,7 % (N = 588.271 Wahlberechtigte) der steirischen Kommunen weisen einen Bevölkerungszuwachs, 52,6 % (N = 364.553 Wahlberechtigte) eine Abnahme der Wohnbevölkerung auf. In zwei Gemeinden 19 blieb die Wohnbevölkerung ­zwischen 2014 und 2019 unverändert. Mit 288.806 Bewohnern lag Graz unangefochten an der Spitze, die Gemeinde Hohentauern bildete mit 394 Bewohnern diesbezüglich das Schlusslicht. Der Landesschnitt liegt bei 4.331 Einwohnern pro Gemeinde. Mit 10,4 % an bis 19-Jährigen (N = 225.026 Personen) weist Eisenerz den geringsten, mit 23,4 % die Gemeinde Gasen den höchsten Wert – bei einem Landesdurchschnitt von 18,4 % – auf. Die Altersgruppe 20 bis 64 (N = 766.187 Personen) ist mit 50,3 % wiederum in ­Eisenerz am schwächsten und mit 66 % in der Gemeinde Gralla am stärksten vertreten. Im Landesschnitt macht diese Altersgruppe 60,3 % aus. Mit 12,3 % an über 64-Jährigen (N = 251.839 Personen) weist die Gemeinde Gralla den geringsten, mit 39,3 % Eisenerz den höchsten Wert (bei einem Landesdurchschnitt von 21,3 %) auf. Mit einer Prozentpunkdifferenz von 14,6 ist über alle Altersgruppen hinweg der ­Frauenüberhang in der Gemeinde Murau am stärksten ausgeprägt. Den stärksten Männer­überhang weist die Gemeinde Pusterwald mit 14,3 Prozentpunkten auf.20 41,1 % (N = 228.181 Wahlberechtigte) der steirischen Kommunen weisen einen Männer-, 57,8 % (N = 720.835 Wahlberechtigte) einen Frauenüberhang unter der Gesamtbevölkerung auf. In drei Gemeinden 21 ist das Frauen-­Männer-­Verhältnis ausgeglichen. Der Frauenüberhang unter den 19- bis 50-Jährigen ist mit 11,3 Prozentpunkten in der Gemeinde Hausmannstätten am stärksten ausgeprägt, wohingegen in der Gemeinde Vordernberg der Männerüberhang mit 80,6 Prozentpunkten in dieser Altersgruppe am stärksten ausfällt.22 In dieser Altersgruppe dominieren quantitativ die Männer in 81,9 % (N = 816.938 Wahlberechtigte) und die Frauen in 17,1 % (N = 131.702 Wahlberechtigte) der steirischen Kommunen. In drei herrscht ein ausgeglichenes Verhältnis (N = 7.144 Wahlberechtigte). Mit einem Durchschnittsalter von 39 Jahren ist die Gemeinde Gralla die „jüngste“, Eisenerz mit einem Altersdurchschnitt von 56 Jahren die „älteste“ steirische Kommune. Der Landesschnitt beträgt 44,9 Jahre.

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„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Bevölkerungsveränderung Ppd

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Bevölkerungsveränderung/ Kategorien

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Signifikanzen

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Wohnbevölkerung 2019

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Signifikanzen

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Bevölkerungsanteil bis 19 Jahre

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Signifikanzen

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Bevölkerungsanteil 20 bis 64 Jahre

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Bevölkerungsanteil älter als 65 Jahre

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Signifikanzen

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Sexualproportion allgemein

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Signifikanzen

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Sexualproportion allgemein/ Kategorien

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Sexualproportion 19 bis 50

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Sexualproportion 19 bis 50/ Kategorien

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Durchschnittsalter

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Signifikanzen

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Tabelle 2: Signifikanztabelle Bevölkerungsstruktur.

Alles in allem wurden 66 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 56 (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge belegbar, das sind 84,8 %. Die Bevölkerungsveränderung ­zwischen 2014 und 2019 auf Prozentpunktbasis korreliert hoch signifikant negativ mit den Gesamtergebnissen von Volkspartei und Sozialdemokraten und hochsignifikant positiv mit dem jeweiligen Abschneiden von FPÖ , ­Grünen, KPÖ und Neos.23 Je stärker die Bevölkerung in diesen fünf Jahren ­abgenommen hat, umso besser sind die Ergebnisse von ÖVP und SPÖ – bei den vier anderen Parteien verhält es sich umgekehrt. Heinz P. Wassermann

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In Abwanderungsgemeinden schneiden ÖVP und SPÖ signifikant besser ab als in Zuwanderungsgemeinden. In Zuwanderungsgemeinden sind die Ergebnisse von Freiheitlichen und Kommunisten signifikant, die von Grünen und Neos hoch signifikant besser als in Abwanderungsgemeinden.24 Die Wohnbevölkerung in absoluten Zahlen korreliert hoch signifikant negativ mit dem Gesamtergebnis der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Grünen, Kommunisten und Neos.25 Je geringer der Bevölkerungsstand ist, umso besser schneidet die ÖVP ab – bei den drei anderen Parteien verhält es sich gegenteilig. Der Prozentanteil der bis 19-Jährigen korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Abschneiden von KPÖ und SPÖ und hoch signifikant positiv mit dem von FPÖ, Grünen, Neos und ÖVP.26 Je höher deren Prozentanteil ist, umso schlechter schneiden Sozialdemokraten und Kommunisten ab, bei den vier anderen Parteien ist das Gegenteil der Fall. Der Prozentanteil der 20- bis 64-Jährigen korreliert hoch signifikant negativ mit dem Abschneiden der SPÖ und hoch signifikant positiv mit dem von FPÖ, Grünen und Neos sowie signifikant positiv mit dem der ÖVP.27 Je höher deren Prozentanteil unter der Wohnbevölkerung ist, umso schlechter fällt das jeweilige Ergebnis der Sozialdemokraten aus – für die vier anderen Parteien verhält es sich gegenteilig. Der Prozentanteil der Altersgruppe „65 plus“ korreliert hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von SPÖ und KPÖ sowie hoch signifikant negativ mit denen von FPÖ, Grünen, Neos und ÖVP .28 Je höher deren Prozentanteil ist, umso besser schneiden Erstere ab, bei Letzteren trifft das Gegenteil zu. Die Sexualproportion 29 über alle Altersgruppen hinweg korreliert hoch signifikant positiv mit dem Abschneiden der Volkspartei und hoch signifikant negativ mit dem von Grünen, KPÖ, Neos und SPÖ.30 Je stärker der Männerüberschuss in einer Gemeinde ausgeprägt ist, umso besser fällt das jeweilige Ergebnis der ÖVP aus, für die vier ­anderen Parteien verhält es sich umgekehrt. In Gemeinden mit einem Männerüberhang erhält die Volkspartei hoch signifikant mehr Stimmen als in Gemeinden mit einem Frauenüberhang. Unter umgekehrten Vorzeichen gilt dasselbe für Grüne, Kommunisten und Neos, bei den Sozialdemokraten ist der Unterschied signifikant.31 Die Sexualproportion der Altersgruppe 19 bis 50 korreliert hoch signifikant positiv mit dem Wahlergebnis der SPÖ und hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen von Grünen, Kommunisten und Neos.32 Je höher der Männerüberschuss auf kommunaler Ebene ausgeprägt ist, umso besser schneidet die SPÖ ab – für die drei anderen Parteien gilt das Gegenteil. In Gemeinden mit einem Männerüberhang in dieser Altersgruppe ist das Wahlergebnis der FPÖ signifikant besser als in solchen mit einem Frauenüberhang, für Grüne und Neos trifft das Gegenteil zu, wobei die Unterschiede hoch signifikant sind.33 118

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Das Durchschnittalter korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Abschneiden von Freiheitlichen, Grünen, Neos und Volkspartei einerseits und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Kommunisten und Sozialdemokraten andererseits.34 Je geringer ­dieses ist, umso besser schneiden die Erstgenannten ab und umso schlechter sind die Wahlergebnisse von KPÖ und SPÖ.

Migration und Flüchtlinge Mit einem Anteil von 0,4 % an der Gesamtbevölkerung weist die Gemeinde Miesenbach bei Birkfeld das steirische Mindestmaß und die Landeshauptstadt mit 23,1 % das Höchstmaß an Migranten auf. Der Landesschnitt beträgt 11 %. Mit wiederum 0,4 % ist der Anteil an EU-Migranten erneut in der Gemeinde Miesen­ bach bei Birkfeld steiermarkweit der geringste, der höchste Prozentanteil (19,4) ist für die Gemeinde Neudau belegbar. Im Durchschnitt sind es 6,4 %. In vier Gemeinden (Miesenbach bei Birkfeld, Rettenegg, Stiwoll und Wildalpen) wohnen keine Nicht-­EU-Migranten, den höchsten Wert weist diesbezüglich Graz mit 11,8 %, bei einem Landesschnitt von 4,6 %, auf. In 41,1 % (N = 634.397 Wahlberechtigte) der steirischen Gemeinden befinden sich – Stichtag 20. November 2019 – Flüchtlinge in der Grundversorgung, in den restlichen 58,9 % (N = 321.387 Wahlberechtigte) keine. Im Jahresvergleich hat sich die Anzahl der Flüchtlinge in jeweils 16,9 % der Gemeinden (N = 57.937 Wahlberechtigte) erhöht bzw. ist sie gleichgeblieben (N = 57.072 Wahlberechtigte) und in 66,1 % (N = 519.388 Wahlberechtigte) hat sie sich reduziert.35 In 169 steirischen Gemeinden sind keine Flüchtlinge untergebracht. Unter den 118 „Flüchtlingsgemeinden“ (634.397 Wahlberechtigte) weist die Gemeinde Köflach mit 0,02 % an der Gesamtbevölkerung das Minimum, die Gemeinde Lafnitz mit 2,42 % das Maximum auf. In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Positionierungen ediert. Migrantenanteil allgemein

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EU Migranten

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Sonstige Migranten

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Flüchtlinge GVS ja/nein

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Heinz P. Wassermann

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Flüchtlinge GVS 2018/19 Kategorien

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Flüchtlingsanteil in Prozent

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Signifikanzen

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Tabelle 3: Signifikanztabelle Migranten und Flüchtlinge.

Im Rahmen der 48 durchgeführten statistischen Tests sind 22 (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 45,8 %. Unabhängig von der (Nicht-)Differenzierung von bzw. in Migrantenkategorien gilt: Der Migrantenanteil auf kommunaler Ebene korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen VP-Ergebnis einerseits und hoch signifikant positiv mit den ­jeweiligen Ergebnissen von Grünen, KPÖ, Neos und SPÖ.36 Je höher deren Prozentanteil auf Gemeinde­ ebene ist, umso schlechter schneidet die Volkspartei ab und umso besser sind die Ergebnisse von Grünen, Kommunisten, Neos und Sozialdemokraten. In Gemeinden, in denen Flüchtlinge in der Grundversorgung (GVS) untergebracht und in solchen, in denen keine untergebracht sind, unterscheiden sich die Ergebnisse der Volkspartei einerseits und von Grünen, Kommunisten und Neos hochsignifikant voneinander. In Gemeinden ohne Flüchtlinge schneidet die Volkspartei hoch signifikant besser aber als in Gemeinden mit Flüchtlingen. Das Gegenteil trifft auf die drei anderen Parteien zu.37 Der Vergleich, ob binnen Jahresfrist der Flüchtlingsanteil zugenommen oder gleichgeblieben ist bzw. zugenommen oder abgenommen hat, zeigt keine signifikanten Auswirkungen auf die Wahlergebnisse der sechs untersuchten Parteien. In Gemeinden, in denen der Flüchtlingsanteil gleichgeblieben ist und in denen dieser abgenommen hat, schneidet die Volkspartei in ersteren signifikant besser ab als in letzteren. Bei den Kommunisten verhält es sich spiegelverkehrt.38 Der Prozentanteil an Flüchtlingen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung korreliert signifikant negativ mit dem kommunalen Ergebnis der Volkspartei.39 Je höher dieser ist, umso schlechter schneidet sie ab.

Urbanisierungsgrad Die Urban-­Rural-­Typologie (U-R-T) ordnet alle österreichischen Gemeinden einer von fünf Kategorien zu.40 4,5 % (241.313 Wahlberechtigte) der steirischen Gemeinden werden als „urbane Großzentren“ (UGZ)41, 7,7 % (138.487 Wahlberechtigte) als „urbane Mittel- und ­Kleinzentren“ (UMKZ )42, 4,9 % (72.014 Wahlberechtigte) als „regionale Zentren“ (RZ )43, 21,6 % als „Außenzonen von Zentren“ (AZ, 145.280 Wahlberechtigte)44 und 61,3 % (358.690 Wahlberechtigte) als „ländlicher Raum abseits von Zentren“ (LR)45 kategorisiert.

120

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

12,2 % (420.094 Wahlberechtigte) der Kommunen sind gemäß U-R-T Stadt-, die restlichen 87,8 % sind Landgemeinden (535.690 Wahlberechtigte). Lediglich die Landeshauptstadt (193.544 Wahlberechtigte) gilt als dicht besiedelt (und wird deshalb in den Berechnungen auch nicht berücksichtigt), 14,9 % (267.310 Wahlberechtigte) der Gemeinden gelten als mittel und 84,6 % (494.930 Wahlberechtigte) als dünn besiedelt. Der Anteil an Einpendlergemeinden (438.514 Wahlberechtigte) beläuft sich auf 17,4 %, der an Auspendlergemeinden (517.270 Wahlberechtigte) auf 82,6 %. Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Urbanisierungsgrad

UGZ/UMKZ

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

S

G

N

V

hs

hs

hs

hs

UGZ/RZ

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

s

s

hs

V

S

G

K

N

hs

s

hs

hs

hs

hs

UMKZ/RZ

K

S

G

N

V

hs

hs

hs

hs

hs

UMKZ/AZ

K

S

G

N

V

hs

hs

hs

hs

hs

UMKZ/LR

V

K

S

hs

hs

hs

K

N

Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad

N

UGZ/LR

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

K

V

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

N s

UGZ/AZ

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

G

K s

RZ/AZ

Signifikanzen Urbanisierungsgrad

RZ/LR

V hs

hs

hs

hs

AZ/LR

V

G

K

N

hs

hs

hs

hs

Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen

G

Stadt-/Landgemeinden

V

G

K

N

S

Signifikanzen

hs

hs

hs

hs

hs

Besiedlungsdichte

V

G

K

N

S

Signifikanzen

hs

hs

hs

hs

hs

Pendlerbilanz

V

G

K

N

S

Signifikanzen

hs

hs

hs

hs

hs

Tabelle 4: Signifikanztabelle Urbanisierungsrad. Heinz P. Wassermann

121

Alles in allem wurden 78 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 51 (hoch) signifikante Unterschiede belegbar, das sind 65,4 %. Die Wahlergebnisse der SPÖ sind in urbanen Mittel- und Kleinzentren hoch signifikant besser als in urbanen Großzentren, die von Grünen, Neos und Volkpartei sind hingegen in urbanen Großzentren hoch signifikant besser als in urbanen Mittel- und Kleinzentren.46 Die KPÖ und Neos schneiden in urbanen Großzentren jeweils signifikant besser ab als in regionalen Zentren.47 Die Wahlergebnisse der Volkspartei sind in Außenzonen von Zentren hoch signifikant besser als in urbanen Großzentren, die von Neos sind hingegen in urbanen Großzentren hoch signifikant besser als in Außenzonen von Zentren, bei den Grünen und der KPÖ sind die Unterschiede signifikant.48 Die ÖVP schneidet im ländlichen Raum abseits von Zentren hoch signifikant, die SPÖ signifikant besser ab als in urbanen Großzentren. Die Wahlergebnisse von Grünen, KPÖ und Neos sind in urbanen Großzentren hoch signifikant besser als im ländlichen Raum abseits von Zentren.49 Die SPÖ- und die KPÖ-Ergebnisse sind in urbanen Mittel- und Kleinzentren hoch signi­fikant besser als in regionalen Zentren, bei Grünen, Neos und Volkspartei ist jeweils das Gegenteil der Fall.50 Sowohl Polarisierungen als auch Hochsignifikanzen sind für den Vergleich ­zwischen urbanen Mittel- und Kleinzentren und Außenzonen von Zentren festzuhalten.51 Die Volkspartei schneidet im ländlichen Raum abseits von Zentren hoch signifikant besser ab als in urbanen Mittel- und Kleinzentren, für Sozialdemokraten und Kommunisten gilt das Gegenteil.52 Die Ergebnisse der ÖVP sind im ländlichen Raum abseits von Zentren hoch signifikant besser als in regionalen Zentren, bei Grünen, KPÖ und Neos trifft das Gegenteil zu.53 Dasselbe Muster weist der Vergleich ­zwischen Außenzonen von Zentren und dem ländlichen Raum abseits von Zentren auf.54 Die VP-Ergebnisse sind in Landgemeinden hoch signifikant besser als in Stadtgemeinden, wohingegen Grüne, Kommunisten, Neos und Sozialdemokraten in Stadtgemeinden hoch signifikant besser abschneiden als in Landgemeinden.55 In mittel besiedelten Gemeinden sind die Ergebnisse der Volkspartei hoch signifikant schlechter als in dünn besiedelten, während die Grünen, die KPÖ, Neos und die SPÖ in mittel besiedelten Kommunen hoch signifikant bessere Ergebnisse aufweisen als in dünn besiedelten.56 Dasselbe Schema weist der Vergleich ­zwischen Aus- und Einpendlergemeinden auf. Die Volkspartei schneidet in Auspendlergemeinden hoch signifikant besser ab als in Einpendlergemeinden, bei den vier anderen Parteien ist das Gegenteil der Fall.57

122

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Bildung 24,5 % (262.851 Personen) aller in der Steiermark lebenden Menschen wiesen 2017 einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss auf, unter den Wahlberechtigten waren es 21,6 % (206.346 Personen).58 Über einen Lehr- bzw. BMS-Abschluss verfügten 49,1 % (526.811 Personen), unter den Wahlberechtigten waren es mit 51,8 % (495.804 Personen) etwas mehr.59 Die Reifeprüfung war für 14,2 % (152.615 Personen) der in der Steiermark lebenden Personen der höchste Bildungsabschluss, mit 14,4 % (137.776 Personen) lagen die Wahlberechtigten geringfügig darüber.60 Über einen Hochschulabschluss in der Gesamtbevölkerung verfügten 10,4 % (111.563 Personen), unter den Wahlberechtigten waren es 10,3 % (98.923 Personen).61 In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Polarisierungen ediert. Pflichtschule alle

F

V

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs

hs-

hs-

hs-

Pflichtschule Wahlberechtigte

F

V

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs

hs-

hs-

hs-

Lehre/BMS alle

V

S

G

K

N

Signifikanzen

s

hs

hs-

hs-

hs-

Lehre/BMS Wahlberechtigte

S

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

Matura alle

F

V

G

K

N

Signifikanzen

s-

hs-

hs

hs

hs

Matura Wahlberechtigte

F

V

G

K

N

Signifikanzen

s-

hs-

hs

hs

hs

Hochschule alle

F

V

S

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs-

hs-

hs

hs

hs

Hochschule Wahlberechtigte

F

V

S

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs-

s-

hs

hs

hs

Tabelle 5: Signifikanztabelle formale Bildung.

Im Rahmen der 48 durchgeführten statistischen Tests sind 41 (hoch) signifikante Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 85,4 %. Es macht keinen Unterschied, ob man bei den Pflichtschulabsolventen ­zwischen allen in der Steiermark lebenden und den Wahlberechtigten unterscheidet.62 Je höher deren Anteil auf Gemeindeebene ist, umso hoch signifikant besser sind die Wahlergebnisse von FPÖ und ÖVP, bei Grünen, KPÖ und Neos ist das Gegenteil der Fall. Heinz P. Wassermann

123

Ein vergleichbares Bild – sofern es die hoch signifikant negativen Korrelationen bei Grünen, Kommunisten und Neos in beiden Analysekategorien betrifft – zeigt sich bei Personen mit einem Lehr- bzw. BMS-Abschluss. Bei den „Profiteuren“ eines tendenziell höheren Prozentanteils gilt es zu differenzieren. Bei der SPÖ sind zwei hoch signifikant positive Korrelationen, bei der Volkspartei ist in der Kategorie „alle“ eine signifikant positive Korrelation festzuhalten.63 Je höher der Prozentanteil unter allen Lehr- bzw. BMS -Absolventen ist, umso besser ist das Abschneiden der SPÖ (und teilweise der ÖVP), für Grüne, Kommunisten und Neos trifft das Gegenteil zu. Unter Maturanten zeigt sich ein annähernd spiegelverkehrtes Bild zu den Pflichtschulabsolventen. Je höher deren Anteil auf kommunaler Ebene ausgeprägt ist, umso hoch signifikant besser sind die jeweiligen Ergebnisse von Grünen, KPÖ und Neos. Bei Freiheitlichen und Volkspartei verhält es sich umgekehrt, wobei bei Ersteren die Zusammenhänge signifikant und bei Letzteren hoch signifikant negativ sind. Es macht auch keinen Unterschied, ob man alle oder nur die wahlberechtigten Maturanten in die Berechnungen miteinbezieht.64 Was die Gruppe aller Hochschulabsolventen betrifft, zeigt sich eine völlig gespaltene Politiklandschaft auf der Ebene der (Hoch-)Signifikanzen. Ihr Prozentanteil korreliert in beiden Kategorien hoch signifikant negativ mit den Ergebnissen der Volkspartei und der Freiheitlichen und hoch signifikant negativ („alle“) sowie signifikant negativ (Wahlberechtigte) mit dem jeweiligen Abschneiden der Sozialdemokraten sowie (in beiden Kategorien) jeweils hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Grünen, Kommunisten und Neos.65 Je höher der Prozentanteil ist, umso schlechter schneiden Erstere ab, bei Grünen, KPÖ und Neos verhält es sich gegenteilig.

Stellung im Beruf Wie bei der eben berechneten Variable Bildung wird auch bei der Stellung im Beruf ­zwischen den Prozentanteilen an der Gesamtbevölkerung und den Wahlberechtigten unterschieden bzw. werden sie separat ausgewertet.66 Darüber hinaus stammen die Daten wiederum aus dem Jahr 2017. 17,5 % (216.668 Personen) der Grundgesamtheit sind Arbeiter,67 unter den Wahlberechtigten sind es 18,7 % (178.909 Personen).68 In der Grundgesamtheit sind 23,2 % Angestellte (287.290 Personen),69 unter den Wahlberechtigten erhöht sich der Wert auf 28,2 % (269.656 Personen).70 6,1 % (75.564 Personen) der Grundgesamtheit sind Selbstständige,71 unter den Wahlberechtigten sind es 7,7 % (70.995 Personen).72 Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar.

124

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Arbeiter alle

S

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

Arbeiter Wahlberechtigte

S

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

Angestellte alle

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs

hs

hs

Angestellte Wahlberechtigte

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs

hs

hs

Selbstständige alle

F

V

G

K

N

S

Signifikanzen

hs-

hs-

hs

s

hs

hs

Selbstständige Wahlberechtigte

V

G

K

S

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

Tabelle 6: Signifikanztabelle Stellung im Beruf.

Alles in allem wurden 36 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 26 (hoch) signi­fikante Zusammenhänge belegbar, das sind 72,2 %. Unabhängig davon, ob man den Arbeiteranteil unter der Gesamtbevölkerung oder unter den Wahlberechtigten heranzieht, gilt: Je höher deren Prozentanteil ist, umso besser schneidet die SPÖ ab und umso schlechter fallen die Ergebnisse von Grünen, Kommunisten und Neos aus.73 Die Zusammenhänge sind jeweils hoch signifikant. Bei den Angestellten, die diesbezüglich wiederum nicht zu differenzieren sind, zeigt sich folgendes Muster: Je höher deren Prozentanteil auf Gemeindeebene ausgeprägt ist, umso schlechter ist das Wahlergebnis der Volkspartei und umso besser schneiden Grüne, KPÖ und Neos ab.74 Die Zusammenhänge sind wiederum jeweils hoch signifikant. Eine völlig polarisierte Wählerlandschaft zeigt sich beim Wahlverhalten, wenn man alle in der Steiermark Selbstständigen als Variable heranzieht. Umso höher deren Anteil ausgeprägt ist, umso schlechter sind die Wahlergebnisse von FPÖ und ÖVP und umso besser sind die von Grüne, KPÖ, Neos und SPÖ.75 Alle Zusammenhänge sind hoch signifikant. Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich, wenn man die Wahlberechtigten unter den Selbstständigen zur Berechnung heranzieht. Je höher deren Anteil ist, umso besser schneidet die ÖVP ab und umso schlechter sind die Ergebnisse von Grünen, Kommunisten und Sozialdemokraten.76 Die Zusammenhänge sind hoch signifikant.

Wirtschaftssektoren Im Primärsektor (Land- und Forstwirtschaft) sind im Landesdurchschnitt 4,7 % (28.929 Erwerbstätige) tätig. Den geringsten Wert weist mit 0,4 % die Landeshauptstadt, den höchsten die Gemeinde Pusterwald mit 23,3 % auf.

Heinz P. Wassermann

125

Der Sekundärsektor (Gewerbe und Industrie) weist mit 13,8 % in der Gemeinde Bad Radkersburg das Landesminimum und mit 44,1 % in der Gemeinde Trieben das Landesmaximum auf. Der Landesschnitt beträgt 25,9 % (157.870 Beschäftigte). Im tertiären Sektor (Dienstleistungen) sind im Landesschnitt 69,4 % (422.804 Personen) beschäftigt. Der geringste Wert ist mit 40,2 % für die Gemeinde Strallegg, der Höchstwert mit 85,6 % für Graz nachweisbar. In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Polarisierungen ediert. Primärer Sektor

V

G

K

N

S

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

hs-

Sekundärer Sektor

S

G

K

N

Signifikanzen

hs

hs-

hs-

hs-

Tertiärer Sektor

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs

hs

hs

Tabelle 7: Signifikanztabelle Sektorenverteilung.

Im Rahmen der 18 durchgeführten statistischen Tests sind 13 hoch signifikante Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 72,2 %. Die prozentuelle Stärke des primären Sektors auf Gemeindeebene korreliert hoch signifikant positiv mit dem Ergebnis der Volkspartei sowie hoch signifikant negativ mit den Ergebnissen von Grünen, KPÖ, Neos und SPÖ.77 Je stärker er ausgeprägt ist, umso besser schneidet die Volkspartei ab, für die vier anderen Parteien gilt das Gegenteil. Die prozentuelle Besetzung des sekundären Sektors korreliert auf kommunaler Ebene hoch signifikant positiv mit dem Ergebnis der SPÖ sowie hoch signifikant negativ mit den Ergebnissen von Grünen, KPÖ und Neos.78 Je stärker er auf kommunaler Ebene prozentuell besetzt ist, umso besser ist das Wahlergebnis der Sozialdemokraten, für die drei anderen Parteien verhält es sich gegenteilig. Die prozentuelle Stärke des Dienstleistungssektors korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Wahlergebnis der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Grünen, Kommunisten und Neos.79 Je höher er ausgeprägt ist, umso schlechter schneidet die Volkspartei ab, für die drei anderen Parteien gilt das Gegenteil.

Ökonomische Indikatoren Gemessen an der Wohnbevölkerung war 2018 im Jahresdurchschnitt die Arbeitslosenrate mit 0,9 % in der Gemeinde Lannach am geringsten und in der Gemeinde Knittelfeld mit 4,4 % am höchsten; im Landesdurchschnitt betrug sie 2,2 % auf kommunaler Ebene. 126

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Im Jahresvergleich 2017/2018 ist die Arbeitslosenrate in 5,2 % (N = 26.918 Wahlberechtigte) der Gemeinden gestiegen, in 92 % (N = 898.493 Wahlberechtigte) der Gemeinden gesunken und in 2,8 % (N = 30.373 Wahlberechtigte) der Gemeinden unverändert geblieben. Mit 823 Euro wies 2017 die Gemeinde Geistthal-­Södingberg die geringste Steuerkraftkopfquote auf, mit 2.687 Euro lag die Gemeinde Raaba-­Grambach an der Spitze. Im Landesschnitt betrug sie 1.157 Euro. Im Jahresvergleich 2016/17 ist sie in 87,8 % der Gemeinden gestiegen (876.828 Wahlberechtigte), in 11,5 % (76.333 Wahlberechtigte) gefallen und in zwei Gemeinden 80 (2.623 Wahlberechtigte) unverändert geblieben. Mit 5,40 Euro wies die Gemeinde Stiwoll 2017 die niedrigste, mit 1.741 Euro die Gemeinde Raaba-­Grambach die höchste pro Kopf gerechnete Kommunalsteuer 2017 auf. Der Landesschnitt belief sich auf 234,20 Euro. Das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen der unselbstständig Beschäftigten war 2017 mit 25.949 Euro in der Gemeinde Ramsau am Dachstein am niedrigsten, mit 50.044 Euro in der Gemeinde Stattegg am höchsten. Im Landesschnitt belief es sich auf 35.015 Euro. Mit einem durchschnittlichen Minus von 9.066 Euro gegenüber dem Landesdurchschnitt lag das Jahresbruttoeinkommen in der Gemeinde Ramsau am Dachstein am stärksten unter dem Landesschnitt, was mit einem Überhang von 15.029 Euro in die Gegenrichtung für die Gemeinde Stattegg gilt. In 43,2 % (530.511 Wahlberechtigte) der steirischen Kommunen lag 2017 das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen der unselbstständig Beschäftigten über, in 56,8 % der Kommunen (425.273 Wahlberechtigte) unter dem Landesschnitt. Mit 0,27 war der Gini-­Koeffizient 81 2017 in der Gemeinde Wald am Schoberpaß am schwächsten, mit 0,43 in der Gemeinde Altaussee am stärksten ausgeprägt. Im Landes­ schnitt belief er sich auf 0,33. Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Arbeitslosenrate 2018

V

F

K

Signifikanzen

hs-

hs

hs

Arbeitslosigkeit in Kategorien Signifikanzen Steuerkraftkopfquote 2017

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs

hs

hs

K

N

S

Steuerkraftkopfquote in Kategorien Signifikanzen Kommunalsteuer absolut

V

G

Heinz P. Wassermann

127

Signifikanzen

hs-

hs

hs

s

Durchschnittsgehalt 2017 absolut

F

V

hs

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs-

hs

hs

hs

Abweichung vom Durchschnittsgehalt absolut

F

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs-

hs

hs

hs S

Abweichung vom Durchschnittsgehalt Kategorien F

V

G

K

N

Signifikanzen

s

hs

hs

hs

hs

s

Gini-­Koeffizient

F

V

G

K

N

Signifikanzen

hs-

hs-

hs

hs

hs

Tabelle 8: Signifikanztabelle Ökonomische Indikatoren.

Alles in allem wurden 54 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 33 (hoch) signi­fikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge belegbar, das sind 61,1 %. Die für 2018 erhobene Arbeitslosenrate auf kommunaler Ebene korreliert hoch signi­ fikant negativ mit dem jeweiligen Ergebnis der ÖVP und hoch signifikant positiv mit denen der FPÖ und der KPÖ.82 Je höher sie ausgeprägt ist, umso schlechter schneidet die Volkspartei ab, für die zwei anderen Parteien gilt das Gegenteil. Die für 2017 ausgewiesene Steuerkraftkopfquote pro Gemeinde korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Ergebnis der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit den jeweiligen Ergebnissen von Grünen, Kommunisten und Neos.83 Je höher sie in absoluten Zahlen ist, umso schlechter schneidet die ÖVP und umso besser schneiden die drei anderen Parteien ab. Die für 2017 pro Kopf errechnete Kommunalsteuer korreliert hoch signifikant negativ mit den jeweiligen Gemeindeergebnissen der Volkspartei – für Grüne, Kommunisten und Neos gilt das Gegenteil, bei den Sozialdemokraten ist der Zusammenhang signifikant.84 Je höher dieser Wert ausgeprägt ist, umso schlechter ist das Ergebnis der Volkspartei – bei den vier anderen Parteien ist das Gegenteil der Fall. Das Durchschnittsbruttogehalt 2017 von unselbstständig Beschäftigten korreliert einerseits hoch signifikant negativ mit den kommunalen Ergebnissen von ÖVP und FPÖ und andererseits hoch signifikant positiv mit denen von Grünen, KPÖ und Neos.85 Je geringer ­dieses ist, umso besser schneiden VP und Freiheitliche ab und umso schlechter sind die Ergebnisse der drei anderen Parteien. Die durchschnittlichen kommunalen Abweichungen der Bruttogehälter vom Landesdurchschnitt in absoluten Zahlen korrelieren hoch signifikant negativ mit den Ergebnissen der Freiheitlichen und der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen der vier anderen Parteien.86 Je höher die jeweilige Abweichung ­ausgeprägt

128

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

ist, umso schlechter schneiden FPÖ und ÖVP einerseits und umso besser Grüne, KPÖ und Neos ab. Wenig überraschend zeigt die Kategorisierung ­zwischen unter- und überdurchschnittlichen Bruttogehältern ein über weite Strecken identes Bild. In Gemeinden, die unter dem Landesdurchschnitt liegen, sind die Ergebnisse der ÖVP hoch, die der FPÖ signifikant besser als in Gemeinden mit überdurchschnittlichen Bruttobezügen. Bei Grünen, KPÖ und Neos verhält es sich spiegelverkehrt zur Volkspartei, bei der SPÖ spiegelverkehrt zur FPÖ.87 Der Gini-­Koeffizient korreliert hoch signifikant negativ mit den Kommunalergebnissen von FPÖ und ÖVP sowie hoch signifikant positiv mit denen von Grünen, Kommunisten und Neos.88 Je stärker er ausgeprägt ist, umso schlechter schneiden die Erstgenannten ab – für die drei anderen Parteien gilt das Gegenteil.

Zusammenfassung In einem ersten Schritt werden die Prozentwerte an errechneten (hoch) signifikanten Unterschieden bzw. Zusammenhängen in der folgenden Tabelle ediert. Bildung

85,5 %

Bevölkerungsstruktur

84,8 %

Stellung im Beruf

72,2 %

Wirtschaftssektoren

72,2 %

Urbanisierungsgrad

65,4 %

Ökonomische Indikatoren

61,1 %

Wahlberechtigte/Wahlbeteiligung

58,3 %

Migration und Flüchtlinge

45,8 %

Tabelle 9: Prozentanteile an (Hoch-)Signifikanzen.

Außer beim Bereich Migration und Flüchtlinge liegt der Prozentanteil an errechneten (Hoch-)Signifikanzen (teilweise weit) jenseits der 50-Prozentmarke, wobei die Faktoren Bevölkerungsstruktur und Bildung auf der Basis von (hoch) signifikanten Unterschieden bzw. Zusammenhängen extrem stark „laden“. Keine Signifikanzen sind für den Vergleich ­zwischen regionalen Zentren und Außenzonen von Zentren sowie Arbeitslosigkeit und Steuerkraftkopfquote jeweils in Kategorien feststellbar. In der folgenden Tabelle werden die (polarisierten) parteipolitischen Zuordnungen der (Hoch-)Signifikanzen ediert.

Heinz P. Wassermann

129

Wahlberechtigte absolut

V

G

K

N

Wahlberechtigte in Prozent

V

G

K

N

Wahlbeteiligung in Prozent

V

G

K

N

Wahlbeteiligung Ppd

F

F

Bevölkerungsveränderung Ppd

V

S

F

G

K

N

Bevölkerungsveränderung Kategorien

V

S

F

G

K

N

G

K

N

S

F

G

N

V

F

G

N

V

Bevölkerungsstand 2019

V

Bevölkerungsanteil bis 19

K

Bevölkerungsanteil 20 bis 64

S

Bevölkerungsanteil 65+

K

F

G

N

V

Sexualproportion allgemein

V

G

K

N

S

Sexualproportion allgemein Kategorien V

G

K

N

S

Sexualproportion 19 bis 50

S

Sexualproportion 19 bis 50 Kategorien

F

Durchschnittsalter

F

S

G G

N

V

N N

K

S

Migrantenanteil allgemein

V

G

K

N

S

EU Migranten

V

G

K

N

S

Sonstige Migranten

V

G

K

N

S

G

K

N

Flüchtlinge GVS ja/nein

V

Flüchtlinge GVS 2018/19 Kategorien

V

Flüchtlingsanteil in Prozent

V

Urbanisierungsgrad

S

K G

Urbanisierungsgrad Urbanisierungsgrad

130

K G

V

N

V

K

N

G

K

N

Urbanisierungsgrad

V

S

G

K

N

Urbanisierungsgrad

K

S

G

N

V

S

G

Urbanisierungsgrad

K

Urbanisierungsgrad

V

Urbanisierungsgrad

V

G

N

V

K

S

K

N

Urbanisierungsgrad

V

G

K

N

Stadt- Landunterschied

V

G

K

N

S

Pendlerbilanz

V

G

K

N

S

Pflichtschule alle

F

V

G

K

N

Pflichtschule Wahlberechtigte

F

V

G

K

N

Lehre/BMS alle

V

S

G

K

N

Lehre/BMS Wahlberechtigte

S

G

K

N

Matura alle

F

V

G

K

N

Matura Wahlberechtigte

F

V

G

K

N

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

Hochschule alle

F

V

S

G

K

N

Hochschule Wahlberechtigte

F

V

S

G

K

N

Arbeiter alle

S

G

K

N

Arbeiter Wahlberechtigte

S

G

K

N

Angestellte alle

V

G

K

N

Angestellte Wahlberechtigte

V

G

K

N

Selbstständige alle

F

Selbstständige Wahlberechtigte

V

Primärer Sektor

V

V

G G

K

N

S

G

K

S

K

N

S

Sekundärer Sektor

S

G

K

N

Tertiärer Sektor

V

G

K

N

Arbeitslosenrate 2018

V

F

K

G

K

N

G

K

N

Arbeitslosigkeit in Kategorien Steuerkraftkopfquote 2017

V

Steuerkraftkopfquote in Kategorien Kommunalabgabe absolut

V

S

Durchschnittsgehalt 2017 absolut

V

F

G

K

N

Abweichung vom Durchschnittsgehalt absolut

V

F

G

K

N

Abweichung vom Durchschnittsgehalt Kategorien

V

F

G

K

N

Gini-­Koeffizient

V

F

G

K

N

S

Tabelle 10: Zuordnung der (Hoch-)Signifikanzen zu den Parteien.

Von den insgesamt 251 errechneten (Hoch-) Signifikanzen entfallen 51 (20,3 %) auf die KPÖ, jeweils 50 auf Grüne und Neos (19,9 %), 48 auf die ÖVP (19,1 %), 31 (12,4 %) auf die SPÖ und 21 (8,4 %) auf die FPÖ . Somit polarisieren KPÖ, Grüne, Neos und Volkspartei massiv, SPÖ und FPÖ kaum bis nicht. Das bedeutet aber auch, dass die vier erstgenannten Parteien über klare Wählersegmente verfügen, in denen sie – in Abhängigkeit der Korrelationen bzw. der errechneten Mittelwerteunterschiede – punkten können (oder eben auch nicht). 35 (bzw. ob einer Doppelbesetzung 3689) der insgesamt 59 eben edierten Variablen (59,3 % bzw. 61 %) zeigen eine parteipolitische Monopolisierung. Das bedeutet, dass (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge ausschließlich für diese Partei nachweisbar sind bzw. dass eine (in einem Fall zwei) Partei(en) – in polarisierender Abgrenzung zu den anderen – einen Pol „exklusiv“ besetzt/besetzen. Hier zeigt sich eine massive Dominanz der ÖVP , die in 72,2 % der „Fälle“ eine derartige Monopolstellung aufweist und SPÖ (19,4 %), FPÖ (5,6 %) und KPÖ (2,8 %) deutlich distanziert.90 Heinz P. Wassermann

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Darüber hinaus verdeutlicht die eben edierte Tabelle auch ein Dilemma von Grünen, Kommunisten, Neos (und teilweise Sozialdemokraten): Sie sind als „politische Drillinge“ (bzw. als „politisches Kleeblatt“) über weite Strecken in ein und demselben Milieu verankert. Abschließend wird noch das allgemeine Maß an Polarisierung diskutiert, die auf den folgenden Zuordnungen basiert: 0 = keine Polarisierung, 1 – 2 = schwache Polarisierung, 3 – 4 = mittlere Polarisierung und 5 – 6 = starke Polarisierung. 52,5 % sind der Kategorie „starke“ und weitere 35,6 % der Kategorie „mittlere“ Polarisierung zuzuordnen. Die errechneten 52,5 % deuten darauf hin, dass entlang der untersuchten Parameter von einer höchst (und rechnet man die Kategorie „mittlere“ Polarisierung hinzu, sind es knapp an die 90 %) bzw. einer ziemlich stark polarisierten Wählerschaft für die Landtagswahl 2019 zu sprechen ist.

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Sittinger, Ernst: Späte Genugtuung für den Geduldigen. In: Kleine Zeitung vom 25. November 2019. Patterer, Hubert: Die alte steirische Ordnung. In: Kleine Zeitung vom 25. November 2019. „Voves hatte den Drohungen Schützenhöfers geglaubt, die Bundes-­ÖVP könnte versuchen, in der Steiermark hinterrücks eine schwarz-­blaue Koalition zu installieren. Voves dürfte die reale Gefahr aber maßlos überschätzt haben. Einer aus der Runde jener ÖVP-Politiker, die in ­diesem vermeintlichen schwarzen ‚Umsturz‘ involviert waren, meinte kürzlich in einem STANDARD-Gespräch, man habe lediglich ‚von draußen halt ein wenig Druck aufgebaut, das übliche politische Spiel halt‘. Nichts wirklich Ernstes. Ein Spiel, das aber selbst Schützenhöfer nicht geschmeckt hatte.“ Müller, Walter: SPÖ hofft, dass sich Schützenhöfer verrechnet hat. In: Der Standard vom 29. Oktober 2019. Vgl. allgemein: Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark von 1945 bis heute. Hg. v. Joseph F. Desput. Wien [u. a.] 2004; Karner, Stefan: Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur. Graz [u. a.] 2000. S. 315 – 550. Wie wenig die sozialdemokratische Mehrheit und somit vice versa die ÖVP-Hegemonie im „kollektiven Gedächtnis“ verankert war, verdeutlicht eine „market“-Umfrage (Feldforschung Ende Jänner 2019) im Auftrag des „Standard“ (vgl. Seidl, Conrad: Umfrage: ÖVP dominiert steirische Politik. In: Der Standard vom 4. Februar 2019). Auf die Frage nach der stimmenstärksten Partei im Landtag antworteten 58 % mit ÖVP, 24 % mit SPÖ (und 3 % mit FPÖ). Aus Sicht der Sozialdemokraten fast schon peinlich ist der Umstand, dass unter ihren Präferenten 50 % die ÖVP und nur 43 % die SPÖ als stimmenstärkste Partei im Landtag sahen. Market: Umfrage P.MA84 3. 1902.P2. O. O. [Linz] o. J. [2019]. Die Umfrage wurde dem Verfasser freundlicherweise von Conrad Seidl („Der Standard“) zur Verfügung gestellt. Zur Landtagswahl 2005 vgl. Wendezeit. Monitoring des steirischen Landtagswahlkampfes 2005. Hg. v. Gabriele Russ und Heinz P. Wassermann. Graz 2006 (= EDITION FH JOANNEUM, Schriften­ reihe Medien und Design, Bd. 1) zu den steirischen Wahlen 2015 vgl. Urnengänge. Analysen der steirischen Gemeinde- und Landtagswahlen 2015. Hg. v. Heinz P. Wassermann. Graz 2016 (= Studien zu Medien und Gesellschaft, Bd. 3) sowie ders.: Von weggebrochenen Hochburgen und zerbröckelnden Parteien. Einige statistische Hinweise zu den steirischen Gemeinde- und

„Die Schmach von 2005 ist getilgt“

L­ andtagswahlen 2015. In: Steirisches Jahrbuch für Politik 2015. Hg. v. Beatrix Karl [u. a.]. Wien [u. a.] 2016. S. 177 – 201. 6 Die auf Gemeindeebene bezogenen Daten basieren auf einem Auftragsprojekt von „Kleine Zeitung“ und ORF Steiermark. An dieser Stelle darf sich der Verfasser bei Gerhard Koch und ­Wolfgang Schaller (ORF Steiermark), Hubert Patterer und Ernst Sittinger (Kleine Zeitung) sowie beim Datenteam Judith Brossmann, Anna Eisner-­Kollmann, Tabea Hänsel, Alina Neumann, Sonja Radkohl und Philipp Trummer herzlich bedanken. Besonderer Dank gilt Josef Holzer (Amt der Steiermärkischen Landesregierung/Referat für Statistik und Geoinformation) für die gewohnt kollegiale Überlassung bzw. Recherche der Gemeindedaten. Für weitere Datensätze gilt der Dank des Verfassers Matthias Schnetzer, AK Wien. 7 Die jeweiligen Ergebnisse unter NN: LTW – historischer Rückblick. Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/11680452/74837281/. 8 Vgl. NN: Land Vorarlberg. Endgültiges amtliches Endergebnis. Im Internet: https://apps.vorarlberg.at/wahlen/wahl/LT?id=LT_2019-10-13; NN: Landtagswahl am 22. April 2018. Bundesland Salzburg, Stimmen. Im Internet: https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html; NN: Kärnten gesamt – endgültiges Ergebnis. 132 von 132 Gemeinden wurden ausgezählt. Im Internet: https://www.ktn.gv.at/wahlen/lt2018/; NN: Landtagswahl 2018 Landesergebnis. Im Internet: https://wahlen.tirol.gv.at/landtagswahl_2018/index.html; NN: Land Niederösterreich. Im Internet: http://www.noe.gv.at/wahlen/L20181/Index.html; NN: Wien Gesamt Gemeinderatswahl 2015. Im Internet: https://www.wien.gv.at/wahl/NET/GR151/GR151-109.htm; NN: Wahlen – Landtagswahl. Im Internet: https://www.land-­oberoesterreich.gv.at/120629.htm; NN: Landtagswahl 2020 Land Burgenland. Im Internet: https://wahl.bgld.gv.at/wahlen/lt20200126x.nsf (alle eingesehen am 28. Jänner 2020). 9 Die Wahlbeteiligung (63,5 %) lag um 4,4 Prozentpunkte unter der bei der Landtagswahl 2015, um 16,3 Prozentpunkte unter der bei der Nationalratswahl 2017 und um 11,3 Prozentpunkte unter der bei der Nationalratswahl von September 2019. Die ausgegebenen Wahlkarten, die in die einzelnen Berechnungen nicht einfließen (können), verzeichneten im November einen neuen Höchststand. Vgl. NN : Wahl 19: So viele Wahlkarten wie noch nie. Im Internet: https://steiermark.orf.at/­ stories/3022918/ (eingesehen am 3. Jänner 2020). 10 Aufgrund der numerisch geringen Besetzung der Kategorie „gestiegene Wahlbeteiligung“ werden für diese keine statistischen Tests durchgeführt. 11 Vgl. Wassermann, Heinz P.: „ÖVP-Jubel im Steirerland“ oder: politisch polarisierte Soziotope. In: Steirisches Jahrbuch für Politik 2017. Hg. v. Beatrix Karl [u. a.]. Wien [u. a.] 2018. S. 129 – 147. 12 F=FPÖ, G=Grüne; K=KPÖ, N=Neos, S=SPÖ, V=ÖVP. 13 Signifikant = p