Steirisches Jahrbuch für Politik 2020 [1 ed.]
 9783205214779, 9783205214755

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Steirisches Jahrbuch für Politik 2020

Herausgegeben von Beatrix Karl Wolfgang Mantl Klaus Poier Manfred Prisching Anita Ziegerhofer

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. & Co. KG, Zeltgasse 1/Top 6a, A-1080 Wien (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtredaktion: Klaus Poier, Graz Veröffentlicht mit Unterstützung des Vereins für Politik und Zeitgeschichte sowie des Landtagklubs der Steirischen Volkspartei Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21477-9

Vorwort

Die vorliegende Ausgabe des Steirischen Jahrbuchs für Politik steht – wie so vieles seit dem Jahresanfang 2020 – im ­Zeichen der Corona-Pandemie. Am grundsätzlichen Leitmotiv ­dieses mittlerweile etablierten Standardwerks der Dokumentation und Analyse des steirischen Zeitgeschehens, eingebettet in den größeren österreichischen, europäischen und internationalen Zusammenhang, hat sich freilich auch diesmal nichts geändert. Ziel der Herausgeberinnen und Herausgeber ist es, mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik eine umfassende und pluralistische Darstellung der wesentlichen Entwicklungen der Politik und Gesellschaft in der Steiermark zu bieten, wobei die Kombination von authentischen Darlegungen und zeitnahen, kontextbezogenen Kommentierungen einen vertieften Einblick ermöglichen soll. Das Steirische Jahrbuch für Politik 2020 ist in sechs Kapitel gegliedert. Zu Beginn stehen unter der traditionellen Rubrik „Perspektiven der Zeit“ zwei grundsätzliche Beiträge. Manfred Prisching geht unter dem Motto „Maß, Mitte, Wut“ dem Zustand unserer Gesellschaft(en) nach, und dabei vor allem auch der Frage, wie man gedeihliches Zusammenleben gewährleisten kann. Aus Anlass 75 Jahre Steirische Volkspartei folgt ein Beitrag zu den Jahren 2015 bis 2020, den ich als Ergänzung zur bereits publizierten Parteigeschichte (1945 bis 2015) anlässlich ­dieses Jubiläums im Mai 2020 verfasste. Das zweite Kapitel „Steiermark und Österreich live“ ist – außerhalb der Schwerpunktkapitel – wieder wichtigen Ereignissen bzw. Entwicklungen und ihrer Analyse der österreichischen und steirischen Politik bzw. Gesellschaft im abgelaufenen Jahr gewidmet. Zuerst stehen Beiträge zum 100-jährigen Verfassungsjubiläum in Österreich sowie zu 100 Jahre Arbeiterkammer. Es folgen Beiträge zu den steirischen Gemeinderatswahlen, zur Wiener Gemeinderats- bzw. Landtagswahl sowie zur Landtagswahl im Burgenland. Weitere Beiträge widmen sich dem Terroranschlag in Wien, den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zum Kopftuchverbot in Volksschulen sowie zur Sterbehilfe, dem Umgang mit personenbezogenen Straßennamen in Graz, Medienkooperationen bzw. -förderungen in der Steiermark sowie der Zukunft der Zeitung im digitalen Zeitalter. Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen und Folgen sind Thema des dritten Kapitels, in dem sich Beiträge von Regierungsmitgliedern sowie Spitzenfunktionären der Parlamentsparteien finden. Alle acht steirischen Regierungsmitglieder sowie die Spitzen der Oppositionsparteien (seitens der FPÖ wurde der Einladung, einen Beitrag beizusteuern, leider nicht Vorwort

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entsprochen) analysieren in Kapitel vier die Auswirkungen und Folgen der CoronaPandemie auf die Steiermark. Kapitel fünf ist den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft gewidmet. Dazu finden sich Beiträge von Repräsentanten der Wirtschaftskammer, Gewerkschaft, Industriellenvereinigung und des Arbeitsmarktservice. Weitere Beiträge thematisieren die sozialen Auswirkungen der Pandemie, die Auswirkungen im Bereich Universitäten, Hochschulen und Schule, Herausforderungen für die Rechtsordnung und die politische Kommunikation sowie die Auswirkungen der Pandemie auf Sport und Kultur. Das abschließende sechste Kapitel des vorliegenden Jahrbuchs ist wieder einem „Weltpanorama“ gewidmet. Beiträge finden sich zur Präsidentschaftswahl und zu den aktuellen Entwicklungen in den USA, zum Vereinigten Königreich nach dem Brexit und in der Pandemie, zu einer Landkarte der Ideen- und Impulsgeber Europas sowie zu 25 Jahre Mitgliedschaft Österreichs und der Steiermark in der EU. Jahresrückblick, Bildteil sowie Zusammenstellung der Wahlergebnisse seit 1945 finden sich auch im Anhang des Jahrbuchs 2020. Großer Dank der Herausgeberinnen und Herausgeber gilt den 54 Autorinnen und Autoren ­dieses Jahrbuchs für ihre facettenreichen und spannenden Beiträge. Für die organisatorische und redaktionelle Mitarbeit danken wir ganz besonders Gudrun ­Bergmayer, Herta Miessl, Mag.a Antonia Csuk, Mag.a Lisa Gutwenger, Mag. Manuel P. Neubauer, Mag.a ­Sandra Saywald-Wedl sowie Johann Trummer. Ebenso gilt unser Dank dem Böhlau Verlag, namentlich Mag.a Eva Buchberger sowie Mag.a Bettina Waringer für die Herstellung. Mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik 2020 können wir – durch die Corona-Pandemie zeitlich erneut etwas verspätet – wieder eine umfassende pluralistische Darstellung und Analyse der politischen und zeithistorischen Entwicklung in der Steiermark bzw. der Rahmenbedingungen vorlegen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind stolz auf das qualitativ hochwertige Werk und hoffen wie stets auf entsprechende Resonanz. Klaus Poier, Gesamtredakteur und Mitherausgeber

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Vorwort

Inhalt Steirisches Jahrbuch für Politik 2020 Vorwort  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Perspektiven der Zeit Manfred Prisching Maß, Mitte, Wut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Klaus Poier 2015 – 2020. Rückkehr zur Normalität?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Steiermark und Österreich live Christoph Grabenwarter Die zwei Verfassungen der Steiermark  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Helmut Konrad 100 Jahre danach: Das politische Ringen um eine Verfassung  .. . . . . . . . . . . . . .  Werner Anzenberger 100 Jahre Arbeiterkammer – ein Verdienst?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Wolfgang Wlattnig Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Heinz P. Wassermann Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Martin Dolezal Die Wiener Gemeinderatswahl 2020  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Thomas Orovits Rechtsausleger der SPÖ gewinnt mit linken Themen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Christina Traar Wie ein Terroranschlag die Verwundbarkeit des Innenministeriums offenbarte  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Hedwig Unger Der VfGH auf dem Weg zum Gesetzgeber?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Barbara Stelzl-Marx Asphaltierte Erinnerungskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Peter Salhofer/Heinz P. Wassermann „Steirischer Brauch“!?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Inhalt

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Hubert Patterer Den Wandlungsfähigen gehört die Zukunft  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen und Folgen für Österreich Sebastian Kurz Aus Verantwortung für Österreich  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Werner Kogler Große Transformation statt großer Depression – Lernen aus der Coronakrise  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Rudolf Anschober Dynamische Gesundheitspolitik im Lichte einer Jahrhundert-Pandemie  . . . .  Karl Nehammer Für ein sicheres Österreich – zu jeder Zeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Jörg Leichtfried Unser neuer Alltag und das Leben nach der Pandemie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Herbert Kickl Pandemiebewältigung als Prüfstein für den freiheitlichen Rechtsstaat  .. . . . .  Beate Meinl-Reisinger Schulterschluss für Österreich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen und Folgen für die Steiermark Hermann Schützenhöfer Gestärkt aus der Krise kommen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Anton Lang Gemeinsam diese schwierige Zeit meistern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Juliane Bogner-Strauß Herausforderungen im Bereich Gesundheit, Pflege, Bildung und Familien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Christopher Drexler Kultur und Sport – hauptbetroffene Hoffnungsbringer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Barbara Eibinger-Miedl Die steirische Wirtschaft steht auf einem guten Fundament!  . . . . . . . . . . . . . . .  Doris Kampus Corona und die sozialen Folgen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Ursula Lackner Klimaschutz geht uns alle an  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Inhalt

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Johann Seitinger Mehr Bewusstsein für bisher Selbstverständliches!  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Sandra Krautwaschl Krisenföderalismus oder Föderalismuskrise?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Claudia Klimt-Weithaler Corona: Wer soll das bezahlen?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Nikolaus Swatek Gelebte Verantwortung: Opposition in Zeiten der Pandemie  .. . . . . . . . . . . . . . . 

231 235 241 245

Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft Harald Mahrer Die Auswirkungen der Corona-Pandemie für die österreichische Wirtschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Wolfgang Katzian Die Auswirkungen der Corona-Pandemie aus Sicht der Gewerkschaft  . . . . . .  Stefan Stolitzka Die Industrie kann. Die Rahmenbedingungen sind allerdings entscheidend.  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Josef Herk Zur Rolle der Wirtschaftskammer bei der Bewältigung der Krise  .. . . . . . . . . . .  Karl-Heinz Snobe Turbulenzen am Arbeitsmarkt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Franz Küberl Corona-Pandemie und sozialer Zusammenhalt  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Sabine A. Haring-Mosbacher/Karin Scaria-Braunstein „Wenn das Leben zu Hause bleibt.“  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Martin F. Polaschek Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Universitäten, Wissenschaft und Forschung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Beatrix Karl Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Hochschulen  .. . . . . . . . . . . . .  Elisabeth Meixner Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Georg Eisenberger Unser (rechtliches) Coronawissen zusammengefasst  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Heri Hahn Politische Kommunikation in der/nach der Pandemie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Inhalt

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Christian Jauk Fußball ist Begegnung – die Folgen der Corona-Pandemie für den Fußball  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  325 Bernhard Rinner Von dunklen Schwingen und goldenen Schwüren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  329 Welt-Panorama Reinhard Heinisch Systemkrise in den USA?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Franz-Stefan Gady Mein Amerika  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Melanie Sully Das Vereinigte Königreich nach dem Brexit und in der Pandemie  . . . . . . . . . . .  Christoph Robinson/Harald Katzmair Eine Landkarte der Ideen- und Impulsgeber Europas  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Anita Ziegerhofer 25 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs – 25 Jahre EU-Mitgliedschaft der Steiermark  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Anhang Bildteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  367 Klaus Hatzl Jahreschronik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  375 Autorinnen und Autoren 2020  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  419

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Inhalt

Perspektiven der Zeit

MANFRED PRISCHING

Maß, Mitte, Wut

In den letzten zwei Jahrzehnten hätten wir lebensweltlich und demokratiepolitisch etwas lernen können. Wir haben es nicht getan. Die Epidemie hat es offenbar werden lassen. Reiche und sichere Gesellschaften entwickeln eine spezifische Abneigung gegen die eigene Lernfähigkeit – wo doch alles so gut funktioniert. Man kann auch sagen: Sie driften in Lethargie oder Nachlässigkeit. Das ist die These von der Selbstverständlichung: Diese Gesellschaften transformieren Errungenschaften in Selbstverständlichkeiten – sodass ihre Bürgerinnen und Bürger meinen, dass es alle Dinge, die da sind, ohnehin gibt, und dass einem nichts passieren kann. Sie interpretieren ihren Reichtum als Mindestberechtigungsniveau – sodass sich das zufriedene Gefühl verbreitet hat, dass man hinter ­dieses nicht zurückfallen kann. Glückliche Geschenke und Zufälle werden zu grundlegenden Ansprüchen umformuliert. Die großen Fragen der Menschheit („Freiheit“) können sie sich nur noch als konsumistischen Kleinkram („Urlaub“) denken. Kleine Unbequemlichkeiten werden als unerträgliche Desaster verstanden. Kurz gesagt: Westliche Wohlstandsgesellschaften lösen sich von der Wirklichkeit. Sie nehmen nicht mehr wahr, was Lebensmöglichkeiten und Gefährdungen, was Zufälle und Leistungen, was Krisen- und Kollapsszenarien sein können.1 Wenn sie über Optionen nachdenken, dann nur über ­solche „nach oben“ hin – es kann nur besser werden; nicht über ­solche „nach unten“ – ­welche Einbußen könnten uns drohen und wie müssen wir handeln, um sie zu vermeiden? Es ergibt sich die Frage: Hat die Wirklichkeitsablösung Folgen? Können diese Gesellschaften bleiben, was sie sind, wenn sie ihre Lebensbedingtheiten nicht mehr erkennen? Kann die Demokratie diese Befindlichkeiten überleben? Wenn an den Rändern Europas Kriege lodern oder drohen, wenn eine globale Machtverschiebung zu autoritären oder totalitären Regimen im Gange ist, wenn selbst die USA , diese „Ikone der Demokratie“, gerade noch an Putsch und Bürgerkrieg vorbeischlittern, dann sollten sich die vergleichsweise jungen europäischen Demokratien nicht sicher sein, dass nicht auch ihre Verfassungen ins Wanken gebracht werden können. Demokratien könnten ein Wimpernschlag der Geschichte gewesen sein. Freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Gesellschaften sind keineswegs von jener Garantie Manfred Prisching

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geschützt, die man in (mittlerweile als naiv eingeschätzter) Aufklärungsfortschrittsgewissheit als „Ende der Geschichte“ bezeichnet hat.2 Da gibt es keinen Ratchet-Effekt, demzufolge es nur immer mehr und nicht weniger Demokratie geben kann. Schon Aristoteles oder Polybius haben sich die Entwicklung von Verfassungsformen eher als zyklischen Wandel vorgestellt und in der Tat präsentiert uns die historische Abfolge von Demokratien keinen linear-irreversiblen Prozess. Verschiedentlich wird neuerdings ja auch offen für eine „illiberale Demokratie“ geworben, die es in Wahrheit nicht gibt.3 Die Signale sollte man wahrnehmen. Freilich gibt es auch die Überempfindlichkeit: Jeder Protest, jeder Verrückte, jedes Knirschen wird als Warnzeichen für den Kollaps genommen. Doch es sind nicht immer gleich die großen Umstürze, die aus dem Nichts kommen und Gesellschaften zerstören; häufig lassen sich unterschiedliche Impulse erkennen, die man erst ­später als Warnzeichen zu deuten imstande ist. Es gibt auch ein einlullendes Sicherheitsgefühl, dem zufolge Menschen, die in Sicherheit aufgewachsen sind, verlernt haben, Gefährdungen wahrzunehmen. Verhaltensweisen, die in einer robusten institutionellen Situation tolerable Kuriositäten darstellen, können in einer prekären Situation einen gefährlichen Drift weg von Demokratie und Wohlstand einleiten. Schließlich findet sich jener verstandesbefreite Mob, der die freiheitlichen Spielräume nutzt, um sie zu beseitigen, nicht nur auf den Stufen des Kapitols, sondern auch in europäischen Ländern. Es sind Extremismen, die nicht plötzlich entstehen, sondern in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind; und sie werden von ganz unterschiedlichen Impulsen vorangetrieben, die schwierig zu entziffern sind. Es müssen auf den Bannern nicht immer die alten Symbole der Arbeit oder der Runen sein, die als deutliche Drohungen aus der Geschichte ragen, es können vielmehr auch ganz andere Symbolisierungen und Dekorationen Verwendung finden. Die Hemden, die von den kommenden Totalitären getragen werden, sind nicht braun, da mag es sich auch um Hawaii-Hemden oder andere halblustige Faschingsdekorationen handeln. Deshalb gibt es auch einen gleitenden Übergang von den Extremismen in die politische Mitte; zu Menschen, die das eine oder andere Argument teilen können, die ihre ansonsten krausen privaten Vorstellungen politisieren, die einfach auf vermeintlich harmlose Weise ihr Unbehagen äußern – und die, wie man früher gesagt hätte, als „nützliche Idioten“ mit jenen mitlaufen, die im Unterschied zu ihnen besser wissen, was sie wollen. Timothy Snyder vermerkt: In den letzten Jahrzehnten schienen die scheinbar fernen Traumata des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus „in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Wir erlaubten uns, die Politik der Unausweichlichkeit zu akzeptieren, das Gefühl, Geschichte könne sich nur in eine Richtung bewegen: in Richtung liberaler Demokratie. Als der Kommunismus in Osteuropa in den Jahren 1989 bis 1991 zu Ende ging, verinnerlichten wir den Mythos von einem ‚Ende der Geschichte‘. Damit schwächten wir unsere Abwehrkräfte, schränkten unsere Fantasie ein und ebneten genau den Regimen den Weg, die, wie wir uns einredeten, niemals zurückkehren würden.“ 4 14

Maß, Mitte, Wut

Die These von Maß und Mitte Gegen die Extremismen, die eine jeweils andere, aber gute Zukunft propagieren, ist eine Gegenthese aufzubieten, die jahrtausendelang politik- und lebensweltphilosophische Zustimmung gefunden hat: dass es einer Geisteshaltung des Maßes, der Mäßigung, der Mitte bedarf, um ein gedeihliches Zusammenleben zu gewährleisten. Der Dogmatismus religiöser Eiferer, die Überheblichkeit nationalistischer Egoisten, die Unversöhnlichkeit ideologischer Scharfmacher, die Unerbittlichkeit visionärer Zukunftspropheten – das führt in Konflikt und Kollision, in Blut und Gewalt, in Unfreiheit und Vernichtung. Jeder flüchtige Blick in die Geschichte lehrt dies. Von Aristoteles bis Montesquieu, von Kant bis Popper finden wir Beschreibungen einer Liberalität, die eine Bevölkerungsmehrheit zur Voraussetzung hat, die Mitte und Maß denken und leben muss – dann hält man auch ein paar Verrückte und Extremisten an den Rändern aus. Die neuen, allenthalben wabernden Extremismen sind im konventionellen LinksRechts-Schema schlecht zu erfassen; manchmal verwendet man den Begriff eines „Extremismus der Mitte“, aber auch er trifft es nicht gut. Es sind Gruppierungen, die (paradoxerweise) gleichermaßen totalitär wie anarchistisch sind, die oft herkömmlich linke und herkömmlich rechte Ideen miteinander kombinieren. So finden sich radikale Ideen und Argumente, die man ideengeschichtlich dem rechten oder dem linken Rand des ideologischen Spektrums zugerechnet hat, in trauter Gemeinsamkeit – wie es die Totalitarismustheorie schon seit langem gesagt hat.5 Stalin und Hitler waren einander ähnlich, und amerikanische Antifa- und Suprematiegruppen mögen in ihren ­Themen gegensätzlich sein, in ihren weltanschaulichen Paradigmen und im Grundmodell ihrer politischen Logik sind sie beinahe austauschbar.6

Wutpotenziale Sozialwissenschaftler neigen dazu, in erster Linie an sozioökonomische Erklärungen zu denken, um extremistische und populistische Bewegungen zu erklären. Sie verweisen auf Einkommensverlust, Ausschließung, Verarmung. Das wären klassische Interessenkonflikte: „Klassenkämpfe“ – unter neuen globalisierten Bedingungen. Aber man findet sozial gestreute und weltanschaulich konträre Agglomerationen, die sich in der „Logik der Tat“ vereinen. Gerade am amerikanischen Beispiel wird die Diversität der Gruppen, die sich hinter der egozentrischen Gier Trump’scher Art versammelt haben, sichtbar. Es sind klassische Rassisten und Suprematisten, die durch die „schrecklichen“ ObamaJahre aufgestachelt worden sind; Evangelikale, die so viel Einfluss ausüben, dass es die republikanischen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2020 nicht wagten, die These in Frage zu stellen, dass die Erde in sieben Tagen erschaffen worden sei; es sind die „Deplorables“ aus den ehemaligen Industriegebieten, die sich zwar so fühlen, wie es Manfred Prisching

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der Begriff beschreibt, die aber auf keinen Fall so genannt werden möchten; es sind biedere Bewohner suburbaner Siedlungen, die von einer um sich greifenden Drogenszene geschreckt werden; es sind die Schwerbewaffneten aus ländlichen Gebieten, die sich davor ängstigen, dass man ihnen ihre Maschinengewehre wegnimmt; es sind Esoteriker, die das Virus nicht für existent halten oder mit Kamillentee kurieren wollen; es sind Mindestverdiener, denen eine öffentliche Krankenversicherung als Übergang in eine kommunistische Gesellschaft erscheint; es sind Menschen in schlechten Jobs, für die Immigranten die wesentlichen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt darstellen, sodass sie sie für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen; es sind Einwanderer, die sich geschunden haben und nicht unter den Druck der Nachrückenden geraten wollen; und es sind natürlich reiche Investoren, Unternehmer, Aktienbesitzer, die sich (nicht zu Unrecht) die Zuteilung von Steuergeschenken und eine Befreiung von allen (beispielsweise umweltpolitischen) Einschränkungen erwartet haben. Solche paradoxen Mischungsverhältnisse widersprüchlicher Interessen und Ideen sehen in Europa anders aus als in den USA, es finden sich sogar in einzelnen Ländern der Welt unterschiedliche Mixturen. Deshalb haben die Demonstrationen der Wut im Normalfall auch kein Programm, keine Vision, keinen Forderungskatalog, schließlich will jeder Teilnehmer etwas anderes, sogar Gegensätzliches. Einigkeit herrscht nur im „Anti-tum“: Man ist zornig. Man ist dagegen. Gegen alles. Deshalb muss man tiefer ansetzen, um die kräftige Ideologie des Antismus zu erklären. Es geht nicht um die Verteidigung von Religion, um das Erleben von Verarmung oder um die Gefährdung durch Kriminalität. Es handelt sich vielmehr um ein ungeordnetes Potenzial von Wut, Aggressivität und Ressentiment, welches sich in sonderbarer Gemeinsamkeit arrangiert. Aber diese Antriebskräfte können sich an beliebige ­Themen heften, und gerade diese Beliebigkeit lässt sich in einzelnen Ländern und mit dem Blick auf einzelne Bewegungen nachzeichnen. Bei den Gelbwesten, die ein halbes Jahr lang die französische Öffentlichkeit erschüttert haben, war das Thema die geplante höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe – was alle Grünen seit langem fordern. In den USA haben sich die rassistischen Weltvorstellungen verbunden mit den haltlosen Behauptungen über gestohlene Wahlen. Occupy Wall Street hatte ein klassischlinkes Programm: Kontrolle des Finanzsektors durch die Regierung, Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf die Politik, Reduzierung der sozialen Ungleichheit. Die Tea-Party-Bewegung war das Gegenstück: eine libertär-populistische Protestbewegung gegen die „kommunistische“ Wirtschaftspolitik Barack Obamas. – In vielen Ländern des Westens hat diese höchst disparate Kollektion von Anti-Haltungen mit der Pandemie ein neues Thema gefunden: Es gäbe die Epidemie gar nicht, das Virus sei eine Erfindung, jedenfalls sei das alles nicht gefährlicher als eine Grippe, die Statistiken würden gefälscht, die Experten ­seien bestochen, die Medien ­seien ohnehin im Fake-Modus unterwegs.7 Sehr häufig verbinden sich ­solche Vorstellungen mit den wohlbekannten 16

Maß, Mitte, Wut

Verschwörungstheorien 8, ob es sich um die Freimaurer oder die Juden, um Soros oder Gates, um die Vorbereitung zur Diktatur oder um neoliberale Disziplinierung, um den demografischen „Austausch“ oder die Aliens geht.9 Letztlich ist es das rein emotionale Signal einer pauschalen Zustimmungsverweigerung; Freude am Exzess, an der Überschreitung von Alltäglichkeit, Routinedurchbrechung, Pogromstimmung. Oder auch: ein bisschen Entertainment, Abenteuer, „Action“. Man gerät fast in einen Trance- oder Transzendenzzustand, mitten in der Masse 10: Ekstase, Euphorie, Flow.11 Bei den Linken hieß es seinerzeit: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Das Prinzip wurde, wie so vieles aus den linken Beständen, mittlerweile von der radikalen Rechten abgepaust. Damals wie heute geht es um das Erleben eines kleinen Stücks Selbstwirksamkeit. Man wirft sich in die Brust. Man fühlt sich stark. In Großbritannien dienen als Grundlage der Verweigerungsgeste Souveränitätsillu­ sionen. In Osteuropa sind es Nationalismen. In den USA ein erfundener Wahlbetrug. In Mittel­europa wird ein Virus zum Thema. Dem „Ende der Geschichte“ folgt eine Epoche extremistischer Zeichensysteme, die noch nicht mächtig werden, die sich aber zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung drängen: Bolschewismen und Faschismen im neuen Gewand.

Anthropologie des Zorns Um Wut und Ressentiment jenseits der konkreten, offenbar ziemlich beliebig zusammengewürfelten ­Themen zu erklären, muss man sich auf eine anthropologische Ebene begeben. Wir haben es zunächst einmal mit einer Asymmetrie ­zwischen der äußeren Komplexität der Spätmoderne und der inneren Ausstattung des Menschen zu tun, mit einer Nichtkomplementarität von Innen und Außen. A: Wie steht es mit der Außenwelt? Die Spätmoderne ist so komplex und undurchschaubar, liquide und unverlässlich, kontingent und ambivalent geworden, dass ihre Begreifbarkeit sinkt. Man wird getrieben, verliert Selbstbewusstsein, kommt sich selbst im Alltag verloren vor. Alles ist beschleunigt, flüssig, schillernd. Man fühlt sich an der Nase herumgeführt, von den Verhältnissen und ihren Repräsentanten. Gabor Steingart schreibt in seinem Ende der Normalität: „Heute leben wir in einer Welt des relativen Reichtums und der absoluten Ungewissheiten. Die Gesellschaft ist flatterhaft geworden. Das lineare Leben früherer Zeiten endet mit einem Feuerwerk von Komplexität. Es wächst die zunehmende Anfälligkeit der technischen und ökonomischen Systeme für unerwartete Schwankungen, Ausfälle und Havarien aller Art. Der Schwarze Schwan wird auf absehbare Zeit unser ständiger Begleiter sein.“ 12 Die Unfassbarkeit der Verhältnisse lässt sich dreifach begründen. A1: Da die „Verhältnisse“ abstrakte Größen sind (was ja der Grund ist, dass man sie nicht durchblickt), geschieht das, was seit Jahrtausenden geschehen ist: Erlebte Kräfte Manfred Prisching

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werden anthropomorph verstanden. Der Sturm muss ein Gott sein, ebenso die mächtige Sonne; hinter den Meereskräften muss eine gewaltige Macht stecken, auch hinter der Fruchtbarkeit, dem Tod, der Krankheit. Später sind diese Götter in eine Gestalt zusammengeflossen, aber es war immer noch eine Gottheit, die in alle diese Verhältnisse eingegriffen hat. Die spätmoderne Gesellschaft ist nun in der Tat eine ungeheure Macht geworden, weit mächtiger als die alten Götter, weil die Eingriffskompetenz der Menschheit gestiegen ist. Aber die „Verhältnisse“, in denen diese Wirkmächtigkeit zum Ausdruck kommt, sind nicht greifbar. Es geschieht einfach. Das ist rätselhaft. Da ist es verstehbarer, wenn man Machthaber, Mächte, Intriganten, Verschwörer vermutet. Es wird getan, was für primitives Denken über Jahrtausende kennzeichnend war: Kräfte werden personalisiert. Hinter allem steckt der „deep state“. Und Bill Gates. Oder Soros. Und die Chinesen. Dazu kommen die anderen Mitglieder der Verschwörung: die bestochenen Wissenschaftler und die gekauften Journalisten. Die Marionetten aus der Politik. Keine jenseitigen Götter, sondern diesseitige Verbrecher: Wut. A2: Die klassische Rationalisierungsthese kann als Ausgangspunkt dienen, um das Gefühl zu beschreiben, dass der Einzelne in einer riesigen Apparatur steckt, die alles umfasst; einem Gefüge, das jeden umklammert, in der ein jeder nur noch als Zahnrädchen vorkommt. Paradoxerweise ergänzt das Bild der Maschinerie das gegensätzliche Bild von der Liquidität aller Verhältnisse. Der Einzelne wird nicht respektiert, er ist ersetzbar, machtlos. Anonyme Marktkräfte beuteln hin. Die Vermutung von vernetzten Kräften auf der Hinterbühne würde eine Erklärung bieten für ­dieses Getriebe, das sich als Politik der Alternativlosigkeit (TINA – there is no alternative) niederschlägt. In Wahrheit gibt es die heimtückischen Akteure, aber sie bleiben unsichtbar: Wut. A3: Paradoxerweise ist diese Maschinenmetapher nur die eine Seite, denn gleichzeitig ist ­dieses „Gestell“, in dem man wehrlos gefangen steckt, liquide, pluralistisch, flüssig, flüchtig, ungreifbar. Viele werden mit dieser Welt des „fragilen Pluralismus“ – mit seinen Unfertigkeiten und Halbheiten – nicht fertig. Wenn man damit konfrontiert ist, dass alle Strukturen und Gefügtheiten, mit denen umzugehen man gewohnt war, nicht mehr gelten, klammert man sich an Fundamentalismen, an Orthodoxie, an Romantik – oder eben an Verschwörungen, durch die das Unerklärbare erklärbar wird. Wenn man das Fragile und Unbestimmte vom Tisch wischt, gewinnt man wieder (vermeintlichen) Durchblick. Dann glaubt man zu merken, wie man an der Nase herumgeführt wird: Wut. B: Die drei Erlebnisse beziehen sich auf die Komplexität der Außenwelt. Wie steht es nun mit der Innenwelt? Es hapert mit der „Innenausstattung“ der Menschen, die sich in ­diesem Ambiente behaupten sollen. B1: Die alten Orientierungen und Haltepunkte sind geschwunden, man lebt im Vakuum. Die Religion stellt keinen schützenden Baldachin mehr dar; stattdessen sind nicht Vernunft und Sittlichkeit (im Sinne der Aufklärungsideologie) im Aufstieg, ­vielmehr 18

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dringen in das Vakuum neue Dämonen ein. Die innere Ordnung geht ebenso verloren wie die äußere. Die Referenz zur inneren Ordnung ist widersprüchlich. Eine innere Ordnung, die ein solides Welt- und Wertsystem bedeutete, würde als Einschränkung erlebt und abgelehnt werden. Denn in einer Gesellschaft, die jegliche Hemmung als psychisches Problem betrachtet, geht die Idee verloren, dass „Zivilisierung“ immer Beschränkung, Domestizierung, Höflichkeit und Selbstdisziplinierung bedeutet hat – und eben nicht radikale Expressivität und Spontaneität, wie Lifestyle-Empfehlungen und Identitätsbeschreibungen nahelegen. B2: Dass sich der Verlust der inneren Orientierung auch in Milieus von Intellektuellen und Künstlern, Journalisten, Kommentatoren und Bürgerlichen vorgearbeitet hat, lässt sich daran ersehen, dass selbst „wutbürgerliche“ Äußerungen, denen man früher mangelnde Substanz oder geistige Haltlosigkeit vorgeworfen hätte, akklamiert werden.13 Sie werden als politische Äußerung missverstanden, obwohl sich damit natürlich keine Politik machen lässt. Denn Politik funktioniert nur, wenn man ebenso oft kollidiert wie kooperiert, wenn man zur notwendigen Inszenierung ebenso viel Ernsthaftigkeit walten lässt. Lebenswirklichkeit läuft meistens auf den Kompromiss, auf Maß und Mitte, hinaus, wenn es nicht krachen soll.

Imagination einer anderen Wirklichkeit Die Asymmetrie ­zwischen Innen und Außen erklärt die von den aktuellen Protestbewegungen vorgetragenen Attacken auf die Wirklichkeit. „Da draußen“ ist es unwirtlich und chaotisch, „da drinnen“ fehlen die Instrumente, um mit dieser Außenwelt fertig zu werden. Es bleibt die emotionelle Reaktion: Das alles müsste nicht so sein. Diese Wirklichkeit will man nicht. In Wahrheit sogar: Diese Wirklichkeit, auf die sich der Mainstream geeinigt hat, gibt es gar nicht, die „aufgedeckte“ Wirklichkeit ist noch viel hässlicher. Wenn man den Vorhang von der Hinterbühne hebt, wenn man hinter die Fassaden schaut, wenn man von den Gesichtern die Masken herunterreißt, – dann kommen die Fratzen zum Vorschein. Das ist die „andere Wirklichkeit“, die Fratzen-Wirklichkeit, die den Verblendeten unbekannt ist und die sich den Eingeweihten enthüllt. Um sie zur Kenntlichkeit zu bringen, muss man die professionellen Verteidiger der „angeblich wirklichen Wirklichkeit“ bekämpfen: Man muss gegen Experten und gegen Wissenschaftler, gegen Politiker und Bürokraten, gegen die Medien mit ihren Fake News, gegen „irgendwas“ oder „alles“ auftreten – und tatsächlich taucht ja das alte Vokabular wieder auf: Man muss das „System“ bekämpfen. Das ist klassisches rechts- und linksradikales Vokabular. Das „System“ steht für alles, was man nicht will. In der Unverbindlichkeit des Inhalts ist der Begriff gut brauchbar. Manfred Prisching

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Wie die Fratzen-Wirklichkeit (nach der Aufdeckung der Geheimnisse) aussieht, das weiß man einfach. Man hat es im Gefühl. Wie immer lassen sich im sektenhaften Bewusstsein alle Gegebenheiten und Ereignisse zusammenfügen. Jedes Gegenargument lässt sich eingemeinden. Aber um Argumente geht es gar nicht. Es geht um Gefühle. In den denkverwahrlosten Befindlichkeitsblasen wird das „Recht auf meine Gefühle“ zum unangreifbaren Argument erhoben. Die Beiträge von Menschen, denen man früher zugerufen hätte, sie mögen sich ein bisschen zusammenreißen, werden ernst genommen – oder zumindest gebietet es das spätmoderne Ambiente, dass man so tut, als ob man sie ernst nehme, weil man doch niemandem den Respekt verweigern oder das Recht auf seine Gefühle bestreiten darf. Das ist natürlich Unsinn, wie der israelische Philosoph Carlo Strenger in einem gediegenen Essay dargelegt hat. Er sagt: „Ich definiere zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten. Zivilisiert ist diese Verachtung unter zwei Bedingungen: Sie muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren; dies ist das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten. Deren Würde und grundlegenden Rechte müssen stets gewahrt bleiben und dürfen ihnen unter keinen Umständen abgesprochen werden. Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Dies ist das Prinzip der Menschlichkeit. Von der Geisteshaltung der Inquisition oder der iranischen Ayatollahs unterscheidet sich die zivilisierte Verachtung also insofern fundamental, als niemand aufgrund seines Glaubens, seiner Werte oder einer Meinungsäußerung zu Freiheitsentzug, Folter oder gar zum Tode verurteilt werden darf. Der Begriff bezeichnet vielmehr die Fähigkeit, Zivilisationsnormen auch gegenüber jenen aufrechtzuerhalten, deren Glaubens- und Wertsysteme man nicht akzeptiert.“ 14 In den gefühlsbestimmten Milieus, die sich der Wirklichkeit verweigern, entstehen Resonanzmöglichkeiten, die nicht sonderlich intelligente, aber skrupellose Manipulateure wie der abgetretene amerikanische Präsident (oder seine europäischen Imitate) ­nutzen. Ein Kollege schreibt mir, er sehe überhaupt keine Wut, sondern nur Politikversagen und Expertenversagen. Er hält offenbar das, was die Erstürmer im Kapitol aufgeführt haben, für einen „herrschaftsfreien Diskurs“. Aber viele ­solche wutfreien und herrschaftsfreien Diskurse, die mit ein paar Toten enden, sollten wir uns vielleicht doch nicht leisten. Die affektbefeuernden, holzschnittartigen Neo-Wirklichkeiten können nur „Himmel“ oder „Hölle“ sein. Denn es braucht Kraft und Saft, um die Gefühle zu erregen, nicht Überlegtheit und Abwägung. Die Wütenden bekämpfen ihre ­Wirklichkeit, 20

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die sie als Hölle sehen. Sie streben eine andere Wirklichkeit an, den Himmel. Maß und Mitte scheinen in Anbetracht dieser Alternativen langweilig. Aber ­zwischen Himmel und Hölle herrscht eine ziemliche Polarität. Da kann man auch nicht verhandeln. Was wäre der Kompromiss ­zwischen Himmel und Hölle?

Feinde und Sündenböcke Zusammenhalt, Wiedergewinnung von Gemeinschaft, Wir-Gefühl, Stammesdenken – wie immer man es formuliert: Der Zerfall von lebensweltlich erlebbarer Gemeinschaftlichkeit resultiert in Forderungen nach deren Verteidigung oder Wiedergewinnung. Man mag ­solche Gemeinschaft auf der unmittelbaren Milieuebene, im Stadtteil, im weiteren Umkreis oder als Lobpreis der Nation formulieren. Es läuft auf zwei Feststellungen hinaus. Die erste Feststellung: Wir sind wir, und die anderen sind die anderen. (Das ist nicht einmal falsch, die eigene Identität kann man nur beschreiben, indem man auch die Nichtidentität dingfest macht. Es verfehlt das Thema, wenn man jeden, der Nichtidentität behauptet, als Nazisten oder Rassisten beschimpft.) Die zweite Feststellung: Die anderen sind Feinde, Unterhöhler, Zerstörer; sie müssen bekämpft werden. (Diese Aversion kann sich gegen Menschen und Gruppen im Inland oder im Ausland richten. Totalitäre Systeme haben immer feindliche Agenten, ausländische Unterhöhler und Saboteure gefunden und in Lager mit unterschiedlichen Bezeichnungen gesteckt.) Vorurteile, Klischees, Ressentiment, Feindschaft – Selbstfindung und Vergemeinschaftung erfolgen nicht selten durch unfriedliche Ab- und Ausgrenzung.15 Auch die auflösenden, erodierenden Kräfte werden personalisiert. Man fühlt ­Erosion – und findet Sündenböcke.16 Sie sind schuld an allen Problemen dieser spätmodernen Welt, sie sind schuld daran, dass man gescheitert ist, dass man sich schlecht fühlt, dass alles nicht so ist, wie es sein sollte. Sie zerstören die eigene Identität, die eigene Gemeinschaft, das spezifische Leben. Man muss „kämpfen“. Es kann sich beispielsweise um Kriminalitätsbekämpfung handeln, dann marschieren freiwillige Sicherheitswachen auf, um potentielle Täter vom eigenen Lebensumfeld abzuschrecken. Es kann sich um den Kampf gegen Immigranten handeln, die ein gewohntes Ambiente zerstören oder überhaupt strategisch Europa übernehmen bzw. die Bevölkerung substituieren wollen. Manchmal kommt beides zusammen: Die Ausländer sind die Kriminellen, sie bedrohen Kultur und Ordnung gleichzeitig. In den USA will man sich nicht von den destruktiven Sozialverhältnissen der Schwarzen anstecken lassen und allen, ­welche die weiße Vorherrschaft gefährden, ihre Grenzen aufzeigen. Anderswo verfolgt man Andersgläubige (wir leben schließlich in der Epoche der größten Christenverfolgung aller Zeiten, nach den Opferzahlen gerechnet), Andersethnische (wie die Rohingyas oder die Uiguren) oder andere verachtete Gruppen (wie die „Zigeuner“). Manfred Prisching

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Action, Exaltation und Mob Doch es geht nicht nur um die programmatische Definition von Feinden und Sündenböcken. Wenn die Wut ausagiert werden muss 17, dann geht es um das Erleben, um das Dabeisein, um die kollektive Exaltation. Der Protest muss „körperlich“ werden. Elias Canetti hat diesen Vorgang in seiner Masse und Macht als Entgrenzung und Entladung beschrieben 18: Die Masse werde als beglückend erlebt; man fühlt sich aufgehoben und lebendig – was gerade für jene, die sich ansonsten als peripher, entwürdigt oder benachteiligt erfahren, eine außergewöhnlich positive Erfahrung darstellt. In Georg Büchners Drama Dantons Tod meldet sich ein Bürger zu Wort: „Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat.“ Und alle skandieren begeistert: „Totgeschlagen, totgeschlagen.“ Robespierre wirft ein: „Im Namen des Gesetzes.“ Was ist das Gesetz? „Der Wille des Volkes.“ Der Bürger schlussfolgert: „Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!“ Das macht Freude. Wir reden somit über den gewaltsamen Mob, die Meute, über den Pogrom. Kollektive Gewaltausübung wird zum begeisternden Gemeinschaftserlebnis. Ein höchstes Maß an Gemeinschaft ist in der kollektiven Gewalt zu finden. In der Steigerung des Erlebens muss Blut fließen. Das kann im Krieg sein, aber auch im Herfallen über einen Stadtteil. Das klingt archaisch, und das ist es auch. Und es ist „lebendig“. Deswegen steigt das Unbehagen, wenn auch in den Blogs von Qualitätszeitungen dieser unbedingte Hass zum Ausdruck kommt, diese Verhöhnung, die auf persönliche Vernichtung zielt, dieser im Letzten bluttriefende Vernichtungswillen. In alten Gesellschaften, sagt René Girard, glaubten die Menschen fälschlicherweise, dass es die Götter ­seien, die durch Opfer gnädig gestimmt werden sollten, doch eigentlich waren ­solche Gewalttaten immer schon auf die Verfestigung der eigenen Gemeinschaft gerichtet.19 Langsam kriecht der Verdacht hoch, dass unter der zivilisatorischen Oberfläche die „alten“ Gefühle durchaus lebendig sind. Leidet die spätmoderne Gesellschaft unter dem Entzug von Optionen zum Ausleben von Blutrünstigkeit? Da sind wir wohl im Bereich von Alpträumen angelangt.

Eskalationsbedingungen Wut und Ressentiment sind die Triebkräfte, aber sie brauchen adäquate Bedingungen für Artikulation, Organisation und Eskalation. Ein wütender Mensch, der auf dem Dorfplatz brüllt, ist bloß skurril, aber weder wirksam noch gefährlich. „Verrücktes Räsonieren“ hat es immer gegeben, aber es hat traditionell die Reichweite des Stammtisches nicht überschritten. Da sind wohl auch drastische und garstige Bemerkungen gefallen: „Der gehört umgebracht.“ (Oder, eine Zeit lang hieß es auch: „Der gehört vergast.“) Da konnte 22

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man bramarbarsieren, sich austoben, befeuert durch immer weitere Alkoholika; und die Freunde haben gesagt: „Hast eh recht.“ Oder auch: „Bist ein Trottel.“ Und dann ist man schlafen gegangen. Doch die elektronischen Netze sind Plattformen, Lautsprecher, wirksame Aufheizungs- und Zusammenrottungsinstrumente, Extremismuspropagandisten, Eskalateure, Emotionsfabriken. Man stellt fest, dass man nun ein großes Publikum ansprechen kann; dass es da draußen Gleichgesinnte gibt, weil man Resonanz findet und Zustimmung bekommt; dass man nicht allein ist, sondern dass man zu vielen gehört, die sonst nicht gehört werden, ja dass man eine versteckte, unterdrückte „Mehrheit“ ist, die, wenn sie sich nur bestärken und zusammenrotten kann, Wirksamkeit entfaltet; dass man mehr Aufmerksamkeit bekommt, wenn man radikalere Äußerungen tätigt (sodass der Erste schreibt: „Der ist ein Idiot.“ Der zweite: „Der gehört eingesperrt“. Der dritte: „Rübe ab“ – ein „volkstümlicher“ Eskalationsprozess); dass man zumindest die Vorstellung von Wirksamkeit, das Bewusstsein einer Zuhörerschaft, ja vielleicht sogar das Gefühl von „Macht“ bekommt. Das ist ein schönes Gefühl für Machtlose, für Menschen, denen die Gesellschaft ansonsten einen Platz an der Peripherie zuweist. Damit gewinnt der elektronische Austausch eine eigene Art von Dynamik: Intensivierung, Eskalierung, Radikalisierung. Es entstehen Memes, die ihrerseits ihr Eigenleben haben. Aus der losen Netzwerkartigkeit können (zumindest zeitweilige und lockere) Institutionalisierungen werden. Das ist möglich, weil eine neue Art von Organisationsfähigkeit besteht, wie sie zuvor nie gegeben war. Machtunterschiede waren immer auch an Organisationschancen gebunden; wer sich nicht organisieren kann, kann nicht auf relevante Weise protestieren. Nun aber kann man einen Aufruf loslassen, man kann zum Protest aufrufen, Treffpunkte nennen. Man kann – jenseits des Stammlokals – viel mehr Menschen erreichen. Solche Vereinigungen gestalten oft eine neue Art von Vandalismus. Vandalismus war immer eine kleindimensionierte Angelegenheit, Vandalismus kann nunmehr in größeren Dimensionen organisiert und ausagiert werden. Das vandalische Bedürfnis, das Verbrennen von Autos, das Einschlagen von Schaufensterscheiben, die Vernichtung von Stadtvierteln will sich als Protest legitimieren. (Denn es ist ja auch der ganz normale Vandalismus theoretisch nie hinreichend geklärt worden: Was hat es für einen Sinn, nächtens unter großer Kraftanstrengung Parkbänke in den Fluss zu befördern? Und warum ist das lustig?) Man kann auf die Eskalationsbedingungen dieser Phänomene einen radikalen systemisch-funktionalistischen Blick werfen: Sind Demokratie und Internet vereinbar? Möglicherweise kann die Demokratie das Internet nicht überleben, weil sie damit (entgegen den anfänglichen „basisdemokratischen“ Erwartungen über die segensreichen Optionen) einen selbstzerstörerischen Apparat geschaffen hat. Es könnte sein, dass Menschen bestimmte Apparaturen, die sie schaffen, irgendwann nicht mehr beherrschen, sondern dass diese ihre eigene Dynamik entwickeln; und es könnte sein, dass Manfred Prisching

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sich ihr Eigenleben gegen das System, das sie geschaffen hat, richtet. Es werden die ersten Versuche (bei Twitter und Facebook) unternommen, den destruktiven geistigen Lawinen Einhalt zu gebieten: Paradoxerweise sind alle Bemühungen, die Internet-Konzerne an die Kandare zu nehmen, darauf gerichtet, dass sie effizientere Zensur ausüben sollen. Eine sonderbare Entwicklung: Freiheit hieß immer „beliebige Meinungsäußerung durchsetzen; Restriktionen beseitigen“. Freiheit heißt jetzt: „Zensurieren: Hassreden, Destruktionen, Feindseligkeiten, Verächtlichmachung unterbinden.“ Allerdings geht es nur um die Verhöhnung aus einer bestimmten Perspektive, während man sich der Verhöhnung aus der anderen, der eigenen Perspektive mit Engagement widmet. Es geht also auch um die Besetzung von Propagandaplätzen mit der jeweils eigenen Weltauffassung – aber darum ist es bei Zensuraktivitäten ja immer gegangen. Solche Vorgänge kollidieren mit den Versprechungen einer freiheitlichen Demokratie, die doch alle möglichen Freiheiten, auch jene der Meinungsäußerung und der Versammlung, in den fundamentalen Rechten verankert hat. Dennoch haben wir den Eindruck, dass echte „Hassreden“ unterbunden werden sollen. Über das Austarieren der „neuen Zensur“ gibt es noch keinen Konsens.

Selbstverwirklichungsanarchismus Wenn sich Sozialwissenschaftler über irgendwelche Entwicklungstrends einer spätmodernen Gesellschaft einig sind, dann über den Sachverhalt, dass es sich um eine individualistische Gesellschaft handelt.20 Damit sind nicht nur individuelle Ausdrucksmöglichkeiten und Freiheiten gemeint, vielmehr die These, dass es zu den wesentlichen Orientierungen für die Menschen gehört, auf ihre eigene Selbstentfaltung zu achten, ihre eigene Befindlichkeit hochzuschätzen, ein jeweils individuelles Profil ihres Selbst zu gestalten. Man kann in beliebigen Lifestyle-Zeitschriften nachlesen, was damit gemeint ist. Es geht damit eine besondere Sensibilität für die eigenen Rechte und Wünsche einher. Dieselben Identitätsfragen wie bei der Einzelperson werden auch in Bezug auf Gruppen, Milieus oder Völker gestellt.21 Für diese Selbstorientierung gibt es keinen selbstverständlichen Rahmen mehr. Es geht nicht um Einordnen, seinen Platz finden. Die Ratschläge tendieren zur Entfaltung von Narzissmus – und zum „Star“tum. Die Bilder, mit denen Jugendliche konfrontiert sind, sind: Fußballer, die Millionen verdienen; IT-Startup-Betreiber, die nach einigen Jahren ihren Shop um Millionen verkaufen; berühmte Models, die nach New York fliegen; Influencer, die aus dem Nichts Geld und Berühmtheit gewinnen. Da muss man sich der Frage stellen: Du bist schon 25 und hast noch nicht einmal ein paar Millionen verdient? Oder: Du bist 45 und kannst dein Leben endgültig abschreiben! Bei diesen medialen Vorgaben ist jede Lebensnormalität Beweis des Versagens. Die normale Ordnung hat sich überlebt. Wer normal ist, ist nicht normal. Wer normal ist, ist ein Versager. 24

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Attraktiv ist das Syndrom von Freiheit, Ungebundenheit, Wohlstand, Lounges, Events, Geld, Berühmtheit. Freilich schlummert ganz im Hintergrund schon noch die Sehnsucht nach Liebe und Treue, nach Gemeinschaft und Einbettung. Aber alles geht eben nicht zusammen. Deshalb tut man sich so schwer, mit sich selbst fertig zu werden. Nach dem Verlust der Lebensbedeutsamkeit des Glaubens 22 haben sich die Individuen jedenfalls selbst „geheiligt“ 23, und ihre individuelle Freiheit wird, wie aktuelle Beispiele zeigen, zuweilen als oberstes Ziel in der dümmsten aller möglichen Varianten artikuliert: „Ich darf tun, was ich will.“ Dieses Selbstverständnis tritt regelmäßig bei den Interviews von Anti-Corona-Demonstranten zutage. Ein extremes Selbstverständnis von Individualismus drängt (kollektiv) zum anarchistischen Modell. Wenn jeder tun darf, was er will, bedeutet dies insgesamt: Anarchismus. Das ist eine wohlbekannte historische Ideenströmung. Aber eine forcierte Individualisierung erzeugt (individuell) Einsamkeit. ICH bin unabhängig, und ich bin allein. Ich könnte nicht unabhängig sein, wenn ich nicht allein wäre. Manchmal wird das unbehaglich, nicht nur dann, wenn man andere Menschen brauchen könnte. Man kann durch punktuelle Erlebnisse die Lücken füllen. Oder man kann das individuelle Nichts durch die Kraftanstrengung eines Gemeinschaftserlebnisses zu überwinden trachten. Es bedarf keiner ausführlichen Begründung, dass eine anarchistische Perspektive zu einer totalitären Heilsverkündigung führt. Denn ein Marktplatz unbeschränkter Freiheiten streift nicht nur jede Zivilisiertheit ab (das Wesen der Zivilisierung besteht nun einmal in der Selbstbeschränkung)24, letztlich mündet die anarchistische Vision in die Durchsetzung des Stärkeren, in Ausbeutung und Massaker. Zivilisiertheit, Schutz des Schwächeren, Höflichkeit, Ausgleich – das sind keine Kategorien der „Natur“. Anarchismus ist nicht durch moralische Appelle zu zähmen. Anarchismus kann nur für jene attraktiv sein, die meinen, in ­diesem Ambiente zu den Stärkeren zu gehören. Da könnte man sich irren.

Wehrhaftigkeitsverlust Für die Zivilisierung und Disziplinierung, für Freiheitswahrung und Interessenausgleich braucht man einen liberalen, aber starken Staat. Er ist in seiner modernen Ausführung jene Institution, die den Rahmen für kollektives Zusammenleben bietet. Er muss Gewaltsamkeit und Selbstsucht bändigen. Während Thomas Hobbes meinte, er benötige dazu absolute Macht, weil ihm die Aufgabe zukomme, alle individuellen und gruppenbezogenen Mächte zu bändigen, haben die modernen demokratischen Verfassungen mit ausgleichenden Balancen und Kontrollen einen beachtenswerten Weg gefunden. Doch es bleibt das alte demokratische Dilemma der „Wehrhaftigkeit“ 25: Wie umgehen mit Kräften, ­welche die Verbürgungen eines rechtsstaatlich-liberalen Systems ­benutzen, um ­dieses zu beseitigen? Das gilt auf europäischer Ebene, etwa bei Maßnahmen gegen Manfred Prisching

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Polen und Ungarn 26; das stärkste Instrument, das die EU besitzt, ist der Entzug des Stimmrechts im Rat (nach Artikel 7), sodass beispielsweise eine Militärdiktatur ohne Stimmrecht offiziell in der europäischen Gemeinschaft verbleiben könnte. Noch deutlicher wird der Prozess der Lächerlichmachung der Staatsgewalt auf nationaler Ebene. A: Dabei gibt es zunächst einen funktionalen Aspekt: Wie weit nimmt man (etwa in einer Epidemie) asozialen Protest in Kauf, der andere schädigt, und lässt asoziales Verhalten zu, weil man kein „Spielverderber“ sein will? Wie weit lässt man extreme, also demokratiefeindliche Gruppen zu, weil man Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit respektieren will? Wie weit lässt man Hassredner ihre Dynamik ausleben – oder sollte man (wie das in Bezug auf soziale Netzwerke zum Problem geworden ist) ihre Wirksamkeit einschränken? Die Fragen können in verschiedenen Ländern unterschiedlich beantwortet werden. In den USA sind nationalsozialistische Gruppierungen zugelassen, in Ländern wie Österreich und Deutschland (aus naheliegenden historischen Gründen) nicht. Aber auch in den USA wird anhand der aktuellen Ereignisse gefragt, ob man allen Gewaltpredigern uneingeschränkt Platz geben muss. Kurioserweise gibt es Milieus, in denen ein skurriles Maß an Sensibilität obwaltet, welches auch schon seine Verrücktheiten aufweist. Ein Schauspieler, Vorstandsvorsitzender, Universitätsprofessor dürfte nicht zehn Prozent von dem sagen, was der US-Präsident während der letzten Jahre andauernd von sich gegeben hat, wenn er seinen Job behalten will. Immerhin sind dem Ex-Präsidenten ganz am Schluss seine elektronischen Verkündigungsinstrumente entzogen worden – allerdings haben sich viele Personen und Insti­ tutionen heuchlerisch erst dann wieder auf die „westlichen Werte“ besonnen, als diese Präsidentschaft zu Ende ging, während sie vordem – aus Feigheit oder Opportunismus – jede Lüge, jeden Unsinn und jeden Angriff mitgetragen haben. B: Es entsteht ein neues „Systembild“, wenn Staatsorgane allzu zurückhaltend dabei sind, Institutionen und Haltungen zu verteidigen. Dies zeigt sich schon bei Kriminellen, ­welche die Polizisten, die sie festnehmen, verhöhnen, weil sie wissen, dass sie in wenigen Stunden wieder bei der Tür hinausspazieren. Sanftheit des Staates wird von allen radikalen Kräften als Ermunterung angesehen, einen Schritt weiter zu gehen. Wenn geltenden Regeln nicht Geltung verschafft wird, diskreditiert sich das System als eines der Schwäche und Dekadenz, das von Rechtsstaatlichkeit nur schwätzt – und das, wie das amerikanische Beispiel am Beginn des Jahres 2021 gezeigt hat, nicht einmal seine höchsten Organe ­schützen kann. In der Feststellung, dass ­dieses System lächerlich ist, finden sich völkische Verteidiger, südöstliche Islamisten und asiatische Diktatoren. Der paralysierte Staat traut sich nicht mehr: kein wirklicher Lockdown, keine wirklichen Verbote, keine Strafen. Demonstrationsverbote müssen nicht befolgt werden. Epidemieregeln müssen nicht eingehalten werden, wenn sich erst einmal tausend Leute zusammenrotten – denn dann gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Wegen einer geringfügig bestraften Verwaltungsübertretung wird man nicht Gewalt ­anwenden 26

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­(dürfen). Wenn man Mitmenschen das Leben gefährdet, wird ein Strafmandat über 25 Euro ausgestellt. Die Hilflosigkeit amüsiert die Totalitären. Freilich ist es ein Balanceakt. Es mag es klug sein, die Impulse sich selbst erschöpfen zu lassen: Irgendwann macht die Sache keinen Spaß mehr und man wendet sich möglicherweise anderen ­Themen zu. Man muss die Meute im Zaum halten, aber ihre Energien ausklingen lassen; mit kleinen Bestrafungen im Einzelfall; mit Augenmaß. „Ist Gewalt ausgebrochen, ist sie kaum begrenzbar. Sie breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Sie findet kein Ende. Sie verschlingt schließlich die gesellschaftliche Ordnung, die sie begrenzen soll“ 27 – durch mimetische Ausbreitung.28 Beides ist möglich: Eskalation oder Erschöpfung. Denn staatliche Zurückhaltung kann auch als Feigheit wahrgenommen werden. Das fördert trumpistische Grundhaltungen: Trump konnte lügen, korrupt sein, die Elite versorgen, Gegner mit illegalen Mitteln verfolgen, gegen Gender-Richtlinien verstoßen, die besten Leute aus der Regierung entfernen und durch seine Kumpane ersetzen, Wahlresultate zu manipulieren versuchen, er konnte den Staatsapparat scheitern lassen, giftigen Rassismus befördern, eine absurde Wohlstandskluft ausweiten, Amerikas Macht und Ansehen in der Welt in den Keller fahren lassen – und er hat doch imponiert durch seinen Habitus der Stärke, der Durchsetzungsfähigkeit, der Nähe zu den Menschen, der Ungeniertheit und Direktheit, der Macherperspektive.29 Ein Ganove, der Bewunderung genießt. Der Mafiaboss mit Charisma. Der jegliche Standards guten Benehmens verhöhnt hat. Der im Einklang stand mit jeder Verrohung der ­Sitten, mit Pöbeleien und Hassausbrüchen. Der den Putschisten erklärt hat, dass er sie liebe. Es waren schon eindrucksvollere Gestalten, denen die Menschen als Führer nachgelaufen sind.

Maß und Mitte Eine demokratische Gesellschaft braucht Maß und Mitte. Darauf beruhen ihre Verfahren. Es handelt sich nicht nur um ein durch Verfassung und Gesetze geprägtes Regelsystem, denn ohne Gesinnung und Haltung, die man einst „bürgerlichen Tugenden“ zugeordnet hat, geht es nicht. Sie benötigt eine Geisteswelt von Menschenverstand, Abwägung und Urteilskraft, Selbstkontrolle und Rücksichtnahme, Pragmatismus und Nuanciertheit, Differenzierungsfähigkeit, Sensibilität und Kompromissfähigkeit, Mäßigung und Fairness. Wenn man das alles als Heuchelei oder Repression, als Mittelmäßigkeit und Packelei, wenn man jede Zurückhaltung als Vergewaltigung seiner selbst ansieht, katapultiert man sich aus der zivilisierten Gesellschaft hinaus – und wenn man sie dabei zerstört, muss man die Folgen tragen. Die USA haben vier Jahre lang vorgeführt, was politischer Anstandsverlust und demokratische Würdelosigkeit bedeuten – und es hätte in der Folge noch schlimmer kommen können. Aber jede Demokratie wird funktionsunfähig, wenn sie von ihren weltanschaulichen Rändern her zerstückelt wird und die Orientierung am Substrat der Mitte verliert. Manfred Prisching

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Manfred Prisching: Krisen. Eine soziologische Untersuchung (Wien, Graz u. a. 1986). Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man (New York 1992). Fareed Zakaria: The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad (New York 2003). Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand (München 2017) 118. Bruno Seidel: Wege der Totalitarismus-Forschung (Darmstadt 21969). In den USA gibt es eine beinahe unüberschaubare Vielzahl von sonderbaren Gruppierungen, die mehr oder minder an klassische radikale Ideen anknüpfen, zuweilen aber auch nur skurril sind. Als Antifa (antifaschistische Aktion) werden Gruppen bezeichnet, die in lockerer Strukturierung bestehen, dem eigenen Bekunden nach Neonazismus, Rassismus, völkischen Nationalismus und Antisemitismus bekämpfen, aber durchaus auch zum revolutionären/gewaltsamen Kampf bereit sind. Als Suprematisten (white supremacy) werden im angelsächsischen Raum rassistische Gruppierungen bezeichnet, ­welche der europäischen (weißen) Rasse Überlegenheit gegenüber anderen Rassen attestieren. In den USA gibt es einen fließenden Übergang zu Alt-Right-Bewegungen (alternative Rechte). Es handelt sich um Spaltungen und Emotionalisierungen, hinsichtlich derer oft gefragt wird, wie mit Personen, die dem Verschwörungslager angehören, umzugehen sei. Die Antwort ist meistens: noch besser erklären, Belege vorweisen, Informationen vermitteln usw. Dennoch ist solchen Strategien insoweit wenig Erfolg beschieden, als auf zwei unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird. Es ist sinnlos, ausführliche Erläuterungen über die Beschaffenheit eines Virus zu liefern, von dem der andere zu wissen glaubt, dass es ­dieses Virus gar nicht gibt. Alles, was man über das Virus zu sagen hat, wird von vornherein als Irrtum, als Naivität, als Unehrlichkeit eingestuft. Krankheitsfälle erlogen, Todesfälle fälschlich zugerechnet, Ärzte und Virologen gekauft. Es geht dann nicht um die Qualität wissenschaftlicher Belege, sondern darum, dass wissenschaftliche Belege überhaupt abgelehnt werden – und im Grunde endet bei einer solchen Konfrontation jede Gesprächsmöglichkeit. Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft (Bielefeld 2015). Robert Anton Wilson: Lexikon der Verschwörungstheorien. Verschwörungen, Intrigen, Geheimbünde (Frankfurt am Main 22016). Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. [The Invisible Religion, 1967] (Frankfurt am Main 1991). Mihaly Csikszentmihalyi: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile. Im Tun aufgehen (Stuttgart 1985). Gabor Steingart: Das Ende der Normalität. Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war (München 2 2011) 11; Nassim Nicholas Taleb: The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable (London 22010). Stéphane Hessel: Empört Euch! (Berlin 112011). Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit (Berlin 2 2015) 21. Wolfgang Benz (Hg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte? (Berlin 2016). René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Bd. 10970 (Frankfurt am Main 41994). Wolfgang Benz: Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart (Freiburg im Breisgau 2020). Elias Canetti: Masse und Macht (Hamburg 1960). René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses (Freiburg im Breisgau, Wien u. a. 1983).

Maß, Mitte, Wut

20 Manfred Prisching: Das Selbst, die Maske, der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person (Wien 2009). 21 Francis Fukuyama: Against Identity Politics. In: Foreign Affairs (2018) 90 – 114. 22 Peter L. Berger: Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften. [The Many Altars of Modernity, 2014]. Bd. 2 (Frankfurt am Main 2015). 23 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte (Berlin 2011). 24 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (Frankfurt am Main 31983). 25 Zur historischen Erinnerung Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen ­Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Band 2250 (Berlin 22018). 26 Jan-Werner Müller: Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? Essay. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2017). 27 Hans-Martin Gutmann und Simon Eckhardt: „Events“ – Zur Ambivalenz von Massen-Phänomenen. Masse, Kommerz und Religion. In: Massen und Masken. Kulturwissenschaftliche und theologische Annäherungen, hg. von Richard Janus, Florian Fuchs und Harald Schroeter-Wittke (Wiesbaden 2017) 9 – 24, 15. 28 Wolfgang Palaver: René Girards mimetische ­Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. (Münster u. a. 2003). 29 Trump hat auf zwei Drittel der Bevölkerung gesetzt. Das erste Drittel sind Populisten, und zwar im Sinne von Rassismus, Suprematie, Fremdenfeindlichkeit, Intellektuellendistanz, Globalisierungsaversion. Das zweite Drittel ist mit dem Status quo zufrieden, wird also einen Präsidenten, der sich mit Stärke inszeniert, wählen. Nur das dritte Drittel ist für ihn nicht ansprechbar, die Fortschrittlichen, die für Illegalität, Migration, Klimapolitik und ähnliche „Unanständigkeiten“ eintreten.

Manfred Prisching

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KLAUS POIER

2015 – 2020 Rückkehr zur Normalität? *

In der Steiermark brachten die Landtagswahlen im 21. Jahrhundert jeweils deutliche Zäsuren mit sich: Die Landtagswahl 2005 führte erstmals nach 1945 zur Wahl eines SPÖ-Landeshauptmanns und in weiterer Folge zu einer sehr polarisierten Auseinandersetzung ­zwischen den beiden Großparteien während der gesamten Legislaturperiode. Diametral anders war nach der Landtagswahl 2010 die neu formierte „Reformpartnerschaft“ als enge zukunftsorientierte Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP ausgerichtet.1 Der Landtagswahl 2015 folgte nun neuerlich eine politische Zäsur: Hermann ­Schützenhöfer wurde überraschend zum Landeshauptmann der Steiermark gewählt und übernahm mit der Steirischen Volkspartei wieder die Führungsrolle im Land, die sie eindrucksvoll bei der Landtagswahl 2019 zu einem Rekordvorsprung ausbauen konnte. Ist mit den jüngsten Entwicklungen seit 2015 eine Art „Rückkehr zur Normalität“ der Zweiten Republik verbunden?

Landtagswahl 2015 und Regierungsbildung Bei der – um einige Monate auf den 31. Mai 2015 vorverlegten – Landtagswahl 2015 erlitten SPÖ und ÖVP schwere Verluste. Die SPÖ verlor 8,97 Prozentpunkte (2015: 29,29 %, 15 Mandate; 2010: 38,26 %, 23 Mandate – zu beachten ist, dass der Landtag nun auch von 56 auf 48 Mandatare verkleinert worden war 2), die ÖVP erlitt ein Minus von 8,74 Prozentpunkten (2015: 28,45 %, 14 Mandate; 2010: 37,19 %, 22 Mandate). Auch wenn die ÖVP damit den Abstand geringfügig auf unter einen Prozentpunkt verringern konnte, blieb sie hinter der SPÖ auf Platz zwei. Die FPÖ konnte stark um über 16 Prozentpunkte zulegen (2015: 26,76 %, 14 Mandate; 2010: 10,66 %, 6 Mandate), sodass es nunmehr drei annähernd gleich große „Mittelparteien“ in der Steiermark gab. Die Grünen gewannen leicht dazu (2015: 6,68 %, 3 Mandate; 2010: 5,55 %, 3 Mandate). Der KPÖ gelang trotz geringer Verluste der neuerliche Einzug in den Landtag (2015: 4,22 %, 2 Mandate; 2010: 4,41 %, 2 Mandate), während NEOS (2,64 %) ebenso wie die Liste Frank Stronachs (1,74 %) scheiterten. Klaus Poier

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Für die schweren Verluste von SPÖ und ÖVP wurde in der Öffentlichkeit vielfach die Reformpolitik der steirischen „Reformpartnerschaft“ der Jahre 2010 bis 2015 und insbesondere das – in einigen (kleinen) betroffenen Gemeinden abgelehnte – Projekt der Gemeindestrukturreform 3 verantwortlich gemacht.4 Gegen diese Erklärungshypothese spricht allerdings, dass die Reformen in Umfragen grundsätzlich durchaus hohe Zustimmung in der Bevölkerung erzielten und die Zahl der Wählerinnen und Wähler in den kleinen widerstreitenden Fusionsgemeinden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten letztlich gering war. Die starken Stimmenverluste lassen sich daher viel besser einerseits mit einem bundespolitischen Trend erklären: Das Thema Migration und die zunehmende Flüchtlingssituation in Europa waren immer stärker in den Vordergrund gerückt. Am meisten profitierte davon – damals – die FPÖ, die zur selben Zeit in bundesweiten Umfragen – auch weil auf Bundesebene das Modell Große Koalition, vor allem als „Stillstands- und Streitkoalition“ wahrgenommen, immer weniger Zustimmung fand – sogar Platz eins einnahm.5 Andererseits fehlte der Reformpartnerschaft aber dennoch auch ein besonderer Wahlkampfmotor: Die starke Polarisierung ­zwischen den Großparteien und der hart ausgetragene Kampf um die Führungsrolle im Land hatten 2010 weit besser zur Mobilisierung im Wahlkampf getaugt als 2015 die – durchaus auch international beachteten 6 – Reformerfolge der zu einem Teil auch als „Kuschelkurs“ wahrgenommenen Zusammenarbeit. Die Verhandlungen ­zwischen SPÖ und ÖVP zur Bildung der neuen steirischen Landesregierung, die erstmals nicht nach dem Proporzsystem, sondern nach freier Mehrheitsbildung im Landtag zu wählen und überdies ebenso verkleinert worden war,7 brachten ein auch für Insider völlig überraschendes Ergebnis: Hermann Schützenhöfer wurde, obwohl die Steirische Volkspartei hinter der SPÖ lag, für die gesamte Legislaturperiode – ohne eine angesichts des knappen Wahlergebnisses eher erwartete Halbzeitlösung – zum neuen Landeshauptmann der Steiermark gewählt und bildete nun mit Michael Schickhofer als neuem SPÖ -Chef die Spitze einer „Zukunftspartnerschaft“.8 Auch wenn Hermann Schützenhöfer als erfahrener und „starker“ Verhandler bekannt ist, lagen die Hauptursachen für diese Entwicklung im Rücktritt von Franz Voves – der vor der Wahl angekündigt hatte, bei einem Wahlergebnis unter 30 % zurückzutreten, und nun nicht wortbrüchig werden wollte – sowie in SPÖ -internen Nachfolgeüberlegungen bzw. -diskussionen. Die als SPÖ -Narrativ zur innerparteilichen Begründung des Verzichts auf den Landeshauptmannposten auch kolportierte Erklärung, die ÖVP hätte die SPÖ mit einer Koalition mit der FPÖ erpresst, kann hingegen als nicht stichhaltig angesehen werden: Es erscheint undenkbar, dass ­Hermann Schützenhöfer nach der „reformpartnerschaftlichen“ Freundschaft mit Franz Voves einen derartigen Schritt gesetzt hätte, und es gibt auch keinerlei Indiz, dass eine ÖVP interne Revolte gegen Hermann Schützenhöfer für einen solchen Plan eine Mehrheit gefunden hätte. 32

2015 – 2020. Rückkehr zur Normalität?

Die Wahl Hermann Schützenhöfers zum Landeshauptmann im Juni 2015 kann nun durchaus als ein Schritt der Rückkehr zur Normalität der Zweiten Republik angesehen werden. Von 1945 bis 2005 hatte die Steirische Volkspartei immer den Landeshauptmann gestellt, die zehnjährige Zwischenperiode eines SPÖ-Landeshauptmanns war wieder beendet. Die Zusammenarbeit ab 2015 in der „Zukunftspartnerschaft“ konnte freilich nicht nahtlos an die „Reformpartnerschaft“ zuvor anknüpfen. Die auch im Vergleich zu anderen politischen Systemen einmalige „Reformpartnerschaft“ war ganz besonders von der persönlichen Konstellation und Freundschaft ­zwischen Franz Voves und Hermann Schützenhöfer geprägt gewesen. Sowohl hinsichtlich des Altersunterschiedes als auch der politischen Ambitionen war die neue Partnerschaft mit Michael Schickhofer nicht vergleichbar. Auch inhaltlich hatte die „Reformpartnerschaft“ mit der Gemeindestrukturreform ein in der Öffentlichkeit markantes Thema, das die Legislaturperiode in einer Weise medial prägte, wie das selten der Fall ist. Die neue Zukunftspartnerschaft ähnelte hier mehr der üblichen Normalität, als die fremdgesetzten ­Themen Migration, ­später Klimakrise oder kontinuierlich das Budgetdefizit bestimmender waren als das am stärksten selbst gesetzte Thema der längerfristig angelegten Spitals- bzw. Gesundheitsreform.9 Mit der Wahl Hermann Schützenhöfers übernahm die Steirische Volkspartei wieder die klare Führungsrolle in der Steiermark und es dauerte nur wenige Zeit, bis kaum jemandem in der Steiermark noch bewusst zu sein schien, dass bei der Landtagswahl 2015 und im Landtag eigentlich die SPÖ stärkste Partei war. Hermann Schützenhöfer selbst gelang auch erstaunlich schnell der Rollenwechsel – er hatte im Übrigen über die Zeit auch viele Rollen einzunehmen: vom angriffigen quasi Oppositionspolitiker einer sich gedemütigt empfundenen Partei ab 2005, über den konzilianten sozialpartnerschaftlich geprägten Reformpartner in der Rolle des Zweiten ab 2010 bis nun ab 2015 zum ­Ersten in der Steiermark als Landeshauptmann. Insbesondere, weil der Start als Landeshauptmann kein leichter war – wenige Tage nach der Wahl ereignete sich im Juni 2015 die Amokfahrt in Graz,10 im Herbst 2015 war die Steiermark ganz besonders von der sogenannten „Flüchtlingskrise“ betroffen 11 –, zeigte sich rasch, dass Hermann Schützenhöfer in der Rolle des Landeshauptmanns den Zenit seines politischen Wirkens erreicht hatte: Er vermittelte entschlossenes, aber besonnenes Handeln – quasi als personalisierter „Fels in der Brandung“ 12 – und fand in der Öffentlichkeit die richtigen Worte. Er nahm rasch glaubwürdig die Rolle eines weithin beliebten und geschätzten Landesvaters ein.

Gemeinderatswahl 2017 in Graz Da der Gemeinderat der Stadt Graz, in dem es keine Koalition, sondern ein freies Spiel der Kräfte gab, eine Einigung auf ein Budget für 2017 nicht erzielen konnte, wurde die Klaus Poier

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Gemeinderatswahl vom Herbst auf den Februar 2017 vorverlegt.13 Die ÖVP unter ­Siegfried Nagl, der schon seit 2003 erfolgreich als Bürgermeister im Amt ist, war der klare Sieger dieser Wahl und konnte um über vier Prozentpunkte dazugewinnen (2017: 37,79 %, 19 Mandate; 2012: 33,74 %, 17 Mandate). Den zweiten Platz behauptete die KPÖ mit leichten Zugewinnen (2017: 20,34 %, 10 Mandate; 2012: 19,86 %, 10 Mandate). Platz drei ging an die FPÖ mit einem Plus von mehr als zwei Prozentpunkten (2017: 15,86 %, 8 Mandate; 2012: 13,75 %, 7 Mandate), dahinter lagen die Grünen mit einem Minus von fast zwei Prozentpunkten (2017: 10,51 %, 5 Mandate; 2012: 12,14 %, 6 Mandate). NEOS zog erstmals in den Gemeinderat ein (2017: 3,94 %, 1 Mandat). Großer Wahlverlierer war die SPÖ, die von Platz drei auf Platz fünf zurückfiel (2017: 10,05 %, 5 Mandate; 2012: 15,31 %, 7 Mandate) und nicht nur mehr als fünf Prozentpunkte, sondern auch den einzigen Sitz im Stadtsenat an die KPÖ, die nun zwei Sitze in der Stadtregierung stellt, verlor. Da somit die SPÖ als möglicher (und kolportierter Wunsch-)Koalitionspartner ausschied, bildete Bürgermeister Siegfried Nagl in weiterer Folge eine Koalition mit der FPÖ unter dem neuen Vizebürgermeister Mario Eustacchio.

Turbulente Entwicklung auf Bundesebene Auf Bundesebene erlebte das politische System Österreichs in den letzten Jahren äußerst turbulente Zeiten. Mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 wurde Migration zum bestimmenden politischen, auch in der Öffentlichkeit besonders emotional diskutierten Thema, das immer offenkundiger auch Spaltungstendenzen oder zumindest die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft mit sich zu bringen drohte. Deutlich zu sehen war diese konfrontative Polarisierung sowohl der politischen Elite und Öffentlichkeit, aber auch eines Großteils der Bevölkerung im Wahlkampf der Bundespräsidentenwahl 2016, bei der im ersten Wahlgang die traditionelle parteipolitische Mitte der Zweiten Republik gleichsam unterging und in der entscheidenden Stichwahl Alexander Van der Bellen (Grüne; 53,79 %) gegen Norbert Hofer (FPÖ; 46,21 %), der im ersten Wahlgang mit 35,05 % überlegen in Führung gegangen war, obsiegte.14 Der Umbruch war augenscheinlich: Österreich bekam nicht nur erstmals einen grünen Bundespräsidenten, sondern zum ersten Mal spielte weder der Kandidat der SPÖ (Rudolf Hundstorfer, 11,28 %), noch der Kandidat der ÖVP (Andreas Khol, 11,12 %) bei der Entscheidung eine Rolle. Beide lagen abgeschlagen auch hinter der parteiunabhängigen früheren OGH-Präsidentin Irmgard Griss, die einen überraschenden Achtungserfolg mit 18,94 % erzielte und nur knapp hinter Van der Bellen (21,34 %) den dritten Platz erreichte. Internationales Aufsehen erregte die Bundespräsidentenwahl 2016 auch deshalb, weil die erste Durchführung der Stichwahl, bei der Van der Bellen mit nur 50,35 % gewonnen hatte, nach einer Anfechtung seitens der FPÖ vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, da bei der Auszählung der Briefwahlstimmen Rechtswidrigkeiten in 34

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einigen Wahlbezirken (allerdings ohne jedes Indiz für eine tatsächliche Wahlfälschung) sowie verfrühte Veröffentlichungen von Teilwahlergebnissen festgestellt wurden.15 Auf Bundesebene kam es auch zu einem Wechsel an der Spitze beider Koalitionsparteien.16 Christian Kern löste 2016 Werner Faymann als SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler ab, 2017 folgte Sebastian Kurz Reinhold Mitterlehner als ÖVP-Obmann. Während Christian Kern nach seiner Amtsübernahme SPÖ-Neuwahlüberlegungen nicht in die Tat umsetzte – einerseits, weil die Wiederholung der Stichwahl bei der Bundespräsidentenwahl einer raschen Neuwahl entgegenstand, andererseits, weil in weiterer Folge auch innerparteiliche Widerstände vorhanden waren –, verknüpfte Sebastian Kurz die Übernahme der ÖVP-Führung sowohl mit einer Erneuerung der Partei – symbolhaft nun bezeichnet als türkise „Neue Volkspartei“ – wie auch mit der Forderung nach einer vorgezogenen Neuwahl des Nationalrates, um – wie er argumentierte – die Koalition alten Stils nicht einfach fortzusetzen, sondern eine Veränderung Österreichs durch die Wählerinnen und Wähler zu legitimieren. Auch wenn in weiterer Folge die Befugnisse des Bundesparteiobmanns sogar in den Statuten der ÖVP deutlich ausgebaut wurden, führte dies – insbesondere, was das Verhältnis ­zwischen Bundesorganisation und Landes­ parteien betrifft – nicht zu weniger, sondern zu mehr Geschlossenheit in der ÖVP – bedingt freilich vor allem durch die erhofften und dann auch realisierten Wahlerfolge, aber auch, weil viele – wie insbesondere Hermann Schützenhöfer und die Steirische Volkspartei – seit langem eine stärkere Reformorientierung der Bundespolitik und ein Ende der weithin kritisierten „Stillstands- und Streitkoalition“ eingefordert hatten. Nach einem sehr polarisierten, zum Teil äußerst „unsauberen“ 17 und auch teuren Wahlkampf 18 eroberte die ÖVP bei der Nationalratswahl am 15. Oktober 2017 Platz eins mit einem deutlichen Zugewinn von 7,48 Prozentpunkten (2017: 31,47 %, 62 Mandate; 2013: 23,99 %, 47 Mandate).19 Sebastian Kurz hatte dabei thematisch vor allem mit einer Fokussierung auf das Migrationsthema sowie einem Reform- und Veränderungsnarrativ gepunktet. Die SPÖ legte geringfügig um 0,04 Prozentpunkte zu (2017: 26,86 %, 52 Mandate; 2013: 26,82 %, 52 Mandate) und blieb damit knapp vor der FPÖ (2017: 25,97 %, 51 Mandate; 2013: 20,51 %, 40 Mandate), die mit 5,46 Prozentpunkten den zweithöchsten Stimmenzuwachs lukrieren konnte. Neben Christian Kern, der 2018 dann die SPÖFührung an Pamela Rendi-Wagner abgab, waren die Grünen der größte und in dieser Dimension überraschende Wahlverlierer – mit Ulrike Lunacek nach dem Rücktritt von Eva Glawischnig als Spitzenkandidatin – und verpassten mit einem Minus von 8,62 Prozentpunkten den Einzug in den Nationalrat (2017: 3,80 %, 0 Mandate; 2013: 12,42 %, 24 Mandate). Die Gründe dafür waren vielfältig: Neben parteiinternen Unstimmigkeiten insbesondere mit der Jugendorganisation verloren die Grünen vor allem in der Zuspitzung auf die Kanzlerfrage Kurz oder Kern deutlich Stimmen an die SPÖ , zum anderen hatten sie auch „grün-interne“ Konkurrenz durch die eigene Liste des bisherigen Grün-Mandatars Peter Pilz, die mit 4,41 % und 8 ­Mandaten den Einzug in den Klaus Poier

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Nationalrat schaffte. NEOS mit Spitzenkandidat Matthias Strolz und im Rahmen einer gemeinsamen Kandidatur mit Irmgard Griss, gewann leicht um 0,34 Prozentpunkte dazu (2017: 5,30 %, 10 Mandate; 2013: 4,96 %, 9 Mandate). War bei der Nationalratswahl 2013 in der Steiermark die FPÖ noch stärkste Partei vor SPÖ und ÖVP gewesen, eroberte die ÖVP bei der Nationalratswahl 2017 auch hier Platz eins mit 31,49 % vor der FPÖ (29,42 %) und der SPÖ (25,09 %). Nach Sondierungsgesprächen kam es in weiterer Folge zu Regierungsverhandlungen ­zwischen ÖVP und FPÖ , die schließlich kurz vor Weihnachten 2017 zur Bildung einer türkis-blauen Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache führten. Aus den Reihen der Steirischen Volkspartei wurde Juliane Bogner-Strauß als Kanzleramtsministerin Bundesministerin für Frauen, Familien und Jugend. Während man eigentlich den Eindruck hatte, dass diese Koalition von beiden Seiten längerfristig angelegt war und eine zumindest zwei Perioden überdauernde Regierungszusammenarbeit nicht unrealistisch zu sein schien, endete die türkis-blaue Koalition abrupt im Mai 2019. Auslöser war die Veröffentlichung des sogenannten „Ibiza-Videos“, das Heinz-Christian Strache wenige Monate vor der Nationalratswahl 2017 – damals Klubobmann der FPÖ – bei einem heimlich aufgenommenen Treffen zeigt, bei dem er politisch untragbare Aussagen im Zusammenhang mit möglicher Korruption, Umgehung der Parteienfinanzierungsregelungen sowie Einfluss auf Medien tätigte.20 Einen Tag nach Veröffentlichung des Videos trat Strache zurück und Sebastian Kurz verkündete am Abend desselben Tages das Ende der Koalition und vorzeitige Neuwahlen.21 Nachdem Kurz in weiterer Folge dem Bundespräsidenten die Entlassung von Innenminister Herbert Kickl vorgeschlagen hatte, traten sämtliche FPÖ-Regierungsmitglieder zurück. Bundespräsident Van der Bellen besetzte auf Vorschlag von Kurz die frei gewordenen Regierungssitze mit Expertinnen und Experten. Durch den Rückzug der FPÖ aus der Regierung verfügte die Regierung Kurz allerdings im Nationalrat über keine Mehrheit mehr. Dies eröffnete den Weg zum ersten erfolgreichen Misstrauensvotum gegen eine Bundesregierung in der Geschichte der Republik Österreich, das mit den Stimmen der SPÖ , der FPÖ und der Liste Pilz – offenkundig vor allem aus parteitaktischen Überlegungen, um Sebastian Kurz die Wahlwerbung aus der Rolle des Bundeskanzlers zu verwehren – beschlossen wurde. Nach dem Misstrauensvotum ernannte Bundespräsident Van der Bellen eine „Experten-“ bzw. „Beamtenregierung“ mit – wiederum zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Österreich – einer Frau an der Spitze: Bundeskanzlerin wurde die bisherige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Brigitte Bierlein, Vizekanzler der frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Clemens Jabloner.22 Mitten in dieser Regierungskrise in Österreich fanden die Europawahlen 2019 statt, bei denen die ÖVP (34,55 %, 7 Mandate) klare Nummer eins wurde, vor der SPÖ (23,89 %, 5 Mandate), der FPÖ (17,20 %, 3 Mandate), den Grünen (14,08 %, 3 Mandate 23), bei 36

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denen der neue Bundessprecher Werner Kogler als zugkräftiger Spitzenkandidat antrat, und NEOS (8,44 %, 1 Mandat). Aus den Reihen der Steirischen Volkspartei, die mit 35,74 % der Stimmen und klarem Platz eins in der Steiermark ebenso zum Wahlerfolg der ÖVP beitrug, zog mit Simone Schmiedtbauer nach einigen Jahren Vakanz nun wieder eine Mandatarin ins Europäische Parlament ein.24 Aus der Nationalratswahl am 29. September 2019 gingen Sebastian Kurz und die ÖVP dann noch deutlicher als Sieger hervor. Mit 37,46 % und 71 Mandaten konnte nicht nur ein Zugewinn von 5,99 Prozentpunkten erzielt, sondern auch der Abstand zur SPÖ als zweitstärkster Partei auf 16,28 Prozentpunkte ausgebaut werden. Die SPÖ kam mit einem Minus von 5,68 Prozentpunkten auf ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis von 21,18 % (40 Mandate), die FPÖ – mit Norbert Hofer als Parteiobmann und Klubobmann Herbert Kickl als Doppelspitze – verlor 9,80 Prozentpunkte, konnte sich mit 16,17 % (31 Mandate) dennoch trotz des „Ibiza-Skandals“ auf im langfristigen Vergleich beacht­ lichem Niveau halten. Geradezu triumphal war die Rückkehr der Grünen in den Nationalrat – neuerlich mit Werner Kogler als Spitzenkandidaten –, die mit einem Plus von 10,10 Prozentpunkten 13,90 % (26 Mandate) erreichten und damit ihr historisch bestes Wahlergebnis bei Nationalratswahlen erzielten. Die Grünen konnten im Wahlkampf vor allem davon profitieren, dass die Klimakrise – nicht zuletzt ausgelöst durch die „Fridays for future“-Bewegung – zu einem bestimmenden Thema geworden war, konnten bei ihren Sympathisanten aber ebenso erfolgreich damit werben, dass das Ausscheiden aus dem Nationalrat nun rasch rückgängig gemacht werden sollte. Während die Liste JETZT (früher Liste Pilz) mit 1,87 % am Einzug scheiterte, konnte NEOS mit Beate MeinlReisinger als Nachfolgerin von Matthias Strolz an der Spitze um 2,80 Prozentpunkte auf 8,10 % (15 Mandate) zulegen. Auch in der Steiermark konnte die ÖVP bei der Nationalratswahl mit einem Plus von 7,41 Prozentpunkten auf 38,90 % stark dazugewinnen und erreichte damit mehr Stimmen als SPÖ (19,23 %) und FPÖ (18,46 %) zusammen.25 Im Wahlkampf hatte es noch so ausgesehen, als ob die Optionen der Regierungsbildung nach der Nationalratswahl schwierig werden könnten, da es Einwände gegen alle diskutierten Varianten gab: Neuauflage der schon länger als gescheitert angesehenen „Großen Koalition“, Neuauflage der eben erst gescheiterten türkis-blauen Regierung, allenfalls – bei entsprechender Mehrheit – eine die SPÖ zu sprengen drohende Koalition mit der FPÖ oder Experiment einer entweder komplexen Dreierkoalition (insbesondere ÖVP-Grüne-NEOS ) oder einer in der politischen Kultur Österreichs unbekannten Minderheitsregierung. Nach der Wahl ergab sich überraschend die zusätzliche – bis dahin sowohl arithmetisch als auch inhaltlich für unwahrscheinlich gehaltene – Option einer türkis-grünen Regierung, die rasch auch medial breit gefordert wurde. Nach Sondierungen und mehreren Wochen Verhandlungen einigten sich ÖVP und Grüne Anfang Jänner 2020 auf die Bildung einer Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Werner Kogler, wobei das Regierungsprogramm angesichts der Klaus Poier

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in vielen Fragen unterschiedlichen Standpunkte der beiden Parteien unter das Motto „Das Beste aus beiden Welten“ anstatt „verwässerter“ Kompromisse in allen Kapiteln gestellt wurde. Aus den Reihen der Steirischen Volkspartei wurde Christine ­Aschbacher Bundesministerin für Arbeit, Familie und Jugend.

Landtagswahl 2019 Für die Steiermark hatten die „Ibiza-Affäre“ und ihre Folgen die Konsequenz, dass ein Jahr Wahlkampf drohte: von der Europawahl im Mai 2019 über die Nationalratswahl im September 2019 bis zu den grundsätzlich für März 2020 vorgesehenen Gemeinderatswahlen und der schließlich spätestens im Mai 2020 durchzuführenden Landtagswahl. Eine Vorverlegung der Landtagswahl war in Hinblick auf eine Entflechtung von (oder allenfalls Zusammenlegung mit) den Gemeinderatswahlen schon vorher immer wieder Thema gewesen. Angesichts des nun entscheidend ausgeweiteten Wahlterminkalenders nahm diese Diskussion an Fahrt auf, nicht zuletzt auch, weil die politische Diskussion in der Steiermark, massiv beeinflusst durch die bundespolitischen Ereignisse, kontroverser und damit die Einigung auf größere Zukunftsentscheidungen in der Landesregierung bzw. im Landtag vor der Landtagswahl unwahrscheinlicher wurde. Deshalb, und wohl auch, weil bundespolitische Auswirkungen der Nationalratswahl und insbesondere der folgenden Regierungs- bzw. Koalitionsbildung auf die Landtagswahl drohten bzw. zumindest nicht abschätzbar waren, stimmte die Steirische Volkspartei einem Neuwahlantrag der FPÖ im September 2019 zu. Dies erfolgte gegen den ausdrücklichen Willen der SPÖ bzw. insbesondere deren Vorsitzenden Michael ­Schickhofer, der vom Wahltermin im Mai 2020 nicht abrücken wollte. Das Klima an der steirischen Regierungsspitze war in weiterer Folge bis zur Landtagswahl deutlich rauer.26 Die Landtagswahl am 24. November 2019 brachte allerdings klare Verhältnisse und wurde zu einem triumphalen Erfolg für Hermann Schützenhöfer und die Steirische Volkspartei. Die ÖVP legte um 7,60 Prozentpunkte zu und erreichte damit wieder das Niveau von vor der Wahl 2015 (2019: 36,05 %, 18 Mandate; 2015: 28,45 %, 14 Mandate). Schwere Verluste gab es hingegen für die SPÖ, die ein Minus von 6,27 Prozentpunkten verzeichnen musste (2019: 23,02 %, 12 Mandate; 2015: 29,29 %, 15 Mandate), und die FPÖ, die mit 9,27 Prozentpunkten noch stärker verlor (2019: 16,17 %, 31 Mandate; 2015: 25,97 %, 51 Mandate). Während ­dieses Wahlergebnis für die FPÖ unter Spitzenkandidat Mario Kunasek trotz der „Ibiza-Affäre“ und dieser hohen Verluste dennoch das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte bedeutete, erzielte die SPÖ das mit Abstand schlechteste Ergebnis seit 1945 und auch der Abstand zur ÖVP ist nun mit 13,03 Prozentpunkten der größte bei Landtagswahlen in der gesamten Zweiten Republik. Der Rücktritt Michael Schickhofers als SPÖ-Vorsitzender war die logische Folge. Wie auf Bundesebene profitierten die Grünen auch in der Steiermark von einem deutlichen 38

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Rückenwind durch die Klimaschutz-Diskussion und steigerten sich mit der neuen Spitzenkandidatin Sandra Krautwaschl um 5,40 Prozentpunkte (2019: 12,08 %, 6 Mandate; 2015: 6,68 %, 3 Mandate). Auch wenn dies eine Verdoppelung der Mandate im Landtag und das bei weitem beste Ergebnis bei steirischen Landtagswahlen bedeutete, blieb für die Grünen der Wermutstropfen, dass sich eine Koalition mit der ÖVP – anders als auf Bundesebene – knapp nicht ausging und sie damit aus dem Rennen um eine Regierungsbeteiligung waren. Die KPÖ, deren Verbleib im Landtag in der öffentlichen Diskussion nicht selten angezweifelt worden war, konnte sich demgegenüber mit Spitzenkandidatin Claudia Klimt-Weithaler um 1,77 Prozentpunkte steigern (2019: 5,99 %, 2 Mandate; 2015: 4,22 %, 2 Mandate). NEOS (2019: 5,37 %, 2 Mandate; 2015: 2,64 %) gelang mit ihrem Spitzenkandidaten Nikolaus Swatek der Einzug in den Steiermärkischen Landtag, in dem damit erstmals sechs Parteien vertreten sind.27 Nicht zuletzt der Führungswechsel bei der SPÖ, aber auch die neue Konstellation auf Bundesebene machte den Weg frei für eine letztlich rasche und von konstruktiven Verhandlungen geprägte Einigung auf eine neuerliche ÖVP-SPÖ-Koalition unter Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer und seitens der SPÖ nun Anton Lang als Landeshauptmann-Stellvertreter.28 Als ÖVP-Landesräte blieben weiter Johann Seitinger, Christopher Drexler und Barbara Eibinger-Miedl, die 2017 Christian Buchmann nachgefolgt war, im Amt. Angesichts des neuen Kräfteverhältnisses im Landtag hatten die Verhandlungen zu einem fünften Sitz der ÖVP in der Landesregierung (bei nunmehr drei Sitzen der SPÖ) geführt, der in weiterer Folge mit Juliane Bogner-Strauß, die von der Bundes- in die Landespolitik wechselte, als neuer Gesundheitslandesrätin besetzt wurde. Klubobfrau der Steirischen Volkspartei blieb Barbara Riener, die ­dieses Amt seit 2017 ausübt. Im Präsidium des Steiermärkischen Landtags rückte Manuela Khom als Repräsentantin der ÖVP als der nun mit Abstand stärksten Partei zur Landtagspräsidentin auf. Als Landesgeschäftsführer der Steirischen Volkspartei fungiert weiterhin Detlev Eisel-Eiselsberg.

Die Coronakrise als enorme Herausforderung: Rückkehr zur Normalität? Auf Bundesebene erlebten wir in den letzten Jahren, wie dargelegt, turbulente Zeiten und kaum „Normalität“ der Zweiten Republik – mit neuen Koalitionen (türkisblau, dann türkis-grün), aber auch anderen neuen Entwicklungen wie einem grünen Bundes­präsidenten oder einer „Experten-“ bzw. „Beamtenregierung“ nach dem ersten erfolgreichen Misstrauensvotum gegen eine Bundesregierung. In der Steiermark kann man hingegen berechtigterweise die Frage stellen, ob wir eine Art Rückkehr zur jahrzehntelang kontinuierlichen „steirischen Normalität“ der Zweiten Republik erleben: mit der weiterhin regierenden Großen Koalition (wenn auch mit einer deutlich geschrumpften SPÖ), der Steirischen Volkspartei in der klaren Klaus Poier

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Führungsrolle und mit Hermann Schützenhöfer nun wieder einem ÖVP-Landeshauptmann an der Spitze. Freilich gestaltet sich aktuell unser Leben seit dem Frühjahr 2020 alles andere als „normal“. Wir erleben in der sogenannten „Coronakrise“ nie für möglich gehaltene Eingriffe in unsere Freiheiten, Grundrechte, in die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben, die mit dem Ziel gesetzt wurden, das Leben und die Gesundheit der Menschen zu ­schützen und insbesondere den – in anderen Ländern wie Italien erfolgten – Zusammenbruch des Spitalssystems zu verhindern. Mit der Verschiebung der für 22. März 2020 angesetzten steirischen Gemeinderatswahlen als eine der ersten Maßnahmen war in unserem Bundesland schon sehr früh auch das demokratische System unmittelbar betroffen.29 Insofern stellte sich im Übrigen die Vorverlegung der Landtagswahl als nachträglicher Vorteil heraus, als wohl auch eine im Mai 2020 durchzuführende Landtagswahl hätte verschoben werden müssen. Aktuell hoffen alle auf eine möglichst baldige Rückkehr zur Normalität nach der gesundheitlichen Bedrohung und all den Einschränkungen. Freilich ist zu befürchten, dass die Auswirkungen der Krise noch viele Jahre zu spüren sein werden – insbesondere in Wirtschaft und am Arbeitsmarkt – und sowohl für die Bundes- wie auch für die Landespolitik, vor allem was die öffentlichen Finanzen betrifft, für längere Zeit schwere Aufgaben mit sich bringen werden.

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Dieser Text wurde anlässlich des Jubiläums 75 Jahre Steirische Volkspartei als Ergänzung zu bzw. Fortsetzung von „70 jahre steirische reformkraft“, politicum 118 (2015), verfasst und im Mai 2020 erstmals online publiziert (http://www.stvp.at/steirische-volkspartei-feiert-75-jahre/). Vgl. Klaus Poier: 2005 – 2015. Das janusköpfige Dezennium, in: „70 jahre steirische reformkraft“, politicum 118 (2015), 96 ff. Verfassungsnovelle LGBl. 8/2012. Vgl. Wolfgang Wlattnig/Manfred Kindermann/Hans-Jörg Hörmann: Steiermärkische Gemeindestrukturreform 2015, Wien 2016. Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus Poier: Die steirische Landtagswahl 2015: Erwartbares, Überraschungen, Lehren?, in: Beatrix Karl u. a. (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2015. Wien/Köln/ Weimar 2015, 137 ff. Vgl. die Wahlumfragen auf https://neuwal.com/wahlumfragen/ (zuletzt eingesehen am 12. Mai 2020). Vgl. Anton Pelinka: Steirisch oder griechisch, in: Die Zeit, Ausgabe 7/2012. Vgl. nochmals die Verfassungsnovelle LGBl. 8/2012. Das Regierungsübereinkommen hatte die Überschrift „KRÄFTE BÜNDELN – STEIERMARK STÄRKEN. KOALITION.ZUKUNFT.STEIERMARK“, siehe http://www.stvp.at/files/2015/06/Koalition_Zukunft_ Steiermark.pdf (zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). Vgl. dazu „Reform des Gesundheitssystems“, politicum 106 (2008). Vgl. dazu Edwin Benko: Amokfahrt in Graz – Menschen in Ausnahmesituationen menschlich kompetent begleiten, in: Beatrix Karl u. a. (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2015, Wien/Köln/ Weimar 2016, 71 ff.

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Vgl. zu ­diesem Themenkomplex die Beiträge in „Asyl“, politicum 119 (2016). Hermann Schützenhöfer verwendet das Bild „Fels in der Brandung“ selbst sehr häufig, indem er darauf hinweist, dass für ihn in seiner politischen Tätigkeit die katholische Soziallehre ein solcher „Fels in der Brandung“ sei; vgl. exemplarisch https://www.kleinezeitung.at/politik/ innenpolitik/5619116/Neues-SozialhilfeGesetz_SPO e-ruft-VfGH -an-Schuetzenhoefer-hat (zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). Zur Gemeinderatswahl 2017 in Graz vgl. mehrere Beiträge in: Beatrix Karl u. a. (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2017, Wien/Köln/Weimar 2018. Vgl. Klaus Poier: Die ewige Bundespräsidentenwahl 2016, in: Beatrix Karl u. a. (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2016. Wien/Köln/Weimar 2017, 155 ff. Vgl. Klaus Poier: Vorhersehbar und unausweichlich: Anmerkungen zur Aufhebung der Bundespräsidenten-Stichwahl 2016 durch den Verfassungsgerichtshof, in: Andreas Khol u. a. (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 2016, Wien/Köln/Weimar 2017, 85 ff. Zur Nationalratswahl 2017, Vorgeschichte und Folgen vgl. bereits Klaus Poier: Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik, in: Beatrix Karl u.a (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2017, Wien/Köln/Weimar 2018, 121 ff. Dazu und insbesondere zur sogenannten „Silberstein-Affäre“ vgl. Heidi Glück: Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf, in: Beatrix Karl u. a. (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2017, Wien/ Köln/Weimar 2018, 115 ff. Vgl. dazu Hubert Sickinger: Wahlkampffinanzierung im Schatten der Wahl 2017, in: Barbara Tóth/ Thomas Hofer: Wahl 2019. Strategien, Schnitzel, Skandale, Salzburg/München 2019, 151 ff. Vgl. dazu und zum Folgenden nochmals Klaus Poier: Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik, in: Beatrix Karl u.a (Hg.): Steirisches Jahrbuch für Politik 2017, Wien/Köln/Weimar 2018, 121 ff. Vgl. dazu Barbara Tóth: Einmal Ibiza und zurück, in: Barbara Tóth/Thomas Hofer: Wahl 2019. Strategien, Schnitzel, Skandale, Salzburg/München 2019, 127 ff. Vgl. zur Vorgeschichte der Nationalratswahl 2019 und dieser Thomas Hofer: Auf dem Weg zur Emokratie, in: Barbara Tóth/Thomas Hofer: Wahl 2019. Strategien, Schnitzel, Skandale, Salzburg/ München 2019, 11 ff. Vgl. dazu auch Klaus Poier: Die Rolle von Parlament und Bundespräsident bei der Regierungsbildung (und Regierungsentlassung) in Österreich – Reformbedarf?, in: Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform: Demokratiebefund 2019, 12 ff., abrufbar unter: http://www.mehrheitswahl. at/material/Demokratiebefund-2019-gesamt-web.pdf (zuletzt eingesehen am 15. 05. 2020). Ursprünglich erzielten die Grünen zwei Mandate. Das Österreich nach dem Brexit zustehende 19. Mandat im Europäischen Parlament fiel dann ebenso den Grünen zu. Zu den Ergebnissen der Europawahl 2019 siehe die offiziellen Ergebnisse auf der Homepage des Innenministeriums, https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx, bzw. des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung, https://egov.stmk.gv.at/wahlen/EW 2019/ index_EW2019.html (beides zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). Zu den Ergebnissen der Nationalratswahl 2019 siehe die offiziellen Ergebnisse auf der Homepage des Innenministeriums, https://wahl19.bmi.gv.at/, bzw. des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung, https://egov.stmk.gv.at/wahlen/NR 2019/index_NR 2019.html (beides zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). Die Neuwahlentscheidung führte auch zu zwischenzeitlichen Irritationen ­zwischen Franz Voves, der einen „offenen Brief“ veröffentlichte, und Hermann Schützenhöfer; nach einigen Wochen kam es jedoch wieder zur Versöhnung (vgl. etwa die Medienberichte vom 5. September 2019 und

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vom 31. Oktober 2019 abrufbar unter https://www.kleinezeitung.at/steiermark/landespolitik/ landtagswahl/5685245/Nach-NeuwahlBeschluss_Offener-Brief_Voves-enttaeuscht-ueber bzw. https://www.kleinezeitung.at/steiermark/landespolitik/landtagswahl/5715102/Landtagswahl_ Schuetzenhoefer-versoehnte-sich-mit-Voves; beides zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). 27 Zu den Ergebnissen der Landtagswahl 2019 siehe die offiziellen Ergebnisse auf der Homepage des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung, https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/ beitrag/12751079/74836525/ (zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). 28 Das Regierungsübereinkommen hat die Überschrift „AGENDA WEISS-GRÜN. STEIERMARK GEMEINSAM GESTALTEN“, siehe http://www.stvp.at/files/2019/12/Agenda-weiss-gr%C3 %BCn-1.pdf (zuletzt eingesehen am 15. Mai 2020). 29 Siehe die Novelle zur Gemeindewahlordnung 2009, LGBl. 21/2020, mit der in § 98b eine eigene Bestimmung für „Außerordentliche Verhältnisse“ geschaffen wurde.

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2015 – 2020. Rückkehr zur Normalität?

Steiermark und Österreich live

CHRISTOPH GRABENWARTER

Die zwei Verfassungen der Steiermark*

Im Jahr 2020 haben wir 100 Jahre Bundesverfassung gefeiert. Der Festakt der Steiermärkischen Landesregierung liegt zeitlich ziemlich genau in der Mitte ­zwischen der Beschlussfassung der Verfassung in der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 und ihrem Inkrafttreten am 11. November 1920. Doch diese Zäsur in der Geschichte Österreichs, zwei Jahre nach der Errichtung der Republik, ist nicht das einzige positive Ereignis in der Verfassungsgeschichte der Republik, dessen wir nach 100 Jahren gedenken. Vor 25 Jahren trat Österreich der Europäischen Union bei, der Beitritt bedingte die größte Verfassungsänderung in der Geschichte, die in den geordneten Bahnen der Bundesverfassung verlief. Diese Gesamtänderung der Bundesverfassung wurde nach einer Volksabstimmung im Jahr 1994 beschlossen – die einzige verfassungsrechtlich notwendige Volksabstimmung in 100 Jahren. 25 Jahre vergingen auch von 1920 bis zum Jahr 1945, dem Jahr, in dem die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg endeten. Wir konnten daher auch der 75. Wiederkehr der Wiedererrichtung der Republik sowie der Länder und ihrer Organe, Landesregierungen und Landtage gedenken. Es sind also zwei Jubiläen und wir haben es mit zwei Verfassungen zu tun: der Bundesverfassung und der steiermärkischen Landesverfassung. Beide Regelwerke sind aufeinander bezogen. Ohne die Länder und den intensiven Einsatz ihrer Vertreter im Jahr 1920 hätte es die österreichische Bundesverfassung so nie gegeben. Und ohne die Bundesverfassung gäbe es die heutigen Landesverfassungen nicht. Bundesverfassung und Landesverfassungen sind aufeinander bezogen, sie sind untrennbar miteinander verbunden. Im Folgenden ist es mein Anliegen, die Rechtsschichten freizulegen, die den Zusammenhalt von Bund und Ländern begründen, sicherstellen und vor Anfechtungen ­schützen. „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ So prägnant, klar und schön ist es im Artikel 1 der Bundesverfassung formuliert. Nicht die Menschenwürdegarantie oder eine huldvolle Präambel stehen an der Spitze der Verfassung, sondern das normative Bekenntnis zu Demokratie und Republik. Im selben Stil geht es weiter, Artikel 2 lautet: „Österreich ist ein Bundesstaat. Der Bundesstaat Christoph Grabenwarter

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wird gebildet aus den selbstständigen Ländern Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Wien.“ Die steiermärkische Landesverfassung steht der Bundesverfassung in dieser Hinsicht in nichts nach. Sie beginnt ganz im gleichen Stil: „Die Steiermark ist ein selbstständiges Bundesland der demokratischen Republik Österreich.“ Über jedes dieser Worte können Juristinnen und Juristen stundenlang diskutieren, sie können sich aber auch auf den Kerngedanken konzentrieren. Dieser Kerngedanke wird in der vergleichenden Zusammenschau sichtbar: er besteht darin, dass Bundesverfassung und Landesverfassung an dieser Stelle im Höchstmaß aufeinander abgestimmt sind. Demokratie und Republik sind eben nicht nur durch die Bundesverfassung und die entsprechenden Grundprinzipien abgesichert, sondern auch im Landesverfassungsrecht. Ohne Demokratie und Republik ist, so könnte man pointiert formulieren, mit der Steiermark und den anderen gleich oder ähnlich verfassten Ländern kein Staat zu machen, kein Bundesstaat im Sinne der Artikel 1 und 2 der Bundesverfassung. Die Bundesstaatlichkeit fußt auf der Demokratie auf Bundesebene und auf der Demokratie auf Landesebene. Es gibt eine zweite wesentliche Parallele ­zwischen der Bundesverfassung und der Landes­verfassung. Beide Verfassungen sind nicht geschwätzig, schnörkelhaft oder beladen mit Ideologie. Wir haben es mit sogenannten Spielregelverfassungen zu tun, die sich auf das Wesentliche konzentrieren: Grundlagen der Verfassung und die Regelung über die Organe der beiden Staatsgewalten der Exekutive und der Legislative sowie über die Grundlagen der Kontrolle, beginnend mit den Gerichten über die Volks­anwaltschaften bis hin zu den Rechnungshöfen. Diese Nüchternheit, diese Klarheit und diese Prägnanz sind die Grundlage für das Urteil des Bundespräsidenten, dass wir eine elegante und schöne Bundesverfassung haben, in dieser Lesart kann man das Kompliment durchaus auch auf die Landesverfassung erstrecken. Eine weitere Eigenschaft zeichnet Verfassungen aus, die auf der Höhe der Zeit sind. Sie regeln das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat. Eine zentrale Garantie ist hier das aktive und passive Wahlrecht auf den verschiedenen Ebenen, vom Europaparlament über den Nationalrat bis zu den Landtagen und Gemeindevertretungen. Es wird auf Bundes- wie auf Landesebene ergänzt durch Elemente der direkten Demokratie, Volksbegehren, Volksabstimmung und Volksbefragung. Auf Landesebene werden diese Instrumente weiter ausgebaut und unter dem Begriff der Volksrechte zusammengefasst. In den politischen Partizipationsrechten treffen sich Demokratie und Grundrechte. Das gilt für die Ebene des Bundes ebenso wie für jene des Landes. Die steiermärkische Landesverfassung hat im Bereich der Volksrechte sowohl auf Ebene des Landes wie auch auf Ebene der Gemeinden die bundesverfassungsrechtlich eingeräumte Autonomie in hohem Ausmaß genutzt. Der heutige Stand wurde mit der Volksrechte-Novelle 1986 erreicht und bildet ein im österreichischen 46

Die zwei Verfassungen der Steiermark

Bundesländervergleich hohes Niveau an Partizipationsmöglichkeiten ab. Dass sie in der Praxis nicht so häufig genutzt werden, tut dem Befund keinen Abbruch, dass die Landesverfassung ein starkes Signal für Demokratie und Bürgerbeteiligung setzt. Der Landesverfassungsgesetzgeber hat dabei den Spielraum genutzt, den ihm die Bundesverfassung gibt. Bestimmend für das Verhältnis der beiden Verfassungen auf Bundes- und Landesebene ist Art. 99 Abs. 1 der Bundesverfassung, der den Ländern Autonomie in der Verfassungsgebung soweit lässt, als „dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird“. Verfassungsjuristen sprechen von der relativen Verfassungsautonomie der Länder. In mehr als einem Dutzend Artikeln der Bundesverfassung werden der Landesverfassung ausdrücklich Fragen zur Regelung zugewiesen. Ein nicht ausdrücklich geregelter Bereich sind Grundrechte und Staatsziele. Die steiermärkische Landesverfassung verzichtet im Gegensatz zu den meisten anderen Landesverfassungen auf inhaltliche Aufladungen durch Staatsziele und Grundrechte bzw. grundrechtsähnliche Bestimmungen neben jenen der Bundesverfassung. Das ist kein Defizit, sondern Qualität und Ausdruck der engen Verbundenheit mit der Bundesverfassung. So sehr das Bekenntnis zu Menschenwürde bzw. menschenwürdigem Leben und Sterben in fünf anderen Landesverfassungen von guten und höchst achtenswerten Absichten getragen ist, so sehr muss auf die begrenzte Bedeutung im Hinblick auf den Art. 99 der Bundesverfassung hingewiesen werden, und so wenig bildet das Fehlen eines solchen Bekenntnisses in der steiermärkischen Verfassung ein Defizit. Dasselbe gilt für das Bekenntnis zur Gleichbehandlung aller Menschen, die auf europäischer und bundesweiter Ebene unverbrüchlich verankert ist und durch europäische und österreichische Gerichtshöfe effektiv kontrolliert wird. Hier fällt mehr ins Gewicht, dass der Landesverfassungsgesetzgeber seine Aufgaben bei Funktionsbezeichnungen in weib­ licher und männlicher Form sehr früh gemacht hat. Mit einem gewissen Augenzwinkern kann man vermuten, dass diese Entwicklung durch den Umstand begünstigt wurde, dass die Steiermark nicht nur grammatikalisch das einzige weibliche Bundesland ist, sondern auch die erste Frau ins Amt der Landeshauptfrau gewählt hat. Verfassungen entstehen meist in Krisenzeiten, nach Kriegen und politischen Katastrophen. Die Jahre 1918 bis 1920 und jene nach 1945 waren mit Sicherheit ­solche Krisenzeiten. Weil das so ist, haben die Verfassungsväter auf Bundesebene wie auf Landesebene den Krisenfall gut im Blick gehabt. Verfassungen müssen sich auch und gerade in der Krise bewähren. Dafür schaffen entsprechende Notstandsregelungen die Voraussetzungen. Zwei Instrumente auf Bundes- wie auf Landesebene sind hier hervorzuheben. Das erste Instrument sind Regelungen über die Verlegung des Sitzes von Organen „für die Dauer außerordentlicher Verhältnisse“, wie es gleichlautend in Art. 4 der Landesverfassung und in Art. 5 Abs. 2 der Bundesverfassung heißt. Das zweite Instrument ist das Notverordnungsrecht, auf Bundesebene jenes des Bundespräsidenten, auf Landesebene jenes der Landesregierung nach Art. 42 der Landesverfassung. Christoph Grabenwarter

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Es trägt Vorsorge dafür, dass gesetzesgleiche Regelungen getroffen werden können, wenn die Organe der Gesetzgebung nicht zusammentreffen können. Ein drittes Instrument gibt es auf europäischer und völkerrechtlicher Ebene, das auch Eingang in das österreichische Verfassungsrecht gefunden hat, nämlich die Möglichkeit des Außerkraftsetzens von Grund- und Menschenrechten im Notstandsfall nach Art. 15 der Menschenrechtskonvention, im Fall eines Krieges oder anderen öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht. Eine Pandemie kann einen solchen Fall bilden, und immerhin zehn europäische Staaten haben von dieser Möglichkeit in den vergangenen Monaten Gebrauch gemacht. Österreich ist nicht unter diesen Staaten. Österreich wurde im Jahr 2019 von einer schweren politischen Krise und im Jahr 2020 von der schwersten Gesundheitskrise der letzten 70 Jahre heimgesucht. Vor allem an der gegenwärtigen Pandemie fallen auf den ersten Blick nur negative Momente auf. Blickt man auf die Reaktionen des Staates wie der Bevölkerung im letzten Jahr, so findet man aber nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Alle drei genannten Notfallinstru­ mente mussten in Österreich zu keinem Zeitpunkt eingesetzt werden. Nationalrat und Landtage haben weiter gearbeitet, oft zu ungewöhnlichen Zeiten und in einem ungewöhnlichen Tempo. Die Verwaltung hat sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in vielen Bereichen auf die neuen Verhältnisse eingestellt. Und die kontrollierende Gerichtsbarkeit hat ihre Aufgabe unverändert erfüllt. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits nach wenigen Monaten Gesetzwidrigkeiten im Bereich der Verordnungserlassung aufgezeigt und Korrekturen in der Praxis bewirkt. Auch für die Ereignisse des Jahres 2019 kann man aus heutiger Sicht festhalten, dass es zwar eine politische Krise, keineswegs aber eine Verfassungskrise gegeben hat. Die Verfassungsorgane auf Bundesebene haben die ihnen von der Verfassung in die Hand gegebenen Instrumente genützt. Zum wiederholten Male im 21. Jahrhundert wurde die Gesetzgebungsperiode vorzeitig beendet und nach einer Neuwahl wurde ein politischer Wechsel herbeigeführt. Es war vieles neu im Jahr 2019, die Bundesregierung bestand für mehrere Monate nicht aus Politikerinnen und Politikern, sondern aus Expertinnen und Experten. Koalitionsverhandlungen haben etwas länger als sonst gedauert, aber der Staat und seine Organe haben in den Bahnen der Verfassung weiter funktioniert. Mehr als das Funktionieren der staatlichen Institutionen ist aber ein anderes Moment mindestens ebenso entscheidend. Obwohl einige Grundrechte in den vergangenen Monaten in einigen Bereichen in einem Maße beschränkt wurden, wie es das jedenfalls seit 1955 in Österreich nicht mehr gegeben hat, haben Staatsorgane und Bevölkerung das Bewusstsein für die Bedeutung von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit nicht aufgegeben. Es könnte eine Erkenntnis aus dem Zusammentreffen von Verfassungsgedenken und Republiksjubiläum sein, dass es gegenwärtig keinen Anlass für große Feiern gibt. Wohl aber können wir Jubiläen nützen, uns dessen noch stärker bewusst zu werden, was unser Gemeinwesen trägt. Das sind ein robustes juristisches 48

Die zwei Verfassungen der Steiermark

Regelwerk auf der einen Seite und der verantwortungsvolle Umgang mit Rechten und Kompetenzen durch staatliche Funktionsträger andererseits. Das eine haben wir seit langem, und das Bewusstsein, dass wir es haben, sollte Ermutigung für die staatlichen Entscheidungsträger auf allen Ebenen sein, auch in Zukunft mit Maß und Ziel die von der Verfassung eingeräumten Kompetenzen auszuüben. Dieser staatlichen Verantwortung korrespondiert die wache Zivilgesellschaft einschließlich der Medien, die das – vor allem nach 1945 erreichte, nach dem EU-Beitritt 1995 vertiefte – gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich auf guten Fundamenten stehende Gemeinwesen stabilisiert. Vor 50 Jahren prägte der deutsche Politologe Dolf Sternberger den Begriff des Verfassungspatriotismus. Der Begriff wurde in der Folge mit vielen Zuschreibungen und Kontroversen belastet. Seine Modifikation durch Jürgen Habermas entlastete die Diskussion so, dass wir den Begriff heute positiv besetzt verwenden können. Wenn wir heute in der guten Lage sind, die Verfassungen als Grundbedingung einer freiheitlichen Demokratie außer Streit gestellt zu wissen, so können wir getrost für ein Stück Verfassungspatriotismus, oder vielleicht weniger pathetisch: für mehr Verfassungsbewusstsein werben – im öffentlichen Diskurs, in der medialen Berichterstattung und in den Bildungsinstitutionen aller Stufen. Die zwei Verfassungen schaffen die Grundlage und den Rahmen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie sind eingebettet in das Recht der Europäischen Union. Als Mitglied in der Europäischen Union prägt Österreich die Werte mit, auf die sich die Union gründet und die im Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union aufgezählt werden: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Und die beiden Verfassungen konstituieren die nationale Identität, wie sie nach Art. 4 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Mit dieser Formulierung rundet das Unionsrecht den Blick auf die Bundesverfassung und die Landesverfassung ab. Beide regeln nicht länger bloß die beiden Ebenen im Bundesstaat, sondern bilden das Rückgrat im viel beschriebenen europäischen Mehrebenensystem, zu dem neben der Ebene der Europäischen Union eben auch die gemeindliche Selbstverwaltung gehört, in der sich staatliches Handeln häufig zuerst und am unmittelbarsten zu bewähren hat – in Normalzeiten wie in Zeiten der Krise.

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Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser am 19. Oktober 2020 in der Alten Aula der Universität Graz im Rahmen des Festakts „Die Steiermark im Gedenk- und Jubiläumsjahr der Republik Österreich 2020“ gehalten hat. Die Vortragsform wurde beibehalten.

Christoph Grabenwarter

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HELMUT KONRAD

100 Jahre danach: Das politische Ringen um eine Verfassung

Gerade in den letzten Jahren musste die österreichische Bundesverfassung mehr als einmal bisher unbekannte Belastungsproben bestehen. Sie hat das mit Bravour bewältigt und nicht ganz zu Unrecht sprach und spricht man von der „Schönheit“ oder der „Eleganz“ ­dieses Gesetzeswerkes, obwohl „Funktionalität“ die richtigere Bezeichnung wäre. Jedenfalls hat das Gesetzeswerk die Stresstests gut bewältigt. Dabei ist unsere Verfassung keine Schöpfung der jüngsten Zeit, die sich auf die Erfahrungen aus anderen demokratischen Ländern stützen könnte, sie ist vielmehr eine der ältesten Verfassungen Europas, die derzeit noch in Kraft sind. Und ihre Geschichte mit der Vorgeschichte und den Änderungen ist ein Spiegelbild der Geschichte des jungen österreichischen Staates, vom Erbe der Monarchie, von den Kräfteverhältnissen zu Beginn der ­Ersten Republik, von der Verschiebung dieser Kräfteverhältnisse im Folgejahrzehnt, von den autoritär-faschistischen Gegenentwürfen bis zum völligen Verschwinden. Nicht zuletzt war kurzfristig auch umstritten, an ­welche Version der Verfassung man 1945 anknüpfen sollte, um der Zweiten Republik ein rechtliches Fundament zu bauen. Der Erste Weltkrieg brachte als Resultat eine völlige Neugestaltung des zentralund osteuropäischen Raumes mit dem Entstehen einer Reihe von neuen Staaten, mit neuen politischen Ideen und Wertvorstellungen und mit ungeheuren sozialen und ökonomischen Problemen. Die Spanische Grippe hatte gerade Opfer gefordert, die die Zahl der Kriegstoten übertraf, die Tuberkulose wurde „Wiener Krankheit“ genannt und die Wirtschaft sah sich mit einem schwierigen Anpassungsprozess an die neuen geopolitischen Rahmenbedingungen herausgefordert. Die Republik „Deutschösterreich“, die sich schon vor Kriegsende durch den Beschluss der Reichsratsabgeordneten aus den dominant deutschsprachigen Wahlkreisen der Monarchie konstituiert hatte, konnte zu Beginn über kein definiertes Staatsgebiet verfügen. Erst der Friedensvertrag von Saint Germain schuf einigermaßen die oft ungeliebte Klarheit. Allerdings waren die Grenzverläufe in Kärnten und vor allem die Grenze zum Nachbarstaat Ungarn noch immer nicht definitiv festgelegt. Dennoch stand die Aufgabe an, dem jungen Staat eine Verfassung zu geben. Das war keine leichte Aufgabe, denn die Koalitionspartner im Parlament hatten durchaus unterschiedliche ­Grundpositionen. Helmut Konrad

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Ein paar Entscheidungen waren allerdings schon gefallen: Der Staat war eine Republik und die Frauen hatten das Wahlrecht erhalten. In ­diesem letzten Punkt war man vielen älteren europäischen Staaten voraus. Andere grundlegende Beschlüsse aus den Beschlüssen der Provisorischen Nationalversammlung, die am 12. November 1918 im Gründungsdokument der ­Ersten Republik als Grundlagen des neuen Staates formuliert wurden, waren realpolitisch rasch Makulatur. Das galt vor allem für den ebenda verkündeten Artikel 2: „Deutschösterreich ist Bestandteil der Deutschen Republik.“ Die Umsetzung ­dieses Artikels hätte eine eigene österreichische Verfassung nicht notwendig gemacht. Doch schon der Friedensvertrag von Versailles, den die Siegermächte mit Deutschland schlossen, beseitigte jede Hoffnung auf einen möglichen Anschluss an das demokratische Deutschland, das die Nachfolge des Hohenzollernstaates angetreten hatte. In Saint Germain wurde dies nur noch bestätigt. Österreich, wie „Deutschösterreich“ nunmehr heißen sollte, um auch im Namen jede Anschlussvision zu tilgen, musste auf eigenen Beinen stehen und sich inmitten der politischen, sozialen, ökonomischen und medizinischen Problemlagen auf gemeinsame Wertvorstellungen verständigen, die in einer Verfassung zum Ausdruck kommen sollten – als Fundament einer Entwicklung hin zu einem funktionierenden Staat. Die ersten Wahlen im jungen Staat fanden am 16. Februar 1919 statt. Die Sozialdemokratie konnte dabei ihre realpolitische Macht, die sie in den Wochen des Umbruchs erlangt hatte, nun auch parlamentarisch, wenn auch nur knapp, festigen. Sie errang 72 Sitze, um drei mehr als das christlichsoziale Bündnis, 27 Sitze gingen an das deutschnationale Bündnis. Dass die beiden großen Parteien zusammenarbeiten mussten, war angesichts des Berges an Problemen und ungelösten Fragen unausweichlich. Karl Renner, der bisher die Regierung Renner I geführt hatte, bildete die Koalitionsregierung Renner II, die den Staatsvertrag von Saint Germain durch das Parlament zu bringen hatte und die sich mit den Grenzfragen in Kärnten und im Burgenland unter Berücksichtigung der oftmals unterschiedlichen Positionen der Siegermächte befassen musste. An den emotional schwer zu verkraftenden Gebietsverlusten (Südtirol und die Untersteiermark) war politisch nicht mehr zu rütteln. Noch galt es auch, die „Habsburgerfrage“ zu lösen. Am 3. April 1919 wurde beschlossen, dass das Vermögen der Familie Habsburg in den Besitz der Republik Österreich übergehen sollte. Eine Woche ­später erfolgte das Gesetz über die Aufhebung des österreichischen Adels, das Führen von Adelstiteln ist seither untersagt. Bemerkenswert war aber vor allem die Sozialgesetzgebung jener Monate, die aus Österreich, allen ökonomischen Schwierigkeiten zum Trotz, einen modernen Sozialstaat machten – vorbildlich bis in die Gegenwart. Das war dem Umstand zu verdanken, dass es noch immer nicht unrealistisch schien, dass Österreich dem Beispiel Ungarns, wo Béla Kuns Revolution den Staat grundlegend zu verändern versuchte, folgen könnte. Das Bürgertum war daher in Österreich zu großen 52

100 Jahre danach: Das politische Ringen um eine Verfassung

Zugeständnissen bereit, um das revolutionäre Potential der Straße in das staatliche Regelwerk einzubinden. Aber noch immer fehlte eine Verfassung. Den Sozialdemokraten schwebte ein zentra­ listisches Modell vor, die Konservativen strebten einen stärker föderalistischen Staatsaufbau an. Allerdings wurden die Reibereien innerhalb der Regierung rasch größer, zumal die Revolutionsfurcht nach der ungarischen Konterrevolution verschwunden war und die Sozialdemokratie nicht mehr mit dem Rückenwind der Massen auf den Straßen das Heft des Handelns in der Hand halten konnte. So zerbrach im Sommer 1920 die Zusammenarbeit und man einigte sich nur noch auf ein Gesetz zur Verkürzung der Legislaturperiode, die nur mehr bis zum 31. Oktober 1920 dauern sollte. Danach sollte gewählt werden. Der Wahlkampf lief sofort an. Die Konstituierende Nationalversammlung hatte aber ihre Kernaufgabe, dem jungen Staat eine Verfassung zu geben, noch nicht erledigt. Es ist bemerkenswert und zeugt vom Verantwortungsbewusstsein der politischen Akteure, dass man bereit war, trotz des harten Wahlkampfs, den man gegeneinander führte, sich dieser zentralen Aufgabe im Parlament noch gemeinsam zu stellen. Dazu bedurfte es an den zentralen Schaltstellen der Parteien Personen, deren Horizont über das politische Tagesgeschehen hinausging. Das waren an der Staatsspitze Karl Renner von den Sozialdemokraten und Michael Mayr von der Christlichsozialen Partei, die den jungen Rechtsprofessor Hans Kelsen von der Universität Wien gewinnen konnten, die Wertvorstellungen in eine juristisch haltbare Form zu gießen und die Konsistenz des Gesamtwerks im Auge zu behalten. Mit Fug und Recht kann man Kelsen daher als den Schöpfer dieser Verfassung bezeichnen. Dass diese Entwürfe die parlamentarische Diskussion überstehen konnten, war den im Ausschuss sitzenden Spitzenpolitikern Otto Bauer und Ignaz Seipel zu danken, den beiden Kontrahenten aus dem sozialdemokratischen und dem konservativen Lager, die mit ihren intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten den politischen Diskurs der ­Ersten Republik bestimmen sollten. Das Bundes-Verfassungsgesetz wurde schließlich am 1. Oktober 1920 in der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. Veröffentlicht wurde es im Bundesgesetzblatt vom 10. November 1920. Zwischen diesen beiden Daten lag die Nationalratswahl vom 17. Oktober 1920, die das Kräfteverhältnis ­zwischen den Parteien grundlegend änderte und die Sozialdemokratie für die verbleibenden Jahre der ­Ersten Republik auf die Oppositionsbank zwang. Rückschauend ist es mehr als bemerkenswert, dass nur gut zwei Wochen vor einer entscheidenden Wahl und inmitten einer politisch noch immer aufgeheizten Stimmung die Nationalversammlung zu einer solchen Beschlussfassung fähig war. Und zeitgleich standen ja andere Fragen noch an: In Kärnten lag die Volksabstimmung gerade erst eine Woche zurück und die Grenze zu Ungarn war trotz der Vorgaben der Friedensverträge von Saint Germain und Trianon noch offen. Die Burgenlandgesetze mussten die österreichische Bundesverfassung sehr bald ergänzen. Helmut Konrad

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Allerdings war diese Verfassung vom Oktober 1920 kein wirklich umfassendes Gesetzeswerk, denn überall dort, wo sich die beiden großen Parteien nicht einigen konnten, blieben ältere Bestimmungen in Kraft. Darunter sind vor allem die Grundrechte zu nennen, bei denen man die Dezemberverfassung von 1867 mit ihren Formulierungen über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger einfach beibehielt. In der Frage der Kompetenzverteilung ­zwischen dem Bund und den Ländern (bereits mit Wien, aber noch ohne das Burgenland) konnte keine Einigung erzielt werden, da prallten Grundsätze aufeinander. Dennoch, die Kelsen-Verfassung kann als großer Wurf bezeichnet werden, als Vorbild und Modell für die Diskussionen in anderen Staaten. Sie war auch das Startsignal zur großen internationalen Karriere ihres Verfassers. Die Verfassung hatte allerdings in den nächsten Jahren Novellierungen zu durchlaufen. 1925 wurde die Kompetenzverteilung ­zwischen dem Bund und den nunmehr definierten neun Bundesländern geregelt. Diese Novelle trat am 1. Oktober 1925 in Kraft, nach einer „Wiederverlautbarung“ des Bundes-Verfassungsgesetzes wenige Tage zuvor. Noch entscheidender war allerdings die Novelle von 1929, die eine Machtverschiebung vom Parlament zum Bundespräsidenten vorsah. Die Sozialdemokraten, deren Zustimmung im Parlament notwendig war, um eine Verfassungsmehrheit zu erreichen, wehrten sich heftig und durchaus nicht ohne Erfolg gegen eine allzu große Machtfülle in der Hand eines Bundepräsidenten, hatten sie doch die autoritären Strukturen in einzelnen Ländern Zentraleuropas als warnende Beispiele vor Augen. So kam es 1929 letztlich zu jener Version unserer Verfassung, die nach den Vergewaltigungen, die Ständestaat und vor allem Nationalsozialismus der österreichischen Demokratie angetan hatten, die Wiedererrichtung und die positive Entwicklung eines demokratischen Staatswesens auf der Grundlage einer soliden Verfassung möglich machen konnte.

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100 Jahre danach: Das politische Ringen um eine Verfassung

WERNER ANZENBERGER

100 Jahre Arbeiterkammer – ein Verdienst?

1975 besingt Wolfgang Ambros hundert Jahre Zentralfriedhof in Wien-Simmering. 1978 zelebriert die DDR den dreißigjährigen Bestand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der in seiner Satzung die „führende Rolle der SED als marxistisch-leninistische Vorhut der deutschen Arbeiterklasse“ 1 überschwänglich preist. 2013 feiert die globale Humanitas 150 Jahre Internationales Rotes Kreuz. Alle Jahre Kaisers Geburtstag – bis heute in Millstatt am See. Ein Jubiläum, ein rundes gar, sagt wenig über die Qualität des gefeierten Jubilars. Kann gut sein, kann weniger gut sein. Im Februar 1920 wurden die gesetzlichen Grundlagen für die österreichischen Arbeiterkammern geschaffen. Die steirische Kammer hat dies mit einem Festakt gewürdigt, eine Ausstellung gestaltet und eine umfangreiche Festschrift 2 aufgelegt. Die anderen Bundesländer werden mit Feierlichkeiten und Aktivitäten folgen. Hundert Jahre Arbeiterkammer. Ein stolzes Alter, gewiss. Aber auch ein Verdienst? Was hat die Institution zur gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen? Was geleistet für die Demokratisierung der Republik, die Festigung des Rechtsstaates, den sozialen Ausgleich?

Aufgaben und Leistungen In Österreich sind die – in den Bundesländern autonom eingerichteten – Arbeiterkammern und die Bundesarbeitskammer „berufen, die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu vertreten und zu fördern“.3 Andere europäische Arbeiterkammern – etwa Bremen und Saarland in Deutschland sowie Luxemburg – nennen noch weitere Förderziele: Die Arbeiterkammern von Saarland und Bremen heben ausdrücklich ökonomische Interessen hervor, Bremen zudem die Gleichberechtigung der Geschlechter.4 Alle drei nicht-österreichischen Kammern zählen auch die „Integration von Ausländern und Ausländerinnen“ zu ihren vornehmlichsten Aufgaben.5 In den Anfängen der ­Ersten Republik hatten die Arbeiterkammern prioritär physischen Raum für ihre Tätigkeiten zu schaffen. Sie setzten ihre Schwerpunkte in Bildung Werner Anzenberger

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und gutachterlicher Expertise. Dazu kamen erste Ansätze von Rechtsberatung und -vertretung. In der Steiermark, in Graz, errichtete die Arbeiterkammer ihr repräsentatives Gebäude in der Hans-Resel-Gasse. 1927 folgte das Haus am Buchmüllerplatz in Leoben als erste Außenstelle. Das Sportstadion in Eggenberg hat die Kammer 1927 begründet, heute befindet sich hier ein städtisches Freibad. Nach 1945 stieg die Arbeiterkammer mit dem ÖGB sowie der Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer zu einem Pfeiler der legendären österreichischen Sozialpartnerschaft auf. Sie steht damit für jene soziale und wirtschaftliche Stabilität, die die Grundlage für die Erfolgsstory Österreich schuf. Die Krisen Ende des 20. Jahrhunderts – noch heute verbunden mit den Namen des Präsidenten und des Kammerdirektors in der Steiermark – führten zu einem enormen Modernisierungsschub. Das Arbeiterkammergesetz 1992 verankerte einen gesetzlichen Anspruch auf Rechtsberatung und -vertretung. Allein 2019 wurden österreichweit mehr als zwei Millionen Beratungen und 46.500 Vertretungen vor Gericht vorgenommen. In Arbeitsrechtssachen wurden 78,5 Millionen Euro erstritten, in Insolvenzverfahren 160 Millionen Euro erwirkt. Dazu kommen die Beratungen in Wirtschafts- und Bildungsfragen. Alle maßgeblichen Gesetze der Republik und der Länder werden begutachtet, in zahlreichen Resolutionen der Voll- und Hauptversammlungen Forderungen an Parlamente und Regierungen zur Verbesserung der Lage der Arbeitnehmerschaft formuliert. Im Rahmen einer Digitalisierungsoffensive wurden 2019 für betriebliche Entwicklungsprojekte 3,8 Millionen Euro an Fördergeldern ausgeschüttet.

Die Arbeiterkammeridee In der Entwicklung der Arbeiterkammeridee seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen sich europaweit unterschiedliche Inhalte und Ziele, doch sind im internationalen Vergleich zwei gemeinsame Linien, die die öffentlich-rechtlichen Arbeitnehmerinteressenvertretungen vorantrieben, klar zu erkennen. Die rasant fortschreitende Industrialisierung und Technisierung hatten zu einer scharfen Konfrontation ­zwischen Arbeit und Kapital geführt, die kaum mehr friedlich zu bewältigen war. Die Arbeitnehmerschaft begann sich zu organisieren, sie streikte in den Betrieben und protestierte auf den Straßen, um Boden im ökonomischen und sozialen Verteilungskampf zu gewinnen. Die bestehenden Herrschaftssysteme erkannten die Gefahr von sozialen Revolten und Revolutionen, die zu einem völligen gesellschaftlichen Umbruch – wie ­später in der Russischen Revolution 1917 – führen hätten können. Sie versuchten über staatlich gelenkte oder überwachte Agenturen, das angestaute Konfliktpotenzial zu verringern.6 Diese Einrichtungen sammelten vorerst bloß Informationen über die Lage und Wünsche der Arbeitnehmerschaft. Später dienten sie dazu, die ­Arbeiterbewegung 56

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­vorsichtig – mehr oder weniger ausgeprägt und kanalisiert – in die bestehende Ordnung einzugliedern. Ein Trostpflaster, um die Arbeitnehmerschaft, die offen das allgemeine Wahlrecht forderte, zu beruhigen. Die ersten arbeitsstatistischen Behörden, eingerichtet nach Vorbild des Bureau of Labour Statistics in Massachusetts seit 1869, entwickelten sich zaghaft zu Vertretungskörperschaften. Ziel war es, in paritätischen Systemen einen möglichst gewaltfreien Ausgleich der Sozialpartner zu ermöglichen. Die Streikwelle in Belgien 1886 führte zur Einrichtung der Industrie- und Arbeitsräte (Conseils de l’Industrie et du Travail).7 Die Arbeiterbewegung erkannte zwar den Pferdefuß, mit ein wenig Partizipation eine nennenswerte Demokratisierung zu verhindern, nützte aber die Möglichkeit, mit staatlicher Unterstützung eigene Ziele voranzutreiben. Der Fuß war in der Tür. Arbeiterkammerähnliche Einrichtungen entstanden auch in den Niederlanden, in Luxemburg, in Italien, in der Schweiz (Genf und Zürich), ­später auch in Deutschland (im Bergbau sowie in Bremen, Groß-Hamburg und Saarland) und im Königreich Jugoslawien. Eine besondere Bedeutung in der Entwicklung der europäischen Arbeiterkammeridee kam den französischen Arbeitsbörsen (Bourses du Travail) zu. Diese Arbeitsbörsen verwirklichten erstmals den heute allgemein anerkannten Grundsatz, die Arbeitsvermittlung der privaten Initiative zu entziehen. Der Arbeitsmarkt ist bis heute in nahezu ganz Europa staatlich oder halbstaatlich unter Einbeziehung der Sozialpartnerschaft geregelt.8 Die Gewerkschaften erkannten, dass ihnen hier ein Mittel geschaffen war – bei Beibehaltung des Grundsatzes des freien Arbeitsvertrages –, „mit gleichen und gesetzlichen Waffen mit dem Kapital zu kämpfen“ 9. Die Arbeiterbewegung erhielt über die Gewerkschaften nicht nur Einfluss auf den örtlichen Arbeitsmarkt, sondern auch auf finanzielle Ressourcen. Expertise konnte erworben werden. Räumlichkeiten standen für Versammlungen zur Verfügung, Bibliotheken für die Bildung der Unterprivilegierten. Die Arbeitsbörsen bereiteten den Weg für die Gründung der Confédération générale du travail (CGT), dem Dachverband der französischen Gewerkschaften. In veränderter Form bestehen die französischen Arbeitsbörsen bis heute. Sie werden von den Gewerkschaften betrieben und bieten niederschwellig Rechtsberatung, berufliche Aus- und Fortbildung und Kulturveranstaltungen.10

… und die Gewerkschaften? Arbeiterkammern stehen – in welcher Form und Intensität auch immer – in Konkurrenz zu Gewerkschaften. Sie bieten ähnliche Leistungen an. Werden diese als ident empfunden, stellt sich für (potentielle) Mitglieder von Gewerkschaften die Sinnfrage: Warum zwei Institutionen, wofür zweimal zahlen? Für Gewerkschaften ergibt sich daraus ein kühles Kalkül: Wie weit überwiegt der Nutzen in Form von materiellen und ­immateriellen Werner Anzenberger

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Ressourcen aus den öffentlich-rechtlichen Institutionen, an denen sie beteiligt sind oder die sie beherrschen, gegenüber der – in Kauf zu nehmenden – Konkurrenz? In ­diesem Lichte ist die Skepsis der österreichischen Gewerkschaften gegenüber der Arbeiterkammeridee in Zeiten der Monarchie verständlich. Wie sagte Victor Adler über das ­Kaiser-/Königreich so treffend? Eine Diktatur, gemäßigt durch Schlamperei.11 Das arbeitsstatistische Amt von 1889, in das zwar Arbeiter entsendet, aber nicht demokratisch gewählt wurden 12, lehnten die Gewerkschaften ab. Sie setzten auf freie Organisation, die ihnen das Koalitionsgesetz von 1870, wenn auch durch gezielte behördliche Schikanen beschränkt, ermöglichte, und – gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPÖ) – auf völlig gleichberechtigte Partizipation in allen staatlichen Vertretungskörpern. Gewerkschaften und Sozialdemokratie gaben ihren Widerstand gegen das Arbeiterkammerprojekt erst 1907 auf, als sich die Diskussion von der Wahlrechtsfrage gelöst hatte. Als schließlich die Errichtung der Arbeiterkammern unmittelbar bevorstand, lobte der Metallgewerkschafter Anton Hueber 1920 diesen „wichtigen Schritt“ zur Gleichberechtigung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen überschwänglich.13 Die Christlichsoziale Partei und mit ihr die Christgewerkschafter stimmten der Gründung der Arbeiterkammern nicht zuletzt deshalb zu, weil sie in dieser Einrichtung – wie im Übrigen auch in der umfassenden Sozialgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch 14 – eine Eindämmung der „Rätegefahr“, die sich bereits an den Grenzen zu Ungarn und Bayern etabliert hatte, sahen. Die Christdemokraten verhinderten allerdings die Einbeziehung der Land- und Forstarbeiter, wie ihnen dies auch nach der Wiedererrichtung der Arbeiterkammern 1945 gelingen sollte.15 Seit den ersten Arbeiterkammerwahlen kandidieren Gewerkschaftslisten. Die Wahlen 1921 und 1926 gewannen die Freien – sozialdemokratischen – Gewerkschaften haushoch, in der Steiermark mit 90 bzw. 80 Prozent.16 Seither wurde die Zusammensetzung der Arbeitnehmerparlamente doch wesentlich bunter, in Tirol und Vorarlberg residieren mittlerweile christdemokratisch-konservative Arbeiterkammerpräsidenten. Als Think Tank der Arbeitnehmerbewegung liefern die Arbeiterkammern den Gewerkschaften bis heute unverzichtbare Expertise für eigene Aufgaben und bieten ihnen erhebliche materielle Ressourcen. Die enge Verschränkung von Gewerkschaften und Arbeiterkammern ist ausdrücklich als Zusammenarbeitsgebot gesetzlich festgeschrieben.17 Diese Verschränkung führt dazu, dass die österreichische Gewerkschaftsbewegung im europäischen Vergleich – trotz der allgemeinen Schwächung – noch immer eine erhebliche Stärke besitzt. Dies schlägt sich in mittlerweile bereits reduzierten, aber immer noch ansprechenden Arbeits- und Sozialrechten ebenso nieder wie in einer sehr hohen Tarifbindung der Mindestentgelte.18 In ­diesem Lichte wäre wohl nicht die Schwächung oder gar Abschaffung der österreichischen Arbeiterkammern zu diskutieren, sondern eine Etablierung dieser ­Institutionen 58

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im gesamten EU-Raum. Dies wäre umso wünschenswerter, als die europäischen Gewerkschaftsbewegungen mehr und mehr an Mitgliedern und Gestaltungskraft verlieren 19 und die angestrebte Augenhöhe von Kapital und Arbeit längst untergraben ist.20 Dass die Installierung einer Arbeitskammer in Brandenburg vor einigen Jahren just am Widerstand der Gewerkschaften gescheitert sein dürfte, ist wenig nachvollziehbar.21

Sozialpartnerschaft und Parität Wesentliches Element der Arbeiterkammeridee ist die Förderung der Sozialpartnerschaft. Lange Jahre wurde die Frage diskutiert, ob diese innerhalb der jeweiligen Insti­ tutionen verankert werden, also die Besetzung paritätisch sowohl mit Arbeitnehmerals auch Arbeitgebervertretern erfolgen sollte. Besonders leidenschaftlich wurde die Debatte in der Weimarer Republik geführt, die bestrebt war, den Rätegedanken als Kompromiss mit dem linken politischen Rand in die Wirtschaftsverfassung einzubinden.22 Schlussendlich ist der paritätische Ansatz aber in allen europäischen Arbeiterkammern gescheitert. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich die Unternehmer weigerten, Arbeitnehmervertreter in ihren eigenen Handels- und Wirtschaftskammern zuzulassen. Eine parteipolitische Frage war es nicht: Auch Sozialdemokraten konnten dem Interessenausgleich innerhalb einer einzigen Institution viel abgewinnen. So hätte Ferdinand Hanusch, der Mastermind der grundlegenden Sozialgesetzgebung 1918 bis 1920, gerne die bestehenden Handels- und Gewerbekammern zu paritätischen Institutionen umgewandelt, um ihrem einseitigen „schädlichen Einfluss“ 23 entgegenzuwirken. Die Entscheidung gegen die paritätische Ausrichtung der Kammern war richtig. Es hebt die demokratische Qualität, wenn die Willensbildung in unabhängigen Institutionen vorgenommen wird. Der Abgleich der Gruppeninteressen erfolgt entweder ungeregelt – auf informeller Ebene – oder in eigenen gesetzlichen Einrichtungen wie der Paritätischen Kommission, die in der österreichischen Nachkriegszeit entscheidend für die notwendige Preis- und Lohnstabilität gesorgt hat.24 Die Wirkung von Arbeiterkammern und mit ihr der Sozialpartnerschaft auf Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit einer Gesellschaft ist noch nicht ausreichend untersucht. Eine neuere Studie belegt allerdings, dass die einzigartige Kammern- und Sozialpartnerstruktur in Österreich für ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von etwa 0,2 Prozentpunkten verantwortlich zeichnet.25

… und die Demokratie? Die Körperschaften des öffentlichen Rechts als berufliche Interessenvertretungen mit transparenten periodischen Wahlen unter staatlicher Aufsicht verschaffen der Sozialpartnerschaft besondere Legitimität. Dadurch können diesen Institutionen auch im Werner Anzenberger

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Rahmen der Selbstverwaltung und des übertragenen Wirkungsbereiches behördliche Aufgaben zugewiesen werden.26 Eine ­solche Legitimität ist naturgemäß nur im Rahmen einer Pflichtmitgliedschaft zu erreichen. Damit ist aber auch die Kritik gegen diesen „Zwang“ obsolet. Das wird auch von den Mitgliedern der österreichischen Arbeiterkammern, an der sich die Kritiker im besonderen Maße reiben,27 bestätigt: In einer 1996 bundesweit durchgeführten Mitgliederbefragung bekannten sich über 90 Prozent der Mitglieder zur gesetzlichen Verankerung mit Pflichtmitgliedschaft.28 Wie wertvoll die Arbeiterkammern für ein demokratisches System sind, zeigt allein die Tatsache, wie vehement Diktaturen gegen sie vorgingen. Das austrofaschistische Regime hob bereits Ende 1933 die demokratische Willensbildung in den Arbeiterkammern auf. Nach dem gescheiterten Aufstand der demokratischen Opposition im Februar 1934 wurden die Arbeiterkammern unter Aufsicht eines Regierungskommissärs gestellt. Die Nationalsozialisten eliminierten die Arbeiterkammern nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch 1938 in Österreich und 1940 in Luxemburg. Ihr Vermögen wurde in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert.29 Der Arbeiterkammerpräsident von Luxemburg, Léon Weirich, bezahlte seinen Widerstand gegen die Auflösung in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager mit seinem Leben.30

Ausblick Nicht nur die Erfahrungen in den Diktaturen zeigen, dass unabhängige, selbstbewusste Interessenpolitik nicht immer gerne gesehen wird. Demokratische und pluralistische Prozesse sind mühsam. Arbeiterkammern werden zuweilen als lästig empfunden. Dies zeigte sich vor allem in Zeiten der konservativ-rechtspopulistischen Regierungsperioden 2000 bis 2006 und 2017 bis 2019. Während sich in den Alleinregierungen von Josef Klaus und Bruno Kreisky von 1966 bis 1983 die Sozialpartnerschaft und mit ihr die Kammern unveränderter Anerkennung erfreuten, veränderte sich die bislang gewohnte Konkordanz zu bisweilen scharfer politischer Konkurrenz. Infolge der interessenpolitisch verständlichen Widerstände der Gewerkschaften und Arbeiterkammern gegen verschlechternde Eingriffe in das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und die paternalistische Umfärbung der sozialpartnerschaftlich austarierten Sozialversicherungsanstalten 31 erhöhte sich der politische Druck auf die Sozialpartnerschaft, vor allem aber die Arbeiterkammern. Die – verhohlene oder weniger verhohlene – Drohung stand im Raum, über legistische Eingriffe – vor allem die Kürzung der finanziellen Ressourcen – die kritische Expertise in den Arbeiterkammern mundtot zu machen. Diese, konstitutionell möglicherweise gedeckten, dem Geist des Pluralismus aber widersprechenden Angriffe waren ein wesentlicher Grund, dass das Kammernsystem und die Sozialpartnerschaft 2008 in der Bundesverfassung 32 mit einer besonderen Bestandsgarantie ausgestattet wurden. Dies verschafft den Arbeiterkammern ­Sicherheit, 60

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auch wenn unklar bleibt, wie weit diese Garantie reicht und ob sie – vor allem – die finanziellen Ressourcen, die notwendige Expertise, die Unabhängigkeit sichert.33 Unbestritten ist wohl, dass die ohnehin schon bestehende Schieflage ­zwischen den Ressourcen der Arbeitgeberverbände einerseits und der Arbeitnehmerverbände andererseits nicht noch weiter zu Lasten der Arbeit gegenüber dem Kapital verschoben werden darf.34 Der Wert einer konstitutionell gesicherten Sozialpartnerschaft in unruhigen Zeiten hat sich einmal mehr erwiesen. Die bisherige Bewältigung der COVID-19-Krise unter Berücksichtigung aller Gesellschaftsinteressen ist nicht zuletzt einer wiederbelebten, konstruktiven Sozialpartnerschaft geschuldet. Sowohl die Ausfallsunterstützungen für Unternehmer als auch Kurzarbeits- und Homeoffice-Regelungen tragen die Handschrift der interessenabgleichenden Sozial- und Wirtschaftsverbände. Akzeptanz und Bestand der Arbeiterkammern werden freilich auch davon abhängen, wie weit sie bereit sind, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dass sie dafür reif sind, zeigen ihre Initiativen: Sie fordern für prekäre Beschäftigungsverhältnisse die Einbindung in das zwingende Arbeitsrecht und tariflich festgesetzte Mindestentgelte. Ihnen ist bewusst, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht an den nationalen Grenzen endet, sondern länderübergreifende Rahmengesetze ebenso notwendig sind wie eine stärkere Vernetzung und Kooperation der europäischen Arbeitnehmer-Interessenvertretungen. Wenn das Arbeiterkammergesetz von Saarland 35 ausdrücklich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen (Saar-Lor-Lux) als prominente Aufgabe nennt, muss dies für andere Kammern Vorbild sein. Sind also 100 Jahre Arbeiterkammer ein Anlass der Freude? Ich denke, ja. Gewiss. Die Arbeiterkammer war in der Geschichte ein Motor des sozialen Fortschritts, sie wird – soweit sie sich den neuen Anforderungen der Zukunft stellt – ein Garant für Stabilität und Sicherheit bleiben. Ein Anker der sozialen Demokratie.

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Satzung des FDGB, 7.7. Bundeskongress, Handbuch für Gewerkschaftsfunktionäre. Dokumente, Gesetze, Verordnungen, Beschlüsse, Berlin 1970. Anzenberger/Grabuschnig/Halbrainer (Hrsg.) Festschrift Arbeiterkammer Steiermark. 100 Jahre Gerechtigkeit (2020). § 1 Arbeiterkammergesetz (AKG). § 2 Abs. 1 Gesetz über die Arbeitskammer des Saarlandes; § 2 Abs. 1 und 2 Arbeiterkammergesetz Bremen. Vgl. § 2 Abs. 2 Arbeiterkammergesetz Bremen; § 2 Abs. 4 Arbeiterkammergesetz Saarland. Glaser, „Ein langjähriger Wunsch der Arbeitnehmerschaft“. Die Arbeiterkammer an der Saar bis zur Rückgliederung 1957 (2017) 103. Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 49. § 1 Arbeitsmarktservicegesetz. Vgl. Schöttler, Die Entstehung der „Bourses du Travail“. Sozialpolitik und französischer Syndikalismus am Ende des 19. Jahrhunderts (1982) 61 f. Werner Anzenberger

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Règlement de la Bourse du Travail de Paris, Article 1, § 8, 25. 06. 1970. Misik, Ein seltsamer Held. Der grandiose, unbekannte Victor Adler (2016) 39. Vgl. Schöttler, „Bourses du Travail“ 78 f. Hueber, zit. nach: Strohmeier, Anton Hueber (1861 – 1935). Organisator der modernen österreichischen Gewerkschaftsbewegung (2011) (Zeitgeschichte und Politik; Bd. 5), 15 f. 14 Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung, 10. Sitzung, 24. 04. 1919, 249 ff. 15 Anzenberger, Epilog – Die Sozialpartnerschaft und die Arbeiterkammern, in: FS 100 Jahre Arbeiterkammer (2020) 209. 16 Detaillierte Zahlen finden sich in den Tageszeitungen Arbeiterwille, Grazer Volksblatt, Tagespost vom 27.06. bis 08. 07. 1926, wo auch das endgültige Ergebnis bekanntgegeben wurde. 17 § 6 AKG. 18 Laut OECD sind es 98 Prozent; Anzenberger in; FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215. 19 Optimistischer in der Wertung Schmalz /Dörre (Hrsg.); Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven (2013) insbes. 345 – 450 (Arbeitskreis Strategic Unionism; Hans-Jürgen Urban; Wolfgang Uellenberg-van Dawen). 20 Anzenberger in: FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215. 21 Bereits vorsichtig: Weingarten/Fastabend/Rasch, Working Paper Forschungsförderung: Chancen und Hemmnisse der Einrichtung einer Arbeitskammer in NRW (2018). 22 Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 106 f. 23 Hanusch, Die Entwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung in Österreich, in: Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 32, Jg., Nr. 45, 15. 02. 1921. 24 Marin, Die Paritätische Kommission. Aufgeklärter Technokorporatismus in Österreich (1982). 25 Vgl. Steigenberger, Sozialpartnerschaft und wirtschaftliche Performance, in Dossier Wirtschaftspolitik (2014) H. 4, 16. 26 Siehe etwa Lehrbetriebserhebung (§ 2 Abs 6a BAG) oder die Revision der Betriebsratsfonds § 74 Abs 6 ArbVG und § 32 Betriebsratsfonds-VO 1974. 27 Vgl. Rill/Stolzlechner, Kommentierung Art 120a B-VG, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-SchäfferKommentar Bundesverfassungsrecht (2019). Art 120a B-VG. 28 Mitgliederbefragung, in: ZAK 2/96, 9. 233; Jahresbericht der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark (1996), 30. 29 Göhring/Pellar, Anpassung und Widerstand (2001) 183; Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 102. 30 Vgl. Scuto, Chambre de Travail Luxembourg Arbeiterkammer. 75e anniversaire 1924 – 1999 (1999) 91. 31 Bachner/Böhmer, Kassenreform genehmigt: Keine Änderung für Versicherte [https://kurier.at/ politik/inland/tuerkisblaue-kassenreform-haelt-vor-hoechstgericht/400702668] (13. 12. 2019). 32 Art. 120 Bundes-Verfassungsgesetz. 33 Anzenberger in: FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215. 34 Ebenda. 35 § 2 Abs. 4 Arbeiterkammergesetz Saarland.

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100 Jahre Arbeiterkammer – ein Verdienst?

WOLFGANG WLATTNIG

Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie

Noch nie in der Zweiten Republik musste in Österreich eine Wahl abgesagt oder verschoben werden. Die Steiermark hätte den Vortritt für die Premiere eines solchen Falles durchaus gerne anderen Bundesländern überlassen. Beim Beschluss der Ausschreibung der Wahlen in den Gemeinderat durch die Landesregierung am 21. November 20191 schien alles noch den gewohnten Lauf zu nehmen. Das Jahr 2019 war mit EU-, vorgezogener Nationalrats- und Landtagswahl ein ausgeprägtes Wahljahr, das der von mir geleiteten und für die Wahlen zuständigen Abteilung 7 im Amt der Steiermärkischen Landesregierung viel abverlangte. Die Gemeinderatswahl am 22. März 2020 sollte den erfolgreichen Abschluss der Wahlaktivitäten mit insgesamt vier Wahlgängen in zehn Monaten bilden. Aber es kam, wie bekannt, alles anders. Für die Wahlen in den Gemeinderat (außer Graz) mit Stichtag 6. Jänner 2020 waren 804.095 Personen wahlberechtigt. Es galt, 5.051 Gemeinderatsmandate in 285 Gemeinden zu verteilen. Die ÖVP trat in allen Gemeinden an, die SPÖ in 278, die FPÖ in 233, die Grünen in 102, die KPÖ in 37 und Neos in 30 Gemeinden. Besonders aktiv waren die Bürgerlisten, die in 80 Gemeinden kandidierten. Die vorgezogene Stimmabgabe sollte am Freitag, dem 13. März 2020, stattfinden. Die düsteren Vorboten der COVID-19-Pandemie für Österreich trafen Ende Februar und Anfang März 2020 vor allem mit den Bildern aus Italien ein. Die Unruhe stieg, die Abhaltung der Gemeinderatswahlen wurde aber nicht infrage gestellt. Die Durchführung von Wahlen ist in Österreich etwas derart Selbstverständliches, dass es für alle – trotz Wirtschaftskrisen oder Wetterkatastrophen – bisher unvorstellbar war, eine angeordnete Wahl nicht stattfinden zu lassen. Weder die Wahlordnungen für die Gemeinderats- und Landtagswahl noch die Landesverfassung sahen in der Steiermark überhaupt die rechtliche Möglichkeit vor, diese Wahlen abzusagen oder zu verschieben. So begegnete man aufkommenden Bedenken mit den am Montag, dem 9. März 2020 von der Abteilung 7 an alle Gemeinden übermittelten Empfehlungen der Landes­ sanitätsdirektion hinsichtlich bestimmter Schutz- und Hygienemaßnahmen. Diese beinhalteten die Aufforderung für das regelmäßige Händewaschen, das Abstandhalten ­zwischen sich und anderen Personen und die Hustenetikette. Auf das obligate Wolfgang Wlattnig

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­ egrüßen der Wählerinnen und Wähler mit dem Händeschütteln sollte verzichtet B werden, als Alternative wurde ein „höfliches Zunicken“ empfohlen. Zu ­diesem Zeitpunkt, am Beginn der Pandemie in Österreich, war ein Mund-Nasen-Schutz noch kein Thema. Am Dienstag, dem 10. März 2020, wurden die Medien in einem Interview von mir als Landeswahlleiter mit der APA noch darüber informiert, dass die Gemeinderatswahlen mit verstärkten Hygienemaßnahmen wie geplant durchgeführt werden. Danach ging es Schlag auf Schlag. Die Aussage war am Tag der Veröffentlichung in den Printmedien am 11. März 2020 schon wieder hinfällig. Die WHO ging seit 11. März 2020 von einer weltweiten Pandemie aus. Die Bundesregierung kündigte erste Maßnahmen aufgrund der Viruserkrankungen nach dem Epidemiegesetz an. Hinweise von den Gemeindewahlbehörden trafen ein, dass WahlleiterInnen, WahlbeisitzerInnen und sonstige Hilfsorgane aufgrund der ausgerufenen Pandemie für die Wahl nicht mehr zur Verfügung stehen würden und somit bei der Wahl organisatorische Probleme entstehen könnten. Befürchtungen über eine möglicherweise geringe Wahlbeteiligung, eine Verzerrung von Resultaten und eine erhöhte Ansteckungsgefahr durch die Wahlhandlung standen ebenfalls im Raum und verstärkten sich von Stunde zu Stunde. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer informierte mich noch am 11. März 2020, dass in Absprache mit Bundeskanzler Sebastian Kurz aufgrund der ansteigenden Zahlen der Corona-Infektionen die Gemeinderatswahlen am 22. März 2020 abgesagt werden sollen; dies betraf ebenso die eine Woche zuvor, am 15. März 2020, abzuhaltenden GR-Wahlen im Bundesland Vorarlberg. Mangels einer rechtlichen Norm in der Steiermärkischen Gemeindewahlordnung für eine Wahlverschiebung oder -absage war diese Absicht zumindest in der Steiermark ohne eine gesetzliche Grundlage. Mein Wahlreferat und ich waren in der Abteilung 7 nun in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsdienst des Landes gefordert, umgehend einen rechtlich gesicherten Vorschlag für ­dieses Ansinnen zu unterbreiten. In Vorarlberg war die gesetzliche Lage diesbezüglich vorteilhafter, da es in Art. 3 der Vorarlberger Landesverfassung eine Bestimmung gab, bei außerordentlichen Verhältnissen, ­welche die Durchführung fälliger Gemeinderatswahlen unmöglich machen, die Wahlen bis zu neun Monate nach Beendigung dieser Verhältnisse durchzuführen. Darüber hat die Landesregierung zu entscheiden. Schon am Donnerstag, dem 12. März 2020, gab es ein Zusammentreffen bei Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer mit Landeshauptmann-Stv. Anton Lang, dem Präsidenten des Gemeindebundes Erwin Dirnberger, dem Vorsitzenden des Städtebundes Kurt Wallner und meiner Person als Landeswahlleiter. Dabei wurde vereinbart, dass die Wahl nicht abgesagt, sondern nur der Wahltag, der 22. März 2020, verschoben werden soll. In der ebenfalls am 12. März 2020 abgehaltenen Pressekonferenz mit den Teilnehmern dieser Sitzung wurde die Wahlverschiebung der Öffentlichkeit 64

Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie

präsentiert. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer fasste die Wahlverschiebung so zusammen: „So leid es uns tut, aber wir müssen einfach alles versuchen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Wir erleben stündlich neue Entwicklungen. Es gibt Befürchtungen, dass diese Sache so explodiert, wie in Italien.“ 2 Die vorgezogene Stimmabgabe am 13. März 2020 konnte aus zeitlichen und rechtlichen Gründen nicht mehr abgesagt werden. Immerhin nahmen trotz der Pandemie 33.480 Wählerinnen und Wähler daran teil (2015: 30.215). Die Verschiebung statt der gänzlichen Absage hatte den kostensparenden Vorteil, dass alle bisherigen Wahlhandlungen, wie die eingebrachten Wahlvorschläge der wahlwerbenden Parteien, die Wählerverzeichnisse, die abgegebenen Wahlkarten, die gedruckten Stimmzettel und die Stimmen aus der vorgezogenen Stimmabgabe ihre Gültigkeit behielten. Außerdem war man bei der Verschiebung des Wahltages flexibler, da eine generelle Absage der Wahl, wie in Vorarlberg, bedeutet hätte, mit einer Vorlaufzeit von rund drei Monaten von vorne beginnen zu müssen. Bei einer Verschiebung des Wahltages ist die Vorlaufzeit bedeutend kürzer und man kann rascher auf eine Veränderung der epidemiologischen Verhältnisse reagieren. Die legistische Umsetzung der Verschiebung mit Beschluss des Landtages und einer Verordnung der Landesregierung musste vor dem festgesetzten Wahltag am 22. März 2020 über die Bühne gegangen sein. Für Dienstag, den 17. März 2020, wurde daher umgehend ein Sonderlandtag einberufen. In der Kleinen Zeitung wurde die Wahlverschiebung in so kurzer Frist als „eine kolossal komplizierte Operation“ bezeichnet.3 Die gemeinsam mit dem Verfassungsdienst des Landes Steiermark ausgearbeitete Novelle der Gemeindewahlordnung sah einen neu eingefügten § 96b der Gemeindewahlordnung 2009 für „Außerordentliche Verhältnisse“ vor: Darin wird die Landesregierung ermächtigt, wenn die Gemeinderatswahlen infolge von Krieg, bürgerkriegsähnlichen Zuständen, von Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz 1950 oder Katastrophen nicht entsprechend den Vorgaben ­dieses Gesetzes durchgeführt werden können, – neben der völligen Neuausschreibung der Wahl – das Wahlverfahren für höchstens sechs Monate auszusetzen und gleichzeitig oder gesondert einen neuen Wahltag festzusetzen. Darüber hinaus konnte die Landesregierung dank dieser Bestimmung sonstige in ­diesem Zusammenhang erforderliche Änderungen der Vorgaben durch die Gemeindewahlordnung verfügen. Das bedeutete, dass innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab dem Wahltag am 22. März 2020, also bis spätestens zum 22. September 2020, eine Verschiebung des Wahltages ermöglicht wurde. Nach Ablauf dieser Frist wäre die Wahl völlig neu auszuschreiben. Im schriftlichen Bericht des Ausschusses für Gemeinden und Regionen wurde festgehalten, dass es als legitimes Mittel zur Erreichung des Zieles, möglichst rasch und kostensparend nach Wegfall der Hindernisse ordentliche Wahlen ohne Gefährdung Wolfgang Wlattnig

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von Personen abzuhalten, angesehen werde, vorerst innerhalb eines definierten Zeitraumes nur den Termin für den Wahltag zu verschieben, wenn die außerordentlichen Verhältnisse am Ende des Wahlvorganges kurz vor dem Wahltag eintreten und die Wahl am Wahltag deshalb nicht mehr abgehalten werden könne. Aus Gründen der Kosteneinsparung (Effizienz) sowie der rascheren Durchführbarkeit der Abhaltung des Wahltages nach Wegfall der außerordentlichen Verhältnisse sei es sachlich gerechtfertigt, einen neuen Wahltag binnen sechs Monaten ab Aussetzung der Wahl festsetzen zu können. Diese Zeitspanne sei im Hinblick auf die Grundsätze für die Bedingungen des Wahlrechtes und der Wählbarkeit als angemessen und verhältnismäßig anzusehen.4 Der Landtag Steiermark zeigte in dieser schwierigen Lage Geschlossenheit und stimmte dieser Novelle in seiner Sitzung am 17. März 2020 nach vorhergehender Ausschusssitzung am gleichen Tag mit Beschluss Nr. 39 einstimmig zu. Der Gesetzesbeschluss wurde gemäß Art. 72 Abs. 3 L-VG für dringlich erklärt. Umgehend nach der Beschlussfassung wurde die Kundmachung noch am gleichen Tag im Landesgesetzblatt veranlasst.5 Die beiden steirischen Gemeindereferenten meldeten sich in dieser Sitzung des Landtages zu Wort. Laut Landeshauptmann-Stv. Anton Lang war diese Wahlverschiebung „(…) für uns beide nicht leicht (…), wir haben natürlich viele Anrufe bekommen, als wir gesagt haben, wir wollen die Gemeinderatswahlen verschieben. (…) heute wird es niemanden mehr in der Steiermark geben, der sagt, das hättet ihr euch erspart, wir hätten am 22. März zur Wahlurne gehen sollen.“ 6 Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer dazu: „Und selbstverständlich, ich habe ja selber lange gezögert und es nicht wahrhaben wollen, müssen wir die Gemeinderatswahlen aussetzen bzw. verschieben (…) und ich bin sehr, sehr dankbar (…), dass wir zeigen, wenn wir miteinander eine außerordentliche Krise zu bewältigen haben, dass der Grundkonsens in der Demokratie da ist (…), dass alle Fraktionen heute ­diesem Antrag zustimmen.“ 7 Mit einstimmigem Entschließungsantrag wurde die Landesregierung vom Landtag Steiermark aufgefordert, nach Wegfall der außerordentlichen Verhältnisse zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus ehestmöglich einen neuen Wahltag festzusetzen und alle Landtagsfraktionen frühzeitig von der beabsichtigten Festsetzung des Wahltages zu informieren.8 Zwei Tage ­später, am Donnerstag, dem 19. März 2020, beschloss die Landesregierung auf Grundlage dieser neuen Bestimmung in der Gemeindewahlordnung die Aussetzung des Wahlverfahrens der Wahlen in den Gemeinderat 2020.9 Damit war der für den 22. März 2020 anberaumte Wahltag hinfällig. Nach dem renommierten Univ.-Prof. Dr. Harald Stolzlechner ist der „Lohn dieser legislativen Arbeit eine gelungene Regelung für Aussetzung und Verschiebung fälliger Gemeinderatswahlen“ in der Gemeindewahlordnung 2009.10 66

Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie

Da die Wahl nur ausgesetzt wurde, behielten die bereits abgegebenen Wahlkarten und die Stimmenzettel der Stimmabgabe vor dem Wahltag am 13. März 2020 ihre Gültigkeit. Als sich die Virussituation Anfang Mai 2020 besserte und der Gesundheitsminister mit der COVID-19-Lockerungsverordnung die mit der Pandemie in Zusammenhang stehenden Beschränkungen wieder lockerte 11, entschied die Landesregierung nach vorhergehender Abstimmung mit allen Landtagsparteien in ihrer Sitzung am 14. Mai 2020 auf Basis des § 96b Gemeindewahlordnung 2009 die Fortsetzung der Wahlen mit der Festlegung des „Ersatz-Wahltages“ am 28. Juni 2020.12 Zusätzlich beschloss die Landesregierung, dass für diesen Wahltermin wieder Wahlkarten ausgegeben werden und durch die Gemeindewahlbehörden neue Wahllokale oder Wahlzeiten festgesetzt werden können, falls dies zur Vermeidung einer Ansteckung mit dem COVID-19-Virus erforderlich wäre. Vor dieser Entscheidung wurde der Infektiologe Univ.-Prof. Dr. Robert Krause befragt, der feststellte, dass das Risiko für eine COVID-19-Infektion derzeit gering sei, sodass die Abhaltung der Gemeinderatswahl noch vor dem Sommer unter Beachtung von Schutzmaßnahmen im Vergleich zu einem Herbsttermin als günstig anzusehen sei.13 Im Büro der Landeswahlbehörde wurden in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium und der Landessanitätsdirektion für den Wahltag am 28. Juni 2020 detaillierte Empfehlungen für Wählerinnen und Wähler sowie für die Mitglieder der Wahlbehörden ausgearbeitet, um sichere Wahlen in den Gemeinderat gewährleisten zu können. Dieser „Hygiene-Leitfaden zu COVID-19“ beinhaltete auch die Empfehlung, zur Stimmabgabe ein eigenes Schreibgerät mitzubringen, da in der Wahlzelle selbst ein solches nicht mehr aufliege. Wenn ein Schreibgerät nicht mitgebracht werden sollte, würde im Wahllokal ein Einwegschreibgerät zur Verfügung gestellt. Auch die Tisch- und Stehpultflächen in der Wahlzelle sollten regelmäßig desinfiziert werden. Für die Kosten der umzusetzenden Hygienemaßnahmen wurde den Gemeinden mit Beschluss der Landesregierung vom 18. Juni 2020 ein pauschalierter Kostenersatz von € 0,70 pro Wahlberechtigtem gewährt. Die Wahl am 28. Juni 2020 musste mit den Stimmzetteln vom 22. März 2020 abgehalten werden, da der Ersatz-Wahltag keine neue Wahl darstellte. Für die Gemeinderatswahl gab es eine Rekordzahl an Wahlkarten: Insgesamt wurden 173.366 Wahlkarten ausgestellt (davon 92.990 Wahlkarten bis zum 20. März 2020). Ein Problem dabei war, dass manche Wähler nach der Berichterstattung über die Wahlaussetzung die übermittelten Wahlkartenunterlagen noch vor dem 22. März 2020 vernichteten. Leider konnten aufgrund der eindeutigen Bestimmungen der Gemeindewahlordnung 2009 (§ 39a Abs. 3 Gemeindewahlordnung) wegen der Gefahr einer doppelten Stimmabgabe keine Duplikate für solcherart abhanden gekommene Wahlkarten ausgestellt werden. Die Gemeinderatswahl am 28. Juni 2020 selbst lief ohne Komplikationen ab. Die Disziplin der Wählerinnen und Wähler bei der Einhaltung der ­Hygieneempfehlungen Wolfgang Wlattnig

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war vorbildlich. Die Wahlbeteiligung betrug trotz der Wahl innerhalb einer Pandemie immerhin 62,65 Prozent (2015: 73,36 Prozent). Bei der Landtagswahl am 24. November 2019 war die Wahlbeteiligung mit 63,46 Prozent (ohne Pandemie) nur geringfügig höher. Die Wahlergebnisse lauteten wie folgt: Gesamtergebnis der Gemeinderatswahl am 28. Juni 2020 (Ersatz-Wahltag)

Quelle: Landeswahlbehörde, Abteilung 7.

Der eindeutige Wahlgewinner mit 47,18 % war die ÖVP, immerhin ein Plus von 4,46 % zu 2015 und ein Zuwachs von 218 Mandaten, das zweitbeste Ergebnis der Steirischen Volkspartei bei Gemeinderatswahlen seit es diese Wahlen gibt. In Vorarlberg fanden die Gemeinderatswahlen nach einer gänzlichen Neuausschreibung am 13. September 2020 statt, die Wahlbeteiligung betrug nur 53,4 %. Aber die Gemeinderatswahlen in der Steiermark waren noch nicht ganz zu Ende. Aufgrund von elf eingebrachten Wahlanfechtungen gegen die Ergebnisse von Gemeinderatswahlen mussten nach den Beschlüssen der Landeswahlbehörde vom 21. September 2020 in den Gemeinden Sankt Andrä-Höch, Leibnitz, Wildon, Mortantsch und Ilz die Gemeinderatswahlen am 15. November 2020 wiederholt werden.14 Die wahlwerbende Partei der ÖVP in der Gemeinde Ilz brachte gegen die bescheidmäßige Aufhebung des Wahlverfahrens durch die Landeswahlbehörde eine Wahlanfechtung gemäß Art. 141 B-VG an den Verfassungsgerichtshof ein.

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Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie

Der Verfassungsgerichtshof wies diese Anfechtung in seiner Sitzung am 24. November 2020 mit der Begründung zurück, dass die als Bescheid titulierte Erledigung der Landeswahlbehörde kein das Wahlverfahren im Sinne des § 68 Abs. 1 VfGG beendender Bescheid sei. Nach den gesetzlichen Zuständigkeitsvoraussetzungen für eine verfassungsgerichtliche Wahlprüfung könne nur ein derartiger Bescheid Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sein.15 Tatsächlich ist das Wahlverfahren bei dessen Aufhebung durch die Landeswahlbehörde erst mit der Durchführung der Wiederholungs-Wahl abgeschlossen und kann erst ab ­diesem Zeitpunkt angefochten werden. Der Verfassungsgerichtshof vertritt nämlich – beginnend mit der Entscheidung VfSlg. 6306/1970 – in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass sich eine Wahlanfechtung gemäß Art. 141 Abs.1 B-VG nur gegen ein bereits abgeschlossenes Wahlverfahren richten könne. Unter „Beendigung des Wahlverfahrens“ i. S. d. Bestimmung des § 68 Abs. 1 VfGG sei jener Zeitpunkt zu verstehen, in dem der letzte in Betracht kommende Akt des Wahlverfahrens vollzogen ist. Den das Wahlverfahren aufhebenden Bescheid der Landeswahlbehörde qualifizierte er als „verfahrens-rechtlichen Zwischenbescheid“, dem keine die Rechtmäßigkeit des endgültigen Wahlausgangs präjudizierende Rechtskraft zukomme. Auch mit dieser Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes, knapp ein Jahr nach der Ausschreibung der Gemeinderatswahl im Jahr 2019, war das Kapitel der steirischen Gemeinderatswahlen im Jahr 2020 noch nicht beendet, da der Verfassungsgerichtshof über eine weitere Wahlanfechtung einer wahlwerbenden Partei in der Gemeinde Sankt Peter am Ottersbach zum Beschluss der Landeswahlbehörde, dem Antrag auf Aufhebung des Wahlverfahrens nicht stattzugeben, zu entscheiden hatte. Mit Erkenntnis vom 25. Februar 2021 gab der VfGH der Anfechtung einer Bürgerliste dieser Gemeinde nicht statt.16 Vorausgegangen war eine Beschwerde mit dem erwiesenen Sachverhalt, dass Mitglieder der Gemeindewahlbehörde durch Schließung der Bürotür von der Zusammenrechnung der Sprengelwahlergebnisse und der Ermittlung des Gesamtergebnisses ausgeschlossen wurden. Wie die Landeswahlbehörde führte der VfGH dazu in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass diese Handlung zwar rechtswidrig, aber ohne Einfluss auf das Wahlergebnis gewesen sei. Dies deshalb, weil es sich bei dieser Tätigkeit der Gemeindewahlbehörde um eine rein rechnerische gehandelt habe, die aufgrund der vorliegenden Sprengelwahlergebnisse, die nicht beanstandet worden ­seien, mittels Grundrechenarten überprüfbar gewesen sei. Bei Nachprüfung durch den VfGH ­seien wie bei der Landeswahlbehörde keine Rechenfehler hervorgekommen, sodass eine Manipulation auszuschließen sei. Das Jahr 2020 wird in der Steiermark als ein ganz besonderes Jahr in Erinnerung bleiben, wo mitten in der schwersten Pandemie seit der Spanischen Grippe im Jahr 1918 trotz aller Widrigkeiten demokratische Wahlen abgehalten werden konnten. Wolfgang Wlattnig

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1 Kundgemacht in LGBl. 115/2019. 2 Kronen Zeitung, 13. März 2020, 14. 3 Sittinger, Kleine Zeitung, 13. März 2020, 2. 4 AB XVIII. GPStLT EZ 412/3. 5 LGBl. 21/2020. 6 StProLT XVIII. GPStLT (2020) 514. 7 StProLT XVIII. GPStLT (2020) 516. 8 EA XVIII. GPStLT EZ 412/7. 9 Kundgemacht in LGBl. 23/2020. 10 Stolzlechner, Ein Virus auch für die Demokratie?, Kommunal 05/2020, 31. 11 BGBl. II 197/2020. 12 Kundgemacht in LGBl. 51/2020. 13 Aussendung des Landespressedienstes vom 8. Mai 2020. 14 Wahlausschreibung LGBl. 78/2020. 15 VfGH 24.11 2020, W 110/2020 – 7. 16 VfGH 25. 02. 2021, W I 12/2020 – 16.

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Gemeinderatswahlen mitten in einer Pandemie

HEINZ P. WASSERMANN

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“ 1 (Statistische) Analysen der steirischen Gemeinderatswahlen vom 28. Juni 2020.

Einleitung Es war ein mehr als intensives Wahljahr 2019/2020 für die Steirerinnen und Steirer, die innerhalb von 13 Monaten insgesamt vier Mal (Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 20192, [vorgezogene] Nationalratswahl am 29. September 20193, [vorgezogene] Landtagswahl am 24. November 20194 und die coronabedingt von März 5 auf den 28. Juni 2020 verschobene 6 Gemeinderatswahl) aufgerufen waren, ihre Stimmen abzugeben. Diese Wahldichte, an deren Ende die zu analysierenden Gemeinderatswahlen standen, legt eine breitere Kontextualisierung (sowie partielle Vergleiche der Wahlergebnisse)7, wie sie in der folgenden Abbildung visualisiert werden, nahe.

Abb. 1: Steiermarkergebnisse 2019/2020 (landesweit).

Heinz P. Wassermann

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An der (wahl-)politischen Dominanz der Steirischen Volkspartei 8 besteht kein Zweifel, lag sie doch bei allen vier Wahlgängen mehr als deutlich vor der SPÖ 9, die wiederum jeweils den zweiten Platz (wenngleich manchmal denkbar knapp, was für eine ehemalige Landeshauptmannpartei alles andere als ein Ruhmesblatt ist) belegte. Bei FPÖ, Grünen, KPÖ und Neos erstreckt sich die Analyse vorerst auf die EP-, Nationalrats- und Landtagswahlen. Die Gemeinderatswahlen bleiben ob der nicht – siehe weiter unten – flächendeckenden Kandidaturen in ­diesem Kontext vorerst unberücksichtigt und werden weiter unten genauer analysiert. Die FPÖ landete konsequent auf dem dritten Rang. Sie verlor ­zwischen Mai und November 2019 auf Landesebene etwas mehr als zwei Prozentpunkte,10 was angesichts von „Ibiza-“ 11 und Straches „Spesenskandal“ 12 bemerkenswert gering ist. Wie die FPÖ verzeichneten die Grünen 13 einen kontinuierlichen Abwärtstrend und verloren etwas mehr als einen Prozentpunkt. Bei Bundeswahlen ist die KPÖ – im Gegensatz zu Landtags- und mit Abstrichen zu Gemeinderatswahlen 14 – eine quantité négligeable und de facto irrelevant, womit eine genauere Analyse obsolet ist. In Relation zu den Wahlergebnissen sind die Einzelergebnisse von Neos 15 bzw. ist deren Absacken in der Wählergunst relativ dramatisch, bedeutet doch das Minus von 2,5 Prozentpunkten einen Verlust von über 30 Prozent an Stimmanteilen im Gegensatz zur EP-Wahl. Nach einer topografischen Vermessung der Gemeinderatswahlen und der „Neu-“ bzw. Alternativberechnung von deren Ergebnissen stehen (wahl-)statistische Analysen zu den ­Themen •  Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung •  Bevölkerungsstruktur •  Migranten und Flüchtlinge •  Urbanisierungsgrad •  formal höchster Bildungsgrad •  Stellung im Beruf •  (wirtschaftliche) Sektorenverteilung •  ökonomische Indikatoren im Fokus des Beitrags.16

Zur Topografie der Gemeinderatswahlen Im Gegensatz zu den Gemeinderatswahlen 2015 wurde nicht mehr in 286, sondern – nachdem sich die Gemeinde Murfeld im Bezirk Südoststeiermark 2019 freiwillig aufgelöst hatte 17 – nur mehr in 285 Gemeinden gewählt. Im Gegensatz zu 2015 verringerte sich die Anzahl der Wahlberechtigten von 800.836 auf 794.316, wohingegen die Wohnbevölkerung im selben Zeitraum um 24.825 Personen auf 1.264.395 gestiegen ist. 72

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Die Wahlbeteiligung fiel um 10,7 Prozentpunkte auf 62,7 %,18 sie lag deutlich über der bei der EP-Wahl (56,7 %), aber deutlich unter der bei der Nationalratswahl (74,8 %) und geringfügig unter der bei der Landtagswahl 2019 (63,5 %). Sie stieg in lediglich sechs Gemeinden (Fehring, Hohentauern, Ramsau am Dachstein, Seiersberg-Pirka, Schäffern und Wies), in den übrigen 279 sank sie (zum Teil dramatisch). Die Gesamtkandidaturen erhöhten sich ­zwischen 2015 und 2020 geringfügig von 1.043 auf 1.045 und werden für die Bezirksebene in der folgenden Tabelle dargestellt.19 SP 20

FP 15

BM

100,0 % 100,0 %

DL GU

FP 20

Grüne 15 Grüne 20 KP 15

KP 20

Neos 15 Neos 20

84,2 %

31,8 %

21,1 %

26,3 %

31,6 %

5,3 %

100,0 %

86,7 % 100,0 %

13,3 %

33,3 %

6,7 %

6,7 %

0,0 %

6,7 %

100,0 %

88,9 %

83,3 %

69,4 %

72,2 %

13,9 %

22,2 %

16,7 %

27,8 %

HF

88,9 %

77,8 %

77,8 %

19,4 %

25,0 %

2,8 %

0,0 %

5,6 %

0,0 %

LB

100,0 %

96,6 %

89,7 %

24,1 %

31,0 %

0,0 %

0,0 %

6,9 %

6,9 %

LE

100,0 %

81,3 %

81,3 %

12,5 %

12,5 %

37,5 %

37,5 %

6,3 %

6,3 %

LN

93,1 %

75,9 %

89,7 %

17,2 %

20,7 %

3,4 %

6,9 %

0,0 %

6,9 %

MT

100,0 %

85,0 %

85,0 %

20,0 %

25,0 %

25,0 %

30,0 %

5,0 %

15,0 %

MU

100,0 %

85,7 %

71,4 %

14,3 %

14,3 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

7,1 %

SO

100,0 %

73,1 %

84,0 %

46,2 %

52,0 %

3,8 %

8,0 %

3,8 %

4,0 %

VO

100,0 % 100,0 %

93,3 %

26,7 %

46,7 %

26,7 %

33,3 %

0,0 %

13,3 %

WZ

10,5 %

96,8 %

80,6 %

80,6 %

35,5 %

45,2 %

0,0 %

3,2 %

3,2 %

16,1 %

Gesamt 97,5 %

85 %

81,6 %

30,4 %

35,8 %

10,1 %

13,0 %

5,2 %

10,5 %

Tab. 1: Kandidaturen 2015 und 2020 auf Bezirksebene.

Während SPÖ (minus 2,5 Prozentpunkte bzw. minus sieben Kandidaturen) und FPÖ (minus 3,4 Prozentpunkte bzw. minus zehn Kandidaturen) 2020 weniger Kandidaturen zustande brachten als fünf Jahre zuvor 20, stiegen die von Grünen (plus 5,4 Prozentpunkte bzw. plus 15 Kandidaturen), Kommunisten (plus 2,9 Prozentpunkte bzw. plus acht Kandidaturen) und Neos, wobei sich letztere mit einem Plus von 15 Kandidaturen verdoppeln konnten.21 Bis auf die KP und Neos kandidierten alle Parteien auf Bezirksebene flächendeckend. Eine Berechnung der jeweiligen Prozentanteile von Wiederkandidaturen zeigt, wie schwierig es gerade für „klein(er)e“ Parteien ist, auf kommunaler Ebene Kontinuitäten aufzubauen. So lag der Prozentanteil der Wiederkandidaturen bei den Grünen bei 73,5 %, bei der KPÖ bei 67,5 % und bei Neos (hier gilt es wohl auch das „Alter“ der Partei zu berücksichtigen) bei gar nur 16,7 % – im Gegensatz zur SPÖ, für die 97,5 %, und zur FPÖ, für die 92,7 % errechnet wurden. Wie bereits erwähnt, bedürfen die Gesamtergebnisse der Gemeinderatswahlen vom Juni 2020 einer eingehende(re)n Analyse bzw. doppelten Revision. Folgt man dem vom Amt der Steiermärkischen Landesregierung veröffentlichten und somit ­offiziellen Heinz P. Wassermann

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Gesamtergebnis (wie es in Abbildung 1 ediert ist), dann weisen die Ergebnisse von FPÖ , Grünen, KPÖ und Neos im Vergleich zu den drei vorangegangenen Wahlen nicht nur nach unten, sie waren in Relation gesehen auch von massiven Verlusten geprägt. Berücksichtigt man einerseits den Umstand, dass in der Landeshauptstadt nicht gewählt wurde, und zieht man andererseits ausschließlich die tatsächlichen Kandidaturen auf Gemeindeebene heran, dann zeigen die Ergebnisse (auch im Vergleich zu den in Abbildung 1 edierten Werten) ein teilweise massiv divergierendes Bild.

Abb. 2: Steiermarkergebnisse 2019/2020, berechnet auf der Basis von a) Landesergebnissen ohne Graz und b) tatsächlichen Kandidaturen 2020.

Aus der folgenden Abbildung sind für die drei Wahlen aus 2019 die Prozentpunktdifferenzen ­zwischen den Landesergebnissen ohne und mit Landeshauptstadt Graz ablesbar. Graz drückt die Gesamtergebnisse von FPÖ, ÖVP und SPÖ nach unten, wobei die Differenzen bei der (Steirischen) Volkspartei und somit auch deren Schwäche in der Landeshauptstadt bemerkenswert sind.22 Grüne, KPÖ und Neos „zieht“ die Landeshauptstadt im Gesamtergebnis hingegen nach oben, wovon Die Grünen am stärksten profitieren.

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Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Abb. 3: Prozentpunktdifferenzen 2019 z­ wischen ohne und mit Graz.

Die folgende Abbildung bezieht sich auf den tatsächlich erreichten Landesschnitt, sofern man ausschließlich die tatsächlichen Kandidaturen berücksichtigt. Darüber hinaus sind Gewinne und Verluste der Gemeinderatswahlen 2015 und 2020 ablesbar.

Abb. 4: Differenzen z­ wischen offiziellem und alternativ berechnetem Ergebnis.

Da die Steirische Volkspartei sowohl 2015 als auch 2020 flächendeckend kandidierte, bleiben die von der Landeswahlbehörde publizierten Ergebnisse (2015:  42,7 %, 2020: 47,2 %) logischerweise unverändert, was auch für das SP -Ergebnis aus 2015 (31,6 %) gilt. In Abhängigkeit von der Berechnungsbasis divergieren die Ergebnisse der Gemeinderatswahl 2020 bei der SPÖ um 0,4, bei der FPÖ um 1,0 (2015) und um 0,1 (2020), bei den Grünen um 3,4 (2015) und um 4,5 (2020), bei der KPÖ um 5,1 (2015) und um 4,9 (2020) und bei Neos um 2,9 (2015) und um 2,4 (2020) Prozentpunkte.

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Somit verbesserten sich die Gesamtergebnisse von SPÖ und Grünen um 0,4 bzw. um 2,5 Prozentpunkte, wohingegen FPÖ (6,6 Prozentpunkte), KPÖ (0,1 Prozentpunkt) und Neos (0,3 Prozentpunkte) Verluste hinnehmen mussten.23 Bleiben abschließend noch die 80 Bürger-/Namenslisten zu diskutieren.24 Folgt man der Website des Landes Steiermark, so erreichten sie laut offiziellem Ergebnis 5,8, nach tatsächlichen Kandidaturen und Wahlbeteiligten (N = 276.763) beachtliche 17,8 % der gültigen Stimmen, was (je nach Berechnungsmodus) zum Teil deutlich über den Landesergebnissen von FPÖ , Grünen, KPÖ und Neos lag. Das Prozentspektrum war ein denkbar breites: Es reichte von 0,5 % für die „Alternative Liste Zeltweg“ bis zu 75,2 % für die „Namensliste Schrittwieser“ in Krieglach. In der folgenden Tabelle werden die Mehrheitsverhältnisse der Gemeinderatswahlen 2015 und 2020 ediert. VP 2015 VP 2020 SP 2015 SP 2020 FP 2015 FP 2020 Nl 2015 Nl 2020 0,0 % 0,0 % 1,1 % 2,1 % Absolute Mehrheit 56,8 % 63,4 % 16,8 % 21,5 % Relative Mehrheit 12,6 % 7,0 % 11,2 % 3,9 % 0,4 % 0,0 % 1,1 % 2,1 % Tab. 2: Absolute und relative Mehrheiten 2015 und 2020 (Nl = Namenslisten).

Die absoluten Mehrheiten stiegen ­zwischen 2015 und 2020 um 12,3 Prozentpunkte von 74,7 auf 87 Prozent, wobei der Zuwachs der Steirischen Volkspartei (6,6 Prozentpunkte) um knapp zwei Prozentpunkte bzw. um 40 % über dem Plus der Sozialdemokraten (plus 4,7 Prozentpunkte) lag und sich – wenngleich auf niedrigerem Niveau – die absoluten Mehrheiten der Namenslisten beinahe verdoppelten. In insgesamt 18 Gemeinden kam es zu einem parteipolitischen Machtwechsel.25 Seit den Gemeinderatswahlen stellt die Volkspartei in zwei von vormals von Bürger-/ Namenslisten regierten Gemeinden (Arnfels und Großsteinbach – allerdings kandidierten dort die Bürger-/Namenlisten nicht mehr), in fünf ehemaligen „roten“ Gemeinden (Admont, Eisenerz, Mariazell, Selzthal und Wildon) und in einer ehemaligen FP Gemeinde (Breitenau am Hochlantsch) nunmehr den Bürgermeister 26. In den Gemeinden Feistritztal, Fernitz-Mellach, Haus und Schladming gingen die Bürgermeistersessel an Bürger-/Namenslisten und die Gemeinden Lafnitz, St. Lorenzen im Mürztal, StadlPredlitz und Tillmitsch werden von SPÖ -Bürgermeistern regiert. Die SPÖ verlor neben den bereits erwähnten fünf Gemeinden an die ÖVP die Stadtgemeinde Mureck an die Bürger-/Namensliste des (mittlerweile aus der SPÖ ausgeschlossenen 27) ehemaligen SP -Bürgermeisters Anton Vukan, stellt aber in der Gemeinde Bad Mitterndorf mittler­weile den Bürgermeister,28 wobei auch hier die (zwei) Bürger-/Namenslisten nicht mehr antraten. Summa summarum konnte die Volkspartei die 200 Bürgermeisterämter behaupten, FPÖ und SPÖ verloren jeweils einen Bürgermeister und in zwölf Kommunen besetzen Spitzenkandidaten von Bürger-/Namenslisten die Ämter. 76

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

(Wahl-)Statistische Analysen Die folgenden Analysen basieren zum einen auf den jeweiligen Wahlergebnissen, zum anderen auf statistischen Daten der 285 Gemeinden.29 In einem ersten Schritt wird die generelle Datenlage analysiert und in einem zweiten werden die unterschiedlichen Parameter statistisch ausgewertet, auf etwaige Signifikanzen getestet 30 und interpretiert.

Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung Auf der Basis von absoluten Zahlen gab es in der Gemeinde Hohentauern mit 354 Personen die wenigsten und in der Stadtgemeinde Leoben mit 19.820 Personen die meisten Wahlberechtigten. Im Landesschnitt 31 waren 2.821 Personen pro Gemeinde wahlberechtigt. Gemessen an der Wohnbevölkerung lag der Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung in der Gemeinde Gutenberg-Stenzengreith mit 74,8 % am unteren und mit 91,4 % in der Gemeinde Spital am Semmering am oberen Ende der Bandbreite – der Landesschnitt lag bei 94,8 %. Den geringsten Anteil an Wahlberechtigten mit österreichischer Staatsbürgerschaft wies die Gemeinde Neudau mit 84,7 %, den höchsten die Gemeinde Miesenbach bei Birkfeld mit 99,5 % auf. Der Landesschnitt lag bei 84,7 Prozent. Entsprechend komplementär waren die Prozentanteile an wahlberechtigten EUStaatsbürgern: Die Gemeinde Miesenbach bei Birkfeld wies mit 0,5 % das Minimum, die Gemeinde Neudau mit 15,3 % das Maximum auf – der Landesschnitt belief sich auf 5,2 %. Die geringste Wahlbeteiligung wies die Gemeinde Lassing mit 37,5 %32, die höchste die Gemeinde Gasen mit 88,7 % auf – der landesweite Durchschnitt lag bei 62,6 %.33 In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen polarisierte 34 Positionierungen ediert. Wahlberechtigte absolut Signifikanzen

V

N

S

K

hs-

s-

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s

Wahlberechtigte in Prozent Signifikanzen Österreichische Wahlberechtigte in Prozent Signifikanzen Wahlberechtigte EU-Staatsbürger in Prozent Signifikanzen

S

V

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V

S

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Wahlbeteiligung in Prozent

V

Signifikanzen Wahlbeteiligung Ppd Signifikanzen

s V

S

hs-

hs

Tab. 3: Signifikanztabelle Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung. Heinz P. Wassermann

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Im Rahmen der 36 durchgeführten statistischen Tests sind elf (hoch) signifikante Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 30,6 %. Die Anzahl der Wahlberechtigten pro Gemeinde korreliert einerseits hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Ergebnis der Volkspartei und signifikant negativ mit dem von Neos, andererseits signifikant positiv mit den Ergebnissen von SPÖ und KPÖ.35 Je höher der jeweilige Absolutwert ist, umso schlechter schneiden Volkspartei und Neos ab, bei Sozialdemokraten und Kommunisten verhält es sich gegensätzlich. Das jeweilige Gemeindeergebnis der SPÖ korreliert hoch signifikant negativ mit dem Prozentanteil von österreichischen Wahlberechtigten an der Wohnbevölkerung auf der einen Seite und hoch signifikant positiv mit dem jeweiligen der Volkspartei auf der anderen Seite.36 Je höher der Prozentwert ist, umso schlechter schneidet die SPÖ ab – für die ÖVP trifft das Gegenteil zu. Sofern es den Prozentanteil von wahlberechtigten EU-Staatsbürgern an der Wohnbevölkerung betrifft, zeigen die Hochsignifikanzen in die Gegenrichtung.37 Je höher der jeweilige Prozentanteil ausgeprägt ist, umso schlechter ist es um das jeweilige Ergebnis der Volkspartei und umso besser um das der SPÖ bestellt. Die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene korreliert signifikant positiv mit dem jeweiligen Gesamtergebnis der Volkspartei.38 Je höher diese ist, umso besser schneidet die ÖVP ab. Die Prozentpunktveränderung der Wahlbeteiligung korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Gesamtergebnis der VP und hoch signifikant positiv mit dem jeweiligen der SP.39 Je stärker die Wahlbeteiligung sinkt, umso besser fällt das jeweilige Ergebnis der Volkspartei aus – bei der SPÖ trifft das Gegenteil zu.

Bevölkerungsstruktur Der massivste Bevölkerungsrückgang ­zwischen 2015 und 2020 ist mit -18,9 % für die Gemeinde Spital am Semmering, der stärkste Bevölkerungszuwachs mit einem Plus von 22,5 % für die Gemeinde Kalsdorf bei Graz 40 zu verzeichnen. Alles in allem nahm die Wohnbevölkerung im Bundesland um zwei Prozent zu, im Durchschnitt betrug der Bevölkerungszuwachs pro Gemeinde 0,3 %. 47,7 % (= 410.769 Wahlberechtigte) der Gemeinden weisen einen Bevölkerungszuwachs aus, 52,3 % (= 391.557 Wahlberechtigte) eine Abnahme der Wohnbevölkerung, die in einer Gemeinde (= Hartberg-Umgebung mit 1.769 Wahlberechtigten) unverändert blieb. Die höchste Wohnbevölkerung weist Leoben mit 24.471 Personen, die geringste die Gemeinde Hohentauern mit 388 Personen auf. Im Landesschnitt wohnen 3.352 Personen in einer Gemeinde.

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Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Mit 10,7 % Anteil an den bis 19-Jährigen (N = 173.623 Bewohner) weist die Gemeinde Kalwang den geringsten, mit 22,9 % die Gemeinde Markt Hartmannsdorf den höchsten Wert (bei einem Landesdurchschnitt von 18,3 %) auf. Die Altersgruppe 20 bis 64 (N = 575.629 Bewohner) ist mit 50,1 % wiederum in der Gemeinde Kalwang am schwächsten und mit 66,5 % in der Gemeinde Großklein am stärksten vertreten. Im Landesschnitt macht diese Altersgruppe 60,1 % aus. Mit 12,3 % an über 64-Jährigen (N = 203.323 Bewohner) weist die Gemeinde Großklein den geringsten, mit 39,2 % die Gemeinde Kalwang den höchsten Wert (bei einem Landesdurchschnitt von 21,6 %) auf. Mit einem Durchschnittsalter von 39,3 Jahren ist die Gemeinde Gralla die „jüngste“ und mit einem von 55,7 Jahren die Stadtgemeinde Eisenerz die „älteste“ Kommune in der Steiermark. Das Durchschnittsalter auf Gemeindeebene beträgt 45,2 Jahre. Mit einer Differenz von 6,9 Prozentpunkten war der Männerüberhang in der Gemeinde St. Georgen ob Judenburg am stärksten ausgeprägt, den massivsten Frauenüberhang weist die Gemeinde Neumarkt in der Steiermark mit 7,5 Prozentpunkten auf. Landesweit gab es um 2,4 Prozentpunkte mehr Frauen als Männer. In 109 Gemeinden (= 38,2 % bzw. 318.623 Bewohner) gibt es mehr Männer als Frauen, in 166 (= 58,2 % bzw. 601.548 Bewohner) mehr Frauen als Männer und in den restlichen zehn Kommunen (= 3,5 % bzw. 35.153 Bewohner) ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Der Frauenüberhang in der Altersgruppe 19 bis 50 ist mit einer Prozentpunktdifferenz von 12,7 in der Gemeinde Kainbach bei Graz, der Männerüberhang mit einem Überhang von 44,6 Prozentpunkten in der Gemeinde Wald am Schoberpaß am stärksten ausgeprägt. Landesweit liegt der Frauenüberhang in dieser Altersgruppe bei fünf Prozentpunkten. In dieser Altersgruppe gibt es in 233 Gemeinden (= 81,8 % bzw. 306.017 Bewohner) einen Männer- und in 49 Gemeinden (= 17,2 % bzw. 65.731 Bewohner) einen Frauenüberschuss. In drei Kommunen (ein Prozent bzw. 3.412 Bewohner) war die Sexualproportion in dieser Altersgruppe ausgeglichen. Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Bevölkerungsveränderung in Prozent Signifikanzen Bevölkerungsveränderung in Kategorien Signifikanzen Wohnbevölkerung absolut Signifikanzen Bevölkerungsanteil bis 19 Signifikanzen Bevölkerungsanteil 20 bis 64

K s-

V hsS hsF

N s-

G hs S s V hs

K s G hs

N s

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Signifikanzen Bevölkerungsanteil 65 und älter Signifikanzen Durchschnittsalter Signifikanzen Sexualproportion allgemein Signifikanzen Sexualproportion allgemein in Kategorien Signifikanzen Sexualproportion 19 bis 50 allgemein Signifikanzen Sexualproportion 19 bis 50 in Kategorien Signifikanzen

sV hsV hs-

G hs-

S hs S hs

F s K hs

Tab. 4: Signifikanztabelle Bevölkerungsstruktur.

Alles in allem wurden 66 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 18 (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge belegbar, das sind 27,3 %. Die prozentuelle Bevölkerungsveränderung korreliert signifikant negativ mit dem jeweiligen Gesamtergebnis der KP.41 Je stärker diese negativ ausgeprägt ist, umso besser schneidet sie ab. In Zuwanderungsgemeinden schneiden die Grünen hoch signifikant besser ab als in Abwanderungsgemeinden.42 Die Wohnbevölkerung in absoluten Zahlen korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Gesamtergebnis der Volkspartei und signifikant negativ mit dem von Neos auf der einen Seite und signifikant positiv mit den jeweiligen Ergebnissen von SPÖ und KPÖ .43 Je mehr Personen in einer Gemeinde leben, umso schlechter sind die Ergebnisse von VP und Neos und umso besser sind die von Sozialdemokraten und Kommunisten. Der Prozentanteil der bis 19-Jährigen korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Gemeindeergebnis der Sozialdemokraten einerseits und hoch signifikant positiv mit den Ergebnissen von Volkspartei und Grünen sowie signifikant positiv mit denen von Neos andererseits.44 Je stärker diese Bevölkerungsgruppe prozentuell besetzt ist, umso schlechter schneidet die SPÖ ab und umso besser sind die kommunalen Ergebnisse von Volkspartei, Grünen und Neos. Die prozentuelle Besetzung der Altersgruppe 19 bis 64 korreliert signifikant negativ mit den jeweiligen Ergebnissen der FPÖ.45 Je größer diese Gruppe prozentuell vertreten ist, umso schlechter schneiden die Freiheitlichen ab. Der Prozentanteil der Altersgruppe 65plus korreliert einerseits hoch signifikant negativ mit den jeweiligen Gemeindeergebnissen von ÖVP und Grünen und andererseits hoch signifikant positiv mit denen der SPÖ sowie signifikant positiv mit denen der 80

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

FPÖ .46 Je größer der jeweilige Prozentwert ist, umso schlechter schneiden Volkspartei

und Grüne ab – für die Sozialdemokraten und die Freiheitlichen gilt das Gegenteil. Das Durchschnittsalter korreliert hoch signifikant negativ mit den kommunalen Ergebnissen der ÖVP auf der einen Seite und hoch signifikant positiv mit denen von SPÖ und KPÖ.47 Je höher das Durchschnittsalter in einer Gemeinde ist, umso schlechter ist das jeweilige Ergebnis der Volkspartei – bei Sozialdemokraten und Kommunisten verhält es sich spiegelverkehrt.

Migranten und Flüchtlinge Der Prozentanteil aller Migranten liegt ­zwischen 0,4 % (Gemeinde Miesenbach bei Birkfeld) und 20,9 % in der Gemeinde Knittelfeld; im Landesschnitt beläuft er sich auf 5,7 % pro Gemeinde. Den geringsten Prozentanteil an EU-Migranten weist wiederum Miesenbach bei Birkfeld (0,4 %) auf, den höchsten die Gemeinde Neudau mit 18,7 % bei einem Landesdurchschnitt von 4,2 %. In den Gemeinden Miesenbach bei Birkfeld, Rettenegg und Wildalpen leben keine Migranten mit einer anderen als einer EU-Staatsbürgerschaft, in Liezen machen die Nicht-EU-Staatsbürger 9,6 % aus – der Landesdurchschnitt beläuft sich auf 1,5 %. In 36,5 % (N = 434.468 Wahlberechtigte) der steirischen Gemeinden (N= 104) befanden sich per Stichtag 24. Juni 2020 Flüchtlinge in der Grundversorgung, in den restlichen 63,5 % (N = 369.627 Wahlberechtigte, bzw. 181 Gemeinden) keine. Im Jahresvergleich 2019/2020 hat sich die Anzahl an Flüchtlingen in 20,3 % der Gemeinden (N = 92.688 Wahlberechtigte, bzw. 27 Kommunen) erhöht, in 13,5 % bzw. in 18 Gemeinden (N = 67.653 Wahlberechtigte) ist sie gleichgeblieben und in 66,2 % der Gemeinden (N = 371.461Wahlberechtigte, bzw. 88 Kommunen) ist sie gesunken. Unter diesen 104 „Flüchtlingsgemeinden“ (434.468 Wahlberechtigte) weist die Gemeinde Seiersberg-Pirka mit 0,04 % an der Gesamtbevölkerung den geringsten und die Gemeinde Lafnitz mit 2,28 % den höchsten Flüchtlingsanteil auf. In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Positionierungen ediert. Migrantenanteil allgemein Signifikanzen EU-Migranten Signifikanzen Sonstige Migranten Signifikanzen Flüchtlinge GVS ja/nein Signifikanzen

V hsV hsV hsV hs

N s-

S hs S hs S hs K s

K s

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Flüchtlinge 2019/20 Kategorien Signifikanzen Flüchtlingsanteil in Prozent Signifikanzen

K s

Tab. 5: Signifikanztabelle Migranten und Flüchtlinge.

Im Rahmen der 48 durchgeführten statistischen Tests sind elf (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 22,9 %. Der allgemeine Migrantenprozentanteil (EU- und Nicht-EU-Migranten) korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Gemeindeergebnis der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit dem jeweiligen der Sozialdemokraten.48 Je höher dieser ist, umso schlechter schneidet jeweils die ÖVP und umso besser jeweils die SPÖ ab. Dasselbe Muster ist für die Berechnung des Prozentanteils von Migranten mit einer EU-Staatsbürgerschaft festzuhalten.49 Die kommunalen Wahlergebnisse der ÖVP korrelieren hoch signifikant negativ, die von Neos signifikant negativ mit dem Prozentanteil von Nicht-EU-Migranten auf der einen Seite und hoch signifikant positiv mit denen der SPÖ und signifikant positiv mit denen der KPÖ auf der anderen Seite.50 Je höher deren Prozentanteil ausgeprägt ist, umso schlechter sind die Gesamtergebnisse von Volkspartei und Neos – für Sozialdemokraten und Kommunisten trifft das Gegenteil zu. In Gemeinden, in denen keine Flüchtlinge untergebracht sind, schneidet die ÖVP hoch signifikant besser ab als in Gemeinden, in denen Flüchtlinge untergebracht sind. Für die KPÖ gilt das Gegenteil, allerdings ist der Unterschied nur signifikant.51 Der Flüchtlingsanteil auf Gemeindeebene korreliert signifikant positiv mit dem jeweiligen Gesamtergebnis der KPÖ.52 Je höher dieser ist, umso besser fällt es jeweils für die KP aus.

Urbanisierungsgrad Die Urban-Rural-Typologie (U-R-T) ordnet alle österreichischen Gemeinden einer von fünf Kategorien zu.53 4,2 % (52.288 Wahlberechtigte, 12 Gemeinden) der relevanten steirischen Gemeinden werden als urbane Großzentren (UGZ)54, 7,7 % (149.531 Wahlberechtigte, 22 Gemeinden) als urbane Mittel- und Kleinzentren (UMKZ )55, 4,9 % (77.184 Wahlberechtigte, 14 Gemeinden) als regionale Zentren (RZ)56, 21,8 % als Außenzonen von Zentren (AZ, 152.867 Wahlberechtigte, 62 Gemeinden)57 und 61,4 % (372.225 Wahlberechtigte, 174 Gemeinden) als ländlicher Raum abseits von Zentren (LR)58 kategorisiert. 11,6 % (290.972 Wahlberechtigte) der Kommunen sind gemäß U-R-T Stadt-, die restlichen 88,4 % sind Landgemeinden (664.351 Wahlberechtigte). 82

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

15,1 % (288.057 Wahlberechtigte) der Gemeinden gelten als mittel und 84,9 % (516.038 Wahlberechtigte) als dünn besiedelt. Der Anteil an Einpendlergemeinden (174.075 Wahlberechtigte) beläuft sich auf 17,2 %, der an Auspendlergemeinden (781.248 Wahlberechtigte) auf 82,8 %. Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Urbanisierungsgrad Signifikanzen Stadt-/Landgemeinden Signifikanzen Besiedlungsdichte Signifikanzen Pendlerbilanz Signifikanzen

UGZ/UMKZ

G s

N hs

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V hs V hs V hs V hs V hs

G hs G hs G hs

UGZ/RZ UGZ/AZ UGZ/LR UMKZ/RZ UMKZ/AZ UMKZ/LR

S hs S hs S hs

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RZ/AZ RZ/LR AZ/LR V hs V hs F s

F s N hs N hs

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V s F s S s S hs

K hs

Tab. 6: Signifikanztabelle Urbanisierungsgrad.

Alles in allem wurden 78 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 28 (hoch) signifikante Unterschiede belegbar, das sind 35,9 %. SPÖ und KPÖ schneiden in urbanen Großzentren hoch signifikant schlechter ab als in urbanen Mittel- und Kleinzentren. Bei Neos trifft das Gegenteil zu und bei den Grünen ist der Unterschied signifikant.59 Die Gesamtergebnisse der Volkspartei sind in Außenzonen von Zentren hoch signifikant schlechter als in urbanen Großzentren.60 Heinz P. Wassermann

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Ebenso verhält es sich, wenn man den ländlichen Raum abseits von Zentren mit urbanen Großzentren vergleicht.61 Die SPÖ schneidet in urbanen Mittel- und Kleinzentren hoch signifikant besser ab als in regionalen Zentren – für die ÖVP und die Grünen gilt das Gegenteil.62 Dieselben hoch signifikanten Unterschiede zeigen sich beim Vergleich von urbanen Mittel- und Kleinzentren mit Außenzonen von Zentren 63 sowie beim Vergleich der urbanen Mittel- und Kleinzentren mit dem ländlichen Raum abseits von Zentren, wobei auch Neos im ländlichen Raum hoch signifikant bessere Resultat erzielen als in urbanen Mittel- und Kleinzentren.64 Die jeweiligen Kommunalergebnisse der Volkspartei sind in regionalen Zentren signifikant schlechter als im ländlichen Raum abseits von Zentren.65 Die FPÖ schneidet in Außenzonen von Zentren signifikant schlechter ab als im ländlichen Raum abseits von Zentren.66 Volkspartei und Neos schneiden in Landgemeinden hoch signifikant, die FPÖ signifikant besser ab als in Stadtgemeinden. Die jeweiligen Ergebnisse der KPÖ sind in Stadtgemeinden hoch signifikant, die der SPÖ signifikant besser als in Landgemeinden.67 Die jeweiligen Wahlergebnisse von ÖVP und Neos fallen in dünn besiedelten Gemeinden hoch signifikant besser aus als in Gemeinden mit einer mittleren Besiedelungsdichte – für die SPÖ trifft das Gegenteil zu.68 Die FPÖ schneidet in Einpendlergemeinden signifikant schlechter ab als in Auspendlergemeinden, bei Neos ist dieser Unterschied hoch signifikant.69

Formal höchster Bildungsgrad 70 Die Statistik weist insgesamt sieben unterschiedliche Bildungsabschlüsse aus. Für die folgenden Berechnungen wurden Lehr- und Fachschulabschlüsse sowie AHS- und BHSMaturanten in jeweils eine Gruppe zusammengefasst. Auf die gesonderte Auswertung von hochschulverwandten Ausbildungen wurde verzichtet, da diese Gruppe einerseits zu unbestimmt und andererseits mengenmäßig zu vernachlässigen ist. 25 % (206.483 Personen) aller in der Steiermark lebenden Personen wiesen 2018 einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss auf, unter den Wahlberechtigten waren es 24,3 % (196.012 Personen).71 Über einen Lehr- bzw. Fachschulabschluss verfügten unter der Gesamtbevölkerung 54,4 % (449.092 Personen), unter den Wahlberechtigten waren es mit 55 % (444.433 Personen) auf Prozentbasis interpretiert etwas mehr.72 Die Reifeprüfung war für 12,1 % (100.307 Personen) der in der Steiermark lebenden Personen der höchste Bildungsabschluss, mit 12,2 % (98.816 Personen) lagen die Wahlberechtigten prozentuell geringfügig darüber.73

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Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Über einen Hochschulabschluss sowohl unter der Gesamtbevölkerung (70.038 Personen) als auch unter den Wahlberechtigten (68.645 Personen) verfügten 8,5 %.74 In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Polarisierungen ediert. Pflichtschule Gesamtbevölkerung Signifikanzen Pflichtschule Wahlberechtigte Signifikanzen Lehre/FS Gesamtbevölkerung Signifikanzen Lehre/FS Wahlberechtigte Signifikanzen Matura Gesamtbevölkerung Signifikanzen Matura Wahlberechtigte Signifikanzen Hochschule Gesamtbevölkerung Signifikanzen Hochschule Wahlberechtigte Signifikanzen

G hsG hsG hsG hsV hsV hsV sV s-

F hsF hsF hsF hs-

V s V hs S s S hs G hs G hs G hs G hs

F hs F hs

Tab. 7: Signifikanztabelle formale Bildung.

Im Rahmen der 48 durchgeführten statistischen Tests sind 22 (hoch) signifikante Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 45,8 %. Der Prozentanteil an Pflichtschulabsolventen unter allen Gemeindebürgern korreliert signifikant positiv mit dem jeweiligen Ergebnis der Volkspartei und hoch signifikant negativ mit dem Ergebnis der Grünen.75 Je höher er ist, umso besser schneidet die ÖVP und umso schlechter schneiden die Grünen ab. Dasselbe gilt, wenn man den Prozentanteil an Pflichtschulabsolventen unter den Wahlberechtigten heranzieht, allerdings ist der Zusammenhang bei der ÖVP hoch signifikant positiv.76 Die Prozentanteile an Lehr- und Fachschulabsolventen unter der Gesamtbevölkerung korrelieren signifikant positiv mit den jeweiligen Gemeindeergebnissen der SPÖ und hoch signifikant positiv mit denen der FPÖ auf der einen sowie hoch signifikant negativ mit denen der Grünen auf der anderen Seite.77 Je höher er jeweils ausgeprägt ist, umso besser schneiden Sozialdemokraten und Freiheitliche ab und umso schlechter fallen die kommunalen Ergebnisse der Grünen aus. Dasselbe gilt, wenn man als Berechnungsbasis die Lehr-/Fachschulabsolventen unter den Wahlberechtigten heranzieht, allerdings ist der Zusammenhang für die SPÖ hoch signifikant positiv.78 Heinz P. Wassermann

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Sowohl was den Prozentanteil der Maturanten unter der gesamten Wohnbevölkerung 79 als auch unter den Wahlberechtigten 80 betrifft, gilt: Er korreliert jeweils hoch signifikant positiv mit den jeweiligen Ergebnissen der Grünen und hoch signifikant negativ mit denen der ÖVP und der FPÖ. Je höher er jeweils ausgeprägt ist, umso besser schneiden die Grünen und umso schlechter Volkspartei und Freiheitliche ab. Der Prozentanteil an Hochschulabsolventen zeigt – unabhängig davon, ob man jeweils die Gesamtbevölkerung 81 oder die Wahlberechtigten 82 heranzieht – zwei idente Muster. Er korreliert jeweils hoch signifikant positiv mit den kommunalen Ergebnissen der Grünen einerseits und signifikant negativ mit denen der Volkspartei sowie hoch signifikant negativ mit denen der Freiheitlichen andererseits. Je stärker er jeweils ausgeprägt ist, umso besser schneiden die Grünen und umso schlechter ÖVP und FPÖ ab.

Stellung im Beruf Stellung im Beruf erfasst neben Arbeitern, Angestellten und Selbständigen auch die Gruppe der „sonstigen unselbständigen Erwerbstätigen“. Es handelt sich alles in allem um 24.443 Personen, deren Beschäftigungsverhältnisse so heterogen sind (z. B. freie Dienstnehmer, Grundwehr- und Zivildiener), dass sie nicht gesondert ausgewertet werden. Die Berechnungsbasis (= 100 %) sind deshalb Arbeiter, Angestellte und Selbständige. Wie bei der eben edierten, berechneten und getesteten Variable Bildung wird auch bei dieser ­zwischen den Prozentanteilen unter der Gesamtbevölkerung und unter den Wahlberechtigten unterschieden bzw. werden sie separat ausgewertet. Darüber hinaus stammen die Daten wiederum aus dem Jahr 2018. 18,8 % (179.865 Personen) der Wohnbevölkerung sind Arbeiter,83 unter den Wahlberechtigten sind es 21,5 % (172.878 Personen), das ist eine Differenz von 2,7 Prozentpunkten.84 Alles in allem sind 21,7 % der Wohnbevölkerung Angestellte (207.828 Personen)85, unter den Wahlberechtigten erhöht sich der Wert um 4,5 Prozentpunkte auf 26,2 % (210.623 Personen)86. 6,5 % (62.242 Personen) der Wohnbevölkerung sind Selbständige 87, unter den Wahlberechtigten sind es 7,7 % (61.763 Personen), das bedeutet ein Plus von 1,2 Prozentpunkten 88. Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar.

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Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Arbeiter Gesamtbevölkerung Signifikanzen Arbeiter Wahlberechtigte Signifikanzen Angestellte Gesamtbevölkerung Signifikanzen Angestellte Wahlberechtigte Signifikanzen Selbstständige Gesamtbevölkerung Signifikanzen Selbstständige Wahlberechtigte Signifikanzen

G hsG hsF sF sS hsS hs-

K hsK hsK hsK hs-

V s V hs G hs G hs V hs V hs

F hs F hs

N hs F s

N hs

Tab. 8: Signifikanztabelle Stellung im Beruf.

Alles in allem wurden 36 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 21 (hoch) signifikante Zusammenhänge belegbar, das sind 58,3 %. Der Prozentanteil an Arbeitern unter der Gesamtbevölkerung korreliert signifikant positiv mit dem jeweiligen Ergebnis der ÖVP sowie hoch positiv signifikant mit dem der FPÖ einerseits und hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Ergebnis der Grünen andererseits.89 Je höher deren Prozentanteil ausgeprägt ist, umso besser schneiden Volkspartei und Freiheitliche ab und umso schlechter die Grünen. Dasselbe Muster zeigt sich bei den Berechnungen des Arbeiteranteils unter den Wahlberechtigten, allerdings ist der Zusammenhang für die jeweiligen kommunalen ÖVP-Ergebnisse hoch signifikant.90 Die prozentuelle Besetzung von Angestellten sowohl unter der Gesamtbevölkerung 91 als auch unter den Wahlberechtigten 92 korreliert hoch signifikant positiv mit dem Abschneiden der Grünen einerseits sowie signifikant negativ mit dem der Freiheitlichen und hoch signifikant negativ mit dem der Kommunisten andererseits. Je höher der Prozentanteil auf Gemeindeebene ausgeprägt ist, umso besser fallen die jeweiligen Gesamtergebnisse der Grünen aus – für FPÖ und KPÖ gilt das Gegenteil. Der Prozentanteil an Selbständigen unter der Gesamtbevölkerung korreliert einerseits hoch signifikant positiv mit den jeweiligen Gemeinderesultaten von ÖVP und Neos und andererseits hoch signifikant negativ mit denen von SPÖ und KPÖ.93 Je höher er ausgeprägt ist, umso besser schneiden Volkspartei und Neos und umso schlechter Sozialdemokraten und Kommunisten ab. Zieht man den Prozentanteil von Selbständigen unter den Wahlberechtigten heran, so zeigen sich wiederum dieselben hoch signifikant positiven und hoch signifikant negativen Zusammenhänge. Er korreliert darüber hinaus auch signifikant positiv mit den jeweiligen FPÖ-Gemeinderesultaten.94

Heinz P. Wassermann

87

(Wirtschaftliche) Sektorenverteilung 95 Im Primärsektor (Land- und Forstwirtschaft) sind alles in allem 5,6 % (28.011 Erwerbstätige) tätig. Den geringsten Wert weist mit 0,6 % die Gemeinde Rosental an der ­Kainach, den höchsten die Gemeinde Pusterwald mit 21,4 % auf. Der Sekundärsektor (Gewerbe und Industrie) weist mit 14,4 % in der Gemeinde Bad Radkersburg das Landesminimum, mit 45,5 % in der Gemeinde Trieben das Landesmaximum auf. In der Summe sind es 29,7 % oder 141.707 Beschäftigte. Im tertiären Sektor (Dienstleistungen) sind insgesamt 64,4 % (477.162 Personen) beschäftigt. Der geringste Wert ist mit 40,6 % für die Gemeinde Strallegg, der Höchstwert mit 82,2 % für die Gemeinde Thal bei Graz nachweisbar. In der folgenden Tabelle werden zum einen die zuordenbaren (Hoch-)Signifikanzen, zum anderen Polarisierungen ediert. Primärer Sektor Signifikanzen Sekundärer Sektor Signifikanzen Tertiärer Sektor Signifikanzen

S hsG hsV hs-

F s-

V hs S hs G hs

F hs

N s

Tab. 9: Signifikanztabelle Sektorenverteilung.

Im Rahmen der 18 durchgeführten statistischen Tests sind neun hoch signifikante Zusammenhänge nachweisbar, das entspricht 50 %. Die kommunalen Ergebnisse von Volkspartei und von Freiheitlichen korrelieren hoch signifikant, die von Neos signifikant positiv mit dem Prozentanteil an in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten. Bei der SPÖ korreliert der jeweilige Prozentanteil hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Gemeindeergebnis.96 Je höher der Prozentanteil ausgeprägt ist, umso besser schneiden ÖVP, FPÖ und Neos und umso schlechter die Sozialdemokraten ab. Die prozentuelle Stärke des sekundären Sektors korreliert auf kommunaler Ebene hoch signifikant positiv mit dem jeweiligen SP-Ergebnis und hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen Abschneiden der Grünen.97 Je stärker er prozentuell besetzt ist, umso besser ist das Wahlergebnis der Sozialdemokraten auf Gemeindeebene, für die Grünen gilt das Gegenteil. Die prozentuelle Besetzung des Dienstleistungssektors korreliert hoch signifikant positiv mit dem jeweiligen Gemeindeergebnis der Grünen einerseits und hoch signifikant negativ mit dem der ÖVP andererseits – bei der FPÖ ist dieser Zusammenhang signifikant negativ.98 Je höher sie ausgeprägt ist, umso besser schneiden die Grünen ab – bei der Volkspartei und den Freiheitlichen trifft das Gegenteil zu. 88

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Ökonomische Indikatoren Gemessen an der Wohnbevölkerung, war 2019 die Arbeitslosenrate im Jahresdurchschnitt mit 1,5 % in der Gemeinde Mitterdorf an der Raab am geringsten, in der Gemeinde Neudau mit 8,0 % am höchsten; im Landesdurchschnitt betrug sie auf kommunaler Ebene 3,5 %. Im Jahresvergleich 2018/2019 ist die Arbeitslosenrate in 22,5 % (N = 206.761 Wahlberechtigte/N = 64) der Gemeinden gestiegen, in 71,9 % (N = 573.027 Wahlberechtigte/ N = 205) der Gemeinden gesunken und in 5,6 % (N = 24.307 Wahlberechtigte/N = 16) der Gemeinden unverändert geblieben. 2018 wurde für die Gemeinde Geistthal-Södingberg mit 855 Euro die geringste und für die Gemeinde Raaba-Grambach mit 2.820 Euro die höchste Steuerkraftkopfquote ausgewiesen. Der Landesschnitt betrug 1.183 Euro. In 67,7 % (N= 611.455 Wahlberechtigte) der Gemeinden stieg von 2017 auf 2018 die Steuerkraftquote, in 31,9 % (N= 190.510 Wahlberechtigte) der Kommunen fiel sie, und in einer 99 (= 0,4 %) blieb sie unverändert. Mit 25.949 Euro war 2017 das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen der unselbständig Beschäftigten in der Gemeinde Ramsau am Dachstein das landesweit geringste, am höchsten war es mit 50.055 Euro in der Gemeinde Stattegg. Der Landesschnitt betrug 35.015 Euro. Die höchste Abweichung nach unten vom Landesschnitt wies mit einem durchschnittlichen Minus von 9.066 Euro – wenig überraschend – die Gemeinde Ramsau am Dachstein auf, die stärkste Abweichung über dem Landesschnitt ist mit einem Überhang von 15.040 Euro (wiederum wenig überraschend) für die Gemeinde ­Stattegg belegt. Das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen der unselbständig Beschäftigten lag in 43,2 % (483.161 Wahlberechtigte) der steirischen Kommunen über und in 56,8 % der Gemeinden (472.162 Wahlberechtigte) unter dem Landesschnitt von 35.015 Euro. In der Gemeinde Wald am Schoberpaß wies der Gini-Koeffizient 100 mit 0,27 die geringste, mit 0,43 die Gemeinde Altaussee die stärkste Ausprägung auf (im Landesschnitt belief er sich auf 0,33). Aus der folgenden Tabelle sind die den einzelnen Parteien zugeordneten (Hoch-) Signifikanzen sowie die parteipolitischen Positionierungen ablesbar. Arbeitslosenrate 2019 Signifikanzen Arbeitslosigkeit in Kategorien Signifikanzen Arbeitslosigkeit in Kategorien Signifikanzen

V hs-

G hs-

N s F hs

N s

S hs S s

V s

Heinz P. Wassermann

89

Steuerkraftkopfquote 2017 Signifikanzen Steuerkraftkopfquote in Kategorien Signifikanzen Kommunalsteuer absolut Signifikanzen Durchschnittsgehalt 2017 absolut Signifikanzen Abweichung vom Durchschnittsgehalt absolut Signifikanzen Abweichung vom Durchschnittsgehalt Kategorien Signifikanzen Gini-Koeffizient Signifikanzen

V hs-

V hsV hsV hsV hs V s-

F s-

S s

F hsF hs-

S hs G s G s

F hs-

G hs

Tab. 10: Signifikanztabelle Ökonomische Indikatoren.

Alles in allem wurden 62 statistische Tests durchgeführt. In Summe sind 23 (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge belegbar, das sind 37,1 %. Die durchschnittliche Arbeitslosenrate 2019 auf Gemeindeebene korreliert hoch signifikant negativ mit den jeweiligen Gesamtergebnissen von ÖVP und Grünen und negativ signifikant mit denen von Neos. Für die SPÖ besteht ein hoch signifikant positiver Zusammenhang.101 Je höher die Arbeitslosenrate war, umso schlechter schneiden Volkspartei, Grüne und Neos ab – für die Sozialdemokraten trifft das Gegenteil zu. Die Gesamtergebnisse der SPÖ sind in Gemeinden, in denen die durchschnittliche Arbeitslosenrate ­zwischen 2018 und 2019 gestiegen ist, signifikant besser als in Gemeinden, in denen sie gesunken ist. Für FPÖ und Neos verhält es sich gegensätzlich, wobei der statistische Unterschied für die FP-Gesamtergebnisse hoch signifikant und für Neos signifikant ist.102 Die Volkspartei schneidet in Gemeinden, in denen die durchschnittliche Arbeitslosenrate im Jahresvergleich zugenommen hat, signifikant schlechter ab als in Gemeinden, in denen sie unverändert blieb.103 Die jeweilige Höhe der Steuerkraftkopfquote aus 2018 korreliert hoch signifikant negativ mit den kommunalen Ergebnissen der Volkspartei und signifikant negativ mit denen der Freiheitlichen auf der einen Seite sowie signifikant positiv mit denen der Sozialdemokraten auf der anderen Seite.104 Je höher sie in einer Gemeinde ist, umso schlechter sind die jeweiligen Resultate von ÖVP und FPÖ und umso besser die der SPÖ . Das Kommunalsteueraufkommen korreliert hoch signifikant negativ mit den Ergebnissen der Volkspartei und hoch signifikant positiv mit denen der Sozialdemokraten.105 Je höher es jeweils ist, umso schlechter schneidet die ÖVP ab und umso besser die SPÖ. 90

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Die Höhe des Jahresbruttogehaltes von unselbständig Beschäftigten korreliert hoch signifikant negativ mit dem jeweiligen kommunalen Abschneiden der ÖVP und FPÖ einerseits und hoch signifikant positiv mit dem der Grünen andererseits.106 Je höher es ist, umso schlechter schneiden Volkspartei und Freiheitliche und umso besser die Grünen ab. Dasselbe gilt für die durchschnittlichen kommunalen Abweichungen der Bruttogehälter vom Landesdurchschnitt in absoluten Zahlen.107 Je höher sie jeweils ausgeprägt sind, umso schlechter schneiden FPÖ und ÖVP ab – für die Grünen gilt das Gegenteil. Die jeweiligen Ergebnisse der Volkspartei sind in Gemeinden mit unterdurchschnittlichen Jahresbruttogehältern hoch signifikant besser als in solchen mit überdurchschnittlichen.108 Der jeweilige Gini-Koeffizient korreliert hoch signifikant negativ mit den Kommunalergebnissen der FPÖ und signifikant negativ mit denen der ÖVP auf der einen Seite sowie hoch signifikant positiv mit denen der Grünen auf der anderen Seite.109 Je stärker er ausgeprägt ist, umso schlechter schneiden die Erstgenannten ab – für die Grünen trifft das Gegenteil zu.

Zusammenfassung Aus der folgenden Tabelle sind zum einen die Prozentanteile an (Hoch-)Signifikanzen der Gemeinderatswahlen vom Juni 2020 und für Vergleichszwecke zum anderen die der Landtagswahl 110 vom November 2019 ablesbar.

Stellung im Beruf Sektorenverteilung Formal höchster Bildungsgrad Ökonomische Indikatoren Urbanisierungsgrad Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung Bevölkerungsstruktur Migranten und Flüchtlinge

GRW 58,3 % 50,0 % 45,8 % 37,1 % 35,9 % 30,6 % 27,3 % 22,9 %

LTW 72,2 % 72,2 % 85,5 % 61,1 % 65,4 % 58,3 % 84,8 % 45,8 %

Prozentpunktdifferenz -13,9 -22,2 -39,7 -24,0 -22,4 -27,7 -57,5 -22,9

Tab 11: Prozentanteil an (Hoch-)Signifikanzen.

Auf der Prozentbasis errechneter (Hoch-)Signifikanzen liegen diese bei der Gemeinderatswahl lediglich bei den Variablen „Stellung im Beruf“ sowie „Sektorenverteilung“ jenseits bzw. an der 50-%-Marke. Die Anzahl bzw. der Prozentanteil der berechneten (Hoch-)Signifikanzen ist bei den Gemeinderatswahlen somit wesentlich geringer ausgeprägt. Lag deren Anteil bei der Landtagswahl 2019 bei sieben von acht ­Themen jenseits der 50-%-Marke, so war dies bei der Gemeinderatswahl 2020 nur einmal der Fall. Heinz P. Wassermann

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Geht man vom interpretatorischen Ansatz aus, dass errechnete (Hoch-)Signifikanzen (zumindest) indirekte Indikatoren für Wahlergebnisse sind, so ist aus den errechneten Prozentpunktdifferenzen ablesbar, dass die Gemeinderatswahl(en) einer anderen Logik folgte(n), was die folgende Tabelle, die eine vergleichende Reihung der (Hoch-) Signifikanzen ediert, über weite Strecken bestätigt. GRW 1 2 3 4 5 6 7 8

Stellung im Beruf Sektorenverteilung Formal höchster Bildungsgrad Ökonomische Indikatoren Urbanisierungsgrad Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung Bevölkerungsstruktur Migranten und Flüchtlinge

LTW 3 3 1 6 5 7 2 8

Tab. 12: Reihung der (Hoch-)Signifikanzen.

Alles in allem wurden 392 statistische Test durchgeführt, von denen 143 oder 36,5 % statistisch (hoch) signifikante Unterschiede bzw. Zusammenhänge aufwiesen. In der folgenden Tabelle werden die erwähnten 143 Signifikanzen parteipolitisch zugeordnet.

Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung Bevölkerungsstruktur Migranten und Flüchtlinge Urbanisierungsgrad Formal höchster Bildungsgrad Stellung im Beruf Sektorenverteilung Ökonomische Indikatoren

VP 5 4 4 8 6 4 2 8 41 28,7 %

SP 4 4 3 6 2 2 2 4 27 18,9 %

FP 0 2 0 3 6 5 2 5 23 16,1 %

Grüne 0 3 0 4 8 4 2 4 25 17,5 %

KP 1 3 3 2 0 4 0 0 13 9,1 %

Neos 1 2 1 5 0 2 1 2 14 9,8 %

Tab. 13: Prozentanteil der Parteien an den (Hoch-)Signifikanzen.

Wie beim Wahlergebnis liegt wiederum die Steirische Volkspartei an erster Stelle, bemerkenswert hoch ist (auch in Relation zum Wahlergebnis) der Prozentanteil der Grünen. Für die Landtagswahlen 2019 wurde ein hohes Maß an parteipolitischen Polarisierungen festgehalten. Darunter ist zu verstehen, dass sich auf der Basis von positiven/ negativen Korrelationen oder (hoch) signifikanten Mittelwertunterschieden zumindest zwei Parteien – in den Tabellen durch die Graufärbung markiert – gegenüberstanden. 92

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

Im nächsten Schritt werden – wiederum in Analogie zur einschlägigen Auswertung der Landtagswahl – Monopolisierungen und Polarisierungen errechnet und mit den Ergebnissen der Landtagswahl verglichen. Insgesamt sind elf parteipolitische Monopolisierungen festzustellen, wovon sechs (54,5 %) auf die Volkspartei, jeweils zwei (18,2 %) auf FPÖ und KPÖ und eine (9,1 %) auf die Grünen entfielen.111 Entlang der Zuordnung, dass die Werte null und eins als keine, die Werte zwei und drei als „schwache“, der Wert vier als „mittlere“ und die Werte fünf und sechs als „starke“ Polarisierung klassifiziert werden, ist festzuhalten, dass in 31,7 % keine, in 50,8 % eine „schwache“, in 14,3 % eine „mittlere“ und in 3,2 % eine „starke“ Polarisierung vorliegt. Auch auf dieser Zuordnungsbasis zeigt sich, dass die Gemeinderatswahlen einer anderen Logik folgten als Landtagswahlen, die eine wesentlich stärkere parteipolitische Polarisierung (52,2 % waren der Kategorie „starke“ und 35,6 % der Kategorie „mittlere“ Polarisierung zuzuordnen)112 aufwiesen. Wurde für die Landtagswahl eine, auf der Basis der errechneten (Hoch-)Signifikanzen, Kongruenz ­zwischen Grünen, KPÖ und Neos (zu denen sich auffallend häufig, aber nicht konsequent die Sozialdemokraten gesellten) festgehalten, so kann dies für die Gemeinderatswahl nicht festgestellt werden. Zwar gibt es Polarisierungen entlang ­dieses für die Landtagswahl nachweisbaren Schemas, allerdings zum einen nicht so ausgeprägt und zum anderen findet sich Neos auffallend häufig in einem „Zuordnungsblock“ mit der Volkspartei und/oder der FPÖ.

1 2

3

4 5 6

7

Schwaiger, Gerald: Affären ließen die Blauen abstürzen. In: Kronen Zeitung vom 29. Juni 2020. Zum Ergebnis vgl. NN: Europawahl 2019 – Steiermark. Auswertungen, downloads, Infos zur Wahl. Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/12715727/74837558/ (eingesehen am 17. Dezember 2020). Zum Ergebnis vgl. NN: NRW 2019 – Steiermark. Auswertungen, downloads, Infos zur Wahl. Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/12740540/74835984/ (eingesehen am 17. Dezember 2020). Zum Ergebnis vgl. NN: LTW 2019 – Daten – Auswertungen (downloads). Im Internet: https://www. verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/12751079/74836525/ (eingesehen am 17. Dezember 2020). Vgl. NN: CoV: Gemeinderatswahlen werden verschoben. Im Internet: https://steiermark.orf.at/ stories/3038687/ (eingesehen am 17. Dezember 2020). Vgl. LGB l. 51/2010. Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/dokumente/​ 11679987_​74837604/177baf3c/LGBLA _2020_051_SIG .pdf (eingesehen am 17. Dezember 2020). In den Gemeinden Ilz, Leibnitz, Mortantsch, St. Andrä-Höch und Wildon fanden aufgrund von erfolgreichen Wahlanfechtungen am 15. November 2020 Nachwahlen statt. Vgl. Rossacher, Thomas [u. a.]: Fortuna mag Türkis, Leibnitz Leitenberger. In: Kleine Zeitung vom 16. November 2020. Die weiter unten durchgeführten statistischen Berechnungen basieren auf den Ergebnissen des Wahltags im Juni. Vgl. Wassermann, Heinz P.: „ÖVP räumt bei blauen Wählern ab!“ Steirische Wahlergebnisse und Wählerströme ­zwischen 2015 und 2019. In: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2019. Hg. Heinz P. Wassermann

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v. Andreas Khol [u. a.]. Wien [u. a.] 2020. S. 147 – 166; ders.: „Die Schmach von 2005 ist getilgt“. (Statistische) Analysen der steirischen Landtagswahl vom 24. November 2019. In: Steirisches Jahrbuch für Politik 2019. Hg. v. Beatrix Karl [u. a.]. Wien [u. a.] 2020. S. 113 – 139. Das Landesergebnis der Steirischen Volkspartei lag sowohl bei der Wahl zum Europäischen Parlament (1,1 Prozentpunkte) als auch bei der Nationalratswahl (1,4 Prozentpunkte) über den jeweiligen Bundesergebnissen. Vgl. (auch für die Ergebnisse von SPÖ, FPÖ, Grünen und Neos) NN: Endgültiges Ergebnis inklusive Wahlkarten. Im Internet: https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/ start.aspx#endgErgebnis; NN : Wahltag, Stichtag, Gesamtergebnis. Im Internet: https://www. bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Nationalratswahl_2019/start.aspx#wahltag (beide eingesehen am 17. Dezember 2020). Sowohl bei der EP-Wahl (2,5 Prozentpunkte) als auch bei der Nationalratswahl (2 Prozentpunkte) lag die steirische Landespartei unter den Bundesergebnissen. Das Landesergebnis der FPÖ lag sowohl bei der Wahl zum Europäischen Parlament (2,4 Prozentpunkte) als auch bei der Nationalratswahl (2,3 Prozentpunkte) über den jeweiligen Bundesergebnissen. Vgl. Obermaier, Frederik und Obermayer, Bastian: Die Ibiza-Affäre. Innenansichten eines Skandals. Wie wir die geheimen Pläne von Rechtspopulisten enttarnten und darüber die österreichische Regierung stürzte. Köln 2019. Vgl. z. B. Plasser, Fritz und Sommer, Franz: Neuwahl 2019. Determinanten und Motive der Wahlentscheidung. Im Internet: https://www.demox-research.com/wp-content/uploads/2019/10/ Analyse_Bericht.pdf (eingesehen am 17. Dezember 2020) S. 9. Wie die steirische Sozialdemokratie lagen die steirischen Grünen bei beiden Wahlen (EP: 0,8 Prozentpunkte, NRW: 0,9 Prozentpunkte) unter den Bundesergebnissen. Hier ist vor allem auf die Stärke der KPÖ in Graz zu verweisen. Neos lag auf Landesebene sowohl bei der Wahl zum Europäischen Parlament (0,5 Prozentpunkte) als auch bei der Nationalratswahl (1 Prozentpunkt) unter dem jeweiligen Bundesergebnis. Die auf Gemeindeebene bezogenen Daten basieren auf einem Auftragsprojekt von „Kleine Zeitung“ und ORF-Steiermark. An dieser Stelle darf sich der Verfasser bei Gerhard Koch und Wolfgang Schaller (ORF Steiermark), Hubert Patterer und Ernst Sittinger (Kleine Zeitung) sowie beim Datenteam Angela Bischof, Hannah Felbinger, Anna Kollmann-Eisner, Alina Neumann, Sonja Radkohl und Philipp Trummer herzlich bedanken. Besonderer Dank gilt Josef Holzer (Amt der Steiermärkischen Landesregierung) für die gewohnt kollegiale Überlassung bzw. Recherche der Gemeinde­ daten – sofern nicht andere Quellen angegeben werden, beziehen sich die Ausführungen auf diese Daten. Vgl. Gesetz vom 2. April 2019 über die Aufteilung der Gemeinde Murfeld auf die angrenzenden Marktgemeinden Sankt Veit in der Südsteiermark und Straß in Steiermark. Im Internet: https:// www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrStmk&Gesetzesnummer=20001473&Fassung​ Vom=2020-01-01 (eingesehen am 18. Dezember 2020). Vgl. NN: Steierrmark gesamt – vorläufiges Ergebnis. 285 von 285 Gemeinden wurden ausgezählt. Im Internet: https://egov.stmk.gv.at/wah/pub/stdwahl/stdwahlSet.do; NN: Europawahl 2019; NN: NRW 2019; NN: LTW 2019 (alle eingesehen am 19. Dezember 2020). Vgl. NN: Gemeinderatswahlen am 22. März 2020. Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/dokumente/12762509_74837281/b198c2af/Zusammenfassung_Bezirke_2020.pdf (eingesehen am 19. Dezember 2020). Da die ÖVP 2015 und 2020 und die SPÖ 2015 flächendeckend antraten, wird auf die Edition dieser Werte verzichtet.

Ein „große[r] Sieg für die ‚Bürgermeisterpartei‘ ÖVP“

20 Das liegt möglicherwiese daran, dass ein Teil der „fusionsbedingten“ Kandidaturen 2015 nicht nachhaltig genug war. Vgl. Kindermann, Manfred und Wassermann, Heinz P.: Bezirksfusionen und Gemeindestrukturreform als (rechtliche) Rahmenbedingungen von Gemeinderats- und Landtagswahlen 2015. In: Urnengänge. Analysen der steirischen Gemeinde- und Landtagswahlen 2015. Hg. v. Heinz P. Wassermann. Graz 2016 (= Studien zu Medien und Gesellschaft, Bd. 3). S. 24 – 27. 21 Vgl. NN : GRW 2015 – Daten – Auswertungen (downloads). Im Internet: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/12164421/74837281/ (eingesehen am 19. Dezember 2020); NN: Gemeinderatswahlen am 22. März 2020. 22 Die alternative Lesart wäre die Stärke der Steirischen Volkspartei außerhalb der Landeshauptstadt. 23 Das offizielle Wahlergebnis des Landes Steiermark weist hingegen nur für die FPÖ einen Verlust aus. Vgl. NN, Steiermark gesamt. 24 Vgl. NN: Gemeinderatswahlen am 22. März 2020. 2015 kandidierten noch 97 solcher Listen. Vgl. NN: GRW 2015. 25 Als Vergleichsbasis dienen die parteipolitischen Mandatszuordnungen vom 27. Jänner 2020 und vom 22. Dezember 2020. Vgl. E-Mail von Michaela Leeb (Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 7) vom 3. Jänner 2021 an den Verfasser. Frau Leeb sei an dieser Stelle für die Daten herzlich gedankt. 26 Die Anzahl von 22 Bürgermeisterinnen blieb ebenso unverändert wie auch deren parteipolitische Zuordnung (VP: 15, SP 6 und Bürger-/Namensliste: 1). Vgl. ebda. 27 Vgl. NN: SPÖ: Vukan ausgeschlossen. In: Kleine Zeitung vom 6. Jänner 2021. 28 Vgl. E-Mail Leeb. 29 Diese wurden dem Verfasser von Josef Holzer (Amt der Steiermärkischen Landesregierung) zur Verfügung gestellt und vom Verfasser weiterver- bzw. bearbeitet. Die Datenquelle wird in weiterer Folge nicht gesondert ausgeschildert. 30 Signifikanter Unterschied/Zusammenhang = p