Salzburger Jahrbuch für Politik 2020 [1 ed.]
 9783205211556, 9783205211532

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SALZBURGER JAHRBUCH FÜR POLITIK 2020

Herausgeber: CHRISTIAN DIRNINGER / REINHARD HEINISCH ROBERT KRIECHBAUMER / FRANZ WIESER

Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 72/2

Wissenschaftlicher Beirat des Salzburger Jahrbuchs für Politik: Univ.-Prof. Dr. Herbert Dachs, Universität Salzburg Mag. Ernestine Berger, Institut für Grundlagenforschung Univ.-Prof. Dr. Christian Dirninger, Universität Salzburg Dr. Franz Fallend, Universität Salzburg Univ.-Prof. Dr. Reinhard Heinisch, Universität Salzburg Karl Kern, ORF-Landesstudio Salzburg Univ.-Prof. Dr. Andreas Koch, Universität Salzburg Univ.-Prof. Dr. Robert Kriechbaumer, Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Dr. Günther Marchner, ConSalis e. Gen. Dr. Armin Mühlböck, Universität Salzburg Dr. Markus Pausch, FH Salzburg Chefredakeur Manfred Perterer, Salzburger Nachrichten Univ.-Prof. Dr. Walter Scherrer, Universität Salzburg Mag. Stefan Wally, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen Mag. Franz Wieser MBA, Landes-Medienzentrum Salzburg

SALZBURGER JAHRBUCH FÜR POLITIK 2020 Herausgeber Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser Wissenschaftliche Redaktion Franz Fallend und Armin Mühlböck

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Walter Pichler Korrektorat: Philipp Rissel, Wien Umschlaggestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21155-6

Inhalt

Vorwort der Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 ARMIN MÜHLBÖCK Gemeindewahlen in Salzburg. Die Wahlen im Jahr 2019 mit einem Rückblick auf die Entwicklungen in der 2. Republik . . . . . . . . . . . . . .

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MARTIN DOLEZAL/VIKTORIA ANNA JANSESBERGER Im Schatten der Bundespolitik. Die Nationalratswahl 2019 in Salzburg.. . .

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FRANZ FALLEND Europawahlen als „Nebenwahlen“. Die Wahlen zum E ­ uropäischen Parlament 2019 in Salzburg im historischen Vergleich. . . . . . . . . . . . .

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HERBERT DACHS „Das Hemd näher als der Rock?“ Über Beziehungen der Salzburger ÖVP zur Bundespartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 ROBERT HUBER/ERIC MIKLIN Aus Fehlern gelernt? Das Verhältnis zwischen den FPÖ-Landesgruppen und der Bundespartei im Vergleich Schwarz-Blau und Türkis-Blau. . . . . . 149 GÜNTHER PENETZDORFER Mobilitätsentwicklungen. Verkehrspolitik und neue Mobilitätskonzepte im Zentralraum Salzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 BIRGIT BAHTIĆ-KUNRATH Dem Gegenwind trotzen. Integrationspolitik in Salzburg 2013–2019. . . . . 205 ANDREAS KOCH Wohnen in der Stadt Salzburg. Zum Verhältnis der Wohnung als Ware und dem Wohnen als soziale I­ nfrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 MARKUS PAUSCH Der Widerstand gegen die 380-kV-Leitung in Salzburg. . . . . . . . . . . . . 270

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Inhalt

KURT LUGER Das „gefühlte“ Zuviel. Tourismuspolitische Überlegungen, um „Overtourism“ in der Stadt Salzburg zu begegnen . . . . . . . . . . . . . . . 290 PETER SALHOFER/HEINZ P. WASSERMANN „Millionen für den/die/wen …?“ Rahmenbedingungen, Theorie und – am Beispiel Salzburg – Praxis des M ­ edientransparenzgesetzes 2011 im Zeitraum 2013 bis 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Vorwort der Herausgeber

Gesellschaft und Politik sind dem sich ständig beschleunigenden Wandel und der damit drohenden Unübersichtlichkeit, auf denen das ganze Spektrum unserer Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft – von der emotionalen Betroffenheit über die selektive Wahrnehmung bis zum weitgehenden Desinteresse – basiert, unterworfen. Das reflexive Innehalten, die Bereitschaft zur Analyse jenseits der im medialen Dschungel dominierenden Schlagzeilen, ist angesichts der dominanten Instant-Ideologie eine zentrale Aufgabe der Politik­ wissenschaft. Für Salzburg gilt, wie für alle Bundesländer, dass die politikwissenschaftliche Analyse das Spannungsfeld zwischen regionaler Besonderheit und Wirkmächtigkeit der österreichischen und europäischen Entwicklung zu berücksichtigen hat. In einem ersten, den Wahlgängen des Jahres 2019 gewidmeten, Block wird dieses einerseits von Besonderheiten, andererseits von Wechselwirkungen gekennzeichnete Spannungsfeld am Beispiel der Gemeindewahlen, der Nationalratswahl und der Europawahl analysiert. Die regionalpolitische Position von Parteien ist stets auch von bundespolitischen (Koalitions-)Konstellationen geprägt. Befinden sich Landes- und Bundespartei in jeweils unterschiedlichen Koalitionen oder in der gegensätzlichen Rolle der Regierungs- oder Oppositionspartei, welchen Einfluss üben starke Bundesparteiobmänner (im Fall der hier untersuchten Parteien ÖVP und FPÖ Wolfgang Schüssel, Sebastian Kurz, Jörg Haider, Heinz-Christian Strache) auf das (innerparteiliche) Verhalten der Landespartei aus, gibt es im Spannungsverhältnis zwischen Bundes- und Landespartei aus Fehlern der Vergangenheit resultierende politische Lernprozesse usw., all diesen Fragen widmen sich die beiden anschließenden Beiträge über die ÖVP und FPÖ. Wenngleich auch bundes- und EU-politische Themen, so stellen angesichts des hohen Anteils von Immigranten, der Attraktivität des Zentralraums sowie des touristischen Angebots und seiner weltweiten Vermarktung die Themen Integrationspolitik, Wohnen und Wohnungspolitik sowie der viel beklagte „Overtourism“ spezifisch landespolitische Problemfelder dar, die die lokalpolitische Berichterstattung der letzten Jahre ebenso dominierten wie das emotional hoch besetzte Thema der 380-kV-Leitung. Diesen vier Themen ist daher der dritte Abschnitt der Beiträge gewidmet. Den Abschluss bildet das medienpolitische sensible Thema des Medientransparenzgesetzes, dessen Auswirkungen in Salzburg unter Berücksichtigung der bundespolitischen Entwicklung in den Jahren 2013 bis 2018 untersucht wird.

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Vorwort der Herausgeber

Die Herausgeber bedanken sich bei allen AutorInnen, die sich wiederum der Mühe unterzogen haben, die ihnen vom Wissenschaftlichen Beirat des Salzburger Jahrbuchs für Politik gestellten Themen einer analytischen Betrachtung zu unterziehen. Ihr ganz besonderer Dank gilt dem Redaktionskomitee Franz Fallend und Armin Mühlböck, die wiederum die keineswegs immer leichte Aufgabe auf sich nahmen, die einlangenden Beiträge mit ihrem kritischen Blick zu redigieren. Die Beiträge geben ausschließlich die Meinung der jeweiligen AutorInnen wieder. Salzburg, Juli 2020 Christian Dirninger Robert Kriechbaumer

Reinhard Heinisch Franz Wieser

ARMIN MÜHLBÖCK

Gemeindewahlen in Salzburg Die Wahlen im Jahr 2019 mit einem Rückblick auf die Entwicklungen in der 2. Republik

1. EINLEITUNG Am 10.3.2019 fanden im Bundesland Salzburg die 15. Gemeindevertretungswahlen der 2. Republik statt. Geht es um Gemeindewahlen, geht es nicht nur um eine Wahl. Es geht, wie im Falle des Bundeslandes Salzburg, um 119 Wahlen und dabei um 119 jeweils eigenständige und spannende Geschichten. Nimmt man die Direktwahl der BürgermeisterInnen noch hinzu, die ja einen eigenständigen Wahlgang darstellt, kann sogar von 238 Wahlen an einem Tag die Rede sein. Bei Nationalratswahlen können im Land Salzburg 11 Mandate erzielt werden (von österreichweit 183), wobei bis dato maximal 10 zugewiesen werden konnten (im Jahr 2002). Wird der Salzburger Landtag gewählt, geht es um 36 Sitze im Landesparlament. Wenn die SalzburgerInnen zu den Gemeindewahlen gerufen werden, geht es um ganz andere Dimensionen: 2.134 Mandate waren es, die bei den Wahlen zur Gemeindevertretung1 im Jahr 2019 zu vergeben waren. Die Anzahl der Mandate ist gekoppelt an die Bevölkerungszahl. Das führte dazu, dass 2019 im ganzen Land um insgesamt 18 Mandate mehr als 2014 zu holen waren. Das Plus an Mandaten ergab sich einzig und allein aufgrund eines Bevölkerungszuwachses in Flachgauer und Tennengauer Gemeinden (+18 Mandate). Innergebirg blieb der Mandatsstand hingegen unverändert (Pinzgau +2/Pongau –2/Lungau +/–0).2 Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die wichtigsten Ergebnisse der Gemeindewahl im Jahr 2019 thematisiert (Kapitel 2). Bei dieser Gelegenheit 1 Das oberste Beschlussorgan der Gemeinde heißt nach § 6 Abs. 1 der Salzburger Gemeindeordnung (GdO) 2019 in Salzburger Landgemeinden „Gemeindevertretung“ (= „Gemeindeparlament“), in anderen Bundesländern und auch in der Stadt Salzburg ist dieses Gemeindeorgan als „Gemeinderat“ bezeichnet. 2 Land Salzburg/Referat Landesstatistik (2019). Gemeindewahlen 2019 Teile I und II: Gemeindevertretungswahlen und Bürgermeisterwahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salz burg.gv.at/stat/wahlen/gvw/download/GVW-2019.pdf; Gemeindebund (2020). Wissenswertes über unsere Bürgermeister/innen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://gemeindebund.at/ unsere-buergermeister-innen/.

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Armin Mühlböck

werden auch die bei BürgermeisterInnenwahlen relevanten Aspekte Amtsbonus (bei der BürgermeisterInnenwahl), Häufigkeit von Stichwahlen und Stimmensplittung zwischen Gemeindevertretungs- und BürgermeisterInnenwahl angesprochen. Zudem wird das Thema der Frauen in der Kommunalpolitik aufgeworfen. Bei der Besprechung der Ergebnisse der Gemeindewahl im Jahr 2019 werden die Vorgänge in der Stadt Salzburg in einem eigenen Abschnitt dargestellt. Um die Ergebnisse bei den letzten Gemeindewahlen besser einordnen zu können, erfolgt die Aufbereitung und Diskussion der Stimmen- und Mandatsanteile der Parteien bei Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg seit 1949 (Kapitel 3). Besonders beachtet werden dabei die Machtverhältnisse in den Gemeinden und wie sich, je nach Fokus auf dem Stimmen- oder Mandatsanteil, unterschiedliche Bilder ergeben können. Die Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien in der Stadt Salzburg wird wieder in einem eigenen Abschnitt beschrieben. Unter anderem wird dabei auch die Verankerung insbesondere von ÖVP und SPÖ in den Wahlbezirken der Stadt thematisiert und welche Veränderungen sich im Laufe der Zeit und vor allem bei den letzten Wahlen hinsichtlich der Partei-Hochburgen ergaben. Die Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen, die immer wieder Anlass für Diskussionen war – nicht nur in Salzburg oder ganz Österreich, sondern auch im internationalen Umfeld – wird in Kapitel 4 analysiert. Dabei werden zunächst die Partizipationsraten in den Salzburger Landgemeinden (ohne die Stadt Salzburg) untersucht. Nach der Aufbereitung der Entwicklung der Wahlbeteiligung erfolgt die Darstellung von Erklärungsansätzen für die Höhe der Wahlbeteiligung anhand zweier zentraler Faktoren, der Größe der Gemeinde (=Anzahl der Wahlberechtigten) und dem Grad gesellschaftlicher Heterogenität in sozioökonomischer Hinsicht. Die Entwicklung der Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in der Stadt Salzburg wird wieder in einem eigenen Abschnitt beschrieben. Das Kapitel über die Wahlbeteiligung schließt mit einer Gegenüberstellung der Partizipationsraten bei Gemeindewahlen mit Landtags- und Nationalratswahlen. Mit der zusammenfassenden Darstellung aller Inhalte in Kapitel 5 wird der Beitrag über die Salzburger Gemeindewahlen finalisiert.

2. DIE GEMEINDEWAHLEN IM JAHR 2019 2.1 Allgemeines Die SalzburgerInnen wurden in der 2. Republik erstmalig im Jahr 1949 zu ­einer Gemeindewahl aufgerufen, während die erste Landtagswahl bereits 1945 abgehalten wurde. Die Gemeindewahlen und Landtagswahlen fanden nur bei vier Wahlgängen, in den Jahren 1954, 1999, 2004 und 2009 zu gleichen Termi-

Gemeindewahlen in Salzburg

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nen statt. Seit der vorgezogenen Wahl zum Salzburger Landtag im Jahr 2013, in Folge der durch den Finanzskandal ausgelösten Regierungskrise, fanden Gemeindewahlen und Landtagswahlen nicht nur an unterschiedlichen Terminen, sondern auch um ein Jahr versetzt statt. Hinzu kommt, dass die Gemeindewahlen in Stadt und Land Salzburg bis 1999 zu unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht in ein und demselben Jahr abgehalten wurden. Der Grund ist, dass in der Stadt bis 1957 eine nur vierjährige Amtsperiode galt, während diese in Landgemeinden immer schon fünf Jahre andauerte. Erst im Jahr 1999 erfolgte die Zusammenlegung der Wahlen. In den Landgemeinden wurde der/ die BürgermeisterIn erstmalig im Jahr 1994 direkt gewählt. In der Stadt Salzburg wurde die erste Direktwahl des Stadtoberhauptes erst für das Jahr 1999 ausgeschrieben. Nach dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 waren ab 1999 auch EU-BürgerInnen mit ordentlichem Wohnsitz im Bundesland bei Gemeindewahlen wahlberechtigt. 2.2 Ergebnisse der Salzburger Gemeindewahlen 2019 Die Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg im Jahr 2019, gemeint sind die Wahlen zu den Gemeindevertretungen und die BürgermeisterInnenwahlen, führten eindrucksvoll die dominierende Stellung der ÖVP im Land vor Augen. Die Volkspartei trat in 117 der 119 Gemeinden als eigenständige Wahlpartei an (nicht in Thomatal und Mittersill, dabei aber in Kooperation mit anderen politischen Kräften in einer gemeinsamen Wahlpartei: Liste GfT „Gemeinsam für Thomatal“/Liste VIERT, angeführt von Bürgermeister Wolfgang Viertler in Mittersill). Die Volkspartei, die auch auf Landesebene mit Landeshauptmann Wilfried Haslauer die bestimmende Kraft ist, wurde, was die Gemeindevertretungen betrifft, in 103 von 119 Gemeinden die stimmstärkste Partei – in sieben Gemeinden mehr als bei der vorangegangenen Wahl im Jahr 2014. 1.153 von insgesamt 2.134 zu vergebenden Mandaten waren der ÖVP zuzurechnen (= 54 %/2014: 51 %). Das Wahljahr 2014 ergab für die ÖVP 97 von 119 BürgermeisterInnenpositionen. Bei der Wahl im Jahr 2019 verlor die ÖVP acht BürgermeisterInnenämter: sieben an die SPÖ (Annaberg-Lungötz, Filzmoos, Hallein, Mattsee, Ramingstein, Straßwalchen und Zell am See) und einen an die FPÖ (Radstadt). Im Gegenzug aber konnte sie in sieben Gemeinden der SPÖ den BürgermeisterInnensitz abringen: Bruck an der Großglocknerstraße, Dorfgastein, Mariapfarr, Mühlbach am Hochkönig, Muhr, Oberalm und St. Margarethen im Lungau. Alles in allem stellt die Volkspartei damit für die Periode ab 2019 ein Gemeindeoberhaupt weniger als die Wahl im Jahr 2014 ergab (2019: 96).3 3 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Gemeindewahlen 2019 Teile I und II (s. Fn. 2).

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Armin Mühlböck

Für die SPÖ brachten die Kommunalwahlen im Jahr 2019 sowohl Erfolge als auch Niederlagen. Schmerzlich war schon der Verlust des Bürgermeistersitzes bei den vorgezogenen BürgermeisterInnenwahlen in der Stadt Salzburg Ende 2017. Im Jahr 2019 musste sie auch noch die ihr seit Jahrzehnten angestammte Position der stimmenstärksten Partei in der Landeshauptstadt der ÖVP überlassen.4 In einzelnen Gemeinden erkämpfte die SPÖ aber auch spektakuläre Erfolge (z. B. Filzmoos, Hallein, Mattsee, Maria Alm, Straßwalchen, Zell am See). Die SPÖ, die in 111 von 119 Gemeinden als Wahlpartei antrat (2014: 117), ist aber nur mehr in 13 von 119 Gemeinden die stärkste Partei – in vier weniger als im Wahljahr 2014. Sie erlangte 559 oder 26 Prozent der Mandate (2014: 27 %). Das bedeutete ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei Salzburger Gemeindewahlen in der 2. Republik. Immerhin blieb es gegenüber 2014 bei einem unveränderten Stand von 18 SPÖ-BürgermeisterInnen in ganz Salzburg. Die SPÖ schickte wie schon im Jahr 2014 77 KandidatInnen in das Rennen um das BürgermeisterInnenamt und verlor – wie bereits angeführt – sieben Sessel an die ÖVP. Sie konnte aber in ebenso sieben Gemeinden der Partei des Landeshauptmannes den Bürgermeistersitz streitig machen. In Untertauern verlor die SPÖ den Bürgermeister an die Liste des amtierenden Bürgermeisters, der aus der SPÖ ausgetreten war. In Maria Alm holte sich die SPÖ den Bürgermeistersitz von einer Namensliste.5 Die FPÖ bewarb sich in 96 Gemeinden um Mandate (2014: 106). Bei den Gemeindewahlen im Jahr 2014 konnte sie in zwei Gemeinden die relative Mehrheit für sich verbuchen (in Unken und in Weißpriach). Im Jahr 2019 verlor die FPÖ die zwei Gemeinden an die ÖVP. Bei den BürgermeisterInnenwahlen konnten die Freiheitlichen in Radstadt von der ÖVP den Bürgermeistersessel holen. Der Grund: In Radstadt konnten weder die ÖVP noch die SPÖ eine Kandidatin/einen Kandidaten nominieren und überließen damit der FPÖ das Feld. Seit der/die BürgermeisterIn direkt gewählt wird (seit 1994), hielt die FPÖ vor 2019 erst einmal einen Bürgermeistersessel: 2004 bis 2009 in Mittersill mit Wolfgang Viertler.6 Die Grünen versuchten es in 30 von 119 Gemeinden (2014: 37). Sie traten vor allem im urbanen Raum an. Am Land kandidierten die Grünen nur in wenigen Gemeinden, im Pinzgau z. B. nur in drei Gemeinden (Zell am See, 4 Armin Mühlböck (2019). Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals: Die vorgezogenen BürgermeisterInnenwahlen in der Stadt Salzburg im Herbst 2017, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien-Köln-Weimar, S. 49–72. 5 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Gemeindewahlen 2019 Teile I und II (s. Fn. 2). 6 Ebd.

Gemeindewahlen in Salzburg

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Saalfelden und Bruck). Die NEOS bewarben sich landesweit nur in fünf Gemeinden und konnten nur in Salzburg und Hallein eine/n BewerberIn für das Amt des Gemeindeoberhaupts aufstellen. Die FPS, die im Jahr 2018 mit Karl Schnell knapp den Einzug in den Landtag verpasste, kandidierte in zehn Gemeinden. In 37 Gemeinden stellten sich insgesamt 43 Namenslisten bzw. WählerInnengemeinschaften der Wahl (in Untertauern und Mittersill zwei, in der Stadt Salzburg fünf). Wie schon im Wahljahr 2014 brachte auch bei der Wahl im Jahr 2019 in vier Gemeinden eine Namensliste bzw. WählerInnengemeinschaft ihre/n BürgermeisterkandidatIn an die Spitze (Anif, Untertauern, Thomatal und Mittersill). 2.3 Die Wahl in der Stadt Salzburg Im Jahr 2017 gab es vorgezogene BürgermeisterInnenwahlen in der Stadt. Diese wurden mit einem heute schon denkwürdigen Ereignis eingeleitet. Am 31.7.2017 gab der Salzburger Langzeitbürgermeister Heinz Schaden (SPÖ) seinen Rücktritt bekannt. Dieser Schritt erfolgte nicht aus freien Stücken. Schaden war wenige Tage zuvor wegen Beihilfe zur Untreue im sogenannten „SwapProzess“ zu drei Jahren Haft verurteilt worden – eines davon unbedingt.7 In den Wahlgängen im November und Dezember 2017 konnte der ÖVP-Mann Harald Preuner das Rennen gegen den Schaden-Nachfolger Bernhard Auinger für sich entscheiden. Preuner holte damit nicht nur für die ÖVP den Bürgermeistersitz in der traditionell SPÖ-dominierten Stadt Salzburg,8 sondern feierte auch seine politische Auferstehung, weil er nach den hohen Verlusten beim Wahlgang im Jahr 2014 schon als politisches Auslaufmodell galt. Das Ergebnis der vorgezogenen Salzburger BürgermeisterInnenwahl im Jahr 2017 führte einmal mehr die dominierende Bedeutung der Persönlichkeit der

7 Der Oberste Gerichtshof (OGH) bestätigte am 2.10.2019 im sogenannten „Salzburger SwapProzess“ die erstinstanzlichen Schuldsprüche des Landesgerichts Salzburg. Bei Salzburgs ExBürgermeister Heinz Schaden blieb die Strafe laut Ersturteil gleich, bei Ex-Landesfinanzreferent Othmar Raus (beide SPÖ) kam es zu einer Strafverschärfung. Siehe: ORF Salzburg Online (2.10.2019). Höchstgericht: Haft für Schaden, Raus, Paulus, einen Beamten. 8 Nur in der Zeit zwischen 1992 und 1999 gab es mit Josef Dechant in der Stadt ein ÖVP-Stadtoberhaupt in der 2. Republik. Alle anderen Bürgermeister (ausschließlich Männer) stellte die SPÖ. Der ÖVP-Bürgermeister Richard Hildmann in den Jahren 1945–1946 wurde nicht gewählt, sondern von der US-Besatzungsmacht als provisorischer Bürgermeister eingesetzt. Siehe dazu z. B. Stadt-Salzburg (7.1.2020). Die Bürgermeister der Stadt Salzburg. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.stadt-salzburg.at/internet/bildung_kultur/stadtgeschichte/buergermeister_ seit_321755/die_buergermeister_der_stadt_salzburg_155776.htm.

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Armin Mühlböck

KandidatInnen bei Direktwahlen vor Augen.9 Einmal mehr wurde deutlich, wie groß die Zugkraft der Person Heinz Schaden in den vergangenen Wahlgängen war, über Parteigrenzen hinweg. Harald Preuner und seine Stadt-ÖVP waren in den vergangenen Wahlen gegen Heinz Schaden chancenlos gewesen. Es zeigte sich auch, was bei BürgermeisterInnenwahlen passieren kann, wenn ein/e langgediente/r AmtsträgerIn abtritt. Es öffnet sich ein Zeitfenster für einen politischen Wandel. Der Schaden-Nachfolger Bernhard Auinger (SPÖ) musste sich geschlagen geben, auch wenn der Abstand denkbar knapp war, weil letztlich die Differenz zwischen ihm und Preuner nur 294 Stimmen betrug. Zweifelsohne war Auingers Ausgangssituation im Jahr 2017 nicht günstig. Er konnte aber auf einer gegebenen SPÖ-Dominanz in der Stadt aufbauen. Preuner musste erst den Nimbus des ewigen Zweiten und Wahlverlierers aus dem Jahr 2014 ablegen. Auinger konnte in der Stichwahl auch aufholen und den Abstand zu Preuner deutlich verringern, aber es reichte nicht. Für die Salzburger SPÖ bedeutete dieses Ergebnis freilich einen herben Schlag. Alles in allem schienen Auingers Chancen für eine Revanche bei den Gemeindewahlen im Jahr 2019 aber in Takt. Freilich würde Preuner als amtierender Bürgermeister auf einen – wenn auch kurzen – Amtsbonus aufbauen können. Entscheidend war aber die Frage, ob es tatsächlich „nur“ die relative Unbekanntheit des Schaden-Nachfolgers gegenüber dem langgedienten ÖVPKandidaten war, die der SPÖ bei den vorgezogenen Wahlen 2017 den BürgermeisterInnensessel kostete. Wenn ja, dann sollte Auinger dieses Manko bis zur Wahl im Jahr 2019 abgebaut haben und mit der Rückeroberung des BürgermeisterInnenamtes die Dinge für die SPÖ wieder zurechtrücken können. Bis hin zur Wahl im Jahr 2019 verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass einzig die Person Heinz Schaden eine tieferliegende, die Idee der Sozialdemokratie insgesamt betreffende, Krise in Stadt und Land Salzburg – und darüber hinaus – überlagerte. Schon das Landtagswahlergebnis im Frühjahr 2018 zeigte das Potential der ÖVP in der Stadt für die Zeit nach Heinz Schadens Abgang an: Die ÖVP konnte um 7,5 Prozent zulegen und die SPÖ als stärkste Kraft ablösen.10 Und so kam, was kommen musste: Mit 36,7 Prozent und einem Plus von 17,3 Prozentpunkten fuhr die ÖVP bei der Wahl des Gemeinderats im Jahr 2019 einen fulminanten Wahlsieg ein. Erstmalig in der Geschichte der 2. Republik erkämpfte sie die relative Mehrheit im Salzburger Stadtpar  9 Im Salzburger Jahrbuch für Politik 2018 ist ein ausführlicher Beitrag zur vorgezogenen BürgermeisterInnendirektwahl in der Stadt Salzburg im November und Dezember 2017 abgedruckt: Mühlböck, Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals (s. Fn. 4). 10 Land Salzburg (2020). Landtagswahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg. gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html.

Gemeindewahlen in Salzburg

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lament.11 Wie schon bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2018 (mit 20 %) musste die SPÖ mit 26,8 Prozent bei der Gemeinderatswahl 2019 in der Stadt Salzburg und einem Minus von 6,2 Prozentpunkten ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis hinnehmen. Bei der BürgermeisterInnenwahl erreichte Preuner 55,6 Prozent und schlug Bernhard Auinger mit einem Abstand von 11 Prozentpunkten. Die Dominanz der SPÖ in der Landeshauptstadt wurde von der ÖVP nachhaltig gebrochen und sowohl Landeshauptstadt als auch Bundesland sind seither fest in schwarzer Hand. Die drittstärkste politische Kraft in der Stadt sind die Grünen. Ihr Abschneiden bei der Gemeindewahl im Jahr 2019 war allerdings ungewiss. Langzeitstadtrat Johann Padutsch, seit 1982 im Gemeinderat und seit 1992 durchgehend Stadtrat für Verkehr und Raumplanung, hatte die politische Bühne verlassen und mit Martina Berthold an der Spitze – ehemalige Landesrätin der Grünen in der Salzburger Landesregierung von 2013 bis 2018 – traten die Stadtgrünen in eine neue politische Phase ein.12 Die Frage war, wie sich dieser Wechsel auf das Wahlergebnis der Grünen auswirken würde. Martina Berthold war zwar als ehemalige Landesrätin eine bekannte politische Persönlichkeit, offen war aber, in welchem Ausmaß sie die Wählerschaft der Stadt-Grünen hinter sich vereinen können würde. Hinzu kam eine für die Grünen ungünstige politische Stimmungslage. Bei den Nationalratswahlen im Jahr 2017 waren die Grünen aus dem Parlament geflogen und bei den Salzburger Landtagswahlen im Frühjahr 2018 stürzten die Grünen um 11 Prozentpunkte, von 20,2 auf 9,3 Prozent der Stimmen, ab. Mit 15,2 Prozent und einem Plus von 1,6 Prozentpunkten konnten die Stadt-Grünen aber ein mehr als respektables Ergebnis erzielen, das – in Anbetracht der Ausgangssituation – nicht zuletzt auch als Erfolg für ihre neue Spitzenkandidatin gewertet werden kann.13 Wie die SPÖ gehörte auch die FPÖ zu den WahlverliererInnen bei der StadtGemeindewahl im Jahr 2019: Die Freiheitlichen verloren vier Prozentpunkte und erreichten nur mehr 8,4 Prozent. Landesparteiobfrau Marlene Svazek bezeichnet das Abschneiden ihrer FPÖ in der Stadt Salzburg wörtlich „als Debakel.“14 Mit gleich 12,4 Prozent und einem Sitz in der Stadtregierung feierten die NEOS bei den Gemeindewahlen 2014 einen Wahlerfolg. Im Jahr 2019 hal11 Land Salzburg/Referat Landesstatistik (2020). Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www. salzburg.gv.at/stat/wahlen/gvw/index2019.html#hist.5.0. 12 ORF Salzburg Online (29.9.2018). Martina Berthold zur Spitzenkandidatin gewählt. 13 Kronen Zeitung Online (11.3.2019). ÖVP-Erdrutschsieg im Salzburger Gemeinderat. 14 Salzburger Nachrichten (SN) Online (21.3.2019). Ein weiteres Mal tritt Reindl nicht an.

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Armin Mühlböck

bierte sich die neue politische Kraft in der Stadt allerdings und musste mit minus 6,4 Prozentpunkten herbe Verluste hinnehmen. Dieses Ergebnis kam allerdings nicht überraschend. NEOS-Stadträtin Barbara Unterkofler, Identifikationsfigur und Aushängeschild der Salzburger Stadt-NEOS, hatte ihre Partei im September 2018 verlassen und war zur ÖVP gewechselt.15 Dieser Schritt von Unterkofler bedeutete eine entscheidende Schwächung der jungen politischen Kraft und erschwerte ihre Ausgangssituation für die Wahl im Jahr 2019 erheblich. Es wird sich zeigen, ob und wenn ja, in welcher Stärke die NEOS auch nach der nächsten Wahl im Jahr 2024 im Salzburger Stadtparlament vertreten sein werden. Christoph Ferch mit seiner Liste „Bürger für Salzburg (SALZ)“ wusste eine kleine, aber treue Gruppe von WählerInnen hinter sich und schaffte es so, sein Mandat im Stadtparlament zu verteidigen. Zu den WahlsiegerInnen bei den Gemeindewahlen im Jahr 2019 gehörte zweifelsohne auch Kay-Michael Dankl mit der KPÖ Plus. Mit einem intelligent und sympathisch geführten Wahlkampf, der auf ein Schlüsselthema im Wahlkampf, leistbares Wohnen, konzentriert war, erreichte er 3,7 Prozent und ein Mandat im Stadtparlament.16 Die KPÖ ist damit erstmals seit der Wahl im Jahr 1964 wieder im Salzburger Gemeinderat vertreten.17 Inhaltlich wird vom Wahlkampf zur Gemeindewahl 2019 in der Stadt wohl vor allem der (medienwirksame) Vorstoß von SPÖ, Grünen und NEOS zur Sperre des Neutors, drei Wochen vor der Wahl, in Erinnerung bleiben. Die Idee war allerdings alles andere als neu und schon seit geraumer Zeit ein Anliegen der Stadt-Grünen. Auf der Pressekonferenz am 18.2.2019 hatten sich aber erstmals auch SPÖ-Kandidat Bernhard Auinger und NEOS-Kandidat Lukas Rößlhuber gemeinsam mit Johann Padutsch (Grüne) für das Projekt stark gemacht. Der Plan war, das Neutor für den Individualverkehr zu sperren und die Maßnahme noch vor der Wahl zu beschließen. Das war grundsätzlich denkbar, weil die drei Fraktionen zusammen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Gemeinderat und im Planungsausschuss hatten und noch vor der Wahl den Beschluss hätten fällen können. Nicht nur das Thema und die Allianz überraschte die WahlkampfbeobachterInnen, sondern auch der Umstand, dass die Bürgermeisterkandidatin der Grünen, Martina Berthold, bei der Pressekonferenz nicht anwesend und 15 ORF Salzburg Online (12.9.2018). NEOS-Stadträtin Unterkofler wechselt zu ÖVP. 16 KPÖ (10.3.2019). KPÖ PLUS gelingt in Salzburg eine kleine Sensation. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.kpoe.at/wahlen/gemeinderat/2019/kpoe-plus-gelingt-mit-3-8-der-abgegebe nen-stimmen-in-salzburg-eine-kleine-sensation. 17 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11).

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Gemeindewahlen in Salzburg

somit offenbar in den Vorstoß ihres Vorgängers, Johann Padutsch, nicht oder nur unzureichend eingebunden war.18 ÖVP, FPÖ, SALZ und KPÖ stellten sich klar gegen die Pläne der Neutor-Allianz. Auinger sagte gut eineinhalb Wochen vor der BürgermeisterInnen-Stichwahl am 24.3.2019 die umstrittene Neutorsperre allerdings wieder ab. Die neuen politischen Verhältnisse nach der Gemeinderatswahl am 10.3.2019 brachten eine Mehrheit von ÖVP, FPÖ, SALZ und KPÖ hervor, den Gegnern der Neutorsperre. Zudem hatte die SPÖ in den „Neutorbezirken“ verloren, während die ÖVP dort zulegen konnte.19 2.4 Bürgermeisterinnen Im ersten Jahr der BürgermeisterInnendirektwahl im Jahr 1994 bewarben sich 316 Männer und Frauen um ein BürgermeisterInnenamt. Im Jahr 2019 waren es 268 KandidatInnen. 34 davon (rund 13 %) waren Frauen, um neun mehr als 2014. Tabelle 1: Bürgermeisterinnen – Anzahl und Anteil in den Bundesländern Bundesland

Anzahl der ­Gemeinden

Anzahl Bürgermeisterinnen 1999

Anteil 1999

Anzahl Bürger­ meisterinnen 2019

Anteil 2019

Burgenland

1999: 164/2019: 171

 3

1,8

12

 7,0

Kärnten

1999: 128/2019: 132

 2

1,6

 8

 1,5

Niederösterreich

1999: 571/2019: 573

16

2,8

69

12,0

Oberösterreich

1999: 445/2019: 438

 8

1,8

33

 7,5

Salzburg

1999: 119/2019: 119

 0

0,0

 8

 6,7

Steiermark

1999: 543/2019: 287

13

5,7

22

 7,7

Tirol

1999: 279/2019: 279

 2

0,7

16

 5,7

Vorarlberg

1999:   96/2019:   96

 1

1,0

 8

 8,3

1

 0

 0

0

Wien

Quelle: Gemeindebund, Bürgermeisterinnen (siehe Fn. 2), eigene Darstellung.

Von den aktuell 2.096 BürgermeisterInnen in den Gemeinden in Österreich (Stand: 10/2019) sind 176 Frauen. Wenngleich die Anzahl der Bürgermeisterinnen in den vergangen 20 Jahren kontinuierlich anstieg, von 45 im Jahr 1999 auf 176 im Jahr 2019, liegt der Anteil der Frauen unter den Gemeindeober18 ORF Salzburg Online (19.2.2019). Analyse: Neutor-Sperre als Wahl-Paukenschlag. 19 Kurier Online (14.3.2019). Kehrtwende – SPÖ sagt vor Stichwahl Neutorsperre wieder ab.

18

Armin Mühlböck

häuptern nach wie vor bei nur 8,4 Prozent in ganz Österreich. Salzburg liegt allerdings noch deutlich unter diesem Wert (2019: 6,7 %, siehe Tabelle 1) und nimmt im Bundesländervergleich, was den Anteil der Frauen unter den BürgermeisterInnen betrifft, beharrlich einen der letzten Plätze ein. Im Jahr 1999 gab es in Salzburg noch gar keine Bürgermeisterin. Die jüngsten Wahlen im März 2019 brachten acht Bürgermeisterinnen hervor. Mehr Frauen an der Spitze der Gemeinden gab es in Salzburg noch nie. So konnte sich Salzburg im Bundesländervergleich mit einem Anteil von 6,7 Prozent auch vom letzten Platz (1999) auf den drittletzten Platz (2019) vorarbeiten. Niederösterreich (1999: 3 %/2019: 12 %) und die Steiermark (1999: 6 %/2019: 8 %) verzeichnen traditionell die höchsten Werte bei den Anteilen der Bürgermeisterinnen. Mit der letzten Gemeindewahl im Jahr 2015 konnte auch Vorarlberg an die Spitze anschließen (2019: 8 %). In der Politikwissenschaft und in benachbarten Disziplinen stellt die Frage nach den Gründen der Unterrepräsentation von Frauen in der Politik heute einen wichtigen Forschungszweig dar.20 In Salzburg setzten sich schon in den Jahren 1999/2000 zwei Politikwissenschafterinnen mit dieser Frage auseinander,21 organisierten eine Ringvorlesung an der Universität Salzburg, forschten und publizierten zum Thema. Ihre Erkenntnisse, wenngleich vor gut 20 Jahren generiert, haben ihre Relevanz nicht eingebüßt.22 Der nach wie vor geringe Anteil von Frauen in der Politik generell und insbesondere in den Spitzenfunktionen, wie dem BürgermeisterInnenamt, hängt gestern wie heute vor allem mit der schwierigen Vereinbarkeit des politischen Engagements mit der Familie und/oder dem Beruf zusammen, da vor allem Frauen für den privaten, familiären Bereich zuständig sind und bleiben. Diesen Umstand verstärken in der Gesellschaft prägende Rollenbilder, die die Verantwortung für die Familienund Hausarbeit vor allem den Frauen zuschreiben. Frauen werden deswegen in der Politik auch nur verhalten akzeptiert. Hinzu kommt, dass insbesondere 20 Elke Wiechmann (2018). Politische Repräsentanz und Geschlecht: Political Gender Gap, in: ­Beate Kortendiek/Birgit Riegraf/Katja Sabisch (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, Wiesbaden, S. 264–280. 21 Karin Hofer/Elisabeth Wolfgruber (2000). Warum werden Frauen nicht gewählt, in: Elisabeth Wolfgruber/Petra Grabner (Hg.): Politik und Geschlecht. Dokumentation der 6. Frauenringvorlesung an der Universität Salzburg, WS 1999/2000, Innsbruck-Wien-München, S. 249–272. 22 Franz Fallend (2013). Salzburg, in: Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver (Hg.): Gemeindewahlen in Österreich im Bundesländervergleich, Innsbruck, S. 107–128, hier S. 126 f. Vergleiche dazu die Ergebnisse einer Studie für das Burgenland aus dem Jahr 2011: Florian Reinwald/Doris Damyanovic/Friederike Weber/Isa Hager (2011). Frauen in der burgenländischen Gemeinde­ politik. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.burgenland.at/fileadmin/user_upload/ Downloads/Buerger_und_Service/Frauen/2440_Studie_zur_Gemeindepolitik.pdf.

Gemeindewahlen in Salzburg

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für KommunalpolitikerInnen die Verankerung im lokalen gesellschaftlichen Leben und damit in den örtlichen Vereinsstrukturen von zentraler Bedeutung ist. Wenngleich heute junge Frauen in den lokalen Traditionsvereinen, vor allem in Musikkapellen und mehr und mehr auch in Feuerwehren, aktiv sind, ist es gerade dieses Erfordernis, das für Frauen gestern wie heute eine Hürde für politisches Engagement darstellt, weil zahlreiche Vereine nach wie vor männlich dominiert sind und ein Engagement in Vereinen mit den Zeitstrukturen von Frauen oft nur schwer vereinbar ist. Alles in allem führen diese Argumente zum Schluss, dass es Frauen schwer haben, sich gegen eine männliche Konkurrenz durchzusetzen – so sie sich überhaupt um das Amt des Gemeindeoberhaupts bewerben. Es schließt sich logisch die Frage an, ob die Einführung der BürgermeisterInnendirektwahl Mitte der 1990er-Jahre für Frauen den Einstieg in die Kommunalpolitik erschwerte oder erleichterte. Eine Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil nicht beobachtet werden kann, wie hoch der Anteil der Frauen unter den BürgermeisterInnen heute wäre, wäre die Direktwahl nicht eingeführt worden. Der Umstand aber, dass gerade in den Bundesländern Niederösterreich und Steiermark, in denen es keine Direktwahl der BürgermeisterInnen gibt, Frauen im Langzeitvergleich am häufigsten die Spitzenfunktion in den Gemeinden erlangen, mag ein Hinweis darauf sein, dass es einen Zusammenhang zwischen den Repräsentationsgrad der Frauen in der Kommunalpolitik mit dem Wahlmodus und einer sich daraus ergebenden Rekrutierungspraxis geben könnte. Ferdinand Karlhofer23 kam bei seiner Analyse zu den „Frauen in der Kommunalpolitik“ zum Schluss, dass die Einführung der Direktwahl „keine besondere Schubkraft zugunsten der Frauen mit sich“ brachte. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ball bei der Steigerung des Anteils von Frauen in der Gemeindepolitik freilich vor allem bei den (lokalen) politischen Parteien selbst liegt, die es in der Hand haben, Frauen bei der Erstellung der Wahllisten an wählbarer Stelle zu positionieren oder als Bürgermeisterkandidatin zu nominieren. 2.5 Amtsbonus Geht es um die Wahlchancen bei der BürgermeisterInnendirektwahl, spielt in der dahingehenden Debatte der Amtsbonus traditionell eine wichtige Rolle.24 23 Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver (2013). Kommunalwahlen in den Bundesländern – Ein vergleichender Überblick, in: Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver (Hg.): Gemeindewahlen in Österreich im Bundesländervergleich, Innsbruck, S. 9–32, hier S. 26. 24 Karlhofer/Pallaver, Kommunalwahlen in den Bundesländern, S. 24 (s. Fn. 23); Markus Klein/ Yvonne Lüdecke (2018). Entparteipolitisierung und faktischer Konkurrenzausschluss bei Bür-

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Die Conclusio dabei lautet, dass amtierenden BürgermeisterInnen ihr Amt nur schwer abzuringen ist. Auch die jüngsten BürgermeisterInnenwahlen in Salzburg bestätigen dieses Argument. Zwei Drittel aller amtierenden BürgermeisterInnen (80 von 119) stellten sich 2019 erneut der Wahl (wobei der Kandidat in Goldegg für eine andere Partei antrat und der Kandidat in Untertauern mit einer neu gegründeten eigenen Liste ins Rennen ging). Von den 80 amtierenden BürgermeisterInnen wurden 73 wiedergewählt (rund 90 %). Im Jahr 2014 lagen diese Zahlen noch höher: 90 amtierende BürgermeisterInnen stellten sich der Wiederwahl und 88 wurden im Amt bestätigt.25 Ohne Zweifel ist davon auszugehen, dass AmtsinhaberInnen bei der Wahl einen Vorteil haben und damit deutlich bessere Ausgangsbedingungen vorfinden als KonkurrentInnen, die ohne Amtsbonus ins Rennen gehen. 2.6 Stichwahl Erlangt nicht schon im ersten Wahlgang ein/e BürgermeisterkandidatIn die absolute Mehrheit der Stimmen, ist – zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang – eine Stichwahl zwischen dem/der Erst- und Zweitgereihten vorzunehmen. Dabei drängt sich freilich die Frage auf, in welchem Ausmaß es bei BürgermeisterInnen-Direktwahlen überhaupt zu einem zweiten Wahlgang kommt; d.h., dass keine/r der BewerberInnen im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erkämpfen konnte. Bei der Wahl im Jahr 2019 standen in 108 von 119 Gemeinden die BürgermeisterInnen bereits nach dem ersten Wahlgang fest. Jeweils ein/e BewerberIn erzielte also in 90 Prozent der Gemeinden auf Anhieb mehr als 50 Prozent der Stimmen. In nur elf Gemeinden (8 im Jahr 2014) kam es am 24.3.2019 zu einer Stichwahl: Salzburg, Hallein, Oberalm, Elsbethen, Mattsee, Oberndorf, Straßwalchen, Seekirchen, Bad Hofgastein, St. Johann und Zell am See. Alles in allem zeigte sich, dass Stichwahlen auch in früheren Wahlgängen nur in relativ wenigen Gemeinden stattfanden. Der Wahlgang mit der erstmaligen Direktwahl des Gemeindeoberhaupts im Jahr 1994 stellte dabei mit 16 Stichwahl-Gemeinden den einmaligen Ausreißer nach oben dar (2019: 11/2014: 8/2009: 5/2004: 7/1999: 11/1994: 16).26 Hat sich nun im zweiten Wahlgang die Reihenfolge im Ergebnis der ersten Wahlrunde gedreht oder ging der/die KandidatIn mit der relativen Mehrheit germeister- und Landratswahlen, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 28 (2), S. 125–146, hier S. 125. DOI: 10.1007/s41358-018-0134-3. 25 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Gemeindewahlen 2019 Teile I und II (s. Fn. 2). 26 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11).

Gemeindewahlen in Salzburg

21

aus dem ersten Wahlgang sodann auch als SiegerIn der Stichwahl hervor? Bei der Gemeindewahl im Jahr 2019 entschied in acht von insgesamt elf Fällen der siegreiche Kandidat aus der ersten Runde auch in der Stichwahl das Rennen für sich. Nur bei drei Stichwahlen kam es zu einem Wechsel an der Spitze: In Oberalm führte nach dem ersten Wahlgang der Kandidat der SPÖ, aus der Stichwahl ging aber der Kandidat der ÖVP (Hans-Jörg Haslauer) siegreich hervor. In Mattsee und Zell am See lagen nach der ersten Wahlrunde Kandidaten der ÖVP in Führung, die Bürgermeistersitze gingen aber letztlich an die gegnerischen Kandidaten der SPÖ (Mattsee: Michael Schwarzmayr/Zell am See: Andreas Wimmreuter). Auch in früheren Direktwahlen kam es in puncto Reihung der KandidatInnen nur vereinzelt zu einer Änderung im Ergebnis zwischen der ersten und zweiten Wahlrunde (2019: 3 Gemeinden – Mattsee, Oberalm, Zell am See/2014: 1 – Rauris/2009: 0/2004: 2 – Mittersill, Unken/1999: 1 – Hallein/1994: 2 – Hintersee, Thomatal).27 In Anbetracht dieser Daten stellt sich die Frage, ob sich der Ressourceneinsatz für eine Stichwahl im Verhältnis zum zu erzielenden demokratischen Effekt rechnet oder ob überlegt werden sollte, das Wahlrecht zu reformieren und nur einen Wahlgang auszuschreiben, um den/die siegreiche/n Bürgermeisterkandidat/en/in aus diesem einen Wahlgang, auch wenn es sich nur um eine relative Mehrheit handelt, als gültig gewählte/n BürgermeisterIn anzuerkennen. 2.7 Stimmensplitting Das mögliche Stimmensplitting bei der Gemeindewahl zwischen der Wahlpartei bei der Gemeindevertretungswahl und der zeitgleichen direkten Wahl des Gemeindeoberhaupts kann grundsätzlich dazu führen, dass ein/e WählerIn sich im ersten Fall für die Wahlpartei A und im zweiten Fall für den/ die BürgermeisterkandidatIn der Wahlpartei B entscheidet. Die denkbare Folge ist, dass BürgermeisterInnen mit einer konkurrierenden Mehrheit im Gemeindeparlament regieren müssen. Eine derartige Konstellation ergibt sich allerdings nur sehr selten und wenn, dann wirkten sich „MinderheitsbürgermeisterInnen“ oder „fremde“ Mehrheiten bis dato nicht negativ auf die Politik in der betroffenen Gemeinde aus.28 Nach der Wahl im Jahr 2019 waren in nur neun Gemeinden die gewählten BürgermeisterInnen mit einer relativen 27 Ebd. 28 Karlhofer/Pallaver, Kommunalwahlen in den Bundesländern, S. 24 (s. Fn. 23); Barbara Steininger (2006). Gemeinden, in: Herbert Dachs et al. (Hg), Politik in Österreich: Das Handbuch, Wien, S. 990–1007, hier S. 995.

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oder absoluten Mehrheit einer anderen Partei konfrontiert (2014 in nur drei Gemeinden). In allen anderen Gemeinden (2019: 110) verfügt der/die BürgermeisterIn über eine Mehrheit im Gemeindeparlament (in 91 Gemeinden sogar über eine absolute Mehrheit und in 19 Gemeinden über eine relative Mehrheit). Das zeigt einmal mehr, dass WählerInnen zu einem konsistenten Wahlverhalten tendieren. Wenn Wahlberechtigte bei den Wahlen zur Gemeindevertretung einer bestimmten Wahlpartei die Stimme geben, neigen diese im hohen Ausmaß dazu, bei gleichzeitiger Direktwahl des Bürgermeisters/der Bürgermeisterin, ihr Kreuz auch bei dem Kandidaten/der Kandidatin eben dieser Partei zu machen – oder umgekehrt.29

3. ENTWICKLUNG DER STIMMEN- UND MANDATSANTEILE DER PARTEIEN BEI GEMEINDEWAHLEN IM BUNDESLAND SALZBURG SEIT 1949 3.1 Die Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien Wie haben sich die Stimmen- und Mandatsanteile der Parteien im Bundesland Salzburg bei Gemeindewahlen in der 2. Republik seit 1949 entwickelt? Die Gegenüberstellung der politischen Kräfteverhältnisse in den Salzburger Gemeinden in einer Zeitreihe ermöglicht die Einbettung des Ergebnisses der Gemeindewahlen im Jahr 2019 in einen größeren Kontext. Das untenstehende Liniendiagramm (Abbildung 1) zeigt die bei Salzburger Gemeindevertretungswahlen landesweit erzielten Stimmenanteile der Parteien, so wie diese in Wahlstatistiken oder Wahlberichten üblicherweise dargestellt werden.30 So lässt sich das Bild zeichnen, dass die ÖVP von 1949 bis 1984, in einem fast 40-jährigen Zeitraum und über acht Wahlgänge hinweg, mit 43 bis 44 Prozent, nahezu konstante Wahlergebnisse auf Gemeindeebene erzielte. 29 Mühlböck, Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals, S. 55 (s. Fn. 4); Walter Thaler (2007). Bürgermeister-Direktwahl: Show business, big business oder demokratiepolitischer Fortschritt, in: Herbert Dachs/Roland Floimair (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2007, Wien, S. 23–45. 30 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11). Siehe auch die Analyse von Franz Fallend zu den Salzburger Gemeindewahlen bis 2009: Fallend, Salzburg (s. Fn. 22); Stefan Wally (2019). Politische Partizipation in Salzburg, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien-Köln-Weimar, S. 73–104; Christian Flandera (2010). Große Siege und kleine Tragödien: Gemeindewahlkämpfe in Salzburg seit 1969, in: David Brenner/Karl Duffek/Peter Gutschner (Hg.): Signaturen des Wandels, Innsbruck, S. 245–299.

23

Gemeindewahlen in Salzburg

Nur im Jahr 1969 musste sie der SPÖ, einmalig im Beobachtungszeitraum ab 1949, in puncto Anzahl der Stimmen den Vortritt lassen. Knapp wurde es nach dieser Datenlage auch im Wahljahr 1989, in dem die SPÖ der ÖVP sehr nahekam. Folgt man den Entwicklungen, erfuhr die ÖVP auch in den Folgejahren 1994 und 1999 eine leichte „Schwäche“ – allerdings stets auf hohem Niveau. Ein neuerlicher Aufwärtstrend setzte für die ÖVP nach der Jahrtausendwende ein, im Jahr 2004, just bei der Wahl, in der sie auf Landesebene an Gabi Burgstaller und ihre SPÖ den Sitz des Landeshauptmannes verlor. Abbildung 1: Gemeindewahlen Bundesland Salzburg 1949-2019: landesweite Stimmenanteile der Parteien ÖVP_landesweit SPÖ_landesweit FPÖ_landesweit GRÜNE_landesweit SONSTIGE_landesweit

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40

Prozent

30

20

10

0

1949 1954 1959 1964 1969 1974 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 2014 2019

Quelle: Eigene Darstellung anhand Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg. Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Diese Aufbereitung der Wahlergebnisse auf Gemeindeebene, die die landesweiten Stimmenanteile der Parteien fokussiert, ist aber hinsichtlich der Performance der Parteien tatsächlich irreführend und verleitet zu missverständlichen Interpretationen. Warum? Für diese Darstellung werden alle Stimmen, die z. B. die ÖVP in allen Salzburger Gemeinden erhielt, ins Verhältnis zu den gültig abgegebenen Stimmen in allen Gemeinden im Bundesland Salzburg gesetzt und so der entsprechende Anteil ermittelt. Dieser Logik folgend erhielt die ÖVP im Jahr 1969 40,7 Prozent der Stimmen und die SPÖ 42,5 Prozent. Diese Dar-

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der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11). 24Grafik 2 Armin Mühlböck [hier Abbildung einfügen] Abbildung 2: ÖVP und SPÖ bei den Gemeindewahlen Bundesland Salzburg 1949-2019 – Gegenüberstellung: landesweite Stimmenanteile vs Anteile an den erzielten Mandaten in den Gemeinden

Quelle: Eigene Darstellung anhand Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation (siehe Fn. 11). stellung ignoriert aber, dass Gemeindewahlen keine landesweiten Wahlen sind Diese Aufbereitung der Wahlergebnisse auf Gemeindeebene, die die landesweiten und zum jeweiligen Zeitpunkt nicht nur ein Wahlgang abgehalten wurde, sonStimmenanteile der Parteien fokussiert, ist aber hinsichtlich der Performance der Parteien dern tatsächlich 119 Wahlen stattfanden31 (bzw. so viele, wie es zum jeweiligen Wahlgang Gemeinden ). Auch zu diemissverständlichen Sitze in den Gemeindevertretungen tatsächlich irreführendgab und32verleitet Interpretationen. Warum? Für werden den Wahlparteien nicht aufgrund eines landesweiten Wahlergebnisses, diese Darstellung werden alle Stimmen, die z.B. die ÖVP in allen Salzburger Gemeinden sondern aufgrund der Stimmenverteilung in der jeweiligen Gemeinde und auferhielt, Verhältnis zu den gültig abgegebenen allen Gemeinden grund desins dortigen Wahlergebnisses zugerechnet.Stimmen Über diein landesweiten Stim- im Bundesland menanteile können die tatsächlichen Kräfteverhältnisse nicht deutlich werden, Salzburg gesetzt und so der entsprechende Anteil ermittelt. Dieser Logik folgend erhielt die sondern erst, wenn die Wahlergebnisse in jeder einzelnen Gemeinde betrachim Jahr 1969 40,7wahre Prozent der Stimmen die SPÖ 42,5 Prozent. Diese 33 Der tetÖVP werden. dann Einblick in dieund Parteiperformance könnte so- Darstellung ignoriert aber, dass Gemeindewahlen keine landesweiten Wahlen sind und zum jeweiligen Quelle: Eigene Darstellung anhand Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

31 Fallend hat diesen Umstand bereits 2013 bei seiner Analyse der Salzburger Gemeindewahlen hervorgehoben: Fallend, Salzburg, S. 116 (siehe Fn. 22).15 32 Die Gemeinde Köstendorf wurde im Jahr 1949 neu gebildet, die Gemeinde Bürmoos im Jahr 1969. 1974 wurden die selbständigen Gemeinden Seekirchen Markt und Seekirchen Land zur Gemeinde Seekirchen am Wallersee zusammengelegt. Siehe dazu: Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11). 33 Ein Rechenbeispiel zur Erklärung: Im Wahljahr 2019 gab es bei den Gemeindewahlen im Bun-

Gemeindewahlen in Salzburg

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dann über die Ermittlung des durchschnittlichen Stimmenanteils wahlwerbender Gruppierungen in allen Gemeinden erfolgen34 oder es werden – wie hier umgesetzt – die in den einzelnen Gemeinden erzielten Mandate vergleichend gegenübergestellt. Der Vorteil des Mandatsanteils gegenüber dem durchschnittlichen Stimmenanteil als Messgröße ergibt sich dadurch, dass mit dem durchschnittlichen Stimmenanteil die Kräfteverhältnisse nur verzerrt dargestellt werden können, weil in den Gemeinden gleich viele Stimmen nicht gleich viele Mandate ergeben. In den größeren Gemeinden können zwar viele Stimmen gesammelt werden, die Mandate sind aber „teuer“ und „kosten“ viel – in puncto Stimmen, die dafür gesammelt werden müssen. In kleineren Gemeinden sind die Mandate „billiger“.35 Die obenstehende Abbildung 2 stellt für die dominierenden Salzburger Parteien, die ÖVP und die SPÖ, den landesweiten Stimmenanteilen die landesweiten Mandatsanteile gegenüber. Ein Blick auf die Abbildung macht deutlich, dass die Differenzen zwischen Stimmenanteil und Mandatsanteil erhebliche Ausmaße annehmen können und daraus abgeleitete Interpretationen, je nachdem, welche Werte herangezogen werden, völlig verschiedene Bilder zu den Kräfteverhältnissen auf Gemeindeebene zeichnen lassen. So wird ersichtlich, dass für die ÖVP der Anteil an den zu vergebenen Mandaten in allen Gemeinden und in allen Wahlgängen seit 1949 deutlich über ihrem landesweiten Stimmenanteil lag. Die ÖVP war – durch diese Brille betrachtet – in allen Gemeindewahlen seit 1949 immer und uneingeschränkt die Nummer Eins. Lediglich in zwei von 15 Wahlgängen, 1994 und 1999, erlangte sie mit jeweils rund 49 Prozent der Mandate „nur“ die relative Mehrheit an den zu vergebenden Sitzen. Die Mandatsanteile der ÖVP in den 119 Salzburger desland Salzburg 265.898 gültige Stimmen bei 434.261 Wahlberechtigten. Die ÖVP erhielt in allen Gemeinden zusammengerechnet insgesamt 126.355 Stimmen. Stellt man die gesamten ÖVP-Stimmen den gültig abgegebenen Stimmen gegenüber, ergibt sich für die ÖVP daraus ein landesweiter Anteil von 47,5 Prozent. Diese Rechnung verleiht jedoch den (wenigen) größeren Gemeinden im Land und insbesondere der Landeshauptstadt mit einem Drittel der Bevölkerung zu großes Gewicht und berücksichtigt nicht, dass die meisten Gemeinden klein sind. Letztere werden überwiegend von der ÖVP beherrscht. Berechnet man daher den durchschnittlichen Stimmenanteil der ÖVP in allen 119 Gemeinden, erhält man einen Wert von 54 Prozent, was den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in den Salzburger Gemeinden viel näherkommt. 34 So wie Fallend das bei seiner Analyse der Salzburger Gemeindewahlen vorschlug: Fallend, Salzburg, S. 116 (s. Fn. 22). 35 Gemäß Salzburger Gemeindeordnung (§ 22 Abs. 2 GdO 2019) besteht die Gemeindevertretung „in Gemeinden bis zu 800 Einwohnern aus 9, von 801 bis zu 1.500 Einwohnern aus 13, von 1.501 bis zu 2.500 Einwohnern aus 17, von 2.501 bis zu 3.500 Einwohnern aus 19, von 3.501 bis zu 5.000 Einwohnern aus 21 und von mehr als 5.000 Einwohnern aus 25 Mitgliedern“ bzw. MandatarInnen.

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Armin Mühlböck

Gemeindeparlamenten streuen im Zeitraum 1949 bis 2019 zwischen 49 (1994 und 1999, jeweils rund 990 Mandate) und 58 Prozent (1949, 1.032 Mandate). Bei den Gemeindewahlen im Jahr 2019 erzielte die ÖVP mit 54 Prozent der Mandate (= 1.153) das fünftbeste Ergebnis aller 15 Wahlen in der 2. Republik und erreichte in Folge des Aufwärtstrends ab Ende der 1990er-Jahre im Jahr 2019 wieder die herausragende Stärke, die sie Mitte der 1960er- und Mitte der 1980er-Jahre hatte. Nur in den vier Wahlgängen zwischen 1949 und 1964 war die ÖVP hinsichtlich des Anteils an den Mandaten stärker als heute.36 Bei der SPÖ lag der Anteil an den Mandaten, diametral entgegengesetzt zur ÖVP, immer unter den landesweit erzielten Stimmenanteilen. Wie kommt das? Die SPÖ war vor allem in den größeren Gemeinden und damit in der Landeshauptstadt und in den regionalen Zentren stark, die ÖVP in den kleinen und mittelgroßen Landgemeinden.37 Wie gerade erwähnt, sind in den größeren Gemeinden die Mandate aber „teuer“ und „kosten“ viel. Das führte dazu, dass der Anteil der SPÖ im Jahr 1969 an den erzielten Stimmen einmalig höher als jener der ÖVP war. Hinsichtlich der Stärke in den Gemeindestuben, gemessen an den erkämpften Mandaten, konnte die SPÖ allerdings bei keiner Wahl auch nur in die Nähe der ÖVP kommen. Beim Anteil an den Mandaten lag die Differenz bei den Prozentpunkten zwischen ÖVP und SPÖ nie unter dem Wert 14. Den geringsten Abstand zur ÖVP erreichte die SPÖ bei ihrer stärksten Wahl im Jahr 1969. Der größte Abstand zwischen ÖVP und SPÖ mit rund 28 Prozentpunkten ergab sich bei den jüngsten Wahlen im Jahr 2019. Nur im Jahr 1949 war die Differenz im Wahlergebnis zwischen ÖVP und SPÖ gleich groß. Auch in der Hochblüte der SPÖ, mit Gabi Burgstaller an der Spitze des Landes, konnte sie der ÖVP die Vormachtstellung in den Gemeinden nie streitig machen. Doch nun zurück zum Jahr 1969: Sowohl beim Stimmenanteil als auch beim Mandatsanteil schnitt die SPÖ bei Gemeindewahlen nie besser ab als damals (37 Prozent der Mandate = 681). Die SPÖ hatte vor allem in der Stadt Salzburg einen erheblichen Stimmen- und damit Mandatsgewinn erreichen können. Macht man sich auf die Suche nach dem Grund für das einmalige Top-Ergebnis der SPÖ bei Gemeindewahlen im Jahr 1969, kommt schnell der Gedanke, dass nicht einzig und allein Vorgänge auf der kommunalen Ebene relevant sein konnten. Im Frühjahr des Jahres 1969 wurden die Wahlen zum Landtag abgehalten. Der Ausgang der Wahl versetzte die Salzburger ÖVP in einen „Schockzustand“.38 Die ÖVP verlor rund fünf Prozentpunkte und lag 36 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11). 37 Fallend, Salzburg, S. 118 (s. Fn. 22). 38 Flandera, Große Siege und kleine Tragödien, S. 281 (s. Fn. 31).

Gemeindewahlen in Salzburg

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nur mehr 644 Stimmen vor der Salzburger SPÖ. Dabei konnte die SPÖ ihren Anteil gegenüber der vorhergehenden Wahl gar nicht ausbauen, sondern nur so gut wie halten (–0,5 %). Der große Wahlgewinner, offenbar zu Lasten der ÖVP, war die FPÖ, die ihren Stimmenanteil von 11,8 Prozent im Jahr 1964 auf 18 Prozent steigern konnte (+6,2 % PP oder +14.414 Stimmen). Die Gemeindewahlen fanden im Herbst 1969 statt. Abermals kam es zu einer Enttäuschung für die ÖVP, die Mandate in den Gemeindestuben verlor (–77 Mandate gegenüber 1964: von 1.015 auf 938). Die ÖVP hatte in den Gemeinden seit 1949 zwar nur moderat, aber kontinuierlich an WählerInnengunst verloren. Das Jahr 1969 stellt dabei den Tiefpunkt dar – allerdings auf stets hohem Niveau. Die SPÖ war zu dieser Zeit – vor allem auf nationaler Ebene – im Aufwärtstrend. Sie befand sich gerade in einer breit und öffentlich geführten Programmdebatte zur gesamtgesellschaftlichen Modernisierung unter anderem in den Bereichen Bildung und Infrastrukturen, getragen durch staatliche Investitionen.39 Unterstützt wurde diese Modernisierungswelle bei der SPÖ durch einen stattgefundenen Generationenwechsel in der Parteiführung. Nach intensiven innerparteilichen Diskussionen setzte sich Bruno Kreisky gegen Hans Czettel durch und folgt im Jahr 1967 Bruno Pittermann nach.40 Kreisky wurde gegen den Willen führender Wiener SozialdemokratInnen zum neuen Parteichef gewählt und fand seine UnterstützerInnen in den Ländern, nicht zuletzt in Salzburg, durch den damaligen SPÖ-Chef Karl Steinocher.41 Kreisky gelang es mit dem Reformprogramm „Für ein modernes Österreich“ (auch bekannt als die „Kampagne der 1400 Experten“) eine Modernisierungsdynamik auszulösen,42 die nach und nach ganz Österreich erfasste und die Phase der SPÖ-Alleinregierung in den 1970er-Jahren bis 1983 einleitete. Ende der 1960er-Jahre personifiziert Kreisky Aufschwung und stand für Wohlstandsgewinne und positive Zukunftsaussichten. Dagegen kam die konservative ÖVP, die zwar Ende der 1960er Jahr noch eine Alleinregierung führte, nicht (mehr) an und wirkte mit ihrem Sparkurs und Steuererhöhungskonzept in Gestalt des Koren-Plans43 im Vergleich zur SPÖ unattraktiv und in Auftreten, Kommunikation und Inhalten wenig dynamisch und zu technokratisch. Dabei spielte wohl 39 Christian Dirninger (2017). Austro-Keynesianismus: Zur wirtschaftspolitischen Rolle des Staates, Wien-Köln-Weimar, S. 71 ff. 40 Siehe z. B. Kreisky Jahr 2011. Eine neue Ära in der Sozialdemokratie beginnt. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://kreisky100.at/person/index.html#aera. 41 Diese Konstellation erinnert an die SPÖ-internen Positionen zur Parteichef-Debatte Kern vs. Zeiler im Jahr 2016. Siehe dazu z. B. Kurier Online (11.5.2016). SPÖ-Wirren: Mehrheit für Kern, Häupl im Eck. 42 Wolfgang Petritsch (2010). Bruno Kreisky: Die Biografie, St. Pölten-Salzburg, S. 143–171. 43 Dirninger, Austro-Keynesianismus, S. 71, 85 f. und 102 f. (s. Fn. 39).

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auch die 1968er-Bewegung eine nicht unwichtige Rolle.44 Dieses Phänomen kann unter anderem als zivilgesellschaftlicher Protest gegen die damals dominierende konservativ-bürgerliche Gesellschaft gesehen werden und spielte in parteipolitischer Hinsicht wohl vor allem der SPÖ und weniger der ÖVP in die Hände. Ende der 1960er-Jahre stand das Jahrzehnt der Sozialdemokratie schon vor der Türe. Haben sich diese Entwicklungen, diese in ganz Österreich gesamtgesellschaftlich wirkenden Phänomene, schon bei den Wahlen im Bundesland Salzburg Ende der 1960er-Jahre niedergeschlagen? Zeigte vor allem die Schwäche der ÖVP bei den Salzburger Landtags- und Gemeindewahlen schon die kommenden Wahlerfolge der SPÖ auf Bundesebene in den 1970erJahren an? Herbert Dachs geht in seinem Beitrag zu den ÖVP-Länderbeziehungen in diesem Jahrbuch davon aus, dass insbesondere die Verluste bei der Landtagswahl „… als Protestwahl gegen die unpopuläre ÖVP-Alleinregierung zu interpretieren“45 sind. Mehr Einsichten zum nationalen Effekt auf Landeswahlen kann Forschung zu einem Bundesländervergleich der Entwicklung der ÖVP-Performance bei Landtags- und Gemeindewahlen Ende der 1960er-Jahre liefern. Zeigt sich dabei, dass die ÖVP nicht nur in Salzburg, sondern auch in anderen Bundesländern WählerInnengunst einbüßte, kann das als ein Indiz für Einflüsse der Bundespolitik auf regionale Wahlen gewertet werden. Klar ist, dass regionale Wahlen nicht isoliert von politischen Vorgängen auf den jeweils übergeordneten politischen Ebenen betrachtet werden können.46 Dabei werden regionale Wahlen in der politikwissenschaftlichen Literatur oft als „Second Order Elections“47 klassifiziert, weil es den WählerInnen weniger um das Bundesland oder die Gemeinde geht, sondern bei der Wahlentscheidung vielmehr die (Un-)Zufriedenheit über die vor allem nationale Politik ausschlaggebend sein soll. Es lässt sich nicht genau sagen, in welchem Ausmaß Vorgänge auf der nationalen Ebene Landeswahlen oder Gemeindewahlen nun tatsächlich beeinflussen. Derartige – atmosphärische – Effekte sind freilich denkbar, ja wahrscheinlich, aber nur schwer messbar. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Wahlen in einzelnen Gemeinden mal mehr und mal weniger von spezifischen lokalen politischen Vorgängen geprägt sind.

44 Bundeszentrale für politische Bildung (2019). Die 68er-Bewegung. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/. 45 Herbert Dachs (2020). „Das Hemd näher als der Rock?“ Über Beziehungen der Salzburger ÖVP zur Bundespartei (in diesem Jahrbuch, S. 127). 46 Franz Fallend (2019). Vom Finanzskandal zur „Normalisierung“: Eine Analyse der Salzburger Landtagswahlen 2013 und 2018, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/ Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien-Köln-Weimar, S. 9–48. 47 Karlhofer/Pallaver, Kommunalwahlen in den Bundesländern, S. 10 (s. Fn. 23).

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Gemeindewahlen in Salzburg

Wenn auch schmerzlich, hielt sich der Verlust für die ÖVP im Jahr 1969 sowohl bei den Landtags- als auch den Gemeindewahlen aber tatsächlich in Grenzen. Sie verlor in den Gemeinden drei Bürgermeister, behauptete sich aber in 91 Gemeinden. Die ÖVP büßte zwar Mandate ein (–77 Sitze), blieb aber klar die dominierende Kraft in den Gemeindeparlamenten. Schon in den Folgewahlen in den Gemeinden und zum Landtag in den 1970er-Jahren sollte die ÖVP ihre Position festigen und dann weiter ausbauen können. Ab Mitte der 1970er-Jahre brachte die Salzburger Volkspartei einen neuen Mann an die Spitze: Wilfried Haslauer sen. Er war es, der bei der Landtagswahl im Jahr 1984 einmalig die absolute Mehrheit für die ÖVP holen sollte. Abbildung 3: Gemeindewahlen Bundesland Salzburg 1949–2019: Anteile der Parteien an den in Gemeinden zu vergebenden Mandaten ÖVP_Anteil SPÖ_Anteil FPÖ_Anteil GRÜNE_Anteil Sonstige_Anteil

60,00

50,00

Prozent

40,00

30,00

20,00

10,00

,00

2019

2014

2009

2004

1999

1994

1989

1984

1979

1974

1969

1964

1959

1954

1949

Quelle: Eigene Darstellung anhand von Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Im Jahr 2004, in dem die SPÖ der ÖVP den Sitz des Landeshauptmannes bzw. der Landeshauptfrau abringen konnte, kam sie auf Gemeindeebene mit rund 36 Prozent der Mandate (= 753) fast an das Top-Ergebnis des Jahres 1969 heran. 2004 lag die SPÖ nur rund 15 Prozentpunkte hinter der ÖVP (mehr zur Wahl im Jahr 2004 im Abschnitt 3.2 „Die Kräfteverhältnisse zwischen den Par-

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teien und die Entwicklungen in der Stadt Salzburg“). Die Zeitreihe macht aber auch deutlich, dass die SPÖ seit dem Jahr 1969 in den Salzburger Gemeinden kontinuierlich und nahezu linear an WählerInnengunst verlor, mit Ausnahme des Ausreißers 2004. Bei den jüngsten Gemeindewahlen im Jahr 2019 musste die SPÖ mit nur mehr rund 25 Prozent der Mandate (= 559) und mit einem Abstand zur ÖVP im Ausmaß von rund 28 Prozentpunkten das schlechteste Ergebnis in der 2. Republik bei Gemeindewahlen in Salzburg hinnehmen, während die ÖVP mit 54 Prozent der Mandate mehr als doppelt so viele erlangte. Der Anteil der FPÖ an den zu vergebenden Mandaten in allen Salzburger Gemeinden lag zwischen sechs Prozent (= 113 Mandate) im Jahr 1954 und 15 Prozent (= 312 Mandate) im Jahr 1999 (siehe Abbildung 3). Bis Mitte der 1980er-Jahre schwankte die Stärke der FPÖ allerdings nur gering und die Partei erlangte, im fast 40-jährigen Zeitraum von 1949 bis 1984, permanent zwischen neun und elf Prozent der Mandate. Ab Mitte der 1980er-Jahre bis Anfang der 2000er-Jahre erfuhr die FPÖ in den Kommunen einen deutlichen Aufwärtstrend und konnte Mandatsanteile bis 15 Prozent erzielen. Wie kam es dazu? Die Antwort auf die Frage ist – nach Ansicht des Autors in diesem Fall klar und deutlich – bei Einwicklungen auf der Bundesebene zu suchen und zu finden. Jörg Haider wurde im Jahr 1986 am schon legendären Innsbrucker Parteitag zum FPÖ-Bundesparteiobmann gewählt und sollte sich in den kommenden Jahren schnell zum rechtspopulistischen Shootingstar hocharbeiten.48 Mit Haider an der Spitze erlebte die FPÖ auf Bundesebene alsbald einen nie dagewesenen Aufschwung, der sich zweifelsohne auch auf die Gemeindewahlen in Salzburg – und freilich auch auf die Landtagswahlen – niederschlug. Im Jahr 1984 erreichten die Freiheitlichen 178 Sitze in den Salzburger Gemeinden. Danach konnte die FPÖ mit ihrem Zugpferd Haider permanent zulegen. Bei den Nationalratswahlen im Oktober des Jahres 1999 erreichte die FPÖ mit 26,9 Prozent ihr historisch bestes nationales Wahlergebnis und wurde – hauchdünn – zweitstärkste Kraft, vor der ÖVP. In Salzburg wurde die FPÖ bei den Nationalratswahlen 1999 mit einem 29,4-Prozent-Anteil sogar zur stärksten Partei. Schon im Frühjahr dieses Jahres hatte die FPÖ bei den Gemeindewahlen in Salzburg ihren historischen Höchststand mit 312 Mandaten erkämpft. Mehr Mandate als im Jahr 1999 konnten die FPÖ-Ortsgruppen in Salzburger nie holen. Nach der Jahrtausendwende verlor die FPÖ in den Salzburger Gemeinden allerdings 48 Siehe z. B. Reinhard Heinisch/Kristina Hauser (2014). Rechtspopulismus in Österreich: Die Freiheitliche Partei Österreichs, in: Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil Jakobsen (Hg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa, Baden-Baden, S. 91– 110; Franz Fallend/ Fabian Habersack/Reinhard Heinisch (2018). Rechtspopulismus in Österreich: Zur Entwicklung der FPÖ, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 68 (34–35), S. 33–40.

Gemeindewahlen in Salzburg

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wieder an WählerInnengunst. Diese Entwicklung fiel mit einem bundespolitischen Ereignis zusammen. Auf dem vielzitierten FPÖ-Delegiertentreffen in Knittelfeld im Jahr 2002 entlud sich der Unmut in der freiheitlichen Basis über das Agieren der Schwarz-Blauen Regierung im Kabinett Wolfgang Schüssel I. Die Turbulenzen führten zunächst zum Rücktritt der FPÖ-Regierungsmitglieder und sodann zum Bruch in der Regierung.49 Neuwahlen im Jahr 2002 folgten und endeten mit einem fulminanten Wahlsieg der ÖVP (42,3 %/+15,4 %) und einem Totalabsturz der FPÖ (10 % /–17 %).50 Nur leicht zeitverzögert, im Jahr 2004, schlugen sich diese Vorgänge wohl auch bei den Salzburger Landtags- und Gemeindewahlen nieder. Bei beiden Wahlgängen halbierten sich die Stimmen- und Mandatsanteile der FPÖ. In weiterer Folge, ab der Gemeindewahl im Jahr 2009, konnte sich die FPÖ aber wieder auf einen Mandatsanteil um die 10 Prozent und damit auf die übliche Stärke aus der Zeit vor den besten FPÖ-Jahren stabilisieren. Vorarlberg war das erste Bundesland, in dem eine Grün-Partei den Einzug in den Landtag schaffte. Der Bauer Kaspanaze Simma führte im Jahr 1984 die Liste der Vorarlberger Grünen an und holte 13 Prozent der Stimmen.51 Auf Bundesebene gelang der Einzug in den Nationalrat im Jahr 1986. Drei Jahre später konnten sich die Grünen auch bei den Salzburger Landtagswahlen durchsetzen und errangen zwei Sitze. Auf der Gemeindeebene konnten sich die Grünen in Salzburg allerdings schon deutlich früher positionieren. Schon im Jahr 1977 erkämpfte die Bürgerliste in der Stadt Salzburg zwei Mandate und gilt damit als die erste bei Wahlen erfolgreiche Grünbewegung in Österreich.52 Auch die Wahlen in den Jahren 1982 und 1987 brachten für die Bürgerliste Mandate in der Stadt Salzburg (bis zu 7 Sitze). In den Landgemeinden spielten die Grünen damals noch keine Rolle. Der Startschuss für den Einzug der Grünen in die Gemeindestuben auch außerhalb der Stadt Salzburg fiel erst bei der Wahl im Jahr 1994 und damit relativ spät.53 Die Grünen traten in 26 49 ORF TV-Thek (2020). Knittelfeld: Eine Versammlung mit Folgen für die FPÖ. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://tvthek.orf.at/history/Politik-und-Landeshauptleute/12995254/Knittel feld-Eine-Versammlung-mit-Folgen-fuer-die-FPOe/12223541. 50 Bundesministerium für Inneres (BMI) (2020). Nationalratswahlen 2002. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Nationalratswahl_2002/start. aspx. 51 Land Vorarlberg (2020). Wahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://apps.vorarlberg.at/wah len/wahl/LT?id=LT_1984-10-21. 52 Austria Forum (2020). Bürgerliste Salzburg. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://austria-fo rum.org/af/AustriaWiki/Bürgerliste_Salzburg. 53 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11).

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Gemeinden in allen Bezirken, mit Ausnahme des Lungaus, an und erzielten 63 Gemeindevertretungsmandate. Die Folgewahlen brachten leicht schwankende Mandate mit sich, im Wesentlichen blieben die Grünen aber bis zur Gemeindewahl im Jahr 2014 auf diesem Stand. Bei den vorgezogenen Landtagswahlen im Jahr 2013 profitierten die Grünen in hohem Ausmaß von den Verlusten der ÖVP und vor allem der SPÖ in Folge des Finanzskandals (20,2 %/+13 % gegenüber 2009). Mit diesem Rückenwind ausgestattet, erzielten sie bei den Gemeindewahlen ein Jahr später, im Jahr 2014, im stärksten Jahr der Grünen, 103 Mandate. Zuletzt, im Jahr 2019, waren es 86 Sitze. Die Grünen haben sich seit den ersten Erfolgen auf kommunaler Ebene schon Ende der 1970er-Jahre über die Zeit hinweg im österreichischen Parteienspektrum als relevante politische Kraft positionieren können. Relativiert gehört diese Aussage allerdings damit, dass die Grünen beim Anteil an den zu vergebenden Mandaten in allen Salzburger Gemeinden nie über die 5-Prozentmarke hinauskamen. Zudem schafften es die Grünen bis dato nicht, in den Landgemeinden, abseits der Zentralräume, Fuß zu fassen. Sie waren und sind vor allem in den Städten und im urbanen Umland stark. Daneben gibt es nur einzelne erfolgreiche lokale Gruppierungen in kleineren Landgemeinden (z. B. in Goldegg im Pongau). 85 Prozent oder 73 der 86 Mandate der Grünen im Gemeindewahljahr 2019 kamen aus dem großen Salzburger Zentralraum, aus der Stadt Salzburg (6), dem Flachgau (55) und dem Tennengau (12). Nur 13 Mandate konnten die Grünen in Gemeinden im Innergebirg, im Pinzgau (8) und Pongau (5), erzielen (Lungau: 0). WählerInnengemeinschaften, Personenlisten und ab 2014 die NEOS bilden die Kategorie „Sonstige“ in der Wahlstatistik des Landes Salzburg, die – alle zusammen – in der Zeitreihe zu den Gemeindewahlen konstant einen Anteil von rund fünf Prozent, aber nicht mehr, an sich banden. Die NEOS sind die jüngste Partei in den Salzburger Gemeindestuben und wurden bundesweit erst im Jahr 2012 gegründet. Sie traten erstmalig bei der Nationalratswahl im Jahr 201354 an, schafften die Vier-Prozent-Hürde und wurden mit neun Mandaten ausgestattet. Ein Jahr später erkämpfte die junge Partei in vier Salzburger Gemeinden neun Mandate. In der Stadt Salzburg erhielten die NEOS fünf, in Hallein zwei Mandate, in Abtenau und Obertrum jeweils ein Mandat. Im Jahr 2018 erreichten die NEOS auch den Einzug in den Salzburger Landtag und schafften in einer Dreierkoalition mit der ÖVP und den Grünen auch gleich den Sprung in die Landesregierung. Der Erfolg auf Landesebene und die Beteiligung an der Salzburger Landesregierung verschafften den NEOS allerdings 54 BMI (2013). Nationalratswahl 2013. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ Nationalratswahlen/Nationalratswahl_2013/start.aspx.

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keinen Rückenwind für die ein Jahr später abgehaltenen Gemeindewahlen im Jahr 2019. Die NEOS traten in fünf von 119 Gemeinden an (+1 Gemeinde gegenüber 2014). Sie verzeichneten starke Verluste in der Stadt Salzburg, in Abtenau und in Hallein und konnten nur in Mittersill einen Erfolg verbuchen: Stadt Salzburg (5–3 = 2 Mandate), Hallein (2–1 = 1), Kuchl (0), Obertrum (1) und Mittersill (0+4 = 4). Die NEOS sind eine urbane Partei, die, ähnlich wie die Grünen, vor allem in den Städten und in deren Umfeld punkten kann. Mittersill im Oberpinzgau erscheint dabei als Sonderfall, weil die ÖVP in dieser Gemeinde nicht eigenständig, sondern in einem Wahlbündnis mit der Liste VIERT antrat. Die NEOS konnten von dieser Konstellation offenbar profitieren. Die Wahl im Jahr 2019 ließ für die NEOS deutlich werden, wie schwer es für eine neue Partei ist, Strukturen aufzubauen und sich in den Gemeinden zu verankern. Genau das ist aber zwingend notwendig, um die noch jungen Erfolge nachhaltig absichern zu können. Ob es die NEOS schaffen, nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Landes- und vor allem Gemeindeebene eine stabile politische Kraft zu werden, wird erst die Zukunft zeigen. 3.2 Die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien und die Entwicklungen in der Landeshauptstadt Wie einleitend schon angemerkt, wurde in den Gemeinden – mit Ausnahme der ersten Wahl im Jahr 1949 – bis hin zur Wahl im Jahr 1999 in der Stadt Salzburg und in den Salzburg Landgemeinden zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewählt. Die Amtsperiode dauerte in der Stadt bis 1957 nur vier Jahre, danach fünf Jahre, während in den Landgemeinden seit jeher fünf Jahre galten. Erst im Jahr 1999 erfolgte die Angleichung der Wahltermine der Gemeinden in Stadt und Land Salzburg. Dazu musste die Amtsperiode des im Jahr 1992 gewählten Gemeinderates in der Stadt Salzburg per Landesgesetz55 verlängert werden, auf sechs Jahre und sechs Monate. Im Jahr 1999 konnten sodann die Landtagswahlen und Gemeindewahlen in allen Salzburger Gemeinden zum selben Termin stattfinden.56

55 Landesgesetzblatt (LGBl.) 76/1992. 56 Flandera, Große Siege und kleine Tragödien, S. 262 (s. Fn. 31).

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Abbildung 4: Gemeinderatswahlen in der Stadt Salzburg 1949 bis 2019: ­Stimmenanteile der Parteien ÖVP_Anteil SPÖ_Anteil FPÖ_Anteil GRÜNE_Anteil Sonstige_Anteil

50,0

40,0

Prozent

30,0

20,0

10,0

,0

2019

2014

2009

2004

1999

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1953

1949

Quelle: Eigene Darstellung anhand Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Die Entwicklung der Stimmenanteile der SPÖ in der Stadt Salzburg seit 1949 zeigt eine Berg- und Talfahrt (siehe Abbildung 4). Ungeachtet dessen lag die SPÖ bis einschließlich der Wahl im Jahr 2014 immer an erster Stelle und ging bei den Wahlen, auch wenn sie Verluste hinnehmen musste, immer als Wahlsiegerin hervor. Den Topwert erreichte die Stadt-SPÖ im Jahr 1987 mit einem Anteil von 49,3 Prozent und 21 von 40 Mandaten. Das bedeutete die absolute Mehrheit im Gemeinderat. Stärker war die SPÖ in der Stadt nie und auch die absolute Mehrheit gelang nur bei dieser einen Wahl im Jahr 1987.57 Gleich beim nächsten Urnengang im Jahr 1992 stürzten die SozialdemokratInnen allerdings schwer ab, um 21,3 Prozentpunkte auf nur mehr 28 Prozent. Die Hälfte ihrer WählerInnen ging verloren (1987: 30.123/1992: 15.101). Was war 1 passiert? Für die Stadtwahl wurden und werden, gestern wie Page heute, keine WählerInnenströme ermittelt. So kann über die Wanderungen der WählerInnen nur spekuliert werden. Das Amt für Statistik beim Magistrat der Stadt Salzburg 57 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (s. Fn. 11).

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ging bei seiner Wahlanalyse für 199258 davon aus, dass die SPÖ vor allem an die NichtwählerInnen und zudem die Bürgerliste Stimmen verloren hätte. Peter Gutschner interpretierte59 die Vorgänge ähnlich und meinte auch, dass die Verluste der SPÖ in erster Linie der Wahlenthaltung geschuldet wären. Ins Auge fällt freilich zudem die große Anzahl an Splitterparteien, die 1992 kandidierten (insgesamt 8) und in der gemeinsamen Rubrik „Sonstige“ 16,2 Prozent und vier Mandate erreichten (1987: 2,9 %). Die Österreichische Autofahrerund Bürgerinteressens-Partei (ÖABP) erreicht 5,8 Prozent der Stimmen und 3 Mandate, die Liste Masopust 5,3 Prozent und 2 Mandate. Insgesamt zogen die Splitterparteien (inkl. der KPÖ) bei sinkender Wahlbeteiligung rund 8.700 Stimmen an sich. Es kann gut und gerne angenommen werden, dass die SPÖ auch Stimmen an diese Splitterparteien verlor. Mit Ausnahme der „Liste Dr. Albert Angerer – Lebenswertes Salzburg“, die aus der Liste Masopust hervorging, verschwanden diese Gruppierungen aber gleich wieder bei der nächsten Wahl im Jahr 1999. Das Wahlverhalten bei der 1992er-Wahl lässt, alles in allem und was die SPÖ betrifft, auf eine hohe Unzufriedenheit sozialdemokratischer WählerInnen und damit eine „Denkzettelwahl“ schließen.60 Das erklärt aber noch nicht, wieso es zum Protestverhalten in Form einer Wahlenthaltung oder ev. auch der Wahl einer anderen Gruppierung kam. Peter Gutschner61 machte dafür vor allem Vorgänge auf Bundesebene (u. a. die Lucona-Affäre und den Lucona-Untersuchungsausschuss, „die ein Sittenbild der SPÖ-PolitikerInnen lieferten“), aber auch Entwicklungen auf der Landesebene verantwortlich (wie die medial intensiv begleiteten internen Konflikte in der SPÖ-dominierten Salzburger Gebietskrankenkasse unter dem Titel „Privilegienstadel und Selbstbedienungsladen für Parteien“62, oder den Rücktritt des SPÖ-Landesparteivorsitzenden Wolfgang Radlegger, der bei der WEB-Bautreuhand-IMMAG-Affäre

58 Amt für Statistik beim Magistrat Salzburg (1992). Die Gemeinderatswahl vom 4. Oktober 1992. Salzburg in Zahlen – Beiträge zur Stadtforschung. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www. stadt-salzburg.at/pdf/siz_26.pdf. 59 Peter Gutschner (2010). „Die Salzburger SPÖ muss eine selbstbewusste Partei werden.“ – Aspekte einer Erfolgsgeschichte von 1970 – 2009, in: David Brenner/Karl Duffek/Peter Gutschner (Hg.): Signaturen des Wandels, Innsbruck, S. 327–446, hier S. 410. 60 Das Amt für Statistik beim Magistrat Salzburg kommt in der Analyse zur Wahl im Jahr 1992 zum Schluss, dass es keine nennenswerte WählerInnenwanderung von der SPÖ zur ÖABP oder der Liste Masopust gab. Vor dem Hintergrund der großen Stimmenverluste der SPÖ und dem WahlKontext einer offensichtlichen Unzufriedenheit der WählerInnen mit der Stadt-SPÖ und der damit einhergehenden Proteststimmung sollte diese Interpretation aber hinterfragt werden. 61 Gutschner, „Die Salzburger SPÖ muss eine selbstbewusste Partei werden“, S. 402 (s. Fn. 59). 62 Ebd.

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„ins Fadenkreuz der Gerichte und Medien geriet“63). Die üblen Wahlverluste führten in der Salzburger SPÖ zu heftigen Turbulenzen.64 Parteiaustritte waren die Folge. Rund um den ehemaligen SPÖ-Vizebürgermeister Herbert Fartacek entstand die Liste „Demokratie 92“. Diese Liste wurde Teil einer Ad-hocAllianz mit der ÖVP und der FPÖ, die den ÖVP-Kandidaten Josef Dechant zum Bürgermeister wählte. Nach Walter Thaler65 ebneten die Vorgänge rund um die 1992er Wahl – die überraschende Wahl des ÖVP-Kandidaten Dechant mit den Stimmen der SPÖ-Dissidenten und die geringe Wahlbeteiligung von nur mehr 55 Prozent (was aus heutiger Sicht erstrebenswert erscheinen mag; Anm. d. Verf.) – letztlich den Weg zur Einführung der BürgermeisterInnendirektwahl in Salzburg. Erstmalig mit Heinz Schaden an der Spitze und der ersten Direktwahl des Bürgermeisters in der Stadt erholte sich die SPÖ bei den Gemeinderatswahlen im Jahr 1999 mit 31,3 Prozent Stimmenanteil leicht. Deutlicher fiel der Aufschwung bei der BürgermeisterInnenwahl aus, bei der sich Heinz Schaden (SPÖ) in der Stichwahl gegen den Herausforderer Karl Gollegger (ÖVP) mit 58,7 Prozent zu 41,3 Prozent klar durchsetzen konnte. Die Wahl im Jahr 2004 sollte für die SPÖ die politischen Verhältnisse in der Stadt Salzburg wieder zurechtrücken. Die Stadt-SPÖ erzielte mit 43,8 Prozent ihr drittbestes Ergebnis bei einer Gemeinderatswahl in der 2. Republik. Auch bei der BürgermeisterInnenwahl feierte Schaden einen mehr als deutlichen Wahlsieg und besiegte seinen Konkurrenten Gollegger schon im ersten Wahlgang mit 52 zu 26 Prozent. Die herausragenden Ergebnisse für die SPÖ im Jahr 2004 in der Stadt fielen zusammen mit einem ebenso großen Wahlsieg der SPÖ auf Landesebene. Unter Gabi Burgstaller wurde sie stärkste Partei bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl und rang der ÖVP – erstmalig in der 2. Republik – den Sitz des Landeshauptmannes bzw. der Landeshauptfrau ab. So drängt sich freilich die Frage auf, wie viel Stadt und wie viel Land im Wahlsieg der Stadt-SPÖ im Jahr 2004 letztlich steckte. In welchem Ausmaß ist dieser einer wieder erstarkten Stadt-SPÖ unter Heinz Schaden oder doch eher Gabi Burgstaller zuzuschreiben, die gleichzeitig die Landes-SPÖ an die Spitze führte? Die Gleichzeitigkeit der Vorgänge lässt die Annahme von Zusammenhängen plausibel erscheinen und vermuten, dass die Ergebnisse in der Stadt Salzburg nicht losgelöst von den Vorgängen auf der Landesebene interpretiert werden können.

63 Ebd., S. 405. 64 Eine Chronologie der Ereignisse liefert Gutschner, „Die Salzburger SPÖ muss eine selbstbewusste Partei werden“, S. 410 ff. (s. Fn. 59). 65 Thaler, Bürgermeister-Direktwahl, S. 25 (s. Fn. 29).

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Auf der Ebene der Landgemeinden setzte für die SPÖ schon früh, ab Mitte der 1970er-Jahre, ein kontinuierlicher Abwärtstrend ein, der sich bis zu den jüngsten Wahlen im Jahr 2019 fortsetzte. In der Stadt Salzburg – der traditionellen Hochburg der Salzburger Sozialdemokratie – wurde dieser Trend erst später, ab der Wahl im Jahr 1992, sichtbar. Der Wahlerfolg bei den Landtagswahlen und bei den Gemeinderatswahlen in der Stadt im Jahr 2004 kann als „Ausreißer“ betrachtet werden, weil sich schon seit dem Jahr 2009 der Abwärtstrend auf Landes- und auch auf Gemeindeebene manifestiert. Wie im Jahr 2009 (von 43,8 % im Jahr 2004 auf 35,8 %) kam es auch im Jahr 2014, der Gemeindewahl im Schatten des Salzburger Finanzskandals, zu Verlusten (von 35,8 % im Jahr 2009 auf 33 %). Die Partei verlor an Zuspruch, blieb aber noch die stimmenstärkste Kraft. Bei sinkender Wahlbeteiligung büßte die SPÖ im Zeitraum 2004 bis 2014 ca. 10.000 Stimmen ein (von 27.565 im Jahr 2004 auf 17.699 im Jahr 2014). Ein weiteres Indiz für die nachlassende Zugkraft der SPÖ ist, dass Heinz Schaden anders als im Jahr 2004 schon im Jahr 2009 und in weiterer Folge auch im Jahr 2014 gegen Harald Preuner (ÖVP) erst in einer Stichwahl das Rennen für sich entscheiden konnte. Auch wenn der zweite Wahlgang im Jahr 2014 klar und deutlich für Schaden ausfiel, mit 68,9 Prozent zu 31,1 Prozent. Begleitet wurde diese Stichwahl von einem historischen Tiefpunkt bei der Wahlbeteiligung, die nur mehr knapp über 30 Prozent ausmachte. Die Entwicklungen gipfelten in der Niederlage des SPÖ-Kandidaten Bernhard Auinger gegen den ÖVP-Mann Preuner bei den vorgezogenen BürgermeisterInnendirektwahlen im Jahr 2017, nachdem Schaden nach seiner Verurteilung beim sogenannten „Swap-Prozess“ zurücktreten musste.66 Zuvor stand die ÖVP in einem fast 70-jährigen Zeitraum, beginnend mit dem Jahr 1949, immer – und spiegelverkehrt zu den Verhältnissen auf Landesebene – im Schatten der dominierenden SPÖ. Dabei lag die Volkspartei bis in die 1980er-Jahre hinein konstant bei über 30 Prozent. Im Jahr 1982 fiel sie auf 29 Prozent und schließlich auf 24,8 Prozent im Jahr 1987. Bis einschließlich der Wahl im Jahr 2014 sollte die ÖVP auch nicht mehr darüber hinauskommen, wenngleich in den 1990er-Jahren und zu Beginn der 2000er-Jahre leichte Zugewinne verbucht werden konnten, von 24,8 Prozent im Jahr 1987 auf 27,8 Prozent im Jahr 2009. Den Tiefpunkt für die Stadt-ÖVP stellte die Wahl im Jahr 2014 dar. Die Verluste (–8,4 %) führten dazu, dass die ÖVP – einmalig – unter die 20-Prozent-Marke, auf 19,4 Prozent rutschte. Die Volkspartei verlor gegenüber der Vorwahl rund 6.500 Stimmen. Eine andere Partei konnte allerdings in nahezu gleicher Größenordnung WählerInnen an sich binden: Die NEOS zogen mit 6.650 Kreuzen auf den Stimmzetteln und einem Anteil von 12,4 Pro66 Mühlböck, Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals (s. Fn. 4).

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zent in den Salzburger Gemeinderat ein und erlangten zudem gleich einen Sitz in der Stadtregierung (in Abbildung 4 erfasst unter der Rubrik „Sonstige“). Die NEOS-Stimmen lassen sich zwar nicht Eins zu Eins von der ÖVP auf die NEOS umrechnen, eine WählerInnenwanderung zwischen den beiden Parteien ist aber mehr als wahrscheinlich, zumal der Spitzenkandidatin der NEOS, Barbara Unterkofler, zumindest eine gewisse Nähe zur Volkspartei nicht abzusprechen war.67 Das galt nicht nur für die Salzburger NEOS-Politikerin, sondern auch für andere NEOS-PolitikerInnen. Nicht von irgendwo kommt der häufig bediente Spruch: „ÖVP und NEOS sind wie kommunizierende Gefäße“68. Unterkofler lief allerdings im Vorfeld der 2019er-Wahl zur ÖVP über und die NEOS mussten eine herbe Niederlage verkraften. Sie verloren mehr als die Hälfte ihrer WählerInnenstimmen und rutschten von 12,4 auf 6 Prozent ab. Das bedeutete auch den Verlust des Sitzes in der Stadtregierung (siehe auch Abschnitt 2.3). Doch zurück zur ÖVP: Nach den Verlusten bei der Wahl im Jahr 2014 stand Preuner schon vor der Ablöse als Parteivorsitzender und Vizebürgermeister. Wer hätte damals gedacht, dass er im Jahr 2017 Bürgermeister der Stadt werden und 2019 auch im Gemeinderat die Mehrheit für die ÖVP holen würde? Was sind die Gründe für den Höhenflug der Stadt-ÖVP? Waren es „nur“ die politischen Entwicklungen in der Landeshauptstadt, die dazu führten, oder gab es noch andere Einflüsse? Der Erfolg der Stadt-ÖVP fällt zusammen mit einer für die ÖVP ausgesprochen günstigen Stimmungslage, im Land und in ganz Österreich. Für die SozialdemokratInnen stellte sich die Situation ganz anders dar. SPÖ-Kanzler Christian Kern konnte dem sicheren Wahlsieg der aufstrebenden neuen türkisen ÖVP mit Sebastian Kurz bei der vorgezogenen Nationalratswahl im Jahr 2017 nichts entgegenhalten. Die SPÖ verlor Kanzlerschaft und Regierungsbeteiligung. Über der Salzburger SPÖ lag immer noch der Schatten des Finanzskandals. Nach dem Absturz im Jahr 2013 (–16 %) verlor sie bei den Landtagswahlen 2018 neuerlich an WählerInnengunst (–4 %). Die SPÖ befand sich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene in einer Abwärtsspirale. Die regierende ÖVP mit Landeshauptmann Wilfried Haslauer jun. saß hingegen seit 2013 unangefochten fest im Sattel und konnte erwartungsgemäß siegreich aus der Landtagswahl 2018 hervorgehen (+9 %). Die ÖVP schwebt/e auf einer Welle des Erfolges, auf Bundesebene mit Bundeskanzler Kurz und auf Landesebene mit Landeshauptmann Haslauer. So überraschte es auch nicht, dass der populäre Kurz seine Mobilisierungskraft auch bei den Salzburger Gemeindewahlen einbrachte. Herbert Dachs69 nennt 67 Der Standard Online (13.9.2018). Die Salzburger ÖVP „im Machtrausch“. 68 Die Presse Online (15.1.2014). Umfrage: ÖVP stürzt ab, FPÖ zieht mit SPÖ gleich. 69 Dachs, „Das Hemd näher als der Rock?“ (s. Fn. 45).

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in seinem Beitrag in diesem Jahrbuch ganze dreizehn Besuche von Kurz im Salzburger Gemeindewahlkampf. Auch Harald Preuner setzte bei seinen Wahlkampfauftritten mehrmals auf die Unterstützung des jungen Kanzlers, sogar im traditionell „roten“ Stadtteil Lehen. Gab diese Konstellation Harald Preuner Rückenwind? Derartige – atmosphärische – Effekte sind – wenn auch nur schwer direkt messbar – freilich denkbar, ja wahrscheinlich und das Ergebnis der Salzburger Gemeindewahl 2019 mag als logische Folge dieser Entwicklungen erscheinen: Die Landeshauptstadt wurde nicht nur an der Spitze, sondern endgültig und damit auch im Gemeindeparlament von Rot auf Schwarz „umgefärbt“ und in den Landgemeinden triumphierte die ÖVP mit einem der besten Resultate bei Gemeindewahlen in Salzburg, während die SPÖ ihr schlechtestes Ergebnis verarbeiten muss/te. Für die FPÖ stellte die Stadt Salzburg traditionell ein schwieriges Pflaster dar, wenngleich sie bei der ersten Wahl im Jahr 1949 30 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte. Danach sanken die Freiheitlichen aber kontinuierlich ab, auf rund 20 Prozent in den 1960er-Jahren, auf rund 15 Prozent in den 1990er-Jahren und sodann auf unter 10 Prozent bei der Wahl im Jahr 2019 (8,4 %). Die einzige Ausnahme beim nahezu linearen Abwärtstrend bildete die Wahl im Jahr 1999, dem einzigen Gemeindewahlgang in der Stadt, bei dem die FPÖ deutliche Zugewinne erzielte, von 14,5 Prozent im Jahr 1992 auf 19,6 Prozent im Jahr 1999 (mehr dazu im Abschnitt 3.1). Die Stadt-Grünen zogen als Bürgerliste erstmalig im Jahr 1977 mit rund sechs Prozent und zwei Mandaten in den Salzburger Gemeinderat ein. Sie erreichten gleich bei der unmittelbar darauffolgenden Wahl im Jahr 1982 ihr Spitzenergebnis von rund 18 Prozent und 7 Mandaten, das bis dato nicht mehr überboten werden konnte. Nach Verlusten in den 1980er-Jahren stabilisierten sich die Grünen bei rund 15 Prozent und etablierten sich als bestimmende politische Kraft in der Stadt, die seit den 1990er-Jahren permanent mit sechs bis sieben Mandaten im Salzburger Gemeinderat und einem fixen Platz in der Stadtregierung ausgestattet ist (2019: 15,2 % und 6 Mandate). In Abbildung 4 zu den Stimmenanteilen der Parteien bei den Gemeinderatswahlen in der Stadt Salzburg schlägt die Kurve bei den „Sonstigen“ Parteien zweimal aus: Einmal bei der Wahl im Jahr 1992, bei der sich das Parteienfeld in der Stadt einmalig stark aufsplitterte. Von diesen Splitterparteien konnten die schon erwähnte ÖABP (5,82 % und 3 Mandate) und die Liste Masopust (5,6 % und 2 Mandate) Wahlerfolge erzielen. Im Jahr 2014 zeigt der „Ausschlag“ der Linie bei den „Sonstigen“ den schon beschriebenen Einzug der NEOS in den Gemeinderat (12,4 % und 5 Mandate) und den Erfolg der Liste SALZ, Bürger für Salzburg, an (3,4 % und 1 Mandat).

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ÖVP und SPÖ sind, mit ihren eigenen wechselvollen Geschichten, gestern wie heute, die bestimmenden politischen Kräfte in der Salzburger Landeshauptstadt. Doch wo in der Stadt liegen die Stärken und die Schwächen der beiden Kontrahenten? Gibt es Wahlbezirke, die mehr oder weniger fix der ÖVP oder der SPÖ zuzurechnen sind? Gibt es Wahlbezirke, in denen das Rennen zwischen der ÖVP und SPÖ traditionell eng ist und nicht von vornherein entschieden erscheint, wer letztlich bei einer Wahl als Sieger hervorgehen wird? Schon in einem früheren Beitrag des Autors wurde versucht, eine Zuordnung der Wahlbezirke auf Harald Preuner (ÖVP) und Bernhard Auinger (SPÖ) zu argumentieren.70 Im Folgenden wird nicht nur ein Wahlgang, sondern ein längerer Zeitraum beobachtet, vier Wahlgänge zwischen 2004 und 2019, und ein genaueres Bild der Performance der zwei Parteien in den Salzburger Wahlbezirken gezeichnet (siehe Abbildung 5).71 Abbildung 5: Gemeindewahlen in der Stadt Salzburg - Stimmenanteile SPÖ (grau) - ÖVP (schwarz): 2004, 2009, 2014, 2019 55,00 50,00 45,00 40,00 35,00 30,00 25,00 20,00 15,00 10,00 2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

Schallmoos

Maxglan-Aiglhof

Josefiau-Alpenstraße

Altstadt-Mülln

Gneis-Leo-Mo-Mo

Parsch

Neustadt-Äuß.Stein

2019 2014 2009 2004

Taxham

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

Elisabethvorstadt

Riedenburg

2019 2014 2009 2004

Liefering

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

Itzling-Kasern-Sam

Nonntal-Herrnau

2019 2014 2009 2004

Gnigl-Langwied

Aigen-Abfalter-Glas

2019 2014 2009 2004

Lehen

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

2019 2014 2009 2004

Quelle: Eigene Darstellung anhand von Stadt Salzburg, Dokumentation der Gemeinderats- und BürgermeisterInnenwahlen (siehe Fn. 72). 70 Mühlböck, Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals (s. Fn. 4). 71 Stadt Salzburg (2019). Dokumentation der Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.stadt-salzburg.at/internet/politik_verwaltung/stadtpolitik/ wahlergebnisse.htm.

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Abbildung 5 – im Querformat zu lesen – zeigt zunächst die schon bekannte Entwicklung, dass die SPÖ über die Zeit hinweg Stimmen verlor und Verluste hinnehmen musste. Dieser Vorgang zieht sich über alle Wahlbezirke hinweg (das sind die hellen, nach unten zeigenden Linien). Bei der ÖVP treten die hohen Verluste bei der Wahl im Jahr 2014 deutlich zu Tage. Auch diese Entwicklung ist in allen Wahlbezirken, mal mehr, mal weniger stark, beobachtbar (das sind die nach unten zeigenden schwarzen Hacken). Besonders deutlich wird in dieser Darstellung das Ausmaß des Wahlsieges der ÖVP im Jahr 2019, die, allerdings ausgehend vom historisch tiefsten Niveau im Jahr 2014, in allen Wahlbezirken hohe Zugewinne verbuchte. Eine Ausnahme bildete, um exakt zu sein, der Wahlbezirk Neustadt-Äußerer Stein, einer der kleinen Wahlbezirke, gemessen an der Anzahl der Wahlberechtigten, in dem die ÖVP zwar auch punktete, aber nicht an das Ergebnis aus dem Jahr 2004 herankam. Neustadt-Äußerer Stein ist der einzige Wahlbezirk, in dem die SPÖ „hinzugewinnen“ konnte und 0,7 Prozentpunkte mehr als 2014 erreichte. Ins Auge fallen in der Darstellung die Hochburgen der jeweiligen Parteien. Für die SPÖ (mit den hellen Linien, im linken oberen Wertebereich der Abbildung gekennzeichnet) sind es die Wahlbezirke Lehen, Gnigl-Langwied, Itzling-Kasern-Sam, Liefering, Elisabethvorstadt, Taxham und Schallmoos. Auch Maxglan-Aiglhof und Josefiau-Alpenstraße können, wenngleich nicht so scharf, aber dennoch, als SPÖ-Bezirke gewertet werden. Neun der 16 Salzburger Wahlbezirke gehör(t)en somit den SozialdemokratInnen. Das führt die Dominanz der SPÖ in der Stadt in der Vergangenheit klar vor Augen. Diese zeigt sich auch dadurch, dass der ÖVP in der Zeitreihenbetrachtung nur zwei der 16 Wahlbezirke zugeordnet werden können: Altstadt-Mülln und GneisLeopoldskron-Morzg-Moos (das sind die Bezirke im mittleren Wertbereich auf der X-Achse: die schwarzen ÖVP-Linien liegen im oberen und die hellen SPÖ-Linien im unteren Wertebereich). Deutlich wird zudem, dass die ÖVP im Jahr 2019 nicht nur tief in die SPÖ-Hochburgen einbrach, sondern ihr dort auch den Rang ablief und stimmenstärkste Partei wurde – in fünf von neun SPÖ-Hochburgen: Gnigl-Langwied, Liefering, Taxham, Maxglan-Aiglhof und Josefiau-Alpenstraße. Verteidigen, wenn auch mit Verlusten, konnte die SPÖ vier (von neun) „ihrer“ Bezirke: Lehen, Itzling-Kasern-Sam, Elisabethvorstadt und Schallmoos. In Schallmoos fiel das Rennen allerdings denkbar knapp aus. Besonders beachtenswert erscheint Lehen, weil die SPÖ dort zwar stimmenstärkste Partei blieb, die ÖVP aber einen sehr starken Zuwachs verzeichnete (+19,7 %). In Taxham und Maxglan-Aiglhof performte die Volkspartei mit plus 20,3 bzw. plus 19,8 Prozentpunkten gegenüber der Wahl im Jahr 2014 ähnlich stark. Die höchsten Stimmenzuwächse verbuchte die ÖVP somit in (ehemaligen) Top-SPÖ-Bezirken. Die Abbildung zeigt zudem eine Gruppe von Wahl-

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bezirken, in denen ÖVP und SPÖ über die Jahre hinweg Kopf-an-Kopf um WählerInnenstimmen kämpften (in 5 von 16 Wahlbezirken): Parsch, AigenAbfalter-Glas, Nonntal-Herrnau, Riedenburg und Neustadt-Äußerer Stein (das sind die Bezirke im rechten Wertebereich auf der X-Achse: die schwarzen und hellen Linien überlappen stark). Diese umkämpften Wahlbezirke, die nicht von vornherein der einen oder anderen Partei zuzuordnen sind, konnte im Jahr 2019 allesamt die ÖVP gewinnen. Der Wahlsieg der ÖVP im Jahr 2019 erklärt sich somit zunächst damit, dass die ÖVP in allen Wahlbezirken Stimmen gewann und dabei tief in die SPÖHochburgen in der Stadt einbrach. Zudem rang die ÖVP der SPÖ fünf ihrer neun Hochburgen ab. Dem nicht genug, verzeichnete die ÖVP in den Bezirken, in denen die SPÖ trotz Verlusten stärkste Partei blieb, höchste Stimmenzuwächse. Dass die ÖVP in „ihren Bezirken“ reüssierte, versteht sich von selbst. Die Volkspartei entschied darüber hinaus alle traditionell umkämpften Wahlbezirke für sich und fuhr somit einen Wahlsieg auf allen Linien ein.

4. WAHLBETEILIGUNG BEI SALZBURGER GEMEINDEWAHLEN 4.1 Allgemeines Geht es um die Berichterstattung zu Wahlen, spielt die (sinkende) Wahlbeteiligung regelmäßig eine wichtige Rolle.72 Dass die Partizipation zuletzt bei Wahlgängen auf der Bundesebene, insbesondere bei der Nationalratswahl im Jahr 2017, mit rund 80 Prozent (von 75 % im Jahr 2013) und der EU-Wahl im Jahr 2019 mit rund 60 Prozent (von 45,5 % im Jahr 2014) kräftig anstieg, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beteiligung bei Wahlen, sei es auf nationaler oder regionaler Ebene, bereits seit geraumer Zeit zurückgeht.73 Auf Bundesebene ist dieses Phänomen seit Mitte der 1980er-Jahre beobachtbar. Bis dahin 72 SN Online (11.3.2019). Wahlbeteiligung in der Stadt Salzburg auf Tiefstand gesunken; Salzburg24 Online (11.3.2019). Deshalb wählten so wenige Salzburger; ORF Salzburg Online (6.3.2019). Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken; ORF Salzburg Online (11.12.2017). Niedrige Wahlbeteiligung: Demokratie-Krise? 73 Wie erwähnt stieg im Jahr 2017, bei der vorgezogenen Wahl zum Nationalrat, die Wahlbeteiligung an. Der Grund dafür ist die besonders partizipationsfördernde Stimmung bei dieser vorgezogenen Wahl, die auf politischen Wandel und auf Veränderung ausgerichtet war. Bei der Nationalratswahl im Jahr 2019, auch eine vorgezogene Wahl, lag die Wahlbeteiligung bei 75,2 Prozent. Der Rückgang gegenüber dem Jahr 2017 war vor allem darauf zurückzuführen, dass viele FPÖWählerInnen in Folge der Vorgänge im Jahr 2019, die zur Neuwahl führten (Stichwort: „IbizaAffäre“), den Wahlurnen fernblieben. Siehe dazu z. B. ORF Online. Wahl 2019 – Wählerströme. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://orf.at/wahlergebnisse/nr19/#migration.

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lag die Beteiligung bei Nationalratswahlen bei rund 90 Prozent und darüber. Sodann ging die Bereitschaft zum Urnengang kontinuierlich zurück, über vier Wahlgänge hinweg in den 1990er-Jahren auf 79 Prozent und in den 2000erJahren bis hin zur Wahl im Jahr 2013 auf rund 75 Prozent.74 Rückt man in puncto Wahlbeteiligung die Gemeindewahlen in den Mittelpunkt, zeigen sich, ungeachtet des Umstandes, dass die Partizipationsraten generell sinken, große Unterschiede zwischen den Gemeinden, die in einem ansonsten relativ homogenen regionalen Umfeld liegen. Im Bundesland Salzburg lag die Wahlbeteiligung in den 118 Landgemeinden (ohne die Stadt Salzburg) zwischen 1979 und 2019 zwischen rund 54,6 Prozent (in Hallein im Jahr 2019) und fast 97,6 Prozent (in Forstau im Jahr 1984). In der Stadt Salzburg lag sie immer deutlich unter den Landgemeinden, zwischen 73,2 % Ende der 1970erJahre und 48,2 Prozent im Jahr 2019. Wie sich die Wahlbeteiligung bei den Gemeindewahlen in den Landgemeinden und in der Stadt Salzburg im Laufe der Zeit entwickelte, wie die unterschiedliche Ausprägung der Beteiligung zwischen den Gemeinden erklärt werden kann und wie sich die Wahlbeteiligung in der Gegenüberstellung von Nationalrats-, Landtags- und Gemeindewahlen verhält, wird in diesem Kapitel dargestellt. Vorab soll aber noch die Frage aufgeworfen werden, ob und wenn ja, warum eine niedrige oder sinkende Wahlbeteiligung ein bedeutsames demokratiepolitisches Problem darstellen kann.75 Dazu bieten die Debatten in der Demokratietheorie wichtige Einsichten,76 wobei die Antworten ambivalent ausfallen.77 Eher partizipatorisch ausgerichtete demokratietheoretische Ansätze stellen in puncto politischer Beteiligung höhere Ansprüche als die traditionell-liberalen oder realistischen Demokratietheorien, die das Kriterium der Repräsentation in den Vordergrund rücken.78 So gilt die Wahl einmal als Startpunkt für tiefgehende Beteiligungsprozesse, der sich über eine gesamte Regierungsperiode er74 Land Salzburg (2019). Dokumentation der Nationalratswahlen seit 1945. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/nrw/index.html#hist.5.0. 75 Siehe z. B. Sidney Verba (2003). Would the Dream of Political Equality Turn out to be a Nightmare?, in: Perspectives in Politics, 1 (4), S. 663–679. 76 Zum Teil entnommen aus Reinhard Heinisch/Armin Mühlböck (2016). Auf die Größe kommt es an! Neue empirische Befunde zur Wahlbeteiligung in Gemeinden, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 10, S. 165–190, hier S. 167 f. 77 Manfred G. Schmidt (2000). Demokratietheorien: Eine Einführung, Opladen, S. 451 ff. 78 Wilfried Marxer (2004). Demokratie? Erscheinungsformen einer Idee. Schriftliche Fassung des Vortrages am Liechtenstein-Institut vom 19. Oktober 2004 in der Vorlesungsreihe „Herausforderung Demokratie“, Beiträge Liechtenstein-Institut Nr. 24/2004. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.yumpu.com/de/document/read/21318815/pdf-download-liechtenstein-institutbendern.

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strecken und alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen können. Dem gegenüber steht die Haltung, dass es neben dem Wahlakt keiner weiteren Beteiligungsformen bedarf. Wählen hat dabei die Funktion, Macht auf bestimmte Zeit zuzuweisen. „Die Einmischung in das Regieren durch die Regierten“ soll allerdings gering bleiben.79 Nach diesem Verständnis wäre „eine niedrige Wahlbeteiligung … ein Ausdruck der generellen Zufriedenheit der Bürger mit dem demokratischen System und seiner Politik“, während hingegen eine hohe Wahlbeteiligung auf Konflikte in der Gesellschaft oder Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Kräften hindeuten würde.80 Eine niedrige oder sinkende Wahlbeteiligung gilt allerdings nur so lange als unproblematisch, als sich die Wahlenthaltung gleichmäßig auf die Bevölkerungsgruppen verteilt. Eine sinkende Wahlbeteiligung ist somit als kritisch zu erachten, wenn gleichzeitig die soziale Selektivität zunimmt und benachteiligte gesellschaftliche Gruppen stärker als andere Fraktionen auf ihr Wahlrecht verzichten. Wie hat sich nun die Beteiligung bei Gemeindewahlen in den vergangenen rund 40 Jahren entwickelt? 4.2 Entwicklung der Wahlbeteiligung in den Salzburger Landgemeinden 1979 bis 2019 Die untenstehende Abbildung 6 (dargestellt sind sogenannte Boxplots) zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Partizipationsraten in den 118 Salzburger Landgemeinden (ohne die Stadt Salzburg) beginnend mit den Gemeindevertretungswahlen im Jahr 1979. Deutlich wird, dass die Wahlbeteiligung ab Mitte der 1980er-Jahren zwar leicht zu sinken begann, zunächst von im Schnitt rund 86 Prozent in den Jahren 1979 und 1984 auf 81 Prozent im Jahr 2009. In diesem Zeitraum kam es aber nie zu Durchschnittswerten unter 80 Prozent. Die Kommunalwahlen im Jahr 2004 nahmen insofern eine Sonderstellung ein, als die Wahlbeteiligung gegen den Trend einmalig wieder leicht anstieg. Die Gemeindewahlen fanden damals gemeinsam mit den Landtagswahlen statt und der „Ausreißer“ ergab sich aufgrund der in diesem Beitrag schon beschriebenen, besonders mobilisierenden Vorgänge rund um diese Landtagswahl, die zu einem Machtwechsel von der ÖVP hin zur SPÖ führten (mehr dazu in den Abschnitten 3.1 und 3.2). Alles in allem kann die Wahlbeteiligung in den Salzburger Landgemeinden somit über 30 Jahre hinweg (1979–2009) als in hohem Ausmaß stabil beschrieben werden. 79 Kornelius Bernhard/Dieter Roth (2004). Politische Partizipation in Deutschland: Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, Gütersloh, S. 23. 80 Wolfgang Merkel/Alexander Petring (2011). Partizipation und Inklusion, in: Demokratie in Deutschland 2011 – Ein Report der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 8. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.demokratie-deutschland-2011.de/common/pdf/Partizipation_und_Inklusion.pdf.

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Abbildung 6: Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg 1979-2019: 9 Wahlen in Gemeinden (=1062 Wahlgänge Wahlbeteiligung bei118 Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg 1979-2019

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9 Wahlen in 118 Gemeinden (=1062 Wahlgänge)

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Quelle: Eigene Darstellung anhand Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Erst bei den jüngsten Wahlen in den Jahren 2014 und 2019 sank die Beteiligung unter die 80-Prozent-Marke auf im Schnitt rund 75 Prozent. Auffällig ist, dass die Unterschiede zwischen den Gemeinden deutlich angestiegen sind (das zeigen in der Graphik die oberen und unteren Begrenzungslinien der Boxplots, die sogenannten „Whiskers“, die hier für jedes Wahljahr das Minimum und das Maximum der Wahlbeteiligung in den Gemeinden angeben). Dabei blieben die hohen Partizipationsraten erhalten. Auch bei sinkender Wahlbeteiligung gab es in den Wahlgängen 2014 und 2019 nach wie vor Gemeinden mit 90 Prozent und mehr Teilnahme. Die relevante Entwicklung in puncto sinkender Wahlbeteiligung fand somit vor allem bei den Gemeinden mit schon relativ niedriger Rate statt. Noch im Jahr 2009 lag die niedrigste Wahlbeteiligung bei etwa 68 Prozent, in den Wahljahren 2014 und 2019 sank diese weiter ab, auf rund 55 Prozent. Im Jahr 2009 wiesen insgesamt 21 Gemeinden (von 118) eine Wahlbeteiligung unter 75 Prozent auf. Im Jahr 2019 lagen so gut wie alle diese Gemeinden schon unter 70 Prozent und es kamen weitere 23 Gemeinden zur Gruppe „unter 70 Prozent“ hinzu (insgesamt 44). Die Land-Gemeinden mit den niedrigsten Wahlbeteiligungen unter 60 Prozent im Wahljahr 2019 waren

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Hallein (54,6 %), Zell am See (56,5 %), Wals-Siezenheim (58,1 %), SaalbachHinterglemm (58,7 %) und Saalfelden am Steinernen Meer (59,6 %). Die abgebildete Salzburg-Karte (Abbildung 7) unterstreicht den Eindruck, dass die Partizipationsraten zwischen den Gemeinden stark unterschiedlich ausfielen – dargestellt ist die jüngste Salzburger Gemeindewahl im Jahr 2019. Gezeigt werden die Gemeinden in Gruppen wie folgt: Gemeinden mit einer niedrigen Wahlbeteiligung bis 68,08 Prozent (weiß), Gemeinden mit einer mittleren Wahlbeteiligung von über 68,08 – 81,97 Prozent (helles und mittleres Grau), Gemeinden mit einer hohen Wahlbeteiligung von über 81,97 Prozent (dunkles Grau). Die Abbildung zeigt, dass die besonders hohen Wahlbeteiligungen zum Teil im Tennengau, im Pongau und im Pinzgau, aber vor allem im Lungau zu finden sind (dunkle Flächen). Die sehr niedrigen Wahlbeteiligungen sind vermehrt rund um die Stadt Salzburg, im Flachgau, zu verzeichnen (weiße Flächen). Aber auch in den Landbezirken weisen einzelne Gemeinden sehr niedrige Wahlbeteiligungen bis maximal 68,08 Prozent auf. Dabei handelt es sich nicht nur, aber vor allem um die größeren und kleineren regionalen Zentren, wie z. B. Zell am See, Saalfelden und Mittersill im Pinzgau sowie Schwarzach, St. Johann und Altenmarkt im Pongau. Was erklärt diese erhebliche Variation der Partizipationsraten bei Gemeindewahlen? 4.3 Erklärungsansatz für die Höhe der Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen Die Forschung81 hat dazu gezeigt, dass vor allem zwei Faktoren, jeweils für sich und in ihrem Zusammenspiel, Aufschluss über die Höhe der Wahlbeteiligung in den Gemeinden liefern: Die Größe der Gemeinde und der Grad gesellschaftlicher, sozioökonomischer Heterogenität. Geht es um die Größe der Gemeinde, gemessen an der Anzahl der Wahlberechtigten, hat bereits eine Vielzahl an Studien in unterschiedlichen Ländern einen negativen Effekt auf den Urnengang nachgewiesen: Je größer die Gemeinde, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung.82 Wird für die Gemeindewahlen zwischen 1979 und 2019 in allen Salzburger Landgemeinden (= 1.062 Wahlgänge) der Zusammenhang zwischen der Größe der Gemeinde und der Wahlbeteiligung grafisch dargestellt (mit Hilfe eines sogenannten Scatterplots – siehe Abbildung 8), ergibt sich folgendes Bild. 81 Siehe dazu Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an, S. 167 f. (s. Fn. 76). 82 Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an (s. Fn. 76); Angelika Vetter (2008). Institutionen und lokale Wahlen: Wo bleiben die Wähler?, in: Angelika Vetter (Hg.): Erfolgsbedingungen lokaler Bürgerbeteiligung, Wiesbaden, S. 49–72.; André Blais/Agnieszka Dobrzynska (1998). Turnout in Electoral Democracies, in: European Journal of Political Research, 33 (2), S. 239–261.

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Abbildung 7: Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg 2019

(81.97,100] (74.905,81.97] (68.08,74.905] [0,68.08]

Quelle: Eigene Darstellung/Quelle: Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Ein Punkt in der Abbildung (insgesamt 1.026 Punkte = 1.026 Wahlgänge) zeigt für einen spezifischen Wahlgang in einer Gemeinde im Zeitraum 1979 bis 2019 die Kombination des Werts der Wahlbeteiligung (aufgetragen auf der Y-Achse) mit dem Wert der Größe der Gemeinde (aufgetragen auf der X-Achse). Gleich auf den ersten Blick wird der zu erwartende negative Effekt der Größe der Gemeinde auf die Partizipationsrate deutlich. Die Anordnung der Punkte und die Linie, die durch die Punkte gelegt wurde, führen den Trend von links oben nach rechts unten vor Augen und zeigen so einen indirekt-proportionalen Zusammenhang an: Je größer die Gemeinde, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung. Warum ist das so? In der Politikwissenschaft wird diese Abhängigkeit unter anderem so argumentiert, dass in kleineren Gemeinden das Gewicht der einzelnen Stimme größer ist, weil die eigene Stimme in Relation zu allen an-

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deren Wahlberechtigten mehr Einfluss hat und damit entscheidender ist. Das motiviert und fördert den Gang zur Wahlkabine. Auch die in kleineren Gemeinden gegebene Nähe zwischen der lokalen Politik und den WählerInnen wirkt sich positiv auf die Partizipationsraten aus. Die Motive der Gemeindepolitik und der lokalen Parteien können einfacher und unmittelbarer, oft sogar im Face-to-Face-Kontakt, vermittelt werden. Auch dem Aspekt der „sozialen Kontrolle“ widmet die Forschung Aufmerksamkeit. So soll in eher städtisch strukturierten Kommunen, geprägt durch gesellschaftliche Individualisierung und einen hohen Grad an Anonymität, der soziale Druck auf die Ausübung des individuellen Wahlrechts weniger stark ausgeprägt sein als in eher ländlich geprägten Räumen.83

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wahlbeteiligung in Prozent 70.00 80.00

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Abbildung 8: Gemeindewahlen in den Salzburger Landgemeinden 1979 – 2019: Wahlbeteiligung und Größe der Gemein

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Größe der Gemeinde (Anzahl der Wahlberechtigten - logarithmiert)

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Quelle: Eigene Darstellung anhand von Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

83 Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an (s. Fn. 76). Siehe z. B. auch Benny Geys (2006). Explaining voter turnout: A review of aggregate-level research, in: Electoral Studies 25 (4), S. 637–663, hier S. 642 f.

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Abbildung 9: Gemeindewahlen in Salzburger Landgemeinden 1979–2019: Wahlbeteiligung und gesellschaftliche Heterogenität

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10.00 20.00 30.00 40.00 Grad gesellschaftlicher Heterogenität (Anteil der AkademikerInnen und MaturantInnen)

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Eigene Darstellung/Quelle: Land Salzburg. Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Die Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen wird freilich nicht einzig und allein durch die Größe der Gemeinde bestimmt. Die politikwissenschaftliche Forschung konnte vor Augen führen, dass neben der Größe der Gemeinde vor allem der Grad gesellschaftlicher Heterogenität in sozioökonomischer Hinsicht das Ausmaß der Wahlbeteiligung in einer Gemeinde maßgeblich beeinflusst.84 Nach dem Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass ein hoher Grad gesellschaftlicher Diversität einhergeht mit einer tendenziell niedrigen Wahlbeteiligung. Das Bild, das sich abzeichnet, ist allerdings nicht einheitlich und dahingehende wissenschaftliche Tests lieferten auch widersprüchliche Ergebnisse.85 84 Die Messung sozioökonomischer Heterogenität mit dem Anteil der AkademikerInnen und MaturantInnen in einer Gemeinde geht davon aus, dass Bildung einen positiven Effekt auf Einkommensund Berufschancen hat. Siehe dazu Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an (s. Fn. 76). 85 Geys, Explaining voter turnout, S. 644 f. (s. Fn. 83).

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Die Grundlagen für die Messung der gesellschaftlichen Heterogenität stellen häufig das Durchschnittseinkommen, die Anteile der Beschäftigten in den drei großen Wirtschaftssektoren oder, wie hier, der Anteil der AkademikerInnen und MaturantInnen in der Gemeinde dar.86 Abbildung 9 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und dem Grad gesellschaftlicher Heterogenität bei den Salzburger Gemeindewahlen zwischen 1979 und 2019. Wieder zeigt ein Punkt in der Graphik für einen Wahlgang (insgesamt 1.026) in einer Gemeinde im Zeitraum 1979 bis 2019 die Kombination der Werte zweier Faktoren an, nunmehr der Wahlbeteiligung (aufgetragen auf der Y-Achse) mit dem Grad gesellschaftlicher Heterogenität in der Gemeinde (aufgetragen auf der X-Achse). Ungeachtet des Umstandes, dass die Forschung bis dato kein eindeutiges Ergebnis zur Wirkung des Grades gesellschaftlicher Heterogenität auf die Wahlbeteiligung liefern konnte, wird für die Gemeindewahlen in Salzburg der negative Effekt klar und deutlich vor Augen geführt: Je höher der Grad gesellschaftlicher Heterogenität in der Gemeinde, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung. Oder anders formuliert: Gemeinden mit einem hohen Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen weisen tendenziell eine niedrige Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen auf. Warum ist das so? In der Politikwissenschaft wird argumentiert, dass das politische Engagement in Gemeinden mit zunehmender gesellschaftlicher Heterogenität abnimmt, gleich ob ethnische Aspekte, das Einkommen oder wie hier das Bildungsniveau gemessen werden. Ein hoher Grad an lokaler Diversität erschwert aufgrund herrschender Interessensvielfalt in der Gemeinde den politischen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und beeinflusst so die Wahlbeteiligung negativ.87 Demnach bringen eher homogen strukturierte lokale politische Einheiten höhere Partizipationsraten hervor, weil der soziale Zusammenhalt dort aufgrund gemeinsamer Interessenslagen stärker ausgeprägt ist.88 Der Grad sozioökonomischer Diversität wurde gemessen mit dem Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen in der Gemeinde. Der Umstand, dass in Gemeinden mit hohem Bildungsniveau die Wahlbeteiligung niedrig ist, darf aber nicht zum Schluss führen, dass sich höher Gebildete (eher) der Wahl enthalten. Erstens, weil Messungen auf der kollektiven Ebene (des Anteils an AkademikerInnen und MaturantInnen in der Gemeinde) keine Rückschlüsse auf individuelles Wahlverhalten (das Partizipationsverhalten einzelner WählerInnen) zulassen (= ökologischer Fehlschluss). Zweitens, weil weiterführende 86 Ebd., S. 644 f. 87 Siehe z. B. Serguei Kaniovski/Dennis C. Mueller (2006). Community size, heterogeneity and voter turnouts, in: Public Choice (129), S. 399–415, hier S. 406. 88 Geys, Explaining voter turnout, S. 644 f. (s. Fn. 83).

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Studien vielmehr darauf hinleiten, dass sich in Gemeinden mit einem hohen Grad sozioökonomischer Heterogenität (gemessen mit einem hohen Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen) lokale Milieus konstituieren, die die politische Partizipation von sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen hemmen.89 Geht man einen Schritt weiter und bringt die besprochenen Variablen in ein statistisches Modell ein und kalkuliert eine lineare multivariate Regressions­ analyse, lassen sich die Effekte der Größe der Gemeinde und des Grades gesellschaftlicher Heterogenität auf die Wahlbeteiligung auch numerisch ausdrücken. Ausgehend von der durchschnittlichen Wahlbeteiligung in den Gemeinden über alle neun Wahlgänge hinweg im Ausmaß von 81,5 Prozent und einer durchschnittlichen Gemeindegröße von 2.190 Wahlberechtigten, bedeuten 1.000 Wahlberechtigte mehr oder weniger in einer Gemeinde im Schnitt +/–1,0 Prozentpunkte bei der Wahlbeteiligung. So kann berechnet werden, dass für eine Gemeinde mit 1.000 Wahlberechtigten eine Wahlbeteiligung in der Höhe von rund 80 Prozent zu erwarten wäre, während in einer Gemeinde mit 5.000 Wahlberechtigten die Beteiligung um 5 Prozentpunkte niedriger ausfallen würde: rund 75 Prozent.90 Auch beim Effekt gesellschaftlicher Heterogenität auf die Partizipationsrate bildet die durchschnittliche Wahlbeteiligung in den Gemeinden über alle Jahre hinweg im Ausmaß von 81,5 Prozent den Ausgangspunkt. Der Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen lag in den Salzburger Landgemeinden zwischen 1,4 Prozent (Hintersee im Jahr 1979) und 47,4 Prozent (in Elsbethen im Jahr 2019) (im Schnitt, über alle Jahre hinweg: 13 %). Ein Prozent auf oder ab beim Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen in einer Gemeinde bedeutet im Schnitt +/–0,55 Prozentpunkte in puncto Wahlbeteiligung. So kann berechnet werden, dass für eine Gemeinde mit einem Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen im Ausmaß von 10 Prozent eine Wahlbeteiligung in der Höhe von rund 76 Prozent zu erwarten wäre, während eine Gemeinde bei Gemeindewahlen mit einem 30-Prozent-Anteil nur auf eine Beteiligung von rund 60 Prozent kommen sollte.91 Die Größe der Gemeinde und der Grad gesellschaftlicher Heterogenität wirken aber nicht isoliert, sondern gemeinsam 89 Siehe dazu z. B. Angelika Vetter/Jan A. Velimsky (2019). Soziale Selektivität bei Wahlen und direkt-demokratischen Abstimmungen auf kommunaler Ebene in Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift (60), S. 487–512; Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an, S. 186 ff. (s. Fn. 76). 90 Ergebnis der linearen Regressionsanalyse – Gleichung: Wahlbeteiligung = durchschnittliche Wahlbeteiligung + (–0,0013×5000) >>> 75 = 81,5+(–0,0013×5000) 91 Ergebnis der linearen Regressionsanalyse – Gleichung: Wahlbeteiligung = durchschnittliche Wahlbeteiligung + (–0,55×10) >>> 76 = 81,5+(–0,55×10)

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Armin Mühlböck

auf das Ausmaß der Wahlbeteiligung ein. Es ist die Kombination der Effekte, die die Erkenntnis über die Wirkung auf die Partizipationsrate liefert. Am Beispiel zweier Salzburger Landgemeinden soll das verdeutlicht werden. 4.4 Schätzung vs. Beobachtung der Wahlbeteiligung in zwei Fallbeispielen Den geschilderten Ergebnissen zufolge wäre bei einer kleinen Gemeinde mit homogener sozioökonomischer Struktur eine hohe Wahlbeteiligung zu erwarten. Eine typische Gemeinde mit relativ niedriger Wahlbeteiligung wäre dann – im Umkehrschluss – eine große Gemeinde mit heterogener sozioökonomischer Struktur. In Salzburg gibt es aber auch atypische Fälle: kleine Gemeinden mit einem relativ hohen und große Gemeinden mit einem relativ niedrigen Grad an sozioökonomischer Diversität. Zu diesen Fällen gehören die Gemeinden Plainfeld und Straßwalchen (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Fallbeispiele – atypische Fälle Gemeinde Plainfeld

Gemeinde Straßwalchen

Alle Gemeinden im Schnitt

729

4.582

2.190

Anteil an MaturantInnen und AkademikerInnen im Schnitt der Jahre 1979 bis 2019

21,0 %

10,5 %

13,0 %

Geschätzte Wahlbeteiligung92 im Schnitt der Jahre 1979 bis 2019

80,1 %

79,3 %

81,5 %

Beobachtete Wahlbeteiligung im Schnitt der Jahre 1979 bis 2019

82,1 %

79,9 %

81,5 %

2,0

0,06

 0,0 %

Faktoren Größe der Gemeinde (Wahlberechtigte) im Schnitt der Jahre 1979–2019

Differenz/Wahlbeteiligung Quelle: Eigene Analysen/eigene Darstellung

Plainfeld zählt zu den kleinen lokalen Einheiten und liegt im Speckgürtel rund um die Landeshauptstadt Salzburg. Bedingt durch die Lage – und grundverschieden zu den kleineren Gemeinden im ländlichen Raum – ist Plainfeld seit Ende der 1970er-Jahre stark gewachsen. So zählte die Gemeinde 363 Wahlberechtigte im Wahljahr 1979 und 1.048 im Wahljahr 2019. Demnach hat sich die Anzahl der Wahlberechtigten in Plainfeld im Zeitraum von 40 Jahren ver92 Geschätzte Wahlbeteiligung = der ermittelte Wert der Wahlbeteiligung nach der in Abschnitt 4.3 vorgestellten linearen multivariaten Regressionsanalyse.

Gemeindewahlen in Salzburg

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dreifacht. Straßwalchen gehört zu den großen Gemeinden in Salzburg. Die Gemeinde ist industriell-gewerblich strukturiert und gehört ebenso wie Plainfeld zum Salzburger Zentralraum. Die Anzahl der Wahlberechtigten ist in Straßwalchen zwar nicht so stark gewachsen wie in Plainfeld, hat sich im Beobachtungszeitraum aber fast verdoppelt (1979: 3.214/2019: 5.921). Plainfeld hat sich zu einer typischen „Bedroom Community“93 entwickelt und ist eine gefragte Wohngemeinde für vor allem jüngere Familien mit tendenziell höherem Bildungsniveau, die die Nähe der Stadt Salzburg und das dortige Arbeitsplatz-, Bildungs- und/oder Infrastrukturangebot suchen. Die Kleingemeinde weist deshalb auch einen hohen Grad an gesellschaftlicher Heterogenität auf, was sich am überdurchschnittlich hohen und steigenden Anteil der Bevölkerungsgruppe mit Matura oder Hochschulabschluss zeigt (1979: 11 %/2019: 34 %/ im Schnitt: 21 %). Straßwalchen hingegen ist deutlich homogener strukturiert. Das zeigt der unverkennbar niedrigere Anteil an AkademikerInnen und MaturantInnen (1979: 5 %/2019: 20,5 %/im Schnitt: 10,5 %). Wie kann nun zunächst für Plainfeld das Ausmaß der Wahlbeteiligung anhand der Faktoren Größe der Gemeinde und Grad sozioökonomischer Heterogenität erklärt werden? Plainfeld zählt zu den Kleingemeinden und sollte daher eine überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung aufweisen. Im Schnitt liegt die Wahlbeteiligung in allen Landgemeinden über alle Wahlgänge von 1979 bis 2019 hinweg bei 81,5 Prozent. Wird für Plainfeld die Wahlbeteiligung im Regressionsmodell nur mit dem Faktor Größe der Gemeinde geschätzt, ergibt sich der erwartete überdurchschnittlich hohe Wert bei der Partizipationsrate: 85,8 Prozent. Wird – in einem nächsten Schritt – das Schätzmodell um den in Plainfeld hohen gesellschaftlichen Heterogenitätsgrad erweitert, ergibt die Schätzung in punkto Wahlbeteiligung nunmehr einen Wert in der Höhe von 80,1 Prozent. So wird deutlich, dass der an sich positive Effekt des Milieus einer Kleingemeinde auf die Wahlbeteiligung in Folge der negativen Wirkung des Grades gesellschaftlicher Heterogenität fast vollständig eliminiert wird. Auch für die Gemeinde Straßwalchen kann gezeigt werden, wie die Größe der Gemeinde und der Grad sozioökonomischer Heterogenität Einfluss auf die Schätzung der Wahlbeteiligung nehmen. Wiederum ist der Ausgangspunkt die „Größe der Gemeinde“. Straßwalchen gehört zu den großen Gemeinden. So wäre von einer Wahlbeteiligung auszugehen, die unter dem Schnitt für alle Gemeinden und alle Jahre hinweg (81,5 Prozent) liegt. Der Erwartung entsprechend liefert die Schätzung einen Wert in der Höhe von 75,8 Prozent. Erfolgt die Erweiterung des Modells um den in Straßwalchen niedrigen Grad gesellschaftlicher Diversität, ergibt die Schätzung in punkto Wahlbeteiligung 93 Heinisch/Mühlböck, Auf die Größe kommt es an, S. 172 (s. Fn. 76).

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Armin Mühlböck

nunmehr einen Wert in der Höhe von 79,3 Prozent. Die in Straßwalchen relativ homogene gesellschaftliche Struktur wirkt sich positiv auf die Partizipationsrate aus und der negative Effekt, der von der Größe der Gemeinde ausgeht, wird deutlich abgeschwächt. Plainfeld weist im Schnitt der neun beobachteten Wahlgänge zwischen 1979 und 2019 eine Wahlbeteiligung von 82,1 Prozent aus. Mit nur zwei Faktoren, der Größe der Gemeinde und dem Grad sozioökonomischer Heterogenität, lässt sich eine durchschnittliche Wahlbeteiligung für Plainfeld über alle Jahre hinweg im Ausmaß von 80,1 Prozent ermitteln. Die Differenz zwischen dem Schätzmodell und der tatsächlichen Wahlbeteiligung liegt bei nur zwei Prozentpunkten. Straßwalchen verzeichnet im Schnitt der untersuchten Wahlgänge 79,3 Prozent Wahlbeteiligung. Modelliert ergeben sich 79,9 Prozent. Die Differenz liegt im Falle von Straßwalchen bei lediglich 0,6 Punkten. Die Schätzungen liefern demnach nahezu Punktlandungen und ergaben sich aufgrund der durchschlagenden Effekte nur zweier Faktoren, der „Größe der Gemeinde“ und dem „Grad sozioökonomischer Heterogenität“.94 4.5 Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in der Stadt Salzburg Die Stadt Salzburg ist mit 154.211 EinwohnerInnen (Stand 1.1.2019) die mit Abstand größte Gemeinde im Bundesland Salzburg (Wahlberechtigte 2019: 114.060). Die zweitgrößte Gemeinde liegt hinsichtlich der EinwohnerInnenzahl weit dahinter: Hallein mit 21.170 EinwohnerInnen (Stand 1.1.2019 – Wahlberechtigte 2019: 15.211). Da die Größe der Gemeinde einen wesentlichen Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung hat und die Stadt Salzburg gegenüber allen anderen Gemeinden im Bundesland in dieser Hinsicht die große Ausnahme darstellt, wird die Entwicklung der Wahlbeteiligung in der Stadt Salzburg in einem eigenen Abschnitt beschrieben. Die Größe der Gemeinde liefert auch gleich den ersten Ansatzpunkt für das Ausmaß der Wahlbeteiligung in der Stadt Salzburg. Diese liegt erwartungsgemäß deutlich unter den Werten für die Landgemeinden. Zuletzt im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung in der Stadt bei den Gemeinderatswahlen (und beim zeitgleich stattfindenden 1. Wahlgang zur BürgermeisterInnenwahl) bei 48,2 Prozent. In den Landgemeinden schwankte die Wahlbeteiligung zwischen 55,5 Prozent in Hallein und 93,3 Prozent in Muhr im Lungau. Im Schnitt lag die Partizipationsrate in den Landgemeinden bei 75,2 Prozent und damit mehr als deutlich über der Stadt.95 94 Ebd. 95 Land Salzburg/Referat Landesstatistik, Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der Bürgermeisterwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

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Gemeindewahlen in Salzburg

Tabelle 3: Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in Landeshauptstädten96 Stadt

Wahljahr

Wahlberechtigte

Wahlbeteiligung Gem.Rats-Wahl

Wahlbeteiligung BGM-Stichwahl

Salzburg

2019

114 060

48,20 %

43,90 %

Innsbruck

2018

104 245

50,40 %

43,70 %

Graz

2017

222 856

57,40 %

–97

Linz

2015

152 493

67,80 %

43,20 %

Klagenfurt

2015

  79 318

57,10 %

52,50 %

Wie ist die Partizipationsrate der Stadt Salzburg im Jahr 2019 von unter 50 Prozent zu beurteilen? Ein Vergleich mit den Salzburger Landgemeinden ist allein schon aufgrund des Größenunterschieds in puncto Wahlberechtigte nicht zielführend. Interessant erscheint vielmehr die Gegenüberstellung mit anderen österreichischen Landeshauptstädten, die eine ähnliche Größe wie die Stadt Salzburg aufweisen. Die Werte in Tabelle 3 zeigen, dass die Stadt Salzburg bei der letzten Gemeindewahl 2019 eine ähnliche Wahlbeteiligung wie Innsbruck erzielte (um die 50 %). Deutlich wird aber auch, dass für Salzburg der niedrigste Wert angeführt ist. Graz und Klagenfurt liegen mit rund 57 Prozent etwas, Linz mit fast 68 Prozent, deutlich darüber. Diese Werte müssen allerdings relativiert werden, wenn die Raten bei den BürgermeisterInnen-Stichwahlen betrachtet werden. Salzburg, Innsbruck und Linz wiesen dabei allesamt rund 43 Prozent aus. Nur Klagenfurt lag mit rund 53 Prozent beim zweiten Wahlgang klar darüber. Der Wert für Klagenfurt lässt sich aber wohl gut damit erklären, dass die Stadt in der Gegenüberstellung die deutlich kleinste lokale Einheit ist: Je kleiner die Gemeinde, desto höher ist die Wahlbeteiligung. So erscheint die Wahlbeteiligung in der Stadt Salzburg in der Gegenüberstellung mit ähnlichen lokalen Einheiten nicht ungewöhnlich nieder, vor allem wenn die Stichwahlen bei der Direktwahl des Stadtoberhaupts betrachtet werden.

96 Ebd.; Wahldokumentationen der Landeshauptstädte wie folgt: Innsbruck: https://www.inns bruck.gv.at/page.cfm?vpath=index/wahl-2018; Linz: https://www.linz.at/zahlen/100_Wahlen/; Klagenfurt: https://www.ktn.gv.at/Land/Wahlen; Graz: https://www.graz.at/cms/bei trag/10284906/7770230/Endergebnis_der_Gemeinderatswahl.html. 97 In der Steiermark wird der/die BürgermeisterIn nicht direkt gewählt, sondern vom Gemeinderat (= Gemeindeparlament: in den Salzburger Landgemeinden die Gemeindevertretung).

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Armin Mühlböck

Abbildung 10: Stadt Salzburg: Wahlbeteiligung bei Gemeinderatswahlen 1949–2019 90,0 86,5 85,0

80,0

79,3

Wahlbeteiligung in Prozent

77,6

78,5

79,7

75,0 73,2 71,4

70,7

70,0

65,0

64,8 62,3 60,5

60,0

57,1 55,2

55,0

50,0

49,7 48,2

45,0

1949

1953

1957

1962

1967

1972

1977

1982

1987

1992

1999

2004

2009

2014

2019

Quelle: Eigene Darstellung anhand von Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 8).

Richtet man den Fokus auf die Entwicklung der Wahlbeteiligung in der Stadt Salzburg in der 2. Republik, wird ein linearer Abwärtstrend deutlich (siehe Abbildung 10). Bis Mitte der 1960er-Jahre lag die Partizipationsrate bei rund 80 Prozent und fiel dann auf etwa 70 Prozent in den 1970er-Jahren ab. Einen ersten Tiefststand gab es im Jahr 1992 mit rund 55 Prozent. 1992 war die Wahl, bei der die Stadt-SPÖ herbe Verluste hinnehmen musste und mehr als die Hälfte ihrer WählerInnen verlor (siehe Abschnitt 3.2). Einen leichten Aufschwung bei der Wahlteilnahme gab es in den Wahlgängen 1999 und 2004. Im Jahr 1999 wurde der Bürgermeister in der Stadt Salzburg erstmalig direkt gewählt. Das könnte ein Grund für den leichten Anstieg sein. Der Anstieg basierte allerdings auf einem bis dato historischen Tiefststand im Jahr 1992. Von Page 1 einer besonders mobilisierenden Wirkung der Bürgermeisterdirektwahl kann also nicht gesprochen werden. Eine weitere „Erholung“ brachte die Wahl im Jahr 2004. Dieser „Ausreißer“ nach oben fiel auch schon bei der Entwicklung der Wahlbeteiligung in den Landgemeinden auf (siehe Abschnitt 4.1) und hat mit dem schon mehrmals erwähnten besonders mobilisierenden politischen Vorgang auf Landesebene zu tun (Machtwechsel von der ÖVP hin zu der von

Gemeindewahlen in Salzburg

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Gabi Burgstaller geführten SPÖ – siehe die Abschnitte 3.1 und 3.2). In weiterer Folge sank die Wahlbeteiligung aber wieder ab und fiel schon im Jahr 2014 unter die 50-Prozent-Marke. Für die Wahl im Jahr 2019 war mit 48,2 Prozent der niedrigste Wert für die Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in der Stadt Salzburg in der 2. Republik festzuhalten. 4.6 Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen im Vergleich zu Landtags- und Nationalratswahlen Wahlen finden auf unterschiedlichen Ebenen im politischen System statt, auf Bundes-, auf Landes- und auf Gemeindeebene, auch auf EU-Ebene. Während Bundeswahlen als sogenannten First-Order-Elections im politikwissenschaftlichen Diskurs die größte Bedeutung zugeschrieben wird, werden regionale Wahlen (Landes- und Gemeindewahlen) oft als nachrangig erachtet und deswegen – wie bereits erwähnt (siehe Abschnitt 3.1) – als sogenannte Second-Order-Elections bezeichnet.98 In der politikwissenschaftlichen Literatur wird üblicher Weise so argumentiert, dass die WählerInnen in Second-Order-Elections die Wahlentscheidung nicht auf regionale oder lokale Themen oder Inhalte stützen, sondern auf Überlegungen, die für eine andere, darüber liegende politische Ebene relevant sind. Aus der zugeschriebenen Bedeutung bzw. geringeren Relevanz werden von Second-Order-Elections auch Effekte auf die Wahlbeteiligung abgeleitet: Je wichtiger die Wahl ist, desto höher sollte die Wahlbeteiligung sein. Somit wäre zu erwarten, dass erstens bei Nationalratswahlen die Wahlbeteiligung höher ist als bei Landtags- und Gemeindewahlen und zweitens bei Landtagswahlen höher als bei Gemeindewahlen. In der Gegenüberstellung der Wahlgänge seit dem Jahr 1979 auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene im Bundesland Salzburg (siehe Tabelle 4) ist die durchschnittliche Wahlbeteiligung aller Salzburger Gemeinden (inkl. der Stadt Salzburg) bei den unterschiedlichen Wahlgängen eingetragen.99 98 Karlhofer/Pallaver, Kommunalwahlen in den Bundesländern, S. 10 (s. Fn. 23); Anthony Heath/ Ian McLean/Bridget Taylor/John Curtice (1999). Between first and second order: A comparison of voting behaviour in European and local elections in Britain, in: European Journal of Political Research, 35 (3), S. 389–414; Sofie Marien/Ruth Dassonneville/Marc Hooghe (2015). How Second Order Are Local Elections? Voting Motives and Party Preferences in Belgian Municipal Elections, in: Local Government Studies, 41 (6), S. 898–916. 99 Seit dem Jahr 1979 fanden im Bundesland Salzburg neun Landtags- und Gemeindewahlen statt. Auf Bundesebene fanden in diesem Zeitraum aber zwölf Nationalratswahlen statt. Von diesen zwölf Wahlen fanden sieben zu regulären Terminen statt, fünf Wahlgänge waren vorgezogene Wahlen. Nationalratswahlen fanden nie zeitgleich und selten im gleichen Jahr mit den regionalen Wahlen im Bundesland Salzburg statt. Für die Gegenüberstellung wurde die den Salzburger

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Tabelle 4: Wahlbeteiligung bei Nationalrats-, Landtags- und Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg. (Kalkulation auf der Grundlage der durchschnittlichen Wahlbeteiligung in den Gemeinden) NR-­ Wahlen

LT-Wahlen

Diff. LT/ NR

GV-­ Wahlen

Diff. GV/ NR

Diff. GV/ LT

1979/1979/1979

90,76

85,47

–5,29

86,88

–3,87

1,41

1983/1984/1984

90,90

84,26

–6,64

85,93

–4,97

1,68

1990/1989/1989

83,00

82,14

–0,86

82,92

–0,08

0,78

1994/1994/1994

79,36

79,92

0,56

82,46

3,09

2,53

1999/1999/1999

78,91

81,77

2,86

81,73

2,82

–0,03

2006/2004/2004

76,95

83,95

7,01

83,77

6,82

–0,19

2008/2009/2009

75,70

77,68

1,98

80,95

5,25

3,27

2013/2013/2014

70,10

75,90

5,80

75,15

5,05

–0,75

2019/2018/2019

65,60

70,19

4,59

73,67

8,07

3,48

Wahlgänge NR/LT/GV-Wahljahr

Quelle: Eigene Darstellung anhand von Land Salzburg, Landesstatistik Salzburg – Dokumentation der Gemeindevertretungswahlen seit 1949 und der BürgermeisterInnenwahlen seit 1994 (siehe Fn. 11).

Nur der auf Ebene der Gemeinden ermittelte durchschnittliche Wert der Wahlbeteiligung für alle Gemeinden im Bundesland kann die Grundlage für den Vergleich der Gemeindewahlen mit Landtags- und Nationalratswahlen sein (anstelle der im gesamten Bundesland Salzburg abgegebenen Stimmen im Verhältnis zu den im Bundesland insgesamt Wahlberechtigten – siehe dazu einleitend bei Abschnitt 3.1). Wobei die Wahlbeteiligungen sodann für alle Wahlen, also auch für die Nationalrats- und die Landtagswahlen, von der Gemeindeebene ausgehend ermittelt werden müssen. Die auf diese Art und Weise gegenübergestellten Werte für die Nationalrats-, Landtags- und Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg machen deutlich, dass bis Mitte der 1980erJahre die Wahlbeteiligung bei Bundeswahlen am höchsten war. Danach ging die Partizipation bei Nationalratswahlen aber stark zurück. Auch bei Landtagswahlen sank die Wahlbeteiligung, allerdings verhaltener. Das führte dazu, dass Ende der 1980er- und Mitte der 1990er-Jahre die Wahlbeteiligung bei Bundesund Landeswahlen auf gleicher Höhe war. Von da lag die Wahlbeteiligung bei Wahlen zeitlich am nächsten liegende Nationalratswahl herangezogen.

Gemeindewahlen in Salzburg

59

Landtagswahlen allerdings über der bei Nationalratswahlen, mit Ausnahme der NR-Wahl im Jahr 2017, bei der die Wahlbeteiligung auf 80 Prozent anstieg. Die Gemeindewahlen im Blick fielen die durchschnittlichen Partizipationsraten ab Mitte der 1990er zum Teil deutlich über jenen bei Nationalratswahlen aus (2004: Differenz +7 %, 2009: +5 %, 2014: +5 %). Werden die Salzburger Landtags- und Gemeindewahlen gegenübergestellt, wird klar, dass die Beteiligung bei Gemeindewahlen immer gleichauf oder sogar über jener bei Landtagswahlen lag. In den Jahren 1999, 2004 und 2009 fanden Landtags- und Gemeindewahlen gleichzeitig an einem Wahltermin statt. So können sich freilich ähnliche oder nahezu gleiche Partizipationsraten ergeben. Eine Notwendigkeit lässt sich daraus aber nicht ableiten, allein schon deshalb, weil bei Gemeindewahlen, anders als bei Landtagswahlen, auch EU-BürgerInnen mit ordentlichem Wohnsitz wahlberechtigt sind.100 1999 und 2004 trat der Fall einer gleichauf liegenden Wahlbeteiligung ein. 2009 war die Beteiligung bei den Gemeindewahlen allerdings höher. Die SalzburgerInnen wählten zuletzt im Jahr 2018 den Landtag. Die Wahlbeteiligung gegenüber der Vorwahl im Jahr 2013 sank im Schnitt um fast sechs Prozentpunkte auf rund 70 Prozent. Auf Bundesebene fanden im Jahr 2017 vorgezogene Wahlen in einer stark politisierten und polarisierten Stimmungslage statt, was die Beteiligung bei dieser Wahl förderte. In ganz Österreich stieg die Wahlbeteiligung auf 80 Prozent. Wenngleich verhaltener, stieg auch in Salzburg die Wahlbeteiligung bei der Nationalratswahl 2017 und lag mit 72,5 Prozent (dieser Wert ist in Tabelle 4 nicht abgebildet) leicht über der Beteiligung bei der Landtagswahl im Jahr 2018.101 Die Beteiligungsrate für die zuletzt stattgefundenen Gemeindewahlen im Jahr 2019 ergab mit im Schnitt 73,7 Prozent ein klar über den Werten für die jüngsten Nationalrats- (2019: 65,6 %) oder Landtagswahlen (2018: 70,2 %) liegendes Ergebnis. Auch die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2018 lag über der bei der Nationalratswahl 2019. Die Gegenüberstellung der nationalen mit den regionalen Wahlen in den Salzburger Gemeinden stützt somit nicht die These, dass bei regionalen und/oder lokalen Wahlen die Wahlbeteiligung niedriger ausfällt.102 Vielmehr lag die 100 AuslandsösterreicherInnen sind sowohl bei Salzburger Gemeinde- als auch Landtagswahlen nicht wahlberechtigt. Siehe dazu Land Salzburg (2020). Wahlberechtigte – Wer ist bei welcher Wahl wahlberechtigt? Abgerufen am 20.2.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/pol/wahl/ wahlberechtigte. 101 Bei der vorgezogenen NR-Wahl im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung in den Salzburger Gemeinden bei im Schnitt 65,6 Prozent. 102 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Wally im Salzburg Jahrbuch für Politik 2018, der ein anderes Bild zeichnet, weil bei der Gegenüberstellung der Wahlgänge die Wahlbeteiligung nicht auf der Ebene der Gemeinden ermittelt wurde: Wally, Politische Partizipation in Salzburg, S. 64 (s. Fn.

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durchschnittliche Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in Salzburg in etwa seit der Jahrtausendwende immer höher als bei Bundeswahlen und bei den jüngsten Wahlgängen auch höher als bei Landtagswahlen – oder sie lag zumindest gleichauf. Mit Sofie Marien Ruth Dassonneville und Marc Hooghe103 gilt es daher die Frage zu stellen: How Second Order Are Local Elections?

5. ZUSAMMENFASSUNG Anlass für den vorliegenden Beitrag waren die Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg im März des Jahres 2019. Aufgearbeitet wurden aber nicht nur Fragestellungen rund um diesen Urnengang, sondern ebenso ausgewählte Entwicklungen bei den Gemeindewahlen im Bundesland Salzburg seit dem Jahr 1949, in dem die erste Gemeindewahl in der 2. Republik abgehalten wurde. Gleich zu Beginn wurde der jüngste Wahlgang im Jahr 2019 beschrieben. Aus der Wahl ging die ÖVP als klarer Wahlsieger hervor. Sie verlor zwar in der Endabrechnung einen Bürgermeistersitz, führt aber weiterhin über 80 Prozent der Gemeinden im Land an. Zudem rang die ÖVP der SPÖ, nach der bereits gewonnen vorgezogenen Bürgermeisterwahl im Jahr 2017, erstmalig auch die Mehrheit im Salzburger Stadtparlament ab und die Volkspartei erreichte eines ihrer besten Resultate. Der SPÖ gelangen zwar einige punktuelle Erfolge, allen voran in Hallein, und sie hielt gegenüber 2014 auch die Anzahl der BürgermeisterInnen (18). Sie mussten aber dennoch das schlechteste Ergebnis in der 2. Republik bei Salzburger Gemeindewahlen hinnehmen. Weil weder die ÖVP noch die SPÖ eine Kandidatin/einen Kandidaten nominierten, fiel der FPÖ in Radstadt der Bürgermeistersessel zu, der erst zweite Sitz seit der Einführung der Direktwahl des Gemeindeoberhaupts im Jahr 1994. In der Landeshauptstadt zählte die FPÖ zu den WahlverliererInnen. Die Grünen hielten im Wesentlichen ihre Position in den Gemeinstuben im Land. Wichtig war vor allem, dass sie in der Landeshauptstadt mit ihrer neuen Spitzenkandidatin Martina Berthold ihre Position als drittstärkste Kraft behaupteten. Die NEOS mussten in der Stadt Salzburg herbe Verluste hinnehmen, verloren den Sitz in der Stadtregierung und halbierten sich auf nur mehr sechs Prozent. Im Rahmen der Besprechung der Gemeindewahlen im Jahr 2019 wurde auch die Frage nach den Frauen in der Gemeindepolitik und dabei den Bürgermeisterinnen im Bundesland Salzburg aufgeworfen, die Bedeutung des Amtsbonus bei der BürgermeisterInnenwahl thematisiert und dem Gewicht 30). 103 Marien et al., How Second Order Are Local Elections? (s. Fn. 98).

Gemeindewahlen in Salzburg

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eines möglichen Stimmensplittings zwischen Gemeindevertretungs- und BürgermeisterInnenwahl nachgegangen. Klar wurde, dass Salzburg im Bundesländervergleich nach wie vor einen der letzten Plätze einnimmt, wenn es um den Anteil der Frauen unter den BürgermeisterInnen geht, auch wenn die Anzahl der Bürgermeisterinnen in der Vergangenheit kontinuierlich anstieg (auf nunmehr acht nach den Wahlen im Jahr 2019). Der Anteil der Frauen in der kommunalen Spitzenfunktion ist aber nicht nur in Salzburg, sondern auch in allen anderen Bundesländern niedrig. Die Gründe dafür liegen gestern wie heute vor allem bei der für Frauen schwierigeren Vereinbarkeit des politischen Engagements mit der Familie und dem Beruf, der gesellschaftlichen Zuschreibung der Verantwortung für das Private und die Familie an die Frauen und – damit im Zusammenhang stehend – der verhaltenen gesellschaftlichen Akzeptanz der Frauen in der Politik. Ändern können diesen Zustand vor allem die Parteien, wenn sie bei der Listenerstellung gezielt Frauen auf Spitzenpositionen platzieren. Die Relevanz eines Amtsbonusses bestätigten einmal mehr die Gemeindewahlen in Salzburg im Jahr 2019. Amtierenden BürgermeisterInnen ist ihr Amt nur schwer abzuringen. Von den 80 amtierenden BürgermeisterInnen, die sich erneut der Wahl stellten, wurden 73 wiedergewählt. Der Umstand, dass seit der Einführung der Direktwahl im Jahr 1994 in nur wenigen Gemeinden tatsächlich Stichwahlen stattfanden, führte zu Überlegungen nach einer Wahlrechtsreform, die nur mehr einen Wahlgang bei der Direktwahl des Gemeindeoberhaupts vorsieht und bei dem schon die relative Mehrheit für die gültige Wahl zum/zur BürgermeisterIn ausreichen soll. Zudem konnte gezeigt werden, dass WählerInnen bei Gemeindewahlen zu einem konsistenten Wahlverhalten tendieren und nur sehr selten ihre Stimmen tatsächlich splitten. Nach der Aufarbeitung der Ergebnisse der Gemeindewahl im Jahr 2019 ging es um die Entwicklung der Stimmen- und Mandatsanteile der Parteien bei allen Salzburger Gemeindewahlen seit der ersten Wahl im Jahr 1949. Die Gegenüberstellung der von den Parteien erzielten Mandate im gesamten Bundesland machte klar, dass die ÖVP in allen 15 Wahlgängen seit 1949 immer und uneingeschränkt die Nummer Eins war und nur bei zwei Wahlen, 1994 und 1999, „lediglich“ die relative Mehrheit an den zu vergebenden Sitzen erzielte. 2019 gelang der ÖVP ihr fünftbestes Ergebnis. Die SPÖ erkämpfte ihren höchsten Mandatsstand mit 37 Prozent im Jahr 1969. Von da an verlor die SPÖ aber kontinuierlich an WählerInnengunst (mit Ausnahme des Ausreißers bei der Wahl im Jahr 2004). Für die SPÖ stellten die Wahlen im Jahr 2019 mit nur mehr rund 25 Prozent Mandatsanteil den historischen Tiefpunkt in dieser Entwicklung dar. Die FPÖ verbuchte ab Mitte der 1980er-Jahre bis Anfang der 2000er Erfolge in den Salzburger Gemeinden und konnte bei Wahlen in diesem Zeitraum bis zu 15 Prozent der Mandate holen. Die Partei musste in weiterer Folge

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zwar Verluste hinnehmen, konnte sich aber auf einen Mandatsanteil um die 10 Prozent einpendeln, so wie vor dem Aufschwung ab Mitte der 1980er-Jahre. Die Grünen wurden ab Mitte der 1990er-Jahre zwar zu einer fixen politischen Kraft in den Salzburger Gemeinden, vor allem in und um die Stadt Salzburg, erreichten aber nie mehr als rund fünf Prozent der Mandate im ganzen Bundesland. Die NEOS stiegen 2014 in den Gemeindewahlkampf in Salzburg ein und erst die Zukunft wird zeigen, wie nachhaltig die erzielten Erfolge sind. Anders als in den Landgemeinden, in denen die ÖVP immer dominierte, war die Stadt Salzburg stets die Hochburg der Salzburger Sozialdemokratie. Allerdings gelang es ihr nur einmal, in der Landeshauptstadt die absolute Mehrheit zu holen (1987). Gleich nach diesem Top-Ergebnis stürzte die SPÖ in der Stadt im Jahr 1992 auf nur mehr 28 Prozent ab. Mit Heinz Schaden an der Spitze erholte sie sich aber wieder und erzielte im Jahr 2004 wieder rund 44 Prozent. Nach diesem Zwischenhoch begann mit der Wahl im Jahr 2009 aber der Niedergang und die Wahl im Jahr 2019 brachte mit nur mehr rund 27 Prozent auch in der Landeshauptstadt den historischen Tiefststand. Die ÖVP hingegen, die in der Vergangenheit in der Stadt beharrlich im Schatten der dominierenden SPÖ gestanden war, holte sich 2017 mit Harald Preuner das Bürgermeisteramt und wurde 2019 erstmals in der Geschichte der 2. Republik stimmen- und mandatsstärkste Partei in der Landeshauptstadt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die ÖVP im Jahr 2014 mit hohen Verlusten unter die 20-Prozent-Marke gefallen war und Preuner schon vor der Ablöse stand. Ein weiteres Kapitel widmete sich der Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen in Stadt und Land Salzburg. Dabei war festzuhalten, dass diese in den Salzburger Landgemeinden (ohne die Stadt Salzburg) im Beobachtungszeitraum ab 1979 über lange Zeit hinweg, bis einschließlich der Wahl im Jahr 2009, auf hohem Niveau lag und in hohem Ausmaß stabil war. Erst bei den Wahlen in den Jahren 2014 und 2019 sank die Beteiligung unter die 80-Prozent-Marke. Dabei muss beachtet werden, dass die Partizipationsraten zwischen den Gemeinden stark unterschiedlich ausfielen und im Jahr 2019 zwischen rund 55 Prozent in Hallein und 94 Prozent in Forstau betrugen. In der Stadt Salzburg lag die Wahlbeteiligung bis zu den Wahlen in den 1960er-Jahre noch bei rund 80 Prozent. Im Jahr 2019 verzeichnete die Landeshauptstadt eine Partizipationsrate in der Höhe von 48,2 Prozent, deutlich unter den Werten für die Landgemeinden. In einem nächsten Schritt wurde die Frage aufgeworfen, wie die unterschiedliche Höhe der Wahlbeteiligung zwischen den Gemeinden erklärt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, wurde der Effekt zweier zentraler Faktoren, der Größe der Gemeinde (= Anzahl der Wahlberechtigten) und des Grades sozioökonomischer Heterogenität (= Anteil der AkademikerInnen und MaturantInnen), analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass sich sowohl eine höhere

Gemeindewahlen in Salzburg

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Anzahl an Wahlberechtigten als auch ein relativ hoher Grad gesellschaftlicher Heterogenität negativ auf die Wahlbeteiligung auswirken. So liegen in kleineren Gemeinden die Partizipationsraten höher als in größeren Gemeinden. Die erwarteten Zusammenhänge wurden in der Forschung wiederholt und auch in der hier angestellten Untersuchung beobachtet. Das höhere relative Gewicht der einzelnen Stimme und die leichte Überschaubarkeit des unmittelbaren Lebensumfeldes wirken sich günstig auf die Beteiligung bei Gemeindewahlen aus. Hinzu kommt, dass eher homogene sozioökonomische Strukturen höhere Partizipationsraten hervorbringen, weil dort der soziale Zusammenhalt aufgrund gemeinsamer Interessen tendenziell stärker ausgeprägt ist. Abschließend wurde die Frage aufgeworfen, ob die Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen hinter der Partizipation bei Wahlen auf den übergeordneten politischen Ebenen zurückbleibt. Gemeindewahlen werden oft als Second-Order-Elections und damit als nachrangig wichtig beschrieben. Das sollte sich in einer niedrigeren Wahlbeteiligung bei Gemeindewahlen zeigen, gegenüber Wahlen zum Landtag und vor allem zum Nationalrat. Mit der Gegenüberstellung der durchschnittlichen Wahlbeteiligung bei Bundes-, Landes- und Gemeindewahlen in den Salzburger Gemeinden konnte aber diese These nicht bestätigt werden.

MARTIN DOLEZAL/VIKTORIA ANNA JANSESBERGER

Im Schatten der Bundespolitik Die Nationalratswahl 2019 in Salzburg

1. EINLEITUNG Die Nationalratswahl am 29.9.2019 endete mit einem klaren Sieg der ÖVP unter dem früheren Bundeskanzler Sebastian Kurz. Nationalratswahlen sind Bundeswahlen, bei denen bundespolitische Aspekte im Vordergrund stehen. Der Wahlkampf wird aber auch in den Ländern und Gemeinden geführt, weshalb sich die Frage stellt, welche Bedeutung regionale Faktoren in den Kampagnen der Parteien und der Entscheidungsfindung der WählerInnen haben. Der vorliegende Beitrag geht diesen Fragen nach und untersucht sie anhand der Wahl in Salzburg. Die Vorgeschichte dieser einmal mehr vorgezogenen Neuwahl1 begann am 17.5 mit der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“, das den damaligen Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache und den Wiener Vizebürgermeister Johann Gudenus (beide FPÖ) bei heimlich gefilmten Scheinverhandlungen mit einem Lockvogel, einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte, zeigte.2 Am darauffolgenden Tag kam es zum Rücktritt der beiden Politiker und zur Aufkündigung der ÖVP-FPÖ-Koalition durch Kurz. Zehn Tage später beendete der erste erfolgreiche Misstrauensantrag in der Geschichte der Zweiten Republik die kurze Phase einer um parteifreie ExpertInnen ergänzten ÖVP-Alleinregierung. Am 3.6. wurde eine neue Regierung unter der Führung Brigitte Bierleins, der bisherigen Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs und nunmehr ersten Frau an der Spitze einer österreichischen Bundesregierung, angelobt. Die Salzburger Parteien nahmen in dieser hektischen Phase keine von den Bundesparteien abweichenden Positionen ein.3 Medien berichteten, dass Landeshauptmann Wilfried Haslauer zu denjenigen in der ÖVP gehörte, die den 1 Seit 1945 wurden die Legislaturperioden nur selten ausgeschöpft. Bei einem Schwellenwert von 90 Prozent genutzter Zeit waren 13 der 22 Wahlen seit 1949 vorgezogen. 2 Frederik Obermaier/Bastian Obermayer (2019). Die Ibiza-Affäre: Innenansichten eines Skandals, Köln. 3 Salzburger Nachrichten (SN) (28.5.2019). Mit Kanzlersturz beginnt der nächste Wahlkampf, S. 1.

Im Schatten der Bundespolitik

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Rücktritt des umstrittenen, in die Ibiza-Affäre aber nicht involvierten Innenministers Herbert Kickl als Bedingung für die Fortsetzung der Koalition definierten und in weiterer Folge auf Neuwahlen drängten.4 Die entscheidenden Kräfte in der innerparteilichen Entscheidungsfindung der Volkspartei waren laut Kickl, der schließlich aus seinem Amt entlassen wurde, jedoch die niederösterreichische und die steirische ÖVP.5 Der vorliegende Beitrag behandelt eine Fragestellung, der bislang nur wenig Augenmerk gewidmet worden ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, liegen keine Untersuchungen des landesspezifischen Charakters von Nationalratswahlen vor.6 Zunächst gibt der Beitrag einen kurzen Überblick über die in Salzburg kandidierenden Parteien und KandidatInnen. Danach folgt eine systematische Analyse der Kampagne, wobei vier Aspekte untersucht werden: die Wahlprogramme und Inserate der Parteien, die Rolle der sozialen Medien sowie die mediale Präsenz der SpitzenkandidatInnen. Nach einer Darstellung des Wahlergebnisses wird die Nationalratswahl 2019 abschließend in eine Langzeitperspektive gestellt. Dabei wird auch auf Unterschiede zwischen den Ergebnissen bei Nationalrats- und Landtagswahlen eingegangen.

2. PARTEIEN UND KANDIDATINNEN Bei der Nationalratswahl 2019 traten acht Parteien in Salzburg an: die fünf im Nationalrat vertretenen Parteien ÖVP, SPÖ, FPÖ, NEOS und Jetzt (vormals Liste Pilz) sowie die Grünen und die beiden linken Kleinparteien KPÖ und Wandel. Alle acht kandidierten auch im gesamten Bundesgebiet, weshalb es in Salzburg – wie in Niederösterreich und der Steiermark – kein regionalspezifisches Angebot gab. Im Vergleich zu 2017 fehlte vor allem die vom Salzburger Karl Schnell initiierte FPÖ-Abspaltung FLÖ/FPS. Nach dem Misserfolg bei der Landtagswahl 2018, bei der Schnell den Einzug in den Landtag mit 4,5 Prozent knapp verfehlte7, hatte er seinen Rückzug aus der Politik erklärt. Bei den Gemeindevertretungswahlen im März 2019 trat die FPS noch in zehn der 119 Gemeinden 4 Die Zeit [Österreich-Ausgabe] (23.5.2019). Einer gegen alle, S. 12. 5 Tiroler Tageszeitung (30.5.2019). „Die ÖVP betreibt ein falsches Spiel“, S. 6–7. 6 Die Ausnahme ist v. a. Kärnten, zuletzt Andreas Holzer/Martina Zandonella (2013). Die Nationalratswahl 2013 in Kärnten, in: Karl Anderwald/Karl Hren/Kathrin Stainer-Hämmerle (Hg.): Kärntner Jahrbuch für Politik 2013, S. 130–145. 7 Franz Fallend (2019). Vom Finanzskandal zur „Normalisierung“: Eine Analyse der Salzburger Landtagswahlen 2013 und 2018, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien, S. 9–48.

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

an und gewann insgesamt sieben Mandate. Auch die nicht mehr aktive Kleinstpartei Die Weißen, die 2017 dank dreier Unterschriften von Team StronachAbgeordneten bundesweit antreten konnte, kandidierte nicht.8 Die auf den Kabarettisten Roland Düringer zurückgehende Liste Gilt scheiterte 2019 in Salzburg an den 200 benötigten Unterstützungserklärungen und trat schließlich nur in Tirol und Vorarlberg an. Einen zentralen Orientierungspunkt für die Parteien bildet das Wahlrecht. Die 1992 beschlossenen, noch heute gültigen Regelungen sehen u. a. ein komplexes, dreistufiges Ermittlungsverfahren bei der Vergabe der Mandate vor. Dies hat jedoch in erster Linie Auswirkungen auf die personelle Zusammensetzung des Nationalrats, weniger auf die relative Stärke der Parteien bzw. das durchaus ausgewogene Verhältnis der Stimmen- und Mandatsanteile. Neben der Bundes- und der Landesebene sollte vor allem die Einführung der – seit 2013 – 39 Regionalwahlkreise für eine engere Verbindung zwischen den gewählten MandatarInnen und der Bevölkerung sorgen.9 In Salzburg werden maximal elf der insgesamt 183 Mandate vergeben. Diese sind auf die drei Regionalwahlkreise 5A Salzburg Stadt (drei Mandate), 5B Flachgau/Tennengau (vier) und 5C Lungau/Pinzgau/Pongau (vier) aufgeteilt. In der Praxis werden allerdings nur wenige Mandate auf dieser Ebene vergeben, weil dafür ein hoher Stimmenanteil, konkret die auf Landesebene ermittelte Wahlzahl, erforderlich ist.10 2019 waren dafür zwischen 22,1 (5B) und 39,2 Prozent der Stimmen (5A) notwendig. Die verschiedenen Schwellenwerte resultieren neben der unterschiedlich hohen Wahlbeteiligung zwischen Stadt und Land vor allem aus den unterschiedlichen Wahlkreisgrößen, d. h. der unterschiedlichen Anzahl der vergebenen Mandate. Die nicht vergebenen Sitze „wandern“ auf die jeweils nächsthöhere Ebene des Landes bzw. des Bundes. 2019 wurden je zwei Mandate in den Regionalwahlkreisen 5B und 5C vergeben, vier Mandate wurden auf der Landesebene zugeteilt, die drei übrigen gingen in den „Pool“ der auf Bundesebene zugewiesenen Mandate ein. Wie in den anderen Bundesländern wurden auch in Salzburg noch nie alle einem Bundesland zugeteilten Mandate dort vergeben. Die Parteien müssen aufgrund des Wahlsystems ihre KandidatInnen somit auf drei Ebenen nominieren, weshalb es letztlich auch mehrere, wenngleich   8 Zum Zeitpunkt der Recherche (8.10.2019) stammte der aktuellste Eintrag auf der Facebook-Seite dieser Partei (www.facebook.com/die.weissen.sind.wir.alle) vom 22.3.2018.   9 Wolfgang C. Müller (2005). Austria: A Complex Electoral System with Subtle Effects, in: Michael Gallagher/Paul Mitchell (Hg.): The Politics of Electoral Systems, Oxford, S. 397–416. 10 Dafür wird die Anzahl der gültigen Stimmen durch die Anzahl der vergebenen Mandate geteilt und auf die nächstfolgende ganze Zahl aufgerundet. 2019 betrug die Wahlzahl 27.121.

Im Schatten der Bundespolitik

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mit unterschiedlichem politischem Gewicht ausgestattete SpitzenkandidatInnen gibt. Die größte Bedeutung kommt den Listenersten auf Bundesebene zu, weshalb diese auch im Zentrum des medialen Interesses stehen. In den Bundesländern sind die LandesspitzenkandidatInnen im Normalfall prominenter und auch einflussreicher als die regionalen Listenersten. Dabei ist es in Salzburg, im Gegensatz zu den anderen Ländern, bei allen Parteien üblich, dass Platz eins der Landesliste von einer Person eingenommen wird, die auch einer der Regionalwahlkreislisten vorsteht. Auf der Bundesebene wurde 2019 keine Partei von einem Salzburger bzw. einer Salzburgerin angeführt. Nimmt man die parallele Platzierung auf einer Landesliste als Indikator für den regionalen Bezugspunkt, stellten Wien (ÖVP11, SPÖ, NEOS, Wandel), die Steiermark (Grüne, Jetzt), das Burgenland (FPÖ) und Tirol (KPÖ) die acht Listenersten. 2.1 Acht Parteien Bei der ÖVP war Peter Haubner (Wirtschaftsbund) erneut Landesspitzenkandidat und führte wie zwei Jahre zuvor auch die Liste im Regionalwahlkreis 5B an. Die übrigen Wahlkreislisten wurden wie 2017 von der ÖAAB-Vertreterin Marlene Wörndl (5A) und vom Bauernbund-Vertreter Franz Eßl (5C) angeführt. Während Haubner (2001) und Eßl (2002) seit Langem im Nationalrat tätig waren, verfügte Wörndl über keine bundespolitische Erfahrung. Die Kampagne der ÖVP war auch in Salzburg besonders stark auf Kurz zugeschnitten, nicht zuletzt in den sozialen Medien (siehe unten). Der Parteichef selbst startete am 11.6. seine „Kurz im Gespräch“ genannte lange Tour durch die Bundesländer mit Auftritten in der Stadt Salzburg, Grödig und Seekirchen.12 Auch im Rahmen der Wahlwerbung mit Prominenten, die Kurz in Videos unterstützten, spielte Salzburg eine Rolle: Nach dem umstrittenen, mit Angriffen gegen SPÖ-Spitzenkandidatin Pamela Rendi-Wagner gestalteten Auftritt der Schauspielerin Christiane Hörbiger zeigte das zweite Video den früheren Skistar und nunmehrigen Zauchenseer Hotelier Michael Walchhofer.13 Aufgrund der Diskussion über Parteispenden und überzogene Wahlkampfausgaben im Jahr 2017 verzichtete die ÖVP – nach eigenen Angaben – bundesweit sowohl auf Spenden als auch auf ausgeprägte Vorzugsstimmenkampagnen.14 Für interne Unstimmigkeiten sorgte daher der Versuch Wörndls, mit Hilfe von Vor11 Kurz, ein Wiener, kandidierte ausschließlich auf der Bundesliste. 12 SN (11.6.2019). Mehr als 100 Tage Wahlkampf. Kurz startet in Salzburg, S. 1. 13 Kronen Zeitung (27.8.2019). Weitere Promis für ÖVP, S. 2. 14 ORF Online (24.6.2019). ÖVP-internes Vorzugstimmensystem nicht mehr en vogue; ORF Online (8.8.2019). ÖVP will heuer auf Spenden verzichten.

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

zugsstimmen an ein Mandat zu gelangen.15 Im Gegensatz zu Haubner und Eßl war sie mit Platz 17 über die Landesliste nicht abgesichert und hatte als Spitzenkandidatin in der Stadt Salzburg auch keine Aussicht auf ein Direktmandat. Auch die SPÖ trat in den Regionalwahlkreisen mit denselben SpitzenkandidatInnen wie zwei Jahre zuvor an. Allerdings führte diesmal Cornelia Ecker, eine Vertreterin des Wirtschaftsflügels der Partei, die Landesliste an, da die SPÖ in ihrem Wahlkreis (5B) 2017 das beste Ergebnis erzielt hatte.16 Die Arbeiterkammer-Referentin Michaela Schmidt kandidierte erneut in der Stadt Salzburg (5A), der Pinzgauer Walter Bacher, wie Ecker seit 2013 mit einem Sitz im Nationalrat ausgestattet, im Innergebirg (5C). 2017 hatte die SPÖ auch in Salzburg von taktisch wählenden ehemaligen GrünwählerInnen profitiert.17 Diesmal, so die Einschätzung von ExpertInnen im Vorfeld der Wahl, war die Ausgangsposition deutlich schwieriger, weil es der Partei nicht gelang, die Wahl als eine Auseinandersetzung mit der ÖVP um den ersten Platz darzustellen.18 Die Kampagne der FPÖ wurde von der österreichweiten Diskussion über das Ibiza-Video und die Spesenvorwürfe gegen Strache überschattet, aber auch regionale Vorfälle sorgten für Aufregung: Im Juli gab ein Bergheimer Kommunalpolitiker aus, eigenen Aussagen zufolge, „politischer Wut“ mehrere Schüsse vom Balkon seines Hauses ab, woraufhin er aus der Partei ausgeschlossen wurde.19 In weiterer Folge führte diese Affäre zu einem Konflikt der Landespartei mit der Halleiner Stadtpartei, da deren Obmann Oliver Mitterlechner eine deutlichere Abgrenzung von „Personen mit rechtsextremem und gewaltbereitem Hintergrund“ einforderte.20 Mitterlechner wurde daraufhin wegen parteischädigendem Verhalten aus der FPÖ ausgeschlossen. Da sich die übrigen Halleiner Mandatare mit ihm solidarisierten und die Partei verließen, verloren die Freiheitlichen ihre gesamte lokale Vertretung.21 Neuer Spitzenkandidat auf Landesebene (sowie 5B) war Volker Reifenberger, da sich Parteiobfrau Marlene Svazek, die auf einem Parteitag am 6.9. in ihrer Funktion bestätigt wurde, angesichts der zahlreichen Problemfelder auf ihre landespolitische Rolle kon15 Kronen Zeitung (14.9.2019). Erste Misstöne im ÖVP-Wahlkampf, S. 24. 16 Salzburg 24 Online (24.6.2019). SPÖ Salzburg geht mit Cornelia Ecker ins Rennen. 17 Amt der Salzburger Landesregierung (2017). Nationalratswahl 2017. Endgültige Ergebnisse, Salzburg, S. 128. 18 Pinzgauer Nachrichten (12.9.2019). „Es wird spannend“. Politikwissenschafter Armin Mühlböck aus Taxenbach zu den anstehenden Nationalratswahlen und den Chancen regionaler Kandidaten, S. 8–9. 19 Der Standard (15.7.2019). „Salzburger FPÖ wird zum Sicherheitsrisiko“, S. 8. 20 SN (16.7.2019). Halleiner FPÖ geht auf Distanz: „Wäre an der Zeit, aufzuräumen“, S. L2. 21 SN (25.7.2019). Nach interner Kritik fliegt Halleins FPÖ-Chef aus der Partei, S. L2.

Im Schatten der Bundespolitik

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zentrieren wollte.22 Im Wahlkreis 5C führte der Radstädter Bürgermeister Christian Pewny die Liste an, in der Stadt Salzburg die Organisationsreferentin der Landespartei Julia Schmitzberger. Sowohl Reifenberger (2018) als auch Pewny (2017) waren seit relativ kurzer Zeit im Nationalrat tätig. Die Landesliste (sowie 5C) der NEOS wurde wie 2017 von dem bundesweit bekannten Nationalratsabgeordneten und Hotelier Sepp Schellhorn angeführt. Mit einer österreichweiten, auch über soziale Medien beworbenen „Sepp hilft aus“ genannten Tour wies er auf Probleme des Touristiksektors hin, darunter auch auf die Abschiebung dringend benötigter Lehrlinge nach einem negativen Asylbescheid.23 In der Stadt Salzburg (5A) kandidierte der Kommunalpolitiker Lukas Rößlhuber, in Flachgau/Tennengau (5B) die Marketing-Expertin Karin Feldinger. Das Antreten der Liste Jetzt war zunächst offen, da Parteigründer Peter Pilz Schwierigkeiten hatte, die benötigten drei Unterschriften von Nationalratsabgeordneten zu erhalten. Erst der fraktionslose Abgeordnete Efgani Dönmez (ex-Grüne, ex-ÖVP) ersparte Jetzt das Sammeln von Unterstützungserklärungen. Die auch in Salzburg nicht verankerte Liste war bei der Landtagswahl 2018 und den Gemeindevertretungswahlen 2019 nicht angetreten und stellte für die Nationalratswahl nur zwei Kandidatinnen auf: Wie 2017 führte die Molekularbiologin Renée Schroeder die Landesliste (sowie 5B) an, in der Stadt Salzburg (5A) kandidierte die Kommunikationswissenschafterin Barbara Leitner. Im Wahlkreis 5C wurde kein Wahlvorschlag eingereicht. Die Liste Jetzt stand auf dem Stimmzettel, allerdings blieb die Spalte mit den KandidatInnen leer. Für die Grünen ging es auch in Salzburg in erster Linie um den Wiedereinzug in den Nationalrat. Als Spitzenkandidatin (sowie 5B) wurde die ehemalige Parteichefin und Landesrätin Astrid Rössler, die nach den Verlusten bei der Landtagswahl 2018 zurückgetreten war, nominiert. Ähnlich wie Werner Kogler auf der Bundesebene sollte eine erfahrene Politikerin das Comeback der Grünen absichern. Ferner wurde Rössler als „prädestiniert“ für die aktuellen Themen Umwelt- und Klimaschutz eingeschätzt.24 In der Landeshauptstadt (5A) führte die Stadträtin Martina Berthold die Liste an, im Innergebirg (5C) der Arzt und Gemeindevertreter in Zell am See Fidelius Krammel. Die beiden linken Kleinparteien KPÖ und Wandel starteten mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Die KPÖ trat im Rahmen eines Bündnisses 22 SN Online (6.9.2019). 93,5 Prozent für Svazek: FPÖ-Parteichefin redet Funktionären ins Gewissen. 23 SN (21.6.2019). „Sepp hilft aus“: Schellhorn tourt durch Betriebe in ganz Österreich und „macht alles“, S. L2. 24 SN (14.6.2019). Rösslers grüne DNA soll es richten, S. 2.

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an; Spitzenkandidat (auch in 5A) war wie 2017 der zumindest lokal bekannte Salzburger Gemeinderat Kay-Michael Dankl. In Flachgau/Tennengau (5B) war KPÖ-Landessprecher Josef Enzendorfer Listenerster, im Innergebirg (5C) der Sozialarbeiter Peter Linhuber. Der erstmals kandidierende Wandel war auf dem Stimmzettel aufgrund der maximalen Länge von fünf Buchstaben mit der Kurzbezeichnung „WANDL“ gelistet. Landesspitzenkandidat Christoph Schütter, ein Student an der WU-Wien, kandidierte auch in der Stadt Salzburg und war insgesamt der einzige Kandidat seiner Partei. 2.2 Das große Feld der KandidatInnen Auch wenn „vertikale“ Mehrfachkandidaturen in einem Regionalwahlkreis, dem betreffenden Bundesland und auf Bundesebene möglich und weitverbreitet sind, kandidieren in Österreich, verglichen mit anderen europäischen Ländern, überdurchschnittlich viele Personen.25 2019 waren es insgesamt 3.457, wobei der Frauenanteil 41,6 Prozent betrug.26 In Salzburg hätte jede Partei maximal 58 KandidatInnen nominieren können: 22 auf der Landesliste und je zwölf in den drei Regionalwahlkreisen.27 Tatsächlich traten 214 Personen an, wobei die Grünen (51), gefolgt von FPÖ (41), SPÖ (40), ÖVP (38), NEOS (29), KPÖ (12), Jetzt (2) und Wandel (1) dieses Ranking anführten. 2017 waren es aufgrund der größeren Anzahl an Parteien insgesamt noch 240 KandidatInnen. Von den Personen, die 2019 kandidierten, hatten dies zwei Jahre zuvor bereits 111 (51,9 %) getan. Zwischen den Parteien traten dabei große Unterschiede auf: Mit 87 Prozent wies die ÖVP das stabilste KandidatInnenfeld auf, gefolgt von FPÖ (54 %), Jetzt/Liste Pilz (50 %), Grünen (49 %), SPÖ (43 %), KPÖ (33 %) und NEOS (31 %). Tabelle 1 zeigt die Anzahl der Kandidaturen in Salzburg bei den Nationalratswahlen von 2019 und 2017. Aufgrund doppelter Antritte auf Landes- und Regionalwahlkreisebene ist die Anzahl der Kandidaturen größer als die Zahl der kandidierenden Personen. Ferner sind das Durchschnittsalter der KandidatInnen, die Anteile der Frauen sowie die Anzahl der weiblichen Spitzenkan25 Martin Dolezal/Martin Haselmayer/Marcelo Jenny (2014). Kandidatinnen und Kandidaten im Wahlkampf, in: Sylvia Kritzinger/Wolfgang C. Müller/Klaus Schönbach (Hg.): Die Nationalratswahl 2013: Wie Parteien, Medien und Wählerschaft zusammenwirken, Wien, S. 87–98. 26 Diese und alle ähnlichen Daten wurden auf Basis der Wahlvorschläge und Vorzugsstimmenergebnisse erhoben. So weit möglich, wurden dabei abweichende Schreibweisen von Namen (d. h. Tippfehler und das Anführen bzw. Weglassen zweiter Vornamen) vereinheitlicht, um die kandidierenden Personen quer über die von unterschiedlichen Wahlbehörden erstellten Listen zu identifizieren. 27 Diese Maximalzahlen sind in der Nationalrats-Wahlordnung 1992 (§ 43 (1) 2) festgelegt.

6,3 %

203/ 2047

89/ 1476

6,0 %

Total

Prozentsumme

9,9 %

4,8 %

8,9 %

32,0 %





0,0 %

WANDL

4,3 %



5,2 %

KPÖ

10,4 %

sonstige4

8,2 %

GRÜNE

7,7 %

WEIßE

1,8 %

JETZT (PILZ)

5,8 %



4,7 %

NEOS

9,0 %

GILT

9,4 %

FPÖ

6,3 %



5,1 %

SPÖ

6,0 %

2017

FLÖ

5,0 %

2019

Prozentanteil der SalzburgerInnen2

Bundesebene

ÖVP

offizielle Kurzbezeichnung1

100 %

125









 1

12

22

2

22

22

22

22

2019

100 %

155



 2

 6

22



13

22

 4

20

22

22

22

2017

Anzahl



44









28

44

48

50

42

46

39

44

2019



46



61

44

53



38

52

61

43

47

41

40

2017

Alter (Mittelwert)

42 %

53









0 %

33 %

50 %

100 %

36 %

32 %

45 %

50 %

2019

39 %

61



50 %

17 %

36 %



23 %

50 %

75 %

30 %

27 %

50 %

50 %

2017

Prozentanteil

38 %

3









nein

nein

ja

ja

nein

nein

ja

nein

30 %

3



nein

nein

nein



nein

ja

ja

nein

ja

nein

nein

2017

Platz 1 2019

Frauen

Landeswahlkreis 5 Salzburg

100 %

187









 1

12

36

 2

28

36

36

36

2019

100 %

224



 2

 6

36



12

36

 4

20

36

36

36

2017

Anzahl



46









28

44

51

50

41

47

43

46

2019



46



61

44

52



37

49

61

43

45

46

44

2017

Alter (Mittelwert)

42 %

79









  0 %

  33 %

  50 %

100 %

  36 %

  28 %

  47 %

  50 %

2019

41 %

91



50 %

17 %

42 %



25 %

53 %

75 %

30 %

25 %

44 %

50 %

2017

Prozentanteil



1 (2)

1 (3)

1 (3)



1 (3)

1 (3)

2 (3)

1 (3)

1 (3)

2 (3)

1 (3)

2017

43 %

41 %

9 (21) 12 (29)









0 (1)

0 (3)

2 (3)

2 (2)

1 (3)

1 (3)

2 (3)

1 (3)

2019

(Wahlvorschläge)3

Anzahl Platz 1

Frauen

Regionalwahlkreise 5A Salzburg Stadt, 5B Flachgau/Tennengau, 5C Lungau/Pinzgau/Pongau

Tabelle 1: Salzburger KandidatInnen auf den drei Wahlkreisebenen: Die Nationalratswahlen von 2019 und 2017 im Vergleich

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Quelle: Bundesministerium für Inneres; eigene Berechnungen. Anmerkungen: 1 Die vollständigen Parteibezeichnungen sind unter Tabelle 3 angeführt. 2 Die SalzburgerInnen wurden über die in den Bundeswahlvorschlägen angeführten Adressen identifiziert. Da die Anzahl der KandidatInnen enorm variiert (2019 von 14 [WANDL] bis 409 [SPÖ]), werden nur Prozentanteile gezeigt. 3 Nicht alle Parteien erstellten Wahlvorschläge in allen Regionalwahlkreisen. 4 Hier sind drei Parteien (EUAUS, M und SLP) erfasst, die 2017 nicht in Salzburg kandidierten, aber einen Bundeswahlvorschlag einreichten.

didatinnen auf den beiden Wahlkreisebenen angeführt. Auf eine Auswertung der in den Wahlvorschlägen angeführten Berufsangaben wird aufgrund ihrer unterschiedlichen Qualität verzichtet.28 Zusätzlich zeigt Tabelle 1 auch den Anteil der Salzburger KandidatInnen auf der Bundesebene. Für eine Bewertung des Anteils der Salzburger BundeskandidatInnen kann der Anteil Salzburgs an den Wahlberechtigten herangezogen werden: 2019 betrug dieser 6,2 Prozent. Mit einem Gesamtanteil von 6,0 Prozent wurde dieser Wert bei den KandidatInnen tatsächlich nur sehr leicht unterschritten. 2017 war der Anteil mit 9,9 Prozent noch deutlich höher. Dies lag vor allem an der Liste Schnells, von dessen MitstreiterInnen nicht weniger als 32 Prozent aus Salzburg kamen, aber dennoch, neben der Kandidatur auf der Bundesliste, in verschiedenen Landes- und Regionalwahlkreisen antraten. Obwohl die Wahlordnung nicht verlangt, dass KandidatInnen in ihrem Wahlkreis wohnen, ist dies zumindest auf Ebene des Bundeslandes der Normalfall. Von den in Salzburg kandidierenden Personen gaben 97,8 Prozent (2017: 98,2 %) an, im Land zu wohnen. Bei der Anzahl der KandidatInnen geht es vor allem um die Frage, welche Parteien es schaffen, die Maximalzahlen auszuschöpfen und damit ihre Verankerung im Land und den Regionen zu betonen. Die Daten zeigen, dass die drei großen Parteien ÖVP, SPÖ und FPÖ, aber auch die Grünen, die Listen bei beiden Wahlen vollständig füllen konnten. Die in Salzburg, vor allem außerhalb der Landeshauptstadt, weniger gut verankerten NEOS fallen hier leicht, die übrigen Parteien stark zurück. Der Frauenanteil auf den Landeslisten ist von 2017 auf 2019 leicht gestiegen, bei den Spitzenpositionen blieb er mit drei ersten Plätzen gleich. Ähnlich war die Entwicklung in den Regionalwahlkreisen. Auffällig ist, dass nicht nur 28 Während einige Berufsangaben sehr genau sind, z. B. „Eisenbieger“ oder „Assistenzprofessor für Philosophie“, gibt es auch sehr viele unspezifische Angaben wie „Angestellte“. Ferner geben BerufspolitikerInnen bzw. FunktionärInnen gerne ihren erlernten Beruf an, auch wenn sie diesen schon lange nicht mehr ausgeübt haben.

Im Schatten der Bundespolitik

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die Grünen, sondern auch die ÖVP in beiden Wahlen ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen erreichten.

3. DER WAHLKAMPF IN SALZBURG Bei Nationalratswahlen stehen bundespolitische Themen und die SpitzenkandidatInnen auf Bundesebene im Zentrum des Interesses. Dies liegt nicht nur an der Funktion des Urnengangs, der Wahl des Bundesparlaments und – indirekt – der Bundesregierung, sondern auch an den kandidierenden Listen. Parteien, die in erster Linie regionalspezifische Interessen vertreten, sind schon bei Landtagswahlen eine seltene Ausnahme. Bei Nationalratswahlen traten solche Parteien, nimmt man die Listenbezeichnungen als Indikator, in der Zweiten Republik noch nie an.29 Eine Untersuchung des landesspezifischen Charakters einer Nationalratswahl muss sich daher auf die relative Bedeutung regionaler Themen und KandidatInnen im Schatten der Bundespolitik fokussieren. Dabei liegt das Augenmerk auf den beobachtbaren Unterschieden zwischen den Parteien. Um die Frage zu beantworten, wie wichtig Salzburger Aspekte im Wahlkampf waren, können verschiedene Kommunikationsmittel der Parteien und Formen der medialen Berichterstattung analysiert werden. Während sich vor allem die Wahlprogramme an die Gesamtbevölkerung richten, können Parteien mit traditionellen Formen der Wahlwerbung, aber gerade auch über soziale Medien verstärkt landesspezifische Akzente setzen. Zu diesen von den Parteien kontrollierten Kommunikationskanälen kommen noch die Berichterstattung in elektronischen und Printmedien sowie die gerade in Österreich besonders wichtigen TV-Diskussionen der SpitzenkandidatInnen. 3.1 Wahlprogramme Auch im 21. Jahrhundert sind Wahlprogramme das zentrale Dokument für die Darstellung der Programmatik von Parteien. Diese Textsorte ist für die Politikwissenschaft, gerade in Österreich, daher die zentrale Quelle bei der systematischen Erfassung des politischen Angebots bei Wahlen.30 29 Von 1945–2019 kandidierten die Parteien mit insgesamt 115 verschiedenen Bezeichnungen. Abgesehen von den „Kärntner Grünen“, einer in diesem Zusammenhang nicht relevanten grünen Abspaltung bei der Nationalratswahl 1986, enthielt kein einziger Listenname einen Hinweis auf einen regionalen Vertretungsanspruch. 30 Martin Dolezal/Laurenz Ennser-Jedenastik/Wolfgang C. Müller/Katrin Praprotnik/Anna Katha-

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Bei der Nationalratswahl 2019 legten alle acht bundesweit, d. h. auch in Salzburg, kandidierenden Parteien ein solches Dokument vor, wobei es jedoch große Unterschiede sowohl bei der Länge der Texte als auch in ihrem direkten Bezug zur Wahl gab.31 Besonders die Programme von NEOS und Wandel glichen eher einem Grundsatzprogramm.32 Regionale Aspekte spielen in dieser Textsorte im Normalfall keine Rolle. Eine mögliche Ausnahme bilden Verweise auf die Tätigkeit in einer Landesregierung, die als Vorbild für eine Regierungsübernahme oder Politikgestaltung auf Bundesebene gepriesen wird. Die SPÖ verwies in diesem Zusammenhang 2019 auf einige Vorzüge Wiens und erwähnte dabei etwa die Gesundheitspolitik oder auch den kleineren Gender-Gap bei den Einkommen. Neben positiven können aber auch negative Entwicklungen angeführt werden. So kritisierten etwa die NEOS einen leichtfertigen Umgang der Gemeinde Wien bei Ruhestandsversetzungen wegen dauernder Dienstunfähigkeit. Sieht man von einer im SPÖ-Programm enthaltenen Tabelle mit der Zahl der Lehrlinge in allen neun Bundesländern ab, enthielt jedoch kein einziges Wahlprogramm einen wie auch immer gearteten Bezug zu Salzburg. Weder NEOS noch Grüne verwiesen auf ihre Regierungstätigkeit oder eine mögliche Vorbildwirkung der seit 2018 amtierenden „Dirndl-Koalition“ (ÖVP-Grüne-NEOS) für den Bund. Zudem nannte keine Partei Salzburg als Beispiel für eine funktionierende Politikgestaltung oder politische Missstände. 3.2 Traditionelle Werbeformen: Inserate Auch im Zeitalter des Internets fließt der Großteil der Werbebudgets der Parteien in traditionelle Werbeformen wie Inserate (Printwerbung) und Plakate (Außenwerbung). Werbespots im Fernsehen, eine in vielen Ländern zentrale Form der Wahlwerbung, spielen in Österreich eine vergleichsweise geringe rina Winkler (2018). Beyond salience and position taking: How political parties communicate through their manifestos, in: Party Politics, 24 (3), S. 240–252; Martin Dolezal/Laurenz EnnserJedenastik/Wolfgang C. Müller/Anna Katharina Winkler (2012). The Life Cycle of Party Manifestos: The Austrian Case, in: West European Politics, 35 (4), S. 869–895. 31 ÖVP: „Unser Weg für Österreich. 100 Projekte“; SPÖ: „Menschlichkeit siegt. Mit diesem Programm zur Nationalratswahl 2019“; FPÖ: „Wahlprogramm NRW 2019“; NEOS: „Pläne von A bis Z. Stand Juli 2019“; Jetzt: „12 Pläne für 5 Jahre: Gerade Jetzt!“; Grüne: „Wen würde unsere Zukunft wählen? Wahlprogramm Nationalratswahl 2019“; KPÖ: „Programm“; Wandel: „Es gibt viel zu gewinnen. Konkrete Utopie – Konkrete Politik“. 32 Bei den NEOS gab es auch ein sehr kurzes „Manifest“, doch wurden beide Dokumente, das hier verwendete und das „Manifest“, von der Partei – nach telefonischer Rückfrage (29.8.2019) – als Wahlprogramm eingestuft.

Im Schatten der Bundespolitik

75

Rolle, da sie im ORF gesetzlich untersagt sind. Von Juli bis September 2019 gaben die Parteien 47,9 Prozent ihrer Werbeausgaben für Inserate und 38,8 Prozent für Plakate aus. Die Anteile der übrigen Werbekanäle – Online (9,5 %), TV (3,2 %) und Radio (0,6 %) – sind deutlich geringer. Verglichen mit 2017, aber ohne die letzten beiden Wahlkampfwochen, gab es jedoch einen starken Rückgang der Gesamtausgaben von rund 19,4 auf 6 Mio. Euro.33 Die wegen des Ibiza-Skandals überraschend angesetzte Neuwahl hatte die Parteien kurz nach der im Mai abgehaltenen Europawahl generell vor finanzielle Probleme gestellt. Verschärft wurden diese durch die nach Ibiza aufgekommene Diskussion über die Parteienfinanzierung, weshalb etwa die ÖVP gleich am Beginn des Wahlkampfs – wie erwähnt – öffentlich bekannt gegeben hatte, auf Spenden zu verzichten. Bei einer Analyse der in Österreich besonders prägnanten Nutzung von Plakaten34 stellt sich das Problem, dass nur Aussagen über die (an zentraler Stelle) archivierten Poster getroffen werden können. Diese sind nie vollständig, und Daten über die relative Häufigkeit, mit der einzelne Sujets affichiert wurden, sind für die Forschung nicht verfügbar. Dennoch sind die Zahlen eindrucksvoll: Im Salzburger Nationalratswahlkampf 2019 setzte etwa allein die FPÖ rund 2.000 Kleinplakate ein.35 Anstelle der Plakate werden im Folgenden deshalb die von den Parteien in Tages- und Wochenzeitungen geschalteten Inserate untersucht. Deren Sujets werden im Normalfall auch für die Plakate genutzt. Für die Analyse wurden die beiden in Salzburg führenden Tageszeitungen „Kronen Zeitung“ (Reichweite 32,3 %) und „Salzburger Nachrichten“ (31,3 %) sowie die in sechs Regionalausgaben publizierte Gratiswochenzeitung „Salzburger Woche“ (49,8 %) ausgewählt.36 Darin wurden alle in den letzten vier Wochen des Wahlkampfs geschalteten Inserate erfasst. Deren Inhalt, egal ob über den Text oder Bilder vermittelt, wurde mit fünf dichotomen37 Kategorien erfasst: Bezug zu Salzburg, Präsenz der BundesspitzenkandidatInnen bzw. LandesspitzenkandidatInnen, Attacken gegen andere Parteien sowie Verweise auf Sachthemen. 33 Focus (2019). Politische Werbung im Vorfeld der NR-Wahl 2019 (Unterlagen zum Pressefrühstück 9/2019). Darin nicht enthalten sind rund 0,9 Mio. € für Werbung in Facebook. Wiener Bezirkszeitung (23./24.10.2019). So füttern Österreichs Parteien Facebook & Co, S. 22. Der Standard Online (24.9.2019). NR-Wahl: SPÖ gab am meisten für Werbung aus. 34 Lore Hayek (2016). Design politischer Parteien: Plakatwerbung in österreichischen Wahlkämpfen, Wien. 35 SN (10.09.2019). Die ÖVP hat die größten, die FPÖ die meisten Wahlplakate, S. L6. 36 Media-Analyse 2018/2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.media-analyse.at. 37 Erhoben wurde also, ob das untersuchte Phänomen im Inserat vorhanden oder nicht vorhanden war.

76

Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Insgesamt schalteten die Salzburger Parteien im vierwöchigen Untersuchungszeitraum 33 Inserate: ÖVP elf, SPÖ und FPÖ neun, NEOS vier. Die übrigen Parteien verzichteten auf dieses Werbemittel. Bei den Sujets gab es einen relativ geringen Regionalisierungsgrad (33 % der Schaltungen), auch die Präsenz der Bundes- (73 %) übertraf jene der LandesspitzenkandidatInnen (9 %) bei Weitem. Rund ein Fünftel der Inserate (21 %) wies als Negative Campaigning einordbare Aspekte, worunter alle kritischen Bemerkungen über andere Parteien bzw. deren VertreterInnen fallen, auf. Rund zwei Drittel der Inserate hatten einen Bezug zu Sachthemen (64 %). Wegen der geringen Fallzahl können Unterschiede zwischen den Parteien nur sehr grob quantifiziert werden, doch fällt auf, dass der Regionalisierungsgrad bei der ÖVP (73 %) besonders hoch war. Dies traf aber nicht auf die Spitzenkandidaten zu, da Kurz tatsächlich in allen Inseraten, Haubner hingegen in keinem einzigen aufschien. Auf Negative Campaigning setzte vor allem die FPÖ (56 %), bei den Verweisen auf Sachthemen lagen FPÖ (89 %) und SPÖ (78 %) vor der ÖVP (55 %). 3.3 Neue Kommunikationsmittel: soziale Medien Spätestens seit der Nationalratswahl 2013 zählen soziale Medien zu den wichtigsten Kommunikationsmitteln der Parteien. Gerade für einzelne KandidatInnen ergeben sich im Onlinebereich, egal ob über klassische Webseiten oder die in den letzten Jahren aufgekommenen interaktiven Plattformen, zuvor nicht existierende Möglichkeiten der direkten Kommunikation mit den WählerInnen.38 Die generelle Nutzung von YouTube, Facebook, Twitter und Instagram, der vier zurzeit prominentesten Plattformen, fällt in Österreich – und damit wohl auch in Salzburg – sehr unterschiedlich aus: YouTube nutzten Ende 2018 nicht weniger als 5,8 Mio. ÖsterreicherInnen. Bei Facebook waren es 3,9 Mio., bei Instagram 2,3 Mio., Twitter lag im Vergleich dazu mit rund 155.000 Accounts deutlich zurück.39 Nicht nur auf Bundesebene, auch in Salzburg wurden die vier Plattformen im Nationalratswahlkampf eingesetzt, doch gab es dabei sowohl im Ausmaß der Nutzung als auch bei den erzielten Reichweiten und gezeigten Inhalten große Unterschiede. Abbildung 1 vergleicht die Zahl der Follower bzw. AbonnentInnen am Wahltag für die Parteien und SpitzenkandidatInnen. Während Face38 Martin Dolezal (2015). Online Campaigning by Austrian Political Candidates: Determinants of Using Personal Websites, Facebook, and Twitter, in: Policy & Internet, 7 (1), S. 103–119. 39 Artworx (2019). Social Media Report 2018/2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www. artworx.at/social-media-in-oesterreich-2018-trends-2019.

[hier die Abbildung einfügen]

Quelle: Eigene Erhebung am Wahltag (29.9.2019, 10:00 Uhr).

77

Im derund Bundespolitik BeiSchatten Facebook Instagram sind die AbonnentInnen erfasst, bei Twitter die Follower.

*Anmerkungen: Facebook: Schroeder, Dankl und Schütter führten ein privates Profil. Bei Abbildung Soziale Medien im Nationalratswahlkampf: Follower der SalzSchroeder war1:die Zahl der FreundInnen, bei Dankl die der AbonnentInnen sichtbar. Bei Schütter Parteien waren keine Daten einsehbar. Twitter: Der Jetzt-Account war nicht öffentlich. burger und SpitzenkandidatInnen. Instagram: Der SPÖ-Account war nicht öffentlich. Facebook: Parteien ÖVP SPÖ FPÖ Neos Jetzt Grüne KPÖ Wandel

Facebook: SpitzenkandidatInnen

8.383 2.592 1.025

4.867 5.325

1.493 0

14.935

5.000

10.000

Haubner Ecker Reifenberger Schellhorn Schroeder* Rössler Dankl* Schütter*

15.000

Haubner Ecker Reifenberger Schellhorn Schroeder Rössler Dankl Schütter

59

0

5.000

0

500

830

1.000

5.000

10.000

339 118

15.000

8.899

705 41

Haubner Ecker Reifenberger Schellhorn Schroeder Rössler Dankl Schütter

356 504

4.699

5.000

10.000

Instagram: SpitzenkandidatInnen

761

210

12.115

0

10.000

Instagram: Parteien

38

102

4.954

Twitter: SpitzenkandidatInnen

825 939 758

ÖVP SPÖ* FPÖ Neos Jetzt Grüne KPÖ Wandel

1.422

0

Twitter: Parteien ÖVP SPÖ FPÖ Neos Jetzt* Grüne KPÖ Wandel

2.352 883

1.500

484

685 1.496 931

0

500

1000

1500

Neben der Frage, wer welche Plattformen nutzte, zeigt Abbildung 1 auch die unterschiedlich Quelle: Eigene Erhebung am Wahltag (29.9.2019, 10:00 Uhr). Bei Facebook und Instagram sind die AbonnentInnen erfasst, bei Twittersticht die Follower. großen Reichweiten. Vor allem NEOS-Spitzenkandidat Schellhorn dabei hervor, da er *Anmerkungen: Facebook: Schroeder, Dankl und Schütter führten ein privates Profil. Bei Schroe­ bei war allendie drei Plattformen deutlichbei vor den übrigen KandidatInnensichtbar. lag und Bei abgesehen der Zahl der FreundInnen, Dankl die der AbonnentInnen Schüttervom waren keine Daten einsehbar. Deralle Jetzt-Account war nicht öffentlich. Instagram: Der SPÖ-AcFacebook-Auftritt der Twitter: SPÖ auch Landesparteien hinter sich ließ. Ein Vergleich mit den count war nicht öffentlich. Zahlen der Bundesparteien belegt, dass die regionalen Angebote bei den sozialen Medien

unterschiedlich genutzt wurden: Bei den Facebook-AbonnentInnen lagen etwa die Seiten von 62

78

Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

book von fast allen genutzt wurde, zeigen sich bei Twitter und Instagram nicht nur viele Lücken, sondern auch deutlich geringere Reichweiten. YouTube ist nicht direkt vergleichbar, da für die Nutzung kein Account benötigt wird. Die Anzahl der AbonnentInnen der Kanäle von Salzburger Parteien (ÖVP, SPÖ, FPÖ, NEOS, Grüne) und SpitzenkandidatInnen (Reifenberger und Schellhorn) ist extrem niedrig und reichte am Wahltag von fünf (Schellhorn) bis 71 (Grüne).40 Aber auch die teilweise bekannten Zahlen zu den Aufrufen aller einem Kanal zugeordneten Videos können nicht sinnvoll mit den Followern bei den drei anderen Plattformen verglichen werden, da diese nicht die interessierten Personen erfassen, sondern die Summe ihrer Klicks – und das im gesamten Zeitraum, seit der Kanal eingerichtet wurde. Sie reichten von 1.498 (Reifenberger) bis 110.500 (ÖVP). Neben der Frage, wer welche Plattformen nutzte, zeigt Abbildung 1 auch die unterschiedlich großen Reichweiten. Vor allem NEOS-Spitzenkandidat Schellhorn sticht dabei hervor, da er bei allen drei Plattformen deutlich vor den übrigen KandidatInnen lag und abgesehen vom Facebook-Auftritt der SPÖ auch alle Landesparteien hinter sich ließ. Ein Vergleich mit den Zahlen der Bundesparteien belegt, dass die regionalen Angebote bei den sozialen Medien unterschiedlich genutzt wurden: Bei den Facebook-AbonnentInnen lagen etwa die Seiten von ÖVP (13 % der AbonnentInnenzahl auf Bundesebene) und SPÖ (12 %) über dem schon weiter oben verwendeten Referenzwert des Anteils der Wahlberechtigten. Bei den Grünen war der Wert sehr ähnlich (7 %), bei FPÖ (4 %) und NEOS (3 %) niedriger. Neben der Frage der Nutzung und der unterschiedlichen Reichweiten zeigen sich auch große Unterschiede sowohl bei der Anzahl der Postings als auch im Ausmaß der aktiven Beteiligung der UserInnen (Interaktion). Aufgrund der überragenden Bedeutung von Facebook beziehen sich alle folgenden Aussagen allein auf dieses soziale Medium. Vor allem Twitter spielte etwa für die Salzburger Parteien und SpitzenkandidatInnen, mit wenigen Ausnahmen, keine Rolle.41 Abgesehen vom generell intensiven Gebrauch von Facebook bei Jetzt fällt vor allem die Zahl der Interaktionen bei der ÖVP auf. Wie ist das Ausmaß der Interaktion auf den Seiten der Landesparteien insgesamt zu bewerten? Zählt man die Summe der Interaktionen der fünf – nach der Wahl – im Nationalrat 40 Bei der ÖVP waren diese Daten nicht öffentlich zugänglich. 41 Während des vierwöchigen Untersuchungszeitraums postete Schellhorn 245 Tweets, Schütter 20 und Reifenberger zwei. Bei den übrigen (offenen) Accounts von ÖVP, SPÖ und FPÖ sowie Ecker und Dankl gab es keinen einzigen. Diese Daten wurden am 2.10.2019 (9:15 Uhr) über die Webseite allmytweets.net erhoben.

79

Im Schatten der Bundespolitik

Abbildung 2: Facebook-Seiten der Salzburger Parteien und SpitzenkandidatInnen: Postings und Interaktionen in den letzten vier Wahlkampfwochen. Postings ÖVP Haubner

28

SPÖ Ecker

27 33

FPÖ Reifenberger

ÖVP Haubner

100

32

928

5.958

Jetzt Schroeder*

337

7.179

Grüne Rössler

64 55

KPÖ Dankl*

4.001 4.071

Neos Schellhorn

63

Jetzt Schroeder* Grüne Rössler

1.226 1.119

FPÖ Reifenberger

128

11.314

2.882

SPÖ Ecker

54

Neos Schellhorn

Interaktionen

4.089 4.218

KPÖ Dankl*

25

Wandel Schütter*

1.795

Wandel Schütter* 0

100

200

300

0

5.000

10.000

Abgesehen vom generell intensiven Gebrauch von Facebook bei Jetzt fällt vor allem die Zahl

Quelle: Eigene Berechnung mit Hilfe des Programms Facepager. Die Daten wurden am Wahltag der Interaktionen bei der ÖVP auf. Wie ist das Ausmaß der Interaktion auf den Seiten der (29.9.2019, 14:12–15:26 Uhr) erhoben. Interaktionen erfassen alle Kommentare, Landesparteien insgesamt zu bewerten?Shares Zählt und manReaktionen. die Summe der Interaktionen der fünf – Anmerkungen: *Bei privaten Profilen können diese Daten nicht erhoben werden.

nach der Wahl – im Nationalrat vertretenen Parteien zusammen, erreichten sie zwischen dem 2. und dem 28. September, d. h. dem Tag vor der Wahl, gemeinsam 21.364. Dies entspricht

vertretenen Parteien zusammen, erreichten sie zwischen dem 2. und dem 28. rund 3,7 Prozent der dem Interaktionen den Wahl, Seiten der fünf Bundesparteien liegt somit September, d. h. Tag voraufder gemeinsam 21.364. und Dies entspricht rund 3,7 oben Prozent der Interaktionen auf die den Seiten der fünf Bundesparteien unter dem eingeführten Referenzwert. Nur Salzburger Volkspartei erreichte im und liegt somit unter dem oben eingeführten Referenzwert. Nur die erklärt SalzburVergleich mit der Bundespartei einen sehr hohen Wert (33,1%). Dies kann dadurch ger Volkspartei erreichte im Vergleich mit der Bundespartei einen sehr hohen werden, dass auf der Bundesebene die Facebook-Seite von Kurz eine weitaus größere Wert (33,1 %). Dies kann dadurch erklärt werden, dass auf der Bundesebene Bedeutung hatte als dievon Seite seiner Partei. die Facebook-Seite Kurz eine weitaus größere Bedeutung hatte als die Seite Eine Analyse der Inhalte der Postings auf den Facebook-Seiten der Landesparteien zeigt seiner Partei. Eine Analyse derstarken Inhalte der Postings Facebook-Seiten der Landeszunächst den erwartet regionalen Bezug. auf Fast den alle Postings der ÖVP verwiesen auf parteien zeigt zunächst den erwartet starken regionalen Bezug. Fast alle PosSalzburg, auch bei der SPÖ war der Anteil mit knapp 90 Prozent extrem hoch. Am geringsten tings der ÖVP verwiesen auf Salzburg, auch bei der SPÖ war der Anteil mit war der Prozentsatz bei den Grünen, doch betrug er immer noch zwei Drittel. Davon knapp 90 Prozent extrem hoch. Am geringsten war der Prozentsatz bei den abgesehen doch gab es auffällig Unterschiede den Parteien bei der Präsenz Grünen, betrug große er immer noch zwischen zwei Drittel. Davonsowohl abgesehen gab es auffällig große Unterschiede zwischen den Parteien sowohl bei der Präsenz der Bundesund LandesspitzenkandidatInnen als auch der Nennung von Sachthemen und der Bundesund als auch der Nennung von Sachtdem Einsatz vonLandesspitzenkandidatInnen Negative Campaigning. Tabelle 2 fasst die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse hemen und dem Einsatz von Negative Campaigning. Tabelle 2 fasst die Ergebfür die fünf nach der Wahl im Nationalrat vertretenen Parteien zusammen.

Tabelle 2 Facebook-Seiten der Salzburger Parteien: Inhalte der Postings in den letzten vier Wahlkampfwochen (Prozentwerte). Bezug zu Salzburg

ÖVP

SPÖ

FPÖ

Grüne

NEOS

Mittelwert der Parteien

99,0

89,7

69,2

66,2

71,1

79,0

63

80

Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

nisse einer Inhaltsanalyse für die fünf nach der Wahl im Nationalrat vertretenen Parteien zusammen. Tabelle 2: Facebook-Seiten der Salzburger Parteien: Inhalte der Postings in den letzten vier Wahlkampfwochen (Prozentwerte). ÖVP

SPÖ

FPÖ

Grüne

NEOS

Mittelwert der Parteien

Bezug zu Salzburg

99,0

89,7

69,2

66,2

71,1

79,0

Bundesspitzen­ kandidatIn

78,8

27,6

33,8

28,6

39,5

41,7

Landesspitzen­ kandidatIn

 3,8

13,8

36,9

36,4

15,8

21,3

Issues/ Sach­themen

11,5

75,9

61,5

77,9

36,8

52,7

Negative ­Campaigning

 6,7

20,7

35,4

10,4

 7,9

16,2

(104)

(29)

(65)

(77)

(38)

(313)

(N)

Quelle: eigene Inhaltsanalyse. Die fünf Charakteristika wurden einzeln erfasst, weshalb die Summe der Prozente pro Partei über 100 liegt. Fallzahlen: Die Postings wurden manuell erfasst. Verglichen mit Abbildung 2 führt dies zu Differenzen, da das dort verwendete Programm Facepager den Typ „Veranstaltungen“ nicht erfasst. Zusätzlich beruhen die hier gezeigten Daten auch auf einigen Postings, die zum Zeitpunkt der Erfassung mit Facepager gelöscht waren.

Bei allen fünf, wie bei den Inseraten erneut dichotom codierten K ­ ategorien wurden sowohl die Texte der Postings als auch Bilder (v. a. bei den KandidatInnen)42 und direkt eingebettete, nicht bloß verlinkte Videos herangezogen. Für den Salzburgbezug wurden Ortsangaben, Personen (darunter auch die LandesspitzenkandidatInnen) und Themen erfasst. Als Negative Campaigning wurden alle kritischen Bemerkungen über andere Parteien (bzw. deren VertreterInnen) eingestuft, nicht jedoch die in einigen Fällen vorhandenen sachlichen Vergleiche politischer Positionen.43 42 Deren Präsenz konnte auch „indirekt“ erfolgen. Viele Fotos zeigten AktivistInnen mit Plakaten, Flugblättern oder – bei der ÖVP – Installationen, die die SpitzenkandidatInnen zeigten oder auf sie verwiesen. 43 Die seltenen Angriffe gegen „Links“ wurden nicht codiert, da der Adressat unklar war. Ein Posting der ÖVP gegen „Rechts“ wurde, da eine Partei kritisiert wurde, auf die FPÖ bezogen.

Im Schatten der Bundespolitik

81

Große Unterschiede zeigen die Daten vor allem bei der Präsenz der SpitzenkandidatInnen: Während die ÖVP auch ihre regionalisierten Postings auf Kurz konzentrierte, wurde Landesspitzenkandidat Haubner sehr selten erwähnt. Bei SPÖ und NEOS war das Verhältnis weniger extrem, bei der FPÖ und den Grünen dominierte die Landesebene. Besonders auffällig bei der ÖVP war darüber hinaus der nahezu vollständige Verzicht auf Sachthemen. Im Vordergrund stand der Wahlkampf, d. h. die Unterstützung des Kanzlerkandidaten durch verschiedene Ortsgruppen, aber auch Salzburger PolitikerInnen. Diese Unterstützung erfolgte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ohne Hinweise auf thematische Positionen oder sachpolitische Leistungen in der vergangenen Legislaturperiode. Während sich der Großteil aller Postings auf die eigene Partei und die eigenen KandidatInnen bezog, gab es bei der SPÖ, vor allem aber bei der FPÖ auch einen relevanten Anteil von Postings mit Attacken gegen die politische Konkurrenz. Über die Auswirkungen des Wahlkampfs in den sozialen Medien auf das Salzburger Wahlergebnis kann nur spekuliert werden, da keine regionalspezifischen Umfragedaten vorliegen. Angesichts der enormen Bedeutung vor allem von Facebook für das Kommunikations-, aber auch Informationsverhalten der ÖsterreicherInnen ist ein professioneller Gebrauch sozialer Medien jedenfalls zu einem unabdingbaren Bestandteil zeitgenössischer Wahlkämpfe geworden. 3.4 Mediale Berichterstattung Trotz aller Anstrengungen der Parteien, die WählerInnen direkt bei Veranstaltungen oder über soziale Medien zu erreichen, sind die Print- und elektronischen Medien immer noch die zentrale Informationsquelle für den Großteil der BürgerInnen. Die Parteien versuchen daher, ihre Botschaften und KandidatInnen möglichst prominent in der Berichterstattung unterzubringen. Ausgangspunkt jeder erfolgreichen Medienstrategie ist das Erreichen von Präsenz. Wie erfolgreich waren die Salzburger KandidatInnen dabei im Vergleich zu den BundesspitzenkandidatInnen? Abbildung 3 vergleicht die Anzahl der Nennungen der SpitzenkandidatInnen auf allen drei Wahlkreisebenen in den letzten vier Wochen des Wahlkampfs, wofür – wie bei der Analyse der Inserate – die drei in Salzburg am weitesten verbreiteten Printmedien ausgewählt wurden. Neben den nach Parteien geordneten KandidatInnen ist in Klammer jeweils der Wahlkreis angeführt. Alle acht LandesspitzenkandidatInnen führten, wie erwähnt, auch eine Regionalwahlkreisliste an.

[hier Abbildung einfügen]

Quelle: Apa Defacto Campus (erfasste Medien: Salzburger Nachrichten, Kronen Zeitung

[Salzburg Krone], Salzburger Woche [sechs regionaleMartin Ausgaben]); Untersuchungszeitraum: 82 Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Wan del

KPÖ

Grüne

Jetzt

Neos

FPÖ

SPÖ

ÖVP

2.9.2019–29.9.2019. Gesucht wurden die Nachnamen der KandidatInnen, weshalb alle Treffer manuell kontrolliert wurden. Abbildung 3: Präsenz der SpitzenkandidatInnen in Salzburger Printmedien: Abkürzungen: B (Bund), S (Salzburg). 5A, 5B und 5C stehen für die Salzburger Anzahl der Artikel in den letzten vier Wahlkampfwochen. Regionalwahlkreise. Kurz (B) Haubner (S, 5B) Wörndl (5A) Eßl (5C) Rendi-Wagner (B) Ecker (S, 5B) Schmidt (5A) Walter Bacher (5C) Hofer (B) Reifenberger (S, 5B) Schmitzberger (5A) Pewny (5C) Meinl-Reisinger (B) Schellhorn (S, 5C) Rößlhuber (5A) Feldinger (5B) Pilz (B) Schroeder (S, 5B) Leitner (5A) Kogler (B) Rössler (S, 5B) Berthold (5A) Krammel (5C) Hajnal (B) Dankl (S, 5A) Enzendorfer (5B) Linhuber (5C) Mulla (B) Schütter (S, 5A)

2

7

149

19

3

13

5 7

1

279

13

9

192

16 85

15

116

8 4

2 1 1 0 1 0

100

19 27 16

8 50

100

150

200

250

300

Die Ergebnisse dieser Präsenzanalyse verdeutlichen einmal mehr die Kronen Dominanz der [SalzQuelle: Apa Defacto Campus (erfasste Medien: Salzburger Nachrichten, Zeitung burg Krone], Salzburger Woche [sechs regionale Ausgaben]); Untersuchungszeitraum: Bundespolitik. Die regionalen KandidatInnen fallen hier deutlich zurück, auch wenn2.9.2019– die 29.9.2019. Gesucht wurden die Nachnamen der KandidatInnen, weshalb alle Treffer manuell Analyse mitwurden. der Salzburger Woche ein für sie relativ leicht zugängliches, wenngleich nur kontrolliert Abkürzungen: B (Bund), S (Salzburg). 5A, 5B und 5C fürlinken die Salzburger Regionalwahlwöchentlich erscheinendes Medium einschließt. Nurstehen bei den Kleinparteien ergibt sich kreise. ein anderes Bild: Dort sticht vor allem KPÖ-Kandidat Dankl hervor. Insgesamt führt ÖVP-

Spitzenkandidat Kurz das Präsenzranking mit großem Abstand an, obwohl er im Wahlkampf

Die Ergebnisse dieser Präsenzanalyse verdeutlichen einmal mehr die Dominanz ohneBundespolitik. Amtsbonus auskommen musste. In den vier beobachteten Wochen wurde über ihn öfter der Die regionalen KandidatInnen fallen hier deutlich zurück, berichtet als über hier erfassten Salzburger KandidatInnen zusammen. auch wenn diealle Analyse mit der Salzburger Woche ein für sie relativ leicht zugängliches, wenngleich nur wöchentlich erscheinendes Medium TVeinschließt. Während der Wahlkampf auf Bundesebene besonders stark von den zahlreichen Nur bei dender linken Kleinparteien geprägt ergibt sich ein anderes Bild: Dort sticht vor alDiskussionen SpitzenkandidatInnen war, spielte das Fernsehen für die Salzburger lem KPÖ-Kandidat Dankl hervor. Insgesamt führt ÖVP-Spitzenkandidat Kurz das KandidatInnen keine große Rolle. Weder gab es eine TV-Diskussion der Präsenzranking mit großem Abstand an, obwohl er im Wahlkampf ohne Amts65 bonus auskommen musste. In den vier beobachteten Wochen wurde über ihn öfter berichtet als über alle hier erfassten Salzburger KandidatInnen zusammen.

Im Schatten der Bundespolitik

83

Während der Wahlkampf auf Bundesebene besonders stark von den zahlreichen TV-Diskussionen der SpitzenkandidatInnen geprägt war, spielte das Fernsehen für die Salzburger KandidatInnen keine große Rolle. Weder gab es eine TV-Diskussion der LandesspitzenkandidatInnen noch war die Wahlberichterstattung in der ORF-Sendung „Salzburg Heute“ besonders intensiv. Selbst der in Salzburg ansässige Privatsender Servus TV berichtete aufgrund seiner Orientierung am gesamtösterreichischen Markt in erster Linie über die bundespolitische Ebene.44 Die laut Medienberichten einzige Diskussion aller SpitzenkandidatInnen veranstaltete am 26.9. die Salzburger Buchhandlung „Bücher Stierle“. Von den nicht eingeladenen linken Kleinparteien abgesehen, fehlte dabei allein ÖVP-Spitzenkandidat Haubner, dessen Partei Terminprobleme anführte und auch keinen Ersatz schickte. Das zentrale Thema dieser Debatte, nicht zuletzt aufgrund der am darauffolgenden Tag stattfindenden Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung, war der Klimawandel.45 Zusätzlich gab es am 19.9. eine von FS1, einem nichtkommerziellen Community-TV-Sender in Salzburg, veranstaltete Diskussion, bei der die lokalen (5A) SpitzenkandidatInnen von SPÖ, FPÖ, Jetzt und KPÖ sowie VertreterInnen von ÖVP, Grünen und NEOS teilnahmen.46

4. DAS WAHLERGEBNIS Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse der Nationalratswahlen 2019 und 2017 in Salzburg sowie in ganz Österreich. Für 2019 sind auch die jeweiligen Gewinne bzw. Verluste der Parteien ausgewiesen. Ferner enthält die Tabelle die Salzburger Resultate bei der Europawahl 2019 und der Landtagswahl 2018, um einen direkten Vergleich der Wahltypen zu ermöglichen.47 Angeführt sind alle Parteien, die zumindest bei einer der vier Wahlen in Salzburg kandidierten.

44 Diese Einschätzung basiert auf der Kommunikation mit dem Sender. 45 ORF Salzburg Online (28.9.2019). Klimademos: Salzburgs Kandidaten diskutierten. 46 FS1 Diskussion zur Nationalratswahl 2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://fs1.tv/periskop-diskussion-zur-nationalratswahl-2019. 47 Ein Vergleich mit den ebenfalls 2019 abgehaltenen Gemeindevertretungswahlen ist nicht sinnvoll, da die Parteien in unterschiedlich vielen Gemeinden antraten.

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Tabelle 3: Das Salzburger Ergebnis bei der Nationalratswahl 2019 im Vergleich (Prozentwerte) Europawahl

Nationalratswahl Salzburg

Österreich

Landtagswahl

Salzburg

offizielle Kurzbezeichnung

2019

2017

Vergleich

2019

2017

Vergleich

2019

2018

ÖVP

46,4

37,7

+8,7

37,5

31,5

+6,0

43,1

37,8

SPÖ

16,4

22,2

–5,9

21,2

26,9

–5,7

18,2

20,0

FPÖ

13,7

24,4

–10,7

16,2

26,0

–9,8

14,5

18,8

NEOS

8,4

 5,7

+2,7

 8,1

5,3

+2,8

8,3

 7,3

JETZT/PILZ/ EUROPA1

1,4

 3,5

–2,1

 1,9

4,4

–2,5

1,1

n.k.

GRÜNE

12,6

 4,0

+8,6

13,9

3,8

+10,1

14,1

9,3

KPÖ

0,6

 0,6

+0,0

 0,7

0,8

–0,1

0,7

0,4

WANDL

0,5

n.k.



 0,5

n.k.



n.k.

n.k.

FLÖ/FPS

n.k.

 0,7



n.k.

0,2



n.k.

4,5

GILT

n.k.

 0,9



0,0

1,0

–0,9

n.k.

n.k.

WEIßE

n.k.

 0,2



n.k.

0,2



n.k.

n.k.

CPÖ

n.k.

n.k.



0,0

0,0

+0,0

n.k.

0,1

MAYR

n.k.

n.k.



n.k.

n.k.



n.k.

1,8

sonstige ­Parteien2

n.k.

n.k.



0,1

0,1

+0,0

n.k.

n.k.

Summe

100

100



100

100



100

100

Wahlbeteiligung

76,4

80,7

–4,3

75,6

80,0

–4,4

57,8

65,0

Quelle: Bundesministerium für Inneres, Landeswahlbehörde Salzburg. Abkürzungen: n.k. (nicht kandidiert); Nationalratswahl (NRW), Europawahl (EUW), Landtagswahl (LTW). Parteien: ÖVP (NRW: Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei; EUW: Österreichische Volkspartei; LTW: Landeshauptmann Dr. Wilfried Haslauer – Salzburger Volkspartei), SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs), FPÖ (NRW: Freiheitliche Partei Österreichs; EUW: Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) – Die Freiheitlichen; LTW: Freiheitliche Partei Salzburg), NEOS (NRW 2019 & LTW: NEOS – Das Neue Österreich; NRW 2017: NEOS – Das Neue Österreich gemeinsam mit Irmgard Griss, Bürgerinnen und Bürger für Freiheit und Verantwortung; EUW: NEOS – Das Neue Europa); JETZT (NRW 2019: JETZT – Liste Pilz)/PILZ (NRW 2017: Liste Peter Pilz)/EUROPA (EUW: EUROPA JETZT! – Initiative Johannes Voggenhuber); GRÜNE (NRW & EUW: Die Grünen – Die Grüne Alternative; LTW: Die Grünen – Die Grüne Alternative – Astrid Rössler), KPÖ (NRW

Im Schatten der Bundespolitik

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2019: Alternative Listen, KPÖ Plus, Linke und Unabhängige; NRW 2017 & LTW: Kommunistische Partei Österreichs und Plattform PLUS – offene Liste; EUW: KPÖ Plus – European Left, offene Liste), WANDL (Wandel – Aufbruch in ein gemeinwohlorientiertes Morgen mit guter Arbeit, leistbarem Wohnen und radikaler Klimapolitik. Es gibt viel zu gewinnen), FLÖ (Freie Liste Österreich & FPS Liste Dr. Karl Schnell [FLÖ])/FPS (Liste Dr. Karl Schnell – Freie Partei Salzburg), GILT (2019: Jede Stimme GILT: Bürgerparlamente & Expertenregierung; 2017: Liste Roland Düringer – Meine Stimme Gilt), WEIßE (Die Weißen – Das Recht geht vom Volk aus. Wir alle entscheiden in Österreich. Die Volksbewegung), CPÖ (Christliche Partei Österreichs), MAYR (Liste Hans Mayr – Sbg – die Salzburger Bürgergemeinschaft). Anmerkungen: 1 EUROPA wurde bei der EUW 2019 von der Liste Jetzt unterstützt. 2Parteien, die nie in Salzburg kandidierten.

Während die ÖVP 2019 im gesamten Bundesgebiet sechs Prozentpunkte dazugewann, war der Zuwachs in Salzburg mit +8,7 Prozentpunkten noch stärker. Mit 46,6 Prozent übertraf die Volkspartei das Landtagswahlergebnis von 2018 (37,8 %) deutlich und lag auch über dem Resultat bei der Europawahl im Mai (43,1 %). Die Gewinne der Grünen, des zweiten großen Wahlsiegers, fielen in Salzburg etwas geringer aus als im Bund; bei den NEOS waren sie sehr ähnlich. Die SPÖ und Jetzt verloren in Salzburg etwa gleich stark, die FPÖ noch stärker. Sehr ähnlich war auch der Rückgang bei der Wahlbeteiligung, die in Salzburg mit 76,4 Prozent rund einen Punkt über dem Bundeswert lag. Ob sich die Wahlmotive der SalzburgerInnen von jenen der übrigen ÖsterreicherInnen unterschieden, lässt sich mit den öffentlich zugänglichen, bereits publizierten Umfragedaten nicht beantworten. Mit den auf Wahlergebnissen beruhenden Wählerstromanalysen kann – vorsichtig angewendet – zumindest das Ausmaß und die Richtung des veränderten Wahlverhaltens eingeschätzt werden. Von der Landesstatistik veröffentlichte Ergebnisse zeigen, dass auch in Salzburg viele frühere FPÖ-WählerInnen, konkret 14.000 von 77.000, zur ÖVP wechselten, während rund 24.000 der Wahl fernblieben. Abweichend von den für das Bundesgebiet veröffentlichten Zahlen des Meinungsforschungsinstituts SORA gewannen die Grünen in Salzburg kaum Stimmen von der SPÖ, die 15.000 an die NichtwählerInnen verlor, sondern vor allem von der Liste Pilz (9.000) und den NEOS (7.000).48 Obwohl die SalzburgerInnen mehr Vorzugsstimmen als zwei Jahre zuvor vergaben, kam es einmal mehr zu keiner Veränderung bei den Mandaten: 7,7 Prozent (2017: 5,7 %) der ParteiwählerInnen präferierten eine Person auf der Bundesebene, 4,0 Prozent (3,6 %) auf der Landesebene und 23,4 Prozent 48 Amt der Salzburger Landesregierung (2019). Nationalratswahl 2019. Endgültige Ergebnisse, Salzburg, S. 121–123. Das Dokument ist abrufbar unter www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/nrw/ download/NRW-2019.pdf.

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

(21,5 %) in den Regionalwahlkreisen. Die starke Diskrepanz zwischen den Ebenen ist eine Folge der unterschiedlichen Stimmabgabe: Während auf der regionalen Ebene die bevorzugte Person angekreuzt wird, muss sowohl auf der Landes- als auch auf der Bundesebene der Name (oder die Reihungsnummer) auf den Stimmzettel geschrieben werden. Letzteres ist nicht nur aufwändiger, sondern auch fehleranfälliger.49 Im Bundesländervergleich nahm Salzburg bei der Vergabe von Vorzugsstimmen, ähnlich wie 2017, keine vorderen Plätze ein: auf der Bundesebene den siebenten (Platz 1: Wien 14,5 %) und sowohl auf der Landes- als auch auf der regionalen Ebene den sechsten (Platz 1: Burgenland 10,8 bzw. 41,7 %). Ein Blick auf die Salzburger Parteien zeigt tatsächlich eine gewisse Zurückhaltung der ÖVP-WählerInnen. Wie erwähnt, hatte die ÖVP im Gegensatz zu 2017 den innerparteilichen Wettbewerb um Mandate nicht mehr forciert: Von den fünf nach der Wahl im Nationalrat vertretenen Parteien gab es in Relation zu den Parteistimmen bei der ÖVP sowohl auf der regionalen (19,3 %; 2017: 19,6 %) als auch auf der Landesebene (2,9 %; 2017: 4,6 %) die wenigsten Vorzugsstimmen.50 Allein auf der Bundesebene (6,4 %; 2017: 5,9 %) lag die ÖVP dank der starken Mobilisierung für Kurz noch vor den NEOS auf dem vierten Platz. Die relativ meisten Vorzugsstimmen vergaben in Salzburg auf der Bundesebene die WählerInnen der FPÖ (14,0 %), auf der Landesebene die WählerInnen der SPÖ (6,0 %) und in den Regionalwahlkreisen jene der Grünen (33,4 %). In immerhin acht von 25 Fällen erzielten die Listenersten dieser fünf Parteien nicht das beste Ergebnis: Auf der Bundesebene betraf dies Rendi-Wagner (SPÖ) und Hofer (FPÖ), auf der Landesebene mit Haubner (ÖVP), Ecker (SPÖ) und Reifenberger (FPÖ) die Listenersten aller drei großen Parteien und in den Regionalwahlkreisen Schmidt (SPÖ, 5A), Schmitzberger (FPÖ, 5A) sowie Reifenberger (FPÖ, 5B). In den meisten Fällen erreichten bekannte PolitikerInnen das beste Ergebnis, bei der FPÖ etwa Kickl auf der Bundes- und Svazek auf der Landesebene. Auffällig war allerdings der Erfolg von Tarik Mete, einem SPÖ-Lokalpolitiker, der als Repräsentant der türkischen Community trotz unterschiedlicher Listenplätze (Bund: 134, Land: 6, Stadt Salzburg: 2) stets die meisten Vorzugsstimmen gewann.51 49 Auf der Bundesebene waren 2019 z. B. die Vorzugsstimmen für den FPÖ-Kandidaten „Hofer“ ungültig, da neben Norbert Hofer (Platz 1) auch Wolf Dieter Hofer (113) kandidierte. 50 Amt der Salzburger Landesregierung (2019). Nationalratswahl 2019. Vorzugsstimmen, Salzburg. Das Dokument ist abrufbar unter www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/nrw/download/NRW2019-VZ.pdf. 51 Profil (20.10.2019). Wer ist Tarik M.?, S. 20–21.

Im Schatten der Bundespolitik

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Da die Vorzugsstimmen keine direkten Auswirkungen auf die Zuteilung der Salzburger Mandate hatten, entschieden letztlich die Parteien über die personelle Zusammensetzung ihrer Vertretung in Wien. Wie erwähnt, wurden 2019 acht der elf Salzburger Mandate in den Regionalwahlkreisen bzw. auf Landesebene vergeben: Während die ÖVP alle vier zugeteilten Grundmandate gewann, verteilten sich die vier übrigen Mandate auf die ÖVP, die SPÖ, die FPÖ und die Grünen. Die NEOS gingen in Salzburg leer aus, allerdings war Spitzenkandidat Schellhorn mit Platz drei auf der Bundesliste abgesichert. Bei der ÖVP kam es, verglichen mit 2017, zu großen Verschiebungen zwischen den Wahlkreisebenen. Zwei Jahre zuvor hatte die Volkspartei noch je ein Direktmandat in den Regionalwahlkreisen 5B und 5C gewonnen, diesmal gewann sie in beiden einen zweiten Sitz, weshalb sie auf der Landesebene nur mehr ein Mandat vergeben konnte. Dieses unerwartete Ergebnis hatte Auswirkungen auf die Vergabe der beiden Direktmandate in Flachgau/Tennengau (5B): Nach Spitzenkandidat Haubner übernahm dort die Unternehmerin Tanja Graf das zweite Mandat, obwohl sie nur auf Platz sechs der Liste stand. Die vier vor ihr gereihten KandidatInnen mussten daher auf den ihnen zustehenden Parlamentssitz verzichten. Im Innergebirg (5C) folgte die Volkspartei der Reihung der KandidatInnen, weshalb neben Eßl die Bezirksgeschäftsführerin der ÖVP-Pinzgau, Carina Reiter, als Listenzweite neu in den Nationalrat einzog. Das Mandat auf der Landesliste erhielt die dort nur drittgereihte ÖAAB-Vertreterin Gertraud Salzmann, da die vor ihr gereihten Haubner und Graf bereits abgesichert waren. Mit dieser Vorgehensweise wurde der im Vorfeld der Wahl getroffene Beschluss des Landesparteipräsidiums, die vier amtierenden Abgeordneten Haubner, Eßl, Graf und Salzmann wieder in den Nationalrat zu entsenden, umgesetzt.52 Bei der SPÖ übernahm Landesspitzenkandidatin Ecker das einzige Mandat, weshalb Bacher aus dem Nationalrat ausschied. Zwei Jahre zuvor hatte die SPÖ noch zwei Mandate auf Landesebene gewonnen. Auch bei der FPÖ übernahm mit Reifenberger der Spitzenkandidat das einzige Mandat. Wie die SPÖ hatte die FPÖ 2017 noch zwei Mandate gewonnen, allerdings nicht auf Landesebene, sondern je eines in den Regionalwahlkreisen 5B und 5C. Pewny, Listenerster in 5B und auf der Landesliste hinter Reifenberger auf Platz zwei gereiht, verlor daher seinen Sitz im Nationalrat. Einfacher war die Situation bei den Grünen, die mit ihrer Spitzenkandidatin Rössler das neu gewonnene Landesmandat besetzten.

52 Gespräch mit ÖVP-Landesgeschäftsführer Wolfgang Mayer, Salzburg, 9.12.2019. Das Interview wurde von Armin Mühlböck (Universität Salzburg) geführt.

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5. DIE NATIONALRATSWAHL 2019 IM LANGZEITVERGLEICH In einem Langzeitvergleich steht die Nationalratswahl 2019 vor allem für das historische Tief der SPÖ, die ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945 erzielte, während die Grünen bei ihrem Comeback das beste Resultat ihrer Geschichte erreichten. Die ÖVP gewann nach dem Erfolg von 2017 erneut stark dazu und verwies die SPÖ mit einem Vorsprung von 16,3 Prozentpunkten, dem bisher bei Weitem größten Abstand, auf den zweiten Platz. Nur 1990 hatte eine Partei, damals die SPÖ, bereits einen Vorsprung von mehr als zehn Prozentpunkten auf den Zweitplatzierten erreicht. Aufgrund des Fokus auf Salzburger Besonderheiten widmet sich dieser Abschnitt dem Vergleich von Wahlergebnissen: Zunächst geht es um das Ausmaß der Übereinstimmung der Länderergebnisse bei Nationalratswahlen mit dem Bundesergebnis, danach um Unterschiede zwischen den Länderergebnissen bei Nationalrats- und den Resultaten bei Landtagswahlen. In beiden Fällen wird untersucht, welche Dynamiken seit 1945 erkennbar sind und welche Position Salzburg verglichen mit der österreichweiten Entwicklung einnimmt. Abbildung 4 widmet sich dem ersten Aspekt und vergleicht die Ergebnisse der Nationalratswahlen in Salzburg mit dem Bundesergebnis. Die Werte zeigen die Prozentpunktdifferenzen der beiden Ergebnisse, d.h. die Differenz aus dem Stimmenanteil in Salzburg und im Bund. Um die Lesbarkeit der Trendgrafik zu gewährleisten, sind links allein die drei seit 1945 bzw. 1949 relevanten Parteien angeführt. Positive Zahlen, d. h. Werte über der eingezeichneten Nulllinie, bedeuten, dass die jeweilige Partei in Salzburg besser abschnitt als bei der Nationalratswahl insgesamt. Rechts sind für alle seit 1945 zumindest einmal im Nationalrat vertretenen Parteien die mittleren Abweichungen der Salzburger Ergebnisse dargestellt. Im Langzeitvergleich der 23 Wahlen seit 1945 schnitten die drei großen Parteien sehr unterschiedlich ab: Die ÖVP startete in Salzburg mit einem sehr starken Ergebnis und lag mit 56,7 Prozent knapp sieben Prozentpunkte über dem Bundesergebnis (49,8 %). Nach dem 1949 erfolgten Eintritt der FPÖ (VdU) in den Wettbewerb glichen die Salzburger Resultate dann lange Zeit dem Bundesschnitt, ehe dieser in den letzten Jahren wieder deutlich übertroffen wurde. Verglichen mit dem Bundesergebnis, erzielte die Salzburger ÖVP 2019 sogar das relativ beste Ergebnis ihrer Geschichte. Für die FPÖ war Salzburg bis in die 1980er-Jahre eine ausgeprägte Hochburg. Die bundesweite Wachstumsphase seit 1986 hat das traditionelle Salzburger Plus sukzessive reduziert; zuletzt waren die Ergebnisse schwächer als im Bundesschnitt. 2019 bedeutete für die Salzburger FPÖ in dieser Sichtweise sogar den historischen Tiefstand. Die Ergebnisse der SPÖ weichen deutlich von den beiden Parteien ab, da sie bei allen Wahlen schlechter abschnitt als im

als bei der Nationalratswahl insgesamt. Rechts sind für alle seit 1945 zumindest einmal im Nationalrat vertretenen Parteien die mittleren Abweichungen der Salzburger Ergebnisse

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Im Schatten der Bundespolitik

dargestellt.

Abbildung RelativeStärke Stärke Parteien bei Nationalratswahlen in Salzburg: Abbildung 44:Relative derder Parteien bei Nationalratswahlen in Salzburg: Das Landesergebnis verglichen mit demmit Bundesergebnis, 1945–2019 1945–2019 (ProDas Landesergebnis verglichen dem Bundesergebnis, (Prozentpunktdifferenzen). zentpunktdifferenzen) [hier Abbildung einfügen]

Mittelwerte aller Parteien*

Entwicklung der großen Parteien 8

FPÖ

6

4,0

ÖVP

4

1,9

Grüne**

2

1,0

ÖVP

SPÖ

2019

2013

2006

Pilz/Jetzt

1999

-8

1994

-0,5

1986

-0,5

KPÖ 1979

Team Stronach

-6 1971

-4

1966

0,1

1959

BZÖ

1953

0,1

-2

1945

0

LIF/Neos

FPÖ (VdU)

-0,7

SPÖ

-5,5 -8

-6

-4

-2

0

2

4

6

Quelle: Bundesministerium für Inneres; eigene Berechnungen.

Quelle: Bundesministerium Inneres; eigene Berechnungen. Anmerkung: *Parteien, diefür seit 1945 zumindest einmal im Nationalrat vertreten waren. Anmerkung: *Parteien, die seit 1945 zumindest einmal im Nationalrat vertreten waren. **1983 70 ALÖ (Alternative Liste Österreich) und VGÖ (Vereinte Grüne Österreichs). Parteinamen: BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich); weitere siehe Tabelle 3.

Bund. Dies lässt sich auch an den in Abbildung 4 rechts angeführten Mittelwerten ablesen, bei denen die FPÖ die durchschnittlich positivste Abweichung vom Bundesergebnis aufweist und die SPÖ die negativste. In Abbildung 5 wird die Perspektive gewechselt, nicht mehr einzelne Parteien, sondern die Summe der Ergebnisse bei Wahlen werden verglichen. Untersucht wird, wie stark die Länderergebnisse bei Nationalratswahlen von den Bundesergebnissen abweichen (Abbildung 5: links) und wie stark die Länderergebnisse bei Nationalratswahlen mit den zeitlich am nächsten gelegenen Landtagswahlen übereinstimmen (Abbildung 5: rechts). Je höher die Werte des theoretisch von 0 bis 100 reichenden Dissimilaritätsindexes sind, desto unterschiedlicher fielen die Wahlergebnisse aus.53

53 Richard Johnston (1980). Federal and Provincial Voting: Contemporary Patterns and Historical Evolution, in: David. J. Elkins/Richard Simeon (Hg.): Small Worlds: Provinces and Parties in Canadian Political Life, Toronto, S. 131–178.

nächsten gelegenen Landtagswahlen übereinstimmen (Abbildung 5: rechts). Je höher die Werte des theoretisch von 0 bis 100 reichenden Dissimilaritätsindexes sind, desto 53

unterschiedlicher fielen die Wahlergebnisse aus. 90

Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

Abbildung 5 Vergleich von Wahlergebnissen: Nationalratswahlen (NRW) und Abbildung 5: Vergleich von Wahlergebnissen: Nationalratswahlen (NRW) und Landtagswahlen (LTW), 1945–2019 (Dissimilaritätsindex von 0–100). Landtagswahlen (LTW), 1945–2019 (Dissimilaritätsindex von 0–100) [Abbildung einfügen]

Salzburg

alle Bundesländer

Salzburg

2019

2013

2006

1999

1994

1986

1979

1971

1966

1959

2019

2013

2006

0

1999

0

1994

5

1986

5

1979

10

1971

10

1966

15

1959

15

1953

20

1945

20

1953

NRW-Länder vs. LTW

1945

NRW-Bund vs. NRW-Länder

alle Bundesländer

Quelle: Bundesministerium Landeswahlbehörden; eigene Berechnungen. Quelle: Bundesministerium für fürInneres Inneresund und Landeswahlbehörden; eigene Berechnungen. Anmerkung:Der DerIndex Indexbasiert basiertauf aufder derhalbierten halbiertenSumme Summe der absoluten Anmerkung: der absoluten Prozentpunktdifferenzen Prozentpunktdifferenzen allerWahlen bei beiden verglichenen Wahlenund kandidierenden Parteien undbis aller bei beiden verglichenen kandidierenden Parteien reicht von 0 (Similarität) reicht von 0 (Similarität) bis 100 (Dissimilarität). letzteWahl für die erfasste 100 (Dissimilarität). Die letzte für die BerechnungenDie erfasste ist Berechnungen die Vorarlberger LandtagsWahl ist die Vorarlberger Landtagswahl vom 13.10.2019. Links werden die Länderergebnisse wahl vom 13.10.2019. Links werden die Länderergebnisse bei Nationalratswahlen mit dem Bundesbei Nationalratswahlen mit dem Bundesergebnis verglichen, rechts die Länderergebnisse bei ergebnis verglichen, rechts die Länderergebnisse bei Nationalratswahlen mit dem Resultat der zeitNationalratswahlen mit dem Resultat der zeitlich am nächsten gelegenen Landtagswahl. lich am nächsten gelegenen Landtagswahl.

Der erste Vergleich belegt, dass sich das Ausmaß der Unterschiede zwischen den Länderergebnissen und dem Bundesergebnis bei Nationalratswahlen seit 53 Richard Johnston (1980). Federal and Provincial Voting: Contemporary Patterns and Historical Evolution, in: 1945 wenig verändert hat. Dies giltProvinces sowohland fürParties die in österreichweite EntwickDavid. nur J. Elkins/Richard Simeon (Hg.): Small Worlds: Canadian Political Life, Toronto, S. 131–178. lung, wofür der Mittelwert aller neun Länder genommen wird, als auch für 71 die Entwicklung in Salzburg. Insgesamt lag Salzburg mit Rang 6 unter dem österreichweiten Durchschnittswert. Die regionalen Wahlergebnisse bei Nationalratswahlen waren demnach dem Bundesergebnis ähnlicher als in vielen anderen Ländern. Die insgesamt größten Unterschiede gab es in Vorarlberg (Indexwert 17,1), die geringsten in der Steiermark (2,7). Auch bei einem Blick auf einzelne Wahlen weist die Steiermark die kleinste Abweichung auf (1979: 0,6), während es die größte in Kärnten gab (2008: 27,9). Ein Vergleich der beiden Wahltypen, d. h. Nationalrats- und Landtagswahlen, zeigt – bevor noch der Blick auf die Indexwerte in Abbildung 5 geworfen wird –, dass der Hochburgcharakter Salzburgs für die ÖVP bei Landtagswahlen noch stärker ausgeprägt ist als bei Nationalratswahlen. Bei 14 von 16 (88 %) regionalen Urnengängen erreichte sie Platz eins, bei Bundeswahlen gelang ihr

Im Schatten der Bundespolitik

91

dies in 16 von 23 Fällen (74 %). Während die SPÖ bei Landtagswahlen nur zweimal (2004 und 2009) den ersten Platz erreichte, konnte sie die ÖVP bei Nationalratswahlen sechsmal auf Platz zwei verweisen (1971–1979; 1990–1995). Einmal, 1999, war die FPÖ stärkste Partei. Abbildung 5 (rechts) zeigt, erneut mit Hilfe des Dissimilaritätsindexes, wie stark die Ergebnisse zwischen den beiden Wahltypen insgesamt abweichen. Verglichen mit der hohen Übereinstimmung der Ergebnisse bei den ersten beiden Nationalratswahlen, als am selben Tag auch alle neun Landtagswahlen stattfanden, hat die Dissimilarität im Verlauf der Zweiten Republik stark zugenommen. Diese Entwicklung ist jedoch keine Salzburger Besonderheit, sondern ein österreichweit beobachtbares Phänomen.54 Mit einem durchschnittlichen Indexwert von 7,5 nimmt Salzburg dabei erneut eine mittlere Position (Rang 5) unter den neun Bundesländern ein. Die Extremwerte bilden Vorarlberg (Indexwert 9,0) und das Burgenland (4,2). Während Salzburg bei der Nationalratswahl 1945 den historisch niedrigsten Wert (0,003) bei einer einzelnen Wahl aufweist, wurde der bisherige Maximalwert (29,2) 2019 in Wien erreicht. Dieser starke Zuwachs des wahlspezifischen Stimmverhaltens spiegelt die insgesamt gestiegene Mobilität der WählerInnen wider und kann auch als Indikator für den wachsenden Einfluss kurzfristiger, situativer Faktoren interpretiert werden.

6. ZUSAMMENFASSUNG Wie auf Bundesebene endete die Nationalratswahl 2019 in Salzburg mit einem klaren Sieg der ÖVP. Während die SPÖ und vor allem die FPÖ verglichen mit 2017 deutlich verloren, erzielten die Grünen bei ihrem Comeback sehr starke, die NEOS deutliche Zuwächse. War die Wahl in Salzburg somit nicht mehr als ein Spiegelbild der österreichweiten Entwicklung? Der vorliegende Beitrag ging der Frage nach, welche Bedeutung regionale Faktoren bei der Wahl hatten. Insgesamt, so das Fazit der Untersuchung, spielten diese keine große Rolle: Die Wahl in Salzburg stand im Schatten der Bundespolitik. Dieser Befund gilt sowohl für die Parteien als auch die WählerInnen. Auch wenn Salzburger Aspekte bei den Kampagnen der Parteien insgesamt keine zentrale Rolle einnahmen, zeigten sich dennoch Unterschiede sowohl 54 Amir Abedi/Alan Siaroff (1999). The Mirror has Broken: Increasing Divergence between National and Land Elections in Austria, in: German Politics, 8 (1), S. 207–227; Marcelo Jenny (2013). Austria: Regional Elections in the Shadow of National Politics, in: Régis Dandoy/Arjan H. Schakel (Hg.): Regional and National Elections in Western Europe: Territoriality of the Vote in Thirteen Countries, London, S. 27–46.

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Martin Dolezal/Viktoria Anna Jansesberger

bei den untersuchten Kommunikationsmitteln als auch zwischen den Parteien. Wie erwartet, wiesen die Wahlprogramme die geringste regionale Orientierung auf. Tatsächlich verwies keine einzige Partei darin auf Salzburg. Bei der klassischen Werbung mit Inseraten hob vor allem die ÖVP den regionalen Bezug hervor. Auch bei den sozialen Medien war der regionale Faktor bei der Volkspartei am stärksten ausgeprägt. Das gilt jedoch nicht für die SpitzenkandidatInnen, da die ÖVP durchwegs ihren Kanzlerkandidaten Sebastian Kurz ins Rampenlicht rückte. Eine derart starke Fokussierung auf die Bundesspitze war bei den anderen Parteien nicht vorhanden. Die außergewöhnliche Rolle von Kurz zeigte sich auch bei dessen medialer Präsenz, die jene der anderen BundesspitzenkandidatInnen deutlich übertraf. Während seine direkten KonkurrentInnen aber durchaus Gegenstand der Berichterstattung waren, spielten die regionalen KandidatInnen in den Salzburger Printmedien keine relevante Rolle. Auch das Fernsehen gab ihnen nur wenige Auftrittsmöglichkeiten. Nicht nur bei den Parteien, auch bei den WählerInnen standen bundespolitische Faktoren im Vordergrund. Dies zeigte sich schon bei den Wahlergebnissen, die, wie erwähnt, dem österreichweiten Trend folgten. Unterschiede gab es allein im Ausmaß der Gewinne und Verluste der Parteien, nicht bei der Richtung der WählerInnenströme. Ob sich die Motive der SalzburgerInnen von denen der übrigen WählerInnen unterschieden, kann angesichts fehlender regionalspezifischer Umfragen nicht beantwortet werden. Bei der Vergabe der Vorzugsstimmen auf Bundesebene orientierten sich die SalzburgerInnen jedoch – weitgehend – an den Vorschlägen der Bundesparteien und auch insgesamt spielten Vorzugsstimmen, bei denen regionale Faktoren bedeutend sein können, in Salzburg eine kleinere Rolle als in anderen Bundesländern. Der abschließende Langzeitvergleich von Wahlergebnissen belegte zunächst die unterschiedliche Rolle des Landes für die drei großen Parteien: Während Salzburg für die ÖVP in den letzten Jahren auch bei Nationalratswahlen wieder eine Hochburg geworden ist, hat sich die relative Position der Salzburger FPÖ deutlich verschlechtert. Ihre Ergebnisse lagen zuletzt stets unter dem Bundesschnitt. Letzteres gilt auch für die SPÖ, doch ist dies keine neue Entwicklung, sondern trifft für alle Wahlen seit 1945 zu. Die Rolle bundesweiter Entwicklungen zeigte sich auch beim Vergleich der regionalen Ergebnisse mit dem Bundesergebnis bei Nationalratswahlen sowie beim Vergleich der Resultate bei Landtags- und Nationalratswahlen. In beiden Fällen verlaufen die zeitliche Entwicklung in Salzburg und die generelle Entwicklung der neun Bundesländer sehr ähnlich, doch liegt in beiden Fällen das Ausmaß der Dissimilarität in Salzburg unter dem Mittel. Das Wahlverhalten in Salzburg folgt demnach stärker österreichweiten Entwicklungen als in anderen Ländern.

FRANZ FALLEND

Europawahlen als „Nebenwahlen“ Die Wahlen zum ­Europäischen Parlament 2019 in Salzburg im historischen Vergleich

1. EINLEITUNG Im Mai 2019 fanden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zum neunten Mal die direkten Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt, die gemeinhin auch als „Europawahlen“ bezeichnet werden. In Österreich wurde die Wahl am 26.5. durchgeführt, und zwar unter spektakulären Umständen. Knapp zuvor, am 17.5., veröffentlichten das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ das inzwischen berühmt-berüchtigte „Ibiza-Video“. Das 2017 heimlich in einer Villa auf der Insel Ibiza aufgenommene Video zeigte den damaligen FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache und seinen Parteikollegen, den Wiener Vizebürgermeister Johann Gudenus, wie sie der vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen Ratschläge erteilten u. a. zur illegalen Finanzierung der FPÖ und zur Übernahme der auflagenstärksten österreichischen Boulevardzeitung, der „Kronen Zeitung“. Darüber hinaus stellten die beiden Politiker für den Fall einer Regierungsbeteiligung der FPÖ der Russin lukrative Staatsaufträge in Aussicht.1 Das Video löste ein politisches Erdbeben aus. Schon am folgenden Tag kündigte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) die von ihm angeführte „türkisblaue“ Regierungspartnerschaft mit der FPÖ auf.2 Nach dem Rücktritt von Vizekanzler Strache und der übrigen FPÖ-MinisterInnen amtierte einige Tage lang eine aus ÖVP-MinisterInnen und ExpertInnen bestehende Minderheitsregierung unter Führung von Kurz. Dass die Oppositionsparteien Liste Jetzt und SPÖ aufgrund des Videos Misstrauensanträge gegen den Bundeskanzler bzw. die gesamte Bundesregierung ankündigten, verlieh den bevorstehenden Europawahlen zusätzliche Brisanz. Tatsächlich wurde die Regierung Kurz am 1 Frederik Obermaier/Bastian Obermayer (2019). Die Ibiza-Affäre: Innenansichten eines Skandals, Köln. 2 Der Standard Online (18.5.2019). Kurz verkündet Neuwahl – Van der Bellen: „Beschämende Bilder“ – Strache tritt zurück; Kurier Online (18.5.2019). „Genug ist genug“: Kurz verkündet Ende von Türkis-Blau und Neuwahlen.

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Franz Fallend

27.5., einen Tag nach der Wahl, durch ein mehrheitlich von SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt getragenes Misstrauensvotum des Nationalrates gestürzt und in der Folge von Bundespräsident Alexander van der Bellen ihres Amtes enthoben. Für den 29.9. wurden vorgezogene Nationalratswahlen ausgerufen. Durch das Video und den darauffolgenden Regierungssturz wurden die Wahlkampfstrategien der politischen Parteien für die Europawahlen über den Haufen geworfen. Damit wurde ein Effekt noch weiter verstärkt, der als allgemeines Muster von Europawahlen gelten kann: Obwohl es sich dabei eben um „Europawahlen“ handelt, stehen meist weniger europäische als vielmehr nationale Themen im Vordergrund. Viele Studien haben gezeigt, dass die nationalen Regierungsparteien dabei mit Stimmenverlusten rechnen müssen, weil die Europawahlen von vielen WählerInnen als Test- bzw. Protestwahlen betrachtet werden, in denen sie ihre Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung ausdrücken können, indem sie Oppositions- bzw. kleineren Parteien ihre Stimme geben. Da es bei Europawahlen vermeintlich „um weniger geht“ als bei nationalen Parlamentswahlen, fällt dies leichter. Gleichzeitig liegt aus diesem Grund die Wahlbeteiligung in der Regel unter der bei nationalen Wahlen. Als Folge dessen werden Europawahlen – genauso wie regionale Wahlen – in der politikwissenschaftlichen Literatur häufig als „Nebenwahlen“ (auf Englisch „Second Order Elections“) bezeichnet und behandelt. Der vorliegende Beitrag untersucht jedoch nicht die Europawahl auf nationaler, sondern auf regionaler Ebene. Als Fallbeispiel dient das Bundesland Salzburg. Die zentrale Fragestellung lautet, auf welche Weise bzw. in welchem Ausmaß sich dabei der behauptete Charakter als „Nebenwahlen“ niederschlägt. Im folgenden Abschnitt 2 wird die Theorie der „Nebenwahlen“ in Bezug auf Europawahlen näher erläutert. In diesem Zusammenhang wird auch auf das Wahlsystem, auf die politische Bedeutung des EP sowie auf Probleme bei der Analyse der regionalen Dimension eingegangen. In Abschnitt 3 werden der Wahlkampf und das Wahlergebnis der Europawahl 2019 in Österreich, mit Fokus auf dem Land Salzburg, beschrieben und analysiert. Dabei werden u. a. der Stellenwert von Salzburger PolitikerInnen auf den bundesweiten KandidatInnenlisten der Parteien, deren Rolle im bundesweiten wie regionalen Wahlkampf, das Salzburger Wahlergebnis im Vergleich mit dem allgemeinen Bundestrend und herausragende Ergebnisse Salzburger PolitikerInnen bei den Vorzugsstimmen untersucht. Anschließend stellt Abschnitt 4 die Ergebnisse der Wahl 2019 in einen historischen Zusammenhang mit den Ergebnissen aller vorherigen Wahlen seit 1996 (nach dem EU-Beitritt Österreichs 1995). Abschnitt 5 rundet den Beitrag mit einem Resümee ab.

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2. EUROPAWAHLEN UNTER NATIONALEN UND REGIONALEN VORZEICHEN? Seit 1979 wird das EP von den EU-BürgerInnen direkt gewählt, wobei in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Wahlsysteme angewendet werden. In Österreich, das der EU erst 1995 beitrat, wurde die erste Direktwahl 1996 abgehalten. Trotz des zuletzt gestiegenen Stellenwerts des EP im Verhältnis zu den übrigen EU-Institutionen gelten Europawahlen – besonders im Verhältnis zu nationalen Parlamentswahlen, aus denen die nationalen Regierungen hervorgehen – immer noch als „Nebenwahlen“. Das schlägt sich vor allem in einer relativ niedrigeren, bis zu den Wahlen 2014 darüber hinaus stetig sinkenden Wahlbeteiligung nieder. Im Folgenden werden die genannten Aspekte näher dargestellt. 2.1 Das Wahlsystem bei Europawahlen Die jeweiligen nationalen Mitglieder des EP werden für eine Legislaturperiode von fünf Jahren gewählt. Seit 1999, als auch Großbritannien (nur für die Europawahlen) vom Mehrheitswahlsystem abging, erfolgt die Wahl nach einem einheitlichen Wahlsystem, insofern als in allen Mitgliedstaaten das Verhältniswahlsystem (wenngleich in unterschiedlichen Varianten) angewendet wird.3 Dabei werden die Stimmenverhältnisse zwischen den Parteien weitgehend proportional auf deren Anteile an den nationalen Sitzen im EP übertragen, sodass auch kleinere Parteien gute Chancen auf Repräsentation haben. In Österreich folgt das Wahlsystem zur Europawahl demjenigen zum Nationalrat und zu den Landtagen. Die Europawahlordnung legt fest, dass für die Wahl das gesamte Bundesgebiet einen einheitlichen Wahlkörper bildet, d. h., unterhalb der Bundesebene gibt es keine nachgeordnete Ebene, auf der Mandate vergeben werden. Alle kandidierenden Parteien reichen somit nur einen bundesweiten Wahlvorschlag ein. Wieweit darauf KandidatInnen aus den einzelnen Regionen vertreten sind, ist eine innerparteiliche Angelegenheit. Die Verteilung der Mandate auf die Parteien erfolgt mittels des d’Hondtschen Verfahrens. Um Mandate zugeteilt zu bekommen, muss eine Partei im gesamten Bundesgebiet mindestens 4 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. Durch Vorzugsstimmen im Umfang von mindestens 5 Prozent der auf ihre Parteiliste entfallenen gültigen Stimmen können KandidatInnen auf der Liste vorgereiht werden (§ 77).4 3 Neill Nugent (2017). The government and politics of the European Union, 8. Auflage, London, S. 210 f. 4 Nähere Informationen zum Wahlsystem finden sich auf folgenden Websites: Österreichisches

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2.2 Die Bedeutung des Europäischen Parlaments Aus einer europäischen und demokratiepolitischen Perspektive kommt den Europawahlen eine große Bedeutung zu, weil das EP – im Gegensatz zur Europäischen Kommission und zum Rat der Europäischen Union – als einzige EUInstitution von den BürgerInnen der Mitgliedstaaten direkt gewählt werden kann, was ihm eine hohe Legitimation verleiht. Zudem hat es seit seiner ersten Direktwahl 1979 einen beträchtlichen Zuwachs an Kompetenzen erfahren. Seit dem Vertrag von Maastricht (1993) müssen der Präsident/die Präsidentin der Kommission und – nach öffentlichen Hearings – die übrigen Kommissionsmitglieder vor deren Ernennung vom EP bestätigt werden. Früher hatte das Parlament im Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene gegenüber Kommission und Rat nur eine untergeordnete Position inne. Der Vertrag von Lissabon (2009) dehnte das sogenannte Ko-Dezisionsverfahren, das dem Parlament eine gleichberechtigte Stellung einräumt, jedoch auf die meisten Angelegenheiten aus, die in die Zuständigkeit der EU fallen.5 Beide institutionellen Änderungen – die Direktwahl und die Erweiterung der Kompetenzen des EP – erfolgten auch maßgeblich aus der Überlegung heraus, dadurch das oft beklagte „Demokratiedefizit“ der EU zu verringern.6 Aus der Warte Österreichs ist zudem noch ein dritter Faktor zu betonen, nämlich dass die kleineren Mitgliedstaaten im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsgröße überdurchschnittlich viele Mitglieder ins EP entsenden dürfen.7 Die ÖsterreicherInnen wählten 1996–1999 21, 2004 18, 2009 17 und 2014– 2019 18 Mitglieder. Im Verhältnis zur Gesamtgröße des Parlaments, das sich 2019 aus 751 Mitgliedern zusammensetzte, ist das freilich immer noch eine geringe Zahl. Das macht die Durchsetzung nationaler Interessen schwierig und erfordert bei politischen Initiativen die Suche nach KoalitionspartnerInnen. Alle drei genannten Faktoren legen jedoch nahe, dass Europawahlen von den Parlament (2020). Wahlen: Von der Stimme zum Mandat. Abgerufen am 25.6.2020 unter https: //www.parlament.gv.at/PERK/FAQ/WAHL; Bundesministerium für Inneres (BMI) (2020). Europawahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen; Bundesgesetz über die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments (Europawahlordnung – EuWO), i. d. F. BGBl. I Nr. 32/2018. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10001436. 5 Ian Bache/Stephen George/Simon Bulmer (2011). Politics in the European Union, 3. Auflage, Oxford-New York, S. 293 ff. 6 Ebd., S. 296 f. 7 Doris Dialer/Andreas Maurer/Margarethe Richter (2015). Handbuch zum Europäischen Parlament, Baden-Baden, S. 75 ff.; Nugent, The government and politics of the European Union, S. 211 (s. Fn. 3).

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österreichischen wie den Salzburger BürgerInnen eine nicht unbeträchtliche – und zunehmende – eigenständige Bedeutung zugemessen werden sollte. 2.3 Europawahlen als „Nebenwahlen“ Trotz der gestiegenen Bedeutung des EP zeichnen sich Europawahlen dadurch aus, dass die Wahlbeteiligung regelmäßig deutlich unter derjenigen bei nationalen Parlamentswahlen liegt. 2014 wurde mit 42,6 Prozent im Durchschnitt aller EU-Mitgliedstaaten der bisherige historische Tiefpunkt erreicht.8 Auch eine verstärkte Medienpräsenz und vermehrte Kontakte mit Interessengruppen haben dem EP bisher nicht dazu verhelfen können, einen direkten Draht mit den BürgerInnen herzustellen und sie zu annähernd gleich hoher Stimmabgabe wie bei nationalen Wahlen zu bewegen. Die meisten Mitglieder des EP sind einer breiteren Öffentlichkeit nach wie vor unbekannt.9 Die niedrige Wahlbeteiligung ist der sichtbarste Indikator dafür, dass Europawahlen in den Augen vieler BürgerInnen nach wie vor als „Nebenwahlen“ gelten. Mit diesem Begriff werden Wahlen bezeichnet, bei denen politische Ämter besetzt werden, mit denen weniger reale Macht verbunden ist. Dementsprechend werden nationale Parlamentswahlen, bei denen die Zusammensetzung der nationalen Regierungen und damit die zukünftige nationale Politik beeinflusst werden kann, von WählerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen im Vergleich zu Europawahlen als wichtiger eingeschätzt. Bei ihnen steht offensichtlich mehr auf dem Spiel.10 Neben der niedrigeren Wahlbeteiligung hat die geringere Wertschätzung der Europawahlen noch einen weiteren Effekt: Nationale Regierungs- bzw. große Parteien werden bei Europawahlen häufig von den WählerInnen „abgestraft“, weil diese Wahlen – eben da sie weniger bedeutend erscheinen – auch dazu genutzt werden können, um Unzufriedenheit mit den Parteien auszudrücken, die die nationale Politik prägen. Bei den Europawahlen fällt   8 Europäisches Parlament (2019). Ergebnisse der Europawahl 2019, Brüssel. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://europarl.europa.eu/election-results-2019/de/wahlbeteiligung/.   9 Dialer et al., Handbuch zum Europäischen Parlament, S. 82–85 (s. Fn. 7); Raunio, Tapio (2015). The European Parliament, in: José M. Magone (Hg.): Routledge Handbook of European Politics, London-New York, S. 248–262, hier S. 248. 10 Karlheinz Reif/Hermann Schmitt (1980). Nine second-order national elections: A conceptual framework for the analysis of European election results, in: European Journal of Political Research, 8 (1), S. 3–44, hier S. 8 ff.; Kerstin Völkl/Rebekka Heyme (2020). Nebenwahlen, in: Thorsten Faas/Oscar W. Gabriel/Jürgen Maier (Hg.): Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden, S. 572–590, hier S. 572.

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es WählerInnen auch leichter, „aufrichtig“ zu wählen, d. h. derjenigen (kleineren, nicht regierungsfähigen) Partei die Stimme zu geben, die der eigenen politischen Einstellung am nächsten kommt, anstatt strategisch zu wählen und bei einer größeren, regierungsfähigen Partei als dem kleineren Übel ein Kreuz zu machen. Zudem offenbart sich bei Europawahlen, dass die Regierungsbzw. größeren Parteien meist EU-freundlicher sind, als es der mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Deshalb werden bei Europawahlen gerne Oppositions- bzw. kleinere Parteien gestärkt, die oft EU-skeptischer sind. Aufgrund der eingeschränkten Repräsentativität der Regierungs- bzw. größeren Parteien, was ihre EU-Positionen betrifft, richten diese ihre Wahlkämpfe auch stark auf nationale Themen aus, die auf den klassischen gesellschaftlichen Spannungslinien beruhen, vor allem ökonomisch „links“ versus „rechts“. Hingegen betonen die Oppositions- bzw. kleineren Parteien stärker die EU-Dimension. Sie schaffen es damit besser, ihre AnhängerInnen zu mobilisieren, an der Wahl teilzunehmen, und erzielen dadurch größere Stimmenanteile.11 Die Forschung zu Koalitionsregierungen hat außerdem gezeigt, dass WählerInnen nicht alle Regierungsparteien in gleicher Weise „abstrafen“, sondern in erster Linie die führende Regierungspartei, die den/die RegierungschefIn stellt.12 Das wird bei der folgenden Analyse zu berücksichtigen sein. Dass die EU-Dimension nur eine geringe Bedeutung aufweist, lässt sich freilich seit einigen Jahren immer weniger gut behaupten. Aufgrund sich verschärfender Krisen – insbesondere der Eurokrise (ab 2010) und der Flüchtlingskrise (ab 2015) – sowie dem Erstarken der „Fridays for Future“-Bewegung, die für eine effektivere Klimaschutzpolitik auf die Straßen geht, hat das Thema „EU“ zuletzt eine starke Politisierung erfahren. Es spielt damit nicht nur bei Europa-, sondern auch bei nationalen Parlamentswahlen eine zunehmende Rolle bei der Erklärung individuellen Wahlverhaltens. In Krisenzeiten sind es insbesondere radikal linke wie radikal rechte Parteien, die „Europa“ aus einer EU-skeptischen Perspektive in den Vordergrund ihrer Agitation stellen.13 Auch für Österreich kann grundsätzlich festgehalten werden, dass Europawahlen bei politischen Parteien, Medien und WählerInnen als weniger wichtige „Nebenwahlen“ gelten, was die Parteien vor große Herausforderungen stellt, 11 Simon Hix/Bjørn Høyland (2011). The political system of the European Union, 3. Auflage, Basingstoke u. a., S. 146–152; Raunio, European Parliament, S. 249 (s. Fn. 9); Nugent, Government and politics of the European Union, S. 211 ff. (s. Fn. 3); Völkl/Heyme, Nebenwahlen, S. 574 (s. Fn. 10). 12 Stephen D. Fisher/Sara B. Hobolt (2010). Coalition government and electoral accountability, in: Electoral Studies, 29 (3), 358–369, hier S. 361, 366 f. 13 Raunio, European Parliament, S. 250 (s. Fn. 9); Swen Hutter/Hanspeter Kriesi (2019). Politicizing Europe in times of crisis, in: Journal of European Public Policy, 26 (7), S. 996–1017.

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ihre AnhängerInnen zum Gang zur Urne zu bewegen. Letztlich zeigt sich auch hier durchwegs eine geringere Wahlbeteiligung als bei nationalen Wahlen.14 Dazu kommt, dass bei vielen WählerInnen die eigentlich zur Wahl stehenden europäischen gegenüber nationalen Themen in den Hintergrund treten: Bei der Europawahl 2014 bezeichneten immerhin 29 Prozent der befragten WählerInnen in einer Umfrage von GfK Austria (n = 1.400) den Einfluss innenpolitischer Ereignisse auf ihre Wahlentscheidung als stark; für 52 Prozent hatten sie dagegen laut eigener Auskunft geringen, für 19 Prozent keinen Einfluss. Überdurchschnittlich groß war dieser Einfluss bei WählerInnen der Oppositionsparteien FPÖ (42 %) und NEOS (43 %), während ihn WählerInnen der beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP sowie der Grünen (in Opposition) deutlich schwächer einschätzten.15 2.4 Einstellungen der ÖsterreicherInnen zum Europäischen Parlament Um die Bedeutung des EP für die ÖsterreicherInnen bzw. die SalzburgerInnen – und damit die Wahrscheinlichkeit einer Wahlbeteiligung – noch genauer zu ergründen, sollen im Folgenden weitere Umfragedaten über die Einstellungen der BürgerInnen zum EP präsentiert werden. Laut Eurobarometer-Umfragen, die alljährlich zweimal in allen EU-Mitgliedstaaten im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt werden, genießt das EP bei den ÖsterreicherInnen, im Vergleich zu anderen EU-Institutionen, größeres Vertrauen. Im Herbst 2018 vertrauten dem EP gleich viele ÖsterreicherInnen wie der Bundesregierung (55 %); das nationale Parlament erhielt unwesentlich (+1 %) mehr Vertrauen. Das Vertrauen in das EP lag damit deutlich höher als dasjenige in die heimischen politischen Parteien (33 %) (siehe Abbildung 1). Generell wurde den nationalen Institutionen jedoch mehr Vertrauen entgegengebracht als den europäischen, und – mit Ausnahme der Armee und der UNO – lagen die Werte in Österreich durchwegs höher als im Schnitt der EU-Mitgliedstaaten.

14 Peter A. Ulram/Franz Sommer (2015). Im Zeichen des Chlorhuhns, in: Andreas Khol/Günther Ofner/Stefan Karner/Dietmar Halper (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 2014, WienKöln-Weimar, S. 127–163, hier S. 133. 15 Ebd., S. 134 f. Für die drei letztgenannten Parteien werden in der Publikation keine genauen Werte angeführt.

Abbildung 1). Generell wurde den nationalen Institutionen jedoch mehr Vertrauen entgegengebracht als den europäischen, und – mit Ausnahme der Armee und der UNO – lagen die Werte in Österreich durchwegs höher als im Schnitt der EU-Mitgliedsstaaten. 100 Franz Fallend Abbildung 1 Vertrauen in nationale und internationale Institutionen in Österreich (in

Prozent

Abbildung 1: Vertrauen in nationale und internationale Institutionen in %). ­Ö sterreich (in  %).einfügen] [Hier Abbildung 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Österreich

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Quelle: Europäische Kommission (2018). Standard Eurobarometer 90: Nationaler Bericht: Die Öffentliche Meinung in der Europäischen Union: Österreich: Herbst 2018 (Befragung November 2018), S. 8. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/ 15 Ebd., S. 134f. Für die drei letztgenannten Parteien werden in der Publikation keine genauen Werte angeführt. index.cfm/ResultDoc/download/DocumentKy/89245.

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Den politischen Stellenwert des EP schätzten die ÖsterreicherInnen allerdings nicht sehr hoch ein. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Market (n = 808) ein knappes halbes Jahr vor dem Wahltag meinten nur 54 Prozent der Befragten, dass die Wahl zum EP „Mitbestimmung [ermöglicht], wie es in Europa weitergehen soll“. Für 40 Prozent sollte der Rat der EU, der aus nationalen RegierungsvertreterInnen besteht und je nach Politikbereich in unterschiedlicher Zusammensetzung tagt, „in der EU … wichtiger“ sein als das EP. Deutlich weniger, nämlich 27 Prozent, befürworteten das umgekehrte Stärkeverhältnis. Immerhin 25 Prozent betrachteten das EP gar als „unnötige Institution“.16 Wie die Salzburger BürgerInnen zum EP stehen, lässt sich mangels einschlägiger Umfragedaten nicht genau sagen.

16 Der Standard Online (14.1.2019). Das EU-Parlament ist nur für jeden Zweiten wichtig.

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2.5 Unzureichende Datenlage Generell lässt sich bezüglich der internationalen politikwissenschaftlichen Erforschung von „Nebenwahlen“ – gemeint sind damit sowohl Landtags- als auch Europawahlen – nach wie vor ein erhebliches Defizit feststellen. Insbesondere mangelt es an Studien, die den Einfluss der nationalen (als der Hauptwahl-) Ebene auf das individuelle Wahlverhalten bei diesen Nebenwahlen messen. Dafür wären Individualdaten aus Umfragen mit entsprechenden Fragen erforderlich. In den vorhandenen Studien wird jedoch in der Regel nur mit Aggregatdaten gearbeitet, wie z. B. der Wahlbeteiligung, den Stimmenanteilen von Parteien (nationalen Regierungs- und Oppositionsparteien, kleinen und neuen Parteien) oder dem Anteil ungültiger Stimmen. Wenn die Wahlergebnisse einer Europawahl (oder einer Landtagswahl) stark von denjenigen der nationalen Hauptwahl abweichen, kann von einem gewissen Einfluss der Nebenwahlebene ausgegangen werden. Daraus sollten aber keine voreiligen Schlüsse über individuelle Ursachen und Motive des Wahlverhaltens gezogen werden (Gefahr des „ökologischen Fehlschlusses“). Dass die nationale Politik auf Nebenwahlen einen großen Einfluss hat, gilt inzwischen als unbestritten. Wie groß dieser Einfluss ist und wie er genau zustande kommt, bleibt jedoch eine offene Frage.17 Auch bei österreichischen Umfragen zu Europawahlen fließt der mögliche Einfluss nationaler Faktoren nur in geringem Ausmaß ein. Die Meinungsforschungsinstitute SORA und ISA haben seit der Europawahl 2014 allen Befragten, die sich zur Wahl einer bestimmten Partei deklariert haben, in ihren Wahltagsbefragungen folgende Aussage zur Bewertung vorgelegt: „Bei der Wahl geht es v. a. darum, ein Zeichen gegen die österr. Innenpolitik zu setzen.“ 2014 stimmten zwischen 30 Prozent (ÖVP) und 62 Prozent (FPÖ) der jeweiligen ParteianhängerInnen dieser Aussage sehr oder ziemlich zu.18 Bei der Wahl fünf Jahre später – die allerdings, wie erwähnt, unter dramatischen Vorzeichen stattfand – unterstützten deutlich mehr, nämlich durchschnittlich 62 Prozent aller deklarierten WählerInnen, die etwas abweichend formulierte Aussage: „Bei dieser Wahl will ich auch ein innenpolitisches Zeichen setzen.“ Wieder zeigte sich dabei zwischen den einzelnen ParteianhängerInnenschaften eine große Bandbreite an Einstellungen, mit einer Zustimmungsrate von 49 Pro17 Völkl/Heyme, Nebenwahlen, S. 572–575 (s. Fn. 10). 18 SORA/ISA (2014). Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse: Europawahl 2014, Folie 24. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2014_EU-Wahl_ Wahltagsbefragung-Grafiken.pdf. Der Durchschnittswert für alle deklarierten WählerInnen ist in den Umfragedaten nicht ausgewiesen.

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zent (ÖVP) bis 83 Prozent (FPÖ).19 2019 wurde zudem danach gefragt, ob das Ende der türkis-blauen Regierung als Enttäuschung oder als Erleichterung zu bewerten sei und welche Rolle die Regierungskrise bei der Wahlentscheidung gespielt habe (was dabei herauskam, wird in Abschnitt 3.3 dargelegt). Darüber hinaus wurden keine die nationale Ebene und deren mögliche Einflüsse direkt ansprechenden Fragen gestellt. Ist die Datenlage schon für die nationale Ebene unbefriedigend, wird das Bild noch trüber, wenn man auf die subnationale Ebene wechselt. Über den möglichen Einfluss regionaler Faktoren, wie z. B. der Zufriedenheit mit der regionalen Regierung oder Politik oder von regionalen Problemen und Konflikten, auf das Wahlverhalten der LandesbürgerInnen bei Europawahlen gibt es keine Umfragedaten. Wenn es schon problematisch erscheint, aus einem im Vergleich zur letzten Nationalratswahl schwächeren Ergebnis einer an der Bundesregierung beteiligten Partei bei einer Europawahl ableiten zu wollen, dass die WählerInnen diese „abstrafen“ wollten, so gestaltet sich die Interpretation für die Landesebene noch schwieriger. Möglicherweise lassen sich LandesbürgerInnen bei ihrer Stimmabgabe ja auch von der Regierungs- bzw. Oppositionsarbeit der zur Wahl stehenden Parteien auf der Landesebene beeinflussen und nutzen die Europawahlen, um darüber ein Urteil abzugeben. Aber spielt das tatsächlich eine Rolle, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Und welche Auswirkungen hat es, wenn die von den WählerInnen normalerweise bevorzugte Partei zur Zeit gerade auf Bundesebene stark ist und erfolgreich ihr politisches Programm umsetzt, während sie auf Landesebene schwach ist, nur mit wenig bekannten, eher unattraktiven SpitzenkandidatInnen aufwarten kann oder von internen Streitigkeiten geplagt wird – und wie verhält es sich im umgekehrten Fall? Mangels fundierter empirischer Daten lassen sich solche Fragen in der Regel nicht seriös beantworten. Die geschilderten Einschränkungen sind bei den folgenden Analysen zu berücksichtigen. Die Europawahlen werden dabei als „Nebenwahlen“ einerseits gegenüber den Nationalratswahlen, andererseits gegenüber den Landtagswahlen betrachtet. Über das relative Gewicht dieser „Hauptwahlen“ bzw. den Einfluss der auf diesen Ebenen betriebenen Politik – sowie über den kombinierten Effekt beider – gegenüber den Europawahlen können dabei keine präzisen Aussagen getroffen werden. Mangels entsprechender Daten muss auch der wahrscheinliche Einfluss weiterer Faktoren, wie z. B. der wirtschaftlichen Entwicklung, der Zufriedenheit mit der Regierung oder den nominierten Kandi19 SORA/ISA (2019). Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse: Europawahl 2019, Folie 38. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2019_EUW_ Wahlanalyse-Grafiken.pdf.

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datInnen oder von ebenenspezifischen Policy-Präferenzen,20 auf das Wahlverhalten bei den Europawahlen außer Acht bleiben.

3. DIE EUROPAWAHL 2019 Europawahlen sind, wie dargelegt, in erster Linie nationale Wahlen, bei denen von den nationalen Parteien aufgestellte KandidatInnen antreten und nationale Themen im Vordergrund des Wahlkampfes stehen. Welche Rolle das Land Salzburg bzw. seine Parteien und PolitikerInnen bei der Europawahl 2019 gespielt haben, sollen die folgenden Ausführungen veranschaulichen. 3.1 Ausgangslage Bis zur Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ galt die Europawahl 2019 – nach den im vorhergehenden Jahr abgehaltenen Landtagswahlen in Niederösterreich, Tirol, Kärnten und Salzburg – als nicht viel mehr als eine weitere Testwahl für die neue, seit Ende 2017 amtierende „türkis-blaue“ Bundesregierung aus ÖVP und FPÖ. Bis dahin standen beide Regierungsparteien in repräsentativen Umfragen gut da. Politische BeobachterInnen wie der Wahlforscher Fritz Plasser oder die Österreich-Korrespondentin der „Neuen Zürcher Zeitung“ Meret Baumann führten das vor allem auf deren harmonisches Auftreten in der Öffentlichkeit und die mehrheitliche Zufriedenheit der Bevölkerung mit den in Angriff genommenen politischen Reformen zurück. Die ÖVP hatte bei „Sonntagsfragen“ im Laufe des Jahres 2018 gegenüber ihrem Wahlergebnis bei der Nationalratswahl 2017 sogar noch leicht zugelegt, während die FPÖ als ihr Juniorpartner – entgegen den allgemeinen Erwartungen – nur unwesentlich zurückgefallen war. Für die bevorstehende Europawahl aber sagten beide BeobachterInnen eine Belastungsprobe für die Regierung voraus, da beide Parteien in puncto EU doch gegensätzliche Linien verfolgen würden.21 Die Oppositionsparteien SPÖ, NEOS und Liste Jetzt hatten demgegenüber einen schweren Stand, auch weil sie mit Wechseln in ihrem Führungspersonal und internen Streitigkeiten beschäftigt waren, über die auch ausgiebig in den Medien berichtet wurde.22 Die Grünen, die 2017 aus dem Nationalrat geflogen waren, konnten hingegen auf ein gutes Ergebnis hoffen. Das Thema Umwelt, Klima und Energie war für die ÖsterreicherInnen im Frühjahr 2019 zum wich20 Siehe Völkl/Heyme, Nebenwahlen, S. 581–585 (s. Fn. 10). 21 Kurier Online (4.12.2018). Türkis-blaue Zwischenbilanz: Tatsächlich Liebe? 22 Der Standard Online (10.8.2018). Was macht eigentlich die Opposition?

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tigsten Problem des Landes aufgestiegen,23 und der Schock des Wahl-Desasters von 2017 saß vielen Grün-Bewegten noch in den Knochen. 3.2 Wahlkampf Die ÖVP nominierte ihren langjährigen Abgeordneten zum EP und Spitzenkandidaten von 2014 Othmar Karas neuerlich zum Spitzenkandidaten. Dabei hatte Karas wiederholt die EU-Politik der „neuen“ ÖVP unter ihrem 2017 gewählten Vorsitzenden und Bundeskanzler Sebastian Kurz kritisiert (z. B. die sogenannte Indexierung der Familienbeihilfe, die nicht in Österreich lebende Kinder von hier arbeitenden Eltern aus osteuropäischen Ländern schlechter stellte).24 Karas kündigte an, den Kampf gegen Nationalismus und Populismus in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes zu stellen, was auch als Ansage gegen die FPÖ betrachtet werden konnte. Auf dem 2. Platz der ÖVP-Liste kandidierte die aus Salzburg stammende ehemalige juristische Mitarbeiterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und nunmehrige Staatssekretärin im Innenministerium Karoline Edtstadler. Sie galt als Vertraute von Kurz und stand für einen Law-and-Order-Kurs sowie eine restriktive Immigrationspolitik.25 Nach außen hin unterstützte Edtstadler die klar proeuropäische und anti-nationalistische Haltung von Karas.26 Offenbar verfolgte Kurz mit der Auswahl seiner beiden führenden KandidatInnen für die Europawahl eine Doppelstrategie: Mit Hilfe von Karas wollte er traditionelle, pro-europäisch eingestellte ÖVP-WählerInnen ansprechen und auch eine gewisse Abgrenzung gegenüber der FPÖ vornehmen. Edtstadler sollte hingegen den nunmehr „türkis“ (statt „schwarz“) gefärbten Kurs der „neuen Volkspartei“ betonen und so neu gewonnene WählerInnen bei der Stange halten. Dass die erzielten Vorzugsstimmen und nicht die Listenplatzierung über die Reihenfolge der von der ÖVP zu besetzenden Sitze im EP entscheiden sollte, hielt der Journalist Andreas Koller von den „Salzburger Nachrichten“ für einen weiteren klugen Schachzug von Kurz, um möglicherweise Edtstadler anstelle von Karas an die 1. Stelle hieven zu können.27 Auf wessen 23 Europäische Kommission (2019). Standard-Eurobarometer 91: Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union: Befragung Juni 2019, S. 34, QA3a. Abgerufen am 25.6.2020 unter h ­ ttps:// ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index.cfm/ResultDoc/download/DocumentKy/88544. 24 Kleine Zeitung Online (8.2.2019). Gegen Türkis-Blau: Karas: „Indexierung der Familienbeihilfe ist problematisch“. 25 Der Standard Online (19.1.2019). Karas und Edtstadler führen ÖVP in EU-Wahl. 26 Der Standard Online (21.1.2019). Edtstadler: „Kann vor extrem Rechten in Europa nur warnen“. 27 Salzburger Nachrichten (SN) Online (19.1.2019). Schlaue Strategie des ÖVP-Chefs. Siehe auch

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Seite Kurz eher stand, wurde deutlich, als er während des Wahlkampfs – in üblicher FPÖ-Diktion – die „Bevormundung“ und den „Regelungswahnsinn“ durch Brüssel kritisierte, was für einige Aufregung sorgte.28 Außer Edtstadler enthielt die 42 Namen umfassende ÖVP-Liste für die Europawahl keine Salzburger KandidatInnen.29 Die FPÖ trat wie erwartet sehr EU-kritisch auf. Ihr Spitzenkandidat, der EPAbgeordnete (seit 2014) und Generalsekretär Harald Vilimsky, forderte, dass sich die EU auf ihre Kernaufgaben beschränken solle, unterstellte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein Alkoholproblem und kündigte an, nach der Wahl eine breite Allianz EU-kritischer Rechtsparteien auf die Beine stellen zu wollen.30 Der FPÖ-Bundesparteivorsitzende und Vizekanzler HeinzChristian Strache stellte den ÖVP-Spitzenkandidaten Karas als „ewiggestrigen EU-Zentralisten“ hin, der – bezogen auf die türkis-blaue Bundesregierung – „regierungsfeindlich“ agiere.31 Auf der KandidatInnenliste der FPÖ schienen (auf den Plätzen 10, 17, 25, 33 und 37) immerhin fünf SalzburgerInnen auf32 – da bereits Platz 5 als Kampfmandat galt, allerdings auf aussichtslosen Plätzen. Die SPÖ stellte den Kampf gegen den Rechtspopulismus, für mehr Steuergerechtigkeit (insbesondere durch höhere Steuern für Großkonzerne) und für einen Liberalisierungsstopp bei öffentlichen Gütern wie Wasser in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne.33 Nur drei SalzburgerInnen wurden auf der SPÖListe platziert, und zwar auf den Rängen 8, 17 und 32, also allesamt jenseits der Der Standard Online (20.1.2019). Karoline Edtstadler soll in der EU die harte Türkise verkörpern; Der Standard Online (23.2.2019). Vernetzt, aber detailverliebt: Karas soll für die ÖVP liberale EU-Wähler anziehen. 28 Der Standard Online (12.5.2019). Kurz will „Bevormundung“ durch Brüssel beenden und erntet scharfe Kritik; Der Standard Online (12.5.2019). Vilimsky fühlt sich von Kurz’ Kritik an EU„Regelungswahnsinn“ bestätigt. 29 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – Österreichische Volkspartei. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 30 SN Online (4.1.2019). Vilimsky für große Rechts-Allianz – Juncker „lächerlich“; Der Standard Online (17.2.2019). Geächtet, aber gefürchtet: Vilimsky zieht für die FPÖ in die EU-Wahlschlacht. 31 Die Presse Online (13.4.2019). „Ewiggestriger EU-Zentralist“: Strache mit Frontalangriffen auf Karas. 32 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) – Die Freiheitlichen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https:// www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 33 Kurier Online (15.2.2019). Schieder: Richtungswahl gegen „Zerstörungswut der Rechtspopulisten“; Die Presse Online (5.4.2019). „Europäisch oder identitär?“: SPÖ präsentiert EU-Wahlplakate.

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wählbaren Plätze.34 Auch bei den Grünen, die den Klimawandel als zentrales Thema ihrer Wahlwerbung forcierten,35 nahmen SalzburgerInnen nur hintere Plätze (nämlich 17, 25, 34 und 40) auf der KandidatInnenliste ein.36 Die klar pro-europäisch auftretenden NEOS platzierten ebenfalls eine Salzburgerin, nämlich die Unternehmerin Karin Feldinger, auf dem 2. Platz ihrer KandidatInnenliste. Sonst fanden sich wie bei der ÖVP keine Salzburger VertreterInnen auf der Liste.37 Ihre Kandidatur war allerdings intern umstritten, nachdem bekannt geworden war, dass sie in einem Facebook-Posting ein Video des Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser geteilt hatte, in dem u. a. von den „unaufgeklärten“ Terroranschlägen von 9/11 und einem „CIA-Putsch“ in der Ukraine die Rede war. Nur mit Hilfe der gewichteten Stimmen des Parteivorstands erreichte sie in den offenen Vorwahlen der NEOS-KandidatInnen den 2. Platz.38 Für eine weitere Salzburger Beteiligung sorgte Johannes Voggenhuber, der frühere Salzburger Planungsstadtrat, Nationalratsabgeordnete und Mitglied des EP für die Grünen. Unterstützt von der Liste Jetzt, die selbst nicht an der Wahl teilnahm, trat er mit der neu gegründeten „Initiative 1 EUROPA“ an. Als altgedienter Europäer wollte er die „Dämonen“ des Nationalismus in Gestalt der erstarkenden rechtspopulistischen Parteien bekämpfen und auf EU-Ebene mehr direkte Demokratie einführen. Eine gemeinsame Kandidatur mit den Grünen, die 2009 überraschend die Nationalratsabgeordnete Ulrike Lunacek an seiner Stelle zu ihrer Spitzenkandidatin erkoren hatten, kam nicht zustande. Voggenhuber hielt ihnen vor, europapolitisch nichts vorweisen zu können, was heftige Reaktionen grüner PolitikerInnen auslöste.39 Auf seiner Liste schienen sonst keine SalzburgerInnen auf.40 34 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – Sozialdemokratische Partei Österreichs. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 35 Die Presse Online (12.4.2019). Grüne wollen EU-Wahl zur „Klimawahl“ machen. 36 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – Die Grünen – Grüne Alternative. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 37 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – NEOS – Das neue Europa. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/ Europawahl_2019/start.aspx. 38 Der Standard Online (29.2.2019). Neos-Listenzweite für EU-Wahl empfahl Verschwörungstheoretiker. 39 Der Standard Online (3.2.2019). Voggenhuber tritt bei Europawahl an, um „Dämonen“ zu bekämpfen; Kurier Online (5.2.2019). „Die Grünen, die wir gegründet haben, existieren nicht mehr“; Der Standard Online (17.2.2019). Grüne rechnen mit Voggenhuber, Pilz & Co ab. 40 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – EU-

Europawahlen als „Nebenwahlen“

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Schließlich trat noch die KPÖ (als „KPÖ Plus – European Left, offene Liste“) zur Wahl an. Sie hatte immerhin vier Salzburger KandidatInnen auf ihrer Liste stehen (auf den Plätzen 21, 33, 38 und 41),41 aufgrund ihrer geringen Chancen auf einen Mandatsgewinn freilich eher aus symbolischen Gründen. 3.3 Wahlergebnis Das „Ibiza-Video“ und der bevorstehende Sturz der Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Sebastian Kurz prägten die letzte Woche des Wahlkampfes vor dem Wahltag, dem 26.5.2019. Wie bereits erwähnt, ergab eine in den letzten Tagen vor der Wahl durchgeführte Umfrage der Institute SORA und ISA (n = 1.287), dass 62 Prozent der deklarierten WählerInnen ihre Stimme verwendeten, um ein innenpolitisches Zeichen zu setzen.42 Zieht man hingegen alle Befragten heran (also nicht nur die deklarierten WählerInnen), so behaupteten überraschend viele, nämlich 74 Prozent, die Regierungskrise habe bei ihrem Wahlverhalten keine Rolle gespielt. Laut eigenen Auskünften gingen lediglich 8 Prozent der Befragten erst wegen der Regierungskrise zur Wahl, 7 Prozent wählten deshalb eine andere Partei und 9 % blieben deshalb zu Hause. Während von den ÖVP- und den GrünwählerInnen nur ein geringer Teil erklärte, wegen der Regierungskrise wählen gegangen zu sein (nämlich 4 bzw. 5 %), waren es bei den NEOS (11 %), der SPÖ (15 %) und der FPÖ (16 %) deutlich mehr.43 Zumindest für diesen Teil der WählerInnen ist also von einem Einfluss der Innenpolitik auf ihr Wahlverhalten bei der Europawahl auszugehen. Nicht nur die innerösterreichischen Ereignisse hoben indes die Bedeutung der Europawahl. Generell hatte „Europa“ bzw. die EU in den letzten Jahren – insbesondere wegen der Euro-Krise, der Flüchtlingskrise, des Brexits und der Wahlerfolge EU-kritischer rechtsnationaler Parteien in vielen europäischen Ländern – eine Politisierung erfahren. Politische BeobachterInnen sprachen deshalb von einer Schicksalswahl.44

ROPA Jetzt – Initiative Johannes Voggenhuber. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi. gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 41 BMI (2019). Europawahl 2019: Parteien, die kandidieren, Bewerberinnen und Bewerber – KPÖ Plus – European Left, offene Liste. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx. 42 SORA/ISA, Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse: Europawahl 2019, Folie 38 (s. Fn. 19). 43 Ebd., Folie 21. 44 Neue Zürcher Zeitung Online (25.5.2019). Die Europawahl findet unter nationalen Vorzeichen statt – und ist doch so europäisch wie noch nie.

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Franz Fallend

Eine Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung im EU-Durchschnitt von 42,6 Prozent (2014) auf 50,7 Prozent (2019) anstieg.45 In Österreich nahm sie sogar überdurchschnittlich von 45,4 auf 59,8 Prozent zu. Mit einer Wahlbeteiligung von 57,8 Prozent rangierte Salzburg etwas unter dem österreichweiten Schnitt. Trotz Ansteigens lag die Wahlbeteiligung damit aber immer noch sehr deutlich unter derjenigen bei der vorangegangenen Nationalratswahl 2017 (80 % österreichweit, 80,7 % in Salzburg), weniger deutlich auch unter derjenigen bei der Salzburger Landtagswahl 2018 (65 %). Dieser Aspekt der Theorie der „Nebenwahlen“ wurde also bestätigt. Die ÖVP als dominierende Regierungspartei auf der Bundes- wie auf der Salzburger Landesebene ging als großer Sieger aus der Europawahl 2019 hervor (siehe Tabelle 1). Auf Bundesebene legte sie als einzige Partei gegenüber der Wahl 2014 stark zu (+7,6 % der abgegebenen Stimmen, +2 Sitze), während die übrigen Parteien entweder stagnierten oder Stimmenanteile und Sitze verloren.46 Auf der Landesebene in Salzburg waren diese Effekte (außer bei den NEOS) sogar noch stärker ausgeprägt. Im Vergleich zur Nationalratswahl 2017, als sie 31,5 Prozent der Stimmen erzielt hatte, setzte die Bundes-ÖVP bei der Europawahl noch 3,1 Prozent drauf, die Landes-ÖVP gegenüber der Landtagswahl 2018 (37,8 %) sogar 5,3 Prozent, noch dazu auf höherem Niveau. Die SPÖ als jeweils größte Oppositionspartei auf beiden Ebenen verlor in beiden Vergleichen: die Bundespartei gegenüber der Nationalratswahl 3 Prozent, die Landespartei gegenüber der Landtagswahl 1,8 Prozent. Noch schlechter erging es der FPÖ (bis knapp eine Woche vor der Wahl Juniorpartner in einer Koalitionsregierung auf Bundesebene, Oppositionspartei auf Landesebene) mit –8,8 bzw. –4,3 Prozent. Die Ergebnisse von ÖVP, SPÖ und FPÖ standen im Widerspruch zu den Vorhersagen der Theorie der „Nebenwahlen“. Der Theorie entsprechend schnitten hingegen die Grünen ab, deren Bundespartei (als Oppositionspartei) gegenüber der Nationalratswahl um 10,3 Prozent besser lag, während die Landespartei (als Juniorpartner in einer Koalitionsregierung) immerhin 4,8 Prozent mehr erzielte. Auch die Resultate der NEOS (+3,1 bzw. +1 %) mit ihrer Rolle als Oppositionspartei auf beiden Ebenen passten zur Theorie.

45 Europäisches Parlament, Ergebnisse der Europawahl 2019 (s. Fn. 8). 46 Der Standard Online (27.5.2019). Rekordergebnis für ÖVP, Verluste für FPÖ und SPÖ, Neos stagnieren, Grüne feiern Comeback.

109

Europawahlen als „Nebenwahlen“

Tabelle 1: Ergebnisse der Europawahl am 26.5.2019 Bund Stimmen absolut

Stimmen in %

Land Salzburg

Gewinn/ Verlust in %

Mandate

Stimmen absolut

Stimmen in %

Gewinn/ Verlust in %

Wahlbeteiligung Wahlberechtigte

6,416.177

abgegebene Stimmen

3,834.662

59,8

229.112

57,8

54.898

1,4

3.105

1,4

ÖVP

1,305.956

34,6

+7,6

7 (+2)

97.376

43,1

+10,8

SPÖ

903.151

23,9

–0,2

5 (+/–0)

41.149

18,2

–3,2

FPÖ

650.114

17,2

–2,5

3 (–1)

32.845

14,5

–4,1

Grüne

532.193

14,1

–0,4

2 (–1)

31.866

14,1 +/–0,0

NEOS

319.024

8,4

+0,3

1 (+/–0)

18.646

8,3

EUROPA

39.239

1,0

2.486

1,1

KPÖ

30.087

0,8

1.657

0,7

davon ungültig

396.227

Parteien

+1,2

Quellen: BMI (2019). Europawahl 2019: Österreich, endgültiges Ergebnis (inkl. Briefwahl). Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx; Land Salzburg (2019). Europawahl am 26.5.2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/euw/index2019.html.

Der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) stellte in seiner Interpretation des Wahlergebnisses einen Zusammenhang mit den turbulenten innenpolitischen Ereignissen vor dem Wahltag her: Es zeigt: die Volkspartei ist und bleibt die „Europa-Partei“ in Salzburg und in Österreich. Es zeigt aber auch, dass wir mit Karoline Edtstadler das beste personelle Angebot in Salzburg hatten – eingebettet in ein hervorragendes Team, das die Breite der ÖVP widerspiegelt. Ich erlaube mir aber zwei weitere Schlüsse zu ziehen: die Bevölkerung unterstützt den Reformkurs, den Sebastian Kurz in Österreich vorgegeben hat und wünscht ihn sich auch auf europäischer Ebene. Und wir haben – angesichts (der; Anm. d. Verf.) aktuellen Ereignisse – ein unüberhörbares Signal der Wählerinnen und Wähler erlebt: die Bevölkerung steht hinter Sebastian Kurz und seinem Team und wünscht sich Stabilität anstatt parteipolitischer Spielchen.47 47 Zit. nach: SN Online (27.5.2019). Haslauer sieht in Wahlsieg eine „unmissverständliche Botschaft

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Franz Fallend

Mit den „parteipolitischen Spielchen“ bezog er sich offenbar auf die von Liste Jetzt und SPÖ im Nationalrat eingebrachten Misstrauensanträge gegen Bundeskanzler Kurz bzw. die von ihm geführte Bundesregierung aus ÖVP-MinisterInnen und ExpertInnen, die nach dem Rücktritt von Vizekanzler HeinzChristian Strache wegen des „Ibiza-Videos“ und dem kurz danach folgenden Ausscheiden der FPÖ-MinisterInnen gebildet worden war. SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt ließen sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen und entzogen der Bundesregierung am Tag nach dem Wahltag das Vertrauen. Es war das erste Mal in der Zweiten Republik, dass der Nationalrat eine Bundesregierung durch ein Misstrauensvotum stürzte.48 Haslauer hielt dieses Vorgehen „in hohem Maß für verantwortungslos“ und zeigte sich „entsetzt, mit welchem Hass hier im Parlament gehandelt wird. Das hinterlässt verbrannte Erde“. Kritik äußerte auch der Salzburger NEOS-Landessprecher und Nationalratsabgeordnete Sepp Schellhorn (dessen Partei das Misstrauensvotum nicht unterstützte), während SPÖ-Landesparteivorsitzender Walter Steidl und FPÖ-Landesparteivorsitzende Marlene Svazek das Verhalten ihrer ParteikollegInnen in Wien verteidigten.49 Die Regierungskrise schadete dem Regierungschef, Bundeskanzler Kurz, bzw. dessen Partei also nicht. Genauso bemerkenswert war, dass die FPÖ bei der Europawahl trotz „Ibiza-Video“ nur geringe Verluste erlitt – für Svazek ein „kleines Wunder“.50 Offenbar hatte sich die Partei inzwischen eine treue KernwählerInnenschaft aufgebaut, die ihr auch in der Krise und bei heftigem politischem und medialem Gegenwind die Stange hielt. Für die SPÖ hingegen war das Wahlergebnis enttäuschend, hatten das „Ibiza-Video“ und die folgende Regierungskrise doch eigentlich einen Elfmeter für die Partei dargestellt. Als Hauptursachen für die SPÖ-Niederlage wurden von den Medien die andauernde Führungsdebatte in der Partei und eine Fehleinschätzung der öffentlichen Meinung über das Misstrauensvotum gegen einen populären Bundeskanzler ausgemacht.51 der Wähler“. 48 Österreichisches Parlament (2019). Nationalrat entzieht der Regierung das Vertrauen. Parlamentskorrespondenz Nr. 589 vom 27.5.2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2019/PK0589/index.shtml. 49 Zit. nach: SN Online (28.5.2019). Von „verantwortungslos“ bis „konsequent“: Reaktionen aus Salzburg auf den Sturz der Regierung. 50 SN Online (26.5.2019). FPÖ in Salzburg: „Ergebnis ist angesichts der Umstände fast ein kleines Wunder“. 51 Krone Online (26.5.2019). Parteigranden: „Klare Niederlage für die SPÖ“; Der Standard Online (26.5.2019). Kurz lässt sich feiern, Rote zweifeln an sich und ihrer Chefin; Kurier Online (27.5.2019). „Ich weiß nicht, warum Sie lachen!“: Gründe für SPÖ-Desaster.

111

Europawahlen als „Nebenwahlen“

Die Grünen konnten ihre Ergebnisse der Europawahl 2014 (14,5 % auf Bundes-, 14.1 % auf der Salzburger Landesebene) nahezu halten, was angesichts der Tatsache, dass sie bei der Wahl 2017 immerhin aus dem Nationalrat geflogen waren, als Erfolg zu werten ist. Wieweit die negativen Schlagzeilen über die Listenzweite den NEOS schadeten, lässt sich schwer sagen – jedenfalls verzeichneten sie trotz der günstigen Rahmenbedingungen nur einen bescheidenen Zuwachs von 7,1 auf 8,3 Prozent der Stimmen. Die Voggenhuber-Partei EUROPA ging hingegen mit nur 1 Prozent bundesweit bzw. auch nur 1,1 Prozent in Salzburg eher sang- und klanglos unter. Damit lag sie nur knapp besser als die KPÖ (0,8 bzw. 0,7 %). Die vom Referat Landesstatistik im Amt der Salzburger Landesregierung berechneten WählerInnenströme bestätigen und verfeinern die bisherige Analyse (siehe Tabelle 2). Während die ÖVP 97 Prozent und die Grünen 95 Prozent ihrer Salzburger WählerInnen von der Europawahl 2014 auch 2019 halten konnten, waren es bei der SPÖ nur 77 Prozent und bei der FPÖ nur 60 Prozent. Ein erheblicher Teil (22 bzw. 30 %) der früheren WählerInnen der beiden zuletzt genannten Parteien blieb am Wahltag zu Hause, möglicherweise aus Unzufriedenheit mit jüngsten Geschehnissen (Misstrauensvotum im Fall der SPÖ bzw. „Ibiza-Video“ im Fall der FPÖ). Die NEOS, mit einer Behalterate von nur 41 Prozent, erwiesen sich sogar als noch instabiler. Tabelle 2: WählerInnenströme bei der Europawahl 2019 in Salzburg (in %) Europawahl 2019 ÖVP

Europawahl 2014

ÖVP

SPÖ

97

0

SPÖ

0

FPÖ

10

Grüne NEOS Sonstige NichtwählerInnen

FPÖ

Grüne

NEOS

Sonstige

NichtwählerInnen

Gesamt

2

0

1

0

0

100

77

0

1

0

0

22

100

0

60

0

0

0

30

100

0

0

0

95

5

0

0

100

41

0

0

23

36

0

0

100

12

18

14

24

21

5

0

100

17

6

5

2

4

1

64

100

Lesebeispiel: 97 Prozent der WählerInnen der ÖVP von 2014 haben auch 2019 wieder die ÖVP gewählt, 2 Prozent sind zur FPÖ und 1 Prozent zu den NEOS gewandert. Quelle: Land Salzburg/Landesstatistik (2019). Europawahl 2019: Endgültige Ergebnisse, S. 91. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/euw/download/EUW-2019.pdf.

112

Franz Fallend

Für den vorliegenden Beitrag von Interesse ist außerdem noch die Anzahl der Vorzugsstimmen, die Salzburger KandidatInnen erzielten. Bei der ÖVP kam es tatsächlich dazu, dass die an 2. Stelle der Liste platzierte Salzburger Kandidatin – und Kurz-Vertraute – Karoline Edtstadler mit 115.906 Vorzugsstimmen den Listenersten Othmar Karas (103.035) überholte. Für die zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Listenzweite auf der NEOS-Liste Karin Feldinger wurden 1.498 Vorzugsstimmen abgegeben. Sie lag damit aber weit unter dem für ein Direktmandat nötigen Anteil von 5 % der Parteistimmen bundesweit (dafür wären bei den NEOS 15.921,20 Stimmen erforderlich gewesen). Auf Johannes Voggenhuber entfielen dagegen 5.831 Vorzugsstimmen. Damit hätte er zwar die innerparteiliche 5- %-Hürde (hier 1.961,95 Stimmen) deutlich übersprungen. Angesichts des Verfehlens der 4- %-Sperrklausel durch seine Partei nützte ihm das jedoch nichts. Die übrigen SalzburgerInnen auf einer der Parteilisten erzielten jeweils höchstens einige Hundert Vorzugsstimmen.52

4. DIE EUROPAWAHLEN 1996–2019 IM VERGLEICH MIT NATIONALRATS- UND LANDTAGSWAHLEN Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Europawahl 2019 in Salzburg in einen historischen Zusammenhang gestellt. Dabei wird die Theorie der „Nebenwahlen“ als wesentliches Erklärungsmodell herangezogen, d. h., es wird untersucht, inwieweit die Ergebnisse der Europawahlen in Salzburg durch ihren etwaigen Charakter als „Nebenwahlen“ zu den Nationalrats- bzw. den Landtagswahlen erklärt werden können. Zuerst wird die Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den Europa-, den Nationalrats- und den Landtagswahlen im Zeitraum seit 1996 nachgezeichnet, als die erste Europawahl durchgeführt wurde. Danach werden die Wahlergebnisse, die die verschiedenen Salzburger Parteien bei den Europawahlen erzielt haben, mit folgenden anderen Wahlergebnissen verglichen: 1) den bundesweiten Ergebnissen der jeweiligen Parteien bei denselben Europawahlen, 2) den Landes- bzw. den Bundesergebnissen bei den Nationalratswahlen und 3) den Ergebnissen bei den Landtagswahlen. Bei den beiden zuletzt genannten Vergleichen ist zu berücksichtigen, dass die Europawahlen in der Regel nicht zum selben Zeitpunkt bzw. nicht einmal in denselben Jahren stattfanden wie die Nationalrats- und die Landtagswah52 BMI (2019). Europawahl 2019: Erzielte Vorzugsstimmen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https:// www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx; Die Presse Online (29.5.2019). Vorzugsstimmen: Edtstadler Nummer Eins, Strache hat Mandat.

113

Europawahlen als „Nebenwahlen“

len. Dennoch soll – bei aller gebotenen Vorsicht – versucht werden, aus der Größe der Abweichungen zwischen den Wahlergebnissen Rückschlüsse auf die Bedeutung der Wahlgänge zu den Europawahlen zu ziehen und die Wahlergebnisse der einzelnen Parteien mit Hilfe der in Abschnitt 2.3 vorgestellten Theorie der „Nebenwahlen“ zu erklären.

4.1 Die DieWahlbeteiligung Wahlbeteiligung 4.1 Ein Blick auf die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in Salzburg zeigt, dass diese Ein Blick auf die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in Salzburg zeigt, grundsätzlich eher niedrig ausfiel – mitausfiel Ausnahme Wahl 1996 der (65 %) und der dass diese grundsätzlich eher und niedrig undder – ersten mit Ausnahme ersten letzten1996 Wahl(65 %) 2019 (57,8 – immer lediglich um die(57,8 %) 40 % ausmachte (siehe Abbildung Wahl und%)der letzten Wahl 2019 – immer lediglich um 2). die 40 Prozent ausmachte (siehe Abbildung 2). Grundsätzlich entwickelte sich Grundsätzlich entwickelte sich die Salzburger Wahlbeteiligung parallel zum Bundestrend, die Salzburger Wahlbeteiligung parallel zum Bundestrend, wobei auffällig ist, wobei auffällig ist, dass die Salzburger Wahlberechtigten bei jedem der Wahlgänge in einem dass die Salzburger Wahlberechtigten bei jedem der Wahlgänge in einem gegeringerenAusmaß Ausmaß zur zur Urne als als die die ÖsterreicherInnen insgesamt (der Rückstand ringeren Urneschritten schritten ÖsterreicherInnen insgesamt (der Rückstand betrug jeweils zwischen betrug jeweils zwischen 2 und 7 %). 2 und 7 %). Abbildung 2 Wahlbeteiligung bei Europa-, Nationalrats- und Landtagswahlen Abbildung 2: Wahlbeteiligung bei Europa-, Nationalrats- und Landtagswahlen [hier Abbildung einfügen] 100 90 80 70

EUW Salzburg

60

EUW Bund

50

NRW Salzburg

40

NRW Bund

30

LTW Salzburg

20 10 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Quellen: Europawahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ Quellen:BMI BMI(2020). (2020). Europawahlen. Abgerufen am 16.3.2020 unter Europawahlen; BMI (2020). Nationalratswahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi. https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen ; BMI (2020). Nationalratswahlen. Abgerufen am gv.at/412/Nationalratswahlen; Land Salzburg (2020). Landtagswahlen seit 1945. Abgerufen am 16.3.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen ; Land Salzburg (2020). 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html#hist.5.0. Landtagswahlen seit 1945. Abgerufen am 16.3.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html#hist.5.0.

Der Eindruck einer nicht allzu hohen Wertschätzung der Europawahlen in Salzburg verstärkt sich noch, wenn die Wahlbeteiligung mit derjenigen bei Nationalrats- und Landtagswahlen – also vermeintlich „wichtigeren“ Wahlen – vergleichen wird. Während die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in Salzburg im Zeitraum 1999–2014, wie erwähnt, stets nur um die 40 % ausmachte, fiel sie bei Nationalratswahlen nie unter 74 % (bezogen sowohl auf die Bundesals auch auf die Landesebene), wobei bundesweit sogar 1–2 % mehr Wahlberechtigte an den Wahlen teilnahmen als in Salzburg. Die Beteiligung bei den Landtagswahlen liegt jeweils

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Franz Fallend

Der Eindruck einer nicht allzu hohen Wertschätzung der Europawahlen in Salzburg verstärkt sich noch, wenn die Wahlbeteiligung mit derjenigen bei Nationalrats- und Landtagswahlen – also vermeintlich „wichtigeren“ Wahlen – verglichen wird. Während die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in Salzburg im Zeitraum 1999–2014, wie erwähnt, stets nur um die 40 Prozent ausmachte, fiel sie bei Nationalratswahlen nie unter 74 Prozent (bezogen sowohl auf die Bundes- als auch auf die Landesebene), wobei bundesweit sogar 1–2 Prozent mehr Wahlberechtigte an den Wahlen teilnahmen als in Salzburg. Die Beteiligung bei den Landtagswahlen liegt jeweils dazwischen, näher allerdings bei derjenigen für die Nationalratswahlen als bei derjenigen für die Europawahlen. Daraus kann abgeleitet werden, dass Nationalrats- und Landtagswahlen von den WählerInnen im Schnitt offensichtlich als bedeutend wichtiger eingeschätzt werden als Europawahlen. 4.2 Mögliche Effekte der Regierungs- bzw. Oppositionsrolle der Parteien Neben den Wahlergebnissen der einzelnen Parteien bei den Europa-, Nationalrats- und Landtagswahlen ist für den vorliegenden Beitrag, wie insbesondere in Abschnitt 2.3 ausgeführt wurde, auch von Interesse, ob deren Rolle als Regierungs- bzw. Oppositionsparteien – auf Bundes- wie auf Landesebene – einen Einfluss auf die Wahlergebnisse bei Europawahlen hatte. Die folgende Tabelle 3 bietet einen Überblick, in welchen Jahren welche Partei welche Rolle – Regierung oder Opposition – eingenommen hat. Die Liste Martin, die nur bei Europawahlen (2004 und 2009) Sitze erobern konnte, bei Nationalratswahlen (einziger Antritt 2006) aber scheiterte und bei Landtagswahlen in Salzburg nie kandidierte, wird dabei ausgeklammert. Ebenso bleiben diejenigen Parteien unberücksichtigt, die zwar zeitweise im Nationalrat vertreten waren, aber bei Europawahlen nicht kandidierten oder am Einzug ins EP scheiterten. Das trifft auf das BZÖ 2005–2013, das Team (Frank) Stronach 2013–2017 und die Liste (Peter) Pilz/Jetzt 2017–2019 zu. Dass das Team Stronach 2013–2018 an der Salzburger Landesregierung beteiligt war, ist für die einzige Europawahl in diesem Zeitraum (2014) ebenfalls ohne Belang, da die Partei nicht für diese Wahl kandidierte. Der Untersuchungszeitraum, auf den sich Tabelle 3 und die nachfolgenden Analysen beziehen, beginnt 1994, um die letzte Landtagswahl (1994) bzw. die letzte Nationalratswahl (1995) vor der ersten Europawahl (1996) zu Vergleichszwecken einbeziehen zu können. Er endet 2019 mit der letzten Europawahl. Neben den Rollen der Parteien enthält die Tabelle auch die laut Theorie der „Nebenwahlen“ zu erwartenden Effekte auf deren Ergebnisse bei den Europawahlen, getrennt nach den beiden „Hauptwahlebenen“ Bund (Nationalratswahlen) bzw. Land Salzburg (Landtagswahlen).

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Europawahlen als „Nebenwahlen“

Tabelle 3: Regierungs- bzw. Oppositionsrolle der Parteien und deren erwartete Effekte auf die Europawahlen. Bund Regierung

ÖVP

SPÖ

FPÖ

1994–2000 Jun. 2000–2007 Sen. 2007–2017 Jun. 2017–2019 Sen.

1994–2000 Sen. 2007–2017 Sen.

2000–2005 Jun. 2017–2019 Jun.

2000–2007 2017–2019

1994–2000 2005–2017

Opposition

Grüne

1994–2019

LIF/NEOS

LIF 1994–99 NEOS 2013–19

Erwarteter Effekt auf Europawahl 1996



– –

++

++

++

1999



– –

++

++

++

2004

– –

++



++

2009



– –

++

++

2014



– –

++

++

++

2019

– –

++



++

++

1994–2004 Sen. 2004–2013 Jun. 2013–2019 Sen.

1994–2004 Jun. 2004–2013 Sen.

1994–1999 Jun.

2013–2019 Jun.

2013–2019

1999–2019

1994–2013

Land Salzburg Regierung

Opposition

NEOS 2018–19 Jun.

Erwarteter Effekt auf Europawahl 1996

– –





++

1999

– –





++

2004

– –



++

++

2009



– –

++

++

2014

– –

++

++



2019

– –

++

++





Anmerkungen: „Sen.“ steht für Seniorpartner (führende Regierungspartei), „Jun.“ für Juniorpartner (sonstige Regierungspartei) in einer Koalitionsregierung. Ein positives (negatives) Symbol unter „Erwarteter Effekt …“ bedeutet einen schwachen positiven (negativen) Effekt auf das Ergebnis bei der Europawahl, ein doppeltes Symbol einen starken positiven (negativen) Effekt. Quellen: Eigene Recherchen auf den Websites der Bundesregierung, des Parlaments und des Landes Salzburg.

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Die auf den ersten Blick eindeutig dominierende Regierungspartei ist die ÖVP, die auf Bundes- wie auf Landesebene im Untersuchungszeitraum durchgehend an der Regierung beteiligt war. Wie in Abschnitt 2.3 erörtert, macht es aber einen großen Unterschied, ob eine Partei im Fall einer Koalitionsregierung die Führungsposition innehat und den/die BundeskanzlerIn bzw. den Landeshauptmann/die Landeshauptfrau stellt – oder ob sie darin „nur“ die zweite oder dritte Geige spielt. Letzteres trifft aber zeitweise auf die ÖVP zu, die auf der Bundesebene im Zeitraum 1994–2000 und 2007–2017, auf der Landesebene 2004–2013 nur als Juniorpartner in von der SPÖ geführten Koalitionsregierungen fungierte. Die SPÖ nahm während ihrer Regierungsbeteiligungen auf Bundesebene (1994–2000 und 2007–2017) jeweils die führende Rolle ein und stellte auch den Bundeskanzler, wurde aber in den Jahren 2000–2007 und 2017–2019 auf die Oppositionsbänke im Nationalrat verwiesen. Auf der Landesebene hatte sie lediglich in den Jahren 2004–2013, als sie auch die Landeshauptfrau stellte, die führende Rolle in der Landesregierung inne. Davor bildete sie nur den Juniorpartner in einer von der ÖVP geführten Koalitionsregierung, danach war sie aus der Landesregierung überhaupt ausgeschlossen. Berücksichtigt man nicht nur die Regierungsbeteiligung auf Bundes-, sondern auch diejenige auf Landesebene und berücksichtigt man darüber hinaus den Status als Senior- bzw. Juniorpartner, ergeben sich aus den theoretischen Erklärungen zu „Nebenwahlen“ (siehe Abschnitt 2.3) für ÖVP wie SPÖ im Untersuchungszeitraum nicht ganz eindeutige Prognosen für ihr Abschneiden bei den Europawahlen. Für die Europawahlen 1996 und 1999 (SPÖ Seniorpartner im Bund und Juniorpartner im Land, ÖVP umgekehrt) könnte erwartet werden, dass beide Parteien als Regierungsparteien im Vergleich zu den Nationalrats- bzw. Landtagswahlen an Stimmenanteilen einbüßen, die SPÖ möglicherweise stärker als die ÖVP (weil die Bundesebene von den WählerInnen für wichtiger gehalten wird als die Landesebene). Bei der Europawahl 2004 (ÖVP Seniorpartner im Bund und bis knapp vor der Wahl auch im Land, SPÖ Opposition im Bund und bis knapp vor der Wahl Juniorpartner im Land) wäre für die ÖVP ein deutlich stärkerer Effekt (in Form von Stimmenverlusten) als für die SPÖ anzunehmen. Umgekehrt sollte es sich bei der Europawahl 2009 verhalten (SPÖ Seniorpartner in Bund und Land, ÖVP Juniorpartner auf beiden Ebenen). 2014 (SPÖ Seniorpartner im Bund und Opposition im Land, ÖVP Juniorpartner im Bund und Seniorpartner im Land) könnte bei der SPÖ ein etwas stärkerer (negativer) Effekt auftreten als bei der ÖVP. Bei der letzten Europawahl 2019, als die ÖVP auf Bundesebene (bis kurz vor dem Wahltag) und auf Landesebene als Seniorpartner regierte, wäre mit einem sichtbaren Anti-ÖVP-Effekt zu rechnen. Die SPÖ hingegen (Opposition im Bund wie im Land) müsste deutlich gestärkt werden. Aufgrund der geschilderten dramati-

Europawahlen als „Nebenwahlen“

117

schen Vorgeschichte (Auffliegen der „Ibiza-Affäre“ eine Woche vor dem Wahltag) sollte man sich mit einer systematischen Interpretation aber ohnehin eher zurückhalten. Die FPÖ befand sich zur Zeit der Europawahlen 1996 und 1999 im Bund in Opposition, während sie im Land als Juniorpartner an der Regierung teilnahm. Da sie jedoch trotz Regierungsbeteiligung im Land – jedenfalls aus Sicht ihrer Regierungspartner – vorwiegend oppositionell tätig war, kann für diese beiden Wahlen mit einem „Oppositionsbonus“ für die FPÖ in Form von Stimmengewinnen gerechnet werden. Das FPÖ-Ergebnis bei der Europawahl 2004 ist schwieriger vorherzusagen, da die Partei zu diesem Zeitpunkt als Juniorpartner der ÖVP an der Bundesregierung mitwirkte. Da sie aber nach ihrem Absturz bei der Nationalratswahl 2002 (von 26,9 auf 10 % der Stimmen) von einer mehr als viermal so starken ÖVP klar beherrscht wurde und sie sich im Land nach wie vor in Opposition befand, sollte auch hier insgesamt die Oppositionsrolle schwerer wiegen, also der FPÖ Stimmengewinne bescheren. Dem entgegenwirken könnte ihr durch die „Knittelfelder Rebellion“ 2002 ramponiertes Image, das zu grundsätzlichen Zweifeln an ihrer Wählbarkeit führte. Dieser Gegeneffekt sollte bei den Europawahlen 2009 und 2014, als die FPÖ sowohl im Bund als auch im Land die Oppositionsrolle einnahm, freilich nicht mehr spürbar sein. Die Regierungskonstellation 2019 war ident zu jener von 2004. Allerdings schien es mehr als fraglich, ob diese für die FPÖ an sich günstige Konstellation das negative Sittenbild, das ihr Bundesparteivorsitzender im „Ibiza-Video“ bot, aufwiegen würde. Bei den übrigen Parteien gestalten sich die Prognosen – der Theorie der „Nebenwahlen“ gemäß – etwas einfacher. Den Grünen gelang es erst 2020, erstmals in die Bundesregierung einzuziehen. Bis dahin verblieben sie in dauernder Opposition; 2017–2019 waren sie nicht einmal im Nationalrat vertreten. In Salzburg sind sie immerhin seit 2013 an der Regierung beteiligt. Das heißt, für die Europawahlen 1996–2009 konnten sie, besonders im Verhältnis zu den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP, auf eine Stärkung hoffen. Auch 2014 und 2019 war damit zu rechnen, da sie zu dieser Zeit nur auf Landesebene Regierungsverantwortung trugen, zudem nur in einer Rolle als Juniorpartner. Das LIF, das 1994–1999 als Oppositionspartei im Nationalrat saß, konnte bei den Europawahlen 1996 und 1999 Stimmengewinne erwarten, ebenso wie die NEOS, seit 2013 im Nationalrat, bei den Europawahlen 2014 und 2019. Die kurze Phase ihrer Regierungsbeteiligung im Land (seit 2018) sollte sich bei der Europawahl kaum auswirken.

118

Franz Fallend

4.3 Die Landes- und Bundesergebnisse bei Europawahlen im Vergleich Bevor der mögliche Einfluss von Nationalrats- und Landtagswahlen bzw. der sich daraus ergebenden Regierungskonstellationen auf die Europawahlen näher betrachtet wird, soll ein Blick darauf geworfen werden, wie weit sich die Salzburger Ergebnisse bei den Europawahlen vom österreichweiten Schnitt unterscheiden. Wenn allein der Bundestrend der jeweiligen Partei ausschlaggebend für das Wahlergebnis bei einer Europawahl sein sollte, dürften die Landesergebnisse nur unwesentlich davon abweichen. Wie Abbildung 3 veranschaulicht, gibt es jedoch bei einigen Parteien auffällige Unterschiede. So hat die ÖVP auf Landesebene durchwegs besser abgeschnitten als auf Bundesebene, wobei der Abstand 2014 und 2019 – als die ÖVP im Land den Landeshauptmann stellte und die Landesregierung anführte – besonders groß war (+5,7 bzw. +8,5 %). Dagegen hinkte die SPÖ Salzburg stets (mit 3–7 %) hinter dem gesamtösterreichischen Wahlergebnis der Partei hinterher. Im ersten Moment scheint dies für einen gewissen Einfluss der landespolitischen Verhältnisse auf die Ergebnisse der Europawahlen zu sprechen. Dem steht jedoch entgegen, dass die im Laufe der Zeit wechselnden Stärken bzw. Rollen von ÖVP und SPÖ innerhalb des Salzburger Regierungssystems offenbar keine Auswirkungen hatten. Der einheitliche Trend (ÖVP auf Landesebene stärker, SPÖ schwächer) war über alle Europawahlen hinweg kennzeichnend, obwohl sich die Machtverhältnisse 2004 und 2013 grundlegend umkehrten und zuerst die ÖVP (1994–2004), dann die SPÖ (2004–2103) und schließlich wieder die ÖVP (seit 2013) die stärkste Partei bildete und den Landeshauptmann bzw. die Landeshauptfrau stellte. Das deutet auf einen eher geringen Einfluss der Landespolitik auf das Wahlverhalten der BürgerInnen bei den Europawahlen hin. Dazu passt, dass FPÖ und Grüne (mit Ausnahme der Europawahl 1996) auf Bundes- und Landesebene immer fast die gleichen Ergebnisse aufwiesen, ebenso (ohne Ausnahme) das Liberale Forum, die Liste Martin und die NEOS. 4.4 Die Landesergebnisse bei Europawahlen im Vergleich mit den Landes- und Bundesergebnissen bei Nationalratswahlen Aufschlussreicher hinsichtlich ihres Charakters als „Nebenwahlen“ ist der Vergleich zwischen den Ergebnissen der Parteien bei Europawahlen im Land Salzburg mit ihren Ergebnissen bei den Nationalratswahlen. Dabei offenbaren sich je nach Partei unterschiedliche Muster (siehe Abbildung 4).

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Prozent 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Prozent 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Prozent

Europawahlen als „Nebenwahlen“

119

Abbildung 3: Vergleich der Landes-/Bundesergebnisse bei den Europawahlen (1996–2019)

50

ÖVP

45

40

35

30

25

10

20

EUW Salzburg

15

EUW Bund

5

0

Jahr

SPÖ

50

45

40

35

30

25

10

20

EUW Salzburg

15

EUW Bund

5

0

Jahr

50

FPÖ

45

40

35

30

25

20

EUW Salzburg

15

10

EUW Bund

5

0

Jahr

97

120

Franz Fallend

Grüne 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

EUW Bund

10 5 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

LIF/Martin/NEOS 50 45 40

Prozent

35 30 25

EUW Salzburg

Martin

20 15 10

NEOS

LIF

EUW Bund

5 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

Quelle: BMI (2020). Europawahlen. Abgerufen am 16.3.2020 unter Quelle: BMI (2020). Europawahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen . https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen.

4.4 Die Landesergebnisse bei Europawahlen im Vergleich mit den Landes- und Bundesergebnissen bei Nationalratswahlen Aufschlussreicher hinsichtlich ihres Charakters als „Nebenwahlen“ ist der Vergleich zwischen den Ergebnissen der Parteien bei Europawahlen im Land Salzburg mit ihren Ergebnissen bei den Nationalratswahlen. Dabei offenbaren sich je nach Partei unterschiedliche Muster (siehe Abbildung 4). Abbildung 4 Vergleich der Landesergebnisse bei den Europawahlen mit den Landes/Bundesergebnissen bei den Nationalratswahlen (1995–2019). [hier Abbildung einfügen]

98

Aufschlussreicher hinsichtlich ihres Charakters als „Nebenwahlen“ ist der Vergleich zwischen den Ergebnissen der Parteien bei Europawahlen im Land Salzburg mit ihren Ergebnissen bei den Nationalratswahlen. Dabei offenbaren sich je nach Partei unterschiedliche Muster (siehe Europawahlen als „Nebenwahlen“ Abbildung 4).

121

Abbildung 4: Vergleich der Landesergebnisse bei den mit Europawahlen mit den Abbildung 4 Vergleich der Landesergebnisse bei den Europawahlen den Landes/Bundesergebnissen bei den Nationalratswahlen (1995–2019). Landes-/Bundesergebnissen bei den Nationalratswahlen (1995–2019) [hier Abbildung einfügen]

ÖVP 50 45 40

Prozent

35 30 25

EUW Salzburg

20

NRW Salzburg

15

NRW Bund

10 5 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

SPÖ 50 45 40

Prozent

35 30 25

EUW Salzburg

20

NRW Salzburg

15

NRW Bund

10 5 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

97 EUW Salzburg NRW Salzburg NRW Bund 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Prozent

FPÖ

Jahr

Grüne 50 45 40

Prozent

35 30 25 20 15 10 5

EUW Salzburg NRW Salzburg NRW Bund

10 5 0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

NRW Bund

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Franz Fallend

Jahr

Grüne 50 45 40

Prozent

35 30 25

EUW Salzburg

20

NRW Salzburg

15

NRW Bund

10 5 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

LIF/NEOS 50 45 40

Prozent

35 30

EUW Salzburg

25 20 15 10

NEOS

LIF

NRW Salzburg NRW Bund

5 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

Quellen: BMI (2020). Europawahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ 98 Europawahlen; BMI (2020). Nationalratswahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi. gv.at/412/Nationalratswahlen.

Die ÖVP schnitt bei den Nationalratswahlen im Land regelmäßig besser ab als im Bund, wobei der Vorsprung von knapp 1 Prozent (1995 und 1999) bis 7 Prozent (2019) reichte. Die Entwicklung verlief aber grundsätzlich parallel: war die ÖVP im Bund stark, so zeigte sich in Salzburg zeitverzögert dasselbe Bild. Auffallend ist jedoch der Gegensatz zwischen dem Auf und Ab bei den Nationalratswahlen und der sichtbar stabileren Entwicklung der ÖVP-Stimmenanteile bei den Europawahlen. 1996 und 1999 lag die ÖVP damit über den Nationalratswahlergebnissen, 2004 deutlich darunter, 2009 und 2014 wieder darüber (jeweils sowohl den Bund als auch das Land betreffend). 2019 war das Landesergebnis bei der Nationalratswahl besser, dafür das Bundesergebnis schlechter. Das entspricht ziemlich genau den Vorhersagen laut der Theorie

Europawahlen als „Nebenwahlen“

123

der „Nebenwahlen“, wonach die auf Bundes- und/oder Landesebene dominierende Regierungspartei bei einer Europawahl „bestraft“ werden sollte – freilich mit der klaren Ausnahme der Europawahl 2019, bei der die ÖVP laut Theorie schlechter hätte abschneiden müssen (was aber nur im Vergleich mit dem Landes-, nicht mit dem Bundesergebnis eintrat). Die SPÖ, die im Untersuchungszeitraum einen generellen Abwärtstrend verzeichnete, erhielt bei den Europawahlen – mit Ausnahme von 2019 – stets geringere Stimmenanteile als bei den Nationalratswahlen. Sie konnte also insbesondere 2004 ihr von der Theorie vorhergesagtes Potential gegen die damals übermächtige ÖVP nicht ausnutzen. Die schlechteren Ergebnisse 1996, 1999, 2009 und 2014 entsprechen hingegen den theoretischen Annahmen. Die Ausnahme 2019 könnte wieder auf die besonderen Begleitumstände dieser Wahl zurückzuführen sein. Auch die FPÖ, die im Untersuchungszeitraum (wie die ÖVP) bei den Nationalratswahlen Höhen wie Tiefen erlebte, konnte ihr theoretisch meist vorhandenes Oppositions- und Protestpotential kaum nutzen. Ihre Ergebnisse bei den Europawahlen blieben stets hinter denjenigen bei den jeweils vorhergehenden Nationalratswahlen zurück. Den Tiefpunkt erreichte die FPÖ 2004, als sie als (sehr kleiner) Juniorpartner an der Bundesregierung mitwirkte, was gemäß Theorie eine gewisse Stärkung hätte erwarten lassen. Dass die Theorie die Ergebnisse der FPÖ in keinem einzigen Fall richtig vorhersagte, könnte darin liegen, dass die Partei ihr Protestpotential bereits bei den Nationalratswahlen in erheblichem Ausmaß abschöpfen konnte und ihre Anti-EU-Linie auch viele ihrer WählerInnen vom Gang zur Urne abhielt. Bei den Grünen trifft die theoretische Vermutung, dass sie als langjährige Oppositionspartei bei Europawahlen besser aussteigen würden, nur auf die Wahlen bis einschließlich 2004 zu. 2009 und 2014 schnitten sie hingegen – allerdings nur im Vergleich zu ihren Ergebnissen im Land Salzburg, nicht zu denjenigen in Österreich insgesamt – schlechter ab. Ob 2014 die Tatsache, dass sie seit 2013 an der Salzburger Landesregierung beteiligt waren, einen Einfluss hatte, kann mangels aussagekräftiger Daten nicht sicher gesagt werden. 2019 erlebten sie bei der Europawahl einen Höhenflug, der jedoch angesichts der Ausgangslage – Schock bei vielen GrünanhängerInnen über das Ausscheiden aus dem Nationalrat 2017, Rückenwind durch die weltweit gestiegene Salienz des Themas Klimawandel – abzusehen war. Für die übrigen Kleinparteien ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Während das Liberale Forum bei der Europawahl 1996 nicht an sein Ergebnis bei der Nationalratswahl 1995 herankam, übertrafen die NEOS 2014 wie 2019 ihre Ergebnisse – der Theorie der „Nebenwahlen“ entsprechend – relativ deutlich um jeweils ungefähr 2,5 Prozent. Die Liste Martin, die bei den Europawahlen 2004

124

Franz Fallend

und 2009 in Salzburg sehr erfolgreich gewesen war (mit 15,5 und 20,6 %), kann hier nicht in den direkten Vergleich einbezogen werden, da sie nur 2006 bei den Nationalratswahlen angetreten war, hier aber eher kläglich scheiterte (2,8 % bundesweit, 3,2 % in Salzburg). Gleichzeitig bestätigte ihr Abschneiden aber einen anderen Aspekt der Theorie, nämlich dass bei Europawahlen neue Parteien gute Chancen vorfinden. Das bedeutet jedoch offenbar nicht, dass sie ihren Erfolg so einfach von der europäischen auf die nationale (und regionale) Ebene übertragen können. 4.5 Die Landesergebnisse bei Europawahlen im Vergleich mit den Landtagswahl­ ergebnissen Beim Vergleich der Ergebnisse der Parteien bei den Europa- mit denjenigen bei den Landtagswahlen (siehe Abbildung 5) findet die Theorie der „Nebenwahlen“ ebenfalls Bestätigung, wenngleich weniger häufig als bei den Nationalratswahlen. Zudem gilt das auch nur unter der Annahme, dass Europawahlen in den Augen der WählerInnen gegenüber Landtagswahlen „Nebenwahlen“ darstellen, und es vernachlässigt, dass Nationalratswahlen bzw. die Regierungsbeteiligung von Parteien auf der Bundesebene einen gewichtigeren Einfluss ausüben könnten. Die ÖVP erreichte bis einschließlich 2009 bei den Europawahlen in Salzburg geringere Stimmenanteile als bei den Landtagswahlen, d. h., auch 2009 wurde die Partei von den WählerInnen „bestraft“, obwohl sich die Machtverhältnisse im Land schon 2004 gedreht und die SPÖ auf Platz 1 in der Gunst der WählerInnen gerückt war. Nicht ins Bild der Theorie der „Nebenwahlen“ passt auch, dass die ÖVP 2014 und 2019 bei den Europawahlen noch stärker abschnitt als bei den Landtagswahlen, obwohl sie seit 2013 die führende Regierungspartei im Land bildet. Bei der SPÖ zeigt sich beim Vergleich mit den Landtagswahlen derselbe Trend wie beim Vergleich mit den Nationalratswahlen: die Partei schneidet bei jeder darauffolgenden Europawahl schlechter ab. Das ist für die Wahlgänge 1996 und 1999, als die SPÖ im Land als Juniorpartner an der Regierung mitwirkte, schon etwas überraschend, für diejenigen 2014 und 2019, als sich die SPÖ in Opposition befand, sogar noch mehr. Der Theorie der „Nebenwahlen“ zu entsprechen scheint hingegen, dass der Abstand zwischen dem Landtags- und dem Europawahlergebnis zur Zeit der Dominanz der SPÖ im Land 2004 und 2009 mit 19 bzw. 20 Prozent (!) riesig war. Gleichzeitig ist hierbei nochmals darauf hinzuweisen, dass eine gezielte „Bestrafung“ der SPÖ durch die WählerInnen bei der Europawahl 2004 eher unwahrscheinlich ist, da die Landtagswahl, bei der die SPÖ die Macht übernommen hatte, erst drei Monate zurücklag.

bzw. die Regierungsbeteiligung von Parteien auf der Bundesebene einen gewichtigeren Europawahlen als „Nebenwahlen“ Einfluss ausüben könnten.

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Abbildung 5 5: Vergleich der Landesergebnisse bei den Europawahlen mit den Abbildung Vergleich der Landesergebnisse bei den Europawahlen mit den Landtagswahlergebnissen (1994–2019). Landtagswahlergebnissen (1994–2019) [hier Abbildung einfügen]

ÖVP 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

LTW Salzburg

10 5 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

SPÖ 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

LTW Salzburg

10 5 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

FPÖ 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

LTW Salzburg

10

99

5

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

Grüne 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

LTW Salzburg

5 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

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Jahr

Grüne 50 45 40

Prozent

35 30 25 20

EUW Salzburg

15

LTW Salzburg

10 5 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

0

Jahr

Quellen: BMI (2020). Europawahlen. Abgerufen am 16.3.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen ; Land Salzburg (2020). Landtagswahlen seit 1945. Quellen: BMI (2020). Europawahlen. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmi.gv.at/412/ Abgerufen am 16.3.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html#hist.5.0 . 25.6.2020 unter Europawahlen; Land Salzburg (2020). Landtagswahlen seit 1945. Abgerufen am Die ÖVP erreichte bis einschließlich 2009 bei den Europawahlen in Salzburg geringere https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html#hist.5.0. Stimmenanteile als bei den Landtagswahlen, d. h., auch 2009 wurde die Partei von den

Für die FPÖ verlaufen synchron mit WählerInnen „bestraft“, obwohldie sich Europawahlergebnisse die Machtverhältnisse im Landweitgehend schon 2004 gedreht und den Landtagswahlergebnissen, was gegen eine starke Wirkung von „Ne­ die SPÖ auf Platz 1 in der Gunst der WählerInnen gerückt war. Nicht ins Bild der Theorie der benwahl“-Kalkülen WählerInnen zuden sprechen scheint. 1999 und „Nebenwahlen“ passt auch,bei dassden die ÖVP 2014 und 2019 bei Europawahlen noch stärker 2014 erzielte die Partei bei den Europawahlen immerhin mehr Stimmen als abschnitt als bei den Landtagswahlen, obwohl sie seit 2013 die führende Regierungspartei im bei den vorausgegangenen Landtagswahlen. Die höheren Stimmenanteile Land bildet. der Grünen bei den Europa- im Vergleich zu den Landtagswahlen bis einBei der SPÖ zeigt sich beim Vergleich mit den Landtagswahlen derselbe Trend wie beim schließlich 2009 deuten hingegen daraufhin, dass die Partei in dieser Zeit Vergleich mit den Nationalratswahlen: die Partei schneidet bei jeder folgenden ihren „Oppositionsbonus“ ausspielen konnte. Ob darauf das schlechtere Ergebnis Europawahl schlechter ab. Das ist für die Wahlgänge 1996 und 1999, als die SPÖ im Land als frag2014 als „Regierungsmalus“ interpretiert werden kann, erscheint jedoch 100 lich, da das Ergebnis der Landtagswahl 2013 (20,2 %) kein gewöhnliches war, sondern auf außerordentliche landespolitische Ereignisse (Auffliegen des Finanzskandals im Jahr davor)53 zurückzuführen war – insofern wäre es mehr als überraschend gewesen, wenn die Grünen bei der folgenden Europawahl ein ähnliches Ergebnis erreicht hätten. An sonstigen Parteien sind hier nur die NEOS anzuführen, die als einzige bei Europa- und Landtagswahlen angetreten und erfolgreich waren: 2014 gewannen sie bei der Europawahl in Salzburg 7,1 Prozent der Stimmen, 2019 8,3 Prozent. Bei der Landtagswahl 2018 waren sie auf 7,3 Prozent gekommen, womit das Ergebnis der Europawahl 2019 in eingeschränktem Maße als Bestäti53 Walter Scherrer (2019). Der Salzburger Finanzskandal, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, WienKöln-Weimar, S. 142–177.

Europawahlen als „Nebenwahlen“

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gung des von der Theorie der „Nebenwahlen“ vorhergesagten Trends gesehen werden könnte.

5. RESÜMEE Der vorliegende Beitrag befasste sich mit der Wahl des Europäischen Parlaments 2019 in Österreich, speziell in Salzburg. Die Europawahl fand unter aufsehenerregenden Rahmenbedingungen statt. Knapp eine Woche davor wurde ein Video veröffentlicht, das den FPÖ-Bundesparteivorsitzenden Heinz-Christian Strache kompromittierte. Der ÖVP-Bundesparteivorsitzende und Bundeskanzler Sebastian Kurz nahm dies zum Anlass, die Koalition mit der FPÖ aufzukündigen. Vorgezogene Neuwahlen zum Nationalrat waren die Folge. Es war zu erwarten, dass die innenpolitischen Ereignisse das Ergebnis der Europawahl stark beeinflussen würden – noch stärker als sonst. In der politikwissenschaftlichen Literatur werden Europawahlen seit Langem als „Nebenwahlen“ dargestellt, an denen die WählerInnen, weil es dabei „um weniger geht“, in geringerem Ausmaß als an nationalen Parlamentswahlen teilnehmen. Darüber hinaus werden, so die Theorie, Europawahlen von den WählerInnen gerne dazu genutzt, nationale Regierungsparteien durch Stimmentzug zu „bestrafen“ – im Fall von Koalitionsregierungen trifft das insbesondere die jeweils führenden Regierungsparteien – und im Gegenzug Oppositions- und neue Parteien zu belohnen. Im vorliegenden Beitrag wurde die Theorie der „Nebenwahlen“ auf das Land Salzburg angewendet, wobei der gesamte Zeitraum seit der ersten in Öster­reich durchgeführten Europawahl (1996) untersucht wurde. Die abschlie­ßende Tabelle 4 fasst zusammen, wie erfolgreich die Theorie bei der Vorhersage der Europawahlergebnisse in Bezug auf die jeweils vorangegangenen Nationalratswahlen im Land bzw. die Landtagswahlen war – wie sich gezeigt hat, insgesamt eher mäßig.

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Franz Fallend

Tabelle 4: „Erfolgsquote“ der Theorie der „Nebenwahlen“ Richtige Vorhersagen für… ÖVP

SPÖ

FPÖ

Grüne

LIF/NEOS

bezogen auf

bezogen auf

bezogen auf

bezogen auf

bezogen auf

NRW

LTW

NRW

LTW

NRW

LTW

NRW

LTW

NRW

1996



















1999

















2004

















2009

















2014



















2019



















Europawahlen

LTW



Quelle: Eigene Darstellung.

Der Vergleich der Europawahlen mit den Nationalratswahlen zeigte, dass die Parteien in Salzburg in 15 Fällen so abschnitten, wie es die Theorie vorhersagte – in 12 Fällen war dies hingegen nicht der Fall. Auffällig ist, wie erwähnt, insbesondere, dass die Theorie bezüglich der FPÖ regelmäßig daneben lag. Beim Vergleich mit den Landtagswahlen schnitt die Theorie sogar noch schlechter ab: In 10 Fällen stimmte die aus der Theorie abgeleitete Vorhersage, während sie in 15 Fällen nicht zutraf. Hinsichtlich der Landtagswahlen ist allerdings ohnehin zweifelhaft, ob sie im selben Ausmaß wie die Nationalratswahlen als „Hauptwahlen“ gegenüber Europawahlen gelten können. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass die hier vorgestellten Ergebnisse mit großer Vorsicht zu interpretieren sind, da sich die Analyse nur auf einen Vergleich der Wahlergebnisse, nicht auf abgefragte Motive der WählerInnen stützen konnte. Auch konnten mangels geeigneter Umfragedaten die Einflüsse weiterer Faktoren (z. B. der Zufriedenheit mit der Regierung, der im Wahlkampf vorrangig behandelten Themen oder ebenenspezifischer PolicyPräferenzen) auf das Wahlverhalten nicht überprüft werden.

HERBERT DACHS

„Das Hemd näher als der Rock?“ Über Beziehungen der Salzburger ÖVP zur Bundespartei

1. ZUR PROBLEMSTELLUNG Politische Parteien leben in Bundesstaaten stets in einer doppelten Spannung: Einerseits sind sie – sofern ausreichend organisiert – in der vertikalen Dimension Teil einer bundesweiten Parteiorganisation (deren thematischen, personellen und finanziellen Anforderungen sie genügen sollten), und andererseits sind sie in der horizontalen Dimension für die regionale Handlungsebene zuständig.1 „Zuständig“ heißt, dass sich die jeweilige Partei bzw. deren führende Eliten auf Ebene der einzelnen Bundesländer und Gemeinden politisch bewähren müssen bzw. entsprechende politische Wahlergebnisse erreichen sollten. So leben Parteien in einem Bundesstaat wie Österreich vielfach in mehr oder weniger „turbulenten, vielgestaltigen Umwelten, aus denen unterschiedliche Rahmenbedingungen, Einflüsse und Forderungen entstehen. Diese Umweltkonstellationen sind räumlich wie zeitlich in hohem Maße partikular, da in den einzelnen Bundesländern spezifische Kombinationen an historischen, sozialstrukturellen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten auftreten, welche die Organisationsentwicklung insgesamt sowie die konkreten politischen Problemlagen beeinflussen.“2 Aus dieser prinzipiellen und strukturell angelegten Diversität können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unterschiedliche Erwartungshaltungen an die jeweilige Bundespartei resultieren. Neben konvergenten Elementen (wie gemeinsame Weltanschauung, soziale Homogenität, organisatorische Kooperationen und Hierarchien) werden daher die regionalen Parteieliten stets mehr oder weniger deutlich akzentuierte Profilierungskalküle kultivieren (in den Ländern selbst und/oder gegenüber der Bundespolitik bzw. der Bundespartei). Die Qualität und die Vehemenz der1 Vgl. zum Folgenden Herbert Dachs (2003). Politische Parteien in Österreichs Bundesländern – zwischen regionalen Kalkülen und bundespolitischen Loyalitäten, in: Herbert Dachs (Hg.), Der Bund und die Länder: Über Dominanz, Kooperation und Konflikte im österreichischen Bundesstaat, Wien-Köln-Weimar, S. 69–138. 2 Josef Schmid (1990). Die CDU: Die Organisationsstrukturen, Politiken, Funktionsweisen einer Partei im Föderalismus, Opladen, S. 9 f.

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Herbert Dachs

artiger Vorstöße werden je nach Partei von deren Positionierung im jeweiligen Regierungs- und Machtsystem abhängen (Regierungsmit- oder Alleinverantwortung oder Opposition, Positionierung im Verbändesystem o. Ä.). Grundsätzlich gingen die politischen Eliten in Österreich nach 1945 wohl mit Recht durchgehend davon aus, dass die bundespolitischen Entwicklungen, Themen und Stimmungen in die regionalen Politikarenen hineinwirkten, und den regionalen Eliten war es daher immer darum zu tun, mit interner aber auch demonstrativ öffentlich geäußerter Kritik oder auch Zustimmung darauf zu reagieren.3 Man wird also annehmen können, dass die Beziehungen zwischen den Bundesparteien und ihren Länderorganisationen bei Weitem komplexer sind als von außen ersichtlich. Andererseits ist es schier unmöglich diese Komplexität in all ihren Facetten zu rekonstruieren bzw. die vielfach intern ablaufenden Vorgänge können bestenfalls exemplarisch sichtbar gemacht werden. Wenn wir im Folgenden die Beziehungen der Salzburger ÖVP zur Bundespartei thematisieren, müssen wir uns daher überwiegend mit essayistischen explorativen Erörterungen begnügen. Behandelt soll werden: ein kursorischer historischer Überblick über diesbezügliche Spannungen in der Gesamtpartei ab 1945, das quantitative Gewicht der Salzburger VP in der Bundes-VP, Salzburgs ÖVP als Teil der „Westachse“ und jüngste Entwicklungen. Mit Salzburg haben wir ja ein Bundesland vor uns, das von einem hohen Anteil des tertiären Sektors (Dienstleistung, Tourismus) und einem starken urbanen und suburbanen Wähleranteil (Stadt Salzburg und Salzburg Umgebung) geprägt ist. Diese und noch andere Faktoren führten in den letzten Jahrzehnten zu einer relativ großen Beweglichkeit im Politiksystem.

2. DIE ÖVP UND IHR STRUKTURELL BEDINGTES „LÄNDERPROBLEM“ 2.1 1945 bis Ende der 1960er-Jahre: Die Länder gewinnen an Einfluss Die Österreichische Volkspartei – 1945 mit dem Anspruch gegründet, eine bürgerliche Sammelpartei sein zu wollen (als Vereinigung verschiedener Berufsgruppen und ideologischer Strömungen) – war von Anfang an nach einem doppelten Organisationsprinzip aufgebaut: funktional und territorial.4 Terri3 Franz Fallend (2019). Vom Finanzskandal zur „Normalisierung“: Eine Analyse der Salzburger Landtagswahlen 2013 und 2018, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien, S. 9–48, hier S. 11 ff. 4 Wolfgang C. Müller (2006). Die Österreichische Volkspartei, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich et al. (Hg.): Politik in Österreich: Das Handbuch, Wien, S. 341–363.

„Das Hemd näher als der Rock?“

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torial orientierten sich die regionalen Parteiorganisationen an den Grenzen der Bundesländer, und funktional entsprach die Untergliederung im Wesentlichen den drei klassischen Bünden (Bauern-, Wirtschafts- und Arbeiter- und Angestelltenbund). Diese sind als selbständige Vereine registriert und die Mitgliedschaft zur ÖVP wird bis heute in den allermeisten Fällen über den Beitritt zu einem der Bünde erworben. So gesehen kann man die ÖVP als eine „‚mittelbare‘ (indirekte) Partei“ bezeichnen5, in der die bevorzugten Loyalitäten eher bei den Bünden lagen (versprachen sie doch vor allem Interessendurchsetzung, Karrieremöglichkeiten und organisatorische Nähe). Tatsächlich haben die genannten Bünde in den ersten Jahrzehnten der 2. Republik den Kurs der ÖVP entscheidend geprägt und der Einfluss von „bündeunabhängigen Interessen“ war nach Christa Altenstetter in jenen Jahren „… so gering, dass er im innerparteilichen Willensbildungsprozess nicht in Erscheinung …“ trat.6 Dagegen begehrte jedoch ab Anfang der 60er-Jahre eine aus den Ländern kommende „Bundesgenossenschaft“ der Reformer auf. Angeführt vom steirischen Landeshauptmann (LH) Josef Krainer sen. und dem Salzburger LH Josef Klaus forderte man vehement tiefreichende Reformen. Die alten Formen der pragmatisch dahinlavierenden Instinktpolitik à la Julius Raab und das personelle Übergewicht der östlichen Bundesländer schien überholt. An dessen Stelle drängte man auf programmatische, organisatorische und personelle Reformen. Den sog. „Reformern“ gelang es in den bewegten 1960er-Jahren tatsächlich, auf diverse Regierungsbildungen starken Einfluss zu nehmen (z. B. Gorbach I, 1961–1963, und Gorbach II, 1963–1964, sowie Klaus I, 1964–1966). Man versuchte dabei seitens der ÖVP bei der Vergabe von Regierungsämtern erstmals so etwas wie einen flächendeckenden Länderproporz einzuhalten, und auch die Alleinregierung Klaus II (1966–1970) konnte dann mit Recht pointiert als „Länderkabinett“ apostrophiert werden. Dieser Umstand war aber dann auch wesentlich für ihr Scheitern mitverantwortlich.7 Sahen sich doch die Regierungsmitglieder der Bundespartei letztlich weniger verpflichtet als dem Bundesland oder der Organisation, welche sie entsandt hatte. Den Bünden waren ihre Sonderinteressen und den Ländern war „das Hemd lokaler Wahlen stets näher als der Rock bundespolitischer Erfolge“.8

5 Ebd., S. 349. 6 Christa Altenstetter (1969). Der Föderalismus in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der politischen Verhältnisse von 1945–1966, Heidelberg, S. 36. 7 Ludwig Reichold (1975). Geschichte der ÖVP, Graz-Wien, S. 377. 8 Willi Sauberer (1998). Die „Kärntner Straße“ zur Zeit der ÖVP-Alleinregierung. in: Robert Kriechbaumer (Hg.): Die Ära Josef Klaus, Band 1: Dokumente, Wien-Köln, S. 117 f.

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2.2 Die 1970er-Jahre: Die ÖVP in Opposition – die Länder als Helfer? Die Nationalratswahl 1970 stürzte die ÖVP dann in eine tiefe Krise. Verlor sie doch damit nicht nur die Kanzlerschaft, sondern für viele Jahre auch die Regierungsbeteiligung. Das hatte für die heterogene Integrationspartei tiefreichende Konsequenzen insofern, als sie sich seit ihrer Gründung quasi als logische Regierungspartei empfunden hatte. Nur als solche war es ihr bisher möglich gewesen, zumindest einen Großteil ihrer meist zentrifugalen interessenspolitischen Kalküle in ihren Reihen zufrieden zu stellen. „Regierungstätigkeit war demgemäß ein erstrangiges Integrationsinstrument“.9 Diese war nun bis auf Weiteres verloren, was bundespolitisch zu einer deutlichen – von der Regierung Kreisky (SPÖ) als Spaltungselement kultivierten – Aufwertung der Sozialpartnerschaft führte, was die VP-nahen Interessenvertretungen von Wirtschaft und Bauern stärkte. Innerhalb der Volkspartei kam es andererseits zu einer Hinwendung zu den Ländern bzw. insbesondere zu den sechs von VPMehrheiten dominierten. So stand in den 1970er-Jahren also „auf der einen Seite der Oppositionsführer bzw. der Bundesparteivorstand (der VP; Anm. d. Verf.) außerhalb der Regierungsverantwortung und fern von der Macht; auf der anderen Seite die Landesorganisationen, mit Ausnahme von Wien alle in der Landesregierung, alle mit Macht.“10 Dieses Potential versuchte dann die Parteiführung insofern zu nutzen, dass man profilierte LandespolitikerInnen dazu animierte, sich verstärkt kritisch zu bundespolitischen Fragen zu äußern, also eine Art von publizistischer „Länderfront als Opposition“ zu aktivieren. Auch der Salzburger LH Hans Lechner (1961–1977) beteiligte sich an dieser Initiative der Bundespartei. Interessant und bezeichnend aber seine diffizile Grenzziehung: Ja – so meinte er –, der Bundesregierung solle man seitens der Länder in sachlichen Punkten durchaus Kontra geben, jedoch – so seine Einschränkung – stehe die ÖVP in erster Linie im Parlament in Opposition und die Grenzen einer oppositionellen Landespolitik wären dort erreicht, „wo sie gegen die Ziele und Interessen des Landes verstoßen würden“.11 Diese Einschätzung war in den VP-Landesorganisationen dominant. Sie richteten ihr Agieren danach aus, was der Partei bzw. dem eigenen Land Vorteile und deren

  9 Alfred Ableitinger (1995). Partei- und Organisationsstruktur, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hg.): Volkspartei – Anspruch und Realität: Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, Wien, S. 137–161, hier S. 139. 10 Andreas Khol (1980). Zwischen Technokratie und Demokratie: Die Parteireform der ÖVP 1979/80, in: Andreas Khol/Günther Ofner/Alfred Stirnemann (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik ’79, Wien-München, S. 435–468, hier S. 462. 11 Salzburger Nachrichten (SN) (15./16.6.1972).

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Chancen bei der nächsten Landtagswahl (LTW) zu verbessern versprach. Die Landesorganisationen beobachteten daher nicht nur die politisch ungeliebte Politik der Bundesregierung, sondern auch das Agieren der eigenen Bundesparteispitze mit Argusaugen und sie reagierten auf unerwünschte Wendungen und Handlungen der eigenen Parteispitze mit harscher und meist öffentlich inszenierter Schelte und Kritik. AdressatInnen bei alledem waren neben den angesprochenen Personen in der Bundespolitik vor allem die potentielle WählerInnenschaft im eigenen Bundesland, der gegenüber man sich in ein besseres Licht zu setzen versuchte. Entsprechende kritische Enunziationen seitens der Länder gegen ihre Bundespartei waren in den 1970er und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre Legion und sollen hier nicht im Einzelnen angeführt werden.12 Wenig verwunderlich daher, dass in jenen Jahren immer wieder beschwörende Rufe nach Geschlossenheit und Einigkeit der Partei erhoben und auch entsprechende Parteireformen versucht wurden (durch die Parteiobleute Josef Taus 1979, Alois Mock 1979, Josef Riegler 1991), die zwar einiges zur Vereinheitlichung und relativen Geschlossenheit beigetragen und die Parteiführung zumindest den Statuten nach gestärkt haben, den strukturell angelegten Konfliktstoff letztlich aber auch nicht neutralisieren konnten.13 2.3 Die 1980er-Jahre: Als „Juniorpartner“ in der Bundesregierung Mit dem Wiedereinzug der ÖVP in die Bundesregierung 1987 ging nun für ihre parteiinternen KritikerInnen eine Art von „Oppositionsbonus“ verloren. In dieser als „Sanierungspartnerschaft“ apostrophierten Koalition war die VP nun wieder gezwungen, auch unpopuläre Regierungsmaßnahmen mit zu verantworten, gegen eine erstarkte Opposition (die vehement rechtspopulistisch agierende FPÖ und die Grünen). In dem Maße, in dem mehrere Landtagswahlen verlorengingen (z. B. 1989 in Kärnten, Tirol und Salzburg), brachen in der ÖVP prompt wieder alte Konfliktlinien auf (wie steirische „Reformer“ gegen „die Niederösterreicher“, „Liberale“ gegen die „Stahlhelm-Fraktion“, programmatische und personelle Öffnung versus Konzentration auf Stammwähler usw.). Im Wesentlichen standen sich dabei die mitgliederstarke niederösterreichische Landesorganisation um LH Siegfried Ludwig sowie ein Großteil des ÖAAB um Robert Lichal und Alois Mock als Wortführer und andererseits die sich als Reformer verstehenden Josef Krainer jun., der Wiener VP-Obmann Erhard Busek u. a. gegenüber, die auf eine programmatische Öffnung und personelle Erneuerung drängten. Immer wieder wurden die nach Meinung 12 Dachs, Politische Parteien, S. 102 f. (s. Fn. 1). 13 Khol, Zwischen Technokratie und Demokratie, S. 442 f. (s. Fn. 10).

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steirischer KritikerInnen (wie Gerhard Hirschmann oder Bernd Schilcher) angeblich schwachen Leistungen der VP-MinisterInnen kritisiert, die auch die VP-Landesorganisationen gefährden würden. Die SteirerInnen gingen dabei so weit, dass sie, um eine drohende Stationierung der Draken-Abfangjäger in Zeltweg zu verhindern, gegen den eigenen Verteidigungsminister einen Misstrauensantrag stellten und im weiteren Verlauf mit Sezessionsplänen drohten.14 Auch wurde moniert, dass sich seit dem Regierungseintritt die einst föderalistisch strukturierte VP wegen der Besetzung wichtiger Posten mit NiederösterreicherInnen in eine „äußerst zentralistische, der SPÖ aufs Haar gleichenden Partei entwickelt“ habe. Nicht umsonst – so Bernd Schilcher – „ist der Ostraum dominierend wie sonst nur bei der SPÖ“.15 2.4 Die 1990er-Jahre: Trotz Parteireform bleiben Spannungen Der steirische Reformelan sollte aber bald einen empfindlichen Dämpfer erfahren: Der Alois Mock als Parteiobmann ablösende Steirer Josef Riegler verlor die Nationalratswahl 1990 dramatisch (–9,2 %) und in der Steiermark fiel die VP von einer absoluten Mehrheit auf 44,2 Prozent zurück. Vor seinem Rücktritt gelang es aber Riegler noch, seiner Partei eine Organisationsreform zu verpassen, die zu mehr Geschlossenheit führen sollte. (Eine vorher angestellte kritische Fehleranalyse hatte u. a. den Landesparteien ein ausgeprägtes Verfolgen von „Eigeninteressen“ bescheinigt).16 Nun wurde z. B. den Landesorganisationen eine „relative Autonomie“ gegenüber der Bundespartei zugesprochen, andererseits wurde – so weit reichend wie in der VP noch nie – für den Parteiobmann eine Art Generalkompetenz festgeschrieben (u. a. mit einem suspensiven Veto bei der Reihung der Landeslisten für den Nationalrat). Zwar wurde diese relativ weitreichende Parteireform gelobt, andererseits konnte nicht übersehen werden, dass die tatsächliche Anwendung derartiger statutarischer Möglichkeiten weiterhin vom politischen Gewicht des jeweiligen Amtsinhabers und vom Veto-Gewicht der jeweiligen Teil- oder Landesorganisation abhängen würde. Das Faktum, dass etwa 1994 fast 40 Prozent der Mitglieder aus Niederösterreich stammten (ca. 22 % aus Oberösterreich und 16 % aus der Steiermark),17 musste jede disziplinierende Ambition (Statuten hin oder 14 Dachs, Politische Parteien, S. 104 f. (s. Fn. 1). 15 Zitiert nach Profil (9.3.1987). 16 Alfred Stirnemann (1993). Zwischen Zielgruppen- und Kommunikationsproblemen: Die Parteireform der ÖVP 1991, in: Andreas Khol/Günther Ofner/Alfred Stirnemann (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1992, Wien-München, S. 669–693. 17 Dachs, Politische Parteien, S. 96 (s. Fn. 1).

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her) relativieren. Dieses hatte wohl auch Josef Riegler im Auge, wenn er einige Jahre später feststellte: Das Konstruktionsproblem der ÖVP seien weniger die Bünde, sondern die Dominanz der Länder. „Die Macht baut sich von unten auf, die Bundespartei ist eher eine Dachorganisation“. Dieses Faktum könne man zwar nicht aus der Welt schaffen, aber man sollte – was man mit der Parteireform 1991 erreichen wollte – zumindest „die Gestaltungshoheit im jeweiligen Kompetenzbereich“ anerkennen und respektieren.18 Das sollte wohl heißen: die Länder sollten der Bundespartei nicht ständig ins Handwerk pfuschen, sie sollten sich vielmehr auf ihre regionale Politik konzentrieren. Ein frommer Wunsch. Die verlorene Nationalratswahl 1994, weiter sinkende Umfragewerte für die Bundes-ÖVP und entsprechende Auswirkungen auf die Länderparteien in Form von Landtagswahlverlusten (für die wesentlich die Politik im Bund verantwortlich gemacht wurde), Dissens über Koalitionspräferenzen (mit oder ohne die unter ihrem 1986 gewählten Parteivorsitzenden Jörg Haider zunehmend rechtspopulistisch orientierte FPÖ) und einige gegenüber Teilen der VP-WählerInnenschaft schwer kommunizierbare unpopuläre Entscheidungen, wie u. a. das Sparpaket: Diese Entwicklungen führten ab Mitte der 1990er-Jahre in der ÖVP zu erneuten Führungsdiskussionen, welche der niederösterreichische LH Erwin Pröll – der aggressivste innerparteiliche Dauerkritiker – als Wortführer mit der deftigen Drohung eröffnete, man werde „den Herrschaften in der Bundespartei … ins Ruder greifen“19 und im Vorfeld des „Superwahljahres“ 1999 meinte (der nach einer erfolgreichen LTW gestärkte) Pröll: „Die Herrschaften auf Bundesebene müssen sich noch sehr anstrengen, um bei den kommenden EU-Wahlen und der Nationalratswahl ein akzeptables, vernünftiges und respektables Ergebnis nach Haus zu bringen.“20 In dem Maße, in dem nun die ÖVP bundespolitisch in die Defensive geriet, zeigten sich prompt die in dieser Partei altbekannten Reflexe: Man distanzierte sich im äußeren Auftreten. So präsentierten sich Landesparteien etwa als „Steiermark-Partei“, „TirolPartei“ oder als Namensliste „Dr. Christoph Zernatto“ und das vielfach, ohne überhaupt das Parteilogo zu verwenden.21 Es passte ins Bild jener Jahre, dass etwa die steirische Volkspartei ankündigte, einen „völlig eigenständigen Nationalratswahlkampf“ zu wollen, der ganz auf den steirischen Spitzenkandidaten Martin Bartenstein zugeschnitten werden sollte.22 An BundespolitikerInnen 18 Die Presse (3.12.1997). Länder sind für VP ein Konstruktionsproblem. 19 Kurier (31.12.1994). 20 Die Presse (22.12.1998). 21 Kurier (6.1.1999); Der Standard (16./17.1.1999). 22 Der Standard (19.12.1998); Die Presse (9.7.1999).

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zeigte man wenig Interesse bzw. es lag in der damaligen Logik der Länderparteien, kaum BundespolitikerInnen als WahlrednerInnen einzuladen. 2.5 Die „Wende“ zu Schwarz-Blau 1999/2000: Die Kanzlerschaft erzwingt Loyalität Die trotz verlorener Wahl 1999 überraschend errungene Kanzlerschaft durch Wolfgang Schüssel änderte das Verhältnis zwischen der Bundes-ÖVP und ihren Länderparteien in kürzester Zeit dramatisch. Endlich befand sich die Bundespartei wieder in der 1970 verlorengegangenen Führungsposition, die es ihr leichter machte, die Länder zu Loyalität zu verpflichten bzw. diese auch durchzusetzen. Schüssel gelang es rasch, die Länderparteien von der Notwendigkeit dieses Regierungsexperiments zu überzeugen. Er hielt aber auch stets enge Kontakte mit den Landesparteiobmännern und band diese durch offensives Informieren in seine Politik ein. Dabei verfolgte er seine bundespolitische Agenda konsequent und er nahm auch bei seinen Entscheidungen auf eventuell anstehende Landtagswahlen wenig Rücksicht. Zwar resultierte daraus die eine oder andere Kritik, Schüssels Position und seine Reformagenda blieben davon aber innerparteilich unberührt. Kritisch eingemahnt wurde aber doch gelegentlich die oft fehlende Überzeugungsarbeit vor den entsprechenden Reformen und dass diese „zu rasch, zu schmerzhaft“ ausfielen. Auch sei der im Zusammenhang mit der Pensionsreform und mit dem Verkauf der VOEST oder der BUWOG-Wohnungen sichtbar gewordene „blanke Neoliberalismus“ kein guter Ratgeber.23 Als „Leidtragende“ dieses offensiven Reformeifers der Bundesregierung konnten sich 2003 mit Recht die Landeshauptleute von Tirol und Oberösterreich empfinden, die bei ihren Landeswahlen – trotz vielversprechender Meinungsumfragen im Vorfeld – empfindliche Einbußen hatten hinnehmen müssen. Diese wurden wohl mit Recht wesentlich auf die damaligen dramatischen innenpolitischen Debatten um die heftig umkämpfte Pensionsreform und den Verkauf der VOEST zurückgeführt.24 Auch der Salzburger LH Franz Schausberger, der im März 2004 seine LTW zu schlagen hatte, sprach früh und immer wieder das seiner Meinung nach überhastete Reformtempo der Bundesregierung an. „Ich könnte nicht gerade sagen, dass die Bundespolitik hilfreich ist.“ Zwar gebe es für ihn „überhaupt keinen Zweifel“ an Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, aber er erwarte von der

23 Der Standard (3.10.2003). LH Herwig van Staa im Interview. 24 Herbert Dachs (2004). Die Pensionsreform 2003 – ein Musterbeispiel für Konkurrenzdemokratie?, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.): Soziostruktureller Wandel im Verfassungsstaat: Phänomene politischer Transformation, Wien-Köln-Graz, S. 523–535.

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Regierung, „dass sie mit Stil und Hausverstand bei den Reformen vorgeht“.25 ( So wurden z. B. drei Wochen vor der Salzburger LTW 2004 die ersten auf die Pensionsreform zurückzuführenden Pensionskürzungen schlagend). Trotz derartiger kritischer Töne blieb Schüssels Regierungskurs innerparteilich im Wesentlichen unumstritten. Er hatte offenbar insbesondere die Länder zumindest vorübergehend quasi „gezähmt“, wie sogar einer der früheren notorischen Zwischenrufer, der Steirer Gerhard Hirschmann, konzedieren musste: „Die Länder wurden innerhalb der Partei auf das ihnen zustehende Maß zurückgeschraubt. Sie sind jetzt gewissermaßen auf die Ersatzbank verbannt.“26 2.6 Nach der „Wende“ 2006: Rückfall in alte Muster Das Jahrzehnt 2007 bis 2017, mit der ÖVP nun wieder in der ebenso ungeliebten wie undankbaren Position als „Juniorpartner“, zeigte im angespannten Verhältnis zwischen VP-Länderparteien und ihrer Bundespartei eine Neuauflage der altbekannten Muster aus den 1990er-Jahren. Erst mit dem frisch gekürten Bundesparteiobmann Sebastian Kurz und seiner Kanzlerschaft sollte ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Davon später.

3. BEZIEHUNGEN DER SALZBURGER ÖVP ZUR BUNDESPARTEI Nachdem wir den historischen Kontext und die strukturellen Bedingtheiten für die notorischen Spannungen in der ÖVP zwischen Bundespartei und ihren regionalen Länderparteien beleuchtet haben, nun zu den entsprechenden „Beziehungen“ der Salzburger VP zur Bundespartei: Schon in den ersten Jahren der Zweiten Republik hatte die Salzburger ÖVP eine bittere Pille zu schlucken. Hatten doch Wiener Zeitungen im Jahr 1947 immer wieder berichtet, der allgemein als überkorrekt geltende Salzburger LH Albert Hochleitner hätte sich bei einer umstrittenen Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft (an den politisch schillernden Schweizer Kaufmann Friedrich Bohnenberger) unkorrekt verhalten. Leopold Figl (damals Bundeskanzler und Bundesparteiobmann) zwang diesen dann kurzerhand auf telefonischem Wege zum Rücktritt (29.11.1947). Diese Intervention, der sich die geschockten Salzburger VP-Gremien erst nach heftigen internen Diskussionen schließlich fügten, rief auch bei den anderen Landtagsparteien Kritik hervor und es wurde einhellig festgestellt, dass derartige Fragen in erster Linie die 25 Der Standard (24.7.2003; 1.10.2003). 26 Profil (10.6.2000).

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zuständigen Instanzen im Land behandeln sollten. Eine Untersuchung dieser Vorgänge rehabilitierte Hochleitner dann in allen Punkten und auch der Bundesparteiobmann Figl musste das beim VP-Landesparteitag am 13./14.2.1948 eingestehen.27 In der Salzburger ÖVP blieb die Erinnerung an diese „Zurechtweisung“ durch die Bundes-VP lange Jahre in unangenehmer Erinnerung. Das „Löcken“ wider den Bundesstachel behielt aber in Salzburg eine gewisse Tradition. Josef Klaus, der vor allem in seiner Phase als angriffiger Reformer auch Kritik an der eigenen Partei geübt hatte, haben wir schon kurz erwähnt. Sein Nachfolger LH Hans Lechner musste dann schmerzhaft erleben, welch marginale Bedeutung landespolitische Erfolge gegenüber der gesamtösterreichisch vorherrschenden Politik-Stimmung haben können: Die LTW 1969 ging für die ÖVP – trotz vorzeigbarer sachpolitischer Erfolge – deutlich verloren (nur mit 664 Stimmen behielt sie die Nase vorne). Dieses Ergebnis war wesentlich als Protestwahl gegen die unpopuläre ÖVP-Alleinregierung zu interpretieren. Fünf Jahre später gelang dem selben Hans Lechner im Land eine absolute Mehrheit – nun gegen eine SPÖ-Alleinregierung auf Bundesebene (+6,4 % auf 47,1 %; SP –4,2 % auf 36,1 %). Insgesamt blieb aber Lechners Sachkritik an der Bundesebene maßvoll kritisch. Pointierter hingegen Lechners Nachfolger LH Wilfried Haslauer sen. Er polemisierte, kräftig unterstützt von seinem Landesparteisekretär Franz Schausberger, weniger gegen die eigene Partei, sondern vor allem gegen die damalige Kleine Koalition SPÖ-FPÖ (1983–1987) und das mit gutem Erfolg (absolute Landtagsmehrheit 1984). Legendär auch sein Konflikt mit der Bundesregierung um die Offenhaltung der Geschäfte am 8.12.1984, wofür er dann ja vor den Verfassungsgerichtshof zitiert und auch verurteilt wurde.28 Schausberger hielt dann nach seiner Wahl zum LH (1996–2004) – wie schon gezeigt – mit seiner Kritik an dem als hektisch und ungeduldig empfundenen Reformkurs der VP-FP-Koalition nicht hinter dem Berg (womit er sich stets kalmierend-disziplinierende Rückrufe seitens der Bundespartei einhandelte). Sah er sich doch gerade in seinem eigenen Wahlkampf 2003/2004 einer politischen Kontrahentin gegenüber, die in einer Art Doppelstrategie ihre Kritik an der Landespolitik mit Kritik an der Bundespolitik kombinierte. Schausberger

27 Franz Schausberger (1985). Von Hochleitner zu Klaus: Die Salzburger ÖVP von 1945 bis 1949, in: Franz Schausberger (Hg.): Im Dienste Salzburgs: Zur Geschichte der Salzburger ÖVP, Salzburg, S. 101–183, hier S. 117–122. 28 Die Presse (11.5.2013). Der „alte Haslauer“ stand unter Ministeranklage; Herbert Dachs (2001). Die Salzburger Parteiarena 1975–1989, in: Herbert Dachs/Roland Floimair/Franz Schausberger/Ernst Hanisch (Hg.): Die Ära Haslauer: Salzburg in den 70er und 80er Jahren, Wien-KölnWeimar, S. 53–115, hier S. 86 f.

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beklagte sich, dass sich Gabi Burgstaller „zu sehr in die Rolle der Opposition, vor allem die Bundespolitik betreffend, hineinbegibt“. Negative Ereignisse würden dann ihm als dem Ersten zugeschrieben (was sich dann prompt in schlechteren Umfragewerten niederschlage).29 Auch Wilfried Haslauer jun. schaltete sich – nachdem er 2013 für die ÖVP die Position des LH von der SPÖ (Gabi Burgstaller, 2004–2013) zurückerobert hatte – verstärkt mit Kommentaren zu bundespolitischen Themen in die öffentliche Debatte ein. So plädierte er z. B. im Juli 2013 und dann immer wieder gemeinsam mit seinen Vorarlberger bzw. Tiroler Amtskollegen Markus Wallner und Günther Platter (zur „Westachse“ siehe unten) für eine – in der damaligen Bundespartei prinzipiell abgelehnte – gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen (bzw. für entsprechende Schulversuche).30 Auch stellte er in Aussicht, dass Salzburger Abgeordnete zum Nationalrat in Einzelfällen entgegen dem Klubzwang abstimmen könnten: Es gibt eine gewisse Aufmerksamkeit der westlichen und südlichen Bundesländer, die sich im Bund zu wenig wiederfinden. Sie sind in der Bundesregierung nicht ausreichend vertreten und haben bei der Verteilung der Mittel den Eindruck, dass auf sie zu wenig Bedacht genommen wird. Da ist ein aufgestauter Ärger vorhanden, der nicht zu unterschätzen ist. … Letztlich geht es in der Politik aber immer um Zugänglichkeiten, dass man in den Entscheidungsgremien mit dabei ist. Wenn du in der Bundesregierung nicht drinnen bist, ist es schwieriger, Dinge durchzusetzen.31 Exkurs: Statutenänderung verleiht dem Bundesparteiobmann mehr Gewicht Mit der Wahl von Sebastian Kurz zum Bundesparteiobmann und seinem Aufstieg zum Bundeskanzler im Frühjahr 2017 stand auch die Salzburger ÖVP vor einer neuen Situation. Bekanntlich hatte Kurz als Bedingung für seine Obmannschaft eine Statutenreform verlangt, welche den politischen Handlungsspielraum des Vorsitzenden beträchtlich erweitern sollte. Mit seinen ultimativ formulierten sieben Forderungen (die jedoch – wie Kritiker anmerkten – Großteils schon bisher in den Statuten vorgesehen waren) sicherte Kurz dem jeweiligen Obmann bei inhaltlichen und personellen Fragen weitestgehend freie Hand. Die wichtigsten Punkte: Möglichkeit des Antretens mit einer eigenen Namensliste, KandidatInnenaufstellung nach dem Reißverschlussprinzip, freie Bestellung des Generalsekretärs und des Regierungsteams ohne notwen29 Salzburger Bezirksblätter (7.2.2002). 30 Der Standard Online (3.7.2013). Gegen ÖVP-Linie: Haslauer will gemeinsame Schule. 31 Der Standard Online (8.1.2014). Haslauer: „Da ist aufgestauter Ärger vorhanden“.

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digen Vorstandsbeschluss, freie Hand bei der Verhandlung von Koalitionen und letztlich: der Obmann „erstellt“ die KandidatInnenliste für die Wahlen ins Europäische Parlament und in den Nationalrat. „Die Nationalratslisten auf Landesebene werden im Einvernehmen mit dem Bundesparteiobmann erstellt, dem ein Vetorecht zukommt.“ (§ 44 Abs. 8 BPO) 32 Zwar obliegen die Auswahl von bundesweiten Wahlkampfthemen und die zentrale Kampagnenleitung der Bundespartei (§ 7 Abs. 9 BPO), aber andererseits sei die Beschäftigung mit Bundesthemen und die Befassung mit bundespolitischen Informationen „nicht nur eine ‚Bringschuld‘ der Bundesorgane, sondern auch eine ‚Holschuld‘ der Landesorgane. Die Einbringung von Bundesthemen bei den Organen der Bundespartei ist auch Pflicht der Landesparteien.“ (§ 8 Abs. 2 BPO). Diese Formulierung ließ freilich die Frage offen, in welcher Form eine derartige „Einbringung“ gewünscht war: allein durch Initiativen in Gremien oder auch in Form öffentlicher Erörterungen und Kritik. 3.1 „Beziehungen“ – quantitative und qualitative Dimensionen Was macht nun ganz allgemein gesprochen die „Beziehungen“ einer VP-Landespartei zu ihrer Bundespartei bzw. ihr Gewicht in dieser aus? Abgesehen von den üblichen institutionalisierten Präsenzen und Kooperationen in den diversen Gremien der Parteiorganisation (wie Bundesparteitag, Bundesparteivorstand und Bundesparteileitung, diverse Fachausschüsse und die Konferenz der GeschäftsführerInnen) spielen dabei die folgenden Faktoren eine entscheidende Rolle: 1. die Quantität der Mitglieder (und das damit gegebene Organisations- und Mobilisierungspotential auch für nationale Wahlgänge) 2. der politische Erfolg (ablesbar vor allem an Wahlergebnissen regional wie national) 3. Anzahl und Gewicht bundespolitisch relevanter Positionen mit VertreterInnen aus Salzburg 4. die Qualität und Kreativität des Führungspersonals, seine Resonanz auch in überregionalen Medien und sein kreatives Gestalten der vorhandenen politischen Möglichkeiten.

32 Bundespartei-Organisationsstatut der Österreichischen Volkspartei, in der Fassung vom 1.7.2017, §§ 44, 8.

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3.1.1 Zur Quantität der Mitglieder (1) Mit ihren gegenwärtig ca. 33.000 Mitgliedern33 (um Doppelmitgliedschaften bereinigt) ist die ÖVP zwar in Salzburg die bei Weitem mitgliederstärkste Partei, im Rahmen der Gesamtpartei mit ihren ca. 640.000 Mitgliedern aber nur ein kleines Gewicht. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, macht ihr Anteil nur ca. 5 Prozent aus. Tabelle 1: ÖVP-Mitglieder nach Bundesländern Bundesland B K

Wahlberechtigte NRW 2019 233.182

Zahl der Mitglieder (ca.) 25.000

Anteil an Mitgliedern der Gesamtpartei (in %) 3,91

437.785

22.000

3,44



1,292.902

ca. 200.000

31,34



1,104.436

ca. 150.000

23,51

S

395.640

33.000

5,17

ST

965.659

104.000

16,30

T

543.044

ca. 50.000

7,83

V

247.500

20.000

3,13

W

1,149.664

34.000

5,32

Gesamt

6,369.812

ca. 638.000

Quelle: Bundespartei der ÖVP.

Die Salzburger Landesorganisation zählt also im Vergleich zu den wesentlich mitgliederstärkeren Ländern wie Niederösterreich, Oberösterreich und Steiermark – um die größten zu nennen – zu den innerparteilichen „Leichtgewichten“. Um etwa bei Postenbesetzungen oder programmatischen Initiativen etwas erreichen zu können, wird sie stets auf die Kooperation mit anderen angewiesen sein.

33 Für diese und weitere Infos danke ich dem Landesgeschäftsführer der Salzburger ÖVP Mag. Wolfgang Mayer (Interview am 14.10.2019) und Mag. Romed Perfler, Direktor der ÖVP-Bundespartei (Mail vom 5.12.2019).

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3.1.2 Zum politischen Erfolg (2) Hier hat die Salzburger ÖVP in jüngerer Zeit zweifelsohne einige eindrucksvolle Erfolge vorzuweisen: Bei der LTW 2013 gelang es ihr als Folge des Finanzskandals und der dadurch vor allem gebeutelten SPÖ trotz eines im Gesamten schwachen Wahlergebnisses (nur 29,0 % bei einem Verlust von 7,5 %) die 2004 verlorene Position des LH wieder zurückzugewinnen. Bei der LTW 2018 wurde diese Führungsposition mit 8,8 Prozent Zugewinn und einem Stimmenanteil von 37,8 Prozent eindrucksvoll bestätigt. Auch bei der Nationalratswahl (NRW) 2017 gelang ein beträchtlicher Stimmenzuwachs (+ 11 %) auf knapp 38 Prozent und auch bei der NRW 2019 „glänzte“ die Salzburger VP wieder (46,4 % = +8,7 % Zuwachs, Österreich-Durchschnitt VP 37,5 %). Ähnlich gut schnitt sie bei den 2019 abgehaltenen Wahlen zum Europäischen Parlament ab (Salzburg 43,1 % = +10,8 %, Österreich-Durchschnitt VP 34,5 %), womit sie auch hier über dem Durchschnitt der gesamtösterreichischen VP-Ergebnisse lag. Erfolgreich war die ÖVP auch bei den Gemeinderatswahlen 2019 (+4,7 %). In der bisher als SPÖ-Hochburg geltenden Stadt Salzburg stellt sie nach der vorgezogenen BürgermeisterInnenwahl bereits seit 2017 mit Harald Preuner wieder den Bürgermeister.34 Nach einem derartigen Erfolgslauf dürfte wohl – so ist zu vermuten – die Salzburger Stimme in den diversen Gremien der Bundespartei eher gehört werden, als wenn die Salzburger ÖVP notorisch erfolglos agieren würde. Zumal sich durch diese Erfolge auch die Bundespartei bestätigt fühlen kann. 3.1.3 Zur Besetzung bundespolitisch relevanter Positionen (3) Die 2014 von LH Haslauer geäußerte Unzufriedenheit mit der schwachen Präsenz von Salzburger ExponentInnen in Führungspositionen in Parlament und Regierung ist nachvollziehbar: Erst seit Dezember 2017 (bis Mai 2019) war nach langer Zeit mit Mag. Karoline Edtstadler (als Staatssekretärin) wieder ein/e SalzburgerIn (zumindest vorübergehend) in der Regierung präsent. Im Parlament ist seit Längerem Peter Haubner in zahlreichen Ausschüssen vertreten (seit Oktober 2019 u. a. als Obmann des wichtigen Budgetausschusses und Budgetsprecher der ÖVP), in mehreren Ausschüssen auch der langjährige Präsident der Salzburger Landwirtschaftskammer Franz Leonhard Eßl (seine 34 Armin Mühlböck (2019). Wahlen im Schatten des Salzburger Finanzskandals: Die vorgezogenen BürgermeisterInnenwahlen in der Stadt Salzburg im Herbst 2017, in: Christian Dirninger/Reinhard Heinisch/Robert Kriechbaumer/Franz Wieser (Hg.): Salzburger Jahrbuch für Politik 2018, Wien-Köln-Weimar, S. 49–72.

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bundespolitische Karriere dürfte sich aber altersbedingt dem Ende zuneigen). Das Ausmaß an Salzburger Präsenz in relevanten bundespolitischen Positionen ist aus Salzburger Sicht zweifelsohne als suboptimal einzustufen. 3.1.4 Zu kreative und dynamische Politikmuster (4) Unter diese Rubrik könnte man verschiedene Elemente und Wege regionaler Politikgestaltung subsumieren, die insgesamt eine gewisse Unverwechselbarkeit regionaler Politik und deren Dynamik kennzeichnen können. Zu nennen wäre hier zunächst der reichlich unkonventionell erscheinende „Salzburger Weg“ bei der Regierungsbildung: Der heute mit hohen Akzeptanzwerten ausgestattete und über das Bundesland hinaus bekannte Wilfried Haslauer führte ab 2013 eine aus ÖVP, Grünen und Team Stronach zusammengesetzte Koalition und seit 2018 bilden ÖVP, Grüne und Neos die Regierung. Beide Regierungsbündnisse zeigten und zeigen einen sachorientiert-nüchternen und kooperativen Regierungsstil, der Konflikte intern bearbeitet und der auch den politisch schwächeren RegierungsteilnehmerInnen ihre Erfolge lässt. Insgesamt ein Politikmodus, der bei den WählerInnen auf hohe Zustimmung stößt (IMAS-Umfrage März 2018: 84 % waren mit der Landespolitik „sehr“ oder „einigermaßen“ zufrieden).35 Zwar sollte die mögliche Vorbildwirkung derartiger Arrangements für andere Bundesländer nicht überbewertet werden, immerhin werden hier aber Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet und Berührungsängste abgebaut, die schließlich auch bundespolitisch relevant wurden (Salzburg – neben Vorarlberg und Tirol – als „schwarz-grüner Lehrmeister“?). Sebastian Kurz scheint einem derartigen experimentierfreudigen und liberalen Kurs gegenüber zumindest nicht grundsätzlich abgeneigt. Er, der auch im direkten WählerInnenkontakt so stark mobilisiert, wie wenige andere VPPolitikerInnen, hat sich auch bei diversen regionalen Wahlkämpfen stark engagiert: Für Salzburg fand er dafür z. B. im Jahr 2019 13 mal ganz- oder halbtägig für entsprechende Auftritte Zeit, für den BürgermeisterInnenwahlkampf fabrizierte man mit ihm zahlreiche persönlich gewidmete Video-Botschaften und Wahlplakate für Bürgermeister-KandidatInnen und auch in der Stadt unterstützte er mehrmals den VP-Bürgermeister-Kandidaten Harald Preuner (wobei man gar einen Auftritt im politisch als „rot“ geltenden Stadtteil Lehen riskierte, und das mit großem Publikumszulauf).

35 Fallend, Vom Finanzskandal zur „Normalisierung“, S. 31 (s. Fn. 3).

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3.2 Salzburgs ÖVP und die „Westachse“ Derartige Engagements, deren tatsächlicher Erfolg freilich schwer genau quan­tifiziert werden kann, verpflichten aber andererseits auch die lokalen Poli­tikeliten vom Landesparteiobmann abwärts. Sie legitimieren Kurz zusätzlich und über alle Statuten hinaus und sie immunisieren ihn gegen allfällige Querschüsse seitens der Länderparteien – zumindest so lange er politischen Erfolg hat. Mögen die Landeshauptleute Markus Wallner, Günther Platter und Wilfried Haslauer auch von Sebastian Kurz’ Strahlkraft bisher mehr oder weniger profitiert haben, ihre starken Mehrheiten und ihre politische Reputation haben sie sich in ihren Ländern schon lange vorher erworben. Sie kultivieren schon seit Jahren ein immer wieder neu formuliertes „Aber“ zur jeweiligen Bundespolitik. Gemeint ist die sogenannte „Westachse“. Den ersten Anstoß dazu gab bereits 2009 der Tiroler LH Platter, der eine zunehmende Zentralisierung der Bundespolitik zu beobachten glaubte, welche eine starke Regionalentwicklung zu gefährden drohe.36 In den folgenden Jahren trat er dann gemeinsam mit den LHs aus Vorarlberg und Salzburg immer wieder vor die Öffentlichkeit, um auf Probleme hinzuweisen bzw. Lösungen einzufordern, die alle drei Länder gleichermaßen betrafen. Auch Haslauer hatte schon als LH-Stellvertreter mehrmals betont, dass sich die Salzburger ÖVP stärker in die Bundespolitik und damit auch in der Bundespartei einbringen wolle.37 Diese Position bekräftigte er dann als frisch gekürter Landeshauptmann, wenn er meinte: „Wir sehen mit einer gewissen Sorge, dass die Entscheidungsbedeutung oder die Einflussnahme von den östlichen Bundesländern stärker ausgeprägt ist als die von den westlichen Bundesländern. Da bedarf es einer Korrektur.“38 Denn „zusammen haben wir mehr Einwohner als Niederösterreich“, wie er als Seitenhieb auf den besonderen Einfluss von Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll auf die Bundespartei spitz hinzufügte.39 Daher wollte man Reformvorschläge einbringen in Bereichen, welche die drei Länder gleichermaßen betrafen, nämlich zu den Themenfeldern Verkehr, Pflege, Gesundheit, Bildung, Bundesstaatsreform und Steuerreform. Im Zuge der Regierungsverhandlungen 2013 kam es dann prompt zu einem innerparteilichen Eklat, weil die „Westachse“ für Schulversuche in Richtung gemeinsamer Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen plädierte (was in der Bundespartei jedoch strikt abgelehnt wurde). Um eine drohende 36 Tiroler Tageszeitung Online (27.11.2009). Westachse gegen neuen Zentralismus. 37 SN Online (8.1.2011). Salzburger ÖVP will künftig im Bund stärker mitreden. 38 Vorarlberger Nachrichten Online (26.6.2013). Haslauer möchte die Westachse ausbauen. 39 Kurier Online (16.10.2013). Haslauer verhandelt giftigstes Thema.

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Personaldebatte um den damaligen Parteiobmann Michael Spindelegger zu verhindern, wurden diese und andere Forderungen der westlichen Bundesländer abgelehnt und deren Vertreter quasi zur Ordnung gerufen. Hatte die Kronen Zeitung noch dramatisch getitelt: „Schwarze Krise: ÖVP stellt ‚WildWest-Achse‘ ruhig“,40 so galt das nur vorübergehend, denn die KritikerInnen aus dem Westen ließen nicht locker und der VP-Parteichef Spindelegger trat einige Monate später zurück. Der Journalist Martin Fritzl brachte den eigentlichen Grund für den Rücktritt so auf den Punkt: „Die Landeschefs im Westen konterkarierten die Linie der Bundes-ÖVP und sorgten damit letztendlich für den Sturz des Parteichefs.“41 Zum Obmannwechsel von Mitterlehner zu Kurz äußerte sich Haslauer zwar insgesamt positiv, aber distanziert. Laut Kurz habe ihm dieser vor der Entscheidung, die Parteiführung zu übernehmen, „Mut zugesprochen“.42 Die Bundesregierung hätte nach Haslauer ein „sehr brauchbares Arbeitsprogramm“ vorgelegt und wie Kurz die Regierung führe, sei „souverän“.43 Eine gewisse Spannung zwischen den drei Bundesländern und der Bundesregierung war aber trotzdem von Anfang an spürbar (u. a. wohl auch darauf zurückzuführen, dass – im Unterschied zur türkis-blau zusammengesetzten Bundesregierung – bis zu den Vorgängen im Jahr 2019, die zur vorgezogenen Neuwahl führten, in allen drei westlichen Bundesländern Grüne in den Regierungen vertreten waren und noch sind). So führte etwa der Regierungsvorschlag zur Verschärfung der Mindestsicherung für Unruhe. Er hätte es den Ländern verboten, Wohnbeihilfen zu bezahlen. Unter Hinweis auf die hohen Wohnungspreise im Westen wurden den Ländern dann entsprechende zusätzliche Unterstützungen freigestellt.44 Darüber hinaus hielten die westlichen Länder aber eine Reihe von gewichtigen Einwänden gegen den Entwurf aufrecht. Illustrativ dazu die Schlagzeile im „Kurier“: „Westachse auf Wiener Linie. Mindestsicherung. Höflich, aber deutlich: Die Kritik der ÖVP-Länder Salzburg, Tirol, Vorarlberg“.45 Ähnliche Vorbehalte gab es auch gegenüber der Abschiebung von Lehrlingen und der Reform der Sozialversicherung, bei der man darauf drängte, dass eventuell erwirtschaftete Kassen-Überschüsse in den jeweiligen Bundesländern verbleiben sollten. 40 Kronen Zeitung Online (14.1.2014). Schwarze Krise: ÖVP stellt ‚Wild-West-Achse‘ ruhig. 41 Die Presse Online (27.8.2014). Wie Spindelegger an der Westachse verzweifelte. 42 SN Online (14.9.2017). „Haslauer hat mit Mut zugesprochen“. 43 SN Online (5.4.2018). „Ich bin auf der Überholspur“ (LH Haslauer im Interview). 44 Der Standard Online (31.5.2018). Regierung erlaubt Ländern Wohnbeihilfen zur Mindestsicherung. 45 Kurier Online (15.1. 2019). Westachse auf Wiener Linie. Mindestsicherung. Höflich, aber deutlich: Die Kritik der ÖVP-Länder Salzburg, Tirol, Vorarlberg.

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Insgesamt verhielten sich die Exponenten der „Westachse“ während der abgelaufenen eineinhalb Jahre der VP/FP-Koalition aber relativ ruhig. Angesichts der für den Herbst 2019 angesetzten Nationalratswahlen ging man aber wieder an die Öffentlichkeit und formulierte Wünsche an die kommende Bundesregierung. Nach einer gemeinsamen Arbeitssitzung im Juli 2019 stellte Wilfried Haslauer u. a. klar, dass die Westachse sich „nicht gegen jemand“ richte, sondern dazu diene, um „gemeinsam Politik zu machen“. Immerhin hätten alle drei Bundesländer eine ähnliche Struktur und daher vergleichbare politische Probleme zu lösen. Von der künftigen Bundesregierung erwarte man sich Initiativen im Bereich der Pflege (Pflegefonds, Pflege zu Hause), Wohnen, Sicherheit und Duale Ausbildung (gegen Fachkräftemangel).46 Über künftige Koalitionen wollte man vor der Wahl nicht spekulieren. Türkis-Blau sei aber – so die Aussage im Juli und nach der „Ibiza“-Affäre – „keineswegs fix“.47 Mit den Ergebnissen der Nationalratswahl im September 2019 konnten sich auch die Parteiführungen der drei westlichen Bundesländer mit ihren Koalitionen bestätigt fühlen, hatte doch die VP überall mehr oder weniger deutliche Zugewinne erzielt. „Mit dem Ergebnis“ – so der Tiroler Landeshauptmann – „ist auch die Westachse Tirol, Salzburg und Vorarlberg gestärkt worden … Wenn es notwendig ist und es um die Interessen unserer Bundesländer geht, werden wir auch künftig eng abgestimmt unsere Meinung zum Ausdruck bringen“.48 Was ist sie nun, diese „Westachse“? Nur eine von den Medien dankbar aufgenommene mediale Schimäre oder doch ein ernstzunehmendes potentielles Korrektiv? Wir können hier eine im Feld des informellen Föderalismus der ÖVP angesiedelte Dialektik beobachten: Auf der einen Seite haben wir eine von Parteiobmann Kurz bisher straff und erfolgreich geführte VP-Regierungspartei, die auf ein strikt kontrolliertes Erscheinungsbild Wert legt („message control“) und allfällige interne Gegenstimmen mit dem Verweis auf notwendige Kompromisse in der Koalition, auf gute Umfragewerte und notwendige Disziplin abwehrt.49 Auf der anderen Seite stehen die drei westlichen Bundes46 Die Presse Online (17.7.2019) Forderungen an den Bund: Wird die Westachse wieder wilder?; Vorarlberger Nachrichten Online (16.7.2019). „Westachse“ demonstriert Stärke. 47 SN Online (16.7.2019). Für Westachse ist Türkis-Blau keineswegs fix; Tiroler Tageszeitung Online (16.7.2019). Was „Westachsler“ von neuer Regierung wollen. 48 Die Presse Online (15.10.2019). Die schwarz-grünen Lehrmeister. 49 Kurz legte sich auch mit dem früher in der VP fast allmächtigen Ex-Landeshauptmann Erwin Pröll an: Auf diverse öffentliche Aufforderungen an Kurz, sich in der sogenannten „Liederbuchaffäre“ einzuschalten, beschied ihm dieser, er solle sich mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten und es habe dann – so Pröll – ein halbes Jahr „Funkstille“ zwischen ihnen geherrscht. Siehe dazu Der Standard Online (11.3.2019). Erwin Pröll berichtet von „heftigen Verwerfungen“ mit Kurz.

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länder, bei Wahlen erfolgreich und auch vom günstigen bundespolitischen „Rückenwind“ profitierend, die es sich aber doch nicht nehmen lassen wollen, dort und da (und seit 2017 deutlich seltener) bundespolitische Politiken zu kommentieren bzw. Wünsche und inhaltliche Vorbehalte anzumelden. Ob die „Westachse“ einen Machtfaktor darstellen kann und mehr als eine belächelte „Scheinachse“ sein wird, ist insgesamt schwer zu beurteilen (immerhin umfassen die drei Länder 18,9 % der Wahlberechtigten – Niederösterreich 20,2 %). Erinnert sei aber an die schmerzliche Abfuhr für die Vorschläge zu einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen 2013. Andererseits sind die immer auch an die eigene WählerInnenschaft adressierten und teilweise kritischen Botschaften öffentlich formuliert worden und fordern von der Bundespartei bzw. Bundesregierung irgendwelche Reaktionen, die beide Seiten ihr Gesicht wahren lässt. Sebastian Kurz ist als Kanzler bisher ein auf seine Partei beruhigend wirkender Mix gelungen (bestehend aus strikten inhaltlichen Vorgaben nach außen und gleichzeitig intensiver Kommunikation und Überzeugungsarbeit nach innen).50

4. RESÜMEE Die wechselhaften und nicht selten turbulenten Beziehungen der VP-Länderparteien zu ihrer Bundespartei waren selten auf tieferreichende weltanschaulich-ideologische Divergenzen zurückzuführen, sondern orientierten sich überwiegend an schlichten Nützlichkeits-Kalkülen bzw. an der jeder Demokratie immanenten Wettbewerbs-Logik. Getrieben von der Erfahrung, dass sich schlechtes oder unpopuläres Agieren der eigenen Partei auf Bundesebene unweigerlich auch auf das Wahlverhalten im eigenen Bundesland auswirken würde, versuchten die einzelnen Länderorganisationen darauf zu reagieren. Dass dieses Reagieren teilweise heftig ausfiel, war darauf zurückzuführen, dass der parteiinterne Zusammenhalt stets von einer föderalistischen Lockerheit und damit einhergehenden zentrifugalen Potentialen charakterisiert war, dass die VP in einem Großteil der Länder den Landeshauptmann stellten und durch ihre Mehrheiten die regionalen Politiken beeinflussen und so diverse Ressourcen bewegen konnten und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden. Das alles erhöhte die innerparteiliche Konfliktfähigkeit der einzelnen Länderorganisationen.

50 Laut Landesgeschäftsführer Wolfgang Mayer habe bezüglich parteiinterner Kommunikation ein „Qualitätssprung“ stattgefunden (Interview am 14.10.2019).

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Es handelt sich bei alledem um das in Bundesstaaten stets beobachtbare Grundanliegen der regionalen politischen Eliten, zumindest im Bewusstsein der WählerInnen ein landespolitisches Milieu zu definieren und abzugrenzen. Prioritär sollte – so der Wunsch – zumindest bei Landeswahlen über Fragen und Inhalte der Landespolitik abgestimmt werden und nicht über Themen oder Stimmungen der Bundespolitik. Nachdem diese Separierung aber selten gelingt, reagiert man quasi prophylaktisch auf die Bundespolitik, sofern diese umstritten ist und in Kritik steht. Ganz anders hingegen, wenn die eigene Partei erfolgreich in Regierungsverantwortung steht oder die Regierung gar anführt, wenn eine akzeptierte Sachpolitik betrieben und diese von überzeugenden Personen geführt wird, dann wird von den Länderparteien der Appell zur Loyalität lieber erhört (schon wegen der Erwartung auf wichtige Ressourcen und Zugänge und Möglichkeiten der Mitgestaltung) bzw. die Parteiführung wird diese Loyalität entsprechend energisch und mit Nachdruck einfordern. Die politische Grundhaltung der VP-Länderparteien gegenüber ihrer (nicht selten nur als mehr oder weniger nützliche „Dachorganisation“ verstandene) Bundespartei wird aber – so kann vermutet werden – stets von einer gewissen „reservatio mentalis“ bzw. einem grundsätzlichen landespolitischen Vorbehalt geprägt bleiben und das ist politisch klug. Die an Mitgliedern vergleichsweise kleine Salzburger ÖVP profitiert jedenfalls von der gegenwärtigen Situation. Sie befindet sich in einer Win-win-Situation. Die zumindest publizistisch viel beachtete Profilierung und Aufwertung als Teil der „Westachse“, die positive Unterstützung seitens der Bundespolitik, Wahlerfolge im eigenen Land und eine gewisse überregionale positive Aufmerksamkeit (nicht zuletzt wegen der unorthodoxen Regierungskonstellationen und des sachlichen und liberalen Grundtons) lassen die Salzburger VP gegenwärtig im Rahmen der Gesamtpartei als eine Art „Musterschüler“ erscheinen. Auch sei nach Aussage des Landesgeschäftsführers Wolfgang Mayer die Zusammenarbeit mit der Bundespartei „so gut wie lange nicht“.51 „Hemd“ und „Rock“ scheinen also im Moment für die Salzburger ÖVP zueinander zu passen.

51 ORF Salzburg Online (10.3.2019). Gasteiger verlässt ÖVP: Protest gegen Bundespartei.

ROBERT HUBER/ERIC MIKLIN

Aus Fehlern gelernt? Das Verhältnis zwischen den FPÖ-Landesgruppen und der Bundespartei im Vergleich Schwarz-Blau und Türkis-Blau 1. EINLEITUNG Bund-Länder-Beziehungen in Parteien bergen nicht nur für die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ein latentes Konfliktpotential. Unterschiedliche Regionen haben oft strukturell bedingt unterschiedliche WählerInnen und Interessen, die – siehe z. B. die wiederholten Diskussionen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) zwischen der Bundespartei und der Burgenländischen Landespartei – unter einen Hut zu bringen eine große Herausforderung sein kann. Hinzu kommt, dass parteiintern unterschiedliche Landesgruppen oft historisch bedingt durchaus gewisse ideologische Unterschiede aufweisen, wie etwa bei den österreichischen Grünen die Unterschiede zwischen den eher bürgerlich geprägten Landesgruppen in Westösterreich und der Wiener Landesgruppe zeigen. Noch einmal signifikant erhöht sich dieses Konfliktpotential dann, wenn eine Partei auf Bundesebene in der Regierung sitzt, bietet doch gerade der österreichische Föderalismus AkteurInnen auf der Landesebene genügend Anreize dafür, zu versuchen, die eigene Popularität „zuhause“ zu steigern, indem man die Bundesebene für vermeintliche Versäumnisse oder fehlende finanzielle Unterstützung kritisiert. Konflikte innerhalb von Regierungsparteien zwischen Regierungs- und Landesebene konnten in der Vergangenheit daher regelmäßig auch bei SPÖ und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) beobachtet werden. Innerhalb der FPÖ erreichten sie in der Vergangenheit jedoch ein besonders hohes Ausmaß. Schon die erste Regierungskoalition von 1983 bis 1987, damals als Juniorpartner der SPÖ, waren von massiven Widerständen der Parteibasis in Bundesländern wie Salzburg, Oberösterreich und v. a. Kärnten geprägt. Diese führten letztendlich nicht nur zum Sturz des damaligen Vizekanzlers und Bundesparteiobmanns Norbert Steger und zur Machtübernahme durch Jörg Haider, sondern als Konsequenz daraus auch zum Verlust der Regierungsämter durch die Aufkündigung der Koalition durch den damaligen Kanzler Franz Vranitzky.1 Die zweite Regierungsbeteiligung der FPÖ, diesmal in Koalition mit der ÖVP 1 Profil Online (9.9.2006). Jubiläum: Chronologie eines Putsches.

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(Schwarz-Blau), zeigte ein sehr ähnliches Bild. Bereits wenige Monate nach dem Regierungseintritt mehrten sich kritische Zurufe nicht nur aus Kärnten, in das sich der nach Beschluss des Koalitionsabkommen als Parteiobmann zurückgetretene Jörg Haider als „einfacher Landeshauptmann“ zurückzog, sondern aus vielen anderen Ländern, und führten letztendlich wieder zu vorgezogenen Neuwahlen und, bald darauf, sogar zur Spaltung der FPÖ. In der Literatur werden diese internen Konflikte oft auf für rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ typische strukturelle und inhaltliche Eigenschaften zurückgeführt (etwa in sich widersprüchliche inhaltliche Positionen sowie fehlende parteiinterne Strukturen, um daraus resultierende Konflikte friedlich beizulegen), welche vermeintlich sogar die Regierungsfähigkeit dieser Parteien generell verhindern.2 Interessanter Weise zeigte sich bei der dritten und bisher letzten FPÖ-Regierungsbeteiligung, der Neuauflage der ÖVP-FPÖ-Koalition von 2017 bis 2019 jedoch ein gänzlich anderes Bild. Diesmal trat die FPÖ über alle Ebenen hinweg weitgehend geschlossen auf und interne Konflikte waren, zumindest öffentlich, bis zum abrupten Scheitern der Koalition in Folge des „Ibiza-Skandals“ kaum zu beobachten. Dieser Beitrag diskutiert, wie diese doch deutlichen Unterschiede im BundLänder-Verhältnis bei der FPÖ zwischen ihrer Regierungsbeteiligung bei Schwarz-­Blau zu Beginn der 2000er-Jahre einerseits und Türkis-Blau ab 2017 andererseits zu erklären sind. Wir argumentieren, dass Veränderungen in drei Bereichen diese unterschiedlichen Entwicklungen begünstigt haben. Erstens, formelle und informelle institutionelle Reformen in der Pateiorganisation, die dazu beigetragen haben, dass vor und während Türkis-Blau ein wesentlich besserer Interessensausgleich zwischen den Ebenen stattfinden konnte und so innerparteiliche Konflikte entweder gar nicht auftraten oder, wenn doch, zumindest konstruktiver beigelegt werden konnten. Zweitens gab es bei der Regierungsbeteiligung ab 2017 eine höhere faktionale Kongruenz zwischen den Führungspersonen auf Bundes- und Landesebene innerhalb der FPÖ – was die Gefahr innerparteilicher Machtkämpfe reduzierte. Drittens kam es, ermöglicht durch programmatische Veränderungen schon ab 2005 sowie eine inhaltliche Annäherung zwischen FPÖ und ÖVP, unter Türkis-Blau zu deutlich geringeren Veränderungen bezüglich der zentralen, wahlentscheidenden Positionen der FPÖ im Vergleich zur Oppositionsphase davor – was Kritik inhaltlich ent-

2 Reinhard C. Heinisch (2003). Success in opposition – failure in government: explaining the performance of right-wing populist parties in public office, in: West European Politics, 26 (3), S. 91–130; Franz Fallend (2004). Are Right-wing Populism and Government Participation Incompatible? The Case of the Freedom Party of Austria, in: Representation, 40 (2), S. 115–130.

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täuschter und um WählerInnenstimmen fürchtender Landesparteien weitgehend verhinderte. Dieser Beitrag ist wie folgt aufgebaut: In den nächsten drei Abschnitten zeichnen wir für alle drei Bereiche erstens die festzustellenden Veränderungen nach und argumentieren zweitens, warum und wie diese Veränderungen die Gefahr von Konflikten zwischen Bundes- und Landesebene reduziert haben. Abschließend fassen wir unsere Ergebnisse zusammen und diskutieren die empirische Zuverlässigkeit unseres Arguments.

2. INSTITUTIONELLE REFORM DES ZUSAMMENSPIELS BUND– LÄNDER Ein erster wichtiger Punkt bzgl. konfliktfreier Beziehungen zwischen Bundesund Landesebene in Parteien sind die institutionellen Strukturen, durch die die eine Ebene in Entscheidungen der anderen Ebene eingebunden ist. Generell ist zu erwarten, dass, je größer die Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte sind, desto geringer auch das Konfliktpotential zwischen den Ebenen sein sollte. Erstens reduzieren sie die Gefahr, dass auf Bundesebene Entscheidungen getroffen werden, die gegen die Interessen der Landesebene laufen. Zweitens haben institutionelle Strukturen auch einen wesentlichen Einfluss darauf, wie bzw. ob einmal aufgetretene Probleme – etwa bei strukturell angelegten oder ideologisch bedingten Interessensinkongruenzen zwischen den Ebenen – friedlich und ohne allzu negative Auswirkungen für die Partei insgesamt gelöst werden können. Im Folgenden zeigen wir, wie die diesbezüglichen Strukturen innerhalb der FPÖ sich hier zwischen der schwarzblauen und der türkisblauen Regierung zum (für die Partei) Positiven verändert haben. 2.1 Schwarz-Blau Die FPÖ der 1990er und frühen 2000er war insgesamt stark hierarchisch organisiert und sowohl formell als auch informell ganz auf den damaligen Bundesparteiobmann Jörg Haider zugeschnitten. Als Konsequenz daraus waren auch die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Länder bzgl. der Politik der Bundespartei in dieser Zeit in sämtlichen Kanälen stark eingeschränkt. Erstens bilden die Landesorganisationen aufgrund ihrer Mitglieder und ihres nicht unwesentlichen Beitrags zu den Parteifinanzen3 seit jeher das „Rück3 Laut Hubert Sickinger (2009). Politikfinanzierung in Österreich, Wien, S. 145, kamen bis 63 Prozent der Parteieinnahmen von Länderparteien.

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grat“ der FPÖ.4 Formal waren diese der Bundespartei gegenüber jedoch nicht nur weisungsgebunden,5 sondern auch die geschäftsführenden Landesparteiobmänner wurden de facto von der Bundespartei bzw. dem damaligen Bundesparteiobmann Jörg Haider persönlich eingesetzt. Haiders Zustimmung war zudem auch bei der Erstellung der Landeslisten für Nationalratswahlen notwendig, was der Motivation einzelner Landesvertreter, Haider öffentlich oder intern zu widersprechen, sicher auch nicht zuträglich war. Zweitens waren die Landesorganisationen auf Bundesebene zwar in den formalen Entscheidungsgremien wie dem Parteipräsidium oder dem Parteivorstand vertreten. Auch hier hielt sich ihr Einfluss jedoch in engen Grenzen. Einerseits waren auch diese Gremien, aufgrund der umfassenden Mitsprache- bzw. Nominierungsrechte Haiders, zu einem Großteil mit dessen persönlichen Vertrauten besetzt. Bei diesen handelte es sich weniger um etablierte Parteifunktionäre, sondern nicht selten um parteipolitische Quereinsteiger, deren Loyalität eher Haider selbst als der Partei oder einer Landesgruppe galt („Buberlpartie“).6 Andererseits präjudizierte Haider Entscheidungen dieser Gremien immer wieder durch öffentliche Ankündigungen, denen im Anschluss, aufgrund seiner mächtigen Position innerhalb der Partei, niemand sich zu widersprechen getraute.7 Drittens wurden ab Mitte der 1990er Entscheidungen zunehmend im kleinen, informellen Kreis bestehend aus Haider (selbst Partei- und bis 1999 auch Klubobmann), der damaligen geschäftsführenden Parteiobfrau Susanne Riess-Passer und Generalsekretär Peter Westenthaler, und somit gänzlich ohne formale Einbindung der Landesorganisationen) getroffen.8 Auch die dritte Möglichkeit der Landesorganisationen, die Politik der Bundes-FPÖ zu beeinflussen, jene über das Parteiprogramm, spielte in dieser Zeit 4 Reinhard C. Heinisch (2016). The Austrian Freedom Party: Organizational Development and Leadership Change, in: Reinhard C. Heinisch/Oscar Mazzoleni (Hg.): Understanding populist party organisation: the radical right in Western Europe, London, S. 19–49. 5 Kurt Richard Luther (2006). Die Freiheitliche Partei Österreichs und das Bündnis Zukunft Österreich, in: Herbert Dachs et al. (Hg.): Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien, S. 364–388, hier S. 368. 6 Reinhard C. Heinisch (2002). Populism, proporz, pariah: Austria turns right: Austrian political change, its causes and repercussions, New York; Reinhard C. Heinisch (2013). Austrian rightwing Populism–Surprising comeback under a new leader, in: Karsten Grabow/Florian Hartleb (Hg.): Exposing the Demagogues – Rightwing and national populist parties in Europe, Brüssel, S. 47–80. 7 Luther, Die Freiheitliche Partei Österreichs und das Bündnis Zukunft Österreich, S. 369 (s. Fn. 5). 8 Heinisch, The Austrian Freedom Party (s. Fn. 4).

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keine Rolle. Beschlossen vom Bundeskongress, in dem u. a. alle Länder vertreten sind, sollte dieses eigentlich die Grundlage jeglicher FPÖ-Positionen und -Programmatik bilden. De facto spielte dieses jedoch während der Protestphase von 1986 bis 1999 keine Rolle. So wurde z. B. das Programm von 1985 überhaupt erst 1997 überarbeitet. D. h., der massive Bruch in der Ausrichtung der Partei, der mit der Machtübernahme Haiders 1986 und der damit verbundenen Transformation der FPÖ von einer liberalen, bürgerlicher Honoratiorenpartei mit wirtschaftsliberalen Schwerpunkten unter Norbert Steger hin zu einer rechtspopulistischen Partei einherging,9 erfolgte komplett losgelöst vom eigentlichen, parteiintern abgestimmten Parteiprogramm von 1983. Das Wahlprogramm enthielt zwar Aspekte wie eine „Volksbewusste Gemeinschaft“, diese spielten aber, wie auch die Themen Migration oder System- und Proporzkritik, zu diesem Zeitpunkt maximal eine untergeordnete Rolle.10 Stattdessen gaben in dieser Zeit kurzfristig im kleinen Kreis entwickelte Aktionsprogramme die politische Richtung vor. Nicht selten kündigte Haider Positionsänderungen auch einfach im Alleingang (also auch ohne die vorherige Konzertierung wichtiger regionaler innerparteilicher Gruppen) über die Medien an.11 Mit Blick auf das Erschließen neuer WählerInnenschichten (Stichwort „kleiner Mann“) bzw. der Stimmenmaximierung ergab sich daraus bald ein Mix aus teilweise durchaus widersprüchlichen Positionen – etwa wenn sowohl eine Entlastung des kleinen Mannes als auch die Einführung einer Kapital-freundlichen Flat Tax versprochen wurde.12 Auf Bundesebene dieserart getroffenen Entscheidungen mussten die Landesgruppen dennoch loyal folgen. Interne oder gar öffentliche Kritik wurde nicht geduldet und, wenn es dennoch dazu kam, drastisch geahndet.13 Hierfür ist nicht zuletzt Salzburg ein gutes Beispiel. Als es 1998 im Rahmen einer vermeintlichen „Daten-Klau-Affäre“ im Salzburger Landtag Bestrebungen innerhalb der Salzburger FPÖ gab, den damaligen Landesobmann Karl Schnell nach dessen Abwahl aus der Landesregierung auch als Landesobmann abzusetzen, kritisierte Schnell öffentlich die mangelnde Unterstützung seiner Person seitens der Bundespartei in dieser Angelegenheit. Als Reaktion wurden, im Auftrag Haiders und unter Führung der damaligen geschäftsführenden Par-

  9 Luther, Die Freiheitliche Partei Österreichs und das Bündnis Zukunft Österreich, S. 365 (s. Fn. 5). 10 Siehe FPÖ (1983). Die Wahlplattform 1983 der Freiheitlichen Partei, in: Freie Argumente: Freiheitliche Zeitschrift für Politik, 10 (1), S. 1–37. 11 Heinisch, The Austrian Freedom Party, S. 32 (s. Fn. 4). 12 Heinisch, Success in opposition – failure in government (s. Fn 3). 13 Christa Zöchling (1999). Haider: Licht und Schatten einer Karriere, 2. Auflage, Wien.

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teiobfrau Riess-Passer, mit einem Schlag 700 Salzburger FunktionärInnen (inklusive Schnell) ihrer Ämter enthoben – was Riess-Passer parteiintern die von Schnell geprägte Bezeichnung „Königskobra“ einbrachte.14 Schon einige Monate davor wurde in Tirol das damalige Führungsduo der Innsbrucker Stadtpartei, Rudi Federspiel und Barbara Lamprechter, aus der FPÖ ausgeschlossen, da sie in einem (lediglich) internen Papier die Bundesparteiführung kritisiert hatten.15 Diese Strukturen funktionierten, so lange erstens Haider als die alles dominierende bzw. bestimmende Person die Parteiführung innehatte und zweitens die FPÖ in Opposition war und die widersprüchlichen Versprechen Haiders an unterschiedliche WählerInnengruppen nicht umgesetzt werden mussten. Sie rächten sich jedoch in der Regierung. Einerseits zog sich Haider, um der internationalen Kritik an der schwarz-blauen Koalition den Wind aus den Segeln zu nehmen, nach Regierungseintritt der FPÖ nach Kärnten zurück. An seiner Stelle übernahm Riess-Passer die Parteiführung.16 Andererseits musste die FPÖ in der Regierung plötzlich Entscheidungen darüber treffen, welche der widersprüchlichen Wahlversprechen sie eigentlich umzusetzen bereit bzw. in der Lage wäre und welche nicht.17 Während ein gewisser Konflikt zwischen innerparteilichen Faktionen bzw. zwischen Parteibasis und -führung beim Wechsel von der Opposition in die Regierung wohl in keiner Partei ganz zu vermeiden ist, war er innerhalb der FPÖ aufgrund der teils widersprüchlichen und teils auch schlicht unrealistischen Versprechen (siehe weiter unten) besonders stark ausgeprägt. Er eskalierte aus zwei Gründen: Einerseits war Riess-Passer als Parteiobfrau, im Gegensatz zu Haider, intern schlicht nicht mächtig genug, um die zunehmende Kritik aus den Ländern an umstrittenen Maßnahmen der Bundesregierung, wie z. B. der Pensionsreform oder der Zustimmung zum EU-Beitritt Tschechiens trotz Temelín, zu unterbinden.18 Andererseits verfügten auch die Landesorganisationen nicht über die notwendigen Möglichkeiten, die Bundespartei bzw. die freiheitliche Regierungsmannschaft „zurück auf Linie“ zu bringen. Kurz, die parteiinternen Strukturen führten nicht nur dazu, dass Konflikte überhaupt entstehen konnten. Sie enthielten auch keine Mechanismen, die es erlaubt hätten, diese konstruktiv und v.a. unter Ausschluss der Öffentlichkeit 14 Z. B. Vorarlberg Online (10.6.2015). Salzburger FPÖ: Jörg Haider griff 1998 schon einmal durch. Schnell wurde später, nach einer öffentlichen Entschuldigung, wieder pardoniert. 15 Der Standard Online (6.12.2002). Als die Königskobra noch zubiss. 16 Spiegel Online (29.2.2000). FPÖ-Chef Haider tritt zurück. 17 Heinisch, Success in opposition (s. Fn. 2). 18 Für inhaltliche Konflikte siehe den Abschnitt „Inhaltliche Adaptierungen“.

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intern zu Lösen. Stattdessen beschränkten sich die Länder darauf, der Bundespartei ihre Kritik über die Medien auszurichten bzw., wie etwa der Salzburger Obmann Karl Schnell, eine Rückkehr Haiders an die Parteispitze zu fordern.19 Haider selbst kam aber nicht zurück, sondern schürte vielmehr von Kärnten aus selbst jene Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen (z. B. ArbeitnehmerInnen- und wirtschaftsliberalem Flügel), die er bis dahin eingedämmt hatte.20 Ein anschauliches Beispiel für die mangelnde Kommunikation zwischen Regierung und Landesparteien war die Ernennung von Hubert Gorbach zum Bundesparteiobmann im Jahr 2003, über die, wie u. a. der Salzburger Parteichef Karl Schnell öffentlich kritisierte, weder die Landesparteiobleute noch der Vorstand informiert wurden.21 Ein weiteres Beispiel liefern die internen Diskussionen über die zwischen Bundespartei und Landesparteien heftig umstrittene Pensionsreform von 2003. Diese wurde im Parteivorstand gegen die Stimmen der Parteiobmänner von Kärnten, Salzburg, Burgenland, Tirol und Oberösterreich sowie der Stimmenthaltung des Obmanns der Wiener Landesgruppe angenommen.22 Dies führte in weiterer Folge zu heftigen, medial ausgetragenen Konflikten, in denen die Bundesebene jedoch zu keinen Zugeständnissen bereit war. Dies führte wiederum dazu, dass Abgeordnete des Nationalrats aus Kärnten, Salzburg, Steiermark, Tirol und Salzburg zwei Monate später offen damit drohten, den bereits in den entsprechenden Parlamentsausschüssen getroffenen Beschlüssen im Plenum die Zustimmung zu verweigern und so die Reform platzen zu lassen.23 2.2 Türkis-Blau Wie es scheint, hat die FPÖ aus diesen Erfahrungen ihre Lehren gezogen. Seit dem ‚Neustart‘ der Partei nach der Abspaltung des BZÖs im Jahr 2005 ist die Macht auf Bundesebene deutlich weniger zentralisiert. Zwar übernahm auch der neue Parteiobmann, Heinz Christian Strache, schon bald eine zentrale Rolle in der Partei – vor allem wenn es um den Außenauftritt ging. Intern hatte er aber von Beginn an wesentlich weniger Handlungsspielraum als seinerzeit Haider. Mit dem langjährigen Generalsekretär (und später Innenminister) Herbert Kickl auf der einen Seite und, spätestens ab der Bundesprä19 Der Standard (29.11.2000). Nur unmündige Truppe schreit nach dem Führer, S. 8. 20 Luther, Die Freiheitliche Partei Österreichs und das Bündnis Zukunft Österreich (s. Fn. 6). 21 Der Standard Online (22.10.2003). FPÖ entmachtet Herbert Haupt. 22 Der Standard (30.4.2003). FPÖ noch skeptisch, S. 6. 23 Der Standard (7.6.2003). Haiders Getreue machen gegen die Parteilinie mobil, S. 2.

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sidentenwahl 2015, dem zunächst 3. Nationalratspräsidenten und späteren Verkehrsminister und Regierungskoordinator Norbert Hofer, der auch für die Überarbeitung des Parteiprogrammes 2011 federführend verantwortlich war, auf der anderen Seite, gab es nun zumindest drei wichtige Führungspersonen, die erstens jeweils wichtige Aufgaben innerhalb und für die FPÖ erfüllten und die zweitens jeder für sich zu starke Rückendeckung innerhalb der Partei hatten, um übergangen werden zu können.24 Insgesamt war es daher zwar auch nach 2005 der Parteiobmann, der die politischen Richtungen in der FPÖ vorgab. Dies allerdings nun nur mehr innerhalb der etablierten Grenzen bzw. des neuen und breit abgestimmten Parteiprogrammes.25 Nicht zuletzt hatte die Partei gerade durch den Erfolg Straches gelernt, dass ihr Programm für ihren Erfolg entscheidend ist und nicht Personen.26 Rücktrittsdrohungen stellten, anders als für Haider, für Strache daher keine Waffen in möglichen inhaltlichen Konflikten oder Machtkämpfen dar. Neben dieser Dezentralisierung der Macht auf Bundesebene wurde auch die Rolle der Länder selbst deutlich gestärkt. Dies hatte zunächst ganz pragmatische Gründe. Aufgrund deren Einflusses auf die Parteimitglieder und deren finanzieller Ressourcen war nach der Parteispaltung 2005 die Wiederherstellung der Beziehungen zu den Ländern bzw. das Verhindern deren Überlaufens zum BZÖ eine zentrale Aufgabe der Partei. Während sich in Kärnten die Mehrheit der AkteurInnen dem BZÖ anschloss, beschlossen die anderen Landesgruppen schon bald, bei der FPÖ zu bleiben bzw., im Falle Oberösterreichs und Vorarlbergs, nach vorübergehender Unabhängigkeit wieder zur FPÖ zurückzukehren. Sie machten dafür jedoch ihre formale Stärkung, etwa durch die Aufwertung der Landesparteien in den Satzungen der Bundes-FPÖ, zur Voraussetzung. Als Folge wurde beim Bundesparteitag 2006 der Einfluss der Landesparteien auf die Listenerstellung der Regional- und Landeswahlkreise bei Nationalratswahlen in den Statuten gestärkt.27 Zwar kann der Bundesvorstand immer noch Umreihungen vornehmen, jedoch keine neuen Personen mehr hinzufügen. Auch sind seitdem zwei Drittel der Bundestagsdelegierten, die gleichzeitig auch die Mehrheit der Delegierten von mindestens fünf Landesparteien bilden müssen, für Satzungsänderungen notwendig. Auch die

24 Heinisch, Austrian rightwing Populism – Surprising comeback under a new leader, S. 54 (s. Fn. 6). 25 Heinisch, The Austrian Freedom Party, S. 32 (s. Fn. 4). 26 Heinisch, The Austrian Freedom Party (s. Fn. 4). 27 Laurenz Ennser-Jedenastik (2019). Von der Fundamentalopposition auf die Regierungsbank: Die FPÖ unter Heinz-Christian Strache, in: Emmerich Tálos (Hg.): Die Schwarz-Blaue Wende in Österreich, Wien, S. 29–48, hier S. 42.

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Zusammensetzung der Bundesparteileitung wurde so geändert, dass dieser nun auch zahlreiche regionalen AmtsträgerInnen angehörten. Nicht zuletzt wurden am Bundesparteitag 2005 gleich acht stellvertretende Bundesparteiobleute gewählt – einer pro Bundesland (Heinz-Christian Strache war sowohl Bundesparteiobmann als auch Obmann der FPÖ Wien). In Summe wurde dadurch der Bewegungsspielraum der Parteispitze bzw. der Bundespartei gegenüber den Ländern zumindest formal deutlich eingeschränkt: Wichtige personelle oder inhaltliche Entscheidungen in der FPÖ konnten nun nicht mehr „freihändig“ von einer Person getroffen, sondern mussten von offiziellen Gremien abgesegnet werden, in denen regionale Parteifunktionäre deutlich stärker vertreten waren als früher. Auch konnte der Bundesparteiobmann bei Meinungsverschiedenheiten, oder wenn man mit einzelnen Landesorganisationen unzufrieden ist, seit 2005 nicht mehr nach Belieben „durchgreifen“, indem man kritische oder ungefällige LandesvertreterInnen einfach aus der Partei ausschloss. Zwar findet sich wiederum in Salzburg ein Beispiel für einen erfolgreichen Durchgriff der Bundespartei auch nach Haider. So schloss Strache hier im Juni 2015 nach wiederholten Querelen innerhalb der Salzburger Landesgruppe sowohl den damaligen Landtagsklubobmann der FPÖ, Karl Schnell, als auch Landesparteiobmann Rupert Doppler aus der Partei aus.28 Dieser Rauswurf wegen „Gefahr in Verzug“ erfolgte jedoch nicht „freihändig“, sondern musste mit einfacher Mehrheit vom Bundesparteivorstand abgesegnet werden. In zwei anderen Fällen, Kärnten und Niederösterreich, wo es nur um mangelnden Erfolg bei Landtagswahlen ging und somit nicht mit Gefahr in Verzug argumentiert werden konnte, zeigten sich hingegen deutlich Straches Grenzen dabei, von der Bundesebene aus intervenierend in den Ländern ein- bzw. durchzugreifen.29 Anders als 2000 mit Jörg Haider in Kärnten gelang es diesmal bei Regierungseintritt 2017, kein innerparteiliches Machtzentrum außerhalb der Regierung entstehen zu lassen. Darüber hinaus wurden die unterschiedlichen Landesparteigruppen innerhalb der Regierung sehr ausgewogen und umfassend eingebunden. Mit dem Wiener Strache (Vizekanzler und Sportminister), dem Kärntner Kickl (Innenminister), dem Burgenländer Hofer (Verkehrsminister) sowie Mario Kunasek (Verteidigungsminister) und Beate Hartinger-Klein (Sozialministerin) aus der Steiermark waren vier Landesgruppen direkt in der 28 Salzburger Nachrichten (SN) Online (10.6.2015). Strache, Schnell und Schöppl: Fragen und Antworten. 29 Der Standard Online (13.5.2013). Rosenkranz klebt sich an den Parteichef-Sessel; Die Presse Online (15.5.2013). NÖ: Strache legt Rosenkranz indirekt Rücktritt nahe; Heinisch, The Austrian Freedom Party, S. 37 (s. Fn. 4).

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Regierung vertreten. Weitere wichtige Positionen auf Bundesebene gingen an Oberösterreich mit Anneliese Kitzmüller als dritter Nationalratspräsidentin und Niederösterreich mit Walter Rosenkranz als Klubobmann. Nur Salzburg, Tirol und Vorarlberg gingen hier leer aus, wobei die Salzburger Parteiobfrau Marlene Svazek im Jänner 2018 kurzfristig zur Generalsekretärin ernannt wurde – wohl um ihr ausreichend mediale Präsenz vor der Salzburger Landtagswahl desselben Jahres zu ermöglichen, nach der sie sich dann auch wieder in die Landespolitik zurückzog.

3. ERHÖHTE FAKTIONALE KONGRUENZ ZWISCHEN BUNDESUND LANDESEBENE Eine weitere Herausforderung für innerparteiliche Harmonie ist die Gefahr ideologischer, struktureller bzw. einfach machtpolitischer Konflikte zwischen unterschiedlichen Faktionen innerhalb einer Partei. Wie in allen Parteien ab einer gewissen Größe30 gibt bzw. gab es auch in der FPÖ seit jeher unterschiedliche Gruppierungen mit durchaus unterschiedlichen Meinungen und Interessen. Diese reichen von ideologisch sozial- bzw. markt-liberalen, rechts-nationalistischen oder auch klerikal-konservativen Strömungen, über klassische FreiberuflerInnen wie AnwältInnen oder ÄrztInnen bis hin zu Personen, die eher durch den Erfolg der Partei unter Haider als durch deren programmatische Schwerpunkte angezogen wurden. Konflikte zwischen einzelnen dieser Gruppen spielten u. a. schon bei Haiders Machtübernahme 1986 sowie bei der Abspaltung großer Teile des liberalen Flügels und der Neugründung des Liberalen Forums 1993 eine zentrale Rolle. Im Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern kann die Existenz solcher Faktionen insbesondere dann zum Problem werden, wenn beide Ebenen von unterschiedlichen Faktionen mit unterschiedlichen Interessen dominiert werden (z. B. wenn national-liberale Gruppen in Salzburg, Vorarlberg und Teilen Tirols stärker verankert sind als auf Bundesebene bzw. in der Bundespartei insgesamt). Wie wir im Folgenden argumentieren, zeigen sich auch in diesem Bereich gewisse Unterschiede zwischen Schwarz-Blau und Türkis-Blau, die für ein geringeres Konfliktpotential unter Türkis-Blau sprechen.

30 Patrick Köllner/Matthias Basedau/Gero Erdmann (Hg.) (2006). Innerparteiliche Machtgruppen: Faktionalismus im internationalen Vergleich, Frankfurt/Main-New York.

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3.1 Schwarz-Blau Nach den heftigen Konflikten vor und während Haiders Machtübernahme 1986 traten Konflikte zwischen innerparteilichen Gruppen – mit Ausnahme der Abspaltung des Liberalen Forums 1993 –während der folgenden Oppositionsphase wieder in den Hintergrund. Dies lag einerseits wohl daran, dass, wie oben ausgeführt, Kritik an der Bundespartei bzw. an Haider nicht geduldet und scharf sanktioniert wurde (selbst die VertreterInnen des liberalen Lagers äußerten ihre Kritik erst ab dem Moment ihrer offiziellen Abspaltung öffentlich). Andererseits war das inhaltliche Konfliktpotential aber wohl auch relativ gering, da auf Bundes- wie auf Landesebene alle zentralen AkteurInnen von Haider entsprechend dessen inhaltlicher Vorstellungen persönlich ausgewählt und ernannt wurden und somit derselben Faktion angehörten, wodurch die Interessensunterschiede zwischen den Ebenen gering ausfielen. Die Situation änderte sich jedoch, nachdem die FPÖ in die Regierung eintrat und Haider als Konsequenz die Parteiführung abgab und sich nach Kärnten zurückzog. Schon bald zeigte sich, dass die Regierungsmitglieder der FPÖ doch in vielen Bereichen (etwa bei wirtschaftspolitischen Fragen) von den Präferenzen Haiders abweichende Positionen einnahmen und der ÖVP deutlich weiter entgegenzukommen bereit waren als Haider selbst. Schon bald kritisierte Letzterer daher wiederholt öffentlich die (freiheitliche) Regierungsmannschaft für das Brechen zentraler Wahlversprechen, wie etwa das Verschieben einer den „kleinen Mann“ entlastenden Steuerreform zugunsten der Budgetkonsolidierung.31 Die übrigen Landesparteiorganisationen blieben in diesem Konflikt ihrem „Mentor“ Haider treu und äußerten ebenfalls zunehmend Kritik an auf Bundesebene beschlossenen bzw. vom FPÖ-Regierungsteam mitgetragenen Maßnahmen (siehe unten). Kurz gesagt, während in Oppositionszeiten sowohl Bundes- als auch Landesebene von einer dominierenden Gruppe rund um Haider kontrolliert wurden, bildete sich nach Eintreten in die Regierungskoalition nun eine Konfliktlinie zwischen den stärker auf freiheitliche Grundsätze und auf WählerInnenstimmen hin orientierten Landesgruppen einerseits und einer eher auf pragmatisches und kompromissbereites Regieren ausgelegten Regierungsmannschaft andererseits.32

31 Der Standard (27.8.2002). Susanne Riess-Passer liegt nach Punkten vorne. 32 Luther, Die Freiheitliche Partei Österreichs und das Bündnis Zukunft Österreich (s. Fn. 5).

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3.2 Türkis-Blau Nach dem Ende der schwarz-blauen Regierung kam es, ausgelöst nicht zuletzt durch die Abspaltung des von Haider neu gegründeten Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) im Jahr 2005, zu signifikanten Verschiebungen innerhalb der FPÖ im Hinblick auf den relativen Einfluss einzelner interner Gruppen. An die Stelle Haiders und seiner „Getreuen“ als dominante Faktion trat im Laufe der Jahre Schritt für Schritt eine Gruppe, die in der FPÖ seit jeher eine wichtige Rolle spielte,33 unter Haider aber doch deutlich marginalisiert war – jene der deutschnationalen Burschenschafter und Korporierten. Lag der Anteil Korporierter unter den Nationalratsabgeordneten der FPÖ unter Haider etwa jahrelang so um 20 Prozent, verdoppelte sich dieser nach der Machtübernahme durch Strache bis zum Regierungseintritt 2017 auf knapp 40 Prozent. Auch die Parteiführung war 2017 von Burschenschaftern dominiert. So war etwa nicht nur der neue Parteiobmann Strache (Vandalia Wien), sondern auch fünf seiner damals sechs Stellvertreter Mitglieder einer Burschenschaft (Norbert Hofer Marko Germania Pinkafeld, Harald Stefan Olympia Wien, Johann Gudenus Vandalia Wien und Aldania Wien, Manfred Haimbuchner Alemannia Wien zu Linz). Auch im Parteivorstand verfügten Burschenschafter mit 20 von 33 Stimmen über eine komfortable Mehrheit und mit Walter Rosenkranz (Libertas) war auch die Position des Klubobmanns mit einem Korporierten besetzt.34 Obwohl, wie oben ausgeführt, die Handlungsmöglichkeiten von Strache und seinem Team beim Austausch von Landespersonal doch deutlich geringer waren als bei Haider, findet sich auf Länderebene eine sehr ähnliche Entwicklung. Zwar war der Anteil an Burschenschaftern auf Landesebene in Summe doch deutlich geringer als innerhalb der Bundespartei, dennoch waren sie bis 2017 in praktisch allen Ländern an wichtige Parteipositionen vorgedrungen. So waren mit Manfred Haimbuchner in Oberösterreich, Strache in Wien, Markus Abwerzger in Tirol (Universitätssängerschaft Skalden), Reinhard Eugen Bösch in Vorarlberg (Teutonia Wien) und Walter Rosenkranz in Niederösterreich (Libertas) mehr als die Hälfte aller Landesparteiobleute korporierte Burschenschafter.35 Und mit Christian Ragger in Kärnten war ein weiterer Lan-

33 Bernhard Weidinger (2015). Im nationalen Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen: Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945, Wien. 34 Hans-Henning Scharsach (2017). Stille Machtergreifung: Hofer, Strache und die Burschenschaften, 2. Auflage, Wien, S. 12 ff. 35 Ebd.

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desparteiobmann zumindest in der Vergangenheit kurzfristig als „Spähfuchs“ Mitglied einer (allerdings nichtschlagenden) Burschenschaft.36 Besonders hoch war die Dichte an Burschenschaftern 2017 dabei u. a. in Oberösterreich und Wien, wo mit Haimbuchner, Elmar Podgorschek (Germania zu Ried) und Günther Steinkellner (Alemannia Wien) auch alle drei freiheitlichen Landesräte der oberösterreichischen Landesregierung bzw. alle vier Parteivorsitzende und neun von sechzehn Mitgliedern des Landesparteivorstandes der Wiener FPÖ Mitglied einer Burschenschaft (bzw. im Falle Anneliese Kitzmüllers einer Mädelschaft) waren. Aber auch in Bundesländern ohne korporierte Landesparteiobleute befanden sich häufig Burschenschafter in wichtigen Positionen. So wurde etwa in Salzburg (wo Burschenschafter unter Karl Schnell bis dahin einen schwierigen Stand hatten) zwar der Übergangsobmann und Burschenschafter Andreas Schöppl (Akademische Landmannschaft der Salzburger zu Salzburg) 2016 von der nicht korporierten Marlene Svazek als Landesparteiobmann abgelöst. Er spielte jedoch eine wichtige Rolle bei der Neuaufstellung der Partei nach dem Hinauswurf seines Vorgängers Rupert Doppler und dessen Vorgängers Karl Schnell durch Strache. Und mit Volker Reifenberger (u. a. Corps Frankonia-Brünn) als Landesobfrau-Stellvertreter und Andreas Hochwimmer (Akademische Landsmannschaft der Salzburger zu Salzburg) als Parteisekretär blieben auch nach Schöppls Rücktritt Burschenschafter an wichtigen Positionen innerhalb der Landespartei. Anders als während Schwarz-Blau blieb diese Faktion auch nach dem Regierungseintritt auf beiden Ebenen personell unverändert und v. a. auch geeint in inhaltlichen Fragen. Hilfreich war hierfür wohl auch, dass diese Gruppe auch in den der Koalition vorausgegangenen Regierungsverhandlungen eine zentrale Rolle einnahm. So waren etwa mit Strache, Hofer, Kitzmüller (Siegrid zu Wien) und Norbert Nemeth (Olympia) bis auf Herbert Kickl sämtliche freiheitlichen Mitglieder der zentralen Steuerungsgruppe Mitglieder von Burschenbzw. Mädelschaften und waren so auf höchster Ebene in eventuell schwierige Kompromissfindungsprozesse zwischen ÖVP und FPÖ eingebunden.37

36 Der Standard Online (22.4.2013). Ragger: Slowenisch im Landtag gefährlich, für eigenen Sohn aber gut. 37 Die Presse Online (27.10.2016). ÖVP und FPÖ beginnen morgen Koalitionsverhandlungen.

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4. ERHÖHTE PROGRAMMATISCHE KONGRUENZ ZWISCHEN OPPOSITIONS- UND REGIERUNGSPHASE Der dritte wichtige Aspekt für ein konfliktfreies Zusammenspiel zwischen Bundes- und Landesebene sind mögliche inhaltliche Positionsänderungen der Bundesebene als Resultat des Eintritts in eine Regierung. Derartige Positionsänderungen zwischen Opposition- und Regierungsphasen sind an sich nichts Besonderes. Es ist eine Sache, in der Opposition gewisse Positionen einzunehmen und entsprechende inhaltliche Reformen zu versprechen. Es ist aber eine ganz andere Sache, diese Versprechen dann in der Regierung auch zu halten – insbesondere natürlich in konsensorientierten politischen Systemen wie Österreich, in dem es, neben in der Regel einem Koalitionspartner, oft auch noch zahlreiche andere formelle oder informelle Vetospieler38 wie Bundesländer, Sozialpartner oder den Verfassungsgerichtshof gibt, deren Zustimmung für die Umsetzung von Wahlversprechen notwendig ist. Die Gefahr für die Einigkeit zwischen Bundes- und Landesebene ergibt sich aus der meist unterschiedlichen Gewichtung verschiedener Parteiziele zwischen den Ebenen: Während die Regierungsmitglieder auf Bundesebene in der Regel eher Ämter-orientiert und damit pragmatischer und kompromissbereiter agieren („Office“), legen AkteurInnen der Landesebene mehr Gewicht auf inhaltliche Prinzipien („Policies“) oder ihren eigenen Wahlerfolg („Votes“).39 Je weniger die Handlungen einer Regierung daher nicht den Versprechungen einer Regierungspartei in Opposition entsprechen, desto größer die inhaltliche Unzufriedenheit und die Furcht vor WählerInnenverlusten und umso mehr Konflikte sind innerhalb dieser Partei auch zu erwarten.

38 George Tsebelis (2002). Veto players: How political institutions work, Princeton/N.J.two-party or multiparty and so on. But such distinctions often fail to provide useful insights. For example, how are we to compare the United States, a presidential bicameral regime with two weak parties, to Denmark, a parliamentary unicameral regime with many strong parties? Veto Players advances an important, new understanding of how governments are structured. The real distinctions between political systems, contends George Tsebelis, are to be found in the extent to which they afford political actors veto power over policy choices. Drawing richly on game theory, he develops a scheme by which governments can thus be classified. He shows why an increase in the number of \\d qveto players,\\d q or an increase in their ideological distance from each other, increases policy stability, impeding significant departures from the status quo.\\d q. \\d qPolicy stability affects a series of other key characteristics of politics, argues the author. For example, it leads to high judicial and bureaucratic independence, as well as high government instability (in parliamentary systems 39 Zur Unterscheidung zwischen den Parteizielen Policies, Office und Votes siehe Wolfgang C. Müller/Kaare Strom (Hg) (1999). Policy, office, or votes? How political parties in Western Europe make hard decisions, Cambridge/New York.

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Während derartige Probleme prinzipiell in allen Parteifamilien zu erwarten sind, findet sich in der Literatur häufig die Annahme, dass für rechtspopulistische Parteien aufgrund ihrer programmatischen Flexibilität bzw. den oben angesprochenen inhaltlichen Widersprüchen, die ganz auf das Maximieren von Stimmen ausgerichtet sind, der Übergang von der Opposition in die Regierung besonders gefährlich ist bzw. sogar, dass diese Parteien u. a. aufgrund ihrer spezifischen programmatischen Merkmale letztendlich zum Scheitern verurteilt sind.40 In diesem letzten Abschnitt argumentieren wir zunächst, dass, in der Tat, unter Schwarz-Blau große inhaltliche Widersprüche zwischen Oppositions- und Regierungsphase zu massiven Konflikten zwischen den um ihre Prinzipien und WählerInnen fürchtenden Landesorganisationen und der Regierung auf Bundesebene geführt haben. Anschließend zeigen wir, dass sowohl derartige inhaltliche Widersprüche zwischen Opposition und Regierung als auch inhaltliche Konflikte zwischen den Ebenen bei Türkis-Grün deutlich geringer ausfielen. 4.1 Schwarz-Blau Die FPÖ nach 1986 wird meist als klassischer Vertreter rechtspopulistischer Parteien genannt.41 Diese Parteien vereinen sowohl inhaltlich nativistische42 Positionen (rechts der Mitte, beispielsweise eine starke Regulierung der Zuwanderung), mit Autoritarismus und Populismus.43 Unter Populismus verstehen wir hier eine politische Ideologie, die die Gesellschaft in zwei Gruppen einteilt. Eine Gruppe, das Volk, wird dabei positiv dargestellt, während ihr Gegenspieler, die korrupte Elite, die Umsetzung eines (behaupteten) Volkswil-

40 Heinisch, Success in opposition – failure in government (s. Fn. 2); Reinhard C. Heinisch (2004). Die FPÖ – Ein Phänomen im Internationalen Vergleich: Erfolg und Misserfolg des Identitären Rechtspopulismus, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), 33 (3), S. 247– 261; Heinisch, Austrian rightwing Populism – Surprising comeback under a new leader (s. Fn. 6); Tjitske Akkerman (2017). Populist parties in power and their impact on liberal democracies in Western Europe, in: Reinhard C. Heinisch/Christina Holtz-Bacha/Oscar Mazzoleni (Hg.): Political Populism, Baden-Baden, S. 169–180. 41 Cas Mudde (2007). Populist Radical Right Parties in Europe, Cambridge/New York. 42 Unter nativistischen Positionen versteht Cas Mudde, Populist Radical Right Parties in Europe, S. 17 (s. Fn. 41) „an ideology, which holds that states should be inhabited exclusively by members of the native group („the nation“) and that non-native elements (persons and ideas) are fundamentally threatening to the homogenous nation-state.“ 43 Ebd., S. 22.

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lens verhindert oder verschleppt.44 Entsprechend ist starker Anti-Elitismus ein zentrales Element (rechts-)populistischer Parteien. Wenig überraschend orientierte sich die FPÖ daher in der Anfangszeit Haiders bis hin zur ersten Regierungsbeteiligung (ab 2000) stark an politischen Eliten und fokussierte sich inhaltlich stark auf Systemkritik und hier nicht zuletzt auf Korruption, politischem Machtmissbrauch sowie, allgemeiner, auf das österreichische Proporzsystem bzw. den Parteienstaat.45 Laut Ennser-Jedenastik46 lag der Anteil an Systemkritik in Wahlprogrammen vor Haider bei lediglich fünf bis sieben Prozent.47 Schon kurz nach Haiders Machtübernahme steigerte sich der Anteil bereits auf ca. 16 Prozent und gipfelte 1995, als diese beinahe ein Drittel des Wahlprogramms ausmachte. Bis 1999, wohl in Hinblick auf eine potenzielle Regierungsbeteiligung, reduzierte sich der Anteil der Systemkritik im bis heute erfolgreichsten Wahlprogramm der FPÖ zwar auf 14 Prozent, lag damit aber z. B. immer noch klar vor dem Themenbereich Multikulturalismus (Migration, Integration, Patriotismus und Nationalismus) mit lediglich knapp acht Prozent. Im Bereich Multikulturalismus selbst schwenkte die FPÖ unter Haider auf einen klar zuwanderungskritischen Kurs ein. So argumentiert etwa das Parteiprogramm von 1999 „Österreich ist kein Einwanderungsland“ und kritisiert, dass die Altparteien für über eine Million Ausländer in Österreich, hunderttausende Illegale sowie für die daraus folgende Kriminalität verantwortlich seien.48 Erwähnenswert erscheint hier insbesondere das von der FPÖ initiierte Volksbegehren „Österreich zuerst“, in welchem klare Forderungen, die darauf abzielen, Zuwanderung weniger attraktiv zu machen (bspw. Zugang zu Bildung, dem Gesundheitssystem oder wohlfahrstaatlichen Programmen), for-

44 Cas Mudde (2004). The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (4), S. 542–563. 45 Oliver Treib (2012). Party Patronage in Austria: From Reward to Control, in: Petr Kopecký/Peter Mair/Maria Spirova (Hg.): Party Patronage and Party Government in European Democracies, Oxford, S. 31–51; Laurenz Ennser-Jedenastik (2014). Political Control and Managerial Survival in State-Owned Enterprises: Managerial Survival in State-Owned Enterprises, in: Governance 27 (1), S. 135–161. 46 Laurenz Ennser-Jedenastik, Von der Fundamentalopposition auf die Regierungsbank, S. 34 f. (s. Fn. 27), basierend auf Martin Dolezal et al. (2016). Analyzing Manifestos in Their Electoral Context A New Approach Applied to Austria, 2002–2008, in: Political Science Research and Methods, 4 (3), S. 641–650. 47 Dies ist nicht weiter überraschend, gegeben, dass der damalige FPÖ-Vorsitzende Norbert Steger den liberalen Flügel der FPÖ repräsentierte und die Partei seit 1983 in einer Koalition mit der SPÖ unter Fred Sinowatz und später Franz Vranitzky regierte. 48 FPÖ (1999). Wahlprogramm 1999, Wien.

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muliert werden.49 Dieser Kurs findet sich auch 2002 wieder, wo im Kapitel zu Asyl und Fremdenrecht wieder auf Versäumnis der alten Regierungsparteien verwiesen wird, zusammen mit Forderungen nach deutlich strikteren Regulierungen.50 Wie die Daten zu den Wahlprogrammen oben nahelegen, spielten derartige Fragen im Vorfeld der Wahl 1999 jedoch keine zentrale Rolle. Auch auf Wahlkampfplakaten dieser Zeit finden sich kaum Hinweise auf das Thema Migration.51 Dies wohl auch, weil, wie Eurobarometer-Umfragen nahelegen (erst ab 2002 verfügbar, siehe Abbildung 1 unten), dieses Thema für WählerInnen nicht übermäßig wichtig und dominant war.52 Im Einklang mit diesem stark nationalistischen Kurs verabschiedete sich die FPÖ unter Haider auch von ihrer früher traditionell stark pro-europäischen Ausrichtung, was der FPÖ insbesondere dabei half, WählerInnen der SPÖ zu erreichen.53 Nachdem die Partei sich bereits gegen den EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1994 ausgesprochen hatte, trat sie danach auch massiv gegen die damals bevorstehende Osterweiterung auf bzw. forderte sie die Aufnahme Tschechiens in die EU an die Abschaltung des grenznahe gelegenen Atomkraftwerkes Temelín zu knüpfen. Während die FPÖ in den zuletzt genannten Bereichen nach außen eine sehr einheitliche und in sich schlüssige Position bezog, zeigt sich bei Fragen der wirtschaftspolitischen Position durchaus ein ambivalentes Bild. Einerseits ist z. B. das Wahlprogramm von 1999 hauptsächlich von Forderungen nach Entlastungen der Bevölkerung und der Wirtschaft geprägt (vier von zehn Punkten mit direktem Wirtschaftsbezug). Auch Haiders Forderung nach einer Flat Tax steht klar in der Tradition der von seinem Vorgänger Norbert Steger initiierten wirtschaftsliberalen Ausrichtung der Partei. Mit Blick auf neue WählerInnen-

49 Max Riedlsperger (1998). The Freedom Party of Austria: From protest to radical right populism, in: Hans-Georg Betz/Stefan Immerfall (Hg.): The new politics of the Right: neo-Populist parties and movements in established democracies, New York, S. 27–43, hier S. 36. 50 FPÖ (2002). Wir gestalten Österreich mit Sicherheit, Wien. 51 Franziska Marquart (2013). Rechtspopulismus im Wandel: Wahlplakate der FPÖ von 1978–2008, in: ÖZP, 42 (4), S. 353–371. 52 Christoph Hofinger/Marcelo Jenny/Günther Ogris (2000). Steter Tropfen höhlt den Stein. Wählerströme und Wählerwanderungen 1999 im Kontext der 80er und 90er Jahre, in: Fritz Plasser/ Peter Ulram/Franz Sommer (Hg.): Das österreichische Wahlverhalten, Wien, S. 117–140. 53 Franz Fallend/Reinhard C. Heinisch (2018). The Impact of the Populist Radical Right on the Austrian Party System, in: Steven B. Wolinetz/Andrej Zaslove (Hg.): Absorbing the blow: populist parties and their impact on parties and party systems, London/New York, S. 27–54, hier S. 40–41; Wolfgang C. Müller (2002). Evil or the ‚Engine of Democracy‘? Populism and Party Competition in Austria, in: Yves Mény/Yves Surel (Hg.): Democracies and the Populist Challenge, New York, S. 155–175.

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schichten (v. a. aus dem Lager der Sozialdemokratie) versprach Haider aber auch immer öfter Maßnahmen, die im kompletten Gegensatz zu dieser wirtschaftsliberalen Ausrichtung standen, wie etwa den Ausbau des Sozialstaats, um den „kleinen Mann“ zu schützen.54 Während diese programmatische „Winning-Formula“55 der FPÖ 1999 dazu verhalf, ihr mit knapp 27 Prozent nach wie vor bestes Ergebnis bei einer Nationalratswahl zu erreichen, stellte sich dieser Programmmix in der Regierung bald als sehr problematisch heraus. Ausgerechnet jene drei Themenbereiche, in denen die FPÖ bzw. ihre WählerInnenschaft geschlossene und inhaltlich konsistente Positionen bzw. Interessen vertraten, spielten in der Regierung plötzlich kaum eine Rolle mehr. Erstens fiel das frühere Hauptthema, die Systemkritik, fast vollständig weg, da nun die FPÖ selbst zu „denen da oben“ gehörte und Kritik an Parteienproporz und -staat im Angesicht öffentlich heftig kritisierter parteipolitischer „Umfärbungen“ in Ministerien oder staatsnahen Bereichen durch die FPÖ höchst problematisch gewesen wären.56 Zweitens trat die FPÖ nun auch in Migrationsfragen deutlich schaumgebremster auf als in der Opposition, was wohl an der Tatsache lag, dass frühere Positionen der Partei für heftige Kritik gesorgt hatten und die nicht zuletzt daher international ohnehin unter Beobachtung stehende Regierung (bzw. insbesondere der damals noch wesentlich migrationsfreundlichere Koalitionspartner ÖVP) vermeiden wollte, hier weiter Öl ins Feuer zu gießen. Drittens konnte die FPÖ auch ihre kritische Position zur Europäischen Union nicht aufrechterhalten. Von Beginn an machte die Volkspartei eine pro-europäische Ausrichtung zur Voraussetzung für eine gemeinsame Regierung mit der FPÖ, die, u. a. auch auf Drängen des damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil, sogar in einer Präambel des Regierungsprogramms festgeschrieben wurde.57 Auch die Kritik an der Osterweiterung sowie die Forderung zahlreicher Länder nach zumindest der Stilllegung Temelíns als Bedingung zur Zustimmung war nicht aufrecht zu erhalten, was zu heftiger parteiinterner Kritik führte.58 So stimmte die FPÖ letztlich, trotz eines 54 Reinhard C. Heinisch/Kristina Hauser (2014). Rechtspopulismus in Österreich: Die Freiheitliche Partei Österreichs, in: Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil Jakobsen (Hg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa, Baden-Baden, S. 91–110, hier S. 98. 55 Heinisch, Die FPÖ – Ein Phänomen im Internationalen Vergleich (s. Fn. 40); Herbert Kitschelt/ Anthony J. McGann (1995). The radical right in Western Europe: A comparative analysis, Ann Arbor. 56 Ennser-Jedenastik, Political Control and Managerial Survival in State-Owned Enterprises (s. Fn. 45). 57 Der Standard Online (12.7.2008). Wissen: Die FPÖ/ÖVP-Präambel. 58 Siehe bspw. stellvertretend für interne Kritik APA-OTS/Verband Freiheitlicher Akademiker Online (13.9.2002). Appell an die freiheitlichen Regierungsmitglieder: Wort halten!; APA-OTS/

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von den Landesgruppen Wien, Nieder- und Oberösterreich initiierten AntiTemelín-Volksbegehrens,59 auf Bundesebene für die Erweiterung.60 Zum vielleicht größten Stolperstein wurden der Partei jedoch die unter Schwarz-Blau beschlossenen Wirtschaftsreformen. Hier gelang es der wesentlich regierungserfahreneren ÖVP die intern in ein linkes und rechtes Lager geteilte FPÖ programmatisch fast vollständig auf die rechte Seite zu ziehen. Die Konsolidierung des Staatshaushalts und die damit verbundenen, massiven Einschnitte in den Sozialstaat, von einer Anpassung des Pensionsantrittsalters, zur Einführung von Studiengebühren und Ambulanzgebühren bis hin zur Senkung des Arbeitslosengelds, zusammen mit zahlreichen teils umstrittenen Privatisierungen und einer immer wieder verschobenen Steuerreform trägt eine klare neokonservative Handschrift.61 Diese war damit zwar mit der wirtschaftsliberalen Tradition der FPÖ und der Präferenzen der Regierungsmannschaft vereinbar, nicht aber mit dem kommunizierten Versprechen eines Ausbaus des Sozialstaats für den „kleinen Mann“, der sich inzwischen aber zu einer wichtigen WählerInnengruppe entwickelt hatte. Neben der Kritik einzelner Bundesländer an Temelín waren es v. a. diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die von den Ländern heftig kritisiert wurden (siehe insbesondere die oben ausgeführten Konflikte zur Pensionsreform). Angeführt ausgerechnet von Haider in Kärnten, der wiederholt offen den Verrat des kleinen Mannes durch die Regierung kritisierte und durch landeseigene Sozialmaßnahmen wie einen Heizkostenzuschuss62 oder das durchaus provokativ betitelte „Müttergeld“63 konterkarierte, kritisierten immer mehr Landesparteigruppen die eigene Bundesregierung und immer wieder war auch, wie etwa im Falle Karl Schnells in Salzburg, der Ruf nach Haiders Rückkehr zu hören.64 Ebenfalls in Salzburg löste sich die Fraktion Freiheitlicher Arbeitnehmer als Reaktion auf den wirtschaftsliberalen Kurs der Bundespartei von der FPÖ ab und trat bei den Arbeiterkammer-Wahlen 2004 als unabhängige Liste „Frei-

Freiheitliches Pressereferat Online (31.1.2003). Walch zu Temelin-Turbulenzen: „Manager leben noch immer im Kommunismus“. 59 APA-OTS/Johannes Schlögl Online (25.7.2001). FPÖ startet Volksbegehren „Veto gegen Temelin“. 60 APA-OTS/FPD Online (19.11.2002). SCHWEITZER: EU-Erweiterung: „FPÖ kann nicht in Jubelchor einstimmen“. 61 Heinisch, Success in opposition – failure in government, S. 104 (s. Fn. 2). 62 APA-OTS/Kärntner Landesregierung Online (10.10.2004). Heizkostenzuschuss des Landes Kärnten auch diesen Winter. 63 APA-OTS/Die Freiheitlichen in Kärnten – BZÖ Online (15.11.2006). Haider: Müttergeld nach Vorbild Kärntens österreichweit einführen. 64 Der Standard (29.11.2000). Nur unmündige Truppe schreit nach dem Führer, S. 8.

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Unabhängig“ an.65 Diese Themen dominierten auch das FPÖ-DelegiertInnentreffen in Knittelfeld (2002), in dessen Folge das gesamte FPÖ-Regierungsteam sowie Westenthaler zurücktraten. Angetrieben war diese Kritik wohl nicht nur durch inhaltliche Überlegungen, sondern auch durch eine Serie von Niederlagen der FPÖ bei Landtagswahlen nach dem Regierungseintritt. Während sich die Verluste bei kurz nach Regierungsbildung stattfindenden Landtagswahlen in der Steiermark (2000: –4,7 %), dem Burgenland (2000: –2 %) und in Wien (2001: –7,7 %) noch einigermaßen in Grenzen hielten, wurden Sie danach immer massiver. In Oberösterreich (2003: –12,3 %), Tirol (2003: –11,6 %) und Vorarlberg (2004: –14,9 %) verlor die FPÖ jeweils deutlich mehr als die Hälfte, in Niederösterreich sogar fast drei Viertel ihrer WählerInnen. Einzig Haider in Kärnten konnte nicht nur Verluste verhindern, sondern sogar ein leichtes Plus (2004: –0,4 %) verzeichnen. Hinzu kamen drastische Einbrüche bei den Mitgliederzahlen um mehr als 10 Prozent zwischen 2000 und 2004.66 4.2 Türkis-Blau Nach der Abspaltung des BZÖs und dem damit einhergehenden Ausscheiden der FPÖ aus der Regierungsverantwortung lassen sich für die Oppositionsphase der Jahre von 2005 bis 2017 zahlreiche programmatische Adaptierungen beobachten. In ökonomischen Fragen bliebt die FPÖ zwar nach wie vor in gewisser Weise ambivalent. So forderte die Partei z. B. einerseits eine drastische Senkung der Abgabenquote,67 andererseits aber auch den Ausbau sozialstaatlicher Leistungen wie Mindestpensionen.68 Auch kritisierte sie, im Einklang mit anderen europäischen populistischen Parteien,69 während der Wirtschaftskrise 2008 die Austeritätspolitik der damaligen rot-schwarzen Bundesregierung. Insbesondere die Rettung der österreichischen Banken durch die Bundesregierung war präferiertes Ziel der Kritik seitens der FPÖ.70 Hier konnte die FPÖ gezielt 65 SN Online (21.10.2003). Eine eigene Kandidatenliste. 66 Heinisch, The Austrian Freedom Party, S. 25 (s. Fn. 4). 67 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (2.10.2014). HC Strache präsentiert freiheitliches Entlastungskonzept „Runter mit den Steuern!“. 68 APA-OTS/FPÖ Online (20.9.2016). HC Strache: ‚Senioren sind keine Bittsteller!‘. 69 Hanspeter Kriesi/Takis S. Pappas (2015). European Populism in the Shadow of the Great Recession, Colchester. 70 Kurt Richard Luther (2015). The Primacy of Politics: Austria and the Not-so-Great Recession, in: Hanspeter Kriesi/Takis S. Pappas (Hg): European Populism in the Shadow of the Great Recession, Colchester, S. 141–162.

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reiche ManagerInnen mit zu hohen Bezügen71 kritisieren, die de facto durch deren Verhalten Steuergelder „verschleudern“,72 BürgerInnen belasten73 und den Staat gefährden.74 Positionen der Regierung wurden als unverantwortlich dargestellt,75 durch welche BürgerInnen wiederum betrogen wurden.76 Insgesamt verschob sich die Position der Partei in ökonomischen Fragen jedoch doch nach links, was sich an einem Wandel von wohlfahrtspopulistischen Positionen Haiders hin zu wohlfahrtschauvinistischen Positionen unter Strache festmachen lässt.77 Während unter Haider der Wohlfahrtsstaat v. a. dem „kleinen Mann“ dienen sollte und einen Fokus auf den Abbau von PolitikerInnenprivilegien legte, trat die stärker wohlfahrtschauvinistische FPÖ unter Strache durchaus für großzügige allgemeine Sozialleistungen ein, allerdings bei gleichzeitiger starker Kürzung dieser Leistungen für AusländerInnen.78 In EU-Fragen schwenkte die FPÖ nach 2005 zunächst schnell wieder auf ihre ursprüngliche, sehr negative Position ein. Wahlkämpfe wie die Europawahl 2009 waren von rechten und euroskeptischen Slogans wie „Abendland in Christenhand“ und „Volksvertreter statt EU-Verräter“ geprägt.79 Gleichzeitig erlaubten es wirtschaftliche Probleme in von der Eurokrise betroffenen Ländern, diese Kritik zu legitimieren. Der Bericht falscher Budgetzahlen durch Griechenland an die Europäische Kommission und die institutionellen Maß-

71 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (7.9.2012). FPÖ-Gradauer: Banken, die Hilfsgelder vom Steuerzahler erhalten, sollen Bezüge des Vorstands begrenzen. 72 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (29.2.2012). FPÖ-Podgorschek: Keine weitere Verschleuderung von Steuergeldern. 73 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (3.10.2013). FPÖ-Mölzer: Steuerzahler dürfen bei Bankenrettung nicht unnötig belastet werden. 74 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (7.9.2012). FPÖ-Podgorschek: Bankenrettungspolitik der Bundesregierung gefährdet den Staat. 75 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (20.11.2013). Dringliche Anfrage der FPÖ an die Bundesministerin für Finanzen im Wortlaut. 76 APA-OTS/Freiheitlicher Parlamentsklub Online (28.3.2013). FPÖ-TV: Bankenrettung durch Sparer-Enteignung? Bürger sollen Wahrheit nicht erfahren. 77 Für die Unterscheidung der beiden Konzepte siehe Willem de Koster/Peter Achterberg/Jeroen van der Waal (2013). The New Right and the Welfare State: The Electoral Relevance of Welfare Chauvinism and Welfare Populism in the Netherlands, in: International Political Science Review , 34 (1), S. 3–20, sowie van Jeroen der Waal/Peter Achterberg/Dick Houtman/Willem de Koster/ Katerina Manevska (2010). „Some Are More Equal than Others“: Economic Egalitarianism and Welfare Chauvinism in the Netherlands, in: Journal of European Social Policy, 20 (4), S. 350–363. 78 Laurenz Ennser-Jedenastik (2016). A Welfare State for Whom? A Group-Based Account of the Austrian Freedom Party’s Social Policy Profile, in: Swiss Political Science Review, 22 (3), S. 409– 427. 79 Luther, The Primacy of Politics, S. 157 (s. Fn. 70).

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nahmen zur Rettung ins Straucheln geratener Euroländer wie der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) erlaubten es der FPÖ, europäische Eliten und Institutionen zu kritisieren und österreichischen RegierungsvertreterInnen Verrat an der österreichischen Bevölkerung vorzuwerfen. Anders als bei Schwarz-Blau schwächte die FPÖ diese Positionen jedoch schon während dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 (und damit vor Regierungseintritt) deutlich ab, da nach der Pro-Brexit-Abstimmung in Großbritannien deutlich wurde, dass eine zu kritische Position bei den WählerInnen nicht gut ankam. Der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Hofer ruderte doch deutlich zurück und argumentierte, entgegen früherer Behauptungen80, dass die FPÖ keinen Ausstieg aus der EU (Öxit) fordere. Die letzte und vielleicht wichtigste Veränderung gegenüber den 2000erJahren lässt sich schließlich in der unterschiedlichen Bedeutung der Themenbereiche Systemkritik und Multikulturalismus beobachten. War Systemkritik in der Opposition vor Schwarz-Blau noch das zentrale Thema der FPÖ gewesen, spielte es auch nach dem Ausscheiden der FPÖ aus der Regierungsverantwortung 2005 praktisch keine Rolle mehr und kam als Themenbereich in darauffolgenden Wahlprogrammen nie mehr über einen Anteil von mehr als fünf Prozent hinaus.81 Kritik an Postenschacher und Parteienproporz war nicht mehr zu vernehmen und verbliebene Systemkritik zielte v. a. auf eine Stärkung direktdemokratischer Instrumente ab. Genau das Gegenteil lässt sich beim Themenbereich Multikulturalismus beobachten. In Anbetracht existenzbedrohend schlechter Umfragewerte nach der Abspaltung des BZÖs im Jahr 2005 setzte die FPÖ bereits ab dieser Zeit massiv und durchgehend auf Identitätsthemen wie Migration und Islam, um die Parteibasis wieder hinter sich zu vereinen.82 Als Resultat stieg der Anteil multikultureller Issues am jeweiligen Wahlprogramm zwischen der letzten Wahl als Regierungspartei (2002) und der ersten zurück in Opposition (2006) um mehr als das Doppelte, von 8 auf 20 Prozent und bewegte sich in den Jahren danach zwischen 13 und 24 Prozent.83 Migration (verbunden mit Sicherheit) wurde damit klar zum alles überstrahlenden, und die Partei einenden, Kernthema der FPÖ. Zugute kam ihr dabei, dass spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 das

80 Kurier Online (26.6.2016). FPÖ-Hofer will auch in Österreich ein Ausstiegsreferendum. 81 Ennser-Jedenastik, Von der Fundamentalopposition auf die Regierungsbank, S. 34 (s. Fn. 27). 82 Reinhard Heinisch und Kristina Hauser (2016). The Mainstreaming of the Austrian Freedom Party: The More Things Change …, in: Tjitske Akkerman/Sarah de Lange/Matthijs Rooduijn (Hg.): Radical Right-Wing Populist Parties in Western Europe: Into the Mainstream?, London, S. 46–62. 83 Ennser-Jedenastik, Von der Fundamentalopposition auf die Regierungsbank, S. 35 (s. Fn. 27).

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Thema Migration die politische Landschaft Österreichs generell weitgehend dominierte.84 So sahen mehr als die Hälfte der ÖsterreicherInnen gegen Ende 2015 Migration als eines der für sie wichtigsten Themen (Abb. 1).85 Der Zuzug von Flüchtlingen aus großteils muslimisch geprägten Ländern erlaubte es der FPÖ, die Themen Migration und politischer Islam zu verknüpfen. Getragen von diesen Themen führte die FPÖ denn auch alle Umfragen zwischen Juli 2015 und Mai 2017 an. Erst als die ÖVP durch die Wahl von Sebastian Kurz (und zu einem kleinen Teil auch die SPÖ) ebenfalls Migration zum Kernthema machte, verlor die FPÖ in Umfragen. Abbildung 1: Salienz von Migration

Anmerkung: Anteil an Befragten, die Migration als eines der zwei wichtigsten Themen im Land sehen. Quelle: Eigene Erhebung.

Insgesamt erwiesen sich diese programmatischen Adaptierungen also durchaus als erfolgreich. Zurück in der Opposition gewann die FPÖ bei jeder der folgenden Nationalratswahlen und blieb 2017 letztendlich mit knapp 26 Pro-

84 Fritz Plasser/Franz Sommer (2018). Wahlen im Schatten der Flüchtlingskrise: Parteien, Wähler und Koalitionen im Umbruch (Schriftenreihe des Zentrums für angewandte Politikforschung, Band 33), Wien; Farid Hafez/Reinhard C. Heinisch/Eric Miklin (2019). The new right: Austria’s Freedom Party and changing perceptions of Islam, in: Brookings Institution (Hg.): The One Percent Problem: Muslims in the West and the Rise of the New Populists, Washington, D.C. 85 Konkret wurde nach den beiden wichtigsten Themen gefragt. Die Befragungen wurden im Zuge des Eurobarometers durchgeführt und umfassen 1.000 Befragte zu jeder Welle.

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zent nicht einmal einen Prozentpunkt unter ihrem bisher besten Ergebnis von 1999. Vor allem aber fielen diesmal die inhaltlichen Veränderungen nach Eintritt in die Regierung und, wie erwartet, auch die innerparteilichen Konflikte deutlich geringer aus. Da Systemkritik schon in der Opposition keine Rolle mehr gespielt hatte, boten die neuerlichen parteinahen Postenbesetzungen deutlich weniger Angriffsfläche für politische GegnerInnen. Ökonomisch wiederum ging die Regierung bei Liberalisierungen und sonstigen Reformen diesmal deutlich langsamer zur Sache. Zwar wurde die Senkung der Staatsquote auf 40 Prozent von ÖVP und FPÖ als gemeinsames Ziel ausgegeben. Bezüglich der konkreten Reformen auf dem Weg zu diesem Ziel zeigte sich das FPÖ-Regierungsteam diesmal jedoch wesentlich vorsichtiger. Auch eine von der Regierung angedachte (und insbesondere von der ÖVP vorangetriebene) Abschaffung der Notstandshilfe (in Verbindung mit einer Reform des Arbeitslosengeldes nach dem Vorbild von Hartz IV in Deutschland) wurde nach öffentlichen Widerständen bald wieder abgeblasen bzw. zumindest auf unbestimmte Zeit verschoben.86 Gleichzeitig wurden gleich zu Beginn der Regierungsperiode Sozialleistungen, etwa durch die Einführung eines Familienbonus (ein Steuerabsetzbetrag von 1.500 € pro Kind), sogar erhöht. Wenn es, wie z. B. im Bereich der Mindest­ sicherung, doch zu Kürzungen kam, die im Prinzip alle ÖsterreicherInnen betrafen, wurden diese wohlfahrtschauvinistisch „geframed“ und vor allem als Maßnahme zur Minderung von Migrationsanreizen präsentiert.87 Kurz, bis auf den umstrittenen 12-Stunden-Tag (siehe unten) beschloss die Regierung (zumindest in der kurzen Zeit, in der sie im Amt war) kaum Gesetze, die in ökonomischen Fragen massiv gegen die Interessen großer FPÖ-WählerInnengruppen gingen und somit Widerstände an der Basis bzw. in den Ländern hervorrufen hätten können. Auch bzgl. der EU fielen die Änderungen diesmal geringer aus als unter Schwarz-Blau. Dies nicht nur, da die FPÖ ab 2015 ihre EU-Kritik deutlich abgeschwächt hatte, sondern auch, weil die ÖVP unter Kurz eine doch deutlich kritischere Position zu europäischen Fragen einnahm als die ÖVP unter Schüssel 2000. D. h., die Differenzen zwischen den Parteien waren deutlich geringer. Nichtsdestotrotz musste die FPÖ auch diesmal in der Regierung im Vergleich zur Phase in Opposition in einigen Punkten deutlich zurückrudern. Nötig war 86 Kurier Online (13.3.2019). Hartinger-Klein verspricht: Notstandshilfe bleibt. 87 ORF Online (13.3.2019). Scharfe Kritik an Regierungsvorlage; ORF Online (13.3.2019). Regierung nickt Modell mit Änderungen ab; profil Online (28.11.2018). Mindestsicherung: Regierung sieht „faires“ Modell und Arbeitsanreize; Wiener Zeitung Online (1.4.2019). Regierung stoppt Zuwanderung ins Sozialsystem.

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dies etwa beim Freihandelsabkommen CETA, zu dem die FPÖ im Wahlkampf eine Volksabstimmung gefordert hatte, was sich gegen die ÖVP in den Koalitionsverhandlungen jedoch nicht durchsetzen ließ. Derartige „Niederlagen“ wurden aber stets als Teil eines Package-Deals legitimiert, in dem die FPÖ sich dafür bei anderen zentralen Forderungen (etwa einer Abschwächung des geplanten absoluten Rauchverbots in öffentlichen Lokalen oder die, aller Voraussicht nach EU-rechtswidrige, Indexierung der Kinderbeihilfe für ausländische ArbeitnehmerInnen mit nicht in Österreich lebenden Kindern) durchsetzen konnte.88 Praktisch keine inhaltlichen Änderungen gegenüber der Oppositionsphase lassen sich letztendlich v. a. beim klaren Kernthema der FPÖ nach 2005 beobachten – dem Multikulturalismus. Anders als unter Schwarz-Blau war 2017 ein Moderieren bzw. Mäßigen zentraler Forderungen in diesem Bereich nicht mehr nötig. Erstens rief die Neuauflage der blauen Regierungsbeteiligung international nur mehr wenig Aufmerksamkeit oder Empörung hervor und es gab daher wenig externen Druck sich zurückzuhalten. Zweitens hatten sich spätestens mit der Übernahme der ÖVP-Obmannschaft durch Sebastian Kurz die Positionen der Regierungsparteien in Migrationsfragen nicht nur massiv angenähert. Die ÖVP hatte 2017 sogar selbst Migration zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht89 und beide Parteien teilten daher das Interesse, ihre WählerInnen diesbezüglich nicht zu enttäuschen. Gemeinsam ging man daher nun daran, Österreich (etwa durch Kürzungen bei der Mindestsicherung für MigrantInnen oder der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder) als Zielland gezielt unattraktiver zu machen und machte so den Kampf gegen Migration aber auch eine vermeintlich drohende „Islamisierung“ (z. B. durch die Einführung eines Kopftuchverbotes in Volksschulen oder die, nachträglich als illegal erklärten,90 Schließungen mehrerer Moscheen) zum zentralen Thema der gemeinsamen Regierungsarbeit. Als solches half es auch dabei, den Raum für öffentliche Diskussionen über Maßnahmen, die innerhalb der FPÖ-Basis umstritten waren und die nicht unter einem wohlfahrtschauvinistischen Framing verkauft werden konnten (etwa die Einführung des 12-Stunden-Tages), durch gezieltes Agenda-Setting möglichst zu beschränken.

88 Die Presse Online (16.5.2018). FPÖ: „CETA wurden die Giftzähne gezogen“; Kleine Zeitung Online (26.10.2018). „Unser Geld für unsere Kinder!“ NEOS zeigten FPÖ an; Der Standard Online (4.1.2018). Regierungsklausur: ÖVP und FPÖ wollen Familienbeihilfe ins Ausland kürzen. 89 Der Standard/Blog Laurenz Ennser-Jedenastik Online (29.6.2018). Was Sebastian Kurz erkannt hat: Die Mitte ist weit rechts. 90 Die Presse Online (14.2.2019). Moscheen rechtswidrig geschlossen.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die FPÖ es nach 2017 geschafft hat, sich erstens mit unerfüllbaren/widersprüchlichen Versprechen vor dem Regierungseintritt zurückzuhalten und zweitens für sie (aufgrund inhaltlicher Differenzen innerhalb der Partei oder zwischen Partei und WählerInnen) potentiell problematische Themen in der Regierung weitgehend zu vermeiden. Stattdessen wurde mit Migration gezielt jenes Thema in den Mittelpunkt gestellt, in dem sie nicht nur intern geschlossen auftreten konnte, sondern bei dem sie auch ihre WählerInnenschaft geschlossen hinter sich wusste. Diese Strategie machte sich lange Zeit bezahlt. Anders als unter Schwarz-Blau hielt sich die FPÖ in nationalen Umfragen diesmal nicht nur stabil.91 Sie erzielt zwischen 2017 und 2018 zudem auch bei allen vier Landtagswahlen nach Regierungseintritt Stimmenzugewinne (Niederösterreich +6,6 %, Tirol +6,2 %, Kärnten +6,2 % und Salzburg +1,8 %).92 In Einklang mit unserem Argument waren im gesamten Zeitraum des Bestehens der Regierung praktisch keine öffentlichen Konflikte zwischen der Bundes-FPÖ bzw. der freiheitlichen Regierungsmannschaft einerseits und den Landesparteien andererseits zu beobachten.

5. FAZIT Die Beziehungen zwischen Bundes- und Landesebene in Parteien und insbesondere in Regierungsparteien sind selten völlig konfliktfrei. Die FPÖ war hier in der Vergangenheit ein extremes Beispiel, scheiterten gleich zwei ihrer bisher drei Regierungsbeteiligungen doch an derartigen Konflikten. In dem hier vorliegenden Beitrag sind wir der Frage nachgegangen, warum diese Konflikte unter Türkis-Blau ab 2017 im Vergleich zu Schwarz-Blau (2000–2005) kaum mehr auftraten. Als potenziell relevante Erklärungsansätze haben wir hierbei Veränderungen in drei Bereichen diskutiert: dem institutionellen Zusammenspiel zwischen Bundes- und Landesparteien, der faktionalen Kongruenz zwischen den Ebenen sowie der programmatischen Kongruenz zwischen Oppositions- und Regierungsphase. Wie sich gezeigt hat, kam es in all diesen Bereichen zwischen Schwarz-Blau und Türkis-Blau zu Veränderungen, die das Konfliktpotential zwischen Bundes- und Landesebene deutlich reduziert haben. Erstens wurde die Macht des 91 Vgl. neuwal.com (2019). Wahlumfragen Österreich. Abgerufen am 31.10.2019 unter https://neuwal.com/wahlumfragen/. 92 Die vergleichsweise geringen Zugewinne in Salzburg erklären sich wohl in erster Linie aus Nachwirkungen des oben erwähnten Hinauswurfes von Karl Schnell, der mit einer eigenen Liste antrat und immerhin 4,5 Prozent der Stimmen gewann.

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Bundesparteiobmanns stark beschnitten, offizielle Parteigremien bzw. die Vertretung der Länder darin wurden gestärkt und der Einfluss der Bundesebene auf Entscheidungen der Landesebene reduziert. D. h. es wurden Strukturen geschaffen, die die Länder generell stärkten, ihnen mehr Einflussmöglichkeiten auf bzw. Kontrollmöglichkeiten über die Bundesebene verschafften. Zweitens blieb, während unter Schwarz-Blau die bis dahin alles dominierende Gruppe um Jörg Haider in zwei sich kritisierende Lager zerbrach, die jeweils die Landes- bzw. die Bundesebene dominierten, die nach 2005 ebenfalls beide Ebenen dominierende Gruppe der deutschnationalen Burschenschafter auch nach Regierungseintritt geschlossen, was Machtkämpfe wie während SchwarzBlau verhinderte. Schließlich fielen, begünstigt durch programmatische Änderungen bereits in der Oppositionsphase sowie eine inhaltliche Annäherung zwischen ÖVP und FPÖ in zentralen Fragen, auch die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen den von der FPÖ in der Opposition eingenommenen Positionen und der späteren Regierungsarbeit unter Türkis-Blau deutlich geringer aus. Aufgrund des Designs dieser (Einzel-)Fallstudie und der damit verbundenen Überdetermination (alle drei Faktoren sagen ein geringeres Konfliktniveau für Türkis-Blau vorher) sind zuverlässige Aussagen über den tatsächlichen Einfluss der einzelnen Faktoren leider nicht möglich. Kurz, weitere Studien wären notwendig, um herauszufinden, inwiefern z. B. die institutionellen Reformen bzgl. der Einbindung der Landesorganisationen tatsächlich relevant oder eventuell sogar mitentscheidend für die programmatischen Adaptierungen der Partei ab 2006 waren. Persönlich erscheint uns jedoch die inhaltliche Komponente als vielleicht am wichtigsten. Der Skandal um das Ibiza-Video hat zwar auch dieser Koalition ein vorzeitiges und für die FPÖ unrühmliches Ende gebracht. Unsere Ergebnisse sprechen jedoch dafür, dass hierfür nicht die innerparteilichen Konflikte zwischen einer Office-orientierten Regierungsmannschaft auf Bundesebene einerseits und stärker Policy- und Vote-orientierten Landesgruppen verantwortlich waren. Vielmehr scheint es, die FPÖ hätte aus den einstigen Fehlern gelernt. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern für rechtspopulistische Parteien dennoch weiterhin „Success in opposition – Failure in government“ gilt.93 Auffallend ist in diesem Zusammenhang auf jeden Fall die Tatsache, dass die Partei auch nach „Ibiza“ alles daransetzt, Konflikte nicht nach Außen treten zu lassen, sondern diese innerhalb der Parteigremien zu lösen. Inwiefern sich dies z. B. bei einer möglichen Kandidatur Straches mit einer eigenen Liste bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 aufrechterhalten lassen wird, bleibt abzuwarten. 93 Heinisch, Success in opposition – failure in government (s. Fn. 2).; Fallend, Are Right-wing Populism and Government Participation Incompatible (s. Fn. 2).

GÜNTHER PENETZDORFER

Mobilitätsentwicklungen Verkehrspolitik und neue Mobilitätskonzepte im Zentralraum Salzburg

1. EINLEITUNG Technologisch und politisch leben wir in einer unglaublich dynamischen Zeit. Manche sprechen in Bezug auf die „Vierte industrielle Revolution“1 sogar von einer Zeitenwende, die uns bevorsteht. Damit kommen auch neue Entwicklungen in der Mobilität auf uns zu. Inmitten von zwei großen Transformationsprozessen steht die Mobilitätsindustrie vor immensen Herausforderungen: Einerseits erzeugt die Diskussion um den Klimawandel einen Innovationsdruck zum weitgehend emissionsfreien Fahren, andererseits wird die Digitalisierung und Vernetzung das Produkt Fahrzeug grundlegend verändern.2 Unser bisheriges, vom ständig wachsenden Individualverkehr geprägtes Mobilitätsverständnis (u. a. „Freie Fahrt für freie BürgerInnen“3), wurde aufgrund des immer größeren Verkehrsaufkommens vor allem in den Ballungsräumen, als Folge seiner belastenden Wirkungen, im sprichwörtlichen Sinne „ausgebremst“. Wir erleben täglich Staus, die uns kostbare Zeit rauben. Wir sind immer mehr gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Lärm und Schadstoffen ausgesetzt. Die CO2-Ausstöße des Verkehrs werden immer heftiger thematisiert. Viele BürgerInnen, zum Teil eingebunden in Klima- und Umweltinitiativen, verlangen ein Umdenken und neue Mobilitätskonzepte von Politik und Industrie. Damit müssen sich auch MobilitätsplanerInnen neuen Herausforderungen und den damit verbundenen Fragen stellen: Wird sich die Mobilität der Zukunft verstärkt auf individuelle Bedürfnisse konzentrieren? Inwieweit helfen 1 Klaus Schwab (2017). The Fourth Industrial Revolution, New York; World Economic Forum (14.6.2016). The Fourth Industrial Revolution: What it means, how to respond. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://professionallearning.education.gov.scot/media/1352/the-fourth-industrial-revolution-what-it-means-and-how-to-respond-world-economic-forum.pdf. 2 Manager Magazin (18.1.2020). Volkswagen steht mitten im Sturm. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.manager-magazin.de/unternehmen/autoindustrie/volkswagen-wortlaut-rede-herbert-diess-16-01-2020-radikal-umsteuern-a-1304169.html. 3 Gerhard Armanski (1986). Fahrt für freie Bürger? Zur Kritik der KFZ Kultur, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 10 (1), S. 7–20.

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uns dabei digitale Plattformen, innovative Fahrzeugkonzepte und vernetzte Strukturen? Gibt es alternative und weniger gesundheitsschädliche Entwicklungen und Methoden, um unsere gewohnte Mobilität aufrecht zu erhalten oder müssen wir uns generell in unserem Fortbewegungsdrang reduzieren und ein wenig Geschwindigkeit aus unseren täglichen Abläufen nehmen? Für viele Menschen bedeutet Mobilität hauptsächlich ein Fortbewegen mit dem Auto. Sie wollen auf ihren privaten Pkw und oft auch auf einen Zweitwagen nicht verzichten. Sie fordern immer mehr und besser ausgebaute Straßen, ohne zu bedenken, dass neue Straßen neuen Verkehr erzeugen. Aber bei vielen Menschen gibt es bereits ein Umdenken. Für sie ist es nicht mehr wichtig, ein Fahrzeug zu besitzen, sondern sie orientieren sich vor allem an der bequemen Nutzung verschiedener angebotener Verkehrssysteme. Sie sehen Mobilität weit vielfältiger und erkennen dabei, dass sie sich je nach Situation mit dem Fahrrad, mit Rollern und Scootern, mit Car-Sharing sowie öffentlichen Bussen und Bahnen oft stressfreier fortbewegen können und damit gleichzeitig die Umwelt schonen. Oder sie verändern ihre Mobilität durch Kommunikation mit den digitalen Geräten. Gut ausgebaute Verkehrssysteme müssen so organisiert sein, dass BürgerInnen „freie Fahrt ohne Belastung für die Umwelt“ haben. Sie wollen die öffentlichen Verkehrsangebote durchgehend nutzen können. Damit sie zum Mobilitätsvorbild werden, müssen die einzelnen Mobilitätsbausteine gut organisiert zusammenwirken. Mit dem Beitrag zur „Verkehrspolitik im Land Salzburg“ möchte ich auf die komplexen Zusammenhänge und Entwicklungen im Bereich der Mobilität näher eingehen. Was funktioniert gut und was sollte dringend verbessert werden? Insbesondere im „Zentralraum Salzburg“ lassen sich spezifische Probleme in der Mobilität darstellen und Lösungsansätze aufzeigen. Das Salzburger Beispiel zeigt das Wechselspiel zwischen den althergebrachten Denkmustern und neuen Ansätzen im Bereich der Mobilitätsentwicklung und -umsetzung sehr treffend. Durch meine langjährige Tätigkeit bei den Österreichischen Bundesbahnen in verschiedenen Tätigkeitsbereichen, zuletzt in einer führenden Position beim Personenverkehr im Bundesland Salzburg, hatte ich über viele Jahre einen internen Zugang zu den Unternehmens- und politischen Entscheidungsfindungen. Mit meinem Team beim Personenverkehr Salzburg konnte ich die Entwicklung und Umsetzung eines Mobilitätssystems mit neuen Entwicklungsgrundsätzen, der S-Bahn Salzburg, initiieren und in einem großen vernetzten System über zehn Jahre begleiten. Erfahrungen bei der Entwicklung großer internationaler Mobilitätsprojekte haben mich davon überzeugt, dass der bevorstehende Transformationsprozess in der Mobilitätsindustrie mit dem Wechsel zu digitalen und vernetzten Systemen, mit umweltfreundlichen Antriebssyste-

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men und mehr nutzerInnen- als eigentumsorientiert, auch das Mobilitätssystem im Zentralraum Salzburg wesentlich verändern kann. Die Mobilität von heute, die uns über viele Jahre Wohlstand und Freiheit gebracht hat, muss zum Wohl von uns allen und unserer Umwelt neu überdacht werden, ohne unsere Freiheit und unseren Wohlstand zu gefährden. Damit wir alle, vor allem aber auch die nächsten Generationen, eine gute Zukunft haben.

2. ALLGEMEINE MOBILITÄTSENTWICKLUNGEN 2.1 Verkehrsentwicklungen als beharrlicher Wachstumskurs Grundsätzlich behält der Individualverkehr seit Jahrzehnten seinen Wachstumskurs bei. Seit 2010 hat der Straßenverkehr in Österreich deutlich stärker zugelegt als im EU-Durchschnitt. So liegt die Zunahme in Österreich bei 11,3 Prozent, in der Europäischen Union durchschnittlich bei 6 Prozent. Seit 2010 gab es auch Rückgänge bei den gefahrenen Autokilometern in anderen EU-Ländern. Dieser beträgt in den Niederlanden minus 3,8 Prozent, in Litauen minus 3,7 Prozent, in Spanien minus 2,6 Prozent und in Belgien minus 2,2 Prozent. Vor allem in den Niederlanden und Belgien ist der Verkehr in den Städten durch das Schaffen autofreier Zonen und das Forcieren des Radfahrens und Gehens eingedämmt worden. In zehn EU-Staaten gab es aber auch stärkere Zuwächse als in Österreich. Die Spitzenreiter bei der Zunahme seit 2010 sind Estland mit plus 29,5 Prozent, Rumänien mit plus 28,9 und Bulgarien mit plus 23 Prozent.4 2.2 Motorisierungsgrad Zum Stichtag 31.12.2019 waren in Österreich laut Statistik Austria rund 5,040 Millionen Personenkraftwagen zugelassen. Das sind rund 598.521 Autos mehr als im Jahr 2010. Nur in Wien und in Innsbruck ist die Bevölkerungszahl stärker gestiegen als die Anzahl der Autos. Die Schere zwischen dem Autobesitz in der Stadt und dem auf dem Land geht immer weiter auseinander.5 Früher war

4 VCÖ Mobilität mit Zukunft (26.9.2019). In Österreich ist Autoverkehr seit 2010 doppelt so stark gestiegen wie im EU-Schnitt. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.vcoe.at/presse/presse aussendungen/detail/in-oesterreich-ist-autoverkehr-seit-2010-doppelt-so-stark-gestiegen-wie-imeu-schnitt. 5 Statistik Austria (17.3.2020). Kfz-Bestand 2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.sta tistik.at/web_de/statistiken/energie_umwelt_innovation_mobilitaet/verkehr/strasse/kraftfahr zeuge_-_bestand/index.html.

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der Motorisierungsgrad ein Zeichen des Wohlstandes. Heute ist er meistens ein Zeichen des Mangels an öffentlichen Verkehrsverbindungen und fehlenden „Mobility-on-Demand-Systemen“.6 Der Motorisierungsgrad im Bundesland Salzburg betrug im Dezember 2019 567 Pkw pro 1.000 EinwohnerInnen.7 Damit ist der Motorisierungsgrad nur in Wien, Vorarlberg und Tirol niedriger. Im Salzburger Zentralraum ist der Wunsch nach individueller Mobilität seit Jahrzehnten aufgrund der StadtLand-Beziehung (Wohnen am Land – Ausbildung und Arbeiten in der Stadt) stetig überproportional gewachsen. In allen Bezirken im Bundesland Salzburg, mit Ausnahme der Stadt Salzburg, ist der Motorisierungsgrad gestiegen. In den ländlichen Gegenden ist ein Zweit-Auto gang und gäbe. So ist die Zahl der Autos im Zentralraum Salzburg im Vorjahr stärker gestiegen als die EinwohnerInnen-Zahl. Diese Entwicklung trägt zur Überlastung der Straßen und den wachsenden Stauzeiten in der Stadt Salzburg bei. Das Erreichen der Klimaziele wird dadurch erschwert. 2.3 Nachteilige Wirkungen der Mobilität auf das Klima und die Gesundheit der ­Bevölkerung Durch unser Mobilitätsverhalten ist das Ausmaß der Lärm- und Umweltbelastungen8 gestiegen. Aus den Ergebnissen der Mikrozensus-Studie 2015 (veröffentlicht 2017) kann man ablesen, dass die Hälfte der ÖsterreicherInnen unter dem vom Verkehr verursachten Lärm leidet, wobei die Belastung durch Lärm regional sehr unterschiedlich ausfällt.9 Es wird der Bevölkerung immer mehr bewusst, dass Schadstoffe, wie die vom Verkehr mitverursachten Stickoxide und der Feinstaub, unsere Gesundheit schädigen. Rund eine Million ÖsterreicherInnen leiden unter der Luftverschmutzung durch den Verkehr. Laut WHO Weltgesundheitsorganisation führt der durch den Verkehr verursachte Feinstaub in Österreich zu mehr als 2.000 Todesfällen pro Jahr. Insgesamt fühlen 6 Alfred Benedikt Brendel (2017). Mobility on-demand: Kategorisierung von Informations- und Assistenzsystemen, in: Thomas Martin Fojcik/Heike Proff (Hg.): Innovative Produkte und Dienstleistungen in der Mobilität, Wiesbaden, S. 379–391. 7 Statistik Austria (14.4.2020). Kraftfahrzeuge – Neuzulassungen 2019. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.statistik.at/web_de/statistiken/energie_umwelt_innovation_mobilitaet/verkehr/strasse/kraftfahrzeuge_-_neuzulassungen/index.html. 8 Umweltbundesamt (24.5.2019). Umweltbelastungen durch Verkehr. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.laerminfo.at/ueberlaerm/laermbetroffenheit/mikrozensus_2015.html. 9 Umweltbundesamt (24.5.2019). Lärmstörung bei Tag und/oder Nacht. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.umweltbundesamt.at/umweltsituation/verkehr/auswirkungen_verkehr/ verk_laerm/.

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sich in Österreich 2,7 Millionen Menschen durch Lärm in ihrem Wohnumfeld beeinträchtigt, davon geben 1,5 Millionen den Straßenverkehr als Hauptursache an.10 Für die Klimaveränderungen zeichnet der Verkehr im Jahr 2017 mit 23 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich.11 Bei der Bevölkerung in Österreich entwickelt sich ein steigendes Problembewusstsein. Der Klimawandel und das Verkehrsaufkommen gehören zu den von der österreichischen Bevölkerung als vordringlich empfundenen Umweltproblemen. In Zukunft sollte nach Meinung der Bevölkerung die Reduktion des Verkehrsaufkommens eine große Rolle spielen.12 2.4 Beeinträchtigte Lebensqualität durch zunehmenden Verkehr ist ein Impuls für eine Neuorientierung Eine kritische Einstellung von Teilen der Bevölkerung reicht für eine Verkehrsverminderung noch nicht aus. Wahrscheinlich wird erst durch die drastische Verschlechterung unserer ökosozialen Lebensbedingungen eine grundlegende umweltpolitische Entscheidung auf dem Verkehrssektor auf Dauer durchsetzbar sein. Beispiele dafür sind das IG-L (Immissionsschutzgesetz-Luft)13, Tempolimits auf der Salzburger Stadtautobahn (80 km/h), der A10 (100 km/h), autofreie Bereiche in der Stadt Salzburg und den Bezirkshauptstädten oder die in Rede stehenden Treibstoffpreiserhöhungen durch CO2-Bepreisung. Die „Fridays for Future“-Bewegung14 beeinflusst die bestehenden Herrschafts­ strukturen und schafft neue Machtformen. Durch die „Fridays For Future“Proteste etabliert sich erstmals eine supranationale, die Nationalstaaten

10 VCÖ Mobilität mit Zukunft (2020). Welche Gesundheitsbeeinträchtigungen können durch den Verkehr entstehen? Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.vcoe.at/service/fragen-und-ant worten/welche-gesundheitsbeeintraechtigungen-koennen-durch-den-verkehr-entstehen. 11 Umweltbundesamt (24.5.2019). Anteil der Treibhausgasemissionen des Verkehrs am Klimawandel. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.umweltbundesamt.at/umweltsituation/verkehr/ auswirkungen_verkehr/verk_treibhausgase/. 12 Bundesministerium Landwirtschaft, Regionen und Tourismus (8.7.2019). So denken die ÖsterreicherInnen über Umwelt und Lebensqualität. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www. bmlrt.gv.at/umwelt/nachhaltigkeit/green_economy/Mikrozensus.html. 13 Siehe z. B. Autorevue (27.6.2019). IG-L: Was bedeutet Immissionsschutzgesetz-Luft für Autofahrer. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://autorevue.at/ratgeber/ig-l-immissionsschutzgesetzluft. 14 Tecla Huth (2020). Fridays for Future: Die Veränderung unserer Gesellschaftsstrukturen durch Kommunikations- und Handlungsmacht, in: Jan Rommerskirchen (Hg.): Die neue Macht der Konsumenten, Wiesbaden, S. 137–145.

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überlagernde und nachhaltige weltumspannende Öffentlichkeit. Deren Kommunikationsmacht erhöht den öffentlichen Druck unter anderem auf die Gestaltung einer europäischen Politikagenda für einen effizienten Klimaschutz. Die politischen und wirtschaftlichen „Eliten“ werden zum Handeln veranlasst und machen aus sozialen Bewegungen wirkungsvolle Machtakteure. Wachsend irreversible Rückwirkungen der langfristig induzierten Klimaveränderungen15 sind immer mehr sichtbar. Je länger wir mit Gegenmaßnahmen warten, umso nachhaltiger werden uns die Folgen unseres Zögerns treffen. Ein selbstregulierender Prozess benötigt Zeit – Zeit, die wir immer weniger haben. Es wäre fatal, die derzeitige Entwicklung einfach so weiterlaufen zu lassen. Die Folgen – auch die politischen – sind unabsehbar. Mittlerweile hat ein Risikodialog16 zwischen den Banken, Versicherungen, Unternehmen, politischen Verantwortlichen und NPOs begonnen, der von der Öffentlichkeit kaum registriert wird. Die Versicherungen und Rückversicherungen sind bereits massiv betroffen. Anlässlich eines Dialoges mit Greenpeace17 zur Frage der finanziellen Auswirkungen der Klimaveränderungen waren sich die Anwesenden einig, dass seit den 1960er-Jahren durch die Häufung von klima- und waldschadensbedingten Bergrutschen, Stürmen, Überschwemmungen, Havarien und ähnlichen Katastrophen, die volkswirtschaftlichen Schäden in den Ländern Schweiz, Deutschland und Österreich auf das Neunfache und die versicherten Schäden auf das Fünfzehnfache gestiegen sind. 2.5 Im Denken und Handeln sollten wir mobil sein „Mobil sein“ ist ein Symbol unserer Zeit. Aber wie mobil sind wir wirklich? Wir bevorzugen sehr oft technische Hilfsmittel, um uns zu bewegen – meistens mit dem Auto. Es scheint, dass in diesem Umfeld nicht nur unser Körper, sondern auch unser Geist immer unbeweglicher wird. Wir reden von sinnvollen Veränderungen in der Mobilität. Visionen setzen wir aber nur zögerlich und zu 15 Harald Frater/Karsten Schwanke/Nadja Podbregar (2009). Wetter, Klima, Klimawandel – Wissen für eine Welt im Umbruch, Berlin-Heidelberg, S. 40–109; Greenpeace (2020). Wenn das Klima kollabiert. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.greenpeace.de/themen/klimawandel/ folgen-des-klimawandels. 16 Klimanavigator (30.4.2013). Klimawandel und Wirtschaft. Abgerufen am 25.6.2020 über https:// www.klimanavigator.eu/dossier/artikel/037657/index.php/; Deutsche Bank (11.6.2019). Klimawandel fordert Finanzwirtschaft heraus. Abgerufen am 25.6.2020 über https://www.db.com/ newsroom_news/2019/klimawandel-fordert-finanzwirtschaft-heraus-de-11519.htm. 17 Jörg Prigge (1999). Frühwarnsystem Versicherung, in: Ulrich Beck/Maarten A. Hajer/Sven Kesselring (Hg.): Der unscharfe Ort der Politik – Empirische Fallstudien zur Theorie der reflexiven Modernisierung, Wiesbaden, S. 277–304.

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selten um. Sehr oft stemmen wir uns geradezu ängstlich gegen Veränderungen. Selbst wenn wir mit dem Auto im Stau stehen, finden wir bei unserem „mobilen Stehzeug“ eine Möglichkeit, „Fahrspaß“ zu haben: Bei den Autos der letzten Generation wird der Fahrgastraum mit Bildschirmen, gegenüberliegenden Sitzen, in Türen eingelassenen Bars und ähnlichen Spielereien zu einem Erlebnisraum umgestaltet. Soll er uns vom Stau ablenken? Ist das eine Kompensation der Nachteile im Straßenverkehr?18 Wie schon eingangs erwähnt, ändert sich aber bei vielen Menschen das Werteempfinden: Das Auto verliert seine Rolle als Statussymbol. Es hat nur mehr eine funktionelle Bedeutung. Nur FahrerInnen eines Luxussportwagens oder – wie heute zunehmend erkennbar – eines SUVs sehen das Auto noch als ein Statussymbol.19 Aber selbst sie dürften bereits die irreführende Werbung der Automobilhersteller wie „freie Fahrt in unberührten Landschaften und verkehrsfreien Städten“ als einen massiven Widerspruch zur Wirklichkeit erkennen. 2.6 Mobilität als vernetztes System erkennen/ Effizienz der Mobilitätssysteme/Ein Mobilitätsangebot mit hoher Qualität schafft Nachfrage Mobilität ist ein vernetztes Gefüge von Wirkungen und Rückwirkungen. Wir können unsere Mobilitätsprobleme nur lösen, wenn wir diese Wirkungen und Rückwirkungen für uns neu ordnen. Wir benötigen langfristige Strategien und ein ganzheitliches Systemdenken20 und dürfen den kurzfristigen Lösungen nicht den Vorzug geben. Bei der Mobilität ist die Effizienz der einzelnen Verkehrssysteme gefragt, nicht ihr möglichst großer Umfang.21 Wir Menschen waren immer in der Lage, die Sicht auf die Wirklichkeit, unser Paradigma zu ändern. Seit jeher haben wir auch unser Mobilitätsverhalten immer den Veränderungen angepasst.22

18 Netzwelt (10.1.2020). CES 2020-Highlights: Das waren die besten Neuheiten der Messe. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.netzwelt.de/news/174914-ces-2020-highlights-waren-bestenneuheiten-messe.html. 19 Handelsblatt (4.12.2010). Auto als Statussymbol. So beliebt wie eine Waschmaschine. 20 Günther Witzany (Hg.) (2010). Zukunftsfähige Stadt- und Verkehrsplanung. Wieviel Kohr braucht die City?, Norderstedt. 21 Ulrich Schäffeler (2005). Netzgestaltungsgrundsätze für den öffentlichen Personennahverkehr in Verdichtungsräumen, in: IVT Schriftenreihe der ETH Zürich, Band 128. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.research-collection.ethz.ch/handle/20.500.11850/47954. 22 Süddeutsche Zeitung Online (5.9.2017). Partnersuche in der Steinzeit: träge Männer, mobile Frauen.

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Im Mobilitätsbereich gilt die Regel „Angebot mit hoher Qualität schafft Nachfrage“. Das wird oft falsch eingeschätzt. Für viele EntscheidungsträgerInnen aber auch PlanerInnen scheint die Nachfrage nach Straßen die allein bestimmende Größe zu sein. Nach dieser Nachfragetheorie erzeugt der Stau auf der Straße die Notwendigkeit zum Bau neuer oder größerer Straßen. Demzufolge müssen immer weitere Straßen gebaut werden, wenn sich der Verkehr nach dem Bau neuer Verkehrswege wieder staut. Unterstützt wird diese Theorie von der herrschenden Meinung in den Wirtschaftswissenschaften, die davon ausgeht, dass Menschen feste Vorlieben haben und diese – soweit finanzierbar – auch umsetzen.23 Es wird vergessen, dass im Gegensatz zum marktwirtschaftlichen Prinzip, wo Nachfrage das Angebot steuert, im Mobilitätsbereich das Gegenteil zum Tragen kommt. Der Ausspruch „wer Straßen und Parkplätze sät, wird Verkehr und Stau ernten“ ist kaum zu widerlegen. Wenn wir uns vor Augen halten, wie viele Straßen in den letzten vierzig Jahren im Zentralraum Salzburg gebaut wurden, dann müssten wir heute in paradiesischen staufreien Zuständen leben. Aber unsere Straßen sind mehr denn je überlastet und manchmal gewinnt man den Eindruck, dass wir uns wohl oder übel damit abgefunden haben. Wird mehr angeboten, wird mehr genutzt.24 In der Praxis ist diese Erkenntnis hinreichend bewiesen: Einzelmaßnahmen als Problemlöser für eine überlastete Verkehrssituation führen meist zu stärkerem Verkehr. Ein eindrucksvolles Beispiel für einen Rebound-Effekt ist die Entwicklung im Großraum Los Angeles, wo vor 50 Jahren ein gut ausgebautes Straßenbahnnetz durch viele Einzelmaßnahmen durch ein dichtes Netz von vielspurigen Freeways und Straßenverbindungen ersetzt wurde. Bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts konnte man mit dem „öffentlichen Streetcar“ jeden abgelegenen Winkel der Stadt staufrei und umweltschonend erreichen. Heute bewegt sich auf den vielspurigen Autobahnen vor allem der Berufsverkehr in endlosen Autoschlangen mit weniger als 20 Kilometern pro Stunde.25 Eine Stauanfälligkeit entsteht auch bei Straßen mit eng gestaffelten Geschwindigkeitsunterschieden. Eine gleichmäßige Tempovorgabe über längere Strecke verursacht weniger Stau, wie uns zum Beispiel die 100 km/h Tempobeschränkungen durch das „I-GL“ auf längeren Abschnitten zeigen. Gleiche

23 Gerd Gigerenzer (2015). Intuition und Führung: Wie gute Entscheidungen entstehen, in: Marlies W. Frös/Stephanie Kaudela-Baum/Frank E.P. Dievernich (Hg.): Emotion und Intuition in Führung und Organisation. Publikationen der SGO Stiftung, Wiesbaden, S. 19–42. 24 Tiroler Tageszeitung Online (7.6.2015). Wer Straßen sät, wird mehr Verkehr ernten. 25 Frankfurter Allgemeine Online (9.8.2006). Los Angeles erstickt an den Autos.

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Geschwindigkeiten bewirken nachweislich einen optimalen Verkehrsfluss mit der höchstmöglichen Anzahl von Fahrzeugen.26 Um tatsächlich eine entlastende Wirkung zu erzielen, müssen Maßnahmen aus einem Systemverständnis heraus ergriffen werden. Während die Anbindung eines öffentlichen Verkehrsmittels vom Umland bis ins Stadtzentrum die Verkehrssituation entlastet, erhöhen zusätzliche innerstädtische Parkplätze den Gesamtverkehr und verursachen weitere Überlastungen. Sollte in der Stadt Salzburg nach Fertigstellung der neuen Mönchsberggarage die Anzahl der Parkflächen nicht zumindest in der gleichen Anzahl in der Altstadt verringert werden, so werden wir sehr bald eine weitere Zunahme des Autoverkehrs in der Altstadt Salzburg erleben. Viele werden wieder das Auto in Anspruch nehmen, weil ein attraktiver Parkplatz in der Stadt mehr Bequemlichkeit verspricht. Eine Veränderung des Straßenraumes, sowohl für den fließenden als auch den ruhenden Verkehr, zugunsten der FußgängerInnen und RadfahrerInnen, ist von besonderer Bedeutung.27 Das Prinzip „Angebot erzeugt Nachfrage“ gilt für breite Gehflächen für FußgängerInnen, gut angelegte und sichere Radwege sowie attraktive Bus- und Bahnangebote, insbesondere für die Vernetzung aller Verkehrssysteme. Es ist Zeit, dass ein Angebot von Gesamtsystemen als eine bestimmende Größe erkannt wird.28 2.7 Missverhältnis zwischen Aufwand und Funktion der Verkehrssysteme: Veränderungen durch flexible Mobilitätsangebote der 4. Industriellen Revolution Ein Gebot der Stunde ist eine umweltschonende Mobilität mit weniger Verschwendung durch ineffiziente Verwendung von Fahrzeugen und Infrastruktur. Dies betrifft sowohl den Individualverkehr als auch den öffentlichen Verkehr. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Funktion der Verkehr erfüllen soll und welchen Aufwand wir dafür betreiben. Für viele Familien gehört die Investition in ein Auto zur größten Ausgabe in ihrem Haushaltsbudget.

26 Zukunft Mobilität (22.12.2017). Die drei Haupttheoreme der Stauforschung: Der Schmetterlingseffekt, unsichtbare Wellen (= Phantomstau) und die Tragik des Zufalls. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.zukunft-mobilitaet.net/3344/analyse/wie-entstehen-staus-phantomstau/. 27 Der Standard Online (19.2.2019). Verkehrsplanerin: „Der Autoverkehr hat zu viel Raum in Salzburg“. 28 Ingo Kollosche/Oliver Schwedes (2016). Mobilität im Wandel – Transformationen und Entwicklungen im Personenverkehr. WISO-Diskurs der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nr. 14. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://library.fes.de/pdf-files/wiso/12702.pdf.

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Seit Jahren bündeln wir Zeitungen und Altpapier, sammeln akribisch Joghurt-Becher, trennen unseren gesamten Abfall. Die Verschwendung von Energie und Lebensmitteln (Food waste) sind zentrale gesellschaftliche Themen geworden und spielen eng mit der Klimaentwicklung zusammen. Die Verschwendung bei der Mobilität hat es offenbar noch nicht in unser gesellschaftliches Bewusstsein geschafft. Dabei sind die Fakten alarmierend genug und die Folgen dieser Verschwendung sind für uns alle beobachtbar: Der Besetzungsgrad unserer Autos liegt statistisch bei 1,16 Personen pro Fahrt und sie stehen im Durchschnitt mehr als 23 Stunden am Tag meist auf öffentlichen Verkehrsflächen ungenutzt herum. Zudem verkehren schlecht besetzte oder zum Teil leere Busse bei den an die Hauptlinien anschließenden Seitenlinien. Im Zentralraum Salzburg bleibt im ländlichen Raum ein hoher Anteil des Platzangebotes in den öffentlichen Verkehrsmitteln insbesondere zu den Randzeiten ungenutzt. Auch TaxifahrerInnen klagen über zunehmende Standzeiten.29 Eine sinnvolle Vernetzung zwischen den einzelnen Verkehrssystemen existiert in den meisten Fällen nicht. Der Clou dabei ist, dass wir alle den Preis für dieses ineffiziente Mobilitätssystem bezahlen. Sei es über Steuern, Abgaben oder überhöhte Ticketpreise und Taxitarife und letztlich über die immer höheren Klimakosten. Wo finden sich die Ursachen für diese Situation? Sind es die falschen Angebote? Jedes der Systeme (ob Individualverkehr, öffentlicher Verkehr, Taxi-, Bike- und Carshare-Angebote oder Mitfahrplattformen) halten große, unflexible Angebotskapazitäten bereit, in der Hoffnung, dass möglichst oft und möglichst viele Menschen die Angebote nutzen. Der öffentliche Verkehr operiert sehr oft mit einer recht groben und unausgereiften Angebotsstruktur. Das erkennen wir vor allem in den ländlichen Regionen im Flach- und Tennengau bei den busbetriebenen Seitenlinien, insbesondere in Zeiten, in denen nur mehr ein geringer Mobilitätsbedarf besteht. Maßgeschneiderte, spezifische Angebote existieren kaum. Natürlich werden auch künftig, während der Verkehrsspitzen, große Fahrzeuge mit vielen Plätzen für den Massentransport notwendig sein. Das sollte aber nicht undifferenziert bei den Seitenlinien während der Tages- und der Nachtzeit der Fall sein. Jede Verkehrssparte kämpft für sich allein mit ihren Über- und Unterkapazitäten. Zudem verfügen die Verantwortlichen der Verkehrssysteme über zu wenig Wissen und kennen nur rudimentäre Daten bezüglich der Bedürfnisse und der Mobilitätsbewegungen ihrer aktuellen und möglichen KundInnen. 29 VCÖ Mobilität mit Zukunft (28.2.2017). Sinkender Besetzungsgrad. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.vcoe.at/news/details/vcoe-jede-5-autofahrt-in-oesterreich-ist-kuerzer-als-zwei einhalb-kilometer.

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Große Digitalkonzerne haben aber bereits seit einiger Zeit mit der Aufzeichnung und Dokumentation von Bewegungsprofilen begonnen.30 Nach dem „Service-on-Demand“31-Prinzip entstehen derzeit in den großen Städten rund um die Erde neue Angebote, die günstiger, produktiver und mit unseren Kommunikationsmitteln individueller steuerbar sind. Die Digitalisierung setzt hier an und erzeugt ein genaues Mobilitätsprofil der NutzerInnen aller Verkehrsmittel. Daraus lässt sich für alle Verkehrsmittel ein Mehrwert hinsichtlich des notwendigen Ressourcen-Aufwands erzeugen. Über Algorithmen können so zielgerichtet Angebote platziert werden, die nachgefragt werden. Effiziente Mobilitätsangebote ließen sich damit ziemlich genau für den gesamten Zentralraum Salzburg erstellen. Der direkte, einfache Zugang für die Bevölkerung über einfache Plattformen bedeutet eine individuelle digitale „Warehouse Mobilität“.32 Jeder wählt sein Verkehrsmittel aus diesem Warehouse-Angebot. Es funktioniert ähnlich wie ein Department Store in der analogen Welt. Neben dem bequemen Zugang schaffen Plattformen Transparenz, vernetzen die integrierten Mobilitätsangebote und verlinken diese mit einfachen Zahlungssystemen. Nach dem Prinzip von „Service on Demand“ entsteht Mobilität, die individueller ist, weil der Verkehr öffentlicher, vielgestaltiger und dynamischer wird. Mit einem Wort – „smarter“. Das Gesamtsystem Mobilität, aber auch die einzelnen Teilsysteme, steigern ihre Produktivität dadurch markant. Vorsorglich bereitgestellte Leistungen können auf ein Minimum reduziert, ungenutzte Leistungen minimiert oder umgelagert werden. Die Menschen profitieren von attraktiveren Angeboten zu niedrigeren Preisen. Es stellt sich die Frage, warum sich in der Mobilität die Plattformökonomie, die bei anderen Branchen üblich ist, nicht ebenfalls schon längst durchgesetzt hat. Hängt es mit den mentalen Modellen der bisherigen Platzhirsche zusammen? Die öffentlichen Verkehrsbetriebe haben ihre Wurzeln in der Ersten Industriellen Revolution (ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts), sie verkörpern eine Kultur der Industrieproduktion und eine Arbeitsorganisation, die auf Massenproduktion ausgerichtet war. Die Autoindustrie ist ein Relikt der 30 Gerrit Hornung (2015). Verfügungsrechte an fahrzeugbezogenen Daten: Das vernetzte Automobil zwischen innovativer Wertschöpfung und Persönlichkeitsschutz, in: Datenschutz und Datensicherheit – DuD, 39, S. 359–366. 31 Q_PERIOR (2019). Mobility-on-Demand – Lösung oder Risiko in der Mobilitätswende? Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.q-perior.com/fokusthema/mobility-on-demand-loesungoder-risiko-in-der-mobilitaetswende/. 32 Die publizistische Plattform www.denkfabrikmobilitaet.org vermittelt die Haltung und die Erkenntnisse der Denkfabrik Mobilität. Unter „Warehouse Mobilität“ verstehen die VertreterInnen der Plattform ein vielfältiges Mobilitätsangebot, das die Zukunft der Mobilität nachhaltig prägen wird.

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Zweiten Industriellen Revolution (ab Beginn des 20. Jahrhunderts), die auf die größtmögliche Produktion von Autos ausgerichtet ist. Sowohl die Verantwortlichen der öffentlichen Verkehrsbetriebe als auch die autoerzeugende Industrie tun sich mit einer Neuausrichtung schwer. Natürlich ist es nicht leicht, erfolgreiche Geschäftsmodelle und eingespielte Verhaltensmuster zu verlassen und neue Kompetenzen aufzubauen. Dazu gehört der kluge, verantwortungsvolle Umgang mit den digitalen Daten und die sich daraus ableitende Erhebung, Analyse und Mustererkennung im Dienste spezifischer Angebote. Es genügt nicht mehr, Angebote und Produkte zu entwickeln, zu planen und anschließend mit einem Vertriebsmarketing in die Absatzmärkte hineinzupressen. Künftig wird Servicedesign entscheidend für den Erfolg sein. Diese Entwicklungen verlangen eine Gesamtsicht, ein achtsames Eingehen auf die KundInnenbedürfnisse und eine kluge Vernetzung der verschiedenen Dienstleistungselemente. Erfolgreiche Angebote sind qualitativ stimmig, sie sind „cool“ in der Anmutung und einfach bei der Nutzung. Die PlayerInnen der Vierten Industriellen Revolution (ab Ende des 20. Jahrhunderts) sind dabei, das Feld Mobilität bereits offensiv zu besetzen (zum Beispiel die globalen Unternehmen aus dem Silicon Valley und den asiatischen Ländern). Sie zeichnen sich durch digitale Kompetenz aus, gehen gekonnt und virtuos mit digitalen Daten um, entwickeln daraus schnell neue Geschäftsmodelle und Produkte. Sie verfügen außerdem über ein gigantisches Investitionskapital. Was diesen neuen Akteuren jedoch fehlt, ist die Erfahrung in der analogen realen Welt. Die bisherigen Platzhirsche wie der Salzburger Verkehrsverbund, die ÖBB, die Städtischen Verkehrsbetriebe, die Salzburger Lokalbahnen und private Busunternehmen wie Allbus können hier ihre Kompetenzen ausspielen. Sie bewegen täglich hunderttausende KundenInnen im Zentralraum Salzburg. Nicht virtuell, sondern real und das zumeist in einer sehr guten Angebots-Qualität. In kreativen Kooperationen der bisherigen Platzhirsche mit den Akteuren der Vierten Industriellen Revolution könnten die Chancen einer zukunftsweisenden Mobilität liegen.33 2.8 Planungsprinzipien für ein funktionierendes Mobilitätssystem Um ein verfeinertes, qualitativ hochwertiges und umweltfreundliches Angebot in der Mobilität für den Zentralraum Salzburg entwickeln zu können, ist eine langfristige Strategie mit einem sinnvollen Systemmanagement unumgänglich. Nicht darauf abgestimmte Einzelmaßnahmen sind fehl am Platz. Aus einer ganz33 Denkfabrik Mobilität (2017). Das Manifest zur Mobilität der Zukunft. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.denkfabrikmobilitaet.org/geschichten/manifest.

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heitlichen Sichtweise erkennt man erst die Ursachen für Schwachstellen im Angebotssystem und es lassen sich die einzelnen logischen Schritte klar darstellen. Für eine optimale Entwicklung eines Mobilitätssystems müssen alle Einfluss-Faktoren in ein richtiges Verhältnis zueinander gestellt werden. Die Entwicklung findet in einem vernetzten System statt. Werden diese Einfluss-Faktoren falsch bewertet, entsteht ein Mobilitätssystem mit ursächlichen Schwachstellen. Wie bereits eingangs ausführlich dargestellt, wurde in den vergangenen Jahrzehnten dem Auto mit einem Verbrennungsmotor als dominante Verkehrsart der Vorzug gegeben. Die Verteilung der Verkehrsflächen in den Städten des Zentralraumes Salzburg ist ein Zeugnis dafür. Sie wurden hauptsächlich dem Auto gutgeschrieben. Alle anderen Verkehrsarten wie zu Fuß gehen, mit dem Rad fahren, den Bus oder die Bahn nutzen, mussten hinter das Auto zurücktreten. In den letzten Jahren wurde aber mit viel Engagement begonnen, anderen Verkehrsarten, gemessen nach ihrer Effizienz, einen neuen Stellenwert einzuräumen. Die Entwicklung eines Mobilitätssystems wird durch die Beziehung der einzelnen Verkehrssysteme (Individual-, öffentlicher Verkehr), Fahrzeuge und Infrastruktur zueinander definiert. Auf Basis der Vernetzung der Mobilitätssysteme können wir im Stadium der Entwicklung herausfinden, wo wir den Hebel für sinnvolle Änderungen ansetzen müssen. Der Paradigmenwechsel bei der Entwicklung eines Mobilitätssystems beginnt bei einer genauen Potentialanalyse der EinwohnerInnen und Gäste, die uns die Raumordnungsdaten liefern. Sie ist die Basis für die Entwicklung eines gut funktionierenden vernetzten Mobilitätssystems, das von den BenutzerInnen dann auch gerne nachgefragt wird. Daraus bestimmt sich die Dimensionierung des Mobilitätssystems. Die Einbettung in die übergeordneten Systeme „Mensch, Natur und Gesellschaft“ steuern die sinnvollen Erneuerungen unserer Mobilitätssysteme.

3. DIE ENTWICKLUNG DER MOBILITÄTSSYSTEME IM ZENTRALRAUM SALZBURG 3.1 Lage des Zentralraumes und Bevölkerungsentwicklung Die Stadt Salzburg und ihre unmittelbare Umgebung (Bezirke Flachgau, Tennengau, Landkreise Berchtesgadener Land und Traunstein) zählen seit Jahrzehnten zu den Regionen in Europa mit einer intensiven Entwicklungsdynamik.34 Grundsätzlich zählen Stadtregionen zu den Gebieten mit den höchsten Entwicklungspotentialen. Das ist vor allem mit der Arbeitsplatz- und Ausbil34 Salzburger Landesgesetzblatt (LGBl.) 13/2009: Verbindlicherklärung des Sachprogramms „Standortentwicklung für Wohnen und Arbeiten im Salzburger Zentralraum“.

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dungskonzentration verbunden. Dazu kommt im Zentralraum Salzburg die sehr hohe Attraktivität als Freizeit- und Tourismusdestination. Der Zentralraum Salzburg (Stadt Salzburg, Flachgau, Tennengau) als Teil der Euregio Salzburg-Berchtesgadener Land-Traunstein verzeichnet seit Ende des 2. Weltkrieges eine sehr starke Bevölkerungsentwicklung. So wuchs beispielsweise die Bevölkerung im Flachgau zwischen 1939 und 2016 fast um das Dreifache.35 Durch den vermehrten Bau von Einfamilienhäusern kam es zu einer starken Zersiedelung36 im Flach- und Tennengau. Die überdurchschnittlich hohen Wohn- und Gewerbegebietskosten in der Stadt Salzburg37 haben viele zu einem Hausbau in der Region veranlasst. Der Zentralraum Salzburg ist durch seine Lage innerhalb Österreichs sowie durch seine Nähe zum Großraum München Teil der europäischen Entwicklungsachse München-Salzburg-Linz-Wien. Als Schnittpunkt zwischen der Nord-Süd- und der West-Ost-Verbindung weist er eine strategisch besonders günstige Lage auf. Seit der Ostöffnung der EU entwickelt sich der Zentralraum Salzburg gemeinsam mit dem benachbarten Oberbayern/München zu einem attraktiven, zentralen Wirtschaftsraum zwischen West- und Osteuropa. Vom Zentralraum Salzburg können die wichtigsten Wirtschaftsräume in Deutschland und Italien, aber auch die neuen EU-Staaten Ost- und Südosteuropas durch eine leistungsfähige Autobahn Verkehrsinfrastruktur (A1, A8, A10) sehr gut erreicht werden. Nach Fertigstellung der „Magistrale für Europa“38 von Paris bis Budapest wird der Zentralraum Salzburg an die West-Ost-Bahnachse in Europa, die in der Mitte Europas zwischen Nordsee und Mittelmeer gelegen ist, angebunden sein. Damit können nach einer Studie des Beratungsunternehmen Ramboll39

35 Land Salzburg (2020). Strukturdaten für die politischen Bezirke Stadt Salzburg, Flachgau, Tennengau. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/themen/statistik/statistikdaten-veroeffentlichungen-uebersicht/statistik-daten-periodika-tabellaria/strukturdaten-statis tik-daten-bezirke; Bayrisches Landesamt für Statistik (2020). Strukturdaten für die Landkreis Berchtesgadener Land, Landkreis Traunstein. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.statis tik.bayern.de/produkte/kreisdaten/index.html. 36 Statistik Austria (2011). Census 2011 – Gebäude- und Wohnungszählung. Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.zbw.eu/econis-archiv/bitstream/handle/11159/37/standardpublikation.pdf?sequence=1. 37 Salzburger Nachrichten Online (10.2.2014). Wohnungen in Salzburg: Preissteigerung um 90 Prozent. 38 Deutsche Bahn (20.2.2020). Netze: Ausbaustrecke München-Mühldorf-Freilassing. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.abs38.de/startseite.html. 39 Ramboll (8.2.2018). Studie mit Signalwirkung. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://de. ramboll.com/media/rde/smart-mobility-executive-forum.

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jährlich 220.000 Lkw-Ladungen auf die Schiene verlagert werden, was 400.000 Tonnen klimaschädliche Treibhausgase einsparen würde. Das Beratungsunternehmen hat errechnet, das nach Fertigstellung der in der Augsburger Erklärung aufgelisteten Ausbaumaßnahmen jährlich 1,56 Millionen Menschen vom Auto und dem Flugzeug auf die Bahn wechseln würden. Im Einzugsbereich der Magistrale leben in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Slowakei und Ungarn 35 Millionen BewohnerInnen und 16 Millionen Beschäftigte.40 3.2 Die Raumplanung hat ihr Ziel bei der Verkehrsreduktion nicht erreicht Durch das erhöhte Verkehrsaufkommen41 und den dadurch verursachten größeren Straßenbedarf kommt es zu einem zunehmenden Flächenverbrauch in der Verkehrsinfrastruktur.42 Auch die fortschreitende Zersiedlung des Agglomerationsraumes rund um die Stadt Salzburg in den letzten 40 Jahren hat zu immer länger werdenden Wegstrecken zwischen Wohnung und Arbeit und dadurch zu einem anwachsenden Verkehrsaufkommen geführt. Ein urbaner Raum müsste eigentlich das Verkehrsaufkommen verringern. Ein von einer systemzusammenhängenden Verkehrsplanung weit entferntes Planungsverfahren trägt dazu bei, dass die Verkehrsdichte in den Ballungsgebieten des Landes Salzburg zunimmt. So wird das Auto, obwohl es als Verkehrsmittel in städtischen Räumen ungeeignet ist, weiterhin favorisiert, wie das Beispiel des Baus der Mönchsberggarage in der Stadt Salzburg zeigt. Durch die Siedlungsstrukturen im Zentralraum sind die Verkehrsnetze weitgehend festgelegt und nur durch einen Ortsumbau und neuerlichen Straßenbau veränderbar. Dadurch wird die Gestaltung unseres Lebensraumes von der Eigendynamik des täglichen Verkehrs dominiert und eine Raumplanung kann nur mehr eingeschränkt an Verbesserungen agieren.43 40 Magistrale für Europa (2015). Flyer Initiative Magistrale für Europa. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://magistrale.org/wp-content/uploads/2018/03/RZ_Magistrale-EuropaDINlang_8s_1015_de_Final.pdf. 41 Stadt Salzburg (2.4.2015). Das REK 2007. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.stadt-salzburg. at/internet/wirtschaft_umwelt/stadtplanung/rek_2007_raumordnung/das_rek_2007_342593.htm; Johannes Böhning (1999). Das Verkehrsforum Salzburg — Studie einer reflexiven Institution, in: Ulrich Beck/Maarten A. Hajer/Sven Kesselring (Hg.): Der unscharfe Ort der Politik – Empirische Fallstudien zur Theorie der reflexiven Modernisierung, Wiesbaden, S. 253–275. 42 Umweltbundesamt (2001). Versiegelt man Österreich?, S. 144 ff. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.umweltbundesamt.at/fileadmin/site/publikationen/CP030.pdf. 43 Land Salzburg (2016). Salzburger Landesmobilitätskonzept 2016–2025. Abgerufen am 25.6.2020unter https://www.salzburg.gv.at/verkehr_/Documents/salzburgmobil2025_pro gramm2016.pdf.

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Für die bestehende oder geplante Versorgung der Siedlungsgebiete mit den Einrichtungen des öffentlichen Personennahverkehrs gelten als Grundlage zur Überprüfung der Versorgung mit öffentlichem Personennahverkehr die ÖVGüteklassen (Öffentlicher-Verkehr-Güteklassen). Diese beziehen sich auf die seitens der ÖROK österreichweit festgelegten ÖV-Güteklassen (Grunddaten zur ÖROK-Erreichbarkeitsanalyse 2018). Diese berechneten Einzugsgebiete (ÖV-Güteklassen) sind im REK-Datenpaket enthalten. Solange im zukünftigen Landesentwicklungsprogramm keine anderen Regelungen getroffen werden, gelten im Zentralraum der 500 m und 1.000 m Einzugsbereich für Bus und Bahn. Bei genauer Hinsicht kann man feststellen, dass sie aber in vielen Bereichen im Zentralraum nicht eingehalten werden.44 Mit Blick auf eine nachhaltige Verkehrs- und Siedlungsentwicklung wird in der Raumforschung und Raumplanung heftig diskutiert, in welcher Weise siedlungsstrukturelle Konzepte, wie ein aktuelles Leitbild einer dezentralen Konzentration, ein künftiges Verkehrsleistungswachstum dämpfen können, ohne die Verkehrsmöglichkeiten von Personen und Gütern zu beschränken.45 3.3 Die Rolle der BürgerInneninitiativen für den Umweltschutz im Verkehrsbereich Bis zu den 1970er-Jahren hat sich das Verkehrswachstum zunächst ohne nennenswerten Widerstand der Bevölkerung vollzogen. In dieser Phase ist der Agglomerationsraum um die Stadt Salzburg intensiv gewachsen.46 Erste Bürgerinitiativen mit Unterstützung ökoorientierter Parteien führten in manchen Bereichen zu einem vermehrten Widerstand aus der Bevölkerung, vor allem in der Stadt Salzburg.47 Eine stärkere Identifizierung mit der Wohnumgebung, eine erhöhte funktionelle Durchmischung des Raumes als Wohnraum, Ausbil44 Land Salzburg (6.11.2019). Leitfaden Räumliches Entwicklungskonzept. Abgerufen am 25.6.2020unter https://www.salzburg.gv.at/bauenwohnen_/Documents/2019_11_06_REK-Leitfa den.pdf; Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK) (2018). ÖROK-Erreichbarkeitsanalyse 2018 (Datenbasis 2016) – Analysen zum ÖV und MIV, S. 41 ff. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.oerok.gv.at/fileadmin/user_upload/publikationen/Schriftenreihe/203/OEROKSR_203_web.pdf; Land Salzburg (2012). Handbuch Raumordnung. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/bauenwohnen_/Documents/haro_aktuell_kap_1_bis_3_klein.pdf; Land Salzburg (6.11.2019). Leitfaden Räumliches Entwicklungskonzept. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/bauenwohnen_/Documents/2019_11_06_REK-Leitfaden.pdf. 45 Arnd H. Motzkus (2001). Verkehrsmobilität und Siedlungsstrukturen im Kontext einer nachhaltigen Raumentwicklung in Metropolregionen, in: Raumforschung und Raumordnung, 59, S. 192–204. 46 Land Salzburg, Strukturdaten (s. Fn. 35); Bayrisches Landesamt für Statistik, Strukturdaten (s. Fn. 35). 47 Richard Hörl (2014). Die Salzburger Bürgerrevolte 1972–1982, Salzburg-Wien.

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dungsort und Arbeitsplatz und eine damit verbundene Dezentralisierung wurden gefordert. Die Stabilisierung wollte man mit einer kleinteiligen Siedlungsund Industriestruktur, autofreien FußgängerInnenzonen und dem Schutz der Grünzonen erreichen. Der Individualverkehr und die PendlerInnen-Bewegungen sollten reduziert werden und Hand in Hand auch den Energieverbrauch verringern. Die Aktivitäten der Bürgerinitiativen ließen aber nach, weil Teilerfolge dämpfend wirken, denn was einmal erreicht wurde, muss nicht aufs Neue ausgefochten werden. Ein bekanntes Phänomen,48 das sich auch bei Umweltverbesserungen im Verkehrsbereich durch die Einführung von bleifreiem Benzin, dem Katalysator und Lärmschutzmaßnahmen zeigte. Sobald diese Initiativen Erfolg hatten, ruhte man sich darauf aus und das Gesamtproblem hinsichtlich des Klimas trat wieder in den Hintergrund. 3.4 Salzburg – staureichste Stadt Österreichs Die Stadt Salzburg und ihr Agglomerationsraum ist die staureichste Region in Österreich und löste bereits 2017 den Spitzenreiter aus dem Vorjahr, Wien, ab. Der Navi-Hersteller TomTom erhebt dies in seinem jährlichen Traffic-Index.49 Demnach müssen AutofahrerInnen in Salzburg im Tagesdurchschnitt für eine Fahrt, die ohne Hindernisse 60 Minuten dauert, 29 Minuten zusätzliche Fahrtzeit einplanen. In den Stoßzeiten spitzt sich die Lage weiter zu: AutofahrerInnen sind abends bis zu 57 Prozent länger unterwegs als bei geringem Verkehrsaufkommen. AutofahrerInnen in Salzburg müssen im Schnitt zu ihrer staufreien Fahrtzeit 32 Prozent hinzurechnen, in Graz sind es 29 Prozent. Deutlich entspannter verhält es sich in Linz und Innsbruck. In Wien braucht man für eine ansonsten einstündige Fahrt bei hohem Verkehrsaufkommen 30 Minuten länger. Es bewahrheitet sich immer wieder, dass Einzelmaßnahmen nicht ausreichen. Als Beispiel sei hier das Bauvorhaben Münchner Bundesstraße genannt. Sie wurde bisher in zwei Etappen ausgebaut: 2007 zwischen dem Grenzübergang Saalbrücke und der Eugen-Müller-Straße, fortgesetzt wurde der vierspurige Ausbau dann 2014 zwischen der Eugen-Müller-Straße und der Bichlfeldstraße auf Höhe des Merkur-Marktes. Jetzt fehlen noch rund 650 Meter über den Lieferinger Spitz hinaus bis zum Kreisverkehr Salzburg-Mitte. Beim Ausbau der Münchner Bundesstraße wurden die Planungsarbeiten beauftragt, damit 2017 alle rest48 Der Standard Online (8.3.2005). 20 Jahre bleifreies Benzin; Auto Motor Sport Online (14.6. 2011). Die Geschichte des Kats. 49 ORF Salzburg Online (21.02.2017). Salzburg ist Staustadt Nummer eins; TomTom (18.4.2020). Salzburg traffic. Abgerufen am 20.2.2020 unter https://www.tomtom.com/en_gb/traffic-index/ salzburg-traffic/.

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lichen Vorarbeiten wie Verhandlungen über die Grundstückseinlösungen und Detailplanungen abgeschlossen werden und 2018 die Umsetzung stattfinden konnte. Als Maßnahmen zur Busbeschleunigung wurden einige neue Busstreifen sowie Änderungen von Ampelsteuerungen diskutiert. Das Ergebnis kennen wir: Es ist eine der staureichsten Straßen der Stadt Salzburg geblieben.50

3.5 Modal Split in der Stadt Salzburg und im Flach- und Tennengau

51 und im Flach- und Tennengau 3.5 Die Modal Split inSplit der Stadt Salzburg „Modal Anteile“ zeigen die prozentuelle Nutzungsverteilung im Verkehrsb

51 zeigen 52 Dieim „Modal-Split-Anteile“ prozentuelle Ver- sich im Ve Diedie Stadt Salzburg Nutzungsverteilung und der Zentralraumimfinden Zentralraum Salzburg. kehrsbereich im Zentralraum Salzburg.52 Die Stadt Salzburg und der Zentralzu finden anderensich Städten und Regionen leider am Endeund der Statistik. raum im Vergleich zu anderen Städten Regionen leider am Ende der Statistik. Abbildung 1

[hier Abbildung einfügen]

Abbildung 1: Modal Split in der Stadt Salzburg und im Flach- und Tennengau

  Quelle: Abbildung entnommen aus demaus Salzburger Landesmobilitätskonzept (s. Fn. 43). Quelle: Grafik entnommen dem Salzburger Landesmobilitätskonzept

(s. Fn. 43).

In den österreichischen Städten und Bundesländern gibt es beim „Modal Split“ große 53

Unterschiede. 50 InfoMediaWorx (26.11.2018). Grenzenloser Stau – Weiter Warten auf Ausbau Münchner Bundesstraße. Abgerufen am 30.11.2018 unter https://infomediaworx.wordpress.com/2018/11/26/ Abbildung 2 grenzenloser-stau-weiter-warten-auf-ausbau-muenchner-bundesstrasse/. [hier Abbildung einfügen] 51 Die Modal-Split-Anteile zeigen die prozentuale Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel. Siehe dazu z. B. Zukunft Mobilität (9.4.2018). Was ist der Modal Split und was sagt er aus? Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.zukunft-mobilitaet.net/167600/analyse/ was-ist-der-modal-split-grenzen-verkehrsmittelwahl-einschraenkungen-wege-verkehrsleistung/. 52 Land Salzburg, Salzburger Landesmobilitätskonzept 2016 (s. Fn. 43).

[hier Abbildung einfügen]

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Quelle: Grafik entnommen aus dem Salzburger Landesmobilitätskonzept (s. Fn. 43) Günther Penetzdorfer

In den österreichischen Städten und Bundesländern gibt es beim „Modal Split“ groß

In den österreichischen Unterschiede.53 Städten und Bundesländern gibt es beim „Modal Split“ große Unterschiede.53

Abbildung 2

Abbildung 2: Modal Split ausgewählter [hier Abbildung einfügen] Städte in Österreich

  Quelle: Grafik entnommen aus dem Salzburger Landesmobilitätskonzept (s. Fn. 43) Quelle: Abbildung entnommen aus dem Salzburger Landesmobilitätskonzept (s. Fn. 43).

3.6 Entwicklung der Mobilität im Fuschlsee-Mondsee-Korridor

3.6 Entwicklung der Mobilität im Fuschlsee-Mondsee-Korridor

Am Beispiel der Regionalbuslinie 150 von Salzburg Hauptbahnhof nach Bad Ischl B

Am Beispiel der Regionalbuslinie 150 von Salzburg Hauptbahnhof nach Bad und den angrenzenden sechs Seitenbuslinien kann die Anwendung gesamtheitlicher Ischl Bahnhof und den angrenzenden sechs Seitenbuslinien kann die AnwenPlanungsprinzipien dargestellt werden. Ziel warwerden. es, im Bereich Regionalverband dung gesamtheitlicher Planungsprinzipien dargestellt Ziel war des es, im BereichFlachgautakt des Regionalverbandes Flachgautakt I (GV FLAT I) eine nachhaltige I (GV FLAT I) eine nachhaltige Mobilitätsentwicklung für alle Mobilitätsentwicklung für alle Bevölkerungsgruppen und Gäste der Region zu positionieren. Im Rahmen des Leader-Projektes FUMObil54 haben sich die

51 Die Modal Split Anteile zeigen die prozentuale Verteilung des Transportaufkommens auf verschied Verkehrsmittel. Siehe dazu z.B. Zukunft Mobilität (9.4.2018). Was ist der Modal Split und was sagt e Abgerufen am 20.10.2019 unter https://www.zukunft-mobilitaet.net/167600/analyse/was-ist-der-mod 53 Ebd. grenzen-verkehrsmittelwahl-einschraenkungen-wege-verkehrsleistung/. 52 Land Salzburg, Salzburger Landesmobilitätskonzept 2016 (s. Fn. 43). 54 Leader-Projekt „FUMObil“, im Auftrag der Leader-Region FUMO (Fuschlsee Mondseeland), 53 Ebd. am 25.6.2020 unter http://www.regionfumo.at/fumobil/. 2017. Abgerufen

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AuftragnehmerInnen55 in einer intensiven Diskussion mit den engagierten BürgermeisterInnen und ExpertInnen des Gemeindeverbandes Flachgautakt I zusammengefunden, um ein Mobilitätssystem nach wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fragen zu diskutieren und nach gesamtheitlichen Grundsätzen zu entwickeln. Auf dieser Basis wurden die Fahrpläne der RegionalbusHauptlinie 150 und die Fahrplananbindungen der sechs Bus-Seitenlinien an den neu entstandenen multimodalen Knotenhaltestellen56 entwickelt. Die transparenten Daten wurden mit den politischen VertreterInnen und Verantwortlichen des Landes unter dem Begriff „Integraler Taktfahrplan der Regionalbuslinien 150 und 140“ besprochen. Das Konzept des FUMObil-Projekts57 erhielt mittlerweile internationale Anerkennung durch einen Spitzenplatz beim Rural Inspiration Award 202058. Der allerdings bis jetzt nur zum Teil in die Realität umgesetzte Plan beinhaltet im Endausbau folgende Maßnahmen: Bei einer optimalen Entwicklung des Regionalbussystems in diesem Verkehrskorridor müssen alle Einfluss-Faktoren in einem richtigen Verhältnis zueinander berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass nach Maßgabe des Potentials die Regionalbuslinie 150 mit den sieben Seitenbuslinien in einem integrierten Taktfahrplan verbunden werden muss. Der Fahrplan soll an sieben Tagen von 6:00 bis 24:00 Uhr in einem 30-Minuten-Takt verkehren, wobei an den Werktagen zu den Hauptverkehrszeiten der Fahrplan in den jeweiligen Lastrichtungen am Morgen Richtung Salzburg und ab Mittag in Richtung St. Gilgen mit einem 15-Minuten-Takt verstärkt werden muss. Alle Seitenbuslinien müssen mit kurzen Übergangszeiten von zwei Minuten integriert verbunden werden. Die Seitenbuslinien sollen als Nachfragesystem mit kleinen umweltfreundlichen Elektrobussen ausgestattet werden. Alle Fahrzeuge müssen Niederflurbusse sein, die in Abstimmung mit den Haltestellen einen barrierefreien Zugang ge55 Auftragnehmer des Leader-Projektes „FUMObil“ war Metapublic-Relations GmbH unter Leitung von Dr. Günther Penetzdorfer (= Autor des Beitrages). 56 Unter multimodalen Knotenhaltestellen versteht man öffentliche Haltestellen, bei denen Bahnoder Buslinien zur gleichen Zeit von allen Richtungen zusammentreffen, um den Fahrgästen einen zeitlich kurzen Umstieg (ca. 3–10 Minuten) von einem zu einem anderen Verkehrsmittel zu sichern. 57 Leader Projekt FUMObil (s. Fn. 54). 58 Die Information über einen Spitzenplatz erreichte die Leadermanagerin der Leader-Region FUMO, Frau Julia Soriat-Castrillón, telefonisch. Die GewinnerInnen wurden zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrages noch nicht öffentlich gemacht. Siehe dazu: Rural Inspiration Award 2020. Abgerufen am 14.04.2020 unter https://www.translatetheweb.com/?from=en&to=de&ref= SERP&dl=de&rr=UC&a=https%3a%2f%2fenrd.ec.europa.eu%2fnews-events%2fnews%2fruralinspiration-awards-2020_en.

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Abbildung 3: Fuschlsee-Mondsee-Korridor mit allen Bus- und Bahnlinien

  Quelle: Quelle: Metapublic-Relations GmbH – DieGmbH Grafik Verkehrskorridor Seengebiet wurde mit dem geo­ wurde mit Metapublic-Relations – Die Grafik Verkehrskorridor Seengebiet referenzierten Datensystem ITSOS erstellt. Sie zeigt die unter Pkt.Sie 3.6zeigt beschriebene dem georeferenzierten Datensystem ITSOS erstellt. die untergrün Pkt.darge3.6 beschriebene stellte Regionalbuslinie 150Regionalbuslinie mit den 7 Seitenbuslinien blau dargestellte Regionalbuslinie grün dargestellte 150 mitsowie dendie 7 Seitenbuslinien sowie die blau dargestellte 140 mit Regionalbuslinie 6 Seitenbuslinien. 140 mit 6 Seitenbuslinien.

Die Regionalbuslinie 150 mit sieben Seitenbuslinien erreicht derzeit einen Modal-Split ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) von 12,4 Prozent. Das bedeutet, dass von hundert möglichen Personen ca. zwölf die Regionalbuslinien in diesem Korridor nutzen. Das Bevölkerungspotential der Regionalbuslinien liegt allein im Bereich der Erreichbarkeit zu Fuß

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währleisten. Die Haltestellen müssen gemäß den Siedlungsentwicklungen positioniert sein. An bestimmten nachfragestarken Tagen, insbesondere zu den Schulzeiten sowie den touristisch relevanten Zeiten, müssen die Regionalbusse zu den Taktfahrplanzeiten verstärkt geführt werden. Die Haltestellen sollen mit Echtzeitanzeigen ausgestattet werden. Die während des FUMObil-Projektes entwickelte Musterhaltestelle Koppl/Gruberfeldsiedlung59 zeigt die Grundsätze für eine optimale Ausstattung einer Haltestelle, an der die verschiedenen multimodalen Verkehrssysteme angeschlossen werden können. Die Regionalbuslinie 150 mit sieben Seitenbuslinien erreicht derzeit einen Modal-Split-ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) von 12,4 Prozent. Das bedeutet, dass von hundert möglichen Personen ca. zwölf die Regionalbuslinien in diesem Korridor nutzen. Das Bevölkerungspotential der Regionalbuslinien liegt allein im Bereich der Erreichbarkeit zu Fuß bei über 30.000 Personen. Würde man die Erreichbarkeit mit Fahrrädern60 einrichten, so läge man bei über 40.000 Personen. Die Buslinien erschließen attraktive touristische Ausflugsziele. Man spricht von einer Million TagestouristInnen61 jährlich. Der Verkehrskorridor öffnet für TouristInnen das Tor zum Salzkammergut. Im Sommer und in der Adventzeit besuchen viele TouristInnen diese Region. Es fehlt also nicht am Potential und somit an Einnahmen für einen intensiven weiteren Ausbau dieser Buslinien zu einem attraktiven öffentlichen Verkehrsangebot. Bei einer optimalen Gestaltung der Fahrpläne mit barrierefreien Bussen und Haltestellen wäre ein „Modal-Split-ÖPNV“ von 30 Prozent erreichbar.62 3.7 Vernetzte Mobilität – integrierte Taktfahrpläne – Korrektur der Mängel Wo liegen die Mängel, die sehr oft zu einer hohen Unzufriedenheit der Fahrgäste63 führen und viele von der Benützung der Regionalbuslinien abhalten? 59 Leader-Projekt „FUMObil“ (s. Fn. 54); Klima- und Energiemodellregion Mondseeland (13.2.2017). Umsetzungskonzept 2017/2018, S. 76. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www. klimaundenergiemodellregionen.at/assets/Uploads/Berichte/B569609-konzept.pdf. 60 Leader Projekt FUMObil (s. Fn. 54). 61 Land Salzburg (2020). Das Salzburger Tourismusjahr 2018/19. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/statistik_/Documents/BerichtTourismus_2018-19_WEB.pdf. 62 Leader-Projekt „FUMObil“ (s. Fn. 54); Ergebnis der Berechnungen durch georeferenziertes Datensystem ITSOS auf der Basis der Daten von Statistik Austria/WIGeoGIS Daten (siehe https:// www.wigeogis.com/de/home). Die Ergebnisse liegen beim Dachverein zur Regionalentwicklung Fuschlseeregion Mondseeland – Leader Management sowie den teilnehmenden Gemeinden in digitaler und schriftlicher Form auf. Sie wurden in zahlreichen Veranstaltungen im Rahmen des Projektes öffentlich vorgestellt. 63 Als Grundlage der Aussage dienen zahlreiche Beschwerden, die während der Projektarbeiten für

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In den letzten Jahren wurde der Fahrplan zu einem teilweisen Taktfahrplan ausgebaut. Es sind derzeit bereits Verbesserungen spürbar, aber das System ist noch weit weg von einem wirklich einfachen, leicht erkennbaren integrierten Taktfahrplansystem mit verlässlichen Anbindungen der Seitenbuslinien, die den BenützerInnen Sicherheit geben. Um eine hohe KundenInnen-Zufriedenheit zu erzielen und das System optimal auszuschöpfen, bedarf es weiterer Verbesserungen: bequeme Zugänge zur Buslinie, einladende Haltestellen, barrierefreie Busse, ein integriertes Fahrplanangebot samt übersichtlichen, einfachen Informationen. Bei näherer Betrachtung findet man viele kleine Mängel im gesamten System, die eine höhere Attraktivität verhindern. Verkehrssysteme außerhalb des Autos werden von uns als attraktives Angebot angenommen, wenn sie als „einfach – vernetzt – transparent“ wahrgenommen werden. 3.8 Die Haltestelle ist der entscheidende Zugang zum gesamten Mobilitätssystem Die Haltestelle ist der einzige Zugang und damit die Visitenkarte des Verkehrssystems und sollte daher nach Lage und Ausstattung genau analysiert und dementsprechend gebaut sein. Mit der fahrgastfreundlichen Gestaltung und Instandhaltung ihrer Haltestellen trägt eine Gemeinde nicht nur zur Attraktivität ihres eigenen Ortes bei, sondern gibt ihr auch die Möglichkeit, wesentlich zu einem positiven Imagewandel des öffentlichen Verkehrs beizutragen. Eine Bushaltestelle ist dann ansprechend, wenn sie in einem modernen, regionsbezogenen Design gehalten ist. Sie muss gut einsehbar, gut beleuchtet und sauber sein. Die Fahrgäste müssen sich sicher fühlen. Die barrierefreie Gestaltung einer Haltestelle gewinnt gerade in Anbetracht der demografischen Entwicklung immer mehr an Bedeutung. Eine Haltestelle muss für multimodale Funktionen ausgerüstet sein. Sichere Fahrradabstellplätze bis hin zu Boxen erhöhen das KundInnen-Potenzial des Einzugsgebietes. 3.9 Entwicklung und Nutzen der S-Bahn Salzburg für Stadt Salzburg und Zentralraum Salzburg (Flachgau, Tennengau, Traunstein, Berchtesgadener Land) Im Jahre 1995 wurden die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) über Auftrag der damaligen Bundesregierung von einer kameralen Organisation zu einem nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen funktionierenden Unternehmen umorganisiert. Im Zuge dieser Veränderungen wurde für jedes Bundesland FUMObil (s. Fn. 54) gesammelt wurden. Zudem liegen dem ForumMobil (https://forum-mobil. at/) Beschwerden vor.

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ein Ländermanagement für die regionalen Aufgaben des Personenverkehrs neu eingerichtet. Bis dahin waren diese Aufgaben für das Bundesland Salzburg bundesländerübergreifend von einer der vier existierenden Bundesbahndirektionen in Linz verantwortet worden. In meiner damaligen Funktion als Ländermanager für den Personenverkehr im Bundesland Salzburg konnte ich die notwendigen Entwicklungen im Personenverkehr Salzburg nach Gesamtsystem-Gesichtspunkten neu und anders bewerten. Unser Team erkannte sehr schnell, dass eine Neuordnung des öffentlichen Schienenpersonennahverkehrs im Zentralraum Salzburg von besonderer Bedeutung für die Entlastung der Verkehrssituation ist. Auf Basis von Vorstudien entwickelten wir für den Zentralraum Salzburg ein neues S-Bahnkonzept mit dem Namen „Projekt Y“.64 Das „Projekt Y“, dessen Name sich von den Y-förmigen Schienenführungen von Golling und Straßwalchen nach Freilassing ableitete, zeichnete sich dadurch aus, dass es als Gesamtsys-tem neu aufgesetzt wurde. Vorrangig war die Entwicklung eines integralen 30-Minuten-Taktfahrplanes auf der Südachse zwischen Golling und Salzburg Hauptbahnhof und auf dem Ost-Ast von Straßwalchen nach Salzburg Hauptbahnhof, der dann vom Hauptbahnhof nach Freilassing zu einem 15-Minuten-Takt zusammengeführt wurde. Damals war der Salzburger Hauptbahnhof noch ein Grenzbahnhof. Das neue Projekt induzierte, neben dem Bau von elf neuen Haltestellen, den Umbau des Salzburger Hauptbahnhofes zu einem Durchgangsbahnhof. Erstmals wurde nach Maßgabe eines integrierten Taktfahrplanes mit neuen modernen Triebwagen und elf neuen Haltestellen – davon sechs neue Haltestellen in der Stadt Salzburg – ein Verkehrssystem nach gesamtheitlichen Grundsätzen entwickelt und umgesetzt. Auf Basis der Grundlagen des „Projektes Y“ des ÖBB-Ländermanagements Personenverkehr Salzburg wurde 1996 von den Salzburger LandespolitikerInnen eine Projektgruppe aus ExpertInnen des Landes und der Stadt Salzburg und den ÖBB mit dem Namen NAVIS „Nahverkehrsinfrastrukturprogramm Salzburg“ eingerichtet. Bereits 1998 wurden auf der Grundlage von NAVIS von den verantwortlichen PolitikerInnen des Landes und der Stadt Salzburg und dem Bund Beschlüsse zur Planung und dem Bau der S-Bahn Salzburg getroffen. Der überwiegende Teil der Infrastrukturbauten der S-Bahn Salzburg wurden mit 80 Prozent Bundesmittel finanziert. Somit war es das letzte Nahverkehrsprojekt, das mit diesem Finanzierungsschlüssel in Österreich errichtet wurde. Derzeit werden Nahverkehrsprojekte nur mehr mit 50 Prozent Bundesmittel finanziert.

64 Der Name „Projekt Y“ war der Arbeitstitel für die Entwicklung des S-Bahn-Projektes durch das Team des ÖBB Personenverkehrs Salzburg.

200

Günther Penetzdorfer

Der erste Umsetzungsschritt zur S-Bahn Salzburg begann im Jahr 2000 mit der Einrichtung eines 30-Minuten-Taktes zwischen Salzburg Hbf. und GollingAbtenau. Grundlage war ein mit dem Land Salzburg vereinbarter Verkehrsdienstvertrag, mit dem auch der gemeinsame Kauf von elf neuen dreiteiligen Triebwagen vereinbart wurde. Der Baubeginn bei der Infra-struktur erfolgte fünf Jahre nach dem Start des Planungs- und Ausschreibungsprozesses. Die Eröffnung der ersten neuen Haltestelle Salzburg-Gnigl konnte im Herbst 2003 gefeiert werden. Inzwischen sind alle elf neuen Haltestellen auf dem Schienenast Salzburg – Golling Salzburg – Freilassing im österreichischen und deutschen Abschnitt fertiggestellt und in Be-trieb. Die Stadt Salzburg erhielt sechs neue S-Bahnhaltestellen, die eine intermodale Verbindung zum städtischen und regionalen Busnetz ermöglichen. Es wurden alle Brückenbauwerke in der Stadt Salzburg und Liefering, die ein Nadelöhr für den städtischen Verkehr darstellten, erneuert. Markant ist die Salzachbrücke, die im sensiblen Stadtbereich nach den Ergebnissen aufwändiger Simulationen an der TU Graz neu errichtet wurde. Durch die Neukonzeption konnte eine starke Lärmbelastung beseitigt werden. Als Schlüsselprojekt wurde der Hauptbahnhof Salzburg für die Verknüpfung der beiden S-Bahnäste von Golling-Abtenau und Straßwalchen nach Freilassing neu adaptiert. Die Umwandlung des Salzburger Hauptbahnhofes von einem Grenzbahnhof zu einem Durchgangsbahnhof wurde durch die Entwicklung der S-Bahn Salzburg wesentlich beschleunigt. Seit 2015 ist der Salzburger Hauptbahnhof als Durchgangsbahnhof im Vollbetrieb. Dadurch ist eine direkte Verbindung der S-Bahnzüge zu den Fernverkehrszügen aus Richtung Budapest/Wien, aus München/ Zürich/ Bregenz sowie aus Graz und Klagenfurt zu den S-Bahnzügen möglich. Der Kostenrahmen von 270 Millionen € und die geplante Inbetriebnahme wurden exakt eingehalten. Der Streckenabschnitt zwischen Salzburg Hbf. und Freilassing wurde für den S-Bahnbetrieb dreigleisig ausgebaut. Dieser Streckenabschnitt ist Teil des Transeuropäischen Netzes (Ma-gistrale Straßburg – München – Wien – Budapest). Bei der S-Bahn Salzburg handelt es sich um das größte Verkehrsprojekt, das in den letzten hundert Jahren in der Stadt Salzburg verwirklicht wurde. Mit dem Beschluss des Bundeskabinetts in Berlin am 07.11.1979 war der deutsche Streckenabschnitt von der Staatsgrenze bis nach Freilassing vor mehr als 40 Jahren in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden. Über Auftrag der deutschen Bundesregierung wurde nun mit den Planungen und dem Bau der anschließenden Ausbaustrecke ABS 38 zwischen Mühldorf und Freilassing begonnen.

Mobilitätsentwicklungen

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Abbildung 4: Projekt Y – S-Bahnlinien S2 und S3 mit den vorhandenen und neuen Haltestellen

 

Quelle: Projektkonzept Projekt Y 1999 / ÖBB Personenverkehr Salzburg / S-Bahn-System im Zentralraum Salzburg.

Quelle: Projektkonzept Projekt Y 1999/ÖBB Personenverkehr Salzburg/S-Bahn-System im Zentralraum Salzburg.

3.10 Problembereich am Nord-Ost-Ast der S-Bahn / Korrektur der Mängel Der S-Bahnausbau auf dem Nord-Ost-Ast nach Straßwalchen bzw. Braunau ist noch nicht

3.10abgeschlossen. ProblembereichPunktuelle am Nord-Ost-Ast der S-Bahn/Korrektur der Mängel Maßnahmen, wie der Umbau des Bahnhofs Hallwang-Einhausen und der Haltestelle Salzburg-Plainfeld, Verbesserungen der Anbindung beim Bahnhof

Der S-Bahnausbau auf dem Nord-Ost-Ast nach Straßwalchen bzw. Braunau ist Seekirchen, wurden gesetzt.Punktuelle Die Errichtung der Haltestelle samtBahnPark-andnoch nicht abgeschlossen. Maßnahmen, wieSeekirchen-Süd der Umbau des hofsRide-Anlage Hallwang-Einhausen und der Salzburg-Plainfeld, ist noch ausständig. SieHaltestelle würde den direkten Zugang zu denVerbesserunTrumer Seengebieten gen der Anbindung beim Bahnhof Seekirchen, wurden gesetzt. Die Errichtung ermöglichen. Mit dem Neubau der Park-and-Ride-Anlage im Bahnhof Neumarkt und dem der Haltestelle Seekirchen-Süd samt Park-and-Ride-Anlage ist noch ausständig. Halt desden ÖBB-RailJets wurde eine geschaffen. Sie würde direkten Zugang zuFernverkehrsanbindung den Trumer Seengebieten ermöglichen. Mit Auf der Bahnstrecke Salzburg – Wien wurde das Fernverkehrsangebot massiv ausgebaut. dem Neubau der Park-and-Ride-Anlage im Bahnhof Neumarkt und dem Halt des Durch ÖBB-RailJets wurde eine Fernverkehrsanbindung geschaffen. die Fertigstellung großer Ausbauabschnitte der Hochleistungsstrecke nach Wien (z.B. Auf der Bahnstrecke Salzburg – Wien wurde das Fernverkehrsangebot masNeubaustrecke St. Pölten – Tulln – Wien Hbf.) hat sich die Fahrzeit der Railjets von Salzburg siv ausgebaut. Durch die Fertigstellung großer Ausbauabschnitte der Hochleisnach Wien nach auf eine sehr (z. B. attraktive Fahrzeit von 2St. Stunden 20 –Minuten tungsstrecke Wien Neubaustrecke Pölten Tulln –verkürzt. Wien Hbf.) Zudem wurde ein weiterer sehr beliebter 30 Minutentakt durch den Bahnbetreiber Westbahn eingerichtet, der allerdings aus wirtschaftlichen Gründen mit Fahrplanwechsel 2020 wieder auf einen 60 Minutentakt reduziert wurde. Der intensive Fernverkehr hat dazu geführt, dass ein regelmäßiger S-Bahn-Taktverkehr, wie er mit Start des S-Bahn Projektes „Projekt Y“ geplant war, bis jetzt nicht eingerichtet werden konnte. Dieser wird voraussichtlich erst mit

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Günther Penetzdorfer

Neubaustrecke St. Pölten – Tulln – Wien Hbf.) hat sich die Fahrzeit der Railjets von Salzburg

hatnach sichWien die Fahrzeit der attraktive Railjets von Salzburg nach Wien auf eine sehr attrakauf eine sehr Fahrzeit von 2 Stunden 20 Minuten verkürzt. tiveZudem Fahrzeit von 2 Stunden 20 Minuten verkürzt. wurde ein weiterer sehr beliebter 30 Minutentakt durch den Bahnbetreiber Westbahn Zudem wurde ein weiterer sehr beliebter 30-Minuten-Takt durch den Bahneingerichtet, der allerdings aus wirtschaftlichen Gründen mit Fahrplanwechsel 2020 wieder betreiber Westbahn eingerichtet, der allerdings aus wirtschaftlichen Gründen einen 60 Minutentakt Der intensive Fernverkehr hat dazu geführt, mitauf Fahrplanwechsel 2020reduziert wieder wurde. auf einen 60-Minuten-Takt reduziert wurde. dass Dereinintensive Fernverkehr hat dazu geführt, dass ein regelmäßiger S-Bahnregelmäßiger S-Bahn-Taktverkehr, wie er mit Start des S-Bahn Projektes „Projekt Y“ Taktverkehr, wie er mit Start des S-Bahn-Projektes „Projekt Y“ geplant war, bis geplant war, bis jetzt nicht eingerichtet werden konnte. Dieser wird voraussichtlich erst mit jetzt nicht eingerichtet werden konnte. Dieser wird voraussichtlich erst mit Inbetriebnahme der durch durch den Flachgau vollständig möglich werden. Inbetriebnahme derHochleistungsstrecke Hochleistungsstrecke den Flachgau vollständig möglich Derzeit sind Verspätungen der Nahverkehrszüge derS-BahnTa- und Derzeitwerden. sind Verspätungen der Nahverkehrszüge an der Tagesordnung. Deran neue gesordnung. Der neue S-Bahnund REX-Fahrplan vom Dezember 2019 bis DeREX-Fahrplan vom Dezember 2019 bis Dezember 2020 sollte die Zugverbindungen in den zember 2020 sollte die Zugverbindungen in den nördlichen Flachgau verbesnördlichen Flachgau verbessern. Durch verschiedene Haltemuster bei den REX und S-Bahn sern. Durch verschiedene Haltemuster bei den REX- und S-Bahn-Zügen sowie Zügen sowie unterschiedliche Abfahrtszeiten und Verlängerungen ins Mattigtal kommt unterschiedliche Abfahrtszeiten und Verlängerungen ins Mattigtal kommt es es zu zu Unsicherheiten, die Einsteigerzahlen auswirken. Unsicherheiten, diedie sichsich auf auf die Einsteigerzahlen auswirken. Während auf der S3 von Golling nach Salzburg Hauptbahnhof – Freilassing Während auf der S3 von Golling nach Salzburg Hauptbahnhof – Freilassing mit großem mit großem Erfolg ein regelmäßiger 30-Minuten-Takt mit gleichbleibenden Erfolg ein regelmäßiger 30 Minuten-Takt mitNord-Ost-Ast gleichbleibenden Halten angeboten wird, kann Halten angeboten wird, kann das auf dem nicht erreicht werden. das auf dem Nord-Ost-Ast nicht erreicht werden.

Abbildung 5: 5Entwicklung der EinsteigerInnenzahlen der S-Bahn Linien S2 Abbildung und[hier S3 seit 2003 Abbildung einfügen]

S2

4.293.610

4.153.717

1.604.895

3.734.202

1.596.524

3.691.466

1.519.457

3.602.241

1.543.881

3.481.146

1.548.511

3.299.073

1.620.078

3.396.938

1.527.913

3.116.938

1.639.171

2.628.491

1.671.634

2.612.509

1.410.033

2.338.036

1.512.283

2.077.000

1.340.410

1.591.000

1.395.000

1.320.000

1.248.000

EINSTEIGER S3/ REX ‐ S2/REX

S3

65 Quelle Daten: Einsteigerzählungen ÖBB Personenverkehr 2002–2018. Quelle Daten: Einsteigerzählungen ÖBB Personenverkehr 2002 -2018.65

65 Einsteigerzählungen des ÖBB Personenverkehrs Salzburg von 2002–2018. Die Zählungen wer65 Einsteigerzählungen des ÖBB Personenverkehrs Salzburg von 2002 – 2018. Die Zählungen werden von den ÖBB laufend durchgeführt und daraus ein Jahresmittelwert ermittelt. Die Daten wurden dem Autor von den ÖBB zur Verfügung gestellt.

170

Ko

Mobilitätsentwicklungen

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3.11 Zwischenlösung für eine Verbesserung am Nord-Ost-Ast Eine endgültige Lösung des Problems wird voraussichtlich erst mit Inbetriebnahme der Hochleistungsstrecke durch den Flachgau möglich werden.66 Eine Zwischenlösung für eine Verbesserung könnte allerdings mit der Teilelektrifizierung der Bahnstrecke von Steindorf nach Braunau bereits vor der Fertigstellung der Hochleistungsstrecke erreicht werden. Mit einem Flügelkonzept (Teilung der S2-Züge im Bahnhof Neumarkt oder Steindorf jeweils in Richtung Attnang und Braunau) könnte man die Streckenbelastung im Abschnitt Neumarkt nach Salzburg reduzieren und damit einen regelmäßigen Taktfahrplan einrichten. Bis zur vollständigen Elektrifizierung der Braunauer Strecke könnte auch eine Hybridgarnitur (Stromspeisung durch Oberleitung im Abschnitt Salzburg – Steindorf/Akku im Abschnitt Steindorf – Braunau), im Vorfeld für eine Flügellösung verwendet werden.

4. RESÜMEE Obwohl wir heute wesentlich mehr über die Zusammenhänge zwischen Verkehr und Raumplanung in Bezug zu wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen wissen, wird diesen Erkenntnissen noch immer ein zu geringer Stellenwert eingeräumt. Vergleicht man die europäischen Mobilitätsdaten, so fragt man sich, warum es andere Städte und Regionen schaffen, das Mobilitätsverhalten der Menschen zugunsten einer höheren Lebensqualität zu verändern67 und wir im Zentralraum Salzburg das in manchen Bereichen bislang noch nicht erreichen konnten. So wird Kopenhagen bei der Wahrnehmung von verkehrspolitischen Best-Practice-Beispielen immer wieder eine herausragende Rolle zugesprochen. Gleiches gilt insbesondere für Amsterdam, Wien und Utrecht. Diese Städte verfolgen seit mehreren Jahrzehnten eine konsequente Verkehrspolitik aus einer Gesamtsicht (z. B. Zürich, Groningen, Wien), oder sind seit einigen

den von den ÖBB laufend durchgeführt und daraus ein Jahresmittelwert ermittelt. Die Daten wurden dem Autor von den ÖBB zur Verfügung gestellt. 66 ÖBB (2020). Ausbau Köstendorf – Salzburg. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://infrastruktur. oebb.at/de/projekte-fuer-oesterreich/bahnstrecken/weststrecke-wien-salzburg/ausbau-koestendorf-salzburg. 67 Zukunft Mobilität (17.2.2020). Europäische Beispiele guter Verkehrspolitik und Verkehrsplanung. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.zukunft-mobilitaet.net/170323/analyse/ verkehrswende-gute-beispiele-europa-verkehrspolitik-verkehrsplanung/.

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Mobilitätsentwicklungen

Jahren verstärkt im Sinne eines stadtverträglicheren Verkehrs aktiv (z. B. Paris, Barcelona, Oslo). Dabei gibt es durchaus gute Ansätze im Zentralraum Salzburg: Für den Aufbau eines vernetzten Mobilitätssystems wurde im Rahmen des FUMO-Projektes auf den Regionalbuslinien 150 und 140 und den Seitenlinien ein Integrierter Taktfahrplan (ITF) bis ins letzte Detail entwickelt. Der ITF bildet intermodale Haltestellenknoten, an denen alle Seitenlinien minutengenau anknüpfen. Die Fahrzeuggrößen wurden auf das vorhandene Potential abgestimmt und das gesamte System bis hin zu „On-Demand“-Möglichkeiten mit umweltfreundlichen E-Kleinbussen verfeinert. Es wurden in den letzten Jahren Maßnahmen in die Richtung eines Gesamtsystems umgesetzt, in wichtigen Bereichen fehlen aber noch die vereinfachenden Schritte. Hier gilt es, die Struktur-Verbesserungen, die in den letzten Jahren begonnen wurden, konsequent weiterzuführen. Die Wichtigkeit des vermehrten Umstiegs auf den öffentlichen Verkehr und die nötige Einschränkung des Individualverkehrs ist eines der dringlichsten Themen unserer Zeit. Junge Menschen demonstrieren für die Erreichung der Klimaziele, namhafte WissenschaftlerInnen warnen vor dem Klimakollaps und den damit verbundenen ökologischen und wirtschaftlichen Folgen für unsere Gesellschaft. Mit vernünftigen und keineswegs utopischen Maßnahmen im Verkehrswesen zugunsten des öffentlichen Verkehrs wäre schon viel gewonnen. Die Optimierung unserer Verkehrssysteme wird nicht mit voneinander unabhängigen Einzelmaßnahmen erreicht, die oft nur als schnelle Problemlösungen eingesetzt werden, aber keine Lösung auf Dauer bieten. Nur durch ein strategisch gut geplantes und langfristig umgesetztes Gesamtsystem können kosten-nutzen-wirksame, ökologisch sinnvolle und fahrgastfreundliche Ergebnisse erreicht werden, wie es am Beispiel der S-Bahn Salzburg S3 vorgezeigt wird. Es liegt in der Verantwortung der Politik, die Schienen dafür zu legen. Sehr erfreulich ist, dass in Salzburg in den letzten Jahren eine hohe Dynamik in diese Richtung entstanden ist. Sie zeigt sich u. a. durch vermehrte Investitionen in Planungen und Umsetzungen neuer Mobilitätssysteme.

BIRGIT BAHTIĆ-KUNRATH

Dem Gegenwind trotzen Integrationspolitik in Salzburg 2013–2019

1. EINLEITUNG Integrationspolitik, d. h. Politik, die die Eingliederung von MigrantInnen in die österreichische Gesellschaft anstrebt, ist ein junges Politikfeld, welches in Österreich erst in den letzten Jahren institutionalisiert wurde: Im Bund wurde 2011 ein Staatssekretariat für Integration eingerichtet, welches 2013 ins Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) überführt und zur Sektion aufgewertet wurde.1 Auch in den Bundesländern und Gemeinden haben sich seit den frühen 2000ern zunehmend feste Strukturen in der Integrationspolitik herausgebildet. Dies gilt auch für das Bundesland Salzburg, wo nach der 2013 erfolgten Ressortübernahme der grünen Landesrätin (LR) Martina Berthold eine Reihe von Neuerungen in der Integrationspolitik umgesetzt wurden, darunter die Schaffung einer Integrationsplattform, welche den MigrantInnen in Salzburg in der Integrationspolitik eine Stimme verleihen soll und damit für das Dialogische in der Landespolitik steht. Das Land verweist im Kontext seiner integrationspolitischen Aktivitäten bereits seit 2016 in seiner öffentlichen Kommunikation auf einen spezifischen „Salzburger Weg der Integration“: Dieser bedeute „Integration von Anfang an und auf Augenhöhe“, die vor allem dialogisch ausgerichtet ist: durch gegenseitigen Respekt auf Basis gemeinsamer Werte, Spracherwerb und Unterstützung bei der Wohn- und Arbeitsmarktintegration.2 Der „Salzburger Weg der Integration“ unterscheidet sich von rezenten bundespolitischen Tendenzen im Bereich Integration, die seit Ende der 1990erJahre kontinuierlich auf Verschärfungen setzen. Hier stellt sich die Frage,

1 Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2016). Fünf Jahre Integrationspolitik in Österreich. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.integrationsfonds. at/publikationen/forschungsberichte-alt/forschungsbericht-fuenf-jahre-integrationspolitik-inoesterreich/. 2 Land Salzburg/Landeskorrespondenz (26.1.2016). Ziele und Maßnahmen für den Salzburger Integrationsweg. Abgerufen am 9.9.2019, unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/ Documents/20206-lk_26012016-salzburgerintegrationsweg.pdf.

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warum sich in Salzburg ein solcher Weg etablieren konnte. Gleichzeitig sei betont, dass der „Salzburger Weg der Integration“ eine Eigenbeschreibung der Landespolitik darstellt. Der Artikel versucht daher auch zu klären, inwieweit die Integrationspolitik in Salzburg den eigenen Anspruch eines dialogischen Ansatzes erfüllt. Als Fallbeispiel dient die Einrichtung der Integrationsplattform 2015 und deren Rolle in der Integrationspolitik. Obwohl Integrationspolitik in Österreich in erster Linie Sache des Bundes ist, verfügen die Bundesländer in ihrem eigenen Wirkungsbereich über einigen Gestaltungsspielraum. Die Gründe, der Integrationspolitik einen spezifisch regionalen Anstrich zu geben, wie es der „Salzburger Weg der Integration“ tut, werden im Folgenden anhand dreier Thesen analysiert: Einerseits ist der „Salzburger Weg der Integration“ der Wertehaltung zentraler AkteurInnen zu verdanken, andererseits einer bewussten Abgrenzung zur bundespolitischen Haltung. Drittens spielt Pragmatismus, etwa das Vermeiden von Folgekosten mangelnder Integration durch entsprechende integrationspolitische Maßnahmen, eine Rolle. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Literatur- und Dokumentenanalyse sowie auf vier semi-strukturierten Interviews, die mit zentralen AkteurInnen der jüngeren Salzburger Integrationspolitik im Sommer 2019 durchgeführt wurden: LR a. D. Martina Berthold, welche 2013–2018 das Integrationsressort leitete; Wolfgang Schick, Leiter des Referats Jugend, Generationen, Integration des Amts der Salzburger Landesregierung; Yvonne Kirchmauer, Geschäftsstelle der Integrationsplattform Salzburg und stellvertretende Leiterin desselben Referats, sowie eine Vertreterin der Integrationsplattform Salzburg (anonymisiert). Zudem wurden einige offen gebliebene Fragen mit Yvonne Kirchmauer in einem schriftlichen Interview geklärt. Der Fokus wird dabei auf die Politik innerhalb des Integrations-Ressorts und des zugehörigen Referats gelegt. Nicht untersucht werden integrationspolitische Maßnahmen außerhalb des Ressorts, etwa asylpolitische Angelegenheiten und Arbeitsmarktintegration. Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Nach einer kurzen Einführung in die regionale Integrationspolitik wird der „Salzburger Weg der Integration“ mit speziellem Fokus auf die Einrichtung der Integrationsplattform vorgestellt und im Anschluss diskutiert, welche Faktoren die Umsetzung des Salzburger Wegs begünstigten. Das Fazit führt die Ergebnisse zusammen.

2. REGIONALE INTEGRATIONSPOLITIK IN ÖSTERREICH In Österreich gilt die Integration von MigrantInnen sowohl beim Bund als auch bei Ländern und Gemeinden als ein wünschenswertes Ziel und Integrations-

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politik folglich als Notwendigkeit, denn scheiternde Integration von MigrantInnen wird mit hohen Folgekosten assoziiert (Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit vom Sozialstaat, ethnische Konzentration am Wohnungsmarkt, Kriminalität).3 Gleichzeitig ist Integrationspolitik hochideologisch, geht es doch um die Fragen von gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Platzierung von MigrantInnen.4 In den letzten Jahrzehnten wurde Integrationspolitik vor allem im Kontext von verstärkten Restriktionen gegenüber MigrantInnen diskutiert: Bereits 1997/1998 wurde von der damaligen Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP ein „Integrationspaket“ geschnürt, in dem Aufenthalt an Erwerbstätigkeit gekoppelt wurde. In der Ära von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (2000–2006) wurden weitere Verschärfungen umgesetzt: 2002 wurde mit der Novelle des Fremdenrechts die „Integrationsvereinbarung“ eingeführt, welche MigrantInnen verpflichtete, Deutschkenntnisse und Grundkenntnisse über die österreichische Gesellschaft nachzuweisen. Diese wurde 2005 noch einmal verschärft durch die Erhöhung der Pflichtstunden bei Deutschkursen bei gleichzeitiger Kürzung staatlicher Subventionen für Kursbesuche. 2005 kam es auch zu einer Verschärfung des Staatsbürgerschaftsgesetzes, deren Verleih nun stärker an Deutschkenntnisse und Selbsterhaltungsfähigkeit gekoppelt wurde.5 In den folgenden Jahren wurden die Standards der Sprachkenntnisse für einen Daueraufenthalt kontinuierlich angehoben (nun Sprachniveau B1) und der Zeitrahmen zu deren Erfüllung verkürzt.6 Das 2017 von der Großen Koalition beschlossene Integrationsgesetz enthält schließlich u. a. ein Verhüllungsverbot, verankert Werte- und Orientierungsthemen auch im Deutschunterricht und erhöht die Geldstrafen beim Nichterbringen der Integrationsvereinbarung (max. 500 €).7 Obwohl die Anforderungen an MigrantInnen steigen, wurden

3 Marika Gruber (2010). Integrationspolitik in Kommunen: Herausforderungen, Chancen, Gestaltungsansätze, Wien, S. 25. 4 Albert Scherr/Çiğdem Inan (2018). Leitbilder in der politischen Debatte: Integration, Multikulturalismus und Diversity, in: Frank Gesemann/Roland Roth (Hg.): Handbuch Lokale Integrationspolitik, Wiesbaden, S. 201–226, hier S. 204. 5 Bernhard Perchinig (2006). Einwanderungs- und Integrationspolitik, in: Emmerich Tálos (Hg.): Schwarz-Blau: Eine Bilanz des „Neu-Regierens“, Wien, S. 295–311, hier S. 295–302. 6 Julia Mouráo Permoser (2012). Civic Integration as Symbolic Politics: Insights from Austria, in: European Journal of Migration and Law, 14, S. 173–198, hier S. 176 f. 7 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (8.6.2017). 68. Bundesgesetz: Integrationsgesetz und Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz sowie Änderung des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, des Asylgesetzes 2005, des Fremdenpolizeigesetzes 2005, des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 und der Straßenverkehrsordnung 1960 (NR: GP XXV RV 1586 AB 1631, S. 179; BR: AB 9800, S. 868). Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/Documents/Integration/Dokumente/20206-BGBLA_2017_I_68_Integrationsgesetz.pdf.

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unter der letzten Bundesregierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (2017– 2019) die Mittel für Integration stark gekürzt, in den Bereichen Arbeitsmarktintegration, bei der Mindestsicherung und vor allem in der Sprachförderung.8 Im Lichte dieser Entwicklungen, die sowohl von Mitte-Rechts-Regierungen als auch Großen Koalitionen mitgetragen wurden, hat sich in Österreich ein stark mit Leistung assoziierter Integrationsbegriff entwickelt. So spricht etwa das Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) zwar von Integration „(…) als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe und beidseitigem Prozess (…), der mit gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu verfolgen sei.“9 Doch gleichzeitig betont das BMEIA bzw. die für Integration zuständige Sektion VIII auch, dass Integration nur durch Leistung – jener der Zugewanderten – zu erreichen ist: Integration ist ein langfristiger und umfassender Prozess, der in unterschiedlichsten Lebensbereichen stattfindet. Ziel ist es, Rahmenbedingungen für eine „Integration durch Leistung“ zu schaffen. Das heißt, Menschen sollen nicht nach ihrer Herkunft, Sprache, Religion oder Kultur beurteilt werden, sondern danach, was sie in Österreich beitragen wollen. Dazu ist es wichtig, Leistung zu ermöglichen, einzufordern und anzuerkennen, um eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft allen Bürgerinnen und Bürgern sicherzustellen.10 Integrationspolitik in Bundesländern und Städten bzw. Gemeinden (hier als Kommunen zusammengefasst) stellt im Gegensatz zum Bund diesen Leistungsbegriff nicht unbedingt in den Vordergrund, sondern thematisiert eher Fragen des täglichen Zusammenlebens. Es sind die unteren Gebietskörperschaften, die sich mit den Auswirkungen von Migration vor Ort, auf die Wohnbevölkerung, auf den Arbeitsmarkt, auf das soziale Miteinander auseinandersetzen müssen bzw. die „Leidtragenden“ sind, wenn Integration nicht funktioniert. So sind vor allem Gemeinden die erste Kontaktstelle bei Integrationsproblemen, und damit auch besonders interessiert an einer erfolgreichen Integration.11 Mit Ausnahme einiger weniger EU-Richtlinien, welche sich des Themas annehmen,12 ist es in Österreich nichtsdestotrotz der Bund, welcher die all8 Die Presse Online (21.3.2018). Großes Sparen bei der Integration. 9 Sachverständigenrat, Fünf Jahre Integrationspolitik in Österreich, S. 8 (s. Fn. 2). 10 Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres (2019). Integration in Österreich. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmeia.gv.at/integration/. 11 Gruber, Integrationspolitik in Kommunen, S. 85 (s. Fn. 4). 12 Die EU-Richtlinie für langansässige MigrantInnen (2003/109/EG) regelt etwa den Dauerauf-

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gemeinen Leitlinien in der Integrationspolitik festlegt, während Länder und Kommunen Integrationspolitik in ihrem eigenen Wirkungsbereich definieren können.13 Der Bund legt in Österreich die Kriterien für Integration anhand der Integrationsvereinbarung (d. h. Absolvierung von Deutsch- und Wertekursen in einem bestimmten Zeitraum) und dem Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft fest und definiert, wer Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sozialen Leistungen hat. Die Länder können Integrationspolitik vor allem im Rahmen von Sozialpolitik (inkl. Mindestsicherung), Wohnpolitik, lokaler Arbeitsmarktpolitik, Sozialarbeit mit Jugendlichen, dem Aufbau von Infrastruktur für religiöse Minderheiten, Frauen- und Vereinsarbeit sowie vorschulischer Erziehung und Kultur umsetzen (in Letztere fallen häufig spezifische Projekte, wie die gezielte Förderung von Frauen und Sprachförderung).14 Dazu können lokale bzw. regionale Integrationskonzepte ausgearbeitet und eine Reihe von konkreten Maßnahmen umgesetzt werden, wie die Einrichtung von Integrationsbeiräten, Anti-Diskriminierungsmaßnahmen oder die interkulturelle Öffnung von Verwaltungen.15 Regionale (bzw. lokale) Integrationspolitik findet meist jenseits von hochideologisierten Debatten statt und ist von Pragmatismus gekennzeichnet: Die Sicherstellung von Lebensqualität und Versorgung hat wenig mit parteipolitischem Kalkül zu tun.16 Vielmehr geht es um soziale Kohäsion – ein Grund, warum Integrationspolitik in den Ländern und Kommunen häufig im Kontext von Sozialpolitik und Anti-Diskriminierungsmaßnahmen behandelt wird und dabei auf direkten Kontakt mit MigrantInnen bzw. deren Vertretungen setzt – etwas, was im Bund vernachlässigt wird. Die Schaffung von MigrantInnen- oder Integrationsbeiräten ist eine Möglichkeit, einen solchen direkten Kontakt herzustellen.17 enthalt und die damit verbundenen Rechte für langansässige Drittstaatenangehörige – mit dem Ziel einer größtmöglichen Gleichstellung. Eine weitere Richtlinie regelt die Familienzusammenführung (2003/86/EG) – mit dem Effekt, dass zwischen 2003 und 2007 13 EU-Staaten verpflichtende Integrationsmaßnahmen eingeführt haben, darunter auch Österreich. 13 Andrea Götzelmann (2010). Die Rolle staatlicher AkteurInnen in der österreichischen Integrationspolitik, in: Herbert Langthaler (Hg.): Integration in Österreich: Sozialwissenschaftliche Befunde, Innsbruck, S. 181–208, hier S. 192. 14 Frank Gesemann/Roland Roth (2018). Handbuch Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft: Einleitung, in: Frank Gesemann/Roland Roth (Hg.): Handbuch Lokale Integrationspolitik, Wiesbaden, S. 1–7, hier S. 3. 15 Ebd. 16 Gruber, Integrationspolitik in Kommunen, S. 85 (s. Fn. 4). 17 Bernhard Perchinig (2012). The National Policy Frames for the Integration of Newcomers: Comparative Report, Wien, S. 39. Abgerufen am 23.8.2019 unter https://www.researchgate.net/pub-

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Eine besonders wichtige Rolle für die Sicherung von Lebensqualität und Versorgung fällt der zuständigen Verwaltung zu. Der Aufbau von Netzwerken relevanter AkteurInnen im Bereich Integration, die Einbindung von Kammern, Verbänden, Schulen, Arbeitsagenturen, Polizei, zivilgesellschaftlichen Organisationen, inklusive Vereinen von MigrantInnen – all das wird von der Verwaltung im Bundesland und – im eigenen Wirkungsbereich – von Kommunen geleistet. Lokale Verwaltungen können Integrationspolitik flexibler und generöser gestalten, als der Bund es fordert, vor allem, weil sie vom Thema „Migrationskontrolle“ entlastet sind. Damit sind sie „… vielfach eher bereit …, sich der Herausforderung Migration kreativ zu stellen, als der in ordnungspolitischen Prämissen verharrende Zentralstaat.“18 Dazu kommt auch Effizienzdenken: Die Folgekosten von gescheiterter Integration werden in Kommunen und Ländern wesentlich höher veranschlagt als die Kosten für effektive integrationspolitische Maßnahmen – wobei es nicht nur um finanzielle Erwägungen geht, sondern eben um Fragen des guten Zusammenlebens.19 Auch ethische Grundhaltungen spielen eine Rolle: Man möchte Probleme des Zusammenlebens durch aktive Politik entschärfen und kennt auch die Situation vor Ort, was Empathie für Betroffene fördert.20 Es sind also auch persönliche Wertehaltungen handelnder AkteurInnen vor Ort, sowohl in der Politik als auch in der Verwaltung, die Integrationspolitik in Ländern und Kommunen mitformen, was mitunter auch mit den beruflichen Hintergründen des Personals zu tun hat: Dominieren im Bund bei Integrationsagenden häufig JuristInnen, oft aus dem Polizeidienst, gibt es in einschlägigen Einrichtungen der Länder oder Kommunen häufig Personen mit Sozialarbeits- oder Sozialwissenschaftshintergrund, die mit den sozialen Hintergründen von Integration vertraut sind.21 Eine besondere Rolle spielt hier wieder die Verwaltung. Diese wird nicht gewählt und steht nicht unter Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit: Bureaucrats, however, can be more responsive to the needs of immigrants than elected representatives are, if immigrants do not have the right to vote. Their sense of prolication/286194109. 18 Rainer Bauböck/Manfred Perchinig (2006). Migrations- und Integrationspolitik, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kramer/Volkmar Lauber/Wolfgang C. Müller/ Emmerich Tálos (Hg.): Politik in Österreich: Das Handbuch, Wien, S. 726–742, hier S. 739. 19 Sarah Spencer/Nicola Delvini (2019). Municipal Activism on Irregular Migrants: The Framing of Inclusive Approaches at the Local Level, in: Journal of Immigrant & Refugee Studies, 17 (1), S. 27–43, hier S. 34–38. 20 Manfred Kohler (2017). Austrian Public Opinion in the „Refugee Crisis“, in: Günter Bischof/ Dirk Rupnow (Hg.): Migration in Austria, New Orleans, S. 257–270, hier S. 267 f. 21 Perchinig, The National Policy Frames, S. 39 (S. Fn. 18).

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fessional identity and corporate or personal values […] are contributory factors in municipal responses.22 Integrationspolitik in Ländern und Kommunen kann auch strategisch als Mittel zur Abgrenzung von der Bundespolitik verwendet werden, vor allem wenn andere Parteien regieren, als dies auf nationaler Ebene der Fall ist. Besonders auffällig war das im Fall der Wiener Integrationspolitik, die sich unter der ÖVPFPÖ-Regierung 2000–2006 als Gegenmodell zum Bund präsentierte – bis zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Nicht-ÖsterreicherInnen 2002, welches jedoch vom Verfassungsgerichtshof 2004 gekippt wurde.23 Mehrere Fallstudien zu Integrationspolitik in Kommunen24 zeigen, dass diese an lokalspezifischen Problemen orientiert und entsprechend unterschiedlich ausgestaltet ist, selbst wenn es eine nationale „Richtschnur“ zur Integrationspolitik gibt.25 Allerdings fehlen ähnliche Studien für Bundesländer (Ausnahmen sind Arbeiten zur Integrationspolitik in Vorarlberg, Tirol und Wien26), was insofern überraschend ist, als dass diese schon seit Jahren Akzente in der Integrationspolitik setzen: So haben bereits in den frühen 2000ern Tirol, Oberösterreich und Niederösterreich Integrationsleitbilder eingeführt und in der Landesverwaltung entsprechende Dienststellen geschaffen. In Tirol wurde zudem ein Integrationsbeirat geschaffen, jedoch nicht als migrantisches Gremium, sondern als ExpertInnenbeirat, bestehend aus VertreterInnen von Politik, Verwaltung 22 Ebd., S. 30. 23 Leila Hadj-Abdou (2014). Immigrant Integration and the Economic Competitiveness Agenda: A Comparison of Dublin and Vienna, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 40 (12), S. 1875– 1894, hier S. 1880–1883. 24 Zur Stadt Offenbach siehe Matthias Schulze-Böing (2017). Offenheit und Realismus: Perspektiven kommunaler Integrationspolitik, in: Sozialer Fortschritt, 66, S. 789–812; zu Linz und Dornbirn siehe Marika Gruber (2012). Role of municipalities in fostering integration process of people with migration background in Austria, in: Migration Letters, 9 (3), S. 263–272; zu Berlin und Wien Michal Dimitrov (2012). Im Spannungsfeld zwischen staatlicher und lokaler Integrationspolitik: Politische Partizipation von Migranten in den Einwanderungsstädten Berlin und Wien, in: Acta Universitatis Carolinae Studia Territorialia, 3–4, S. 9–41. 25 Hadj-Abdou, Immigrant Integration, S. 1877 (s. Fn. 24). 26 Zu Vorarlberg, siehe Simon Burtscher (2012). Integrationsdiskurse und Integrationspolitik in Vorarlberg – eine prozesssoziologische Perspektive, in: Julia Dahlvik/Heinz Fassmann/Wiebke Sievers (Hg.): Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich. Jahrbuch 1/2011, Wien, S. 283–302; zu Tirol Johann Gstir (2011). Zur Integrationsarbeit am Beispiel Tirol – Praxis und (selbst)kritische Reflexion, in: Gudrun Biffl/Nikolaus Dimmel (Hg.): Grundzüge des Managements von Migration und Integration, Bad Vöslau, S. 487–502; zu Wien Dimitrov, Im Spannungsfeld (s. Fn. 25).

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und NGO-Szene.27 In Salzburg wurde 2007 eine Koordinationsstelle für Integration in der Abteilung Soziales eingeführt, welche für die Koordination von Integrationsprojekten und -initiativen und die Förderung von Organisationen im Integrationsbereich zuständig war.28 Mit der Übernahme der Integrationsagenden durch LR Martina Berthold wurden ab 2013 schließlich eine Reihe von neuen integrationspolitischen Initiativen auf den Weg gebracht, u. a. die Schaffung des ersten Integrationsbeirats auf Landesebene in Österreich, der die Frage der Partizipation von MigrantInnen im integrationspolitischen Prozess ins öffentliche Bewusstsein rückte. Diese Maßnahmen wurden in der öffentlichen Kommunikation des Landes als „Salzburger Weg der Integration“ zusammengefasst.29 Ob der „Salzburger Weg der Integration“ den Logiken von Pragmatismus, Werthaltungen der handelnden AkteurInnen und Abgrenzung zum Bund folgt und ob dieser Weg seinen eigenen Ansprüchen an Dialog gerecht wird, wird in Abschnitt 3.3 thematisiert. 2.1 Integrationsbeiräte: Ein Beitrag zur Teilhabe von MigrantInnen? Integration, egal ob offen oder restriktiv ausgelegt, bedingt immer ein „Zusammenführen“ der zugewanderten Bevölkerung mit der Mehrheitsgesellschaft – ein Prozess der gesellschaftlichen Eingliederung, der auch die Möglichkeit zur Partizipation für MigrantInnen impliziert. Kurz: Damit Integration gelingt, muss es für MigrantInnen die Möglichkeit zur Teilhabe geben, in allen gesellschaftlichen Bereichen – Wohnraum, Arbeit, Bildung, Gesundheit.30 Politik ist hier ein spezieller Bereich, da Partizipation meist an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist. Versuche, MigrantInnen ohne Staatsbürgerschaft den Weg zur allgemeinen politischen Partizipation zu öffnen, wie etwa die bereits erwähnte Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Drittstaatenangehörige in Wien, sind in Österreich bislang an der verfassungsrechtlichen und politischen Realität gescheitert – im Gegensatz zu anderen Staaten wie Finnland, Schweden, Dänemark und den Niederlanden, wo ein solches kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige umgesetzt wurde.31 Eine direkte politische Mitgestaltung von Integrationsprozessen durch MigrantInnen ist somit nicht vorgesehen (abgesehen vom kommunalen Wahlrecht für 27 Gstir, Zur Integrationsarbeit am Beispiel Tirol, S. 488 (s. Fn. 27). 28 Götzelmann, Die Rolle staatlicher AkteurInnen, S. 193 (s. Fn. 14). 29 Land Salzburg, Ziele und Maßnahmen (s. Fn. 3). 30 Dimitrov, Im Spannungsfeld, S. 10 f. (s. Fn. 25). 31 Ebd., S. 17.

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EU-BürgerInnen), was angesichts ihrer steigenden Zahl die Repräsentativität gewählter PolitikerInnen zunehmend in Frage stellt. Das hat problematische Folgen: Wenn große Teile der Bevölkerung von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind bzw. ihre Interessen nicht repräsentiert werden, also „keine eigenständige politische Stimme haben“32, leidet auch die Qualität einer Demokratie. Aktuelle Zahlen aus Salzburg unterstreichen die Problematik: Die Zahl von AusländerInnen im Bundesland ist zwischen 2008 und 2018 um 46,9 Prozent gestiegen.33 Jedoch ist – wohl aufgrund der ständigen Verschärfungen im Staatsbürgerschaftsrecht – die Zahl der Einbürgerungen im gleichen Zeitraum relativ konstant geblieben (ca. 500 im Jahr): „Das entspricht ungefähr dem Stand der Einbürgerungen in den Siebziger- und Achtzigerjahren, obwohl sich die Zahl der in Salzburg wohnhaften Ausländerinnen und Ausländer seit damals vervierfacht hat.“34 Bei den Nationalratswahlen 2019 waren österreichweit 15 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahren nicht wahlberechtigt.35 Es waren Kommunen – vor allem Städte –, die als erste eine Antwort auf dieses Dilemma suchten und in Folge Integrations- bzw. Ausländerbeiräte einrichteten, welche MigrantInnen eine Teilhabe am politischen Prozess ermöglichen sollen.36 Integrationsbeiräte haben allerdings nur eine beratende Funktion, sind meist an die Exekutive und nicht an Legislative angehängt und je nach rechtlicher Verankerung und finanzieller Ausstattung mehr oder weniger effektiv. Angesichts dessen spricht Dimitrov von einer „Beteiligungsmöglichkeit zweiter Klasse“,37 die langfristig verbindlichere Formen von Partizipation nicht ersetzen kann. Nichtsdestotrotz können Integrationsbeiräte die Präsenz von MigrantInnen in politischen Prozessen erhöhen bzw. gibt es für Länder und 32 Oliver Gruber/Astrid Mattes/Jeremias Stadlmair (2017). Die meritokratische Neugestaltung der österreichischen Integrationspolitik zwischen Rhetorik und Policy, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 41 (2), S. 65–79, hier S. 75. 33 Peter Kurz (2018). Bevölkerung Land Salzburg: Stand und Entwicklung 2018, S. 18. Abgerufen am 30.8.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/statistik_/Documents/Publikationen%20Statis tik/statistik-Bevoelkerung.pdf. 34 Ebd., S. 20. 35 Der Standard Online (24.9.2019). 15 Prozent dürfen nicht an Wahl teilnehmen. 36 Der Integrationsbeirat auf Bundesebene hat übrigens mit der Idee der Partizipation von migrantischen Communities nichts zu tun; er ist ein ExpertInnenrat, der von Gebietskörperschaften, Ministerien, Sozialpartnern und NGOs beschickt wird. Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres (2019). Integrationsbeirat. Abgerufen am 28.8.2019 unter https://www.bmeia.gv.at/ integration/integrationsbeirat/. 37 Dimitrov, Im Spannungsfeld, S. 18 (s. Fn. 25).

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Kommunen derzeit wenig andere Handhabe, die politische Partizipation von MigrantInnen auf anderem Weg zu stärken. Eine Reihe von österreichischen Städten haben mittlerweile Integrationsbeiräte installiert.38 Als besonders erfolgreich gelten jene in Graz (seit 1996) und Linz (seit 1995). Diese Beiräte werden von migrantischen Communities selbst gewählt, beraten die Stadtregierungen und sollen MigrantInnen eine Stimme in integrationspolitischen Agenden geben.39 2015 wurde schließlich der erste Integrationsbeirat auf Bundesländer-Ebene eingerichtet: die Integrationsplattform Salzburg (IP), die besonders für das Dialogische des „Salzburger Wegs der Integration“ stehen sollte. Ob sie die Partizipation von MigrantInnen in Salzburg tatsächlich verbessert hat, wird im folgenden Abschnitt näher untersucht.

3. INTEGRATIONSPOLITIK IN SALZBURG Salzburgs Bevölkerungsstruktur hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verändert. Die Bevölkerung ist zwischen 2008 und 2017 aufgrund von Migration um 16.675 Personen gewachsen, das sind 3,2 Prozent der Bevölkerung. Die größte Gruppe der MigrantInnen waren EU-BürgerInnen, gefolgt von SyrerInnen.40 Per 1.1.2018 betrug der Anteil von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft im Bundesland 16,7 Prozent; 2008 waren es noch 11,9 Prozent. Die größte migrantische Community ohne EU-Pass im Land Salzburg bilden BosnierInnen, gefolgt von SerbInnen, TürkInnen, SyrerInnen und AfghanInnen.41 Zwei Trends lassen sich aus diesen Zahlen der Salzburger Landesstatistik ablesen: Die Zahl der AusländerInnen steigt – damit werden auch Fragen zu Integration zunehmend wichtiger. Und immer mehr MigrantInnen können politisch nicht mitbestimmen – die damit verbundenen Problematiken wurden bereits oben angesprochen. Die nächsten Seiten widmen sich dem Umgang mit den beiden Trends in Salzburg – einerseits dem „Salzburger Weg der Integration“ als Antwort auf ein Anwachsen der ausländischen Bevölkerung, ande-

38 Eine Übersicht darüber findet sich bei Eugen Antalovsky/Sigrun Herzog/Alexander Wolffhardt (2009). Integrationsleitbilder und Integrationsbeiräte österreichischer Städte, S. 20. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.staedtebund.gv.at/fileadmin/USERDATA/themenfelder/inte gration/Dossier_Integrationsleitbilde.pdf. 39 Dimitrov, Im Spannungsfeld, S. 32 (s. Fn. 25). 40 Kurz, Bevölkerung Land Salzburg, S. 11 f. (s. Fn. 34). 41 Ebd., S. 18.

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rerseits der Einrichtung der Integrationsplattform als politisches Gremium für MigrantInnen, welches den Dialog zur Landespolitik fördern soll. 3.1. Der „Salzburger Weg der Integration“: Entstehung und Maßnahmen Integration war in der Salzburger Landespolitik spätestens seit der Einrichtung einer entsprechenden Stabsstelle im Jahr 2007 ein Thema. Bereits unter den Landesrätinnen Doraja Eberle (2004–2007) und Erika Scharer (2007–2011) gab es die Idee zur Errichtung eines Integrationsbeirates, ohne dass die Umsetzung konkret wurde.42 Ebenso wurde ein Integrationsleitbild erarbeitet, das aber nie nach außen ging und in der praktischen Integrationspolitik de facto keine Rolle spielte.43 Mit der Übernahme des Integrationsressorts durch Martina Berthold nach den Landtagswahlen 2013 wurden zahlreiche Neuerungen in der Salzburger Integrationspolitik umgesetzt, die seit 2016 auf Seiten des Landes als „Salzburger Weg der Integration“ zusammengefasst werden. Bereits im Arbeitsübereinkommen zwischen ÖVP, den Grünen und dem damaligen Team Stronach wurde 2013 – sehr allgemein gehalten – die Förderung von Dialog- und Begegnungsprozessen zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund festgeschrieben. Auch die Gründung eines Integrationsbeirats wurde festgelegt.44 Eine erste Möglichkeit, Integrationspolitik in Salzburg neu zu gestalten, bot eine im Jahr 2014 umgesetzte Verwaltungsreform im Land, welche die Umstrukturierung mehrerer Referate in der Landesverwaltung beinhaltete. War Integration bislang im Referat 3 den Sozialagenden zugeschlagen – gemeinsam mit Asyl und Grundversorgung –, verfügte Martina Berthold, dass Integration und Asyl getrennt werden und Integration gemeinsam mit Jugend und Generationen ein gesellschaftspolitisches Referat, das Referat 2, bilden sollten.45 Dies kann als erster Schritt zu einer akzentuierten Integrationspolitik verstanden werden bzw. als eine Aufwertung von Integrationsagenden: Man hatte Integration vom Thema Asyl „freigespielt“, vor allem mit Blick darauf, dass Asyl

42 Yvonne Kirchmauer, Geschäftsstelle Integrationsplattform, stellvertretende Leiterin des Referats Jugend, Generationen, Integration, Interview, Salzburg, 28.8.2019. 43 Wolfgang Schick, Leiter des Referats Jugend, Generationen, Integration, Interview, Salzburg, 22.8.2019. 44 Land Salzburg (2013). Arbeitsübereinkommen. Grundlagen für die Zusammenarbeit zwischen ÖVP, Grünen und Team Stronach, S. 40. Abgerufen am 9.9.2019 unter https://www.salzburg. gv.at/gesellschaft_/Documents/pdf-21206-arbeitsuebereinkommen2013.pdf. 45 Martina Berthold, Landesrätin a. D., Interview, Salzburg, 29.7.2019.

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eine andere Prioritätensetzung als die langfristig und nachhaltig orientierte Integration hat.46 2016 wurde in einer Landeskorrespondenz erstmals auf den „Salzburger Weg der Integration“ verwiesen, der auf Dialog, gegenseitigem Respekt und der Einhaltung der „unverhandelbaren Grundlagen“ der österreichischen Gesellschaft beruhe. Der „Salzburger Weg der Integration“ baue dabei auf vier „Stationen“: Sprache und Grundlagen der österreichischen Gesellschaft, Ausbildung und Arbeit, Wohnen sowie Zusammenleben und Respekt47 – wobei Ausbildung und Arbeit bei Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) ressortiert, während die anderen Bereiche dem Ressort Berthold zugeschlagen waren bzw. nach den Landtagswahlen 2018 dem Ressort Klambauer.48 Im Rahmen des „Salzburger Wegs der Integration“ wurde eine Reihe von Maßnahmen gesetzt, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung neu in Österreich waren. 2015, jenseits der großen Flüchtlingskrise, wurde ein zentrales Anliegen von LR Berthold umgesetzt: Die Einführung von Integrations- und Asylsteuerungstreffen (IST und AST), welche sich vor allem der Vernetzung der zahlreichen AkteurInnen im Bereich verschrieben haben. Diese Steuerungstreffen finden bis heute einmal im Jahr in jedem politischen Bezirk statt und bringen NGOs, Kirche, die Verwaltungen von Stadt, Land und Bezirkshauptmannschaften, Sozialarbeit und Polizei sowie die Landespolitik, vertreten durch die zuständige Landesrätin, regelmäßig an einen Tisch.49 Diese Treffen werden von Martina Berthold als eine ihrer wichtigsten Initiativen gesehen: „Ich komme aus der Verwaltung, wo ich immer viele Netzwerke hatte: Ich weiß um den Wert von Netzwerken, die auf Themen bezogen sind. Hier fließen viele Informationen.“50 Diese Ansicht wird von VertreterInnen der Verwaltung geteilt: IST und AST gelten als Formate, welche die Koordination im Integrations- und Asylbereich wesentlich verbesserten51 – vor allem auch jenseits der Landeshauptstadt: „Auch, dass das Land einmal im Jahr in einen Bezirk kommt und sich alles zum Thema Integration anhört, ist sehr positiv angekommen.“52 Eine weitere Errungenschaft war die Vernetzung von DeutschkursanbieterInnen und flächendeckende Deutschkurs-Angebote für AsylwerberInnen, die ohne Unterstützung durch den Bund durchgeführt wurden.53 Das Bundesland 46 Schick, Interview, 22.8.2019. 47 Land Salzburg, Ziele und Maßnahmen (s. Fn. 3). 48 Schick, Interview, 22.8.2019. 49 Berthold, Interview, 29.7.2019. 50 Ebd. 51 Schick, Interview, 22.8.2019. 52 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 53 Berthold, Interview, 29.7.2019; Schick, Interview, 22.8.2019.

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Salzburg war auch das erste in Österreich, welches das Projekt „Heroes – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ umsetzte (mittlerweile sind andere Bundesländer nachgezogen). Das Projekt bildet junge Männer mit Migrationshintergrund aus, sich in ihrem Wirkungskreis für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern einzusetzen.54 Die Einrichtung eines BürgerInnenrats zum Thema „Gelungene Integration“ 2015 unterstreicht die Dialogorientierung der Integrationspolitik in Salzburg: 15 BürgerrätInnen haben sich in einer zweitägigen Klausur mit Fragen zur „gelungenen Integration“ beschäftigt und Empfehlungen ausgearbeitet, die von einem ExpertInnenrat bearbeitet und dann der Landesregierung in Form eines Berichts weitergeleitet wurden.55 Zahlreiche kleinere Projekte im Bereich Wohnberatung, Männer- und Frauenförderung wurden ebenfalls umgesetzt. Auch nach der Ressortübernahme von Andrea Klambauer kam es zu keinen Brüchen in der Salzburger Integrationspolitik – weder budgetär noch was deren grundsätzliche Ausrichtung anbelangt.56 Wie die Wertigkeit der Integrationspolitik in Salzburg gestiegen ist, lässt sich auch an der Entwicklung des Budgets für Integrationsagenden im Referat Jugend, Generationen und Integration ablesen: Wurden 2015 noch 350.000 € an Fördergeldern für Integrationsprojekte ausbezahlt,57 waren es 2016 mehr als 879.229 €58, also mehr als eine Verdoppelung. Der Trend setzte sich – wenn auch mit flacherer Kurve – fort: 2017 wurden Förderungen von 1.098.900 € genehmigt.59 Für 2018/19 wurden 1.180.000 € ausbezahlt, plus das Sonderbudget für das Schwerpunktjahr „DIALOG 2019 – Der Salzburger Weg der Integ-

54 Land Salzburg (2017). Leistungsbilanz 2017. Integrationsarbeit des Referats Jugend, Generationen, Integration, S. 8. Abgerufen am 25.8.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/ Documents/Integration/Dokumente/20206-Leistungsbilanz_2017-2018_final.pdf; Berthold, Interview, 29.7.2019. 55 Kristina Sommerauer (2016). BürgerInnenrat. Bericht „Gelungene Integration“. Was brauchen wir? Was können wir tun? Was dürfen wir erwarten? Land Salzburg, S. 1 f. Abgerufen am 25.9.2019 unter: https://www.salzburg.gv.at/umweltnaturwasser_/Documents/Buergerratsbericht_Integration_final.pdf. 56 Schick, Interview, 22.8.2019. 57 Land Salzburg (2015). „Das war das Jahr 2015“. Leistungsbilanz 2015 und Vorschau auf 2016. Referat Jugend, Generationen, Integration. Bereich: Integration, S. 5. Abgerufen am 25.8.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/Documents/Integration/Dokumente/20206Leistungsbilanz_2015_2016.pdf. 58 Land Salzburg (2016). Leistungsbilanz 2016. Integrationsarbeit des Referats Jugend, Generationen, Integration, S. 7. Abgerufen am 25.8.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/ Documents/Integration/Dokumente/20206-Leistungsbilanz_2016-2017.pdf. 59 Land Salzburg, Leistungsbilanz 2017, S. 10 (s. Fn. 55).

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ration“ (der genaue Betrag ist zum Zeitpunkt des Entstehens des Artikels noch nicht verfügbar).60 Der Ausbau von neuen Initiativen in der Integrationspolitik, gepaart mit einer kontinuierlichen Erhöhung der finanziellen Mittel, verläuft gegen den bundespolitischen Trend, wo vor allem unter der letzten Bundesregierung unter Bundeskanzler Kurz (2017–2019) im Integrationsbereich gespart wurde.61 Dieser Sparkurs machte sich auch im Bundesland Salzburg bemerkbar: Besonders hohe Wellen schlug etwa die Streichung der Förderung für den Verein VIELE, der Sprachförderungen für Kinder an Salzburger Schulen durchführt.62 Die weniger werdenden Gelder erschweren zudem regionale Integrationspolitik, etwa in den Bereichen Arbeitsmarktintegration und Sprachförderung.63 Vor allem wird von Salzburger AkteurInnen der Integrationspolitik die polarisierte öffentliche Debatte im Integrationsbereich als problematisch für den „Salzburger Weg der Integration“ wahrgenommen: Die harte, Angst schürende Rhetorik, welche Integration zu einem permanenten Negativ-Thema mache, sowie die skeptische Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema erschwere die Arbeit.64 Tatsächlich zeigt eine 2018 durchgeführte Umfrage von GfK zur Wahrnehmung des Integrationsprozesses, dass nur 4 Prozent der ÖsterreicherInnen Integration als „sehr gut“, immerhin 42 Prozent als „gut“, aber 41 Prozent als eher schlecht und 13 Prozent als sehr schlecht funktionierend ansehen.65 Dieser Skeptizismus war einer der Gründe für die Umsetzung des Schwerpunktjahres „DIALOG 2019 – Der Salzburger Weg der Integration“, welches Integration durch Dialogformate in der Öffentlichkeit wieder positiver besetzen sollte.66 3.2 Die Salzburger Integrationsplattform: Auf halbem Weg Einen besonderen Akzent setzte die Salzburger Integrationspolitik mit der Einrichtung der Integrationsplattform: Wie bereits erwähnt, gab es bereits seit den 60 Land Salzburg (2018). Leistungsbilanz 2018/19. Integrationsarbeit des Referats Jugend, Generationen, Integration, S. 9. Abgerufen am 25.8.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/gesellschaft_/Documents/Integration/Dokumente/206-Leistungsbilanz_2018-2019.pdf. 61 Die Presse Online (21.3.2018). Großes Sparen bei der Integration. 62 Salzburger Nachrichten (SN) Online (4.3.2019). Lernhilfe für hunderte Schüler in Salzburg steht auf der Kippe. 63 Berthold, Interview, 29.7.2019. 64 Schick, Interview, 22.8.2019. 65 Statistik Austria (2018). Migration und Integration: Zahlen. Daten. Indikatoren. 2018, S. 92. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Integration/Integrationsbericht_2018/Statistisches_Jahrbuch_migration__und_integration_2018.pdf. 66 Schick, Interview, 22.8.2019.

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1990er-Jahren in mehreren Städten MigrantInnen- bzw. Integrationsbeiräte. Jedoch war Salzburg das erste Bundesland, welches ein solches Gremium auf Landesebene installierte.67 Die Plattform wurde 2014 von LR Berthold initiiert und war ursprünglich als „Beirat“ tituliert.68 In Folge wurde unter der Leitung des Referats Jugend, Generationen und Integration eine 13-köpfige Vorbereitungsgruppe eingesetzt, bestehend aus VertreterInnen des Integrationsressorts und des Referats, der Plattform für Menschenrechte (ein Zusammenschluss von sozialen, kulturellen und kirchlichen Einrichtungen in Salzburg),69 des Österreichischen Integrationsfonds, des Integrationsbüros der Stadt Salzburg und aus migrantischen VertreterInnen aus verschiedensten Communities. Vorbereitungstreffen gab es in der Stadt Salzburg und in allen Salzburger Gauen. Nach einer Reihe von Sitzungen wurde im Juni 2015 der Beirat der Salzburger Landesregierung präsentiert und im Oktober 2015 per Beschluss als „Plattform für Migrations- und Integrationsaufgaben für das Bundesland Salzburg“, kurz Integrationsplattform (IP), offiziell ins Leben gerufen. Die Geschäftsstelle, welche die IP administrativ unterstützt, ist beim Referat Jugend, Generationen und Integration angesiedelt.70 Die konstituierende Sitzung fand im November 2015 statt.71 Die IP besteht aus 13 stimmberechtigten Mitgliedern – zehn VertreterInnen aus MigrantInnen-Organisationen sowie drei NGO-VertreterInnen – sowie drei nicht-stimmberechtigten Mitgliedern, die vom Österreichischen Integrationsfonds, dem Integrationsbüro der Stadt Salzburg und dem Integrationsreferat des Landes bestellt werden. Die Mitglieder der IP werden auf einer Versammlung von Delegierten von migrantischen Vereinen und NGOs bestimmt. Die KandidatInnen stellen sich der Versammlung vor und werden in zwei Wahlgängen gewählt – zuerst die VertreterInnen der migrantischen Communities, dann jene von NGOs. Die Funktionsperiode ist auf zwei Jahre beschränkt; die erste Funktionsperiode dauerte 2016–2017.72 67 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 68 Ebd. 69 Plattform für Menschenrechte (2019). Abgerufen am 25.6.2020 unter http://www.menschenrechte-salzburg.at/die-plattform.html. 70 Land Salzburg (2019). Dokumentation des Prozesses zur Installierung der Integrationsplattform. Abgerufen am 25.6.2020, unter https://www.salzburg.gv.at/themen/gesellschaft/integration/ integrationsplattform-salzburg/ip-dokumentation/vorbereitungsgruppe. 71 Land Salzburg, Leistungsbilanz 2015 (s. Fn. 58); Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 72 Plattform für Migrations- und Integrationsaufgaben für das Bundesland Salzburg (Integrationsplattform Salzburg) (2017). Wahlprozedere. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://www.salz burg.gv.at/gesellschaft_/Documents/Integration/Dokumente/IP-Wahlprozedere_2018-2019_fi nal.pdf.

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Die Plattform soll drei zentrale Aufgaben erfüllen: die Beratung von Landesregierung und Verwaltung zu Integrations- und Migrationsfragen, eine Brückenfunktion zwischen Politik und Verwaltung des Landes Salzburg und MigrantInnen sowie die Vertretung von MigrantInnen gegenüber der Landespolitik. Die IP soll zudem Netzwerkarbeit zwischen den Communities leisten. Ziele der Plattform sind die aktive Beteiligung von MigrantInnen an der politischen Debatte zu Integration, neue Wege der Integration zu thematisieren sowie die Verbesserung des politischen und gesellschaftlichen Klimas in Integrationsfragen. Auch sieht sich die IP als Sprachrohr für Menschen mit Migrationshintergrund und möchte so auch zu Dialog und Verständigung beitragen.73 Obwohl die Einrichtung der IP als Meilenstein in der Salzburger Integrationspolitik bezeichnet werden kann, auch in Hinblick auf ihre Einzigartigkeit im Vergleich zwischen den Bundesländern, konnten die ursprünglich verfolgten Ziele nur zum Teil erreicht werden. Auffällig ist, dass die Intentionen des Integrationsbeirats wesentlich ambitionierter waren, als politisch umgesetzt wurden. So finden sich in internen Arbeitsunterlagen zu Beginn des Einrichtungs-Prozesses Erwartungen an einen Integrationsbeirat ähnlich jenem des Landesjugendbeirats oder des Kulturbeirats: Ersterer ist im Salzburger Jugendgesetz verankert,74 Zweiterer im Salzburger Kulturförderungsgesetz.75 Beide haben beratende Kompetenz bzw. müssen in einschlägigen Agenden befasst werden, jedoch sind ihre Beschlüsse nicht verbindlich. Der Integrationsbeirat sollte „unabhängig, weisungsfrei und kritisch“ agieren und „praktikable Vorschläge zur Umsetzung für Politik und Verwaltung“ sowie „qualifizierte Empfehlungen“ für die Landesregierung ausarbeiten.76 Ebenso sollten die Rechte des Beirats weitreichend sein, wie ein erster Statutenentwurf zeigte: Der Beirat sei über die in Planung befindlichen Integrationsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen, dürfe Stellungnahmen bei Begutachtungsverfahren abgeben und von Landesregierung und Landtag Informationen erfragen.77 Folglich hegte man hohe Erwartungen: 73 Land Salzburg (2019). Integrationsplattform Salzburg. Abgerufen am 25.6.2020 unter https:// www.salzburg.gv.at/themen/gesellschaft/integration/integrationsplattform-salzburg. 74 Rechtsinformationssystem des Bundes (2019). Landesrecht konsolidiert Salzburg: Gesamte Rechtsvorschrift für Salzburger Jugendgesetz, Fassung vom 15.12.2019. Abgerufen am 15.12.2019 unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrSbg&Gesetzesnummer=10001 122. 75 Land Salzburg (2019). Salzburger Landes-Kulturbeirat. Abgerufen am 15.12.2019 unter https:// www.salzburg.gv.at/themen/kultur/landeskulturbeirat. 76 Kirchmauer, Yvonne (2014). Integration 2014+. Überlegungen zum Aufbau eines Integrationsbeirats. Internes Arbeitspapier, Land Salzburg, Salzburg. 77 Land Salzburg (2015). Entwurf für das Statut „Integrationsbeirat für das Bundesland Salzburg“

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Von politischer Seite erhoffte man sich qualifizierte Beratung dort, wo es Bedarf für politisches Handeln gibt, wo es Austausch braucht. Von Seiten der Communities gab es die Erwartung, dass diese jetzt ein Sprachrohr haben – und dass Bedarf kommuniziert und dementsprechend gehandelt wird. Die Erwartung der Verwaltung war zu erkennen: wo läuft es gut, wo nicht, Zugang zu Netzwerken zu erhalten, Lobby-Arbeit zu machen.78 Diese Erwartungen wurden nur zum Teil erfüllt, mitunter auch, weil sie zu hoch waren bzw. nicht den politischen Realitäten Rechnung getragen haben.79 So finden sich im finalen Statut für die IP nicht mehr die umfassenden Informationsrechte des Beirats.80 Kontrovers war zudem die symbolische „Zurückstufung“ des Gremiums durch die Landesregierung im Oktober 2016, kurz vor der ersten Delegiertenwahl: Aus dem „Integrationsbeirat“ wurde eine „Integrations-Plattform.“ […] Begründung: Das Gremium, so der Wunsch der Regierung, solle nicht nur beraten, sondern auch dem Austausch dienen – daher die Umbenennung in eine Plattform.81 Dies stieß bei VertreterInnen der migrantischen Communities und NGOs auf Kritik, da eine Plattform als weniger gewichtig als ein Beirat wahrgenommen wurde.82 Etwa zogen sich die Delegierten der Plattform für Menschenrechte zurück, mit Verweis darauf, dass die Namensänderung „Verwirrung in der Delegiertenversammlung“ hervorgerufen habe und der Stellenwert noch vor der Konstituierung abgeschwächt wurde: „Eine „Plattform kommentiert im allgemeinen Verständnis politische Vorgänge und Beschlüsse „von außen“ – ohne jede Verbindlichkeit für die Politik.“83 Diese Verbindlichkeit fehlt auch den anderen Beiräten – schwerer wiegt, dass erstens der Fokus von Beratung auf Austausch verschoben wurde und dass zweitens der Plattform bis heute eine gesetzliche Verankerung fehlt, im Gegensatz zum Jugend- oder Kulturbeirat. für Regierungsvorlage. Stand: 2.3.2015/A. Abgerufen am 26.9.2019 unter https://www.salzburg. gv.at/gesellschaft_/Documents/entwurf_fuer_statut_02032015_abschlusssitzung.pdf. 78 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 79 Ebd. 80 Land Salzburg, Entwurf für das Statut (s. Fn. 78). 81 Ursula Liebing/Josef P. Mautner (2015). Zur Situation von MigrantInnen in Stadt und Land Salzburg, in: Plattform für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechtsbericht 2015, Salzburg, S. 57–65, hier S. 59. Abgerufen am 4.8.2019 unter http://www.menschenrechte-salzburg.at/fileadmin/ menschen/user/dokumente/2015_12_10_MR_Bericht.pdf. 82 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 83 Ebd.

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Stattdessen beruht die IP auf einem Regierungsbeschluss, der jederzeit wieder aufhebbar ist. Gemeinsam mit der Tatsache, dass die Plattform an das Integrationsressort „angehängt“ ist – also an die Exekutive und nicht die Legislative, was laut Dimitrov zu einer „Partizipation zweiter Klasse“ führt (siehe Abschnitt 2.1) –, konterkariert dies die ursprünglich als wichtig erachtete politische Unabhängigkeit des Gremiums. Wie eine Vertreterin der IP kritisch meint: Wir sollten eigentlich parteipolitisch unabhängig sein, sind aber bei einem Ressort angesiedelt. Die jeweilige Ressortverantwortliche muss unsere Aktivitäten immer politisch rechtfertigen. […] Die IP braucht eine gelebte Autonomie, nicht nur eine geschriebene, damit wir nicht von der Politik beeinflusst werden können. Und solange wir nicht gesetzlich verankert sind, sind wir natürlich umso mehr von der Politik abhängig.84 An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch Landesjugend- und Kulturbeirat bei den einschlägigen Referaten des Amts der Salzburger Landesregierung angesiedelt sind. Hier unterscheidet sich die IP also nicht von anderen Beiräten. Der Grund, warum aus dem „Beirat“ eine „Plattform“ wurde, lag bei der ÖVP: Zwar stimmten alle Regierungsparteien per Beschluss der Einrichtung der IP zu, doch wurde die Befürchtung laut, dass ein „Integrationsbeirat“ zu sehr in Linie mit anderen etablierten Beiräten wäre, wie Jugend- oder Kulturbeirat mit ihrem gesetzlich verankerten Beratungsrecht.85 Auch was die operative Arbeit der IP anbelangt, mussten die hohen Erwartungen bald zurückgeschraubt werden. Tatsächlich hat die IP, sieht man von kleinen Posten für Verwaltungsausgaben und die Finanzierung der Geschäftsstelle ab, kein eigenes Budget, welches selbst verwaltet werden kann. Sollte die IP Projekte durchführen wollen, müssen diese formal dem Amtsweg entsprechend beantragt werden – und laufen damit auch Gefahr, nicht genehmigt zu werden, was bereits öfter der Fall war:86 „Es scheitert nicht am Willen, an Ideen, an Vorschlägen der IP. Aber die meisten Ideen verlaufen im Sand. Oft sind die Hindernisse so hoch, dass wir eine Idee nicht umsetzen können.“87 Das führt zu Frustrationen unter den Mitgliedern. Ein Problem bleibt hier die politische Abhängigkeit der IP: So wurden auch mehrmals überarbeitete Projekte abgelehnt, etwa das Projekt „Interkultureller Dialog – Feste erleben und verstehen“. Dieses Projekt sollte die religiöse Vielfalt Salzburgs sichtbar machen und Begegnungen zwischen den unterschiedlichen Angehörigen von 84 Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019. 85 Berthold, Interview, 29.7.2019. 86 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 87 Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019.

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Religionsgemeinschaften ermöglichen. Dazu sollten vier Feste organisiert und veranstaltet werden, wo über die unterschiedlichen Religionen aufgeklärt werden und Vorurteile abgebaut werden sollten. Auf Bitte von LR Berthold wurde das Projekt überarbeitet und dennoch abgelehnt:88 „Wir stoßen da an die Grenzen der PolitikerInnen, die von ihrem Amt abhängig sind und uns nicht mehr erlauben können.“89 Alle Mitglieder sind ehrenamtlich tätig, neben ihren regulären Berufen, der Arbeit für die Vereine, von denen sie nominiert wurden, und ihren Familien. Die Ausarbeitung von Projekten stellt somit eine Mehrbelastung dar, die ein effizientes Arbeiten der IP erschwert. Trotzdem haben sich die Mitglieder IP in der ersten Funktionsperiode 2015/17 stark engagiert und 50 Sitzungen abgehalten. Wenn Projekte dann politisch scheitern, fühlten sich die Mitglieder der Plattform besonders entmutigt, so die Vertreterin der IP im Interview.90 Eine Herausforderung ist die Kollision zwischen den Ehrenamtlichen der IP und dem „System dahinter“: Mitunter fehlt das Verständnis für die Abläufe in Verwaltung und Politik, was die Projektarbeit in Abstimmung mit der Politik zusätzlich erschwert.91 Auch ist die Einbindung der Plattform in wichtige integrationspolitische Entscheidungen verbesserungswürdig: So war die Plattform nicht Teil des ExpertInnengremiums, welches 2015 die Empfehlungen des BürgerInnenrats zur Integration diskutierte (siehe oben).92 Auch bei der Entwicklung des Schwerpunktjahres „DIALOG 2019 – Der Salzburger Weg der Integration“ war die Plattform anfänglich nicht eingebunden (jedoch später in die Steuerungsgruppe des Schwerpunktjahrs eingeladen): „Das spricht auch für sich. Da waren wir enttäuscht und es hat uns in unserem Empfinden bestätigt, dass unsere Rolle nicht ernst genommen wird.“93 Die kurze Funktionsperiode von zwei Jahren verschärft die Situation noch: Sobald Mitglieder sich eingearbeitet haben, kommt es zum Wechsel. Zudem fehlt oft die Zeit, mehr als ein Projekt in dem vorgegebenen Zeitrahmen umzusetzen.94 Auch was die Partizipation von MigrantInnen in integrationspolitischen Prozessen anbelangt, wurden in die IP zu hohe Erwartungen gesetzt. Die Plattform war ursprünglich als Gremium für Beratung, Vernetzung und auch als Sprachrohr für MigrantInnen vorgesehen, was im Lichte der Mehrfachbelastung der

88 Kirchmauer, schriftliches Interview, 15.12.2019. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 92 Liebing/Mautner, Zur Situation von MigrantInnen in Stadt und Land Salzburg, S. 65 (s. Fn. 82). 93 Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019. 94 Ebd.

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Mitglieder, der geringen finanziellen Ausstattung und dem Fokus auf Austausch ohne gesetzlich verankerte Beratungsfunktion nur bedingt funktioniert. Dazu kommt die praktische Anwendung des Wahlmodus, der das Gremium wenig repräsentativ macht: Tatsächlich entsenden viele migrantische Vereine keine Delegierten zur Versammlung, in der die Mitglieder der IP gewählt werden, auch weil es mitunter an Informationen fehlt – aufseiten der migrantischen Vereine über die Möglichkeit, sich an der IP zu beteiligen, aber auch aufseiten der Verwaltung, die nicht alle Communities kennt bzw. keinen Zugang zu diesen hat.95 Freilich ist das Gremium mit zehn migrantischen und sechs institutionellen VertreterInnen zu klein, um alle Communities repräsentieren zu können – daher auch die Idee einer kurzen Funktionsperiode, die eine bessere Durchmischung zumindest in zeitlicher Abfolge garantieren sollte, aber andere Probleme mit sich bringt.96 Trotz der nicht einfachen Situation gelang es der Plattform, einige Projekte erfolgreich umzusetzen, etwa einen Jugendwandertag oder ein Projekt zum Thema Mehrsprachigkeit und Bildungsbereich, welches sehr positiv in migrantische Communities hineinwirkte:97 Die IP veranstaltete in Kooperation mit verschiedenen Vereinen mehrere Themenabende zu Mehrsprachigkeit und Schule in der jeweiligen Sprache der Community; DolmetscherInnen wurden bewusst nicht eingesetzt.98 Letztlich bleibt die Bilanz der IP gemischt: Formal gibt es für MigrantInnen die Möglichkeit, sich in die Salzburger Integrationspolitik einzubringen. Die realpolitische Bedeutung der IP trägt dieser Idee aber kaum Rechnung. Das zeigt sich auch anhand des direkten Kontakts mit der Politik in der mit Ende 2019 abgelaufenen zweiten Funktionsperiode (2018–2019): Abgesehen von zwei Treffen zu Beginn der Funktionsperiode mit der ressortzuständigen Landesrätin (bzw. im Fall der letzten Landtagswahlen auch der neu gewählten Regierung) und einem Treffen mit einer Vertreterin der SPÖ haben keine direkten Kontakte mit politischen AkteurInnen stattgefunden, obwohl einmal im Jahr die SprecherInnen aller Parteien und die zuständige Landesrätin zu jeder Sitzung eingeladen werden.99 Die politische Arbeit der IP läuft also vor allem über die Verwaltung, was eine Politisierung der IP im Sinne einer Partizipation von MigrantInnen nicht einfacher macht.

95 Ebd.; Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 96 Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019. 97 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. 98 Kirchmauer, Schriftliches Interview, 15.12.2019. 99 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019.

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Damit die IP tatsächlich ein Gremium wird, welches aktiv beratend tätig ist, ein Sprachrohr für migrantische Communities darstellt und der Vernetzungsaufgabe gerecht wird, braucht es vor allem Ressourcen – ein eigenes Budget, welches Projektarbeit erleichtern und politische Unabhängigkeit erhöhen würde; eine professionelle Arbeitskraft, welche Projektarbeit für die IP leistet, Stellungnahmen schreibt, das Budget verwaltet, Vernetzungsarbeit in Richtung Communities leistet, die noch nicht repräsentiert sind bzw. zu denen noch kein Kontakt hergestellt wurde.100 Fazit: Vor allem im Lichte der dialogisch orientierten Integrationspolitik in Salzburg ist man in Hinblick auf die Partizipation von MigrantInnen in der Integrationspolitik durch einen Integrationsbeirat auf halbem Weg steckengeblieben. Nicht zu unterschätzen ist dabei der ungünstige Zeitpunkt, zu dem die IP gegründet wurde: Diese war gedacht, langansässige Communities zu vertreten, und konstituierte sich ausgerechnet am Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Damit wurden die Anliegen und Bedürfnisse dieser Communities in den Hintergrund gerückt, sowohl was die öffentliche Debatte als auch die operative Arbeit im Integrationsbereich anbelangt.101 Als die Krise einigermaßen bewältigt war, „hätten wir durchstarten können – aber da war das Ganze schon etwas eingeschlafen. Es gab damals einfach keine Zeit, sich mit den MigrantInnen auseinanderzusetzen, die schon hier waren.“102 Ob die IP nach dem aktuellen Rückgang der Flüchtlingszahlen in näherer Zukunft mehr Ressourcen und eine gesetzliche Verankerung erhält, ist unklar. 3.3 Der „Salzburger Weg der Integration“: Pragmatismus – Werte – Abgrenzung Zu Beginn des Artikels wurde die Frage gestellt, warum sich in Salzburg trotz einer zunehmend restriktiven Integrationspolitik im Bund ein spezifischer „Salzburger Weg der Integration“ etablieren konnte bzw. inwieweit dieser Weg tatsächlich den selbst gestellten Anspruch einer dialogisch orientierten Integrationspolitik erfüllt. Geht man nach der in Abschnitt 2 besprochenen Literatur, funktioniert regionale Integrationspolitik nach verschiedenen Logiken: Pragmatismus, da es die unteren Gebietskörperschaften sind, welche das Zusammenleben vor Ort regeln müssen und die Probleme gescheiterter Integration direkt spüren; Werthaltungen der handelnden AkteurInnen, die oftmals die Situation vor Ort kennen und damit auch Empathie für die oft schwierige Situation von Mig100 Ebd. 101 Schick, Interview, 22.8.2019. 102 Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019.

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rantInnen entwickeln – und von ordnungspolitischen Erwägungen freigespielt sind, die ja Bundessache sind; und Abgrenzung von der Bundespolitik, indem man versucht, ein Gegenmodell zur tendenziell restriktiven Politik im Bund zu bauen. Was Abgrenzung anbelangt, gibt es im Rahmen dieser Untersuchung wenig Anhaltspunkte, um eine gesicherte Aussage zu treffen. Integration im Bund ressortierte seit der Schaffung des Staatssekretariats 2011 bei der ÖVP und von 2017–2019 bei einer formal parteifreien, doch von der FPÖ nominierten Ministerin. Zudem hat die SPÖ in der Großen Koalition bis 2017 den restriktiven Kurs in der österreichischen Integrationspolitik als größerer Koalitionspartner mitgetragen. Das Integrationsgesetz 2017 wurde noch von der Großen Koalition verabschiedet. Die Tatsache, dass der „Salzburger Weg der Integration“ von einer grünen Landesrätin initiiert und von einer NEOS-Landesrätin weitergeführt wurde, spricht für eine bewusste Abgrenzung zur Bundespolitik. Gleichzeitig – und dies macht den Fall Salzburg besonders interessant – ist die stärkste politische Kraft in Salzburg die ÖVP. Während der Koalition zwischen ÖVP, Grünen und Team Stronach (2013–2018) war die ÖVP – trotz Rückeroberung des Landeshauptmann-Sessels von der SPÖ – aufgrund des vorhergehenden Finanzskandals zwar geschwächt. Mit den Landtagswahlen 2018 wurde sie jedoch wieder zur klar dominierenden Kraft im Land und baute ihren Stimmenanteil von 29 Prozent (2013) auf 37,8 Prozent (2018) aus.103 Spätestens dann hätte die Partei den geschlagenen Grünen (von 20,2 % 2013 auf 9,3 % 2018 abgestürzt)104 und den politisch in Salzburg unerfahrenen NEOS (erstmals im Landtag vertreten) einen härteren Kurs in der Integrationspolitik aufdrängen bzw. andere Koalitionsvarianten wählen können, die einen strengeren Kurs erlaubt hätten – das ist nicht passiert. Nun ist nicht zu erwarten, dass es der Landes-ÖVP ein Anliegen ist, sich von der in Integrationssachen restriktiveren Bundes-ÖVP zu distanzieren, doch bleibt die Positionierung vor allem des Landeshauptmanns Wilfried Haslauer schwer fassbar: Einerseits hat sich der Landeshauptmann gegenüber den regierenden Koalitionen in Wien in der Öffentlichkeit nie als Kritiker positioniert, sondern Vorschläge wie die Kürzung der Mindestsicherung für anerkannte Flüchtlinge sogar unterstützt105 – gleichzeitig aber bundespolitische Entscheidungen wie die Streichung der Mittel für den Verein VIELE mit eigenen Bud-

103 Land Salzburg (2018). Landtagswahl am 22. April 2018. Abgerufen am 15.12.2019 unter https://www.salzburg.gv.at/stat/wahlen/ltw/index.html. 104 Ebd. 105 Der Standard Online (10.1.2016). Haslauer will niedrigere Mindestsicherung für Flüchtlinge.

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getmitteln abgefedert.106 Im Bundesland selbst versucht man, das schwierige Thema zu umschiffen, etwa im Landtagswahlkampf 2018: Interessanterweise war Integration im Wahlkampf überhaupt kein Thema, weder negativ noch positiv. Die Grünen hätten zeigen können, was sie in den letzten 5 Jahren im Bereich geleistet haben. Das ist nicht passiert […]. Die ÖVP hat mit dem Thema auch überhaupt nicht gearbeitet, auch nicht negativ. […] Es war einfach kein Thema.107 Grundsätzlich zeigt der „Salzburger Weg der Integration“ – vor allem die Einrichtung der IP (mit all ihren Schwächen) und das Vermeiden von politischer Instrumentalisierung des Themas (sowohl in negativer als auch in positiver Weise) –, dass das Bundesland Salzburg tatsächlich einen eigenen, von der Bundespolitik klar unterscheidbaren Weg in der Integrationspolitik geht. Für eine Interviewpartnerin ist dieser Weg sogar eine bewusste Demonstration: „Wir als kleines Bundesland schaffen das. Da war Salzburg immer gut: Immer diplomatisch und lösungsorientiert.“108 Insofern grenzt sich die Salzburger Integrationspolitik vom Bund ab – ob man aber von einer strategischen Abgrenzung im Sinne eines bewusst geschaffenen Gegenmodells sprechen kann (siehe Abschnitt 2), bleibt an dieser Stelle offen. Auch sei erwähnt, dass gerade in Hinblick auf die Einführung der IP das kolportiert „Dialogische“ des „Salzburger Wegs“ mehr Selbstzuschreibung denn Realität ist (man denke zum Beispiel an die kaum vorhandenen Kontakte zwischen Politik und IP). Was die Rolle persönlicher Werthaltungen anbelangt, verfolgten Martina Berthold und Andrea Klambauer, dem ideologischen Unterbau ihrer Parteien entsprechend, dialogische Ansätze in der Integrationspolitik. Wie in Abschnitt 2 als durchaus typisch für Bundesländer vermerkt, haben die zentralen AkteurInnen in Salzburgs Integrationspolitik tatsächlich sozial- bzw. geisteswissenschaftliche Hintergründe (Martina Berthold etwa ist Pädagogin, Wolfgang Schick Germanist und Historiker) – ohne dass hier behauptet werden soll, dass AkteurInnen mit solchen beruflichen Biographien grundsätzlich für eine offene Integrationspolitik stehen. Persönliche Werte spielen auch in der Verwaltung eine Rolle, wie auch in Abschnitt 2 angemerkt wurde. Die Initiative für DIALOG 2019, mit der gezielt gegen die polarisierte Stimmung in der Gesellschaft vorgegangen werden sollte, kam vom Leiter des Referats Jugend, Generationen und Integration, Wolfgang Schick, mit dem Ziel, durch Dialog der Polarisierung entgegenzu106 SN Online (9.3.2019). Jetzt springt das Land für die Lernhilfe ein. 107 Schick, Interview, 22.8.2019. 108 Kirchmauer, Interview, 28.8.2019.

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treten. Auch die Vertreterin der Integrationsplattform unterstreicht, dass vor allem das zuständige Referat versuche, trotz aller Herausforderungen die IP so gut wie möglich zu unterstützen und ihre Reformanliegen an die Politik heranzutragen. Hier komme großes Engagement von Einzelpersonen zum Tragen, welches über das Erwartbare hinausgehe.109 Im Fall der ÖVP wird von den InterviewpartnerInnen vor allem auf die Rolle des Landeshauptmanns verwiesen: „auch gelebte Wertehaltungen seitens der Landespolitik, vor allem vom Landeshauptmann, sind für den ‚Salzburger Weg der Integration‘ wichtig.“110 Das Engagement von Wilfried Haslauer zeigte sich vor allem in der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, wo er eine Arbeitsgruppe in seinem Ressort eingesetzt und mit großem persönlichen Engagement geleitet hat.111 Zudem werden ihm in der Integrationspolitik „Augenhöhe, Menschlichkeit, Sachlichkeit, Unaufgeregtheit“ attestiert112, was zumindest darauf hindeutet, dass Integrationspolitik vor Ort für alle Betroffenen (auch die MigrantInnen) einen Mehrwert darstellen soll und sich nicht zur politischen Instrumentalisierung eignet. Diese Zusammenarbeit führt mich zum letzten angesprochenen Faktor, Pragmatismus, gepaart mit Effizienzdenken. Der „Salzburger Weg der Integration“ besteht aus einer Reihe integrationspolitisch innovativer Maßnahmen, doch der Kern dieses Weges sind für die InterviewpartnerInnen des Artikels nicht spezifische Projekte, sondern der Konsens, der diesen Weg trägt. Sieht man von der Kontroverse um die Namensgebung der Integrationsplattform ab, hat es im Untersuchungszeitraum nie eine konfliktreiche, nach außen getragene Diskussion zwischen den Koalitionspartnern zum Thema Integration gegeben: Das ist der Versuch, innerhalb der Landesregierung intensiv und gut zusammenzuarbeiten, über das jeweilige politische Ressort hinaus. Das ist das Merkmal des Salzburger Wegs, der ein gemeinsamer Weg ist. […] Es gab phasenweise Spannungen, aber keine massiven Auseinandersetzungen. […] Das Positive war, dass nie etwas durchgedrückt wurde. Es wurde geschaut, okay, da gibt es eine ÖVP-Logik, da gibt es eine Grünen-Logik, die da dahintersteht, und wir müssen gemeinsam einen Weg finden. In vielen Bereichen ist das gelungen, man hat Kompromisse gefunden, abwechselnd wurde zurückgesteckt. Der Landeshauptmann hat schon gesehen, dass es auf der Landesebene ein Miteinander geben muss.113 109 110 111 112 113

Vertreterin Integrationsplattform, Interview, 9.9.2019. Kirchmauer, Interview, 28.8.2019. Berthold, Interview, 29.7.2019. Kirchmauer, Schriftliches Interview, 15.12.2019. Berthold, Interview, 22.7.2019.

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Nach der in den Jahren 2012/13 im Salzburger Finanzskandal untergegangenen rot-schwarzen Regierung war – zumindest nach außen – dieses konstruktive Miteinander ein besonderes Anliegen der Koalition zwischen ÖVP, Grünen und dem Team Stronach, wie dies auch in der seit 2018 regierenden Koalition zwischen ÖVP, Grünen und den NEOS der Fall ist. So erscheint es logisch, dass dieses Miteinander auch in der Integrationspolitik umgesetzt wurde. Mittlerweile ist der „Salzburger Weg der Integration“ im Bundesland fest verankert: „Auch die Sozialdemokraten in Opposition würden nichts dagegen sagen. Ebenso von NGOs und anderen Akteuren wird der ‚Salzburger Weg der Inte­ gration‘ sehr geschätzt.“114 Freilich bleiben einige Baustellen, vor allem die auf halbem Weg steckengebliebene Möglichkeit zur politischen Teilhabe von MigrantInnen durch die IP. Hier zeigt sich, dass das betont Dialogische des „Salzburger Wegs der Integration“ nicht uneingeschränkt umgesetzt wird: Gerade wenn es um die kritische Frage geht, wie stark sich MigrantInnen in den politischen Prozess im Bundesland einbringen können, wurde in Salzburg eher auf Symbolpolitik denn auf effektive Maßnahmen gesetzt. Man demonstrierte Offenheit und Dialogorientierung mit der Einrichtung der IP, scheute aber davor zurück, sie so auszustatten, dass MigrantInnen eine hörbare Stimme in der Salzburger Integrationspolitik erhalten. Inwieweit Bedenken der ÖVP hier eine Rolle spielten, ist – jenseits der Auseinandersetzung um die Namensgebung des Gremiums – nicht nachvollziehbar, doch scheint die IP eher unfreiwillig ein Negativ-Beispiel für den gelobten Salzburger Weg des Kompromisses zu sein, welcher den „Salzburger Weg der Integration“ erfolgreich mitgetragen hat.

4. FAZIT Integrationspolitik in Österreich ist ein hochideologisches Thema. In der Bundespolitik dominiert eine zunehmend restriktive Linie, welche sich jedoch nicht unbedingt auf die regionale Integrationspolitik in den Bundesländern übertragen lässt: Salzburg hat mit dem „Salzburger Weg der Integration“ einen bewusst offenen und liberalen Ansatz in der Integrationspolitik gewählt: So hat man mit der Einrichtung von IST und AST österreichweite Pionierarbeit in Sachen Vernetzung zwischen AkteurInnen im Integrationsbereich geleistet, den Spracherwerb von MigrantInnen durch gezielte Maßnahmen bei den Deutschkursen besonders gefördert und den Dialog im Bereich Integration gestärkt. Letzteres geschah etwa durch die Einsetzung eines BürgerInnen114 Schick, Interview, 22.8.2019.

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rats zum Thema Integration, die Umsetzung des Projekts HEROES oder das Schwerpunktjahr „DIALOG 2019 – Der Salzburger Weg der Integration“. Dazu kam ein österreichweites Unikum, nämlich die Einrichtung der Integrationsplattform auf Landesebene. Die IP könnte ein Aushängeschild des „Salzburger Wegs der Integration“ sein, zeigt aber auch die Ambivalenz der Integrationspolitik in Salzburg: Sie soll die Politik in Integrationssachen beraten, eine Brückenfunktion zwischen Politik und migrantischen Communities erfüllen und MigrantInnen eine Chance zur politischen Teilhabe bieten bzw. als Sprachrohr für MigrantInnen fungieren. Diese Aufgaben sind nur eingeschränkt wahrnehmbar, aufgrund struktureller Probleme wie der nicht vorhandenen gesetzlichen Verankerung, den zu kurzen Funktionsperioden und der Tatsache, dass die Plattform ausschließlich von Ehrenamtlichen getragen wird. Dazu kommen Aspekte wie die ausbaufähige Vernetzung in die Politik und in die migrantischen Communities. Letztere sind nicht ausgewogen repräsentiert bzw. können dies aufgrund der niedrigen Anzahl von Mitgliedern auch nicht sein. Schließlich fehlt es an Wissen der Mitglieder um die Prozesse in Politik und Verwaltung. Die Plattform ist sozusagen auf halbem Weg steckengeblieben und zeigt, dass der kolportierte Dialog des „Salzburger Wegs“ nicht reibungslos funktioniert. Trotz der gemischten Bilanz der IP bleibt der „Salzburger Weg der Integration“ mit zahlreichen anderen Initiativen wie „DIALOG 2019“ im Bundesland fest verankert, und dies im Gegenwind der wachsenden Restriktionen des Bundes. Warum konnte sich dieser Weg etablieren? Der Artikel diskutierte im Lichte der Literatur drei mögliche Faktoren: Abgrenzung zur Bundespolitik, persönliche Wertehaltungen und Pragmatismus. Es ist offensichtlich, dass die Salzburger Integrationspolitik einen dezidiert anderen Weg als die Bundespolitik geht, auch wenn die Haltung des Landeshauptmanns durchaus ambivalent ist: So kam es bislang zu keiner offenen Kritik an der Politik im Bund, doch wurden in Salzburg die politische Instrumentalisierung des Themas bislang vermieden, finanzielle Mittel beständig erhöht (im Gegensatz zum Bund) bzw. Kürzungen von Seiten des Bundes mit Landesmitteln ausgeglichen. Die Tatsache, dass Integrationsagenden in Salzburg bei den Grünen und NEOS ressortier(t)en, könnte auf ein bewusstes „Gegenmodell Salzburg“ zum Bund hindeuten, ohne dass hier ein klarer Zusammenhang herstellbar ist. Tatsächlich ist der „Salzburger Weg der Integration“ ein Projekt der gesamten Landesregierung, also auch der ÖVP, wenngleich deren Position in der Person des Landeshauptmanns auch eine gewisse Ambivalenz zeigt. Schließlich spielen für den „Salzburger Weg der Integration“ auch persönliche Werthaltungen eine Rolle. Hier sei neben Landesrätin Berthold und den Mitgliedern des Referats Jugend, Generationen, Integration auch auf Landes-

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hauptmann Haslauer verwiesen, der sich persönlich im Bereich der Arbeitsmarktintegration engagierte und einen betont unaufgeregten Stil in der Integrationspolitik pflegt. Was Pragmatismus anbelangt, steht seit 2013 koalitionäre Harmonie im Vordergrund, welche den Salzburger Weg der Integration mitträgt – und die Kompromisse verlangt, wie auch am Beispiel der Integrationsplattform ersichtlich war. Mit Blick auf das Schicksal der Integrationsplattform könnte in Salzburg durchaus eine Grundsatzdiskussion geführt werden, nämlich darüber, welche Rolle Beiräte für die Landespolitik überhaupt spielen sollen bzw. wie man diese gestalten kann, so dass ihre Arbeit ergiebiger ist – und damit Menschen am politischen Prozess teilhaben lässt, die ansonsten nicht oder nur wenig gehört werden.115 Für die demokratische Kultur des Bundeslandes wäre dies ein Gewinn – für den „Salzburger Weg der Integration“ wohl auch.

115 Schick, Interview, 22.8.2019.

ANDREAS KOCH

Wohnen in der Stadt Salzburg Zum Verhältnis der Wohnung als Ware und dem Wohnen als soziale ­Infrastruktur

1. EINLEITUNG Die Bevölkerung Österreichs wächst kontinuierlich, allein in den letzten zehn Jahren nahm sie um rund 470.000 Personen zu und steht derzeit (1.1.2019) bei knapp 8.860.000 EinwohnerInnen. Mit Ausnahme von Kärnten verzeichneten auch alle Bundesländer ein kontinuierliches Wachstum ihrer Bevölkerung. Im Land Salzburg stieg die Zahl der BewohnerInnen zwischen 2008 und 2018 um 24.000.1 Die Verteilung der Bevölkerung im Land Salzburg (Stand Anfang 2018) weist mit der Stadt Salzburg (154.820 E.) und dem Flachgau (151.256 E.) zwei deutliche regionale Schwerpunkte auf. Die übrigen Landesteile mit Pinzgau (87.257 E.), Pongau (80.181 E.), Tennengau (60.164 E.) und Lungau (20.344 E.) fallen einwohnermäßig demgegenüber ab.2 Heute wohnen 155.886 Menschen in der Stadt Salzburg.3 In diesem Beitrag wird auf der Grundlage einer überlegten – und damit auch selektiven – Auswahl an Faktoren und Bedingungen beschrieben und zu erklären versucht, wie sich die Funktion ‚Wohnen‘ in der jüngeren Vergangenheit der Stadt Salzburg gewandelt hat. Dabei steht die Funktion des Wohnens in einem Spannungsverhältnis zur Struktur des Wohnens, die sich in der gebauten Umwelt, also den Wohnungen, manifestiert. Das Verhältnis von Struktur und Funktion, von ‚Wohnung‘ und ‚Wohnen‘, lässt sich dann auch in ein Verhältnis von Materialität und Relationalität übersetzen. Damit ist gemeint, dass die Wohnung in zunehmendem Maße als Objekt unterschiedlicher Bedürfnisse und Interessen beurteilt wird, das ihren Warencharakter in den Vordergrund und ihre 1 Statistik Austria (2018). Bevölkerung Österreichs seit 2008 nach Bundesländern. Abgerufen am 17.7.2019 unter https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevo elkerung/volkszaehlungen_registerzaehlungen_abgestimmte_erwerbsstatistik/bevoelkerungs stand/index.html 2 Amt der Salzburger Landesregierung (2018). Bevölkerung Land Salzburg, Stand und Entwicklung 2018. Abgerufen am 6.4.2020 unter https://www.salzburg.gv.at/statistik_/Documents/Publikationen%20Statistik/statistik-Bevoelkerung.pdf. 3 Stichtag 1.1.2019, mit gemeldetem Hauptwohnsitz.

Wohnen in der Stadt Salzburg

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Eigenschaft als soziale Infrastruktur in den Hintergrund stellt. Diese Kommodifizierung erfolgt zum einen als Anlageobjekt mit dem Ziel der Einkommensgenerierung und/oder Profitmaximierung. Zum anderen wird die Wohnung als Vorsorgeobjekt mit dem Ziel der Absicherung im Alter gesehen. In beiden Fällen ist die Kapitalakkumulation die treibende Kraft, im ersten Fall aufgrund als mangelhaft bewerteter alternativer Anlagemöglichkeiten (z. B. in Form von Aktien, Staatsanleihen oder Bankzinsen), im zweiten Fall aufgrund als unsicher bewerteter sozialstaatlicher Leistungen in der Zukunft (Pension).4 Der materiellen Eigenschaft der Wohnung steht die relationale Eigenschaft des Wohnens zur Seite. Hier spielen vor allem Fragen einer gelingenden, guten Nachbarschaft (im lokalen Kontext) sowie einer gelebten Urbanität (im gesamtstädtischen Kontext) eine zentrale Rolle. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen geraten diese beiden Eigenschaften auf vielfältige Weise in einen Konflikt. Die hier gewählte Perspektive greift neben der erwähnten Forcierung der profitorientierten Kapitalakkumulation und der vorsorgenden Selbstverantwortung auf den Ansatz der wachsenden gesellschaftlichen Singularisierung5 zurück, der zwar nicht losgelöst von den erwähnten ökonomischen Erwartungen und Zwängen gesehen wird, aber zugleich über jene hinausgeht. Der Prozess der gesellschaftlichen Singularisierung wirkt dabei in die Organisation nachbarschaftlichen Zusammenlebens ebenso hinein wie in das Verständnis urbaner Lebensweise(n). Praktisch gewendet heißt das: Die Suche nach einer profitablen Wohnung mag den Wunsch nach gelingender Nachbarschaft und Urbanität in den Hintergrund drängen. Wirtschaftliche Interessen der einzelnen Haushalte befördern somit die Gefahr sozialer Fragmentierung. Daraus erwachsen wohnungs- und wohnpolitische Herausforderungen, die um den Preis eigener Verantwortungsübernahme an öffentliche Institutionen ausgelagert werden. Nachfolgend wird zunächst in Kapitel 2 auf einige grundlegende Entwicklungen des Wohnens in der Stadt Salzburg eingegangen und dabei auch einige Kennzahlen des Landes Salzburgs vergleichend einbezogen. Im Vordergrund stehen hierbei die preislichen und sozio-demographischen Entwicklungen des städtischen Wohnungsmarktes. Kapitel 3 widmet sich dann dem Stellenwert des gemeinnützigen Wohnungsbaus in der Stadt Salzburg. Kritisch beleuchtet 4 Andrej Holm (2014). Mietenwahnsinn: Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert, München. Dass einige der hier angesprochenen Aspekte nicht neu sind, zeigt exemplarisch zum einen Rolf Kyrein (Hg.) (1992) in seinem Buch „Arbeiten im Ballungsraum – und wohnen?“, Stuttgart-München-Landsberg. Und zum anderen Klaus Ronneberger/Stephan Lanz/ Walther Jahn (1999). Die Stadt als Beute, Bonn. 5 Andreas Reckwitz (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin.

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Andreas Koch

wird die wachsende Schwierigkeit, mit dem Mittel der Gemeinnützigkeit das Ziel leistbaren Wohnraums für weniger wohlhabende Menschen zu erreichen. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionen der Wohnung und des Wohnens wird in Kapitel 4 zunächst die Frage der Bedürftigkeit von Wohnraum anhand der Armutsgefährdungsschwelle erörtert. Hiervon etwas losgelöst, wird dann das Spannungsverhältnis der Wohnung zwischen Warencharakter und sozialer Infrastruktur behandelt. Dabei stehen sich Profitstreben und Vorsorgedenken dem Wunsch guter Nachbarschaft und urbaner Lebensweise gegenüber. Die These dabei ist, dass erstere sich zunehmend gegen letztere durchsetzen. Im abschließenden fünften Kapitel wird als Schlussfolgerung aus den Überlegungen zum Waren- und Infrastrukturcharakter der Wohnung für ein Wohnbaumoratorium plädiert, das zum Nachdenken über alternative und nachhaltige Lösungen der derzeit favorisierten Parole vom „Bauen, bauen, bauen“ anregen soll.

2. WOHNEN IN SALZBURG: BAULICHE UND PREISLICHE ENTWICKLUNGEN IM ÜBERBLICK 2.1 Wohnungsdaten im Stadt-Land-Vergleich Im Land Salzburg nimmt der Anteil der Einfamilienhäuser im Bundesländervergleich (ohne Wien) für das Jahr 2018 mit 30,2 Prozent nach Tirol den zweitniedrigsten Wert ein. 47,4 Prozent aller Haushalte Salzburgs leben in Ein- und Zweifamilienhäusern. Umgekehrt ist im Land Salzburg der Anteil der Gebäude mit mindestens 20 Wohnungen mit 11,5 Prozent aller Haushalte der höchste im nationalen Vergleich.6 In der Stadt Salzburg liegt der Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser bei 50,1 Prozent und damit doch signifikant über dem Landesdurchschnitt.7 Auf die Zahl der Wohnungen bezogen, relativiert sich freilich dieses Verhältnis, wie Abbildung 1 zeigt. Deutlich werden zudem die höheren Wachstumsraten im Mehrfamilienhaussegment.

6 Statistik Austria (2019). Wohnen. Zahlen, Daten und Indikatoren der Wohnstatistik. Abgerufen am 17.7.2019 unter https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/ wohnen/wohnsituation/index.html. 7 Stadt Salzburg (2019). Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt Salzburg 2018. Abgerufen am 17.07.2019 unter https://www.stadt-salzburg.at/pdf/jahrbuch_2018_fertig.pdf.

im nationalen Vergleich.6 In der Stadt Salzburg liegt der Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser bei 50,1% und damit doch signifikant über dem Landesdurchschnitt.7 Auf Wohnen Stadt Salzburg 2351 die Zahl in derder Wohnungen bezogen, relativiert sich freilich dieses Verhältnis, wie Abbildung

zeigt. Deutlich1:werden zudem die Wachstumsraten Abbildung Entwicklung derhöheren Zahl der WohnungeniminMehrfamilienhaussegment. Ein- und Zwei- sowie Abbildung 1 Entwicklung der Zahl der Wohnungen in Ein- und Zwei- sowie in in Mehrfamilienhäusern Mehrfamilienhäusern. 80000 70000 60000 50000 40000

Ein‐ und Zweifamilienhäuser

30000

Mehrfamilienhäuser

20000 10000 0

2007

2013

2014

2015

2016

2017

[hier Abbildung einfügen] Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene DarstelQuelle: lung. Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene

Darstellung.

Die Eigentums- und Mietquoten haben sich im Land Salzburg in den letzten StatistikJahren Austria (2019). Wohnen. Zahlen, Daten und Indikatoren der Wohnstatistik. Abgerufen am 17.7.2019 zehn nur unwesentlich verändert; erstere ist zwischen 2008 und 2018 unter https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/wohnen/wohnsituation/index.html. 7um 2,5 Prozent gesunken, letztere um 2,7 Prozent gestiegen. Während im Stadt Salzburg (2019). Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt Salzburg 2018. Abgerufen am 17.07.2019 unter https://www.stadt-salzburg.at/pdf/jahrbuch_2018_fertig.pdf. Land Salzburg 52 Prozent im Eigentum und 35 Prozent zur Miete wohnen (die übrigen 13 Prozent betreffen „sonstige201 Rechtsformen“, das sind mietfreie oder unentgeltliche Wohnverhältnisse sowie Dienst- oder Naturalwohnungen), so sind es in der Stadt Salzburg mit 23 Prozent deutlich weniger Haushalte, die im Eigentum wohnen. Dafür liegt der Anteil der Mietwohnverhältnisse mit 44 Prozent höher (und ein hoher Anteil, der in die Kategorie „sonstige Rechtsformen“ fällt).8 Auch wenn die beiden Datenquellen von Statistik Austria und Stadt Salzburg in der Kategorisierung der Rechtsform nicht völlig kompatibel sind, zeigt sich zumindest bei den Gemeinnützigen Bauvereinigungen ein höherer Anteil in der Stadt (21,4 %) als im Land (15,2 %). Auch ist der Anteil des kommunalen Wohnungsbestands in der Stadt doppelt so hoch wie im Land (2,8 % gegenüber 1,4 %). Nicht nur die Stadt Salzburg ist ein teures Pflaster, wie die Daten von Statistik Austria9 zum Mikrozensus für 2018 verdeutlichen. Danach liegen die durch6

8 Stadt Salzburg (2019). Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017. Abgerufen am 17.7. 2019 unter https://www.stadt-salzburg.at/pdf/gebaeude__wohnungen_und_grundstuecks preise_2017.pdf. 9 Statistik Austria, Wohnen (s. Fn. 6).

236

Andreas Koch

schnittlichen Mietkosten von Hauptmietwohnungen im Land Salzburg mit 9,20 € pro m2 inklusive Betriebskosten und mit 7,10 € pro m2 exklusive Betriebskosten an der Spitze aller Bundesländer. Seit 2005, mit damals durchschnittlich 6,49 € pro m2, sind die Bruttomieten im Land Salzburg bis heute somit um 70 Prozent gestiegen. In Relation zum verfügbaren Haushaltseinkommen gesetzt, relativiert sich dieser Befund jedoch wieder etwas. So müssen 90 Prozent der Personen im Land Salzburg bis zu 34 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen aufwenden, die übrigen 10 Prozent sogar mehr. Die Belastungsquote liegt gleichauf mit Tirol und der Steiermark, ist aber deutlich niedriger als in Wien (hier müssen 90 % der Wiener bis zu 47 % ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben) und in Vorarlberg (44 %). Die Verschärfung der Wohnverhältnisse durch steigende Wohnkosten zeigt sich auch am Indikator des ‚Überbelags‘10 bei den Mietwohnungen. Im Land Salzburg gelten 4 Prozent der Wohnungen als überbelegt, das ist nach Wien (9,5 %) der zweithöchste Wert in Österreich. Dabei stechen bundesweit die Gemeindewohnungen (12,9 % Überbelag) und Mietwohnungen (9,1 %) besonders hervor, womit insbesondere die urbanen Zentren mit dem Problem der Überbelegung konfrontiert sind. Die Menschen in Österreich im Allgemeinen und Salzburg im Besonderen leisten sich immer größere Wohnungen. 2018 wurde die 100-m2–Marke für eine durchschnittliche Wohnung in Österreich überschritten. Die Werte schwanken jedoch sehr stark zwischen Hauseigentum (ø 142 m2), Eigentumswohnung (ø 86 m2) und Mietwohnung (ø 61–70 m2 in Abhängigkeit des Mietverhältnisses). Im Land Salzburg sind es derzeit durchschnittlich 96,7 m2 Wohnfläche je Wohnung. Dieser Wert hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Eine hohe Streuung findet sich auch bei der ‚Wohnfläche pro Person‘. Diese variiert zwischen 53 und 56 m2 bei HauseigentümerInnen und 30 m2 bei BewohnerInnen von Gemeindewohnungen. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person steigt ebenfalls kontinuierlich an, im österreichischen Schnitt von 41 m2 (2004) auf 45,2 m2 (2018), im Land Salzburg von 38,4 m2 auf 42,6 m2. Die Stadt Wien ist das einzige Bundesland, bei dem dieser Wert im genannten Zeitraum gesunken ist.11 Die Ursachen für diese Entwicklungsverlauf sind

10 Die Mikrozensuserhebung definiert eine Wohnung als überbelegt, wenn (i) bei weniger als 35 m2 zwei und mehr Personen, (ii) bei 35–59 m2 drei und mehr Personen, (iii) bei 60–69 m2 vier und mehr Personen, (iv) bei 70–89 m2 fünf und mehr Personen und (v) bei 90–109 m2 sechs und mehr Personen diese Wohnung bewohnen (vgl. Statistik Austria, Wohnen (s. Fn. 6). 11 Statistik Austria (2019). Wohnsituation. Ergebnisse im Überblick: Wohnungsgröße. Abgerufen am 17.7.2019 unter https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/ wohnen/wohnsituation/index.html.

Wohnen in der Stadt Salzburg

237

vielfältig – so spielen die Langfristigkeit des Wohnbaus von der Planung bis zur Realisierung ebenso eine Rolle, wie Änderungen der Haushaltskomposition mit mehr Single-Haushalten und regional variierenden demographischen Prozessen von Wachstum und Schrumpfung. Gleichwohl verdeutlicht die Trägheit dieser Entwicklung auch die Notwendigkeit einer möglichst raschen politischen Gegensteuerung. 2.2 Wohnungsdaten zur Stadt Salzburg Richten wir nun den Blick auf die Stadt Salzburg und greifen dabei zunächst den letztgenannten Gedanken noch einmal auf. Nicht nur steigen die Wohnungsgrößen und die Wohnfläche pro Person an, auch die Zahl der Wohnungen wächst absolut und relativ stärker als jene der EinwohnerInnen. So hat in den letzten 40 Jahren (1977–2017) die Zahl der EinwohnerInnen absolut um 16.320 zugenommen, das entspricht einem Wachstum von 12 Prozent. Die Zahl der Wohnungen ist im selben Zeitraum jedoch um absolut 28.611 gestiegen, ein Plus 48 Prozent (s. Abbildung 2 und 3). Diese Entwicklung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mit Stand 2017 die Hälfte aller Gebäude Ein- und Zweifamilienhäuser sind; nur knapp 42 Prozent entfallen auf Mehrfamilienhäuser. Unter Zugrundelegung der aggregierten Werte zeigt sich, dass über diesen langen Zeitraum die Entwicklung des Wohnungsbestands mit der EinwohnerInnenentwicklung Schritt hielt. Einem relativen Rückgang des städtischen Bevölkerungswachstums folgt zeitversetzt ein relativer Rückgang der Wohnbautätigkeit. Im Verhältnis der relativen Entwicklung von Gebäuden und Wohnungen wird zudem eine Verschiebung hin zu Mehrfamilienhäusern deutlich – insbesondere für das Jahrzehnt 2007–2017, abgeschwächt auch für den Zeitraum 1987–1997. Zur baulichen Verdichtung der letzten Jahre haben dabei wesentlich die großen Wohnbauprojekte wie beispielsweise das Stadtwerkeareal in Lehen, die Rosa Zukunft in Taxham, die Wohnanlage am Bahnhof, die Lebenswelt Aigen und der Freiraum Maxglan beigetragen. Aktuell (Stand August 2019) befindet sich das Quartier Riedenburg in der Fertigstellung. Hierauf wird nachfolgend noch näher eigegangen.

238

Andreas Koch

Abbildung 2: Die Entwicklung der Zahl der EinwohnerInnen und Wohnungen, 1977–2017 (absolut) 180000 180000 160000 160000 140000 140000 120000 120000 100000 100000 80000 80000

Einwohner Einwohner Wohnungen Wohnungen

60000 60000 40000 40000 20000 0

1977 1977

1987 1987

1997 1997

2007 2007

2017 2017

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene DarstelStadt Salzburg, Quelle: Salzburg, Gebäude, Gebäude,Wohnungen Wohnungen&&Grundstückspreise Grundstückspreise2017 2017(s.(s.Fn. Fn.8),8),eigen eige lung. Darstellung.

3 Die Die Entwicklung Zahl 202 Abbildung 3: derder Zahl der der EinwohnerInnen und WohnunAbbildung DieEntwicklung Entwicklung der Zahl derEinwohner Einwohnerund undWohnungen, Wohnungen,1977 1977bisbis gen, 1977–2017 (in %) (in %). 14,0 12,0 12,0 10,0 10,0 8,0 8,0

Einwohner Einwohner Gebäude Gebäude

6,0 6,0 4,0 4,0 2,0 2,0 0,0 0,0 ‐2,0 ‐2,0 ‐4,0 ‐4,0

Wohnungen Wohnungen 1977‐1987 1977‐1987

1987‐1997 1987‐1997

1997‐2007 1997‐2007

2007‐2017 2007‐2017

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene Darstel[hier Abbildung einfügen] [hier Abbildung einfügen] lung.

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigen Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eige Darstellung. Darstellung. Die Entwicklung der fertiggestellten Wohnungen in den letzten 40 Jahren lässt sich grob in Die Entwicklung der fertiggestellten Wohnungen in den letzten 40 Jahren lässt sich grob vier Phasen unterteilen. Auf einen Abschwung zwischen 1977 und 1993 (von etwa 1.000 vier Phasen unterteilen. Auf einen Abschwung zwischen 1977 und 1993 (von etwa 1.000 fertiggestellten Wohnungen pro Jahr auf 500), folgt zwischen 1994 und 1997 eine kurze fertiggestellten Wohnungen pro Jahr auf 500), folgt zwischen 1994 und 1997 eine kurze Phase sehr hoher Bautätigkeit (von 500 auf knapp 1.500 errichteten Wohnungen pro Jahr).

239

Wohnen in der Stadt Salzburg

Die Entwicklung der fertiggestellten Wohnungen in den letzten 40 Jahren lässt sich grob in vier Phasen unterteilen. Auf einen Abschwung zwischen 1977 und 1993 (von etwa 1.000 fertiggestellten Wohnungen pro Jahr auf 500) folgt zwischen 1994 und 1997 eine kurze Phase sehr hoher Bautätigkeit (von 500 auf knapp 1.500 errichtete Wohnungen pro Jahr). Von 1997 bis 2005 sinken die jährlichen Fertigstellungen wieder bis auf etwas über 400 Wohnungen. Zwischen 2007 und 2014 nimmt die Zahl fertiggestellter Wohnungen wieder leicht steigend und kontinuierlich auf bis zu rund 900 Wohnungen zu (lediglich 2010 und 2012 wurden nur rund 500 Wohnungen gebaut). Seit 2015 ist die Entwicklung wieder rückläufig. Das Plansoll der im Räumlichen Entwicklungskonzept von 2007 vorgesehenen 8.100 Wohnungen bis 2017 wurde somit zwar nicht erreicht,12 allerdings scheint die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 keinen nachhaltig negativen Einfluss auf den Wohnungsbau in der Stadt ausgeübt zu haben. Abbildung 4: Die Bevölkerung der Stadt Salzburg (Hauptwohnsitz) nach ­Altersgruppen Abbildung 4 Die Bevölkerung der Stadt Salzburg (Hauptwohnsitz) nach Altersgruppen. 30000 25000

2008

20000

2014

15000

2015

10000

2016

5000

2017

0

2018 bis unter 10 bis 20 bis 30 bis 40 bis 50 bis 60 bis 70 bis 80 und 10 unter 20 unter 30 unter 40 unter 50 unter 60 unter 70 unter 80 älter

[Abbildung hier einfügen] Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene DarstelQuelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene lung.

Darstellung.

Die Stadt ist damit für junge Familien wie für ältere Menschen gleichermaßen attraktiv. Der

Dieser Einfluss scheint sich jedoch bei der Entwicklung der EinwohnerInnen-

Rückgang derzeigen. Altersgruppe der 40–50 Jährigen kann durch Umzüge ins Umland oder zahlen zu Auf den damaligen Höchststand des Jahres 2008 mit 150.378

EinwohnerInnen, folgten drei Jahre Bevölkerungsabnahme beruflich veranlasste Abwanderung bedingtder sein. Denkt man diese Gruppe(auf mit 147.825 jener der Ein10– mit Hauptwohnsitz, somit eindass Minus 1,9 %);Anstieg und dies, obwohl 20wohnerInnen Jährigen zusammen, liegt die Vermutung nahe, sichvon der leichte der Kinder das Wohnungsangebot in dieser Zeit stieg. Seitdem wächst die städtische Bevölkerung wieder kontinuierlich und zählt, wie erwähnt, heute 155.886 EinwohnerIn-

und Jugendlichen auf weniger Familien verteilt.

Der Anteil an EinwohnerInnen mit Hauptwohnsitz, die eine nicht-österreichische 12 Stadt Salzburg, Gebäude (s.liegt Fn. 8). Staatsangehörigkeit besitzen, bei derzeit 27,5% (2018). Bei den

NebenwohnsitzeinwohnerInnen liegt dieser Anteil bei 35,8% (s. Grafik 5 und 6). Einen kontinuierlichen Zuwachs – auf bereits hohem Niveau – erfährt die Stadt bei deutschen StaatsbürgerInnen, hohe Zuwächse – von einem niedrigen Ausgangsniveau – verzeichnen zudem Zuzüge von Menschen aus Syrien und Afghanistan sowie Rumänien. Im Vergleich zum Landesdurchschnitt liegt, wie erwähnt, die Eigentumsquote bei

240

Andreas Koch

nen. Die altersstrukturelle Differenzierung (s. Abbildung 4) zeigt dabei für die letzten zehn Jahre einen deutlichen Anstieg der 70–80jährigen Menschen und einen, wenngleich weniger starken, Anstieg bei den 20–30 Jährigen. Die Gruppe der 40–50 Jährigen hat demgegenüber kontinuierlich abgenommen. Die Stadt ist damit für junge Familien wie für ältere Menschen gleichermaßen attraktiv. Der Rückgang der Altersgruppe der 40–50 Jährigen kann durch Umzüge ins Umland oder beruflich veranlasste Abwanderung bedingt sein. Denkt man diese Gruppe mit jener der 10–20 Jährigen zusammen, liegt die Vermutung nahe, dass sich der leichte Anstieg der Kinder und Jugendlichen auf weniger Familien verteilt. Der Anteil an EinwohnerInnen mit Hauptwohnsitz, die eine nicht-österreichische Staatsangehörigkeit besitzen, liegt bei derzeit 27,5 Prozent (2018). Bei den NebenwohnsitzeinwohnerInnen liegt dieser Anteil bei 35,8 Prozent (s. Abbildung 5 und 6). Einen kontinuierlichen Zuwachs – auf bereits hohem Niveau – erfährt die Stadt bei deutschen StaatsbürgerInnen, hohe Zuwächse – von einem niedrigen Ausgangsniveau – verzeichnen zudem Zuzüge von Menschen aus Syrien und Afghanistan sowie Rumänien. Im Vergleich zum Landesdurchschnitt liegt, wie erwähnt, die Eigentumsquote bei Wohnungen in der Stadt mit 23,2 Prozent deutlich niedriger, die Mietquote mit 43,6 Prozent deutlich höher (der übrige Anteil betrifft die oben genannten „sonstigen Rechtsformen“, der nach der Statistik der Stadt Salzburg sehr hoch ausfällt). Abbildung 5: Die Zahl der EinwohnerInnen mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit (Auswahl) und Hauptwohnsitz   8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0

2008 2014 2015 2016 2017 2018

 

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene Darstellung.

Staatsangehörigkeit (Auswahl) und Hauptwohnsitz. [hier Abbildung einfügen]

WohnenStadt in derSalzburg, Stadt Salzburg 241 Quelle: Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene Darstellung.

Abbildung6 6:Die Die Zahl EinwohnerInnen mit nicht-österreichischer StaatsAbbildung Zahl derder EinwohnerInnen mit nicht-österreichischer angehörigkeit (Auswahl) und Nebenwohnsitz Staatsangehörigkeit (Auswahl) und Nebenwohnsitz. 4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0

2008 2014 2015 2016 2017 2018

[hier Abbildung einfügen] Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene DarstelQuelle: lung. Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8), eigene

Darstellung.

Die der städtischen Grundstückspreise lässt im Jahresvergleich keinen DieEntwicklung Entwicklung der städtischen Grundstückspreise lässt im Jahresvergleich eindeutigen Trend erkennen und variiert zudem je nach Quelle erkennbar, wie Abbildung 7 keinen eindeutigen Trend erkennen und variiert zudem je nach Quelle er-

kennbar, wie Abbildunggesehen 7 verdeutlicht. gesehen die Preise verdeutlicht. Längerfristig steigen dieLängerfristig Preise jedoch deutlich an:steigen zwischen einem

jedoch deutlich an: zwischen einem Drittel (Stadt Salzburg) und sogar fast 90 205 13 in den letzten sechs bis sieben JahProzent (Hölzl und Hubner Immobilien) ren. Auffallend ist zudem der markante Anstieg der Preisspanne. Während die Unterschiede zwischen dem unteren und oberen Drittel der Kaufpreise bis 2010 vergleichsweise gering ausfielen (sie lagen zwischen 150 und 280 € im Zeitraum 2008–2010), nehmen seitdem lagebedingte Einflüsse an Bedeutung zu. So variierten die Grundstückspreise in den genannten Segmenten 2016 um 740 €, 2018 noch um knapp 560 €.14

13 Hölzl & Hubner Immobilien GmbH (2019). Der Salzburger Immobilienmarkt 2019; Hölzl & Hubner Immobilien GmbH (2018). Der Salzburger Immobilienmarkt 2017. Abgerufen am 23.7.2019 unter https://www.hh-immo.at/presse.html. 14 Hölzl & Hubner, Salzburger Immobilienmarkt 2019, S. 9 (s. Fn. 13).

242 Andreas Abbildung 7 Die Entwicklung der Baugrundstückspreise in Euro je m2. Koch [hier Abbildung einfügen]

Abbildung 7: Die Entwicklung der Baugrundstückspreise in € je m2 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0

Stadt Salzburg Hölzl und Hubner

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8); Hölzl & Hubner,

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8); Hölzl & Salzburger Immobilienmarkt 2019 (s. Fn. 13). Hubner, Salzburger Immobilienmarkt 2019 (s. Fn. 13). Entwurf: A. Koch Entwurf: A. Koch ImVergleich Vergleichzuzuden den Grundstückspreisen weisen Preise EigentumswohIm Grundstückspreisen weisen diedie Preise für für Eigentumswohnungen einen nungen einen eindeutigen Trend nach oben auf. In den letzten zehn Jahren eindeutigen Trend nach oben auf. In den letzten zehn Jahren sind sie für Neubauwohnungen sind sie für Neubauwohnungen um 74 Prozent gestiegen, für Bestandswohum 74% gestiegen, Bestandswohnungen haben sie15sich mehr als verdoppelt. nungen haben siefür sich sogar mehr als verdoppelt. Diesogar Preisentwicklung bei 15 Die Grundstücken und Wohnungen ist der Einkommens- und allgemeinen PreisPreisentwicklung bei Grundstücken und Wohnungen ist der Einkommens- und allgemeinen entwicklung in einer besorgniserregenden Weise enteilt (vgl. Abbildung 8) – Preisentwicklung in einereiner besorgniserregenden Weise enteilt (vgl. Abbildung 8) – und und wirksame Zeichen Trendumkehr sind nicht in Sicht. 2 Die Mietpreise in der Stadt Salzburg wirksame Zeichen einer Trendumkehr sindhaben nicht inzwischen Sicht. 2005 (7,60 € pro m ) und 2015 (9,90 €) im Schnitt aller Mietkategorien (privat und öffentlich geAbbildung 8 30 Entwicklung der Grundstücksund Wohnungspreise Vergleich der fördert) um Prozent zugenommen, allerdings sind die Mieten im auch im Einkommen und Verbraucherpreise (mit 100% für das Jahr 2007). Land um diesen Prozentwert gestiegen.16 Salzburg liegt mit seinen prozentu[hier Abbildung einfügen]damit hinter Innsbruck und Wien. Für eine dealen Mietpreissteigerungen taillierte Darstellung der Mietpreissituation in den Salzburger Stadtteilen liegt eine aktuelle Studie von Team Rauscher Immobilien vor.17 Die hier ermittelten Mietpreise für privat vermietete Wohnungen und Häuser werden dabei nach 15 Ebd., S. 10. 16 SIR/Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (2018). Mietwohnbau in der Stadt Salzburg: Entwicklung und Status, 2017/18, S. 20. Abgerufen am 25.6.2020 unter https://stadt-salz burg.at/pdf/endfassung_2017_2018_gefoerderter_mietwohnbau_beri.pdf. 17 Team Rauscher Immobilien GmbH (2019). Wohnen in der Stadt Salzburg. Marktbericht 2019.

15

Ebd., S. 10.

Preisentwicklung in einer besorgniserregenden Weise enteilt (vgl. Abbildung 8) – und wirksame Zeichen einer Trendumkehr sind nicht in Sicht.

243

Wohnen in der Stadt Salzburg

Abbildung 8 Entwicklung der Grundstücks- und Wohnungspreise im Vergleich der Einkommen Verbraucherpreise (mit 100% fürund das Wohnungspreise Jahr 2007). Abbildung und 8: Entwicklung der Grundstücksim Ver[hier einfügen] gleichAbbildung der Einkommen und

Verbraucherpreise (mit 100 % für das Jahr 2007)

250,0 200,0 Verbraucherpreisindex 150,0

Einkommen Grundstückspreise

100,0

Wohnungspreise Neubau Wohnungspreise Bestand

50,0 0,0

2007

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 8); Hölzl & Quelle: Stadt Salzburg, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise (s. Fn. 8); Hölzl & Hubner, Hubner, Salzburger Immobilienmarkt 2019 und 2017 (s. Fn. 13),2017 eigene Darstellung. Salzburger Immobilienmarkt 2019 und 2017 (s. Fn. 13), eigene Darstellung.

Die Mietpreise in der Stadt Salzburg haben zwischen 2005 (7,60 € pro m2) und 2015 (9,90 €) im Schnitt aller Mietkategorien (privat18und öffentlich gefördert) um 30%sozugenommen, drei Lagewerten unterschieden. Wie bei den Kaufpreisen, fallen auch hier Salzburg liegt allerdings MietenBandbreiten auch im Land um gestiegen. zunächstsind diedie großen umdiesen den Prozentwert mittleren Wert auf 16(vgl. Abbildung

9), seinen der für den gesamtstädtischen Durchschnitt stolzenund 15,60 liegt (der mit prozentualen Mietpreissteigerungen damit hinterbei Innsbruck Wien.€ Für eine durchschnittliche Wert liegt beiin20,30 €, der untere Wert bei 12,00 €). detaillierte Darstellungobere der Mietpreissituation den Salzburger Stadtteilen liegt eine aktuelle

Für unter 10 € kann man nach dieser Studie nirgendwo mehr in Salzburg privat zur Miete wohnen. Zudem gibt es nurmehr wenige Stadtteile wie Elisabeth Vorstadt, Lehen oder Schallmoos, in denen sich Wohnungen zu vergleichsweise moderaten Preisen mieten lassen. Die preislich exponierten Lagen wie Aigen, Gneis, Morzg und Riedenburg beherrschen das Gesamtbild. 15 Ebd., S. 10. 16 Aus den Daten der Studie lassen sich auch wohnungsbezogene KennzahSIR / Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (2018). Mietwohnbau in der Stadt Salzburg: Entwicklung und Status, 2017/18, S. 20.in Abgerufen 24.7.2019 unter https://stadtlen mit demographischen einen am Zusammenhang bringen. Für die Variabsalzburg.at/pdf/endfassung_2017_2018_gefoerderter_mietwohnbau_beri.pdf. len „Monatsmiete“, „Alter“ und „Wohnungsgröße“ zeigt Abbildung 10 für das 206 obere Preissegment und große Wohnungen sowie der älteren Bevölkerung einen interessanten Zusammenhang.

Die hierfür verwendeten Daten stammen von Immoservice Austria. Die Mietpreise basieren auf den aktuellen Angebotsobjekten. 18 Der obere Wert gibt den Durchschnittspreis für eine Toplage mit sehr guter Ausstattung wieder, der mittlere Wert den Durchschnittspreis der meistvermieteten Objekte, und der untere Wert den Durchschnittspreis für eine günstige Lage mit einfacher Ausstattung (Team Rauscher Immobilien, Wohnen, S. 22 [s. Fn. 17]).

Die dasKoch 244preislich exponierten Lagen wie Aigen, Gneis, Morzg und Riedenburg beherrschen Andreas Gesamtbild.

Abbildung 9: Mietpreise (privat) je m2 nach drei Lagekriterien differenziert

Abbildung 9 Mietpreise (privat) je m2 nach drei Lagekriterien differenziert. 25,0 20,0 15,0

Monatsmiete je qm (unterer

Die preislich exponierten Lagen wie Aigen, Gneis, Morzg und Riedenburg 10,0 Wert) beherrschen das Gesamtbild. 5,0

Monatsmiete je qm (mittlerer Wert)

0,0 [hier Abbildung einfügen]

Monatsmiete je qm (oberer Wert)

Aigen Altstadt Elisabeth Vorstadt Gneis Gnigl Itzling Langwied Kasern Lehen Leopoldskron Liefering Maxglan Morzg Mülln Neustadt Nonntal Parsch Riedenburg Salzburg Süd Schallmoos Taxham

Abbildung 9 Mietpreise (privat) je m2 nach drei Lagekriterien differenziert.

Quelle: Team Rauscher Immobilien, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 17.), eigene Darstellung. Aus den Daten der Studie lassen sich auch wohnungsbezogene Kennzahlen mit demographischen in einen Zusammenhang bringen. Für die Variablen „Monatsmiete“, „Alter“ und „Wohnungsgröße“ zeigt Abbildung 10 für Wohnungen das obere Preissegment und große2017 Wohnungen [hier Abbildung einfügen] Quelle: Team Rauscher Immobilien, Gebäude, & Grundstückspreise (s. Fn. 17), eigeneder Darstellung. sowie älteren Bevölkerung einen interessanten Zusammenhang. Quelle: Team Rauscher Immobilien, Gebäude, Wohnungen & Grundstückspreise 2017 (s. Fn. 17.), eigene Darstellung. Abbildung 10 Zusammenhang zwischen hohen Mietpreisen, älterer Bevölkerung Aus den Daten derZusammenhang Studie in lassen auch wohnungsbezogene Kennzahlenälterer mit und großen Wohnungen den sich Stadtteilen von Salzburg. Abbildung 10: zwischen hohen Mietpreisen, Bevölke-

[hier Abbildung rung und großen Wohnungen in den Stadtteilen von Salzburg demographischen ineinfügen] einen Zusammenhang bringen. Für die Variablen „Monatsmiete“, „Alter“

und „Wohnungsgröße“ zeigt Abbildung 10 für das obere Preissegment und große Wohnungen 35,0

sowie der älteren Bevölkerung einen interessanten Zusammenhang. 30,0 Abbildung 10 Zusammenhang zwischen hohen Mietpreisen, älterer Bevölkerung und großen Wohnungen in den Stadtteilen von Salzburg. 25,0 [hier Abbildung einfügen] 20,0 Monatsmiete je qm (oberer Wert)

15,0

Alter ab 65 Jahre

10,0

Wohnungsgröße > 120 qm

5,0

Aigen Altstadt Elisabeth Vorstadt Gneis Gnigl Itzling Langwied Kasern Lehen Leopoldskron Liefering Maxglan Morzg Mülln Neustadt Nonntal Parsch Riedenburg Salzburg Süd Schallmoos Taxham Mittelwert

0,0

Quelle: Team Rauscher Immobilien, Wohnen (s. Fn. 17.), eigene Darstellung. Quelle: Team Rauscher Immobilien, Wohnen (s. Fn. 17), eigene Darstellung.

Deutlich erkennbar ist eine positive Korrelation zwischen den drei Variablen. In den 207 oder Morzg ist auch der Anteil der älteren hochpreisigen Stadtteilen wie Gneis, Leopoldskron Bevölkerung und der großen Wohnungen höher, wohingegen in Gegenden mit einem niedrigen Anteil teurer Wohnungen auch die großen Wohnungen und die ältere Bevölkerung niedriger sind – wie in Elisabeth Vorstadt, Lehen, Neustadt oder Schallmoos gut zu sehen ist. Während in den hochpreisigen Stadtteilen die (zu) großen Wohnungen zu einer wachsenden Kostenbelastung für ältere Menschen mit geringerem Einkommen (Pension) und häufig 207

245

Wohnen in der Stadt Salzburg

Abbildung 11: Zusammenhang zwischen niedrigen Mietpreisen, junger Bevölkerung und kleinen Wohnungen in den Stadtteilen von Salzburg

[hier Abbildung einfügen] 30,0 25,0 20,0 15,0

Monatsmiete je qm (unterer Wert)

10,0

Alter bis 14 Jahre

5,0 Wohnunggröße