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German Pages [315] Year 2022
STEIRISCHES
Jahrbuch für Politik KARL / MANTL / POIER / PRISCHING /
2021
ZIEGERHOFER
Steirisches Jahrbuch für Politik 2021
Herausgegeben von Beatrix Karl Wolfgang Mantl Klaus Poier Manfred Prisching Anita Ziegerhofer
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H. & Co. KG, Zeltgasse 1/Top 6a, A-1080 Wien (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtredaktion: Klaus Poier, Graz Veröffentlicht mit Unterstützung des Vereins für Politik und Zeitgeschichte sowie des Landtagsklubs der Steirischen Volkspartei Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21622-3
Vorwort
Mit der vorliegenden Ausgabe erscheint das Steirische Jahrbuch für Politik, als steirisches Pendant zu dem von Andreas Khol gelenkten Österreichischen Jahrbuch für Politik, zum 22. Mal. Wie schon 2020 war auch das Jahr 2021 besonders von der Corona-Pandemie geprägt. Zu Beginn 2022, als die Beiträge für dieses Jahrbuch verfasst wurden, war die allgemeine Stimmung doch von einem gewissen Optimismus geprägt: Der Trend, sowohl der pandemischen als auch der nationalen und globalen wirtschaftlichen Entwicklung, schien sich deutlich nach oben zu orientieren. Dass die Pandemie sich nochmals derart verschärfen würde, überraschte uns alle; noch weniger rechneten die meisten freilich mit den schrecklichen und unfassbaren kriegerischen Ereignissen in der Ukraine, die enorme Auswirkungen und noch nicht abschätzbare Folgewirkungen mit sich bringen werden. Die Beiträge dieses Jahrbuchs konnten diese Ereignisse selbstverständlich noch nicht reflektieren und berücksichtigen, sondern sind – einem Jahrbuch entsprechend – mit dem Wissensstand und dem Blickwinkel kurz nach Ende des Jahres 2021 verfasst. Leitmotiv des Steirischen Jahrbuchs für Politik – etabliert als Standardwerk der Dokumentation und Analyse des steirischen Zeitgeschehens, eingebettet in den größeren österreichischen, europäischen und internationalen Zusammenhang – und Ziel der Herausgeberinnen und Herausgeber bleibt, eine umfassende und pluralistische Darstellung der wesentlichen Entwicklungen der Politik und Gesellschaft in der Steiermark im vorangegangenen Jahr zu bieten. Dabei soll insbesondere die Kombination von authentischen Darlegungen und zeitnahen, kontextbezogenen Kommentierungen einen vertieften Einblick ermöglichen. Das Steirische Jahrbuch für Politik 2021 ist in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel „Perspektiven der Zeit“ erinnert Kurt Wimmer anlässlich des 50. Todestages von Landeshauptmann Josef Krainer sen. in seinem Beitrag „Der ‚alte Krainer‘ und der unerträgliche Stillstand“, in welch einzigartiger Weise dieser unvergessliche Ausnahmepolitiker als Brückenbauer und Visionär nicht nur die steirische Politik, sondern auch die Bundespolitik geprägt hat. Das zweite Kapitel „Steiermark und Österreich live“ ist – außerhalb der Schwerpunktkapitel – wieder wichtigen Ereignissen bzw. Entwicklungen und ihrer Analyse der österreichischen und steirischen Politik bzw. Gesellschaft im vorangegangenen Jahr gewidmet und behandelt die Kooperation von Bund und Ländern sowie Zukunfts themen der Steiermark, Reformvorhaben einer ökosozialen Politik, Herausforderungen Vorwort
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des öffentlichen Rundfunks in Zeiten der Digitalisierung, die Reform des Verfassungsschutzes, die Aufgaben und Herausforderungen des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, die Landtagswahl in Oberösterreich, die Transparenzdatenbank, Ursachen der erschreckend hohen Zahl an Frauenmorden in Österreich, Palliativ- und Hospizversorgung im Zusammenhang mit dem assistierten Suizid, die Entwicklung der synodalen Kirche, Identitätspolitik, die Adaptierung ökonomischer Modelle und schließlich Pläne zur Renovierung bzw. „Revitalisierung“ der Grazer Burg. In Kapitel drei finden sich Beiträge von Spitzenvertretern der Regierungs- und Oppositionsparteien zur Frage der Stabilität Österreichs sowie eine diesbezügliche journalistische Analyse. Vielfältige Aspekte und Implikationen der nun bereits über zwei Jahre andauernden Corona-Pandemie – insbesondere in den Bereichen Gesellschaft, Politik, Bildung und Recht – werden in Kapitel vier behandelt. Im fünften Kapitel „Grazer Gemeinderatswahl 2021: Wahlkampf, Ergebnis, Zukunft der Stadt“ analysieren die Obfrauen bzw. Obmänner der im Gemeinderat vertretenen Parteien die Ergebnisse der Gemeinderatswahl sowie deren Auswirkungen auf die Landeshauptstadt. Aus wissenschaftlicher Sicht folgt eine wahlstatistische Untersuchung der Funktionsperiode des Altbürgermeisters Siegfried Nagl. Das sechste und letzte Kapitel des vorliegenden Jahrbuchs ist wieder einem „Weltpanorama“ gewidmet. Es finden sich Beiträge zur geopolitischen Analyse des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland, zu Österreichs Auftritt bei der Expo in Dubai, zur Bundestagswahl 2021 in Deutschland, zur Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen und zu den Friedensnobelpreisträgern 2021 sowie eine auch persönliche Analyse des Afghanistan-Kriegs. Im Anhang finden sich ein Bildteil zum Jahr 2021, der im Gegenzug zum Auflassen der Chronik erweitert wurde, sowie eine Zusammenstellung der Wahlergebnisse seit 1945. Großer Dank der Herausgeberinnen und Herausgeber gilt den 45 Autorinnen und Autoren dieses Jahrbuchs für ihre facettenreichen und spannenden Beiträge. Für die organisatorische und redaktionelle Mitarbeit danken wir ganz besonders Gudrun Bergmayer, Herta Miessl, Mag. Manuel P. Neubauer, Mag.a Sandra Saywald-Wedl sowie Johann Trummer. Ebenso gilt unser Dank dem Böhlau Verlag, namentlich Mag.a Eva Buchberger sowie Mag.a Bettina Waringer für die Herstellung. Wir freuen uns, mit der Ausgabe 2021 des Steirischen Jahrbuchs für Politik wieder eine umfassende pluralistische Darstellung und Analyse der politischen und zeithistorischen Entwicklung der Steiermark und der Rahmenbedingungen vorlegen zu dürfen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind stolz auf das qualitativ hochwertige Werk und hoffen wie stets auf entsprechende Resonanz. Klaus Poier, Gesamtredakteur und Mitherausgeber 6
Vorwort
Inhalt Steirisches Jahrbuch für Politik 2021 Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Perspektiven der Zeit Kurt Wimmer Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steiermark und Österreich live Hermann Schützenhöfer Bund und Länder: Zusammenhalt als Auftrag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leonore Gewessler Die ökosoziale Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magnus Brunner Die ökosoziale Agenda der Bundesregierung: Die ökosoziale Steuerreform .. . Roland Weißmann Lust auf Zukunft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Omar Haijawi-Pirchner Neuaufstellung des Verfassungsschutzes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Posch Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carmen Walenta-Bergmann Die oberösterreichische Landtagswahl 2021 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verena Ennemoser/Walther Nauta Transparenzdatenbank in der Praxis einer Stadt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Haller Frauenmorde – zum Erkennen und Verhindern von Femiziden .. . . . . . . . . . . . . Christian Lagger/Désirée Amschl-Strablegg/Gerold Muhri Da sein und helfen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Magdalena Hollwöger Für eine synodale Kirche im Wandel der Zeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Strasser Der Kulturkampf im eigenen Haus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 27 33 41 45 49 53 59 71 75 83 87
Inhalt
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Romana Rauter Erfolgsrezept Glokalisierung? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christopher Drexler In einem Land vor unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wie stabil ist unsere Republik? Karl Nehammer Außergewöhnlich herausfordernde Zeiten – Österreich als stabile Republik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Kogler Krisenfest & zukunftsreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Leichtfried Wirtschaft, Politik, Gesellschaft – wie viel Stabilität finden wir heute noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Kickl Die Grund- und Freiheitsrechte sind in akuter Gefahr .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Meinl-Reisinger Stabilität durch Reformen, nicht durch Stillstand .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg Renner Die atemlose Republik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 107
113 117 121 125
Corona-Pandemie Wolfgang Bogensberger Corona-Pandemie – eine Lektion für Europa und seine Staaten .. . . . . . . . . . . . Juliane Bogner-Strauß Freud und Leid der Gesundheitslandesrätin während der Pandemie .. . . . . . . Doris Kampus Pflege darf keine Privatangelegenheit sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas J. Kungl Herausforderungen bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen Corona .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kilian Posch Generation „Abgesagt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veronika Cortolezis Die Judikatur des VfGH in Zeiten der Corona-Pandemie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Konrath Abgeordnetenstellung und COVID-19 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Manfred Prisching Konspirationen und Obskurantismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Grazer Gemeinderatswahl 2021: Wahlkampf, Ergebnis, Zukunft der Stadt Elke Kahr Wir müssen harte Nüsse knacken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Schwentner Eine Chance für Graz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Hohensinner Über Stimmung und Stimmen: Ein Grazer Wahlabend mit Überraschungseffekt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Schönbacher Die Grazer Gemeinderatswahl 2021 – ein gefährlicher Linksrutsch für Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Ehmann Das Ende der Leuchtturmpolitik oder: Steht Graz als Beispiel für eine Zeitenwende? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Pointner Graz geht besser: Pinke Wahlgewinner als konstruktiv-kritische Oppositionskraft im Grazer Gemeinderat .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz P. Wassermann Die „Ära“ Siegfried Nagl – eine wahlstatistische Vermessung 2003 – 2021 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Welt-Panorama Benedikt C. Harzl Der Westen und Russland: Anmerkungen zur Krise und Schlussfolgerungen für Europa .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beatrix Karl Österreichs Auftritt bei der Weltausstellung in Dubai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Decker Von der ewigen GroKo zur Ampel: Der unerwartete Ausgang der Bundestagswahl 2021 in Deutschland .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Klamert Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Stefan Gady Afghanistan: Das war auch mein Krieg .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Anita Ziegerhofer Maria Ressa und Dmitry A. Muratow: Friedensnobelpreisträger_in 2021 – zum Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Anhang Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fotonachweise .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistik Wahlen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren 2021 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Perspektiven der Zeit
KURT WIMMER
Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand Zum 50. Todestag von Landeshauptmann Josef Krainer sen.*1
Es ist schon mehr als zehn Jahre her, da wurden im TV im Studio Steiermark Besucher von Festivitäten zum Josefi-Tag interviewt. Einige Steirer verkündeten in dieser Sendung auf die Frage nach dem Namensgeber des Feiertags im Brustton der Überzeugung, der Josefi-Tag gehe auf den „alten Krainer“ zurück. Das kann man einerseits als ein Symptom der fortgeschrittenen Säkularisierung der Gesellschaft interpretieren, andererseits aber auch als Tendenz zu einer verblüffend originellen Legendenbildung sehen: Ein Politiker wird mit einem Heiligen verwechselt. Ein Heiliger war Josef Krainer sicher nicht, aber er war, was heute auch nicht zu unterschätzen ist, ein hochgeachteter Politiker mit imponierendem Lebensweg: Der ledige Sohn einer Magd hatte nur Volksschulbildung, war aber lernbegierig und lesefreudig. Sehr früh schon engagierte er sich politisch: Mit 18 Jahren tritt er der Christlichsozialen Partei bei und mit 21 Jahren ist er bereits Landesobmann des Verbandes der christlichen Land- und Forstarbeiter. 12 Jahre später, 1936, hat er im autoritären Ständestaat die Karriere eines Multifunktionärs hinter sich: Josef Krainer ist jetzt 33 Jahre alt und muss sich als Grazer Vizebürgermeister widerwillig den ersten Frack anschaffen. Gleichzeitig „zwangen ihm die Umstände die Verantwortung eines Präsidenten der Arbeiterkammer auf“. So hat das jedenfalls viel später der langjährige Kulturlandesrat Hanns Koren einmal taktvoll formuliert. Dazu eine kurze Erklärung: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei war nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 verboten worden, die Arbeiterkammern wurden zu einer Art Geschäftsstelle der staatlichen Gewerkschaft und waren mit regimetreuen Politikern des autoritären Ständestaates besetzt. Die „Umstände“, auf die Koren hier anspielt, bezogen sich auf einen Skandal, in den die Versicherungsgesellschaft „Phönix“ verwickelt war. „Phönix bezahlte alle“, könnte man in Abwandlung eines Zitates aus dem Ibiza-Video sagen. Dieser Korruptionsfall eines großen Konzerns reichte bis in hohe politische Kreise hinein – und auch die Steiermark war mitbetroffen. Der damalige Landeshauptmann Karl Maria Stepan handelte allerdings rasch, entließ den schwer belasteten Kammerfunktionär Johann Kurt Wimmer
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Müller – und Josef Krainer war plötzlich nicht nur ein Bauernführer, sondern spielte als Präsident der Arbeiterkammer, als Vorsitzender der Verwaltungskommission, wie das damals hieß, nun auch eine Rolle in der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“, die innerhalb der Einheitspartei „Vaterländische Front“ die Aufgabe hatte, mit Vertretern der illegalen Sozialdemokratie ins Gespräch zu kommen. Schaut man sich den damaligen politischen Werdegang Josef Krainers rückblickend an, formt sich, zusammengefasst, folgendes Bild: Der Bauernbub Josef Krainer erlebte 1918 als 15-Jähriger das Ende der einst so mächtigen Habsburgermonarchie. Er machte als junger Politiker die Wirren der Zwischenkriegszeit mit – samt Arbeitslosigkeit, sozialer Not und einer völlig unkontrollierten gefährlichen Militarisierung der Gesellschaft. 1934 kam dann der Bürgerkrieg samt der Zerstörung einer fragilen Demokratie durch den autoritären Ständestaat. Vier Jahre später beseitigte der totalitäre Nationalsozialismus die ständestaatliche Diktatur und nach sieben Jahren ging dieses sogenannte tausendjährige Reich in Blut und Trümmern unter. Die Erfahrungen mit diesen relativ rasch aufeinander folgenden politischen Untergangsszenarien prägten das politische Gen Krainers. Er sah in der Politik einen dynamischen Prozess – und er hatte ein sehr robustes Autoritätsverständnis. Sein ältester Sohn, Josef Krainer jun., bemerkte zu diesem Thema einmal mit hintergründiger Offenheit: „Ich weiß, was Autorität ist. Ich komme aus einer Familie, in der es nie ein Autoritätsproblem gegeben hat.“ „Einer muss anschaffen, sonst geht nichts.“ Diese Überzeugung bestimmte das politische Wirken Josef Krainers. Aber ebenso deutlich war sein Bekenntnis zur Demokratie. Dieses Demokratieverständnis präzisierte er bei einem Vortrag anlässlich der Vollversammlung des Österreichischen Gewerbevereins am 25. November 1960 in Wien: „Demokratie ist eine Sache der inneren Gesinnung. Und wir haben uns diese Gesinnung in langen, bitteren Lehrjahren angeeignet. Wir achten die Meinung des Gegners und berücksichtigen sie, soweit dies ohne Verletzung unserer Grundsätze möglich ist.“ Josef Krainer wusste, was Macht bedeutet und wie man mit ihr umgeht. Für ihn war sie vor allem eine Möglichkeit zum Gestalten. Völlig verständnislos reagierte er, wenn ein Parteifreund diese mühsam errungene Macht durch einen freiwilligen Rücktritt wieder aus der Hand gab: Das war bei Theodor Piffl-Percevic so, den er brieflich, geradezu flehentlich beschwor, nicht auf sein Amt als Unterrichtsminister zu verzichten. Piffl war 1969 zurückgetreten, weil es in der Frage eines neunten Schuljahres für Gymnasien und Realgymnasien zu einem Konflikt zwischen ihm und seiner Partei gekommen war. Und das war bei Josef Klaus so, der 1970 nach einer Wahlniederlage als Bundeskanzler zurücktrat: als erster Bundeskanzler einer Alleinregierung in der Zweiten Republik. 14
Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand
Er nahm „mit Anstand und ohne Schmerz“ Abschied von der Macht, wie er in seinen Erinnerungen schreibt. Und Klaus hat der ÖVP immerhin einen Josef Taus, einen Heinrich Neisser und einen Alois Mock hinterlassen, die er als junge politische Talente in sein Kabinett berufen hatte. Landeshauptmann Krainer jedenfalls fand diesen Verzicht „leichtfertig“. Und tatsächlich machte Josef Klaus damit ja den Weg frei für zwölf Jahre SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky. Josef Krainer schrieb höchst selten Briefe. Deshalb ist seine schon erwähnte schriftliche Botschaft an den Parteifreund Theodor Piffl-Percevic beachtenswert – sowohl was den Charakter Krainers betrifft als auch wegen seiner politischen Haltung. Der sehr persönliche Brief ist die Antwort auf ein Schreiben des Ministers nach seinem Rücktritt. Mit der Antwort ließ sich der Landeshauptmann allerdings ein halbes Jahr Zeit. Er bittet deswegen auch um Vergebung und begründet das mit Resignation, „nicht zuletzt auch wegen des eigenen Unvermögens und der vernachlässigten Kontakte“. Aber dann kommt’s: „Ich habe es als den größten Misserfolg meiner politischen Tätigkeit für die Steiermark empfunden, dass Du als Minister ausgeschieden bist. Nicht nur etwa deshalb, weil die Steiermark nun keinen Herrn im Ministerrat sitzen hat, sondern weil wir weit und bereit einen Mangel an Persönlichkeiten haben, und auf einmal ist wieder einer abgetreten. Damit haben wir um eine große Verantwortung für Österreich weniger…“ Politik war für Josef Krainer gleichbedeutend mit Wandel und Veränderung. Stillstand, oder was er als solchen empfand, war ihm unerträglich. „Frische Impulse und stets neue Einfälle“ forderte er, der Konservative, von einer Politik, die seiner Meinung nach stets mehr sein müsse als Taktik. Aber politische Schachzüge und taktische Raffinesse schätzte er durchaus und wusste sie auch sehr bewusst und sehr geschickt einzusetzen. Krainers frühe Kritik an der Großen Koalition mit ihrem lähmenden Proporz hat ihre Wurzeln in seiner Überzeugung von der Politik als „schöpferische Führung und Neugestaltung, die keiner Generation erspart bleibt“. Nach dem Abschluss des Staatsvertrages 1955 und mit dem Wegfall des äußeren Drucks zur Zusammenarbeit empfand er, in einer seiner manchmal drastischen Formulierungen, die Große Koalition immer mehr als „Krepierhalfter“ für die ÖVP. So gründete er zum Beispiel 1959 gemeinsam mit dem ehemaligen Außenminister Karl Gruber die „Neue Österreichischen Gesellschaft“. Die Ziele waren ein modernes Wirtschaftsprogramm, echter Föderalismus und eine wirksame Verwaltungsreform. Dazu kam, sehr allgemein formuliert, der Wunsch nach einem „neuen politischen Stil“. Die Neue Österreichische Gesellschaft spielte allerdings später kaum mehr eine Rolle. Doch die Idee dahinter, nämlich einen grundsätzlichen Wandel in der Politik Kurt Wimmer
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zu bewirken, diese Idee setzte sich durch: Der Kandidat der „Reformer“, Josef Klaus, gewann bei der Nationalratswahl 1966 mit dem Anspruch auf eine neue „Politik der Sachlichkeit“ die absolute Mehrheit für die ÖVP. Es herrschte damals tatsächlich ein Hunger nach Erneuerung. Josef Klaus und seine von Krainer geführten Reformer hatten sich sehr viel vorgenommen: Rundfunkreform nach dem ersten Volksbegehren in Österreich, dem erfolgreichen Rundfunkvolksbegehren, Assoziierungsvertrag mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Lösung der Südtirol-Frage, Reorganisation der Verstaatlichten Industrie – und dazu noch wirtschaftspolitische und strukturelle Reformen. Unter anderem zum Beispiel „Objektivität bei der Postenbesetzung“. An diesem Beispiel sieht man, wie nachhaltig politische Probleme sein können: Heute sagt man allerdings statt „Objektivität“ „Transparenz“. Krainer war von der Steiermark aus immer ein treibendes Element für Veränderungen in der Bundespolitik. Wenn es ihm möglich war, fuhr er zweimal in der Woche nach Wien. Er drängte auf den Kanzlerwechsel von Julius Raab zu Alfons Gorbach – doch dann auch von Alfons Gorbach zu Josef Klaus, als der Steirer Gorbach die Vorstellungen der Reformer nicht adäquat umsetzte. In seinem Herzen war Gorbach nämlich ein Großkoalitionär geblieben. Eine entscheidende, ja vielleicht die wichtigste Lehre für sein politisches Handeln in der Zweiten Republik zog Josef Krainer aus den Erfahrungen in der Ersten: Die Achtung des politischen Gegners und die Entwicklung eines Sensoriums dafür, was diesem Gegner zumutbar ist. In der Ersten Republik war der politische Gegner zum Feind geworden, der, im wahrsten Sinne des Wortes, bis aufs Blut bekämpft wurde. Aber es gab auch damals immer wieder Ausnahmen. Als Beispiel kann hier Eduard Schwarz gelten, der nach dem Zweiten Weltkrieg von 1953 bis 1975 Präsident der Steirischen Arbeiterkammer war. Schwarz war seit 1927 ein überzeugter Sozialdemokrat und auch Mitglied des Schutzbundes, des militärischen Armes seiner Partei. Nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 wurde er von seinem Arbeitgeber beim Kaltwalzwerk Felten und Guilleaume in Bruck entlassen. Nach neun Monaten Arbeitslosigkeit setzte er sich aufs Rad, fuhr damit von Bruck nach Graz und sprach mit Josef Krainer, der genug Einfluss und Macht hatte, durchzusetzen, dass Eduard Schwarz Arbeits losenunterstützung bekam. Auch Verbindungen mit der politischen Rechten gehen auf persönliche Bekanntschaften in der Zwischenkriegszeit zurück. Als Krainer bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 verhaftet wurde, war der SA -Gruppenführer und spätere Gauleiter Siegfried Uiberreither dabei. Er wusste, wie brutal seine Leute werden konnten und wollte durch seine Präsenz Übergriffe verhindern. Josef Krainer wurde nach einer kurzen Haft wieder entlassen. 16
Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand
Siegfried Uiberreither war Beamter der Gebietskrankenkasse für Süd- und Oststeiermark, die ihr Grazer Büro in der Elisabethinergasse 21 hatte. In diesem Haus war auch die Christliche Gewerkschaft untergebracht. Und Krainers Verband der Christlichen Land- und Forstarbeiter war indes zu einer Sektion dieser Gewerkschaft geworden. Zudem hatte die Familie Krainer in diesem Gebäude auch ihre Wohnung. Die beiden kannten einander also recht gut. Uiberreither wurde im Mai 1938 Gauleiter und ging mit besonderer Brutalität und Grausamkeit gegen den slowenischen Teil der Bevölkerung in der Untersteiermark vor, die er auf Befehl Hitlers „wieder deutsch“ machen sollte. Er ordnete in Graz kurz vor Kriegsende auch noch die Erschießung politischer Gegner an. Die steirische ÖVP war nach 1945 besonders aktiv beim Bemühen, die ehemaligen Nationalsozialisten wieder zu integrieren. 1949 durften die sogenannten „Ehemaligen“ zum ersten Mal wieder wählen. Dabei ging es gesamtösterreichisch um eine Wählerschaft von mehr als einer halben Million. Bei der SPÖ war vor allem der Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) an diesem neuen Wählerreservoir interessiert. Alfons Gorbach, der damalige steirische ÖVP-Chef, war als ehemaliger KZ-Häftling besonders glaubwürdig, wenn er forderte, dass die sogenannten Minderbelasteten möglichst bald in die Gesellschaft integriert werden müssten. Eine Amnestie sollte auch zu einer Entgiftung der politischen Atmosphäre beitragen. Zwei Tage nach der Heimkehr aus dem Konzentrationslager sagte Gorbach zu einem seiner Brüder: „Wenn wir es mit den Nazis so machen, wie die mit uns, dann können wir das Wort ‚christlich‘ streichen.“ Das ist nur ein Beispiel dafür, dass in der Volkspartei nicht nur wahltaktische Überlegungen beim Ringen um die Stimmen der „Ehemaligen“ eine Rolle spielten. Diese Politik wurde auch heftig kritisiert, zum Teil mit Recht. Aber in der Ära des Kalten Krieges stellte sich immer deutlicher heraus, dass die Amerikaner selbst keine Berührungsscheu mit profilierten einstigen Nationalsozialisten zeigten, wenn diese bereit waren, mit ihnen zu kooperieren. Der Fall Uiberreither ist hier typisch. Man glaubte den fanatischen Gauleiter bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Südamerika. Dabei lebte er unter dem Namen Friedrich Schönharting völlig unbehelligt in der Stadt Sindelfingen, in der Nähe von Stuttgart (Baden-Württemberg) und arbeitete dort für eine Kühlgerätefirma. Uiberreither hatte sich bei Kriegsende den Alliierten gestellt und spielte dann noch eine Rolle beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Allerdings nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge… Einer Auslieferung an Jugoslawien entging er durch Flucht. Und da vermuten Historiker nicht zu Unrecht, dass dies nicht ohne Hilfe der Amerikaner möglich gewesen wäre. Josef Krainer arbeitete während des Zweiten Weltkriegs in seiner Ziegelei in Gasselsdorf. Die hatte er mit finanzieller Hilfe seiner Schwiegermutter erworben. Bei Kriegsende entging er einer drohenden Verhaftung durch Flucht und wurde etwas später sofort wieder politisch aktiv: zunächst als Bürgermeister von Gasselsdorf, dann als Landesrat der ÖVP in der neuen Landesregierung und schließlich ab 6. Juli 1948 als Landeshauptmann. Kurt Wimmer
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20 Jahre nach Kriegsende, zum 20. Jahrestag der Proklamation der Zweiten Republik nannte Josef Krainer in einer Rundfunkrede die drei wichtigsten Probleme der Nachkriegszeit: 1. Die Ernährung und Bekleidung der Bevölkerung sowie die Versorgung mit Wohnraum und wichtigen Bedarfsgütern. 2. Zerstörte und demontierte Betriebe wiederaufzubauen, die Rohstoff- und Energie versorgung sicherzustellen. 3. Die geistige und seelische Not zu überwinden, in die viele Menschen durch die Politik der vergangenen Jahre hineingeraten waren. Ein paar Monate später, beim 8. Landesparteitag der ÖVP, präzisierte der Landeshauptmann, was sich in diesen 20 Jahren auf der geistigen und materiellen Großbaustelle Steiermark abgespielt hatte: 165 Volksschulen und 43 Hauptschulen wurden gebaut, dazu kamen Krankenhäuser und Fürsorgeheime – und natürlich Wohnungen. Tausende Wohnungen waren im Krieg zerstört worden. Krainer betonte in diesem Zusammenhang besonders die gesellschaftspolitischen Vorstellungen seiner Partei: „Was hier geschaffen wurde, ist mehr als eine Bilanz des Bauwillens. Es ist das Bekenntnis zum Eigentum, zu Haus und Wohnung und einer Lebensform, die dem Menschen von heute gemäß ist. 20.000 Siedler konnten durch Wohnbaudarlehen gefördert werden. Darüber hinaus wurden durch Bund und Land Milliarden Schillinge in Bewegung gesetzt, um 67.000 Wohnungen, zum beachtlichen Teil auf Eigentumsbau zu finanzieren. Die Hälfte dieses Beitrages wurde aus Landesmitteln aufgebracht. Eine Stadt, so groß wie Graz, wurde damit neu gebaut.“ In der österreichischen Innenpolitik war der steirische Landeshauptmann von Anfang an ein Unruhefaktor – aber mit seiner „regionalen Außenpolitik“ war er um ein friedliches Nebeneinander mit den Nachbarn bemüht. Vor allem mit Jugoslawien. Das kommunistische Jugoslawien hatte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur Kärntner Gebiete gefordert, sondern auch steirische. Das hörte erst auf, als es zum Bruch zwischen Titos Jugoslawien und Moskau kam. Grenzlandförderung, um die Abwanderung zu verhindern, war Josef Krainer ein besonders wichtiges politisches Anliegen. Dazu gehörten auch die jahrelangen, zähen Bemühungen, die Formalitäten beim Grenzübergang zu erleichtern und den Modus für einen kleinen Grenzverkehr zu finden. Im wirtschaftlichen Bereich wurden Kontakte mit den Nachbarn zunächst vor allem über die Grazer Messe gepflegt. Zudem drängte der Landeshauptmann auf eine stärkere Bindung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. „Österreich darf nicht in der Neutralität verhungern“ war seine provokante Losung. Nicht unterschätzt werden sollten auch die kulturellen Initiativen, die vom damaligen Kulturlandesrat Hanns Koren und dessen Nachfolger Kurt Jungwirth ergriffen wurden. Koren gründete zum Beispiel 1963 die Dreiländer-Biennale „Trigon“ als Forum für 18
Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand
die Präsentation zeitgenössischer Kunst aus Österreich, Italien und Jugoslawien. Dazu kamen der „steirische herbst“ und das Forum Stadtpark, die mit ihren experimentierfreudigen Aktivitäten Graz und die Steiermark für viele Jahre zu einem attraktiven Zentrum für Kulturinteressierte machten. Als Josef Klaus am 23. März 1965, damals noch Kanzler einer Regierung der Großen Koalition, mit seinem SPÖ -Außenminister Bruno Kreisky per Zug zu einem Staatsbesuch nach Jugoslawien fuhr, stiegen in Graz der steirische Landeshauptmann Krainer und sein sozialistischer Kärntner Amtskollege, Ferdinand Wedenig, zu. Klaus zeigte sich in seinen Erinnerungen sehr angetan von der „Vorarbeit“, die hier von führenden Bundesländervertretern in der sogenannten regionalen Außenpolitik geleistet worden war. Bei der konstituierenden Sitzung des neugewählten Landtags am 11. April 1961 sagte Josef Krainer Folgendes: „Möge uns der Herrgott seinen Segen geben, damit wir neue Werte schaffen können. Die Geschichte ist ein unbarmherziger Richter. Sorgen wir dafür, dass wir um der Menschen Willen vor ihr bestehen können. Die Heimat ruft uns zur Arbeit, ihr wollen wir dienen, denn sie gehört uns allen.“ Da bezieht sich ein Politiker auf eine höhere Instanz, ein Landespolitiker bekennt sich zur Verantwortung vor der Geschichte, beruft sich auf die Schaffung von Werten – und spricht vom Dienen. Das war auch vor 60 Jahren ein ungewöhnlicher Ton. Aber bei einem Josef Krainer mit seiner urwüchsigen Authentizität klang selbst dieses innige Pathos natürlich. Hanns Koren hat seinem Parteifreund „ein gebildetes Gewissen und eine unverbildete Intelligenz“ bescheinigt. Aber auch politische Gegner haben die Persönlichkeit Josef Krainers geschätzt. Der langjährige sozialistische Landeshauptmann-Stellvertreter Adalbert Sebastian (SPÖ) würdigte zum Beispiel die unverdrossene Gesprächsbereitschaft Krainers: „Er hat immer eine Tür offen gelassen, bei aller Härte der Verhandlungen.“ Und Alexander Götz, FPÖ -Landesobmann und von 1973 bis 1983 Grazer Bürgermeister, erinnerte sich: „Überall dort, wo ich in vielen Jahren persönlichen Kontakt mit ihm hatte…, musste ich feststellen, dass er absolut fair war und jedes gegebene Wort – mündlich oder schriftlich – peinlich genau einhielt…“ Zu Krainers Zeiten spielten professionelle Politikberater noch keine Rolle, auch die Meinungsbefragung als Mittel der Politik entwickelte sich erst allmählich – und den Pressesprecher ersetzte die Parteizeitung, die es damals noch gab. Aber der Landeshauptmann war recht aufgeschlossen gegenüber Neuerungen. Als der damalige Landesparteisekretär Franz Wegart von einer Amerika-Reise mit ungewöhnlichen Ideen für Wahlkämpfe heimkehrte, probierte der Landeshauptmann das eine oder andere bei nächster Gelegenheit mit freudiger Neugier gleich aus: Am Vorabend einer Wahl rief er zum Beispiel von seinem Amtszimmer in der Burg beliebig ausgesuchte, ziemlich verblüffte Wählerinnen und Wähler an. Krainer war von einem anstrengenden Kurt Wimmer
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ahlkampf völlig heiser, meldete sich mit seinem Namen und sagte dann: „Wie Sie W hören, habe ich meine Stimme verloren, bitte geben Sie mir morgen die Ihre.“ „Politik beruht auf Erfahrung, Instinkt und Charakter“ bemerkte Josef Krainer einmal. Und weil er mit dieser Trias selbst recht gut ausgestattet war, wusste er auch Prioritäten zu setzen. In seiner Rede vor dem Landesparteitag am 12. August 1969 sagte er u. a.: „Ein festes Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung ist mir mehr wert als flüchtiger Stimmengewinn.“ Josef Krainer starb am 28. November 1971 bei der Fasanenjagd an einem Herzversagen. Bei seinem Begräbnis säumten 50.000 Menschen den Weg des Leichenzuges. Man müsse die Toten befragen, bis sie hergeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde, forderte der deutsche Dramatiker Heiner Müller einmal. Ich danke Ihnen, dass Sie diesem Versuch so einer Totenbefragung so lange und so aufmerksam gefolgt sind.
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Vortrag gehalten bei der – pandemiebedingt verschobenen – Gedenkveranstaltung des Landes Steiermark anlässlich des 50. Todestages von Landeshauptmann Josef Krainer am 13. Februar 2022 in der Aula der Alten Universität in Graz.
Der „alte“ Krainer und der unerträgliche Stillstand
Steiermark und Österreich live
HERMANN SCHÜTZENHÖFER
Bund und Länder: Zusammenhalt als Auftrag
„Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß“. In seinem Buch „Politik als Beruf“ hat Max Weber diese drei wichtigen Qualitäten benannt, die für einen Politiker entscheidend sind. Seit Beginn der Corona-Pandemie gab es in unserem Land viele Höhen und Tiefen, Herausforderungen und Hürden und vor allem aber auch viele unterschiedliche Meinungen und Kontroversen. Dieses stete Ringen um die hoffentlich bestmögliche Lösung ist freilich die Essenz einer gelebten Demokratie. Leider haben wir dabei nicht selten eine Politik der verbrannten Erde, des Hasses und der Abneigung erlebt, die sich allzu oft in sprachlichen Grenzüberschreitungen gezeigt hat. Bei diesem immer rauer werdenden Ton in der Politik, aber auch in der Gesellschaft, wünsche ich mir ein Rückbesinnen auf diese eingangs erwähnten drei Tugenden. Als ich 2021 den Vorsitz der Landeshauptleutekonferenz übernommen habe, habe ich mir drei Schwerpunkte gesetzt: • Zusammenhalt • Aufbauplan für Österreich • Digitalisierung Die Vorsitzzeit war selbstverständlich von den Auswirkungen der Corona-Pandemie geprägt, dennoch konnten wir gemeinsam in allen drei Schwerpunkten Maßnahmen und Beschlüsse auf den Weg bringen. Die Länder wurden stärker vom Bund eingebunden und die Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigen konnten, zeigen, dass wir zusammen auch größte Hürden meistern und diese wertschätzende Gemeinsamkeit Zukunft hat. Denn Bund und Länder und die Länder untereinander sind stark, wenn sie gemeinsam an einem Strang ziehen. Wir sind Lobbyisten für eine gute Zukunft unserer Republik und unserer Steiermark – die Verantwortung für das Land muss in unserer Arbeit über allem stehen. Ganz besonders in Zeiten einer Pandemie, aber auch über die Krisenzeit hinaus. Deshalb haben wir in der Landeshauptleutekonferenz einstimmige Beschlüsse gefasst, die unsere Wirtschaft in Schwung bringen, Arbeitsplätze schaffen und unser Land nach der Krise stärken.
Hermann Schützenhöfer
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Die Bundesländer sind auch unverzichtbarer Platz für das, was man Heimat nennt. Wir sind nicht nur Österreicherinnen und Österreicher, sondern auch Steirerinnen und Steirer. Umso verfehlter war das im Jahr 2021 in Mode gekommene BundesländerBashing. Vermehrt hatte man das Gefühl, dass diese Form der nicht sehr faktenbasierten Kritik Konjunktur hat, denn es ist immer leicht, den Föderalismus zu kritisieren. Aber dann muss man sich auch die Arbeit machen, den Zentralismus ganz zu Ende zu denken. Daher ist es an dieser Stelle vermutlich besser, nicht von Föderalismus und Zentralismus zu sprechen, sondern von zentral und dezentral. Hier gilt es, auf einer vernünftigen Basis zu diskutieren, wo sind zentrale Beschlüsse und Vorgaben notwendig und richtig und wo sind dezentrale, regionale Entscheidungen besser. Was ist wie besser zu organisieren. Was wird wo besser entschieden. In der Wirtschaft geht in vielen Bereichen der Trend in Richtung dezentral, regional, lokal. Weil man weiß, dass man damit beweglicher ist, näher am Markt, näher an der Kundschaft. Und das gilt auch in der Politik. Wann immer es darauf ankommt, sind wir Länder bereit, Verantwortung zu übernehmen. Auch in schwierigsten Zeiten. Wie zum Beispiel Anfang des Jahres 2021, als wir alle Beschlüsse zum Lockdown mitgetragen haben. Ebenso die Regierungskrise des vergangenen Herbstes hat gezeigt, dass die vielgescholtenen Länder ein wesentlicher Faktor der Stabilität sind. Entscheidend ist aber, dass sie so mitwirken und einbezogen werden, dass sie kein Hemmschuh, sondern eben jene starke Stütze für ein Fundament sind, auf dem wir aufbauen können. Ich stelle mit voller Überzeugung fest: Der Föderalismus ist Bestandteil der österreichischen DNA. Im Jahr 2021 haben wir aber auch eine zunehmende Polarisierung und einen immer rauer werdenden Ton in Politik und Gesellschaft erlebt. In einem vergifteten und aufgeheizten Klima der maßlosen Verbalattacken, der kursierenden Falschinformationen und Teilwahrheiten kann ein konstruktiver Diskurs nur bedingt geführt werden. Niemand ist im Besitz der Wahrheit, es geht um das Ringen der besten Ideen und nicht um einen Wettbewerb der wechselseitigen Diffamierungen. Im Hinblick auf die Pande miebekämpfung haben wir gesehen, dass die Impfung das beste Mittel im Kampf gegen das Virus ist. Wir haben auch gesehen: Erfahrung in der Politik ist gut, aber wenn es um das Wissen geht, weiß die Wissenschaft einfach mehr. Diese Wissenschaft hat uns mit der Schutzimpfung den Türöffner für einen Weg aus der Pandemie in die Hand gelegt. Es liegt aber nach wie vor an uns, als Gesamtgesellschaft, diesen Weg aus der Pandemie auch zu gehen und es zeigt einmal mehr, dass Zusammenhalt und Solidarität im Fokus stehen müssen. Die Gesundheit der Menschen darf nicht zum Spielball einer radikalisierten Minderheit gemacht werden. Was die Regierungsarbeit in der Steiermark betrifft, hat sich die Krisenfestigkeit des steirischen Modells der Zusammenarbeit gezeigt. Der Zusammenhalt – über Parteigrenzen hinweg, Bund und Länder gemeinsam – ist mir besonders wichtig. Ich bin stolz, dass dieser Zusammenhalt in der Steiermark auch in den herausforderndsten Zeiten spürbar 24
Bund und Länder: Zusammenhalt als Auftrag
war und ist. Denn bei allen Hindernissen haben wir bewiesen, dass wir alle gemeinsam mit voller Kraft für die Steiermark arbeiten. Vor zehn Jahren haben wir gemeinsam einen neuen Weg für die Steiermark eingeschlagen: Den Weg der Zusammenarbeit, den Weg der Partnerschaft. Der Steirische Weg war immer der Weg des Gestaltens, auch in der Politik. Fünf Jahre Reformpartnerschaft mit Franz Voves. Danach vier Jahre Zukunftspartnerschaft mit seinem Nachfolger und nun die Koalition Weiß-Grün mit Anton Lang. Unter dem Motto „Steiermark gemeinsam gestalten“ haben wir mit der AGENDA WEISS-GRÜN ein umfangreiches Regierungsprogramm präsentiert und im Mai 2021 die „AGENDA WEISS-GRÜN 21 plus“ als Zusatz zu unserem Regierungsprogramm erarbeitet. Bis Ende des Jahres 2021 haben wir die Maßnahmen der „AGENDA 21 plus“ bereits zu 97 Prozent umgesetzt. Wir werden weiterhin konsequent unser Arbeitsprogramm abarbeiten – denn unsere „Agenda Nummer 1“ ist und bleibt die Steiermark. Derzeit stehen Schutz und Hilfe im Vordergrund. Als nächstes geht es um Aufschwung und Vorsprung. Immer getragen von Zusammenarbeit und Zusammenhalt. Die wichtigen Zukunftsthemen für 2022 sind klar: • Arbeitsmarkt und Fachkräfte • Pflege • Digitalisierung • Kinderbildung und -betreuung • Klimaschutz In der Steiermark haben wir in den letzten Jahren vieles geschafft. Diesen Erfolgsweg wollen wir MITEINANDER auch im Jahr 2022 fortsetzen. Wir sind auf einem guten Weg, aber haben auch noch viel vor. 2021 war für die Länder, aber insbesondere auch für den Bund ein Jahr der politischen Umbrüche. Heute haben wir mit Karl Nehammer einen neuen Parteiobmann und Bundeskanzler, der mit seiner politischen Erfahrung der Richtige ist, um unser Land in eine gute Zukunft zu führen. Er macht seine Sache bisher sehr gut und wirkt über alle Parteigrenzen und Landesgrenzen hinweg als Verbinder, gerade das brauchen wir in dieser herausfordernden Zeit, in der scheinbar unüberbrückbare Spannungen entstanden sind. Heute begreifen immer mehr, wie wichtig das ist: Politik, die etwas will und für etwas steht. Spüren, was Menschen bewegt. Gemeinsam tun, was bewegt werden muss. Wir brauchen jetzt im Bund und in den Ländern Besonnenheit, einen sorgsamen Umgang mit der Sprache sowie mehr Bemühen um Ehrlichkeit. Es geht jetzt auch um die Berechenbarkeit zur Wiederherstellung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, um geduldiges Zuhören, ehrlichen Dialog und Brückenbauen und darum, scheinbar unversöhnliche Standpunkte zu überwinden und zu überbrücken, wie sie auch die Debatte um die Impfpflicht mit sich gebracht hat. Zugleich gilt es, mit Entschiedenheit für die grundlegenden Werte und Errungenschaften unserer Demokratie einzutreten. Hermann Schützenhöfer
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Niemals darf es falsche Toleranz gegenüber militanten Intoleranten geben. Uns muss klar sein, welches Bild von Österreich wir haben wollen, welche Ziele und Positionierungen erreicht werden sollen. Im Wissen, dass wir nicht mit einem Schlag die Welt verändern werden, wollen wir zumindest alles daran setzen, um unser Land in die bestmögliche Zukunft zu lenken. Denn wir haben gesehen, was wir erreichen können, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen – Bund UND Länder gemeinsam. Wenn wir eine Politik leben, die das Gespräch sucht und pflegt. Eine Politik, die nicht nur die Auseinandersetzungen sucht, sondern auch das Miteinanderreden kennt. Eine Politik, die einen sorgsamen Umgang mit der Sprache pflegt. Eine Politik mit Selbstkritik und weniger Selbstgerechtigkeit. Eine Politik, die für die grundlegenden Werte unserer Demokratie eintritt. Denn in jeglichem Tun muss die Verantwortung für das Land über allem stehen. Deswegen wünsche ich mir auf allen Ebenen der Verantwortungsträger ein Rückbesinnen auf die drei Qualitäten, die im allerersten Satz erwähnt sind. Damit wir in Zukunft eine Politik leben, in der der Zusammenhalt unser Auftrag ist.
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Bund und Länder: Zusammenhalt als Auftrag
LEONORE GEWESSLER
Die ökosoziale Wende
Der Kampf gegen die Klimakrise ist die größte Herausforderung unserer Zeit – es ist unser historischer Auftrag, der Erdüberhitzung Einhalt zu gebieten. Genau daran werden uns zukünftige Generationen messen. Denn es liegt an uns, ob wir mit Mut diese Herausforderung bewältigen, oder durch falsche Entscheidungen unser aller Lebensgrundlagen aufs Spiel setzen. Mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2040 hat sich die österreichische Bundesregierung ein auch im internationalen Vergleich ambitioniertes Ziel gesetzt. Der Transformationsprozess in Richtung Klimaneutralität erfordert rasche Weichenstellungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, um Technologien, Prozesse, Infrastrukturen, aber auch unser Verhalten und unsere Lebensgewohnheiten zukunftsfähig zu gestalten.
Die ökosoziale Dimension Das Erreichen von Klimaneutralität ist jedoch nicht nur eine weitreichende Umwelt- und Klimaschutzmaßnahme. Die soziale und damit ökosoziale Perspektive ist dabei mindestens ebenso entscheidend. Wir erleben gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, dass es insbesondere unterprivilegierte Gruppen sind, die vermehrt unter den Folgen leiden. Das gilt umso mehr für die Klimakrise. Wer etwa in Gebäuden mit geringer baulicher Qualität und niedrigem Wärmeschutz lebt, leidet noch stärker unter Wetterextremen – die Hitze im Sommer wird schon derzeit zunehmend zur Gesundheitsgefahr für viele Menschen. Krisen verstärken Ungleichheitsmuster. Die Einhaltung der Klimaziele ist daher auch aus sozialen Gründen von hoher Priorität. Zugleich tragen Menschen mit niedrigem Einkommen in durchschnittlich geringerem Ausmaß zur Klimaveränderung bei. Sie sind weniger mit schweren, emissionsinten siven Autos oder dem Flugzeug unterwegs, sie konsumieren weniger klimaschädliche Produkte und wohnen meist auf geringerer Fläche. Die sozialen Folgen, aber auch die Kosten der Klimaveränderung tragen wir alle; untere Einkommensgruppen jedoch verhältnismäßig mehr. Daher ist der Kampf gegen die Klimakrise auch ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit – und letztlich zum Erhalt von Freiheit und sozialem Frieden. Leonore Gewessler
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Die Architektur der ökosozialen Wende Ziel ist es, auf dem Weg zur Klimaneutralität niemanden zurückzulassen. Es geht darum, die Voraussetzungen zu schaffen, für alle ein klimafreundliches Leben möglich und leistbar zu machen. Zugleich dürfen wir dabei keine Zeit mehr verlieren. In der Strategie der österreichischen Bundesregierung setzen wir nicht auf eine einzelne Maßnahme, sondern einen breiten Mix, der auf mehrere Säulen gebaut ist und so die ökologische sowie die soziale Ebene verbindet: • Umsteuern: Mit der ökosozialen Steuerreform wird Klimaschutz im Steuersystem verankert. Klimaschädliches CO2 erhält einen Preis, zugleich wird umweltfreundliches Verhalten begünstigt. • Den Umstieg erleichtern: Wir investieren mehr Geld als je zuvor in den Klimaschutz. Damit sollen die Menschen beim Umstieg auf klimafreundliche Alternativen unterstützt werden. • Einkommensschwache Haushalte spezifisch unterstützen: Durch einen neuen Förderschwerpunkt, etwa beim Heizkesseltausch, sollen alle eine Chance auf klimafreundliche Alternativen haben. Bis zu 100 Prozent der Kosten werden gefördert. • Die Weichen in Richtung Zukunft stellen: Ob die 18 Milliarden in den Bahnausbau (Rahmenplan bis 2027) oder das Erneuerbaren Ausbau Gesetz – die Mobilitäts- und Energieinfrastruktur folgt dem Ziel der Klimaneutralität. • Attraktive, leistbare Angebote schaffen: Mit dem Klimaticket wurde eine kleine Revolution im öffentlichen Verkehr geschaffen, damit mehr Menschen günstigen Zugang zu klimafreundlicher Mobilität haben. • Einen gerechten Übergang gestalten: Von der Umweltstiftung zur Schaffung neuer Klimajobs bis zu Qualifikationsangeboten bei der Energiewende – im Rahmen von „Just Transition“ sollen die kommenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft antizipiert werden und gerade in Problembereichen der Transformation Maßnahmen gesetzt und Angebote geschaffen werden. Häufig wird in der öffentlichen Diskussion dann eine einzelne Maßnahme in den Vordergrund gerückt. Um die notwendige Entwicklung begreifbar zu machen, müssen wir den Blick jedoch immer auch auf die gemeinsame Wirkung der einzelnen Elemente und ihre Vernetzung richten und uns vor Augen halten, dass die gesamte Wirkung über die jeweilige Einzelmaßnahme hinausgeht.
„Weniger Dreck in der Luft – mehr Geld im Börsel“ Die ökosoziale Steuerreform ist ein zentraler Hebel, um die Transformation in Richtung Klimaneutralität voranzutreiben. Sie ist nicht nur ein kleines Rädchen, eine Schraube, 28
Die ökosoziale Wende
an der gedreht wird, sondern mit der zu Jahresbeginn im Parlament beschlossenen Reform wurde ein großes, neues Rad in die Maschine des Steuersystems eingebaut. Dies erfolgt einerseits mit dem Einstieg in die CO2-Bepreisung, die mit 1. Juli 2022 beginnt und jene Bereiche umfasst, die nicht Teil des bestehenden EU-Emissionshandels sind. Und andererseits mit der Einführung eines regionalen Klimabonus, der die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an die Haushalte weitergibt. Das Prinzip dahinter: Je weniger CO2 verbraucht wird, desto mehr bleibt vom Klimabonus übrig. So zahlt sich Klimaschutz auch finanziell aus. Zu Beginn, im zweiten Halbjahr 2022, kostet die Tonne CO2 30 Euro. Ab 1. Jänner 2023 steigt der Preis auf 35 Euro an, 2024 werden es 45 Euro sein und 2025 55 Euro. Um auf die schwankenden Energiepreise einzugehen, ist auch eine flexible Komponente eingebaut. Steigen die fossilen Energiepreise im Vergleich zum Vorjahr stark (12,5 %), wird der geplante Anstieg des CO2-Preis für ein Jahr um 50 Prozent gedämpft. Sinken die fossilen Energiepreise um 12,5 Prozent, wird der Anstieg für ein Jahr um 50 Prozent stärker erhöht.
Der regionale Klimabonus als Ausgleich In dieser Form in Europa einzigartig ist der regionale Klimabonus. Er besteht aus zwei Elementen: aus dem Sockelbetrag, der für das Jahr 2022 100 Euro beträgt, und aus dem zusätzlichen Regionalausgleich, je nach Wohnort. Das Prinzip ist einfach: Je weiter die Alltagswege sind und je weniger öffentlicher Verkehr in der jeweiligen Gemeinde angeboten wird, desto höher ist der Ausgleich. Berücksichtigt ist dabei, dass nicht jede und jeder sofort umsteigen kann, sondern unterschiedliche Voraussetzungen vorherrschen. In Gemeinden mit wenig öffentlichem Verkehrsangebot ist der Weg zur Schule oder zum Arbeitsplatz meist länger, dann ist der Ausgleich am höchsten. In Stufe 1 gibt es somit im Jahr 2022 den Sockelbetrag von 100 Euro für Erwachsene als jährlicher Klimabonus; in Stufe 2 sind es insgesamt 133 Euro, in Stufe 3 insgesamt 167 Euro und in Stufe 4 sind es 200 Euro. Graz etwa ist in Stufe 2 mit 133 Euro. Hartberg in Stufe 3 mit 167 Euro. Und Bad Waltersdorf in Stufe 4 mit 200 Euro pro Person. Allein in die Steiermark werden über den Klimabonus im Jahr 2022 knapp 200 Millionen Euro an die Haushalte zurückfließen. Wie auch eine Analyse des Fiskalrats sowie des Bundesdienstes des Parlaments zeigen, werden durch das Prinzip von CO2-Bepreisung und Klimabonus insbesondere niedrige Einkommen entlastet. Daher ist die CO2-Bepreisung in Kombination mit dem Klimabonus auch eine Maßnahme der ökologischen Steuergerechtigkeit. Es wurden zudem weitere Maßnahmen zur Entlastung der Bürger:innen vorgesehen. Der Budgetdienst des Parlaments hat beide Pakete der Ökosozialen Steuerreform (2020 und 2021/2022) analysiert und das Entlastungsvolumen der Privathaushalte mit 4,6 Milliarden Euro im Jahr 2022 und 6,3 Milliarden Euro im Jahr 2025 beziffert. Leonore Gewessler
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Den Umstieg auf klimafreundliche Alternativen erleichtern Mit deutlich höheren Fördermitteln werden die Bürger:innen beim Umstieg auf klima freundliche Alternativen unterstützt: von der klimafreundlichen Heizung über den günstigen, immer besser ausgebauten öffentlichen Verkehr, Energiesparmaßnahmen in Betrieben und Gebäuden bis hin zum Umstieg aufs Elektroauto. Noch nie standen dank der zahlreichen Klimamilliarden so viele Fördermittel und Anreize zur Verfügung wie derzeit. Um etwa allen Menschen in Österreich das saubere Heizen und die thermisch-energetische Sanierung von Gebäuden zu ermöglichen, hat das Klimaschutzministerium ein Rekordbudget von 1,9 Milliarden Euro an Förderungen bis 2025 gesichert. Für das Jahr 2022 sind mehr als eine halbe Milliarde Euro (590 Millionen) budgetiert. Ganz wichtig dabei: eine Sonderschiene für einkommensschwache Haushalte, die bis zu 100 Prozent der Investitionskosten ersetzt. Damit eben alle die Möglichkeit erhalten, in den kommenden Jahren aus fossilen Energien auszusteigen. Aber auch Maßnahmen wie die sehr erfolgreiche Öko-Investitionsprämie, die knapp 90.000 betriebliche Projekte mit einem Zuschussvolumen von rund 2,7 Milliarden Euro unterstützt, sind hier ein wichtiger Baustein, um die Ökologisierung auf allen Ebenen voranzutreiben.
Fossil getriebene Inflation – sozialer Ausgleich Auch Österreich leidet seit der zweiten Jahreshälfte 2021 unter gestiegenen Preisen. In Österreich sind die Verbraucherpreise im vergangenen Jahr durchschnittlich um 2,8 Prozent gestiegen. Preistreiber sind insbesondere fossile Energien, vor allem ausgelöst durch die stark gestiegenen Gaspreise. Ohne die stark gestiegenen Energie- und Treibstoffkosten wäre die Jahresinflation in Österreich bei 1,8 Prozent gelegen. Auch deshalb ist es wichtig, den Weg raus aus fossilen Energien zu beschleunigen. Wir verringern damit die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten und setzen auf heimische Wertschöpfung. Kurzfristig sind jedoch auch im Sinne der Armutsvermeidung Ausgleichsmaßnahmen wichtig. Die österreichische Bundesregierung hat rasch mehrere Maßnahmen auf den Weg gebracht, unter anderem den Entfall von Ökostrompauschale und Ökostrom-Förderbeitrag im Jahr 2022, was einem durchschnittlichen Haushalt 100 Euro Ersparnis bringt. Der Nationalrat hat einen Teuerungsausgleich für Bezieher:innen von Sozialhilfe, Mindestsicherung oder Studienbeihilfe beschlossen, der 300 Euro pro Kopf bringen wird. Etwa 750.000 Menschen erhalten den Teuerungsausgleich. Die Mittel für die Energiearmutsbekämpfung und entsprechende Projekte wurden deutlich erhöht, auch indem der Austausch von Weißware mitfinanziert wird. Neben 30
Die ökosoziale Wende
weiteren Ausgleichsmaßnahmen für alle Haushalte wurde auch mit den Energieversorgern ein Maßnahmenpaket vereinbart, um etwa Abschaltungen in der kalten Jahreszeit zu vermeiden.
Klimaschutz bringt allen etwas Wir haben mit der Bekämpfung der Klimakrise einen historischen Auftrag zu erfüllen. Nur in der Verknüpfung der ökologischen mit der sozialen Dimension werden wir erfolgreich sein und den dafür notwendigen System- und Strukturwandel schaffen: auf internationaler, österreichischer und auch auf regionaler und lokaler Ebene. Das Leitmotiv dahinter ist ganz klar: eine gute und lebenswerte Zukunft für uns alle und auch unsere Kinder und Enkelkinder zu ermöglichen. Klimaschutz bringt allen etwas. Er bringt der Welt Schutz vor den dramatischen Auswirkungen der Klimaveränderung, den Menschen gesündere Luft zum Atmen, rettet damit zahlreiche Leben, erhält unsere Natur, schafft der Wirtschaft neue Chancen und er vermeidet gigantische Kosten für künftige Generationen. Klimaschutz macht unsere Welt gerechter und lebenswerter.
Leonore Gewessler
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MAGNUS BRUNNER
Die ökosoziale Agenda der Bundesregierung: Die ökosoziale Steuerreform
„Österreich ist ein wunderbares Land. Geprägt von Natur und Landschaft in Vielfalt und Schönheit“, heißt es zu Beginn des Regierungsprogramms 2020 – 2024 „Aus Verantwortung für Österreich“. Um diese Natur und Landschaft bestmöglich zu bewahren, stellt der Klimaschutz eines der zentralen Ziele der Bundesregierung dar. Dabei bekennt sich die Bundesregierung zur Erfüllung der Ziele des Pariser Klimaübereinkommens und möchte Österreich zum Vorreiter für Klimaschutz in Europa machen. Ein zentraler Baustein ist die ökosoziale Steuerreform. Wir setzen damit die größte Transformation des Steuersystems um, die es jemals gab. Mit der ökosozialen Steuerreform entlasten wir arbeitende Menschen und Familien, stärken den Standort und setzen Anreize für umweltfreundliches Handeln. Während andere Länder Steuern erhöhen, senken wir die Abgaben. In Summe beträgt die Entlastung der Österreicherinnen und Österreicher und der heimischen Wirtschaft bis 2025 rund 18 Milliarden Euro. Der neue deutsche Finanzminister Lindner hat 30 Milliarden Entlastung bis 2025 angekündigt, wir entlasten um das sechsfache im Vergleich zur deutschen Regierung. Wir sehen zudem keinen Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie, sondern eine Ergänzung. Die durch die CO 2-Bepreisung entstehenden Mehrkosten für die Bürger werden durch den Klimabonus ausgeglichen. Um den Wohlstand in Österreich zu erhalten und weitere Arbeitsplätze zu schaffen, setzen wir bewusste Maßnahmen wie die Senkung der Körperschaftsteuer. Damit kurbeln wir die Wirtschaft an und heben uns im europäischen Wettbewerb ab. Laut EcoAustria und dem WIFO steigt das BIP -Wachstum in den Jahren 2022 und 2023 durch die ökosoziale Steuerreform um bis zu rund 1 Prozent an. Die Beschäftigung erhöht sich um bis zu rund 30.000 Personen. Mit der ökosozialen Steuerreform gelingt somit die Brücke zwischen Wirtschaft und Klimaschutz. Und wir folgen dem Ansatz „Anreize statt Verbote“: Die ökosoziale Steuerreform setzt Anreize für umweltfreundliches Verhalten und nachhaltige Investitionen. Magnus Brunner
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In der Folge möchte ich zuerst die klimapolitische Ausgangslage in Österreich skizzieren und anschließend die wesentlichen Aspekte der Reform beschreiben sowie auf mögliche Auswirkungen eingehen und einen kurzen Ausblick wagen.
Klimapolitisches Umfeld Österreich möchte bis 2040 klimaneutral werden. Im Jahr 2019 lagen die Treibhausgasemissionen in Österreich (CO2e) bei 79,8 Millionen Tonnen (Mt). Davon wurden 29,6 Mt CO 2e von Großanlagen im Industrie- und Energiebereich emittiert. Diese Emissionen sind Teil des Europäischen Emissionshandels (EU-EHS), wodurch eine gesamteuropä ische Zielerreichung dieser Sektoren sichergestellt werden soll. Für die verbleibenden 50,2 Mt CO2e sind hingegen Reduktionsziele auf nationaler Ebene zu erfüllen. Hierzu zählen Emissionen aus den Bereichen Verkehr (24,0 Mt CO2e), Gebäude (8,1 Mt CO2e), Landwirtschaft (8,1 Mt CO 2e), Energie und Industrie außerhalb des EU -EHS (5,4 Mt CO 2e), Abfallwirtschaft (2,3 Mt CO 2e) und fluorierte Gase (2,2 Mt CO 2e). Im Rahmen der Effort-Sharing-Verordnung ist Österreich verpflichtet, diese Emissionen deutlich zu reduzieren. Die EU erhöhte zuletzt mit dem „EU Green Deal“ das Ziel für die Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2030 auf mindestens 55 Prozent (zuvor -40 %) im Vergleich zu 1990. Dadurch werden die Einsparanforderungen an die Mitgliedstaaten noch herausfordernder. Zur effizienten Umsetzung dieses Vorhabens plant die EU ab dem Jahr 2026 die Einführung eines weiteren Emissionshandels für die – in nationalstaatlicher Verantwortung liegenden – Bereiche Gebäude und Verkehr. In Österreich sind aber im Straßenverkehr die Treibhausgasemissionen in den vergangenen Jahren sogar weiter gestiegen statt zurückgegangen. Im Bereich Gebäude wurden hingegen deutliche Einsparungen erzielt, aber auch hier sind noch weitere Anstrengungen nötig, um die bestehenden Einsparpotenziale zu nutzen und die erhöhten Ziele zu erreichen.
Nationaler Emissionszertifikatehandel Ein Kernstück der ökosozialen Steuerreform ist der nationale Emissionszertifikatehandel. Die Bundesregierung führt erstmals eine CO2-Bepreisung ein, die einen kosteneffektiven Beitrag zur Einhaltung der unions- und völkerrechtlichen Zielvorgaben im Klimaschutz liefern soll. Um diese Form der CO2-Bepreisung möglichst rasch und verwaltungsarm zu implementieren, erfolgt die Einführung in drei Phasen. In der im Juli 2022 beginnenden Einführungsphase kommt es zu einer vereinfachten Form des Zertifikatehandels mit fixen Preisen, der über bewährte Kanäle der Finanzverwaltung abgewickelt wird. In der im Jänner 2024 folgenden Übergangsphase werden die organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen für einen Emissionshandel 34
Die ökosoziale Agenda der Bundesregierung: Die ökosoziale Steuerreform
geschaffen, während weiterhin fixe CO2-Preise gelten. Die fixen Preise in den ersten beiden Phasen sollen es Bevölkerung und Handelsteilnehmern ermöglichen, sich auf das neue System einzustellen. Der Preis steigt dabei schrittweise von 30 Euro im Jahr 2022 auf 55 Euro je Tonne CO2 im Jahr 2025. Zum Jahr 2026 ist der Übergang in den freien Handel angedacht. Dann soll entweder ein freier Handel mit Emissionszertifikaten auf nationaler Ebene beginnen oder eine Überleitung in ein allfälliges Europä isches Handelssystem durchgeführt werden. Umfasst von diesem System sollen energetische Treibhausgasemissionen außerhalb des EU-Emissionshandelssystems (EU-EHS) sein, die durch die Nutzung von Kohle, Erdgas und Erdölprodukten entstehen. Hierdurch werden besonders emissionsarme Heiz- und Antriebsformen sowie neue emissionsmindernde Technologien noch stärker attraktiviert. Der Kauf eines Emissionszertifikats berechtigt den Handelsteilnehmer, bestimmte Stoffe (Mineralöle, Kraft- und Heizstoffe, Erdgas und Kohle) in Verkehr zu bringen und damit indirekt Treibhausgasemissionen zu verursachen. Der Handel findet im Sinne einer effizienten Umsetzung auf Ebene der Inverkehrbringer statt, da die Emittenten der betroffenen Energieträger potentiell jede Privatperson und jedes Unternehmen sind. Durch die Weitergabe der Kosten aus dem Emissionszertifikatehandel an die Verbraucher soll eine entsprechende Lenkungswirkung erreicht werden. Um die unterschiedlichen bestehenden und neuen organisatorischen und technischen Prozesse zusammenführen zu können und für alle Betroffenen einen One-Stop-Shop zu etablieren, wird der Emissionszertifikatehandel von einer neu zu schaffenden Behörde innerhalb der Finanzverwaltung administriert. So soll dieser bedeutende Schritt hin zur Ökologisierung des Abgabensystems bestmöglich umgesetzt werden.
Kompensationsmechanismen Ein großes Risiko bei einer Bepreisung von Treibhausgasemissionen besteht in einer potentiellen Verlagerung der Emissionen ins Ausland (Carbon Leakage), wo Emissionen nicht oder nicht im gleichen Maße belastet werden. Firmen können sich mit einer Verlagerung die durch die CO2-Bepreisung entstehenden Kosten ersparen. Kommt es zu einer solchen Verlagerung, geht der beabsichtigte Lenkungseffekt hin zu Treibhausgasreduktionen verloren und kann sich sogar umkehren, falls im Zielland der Verlagerung beispielsweise niedrigere Umweltstandards gelten als im Inland. Zudem geht dadurch die Wirtschaftskraft der abgewanderten Unternehmen, Privatpersonen oder Produktionsanlagen verloren. Aus diesen Gründen gilt es, derartige Effekte bei der Einführung einer CO2-Bepreisung genau zu berücksichtigen und unbedingt zu vermeiden. Besonders relevant ist das für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Zudem sollen bei der Reform auch die Unternehmen entlastet werden, deren unternehmerische Tätigkeit durch die CO2-Bepreisung erheblich erschwert wird. Deshalb sind Magnus Brunner
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Kompensationsmaßnahmen im Bereich Land- und Forstwirtschaft vorgesehen – auch, um direkte Effekte auf die Nahrungsmittelpreise zu vermeiden – und Regelungen für Carbon Leakage und Härtefälle sollen der Wettbewerbssituation und der besonderen Betroffenheit von Unternehmen Rechnung tragen. Um die Wirksamkeit der nationalen CO 2-Bepreisung dabei bestmöglich zu bewahren, gelten für entlastete Unternehmen bestimmte Regeln. Land- und Forstwirte werden pauschal und somit unabhängig vom realen Verbrauch entlastet. Unternehmen, die unter die Carbon Leakage-Regelung fallen, sind verpflichtet, einen Großteil ihrer Kompensationen in Klimaschutzmaßnahmen zu investieren. Firmen mit Entlastungen aus der Härtefallregelung müssen ein Energieaudit durchführen und dann die erhaltenen Entlastungen in Klimaschutzmaßnahmen investieren.
Der regionale Klimabonus Klar ist: Das Ziel ist nicht, mit der CO2-Bepreisung zusätzliche Einnahmen zu generieren, sondern aufkommensneutral die Kostenwahrheit bei CO2-Emissionen zu verbessern. Das eingenommene Geld soll also an die Bevölkerung zurückgegeben werden. Denn Mobilität und Heizen sind Grundbedürfnisse, die durch die CO2-Bepreisung nicht gefährdet werden sollen. Zwei Aspekte spielen daher bei der Rückvergütung eine entscheidende Rolle: Die Lenkungswirkung soll erhalten bleiben und der Einfluss der CO2-Bepreisung auf die persönlichen Lebensumstände berücksichtigt werden. Das Instrument hierfür ist der regionale Klimabonus: Jede Person erhält anfänglich zwischen 100 Euro und 200 Euro jährlich, wobei für Kinder ein Betrag in Höhe von 50 Prozent vorgesehen ist. Die Abstufung orientiert sich am Wohnort und sieht je nach regionaler Struktur und öffentlicher Verkehrsanbindung abgestufte Beträge vor. Je mehr die Menschen auf den privaten Pkw angewiesen sind, desto höher ist auch der entsprechende Bonus. Durch die pauschale, vom Verbrauch unabhängige Rückvergütung pro Kopf bleibt der Lenkungseffekt erhalten, da sich die Rückvergütung so nicht auf das relative Preisverhältnis zwischen emissionsarmen und emissionsintensiven Produkten auswirkt. Jede und jeder Betroffene hat so einen Anreiz, im Rahmen seiner Möglichkeiten auf emissionsärmere Alternativen zurückzugreifen. Der regionale Klimabonus soll in den kommenden Jahren bei steigenden Einnahmen aus der CO2-Bepreisung ansteigen und so klimafreundliches Verhalten belohnen und dennoch auch unterschiedliche Anpassungsmöglichkeiten beachten.
Entlastung von Arbeitnehmern, Familien und Pensionisten Die Entlastung von Arbeitnehmern und Pensionisten macht den Großteil der Entlastungsmaßnahmen der ökosozialen Steuerreform aus. Wir entlasten die arbeitenden 36
Die ökosoziale Agenda der Bundesregierung: Die ökosoziale Steuerreform
Menschen, insbesondere kleine und mittlere Einkommen, Familien sowie Pensionisten nachhaltig. Mit dem Ziel einer spürbaren Entlastung arbeitender Menschen soll mit 1. Juli 2022 zuerst die zweite Tarifstufe von 35 auf 30 Prozent gesenkt werden. Bereits ab 1. Jänner 2022 soll zur Umsetzung dieser Maßnahme (für das gesamte Jahr 2022) ein Mischsteuersatz von 32,5 Prozent zur Anwendung kommen. Ab 1. Juli 2023 soll die dritte Tarifstufe von 42 auf 40 Prozent gesenkt werden. Auch im Jahr 2023 soll bereits eine Mischsteuersatz von 41 Prozent zur Anwendung kommen. Zur weiteren finanziellen Entlastung von Personen mit niedrigeren Einkommen, soll der Zuschlag zum Verkehrsabsetzbetrag von 400 auf 650 Euro angehoben werden. Für Pensionisten sollen sowohl der Pensionistenabsetzbetrag als auch der erhöhte Pensionistenabsetzbetrag angehoben werden und künftig 825 Euro bzw. 1.214 Euro betragen (bisher 600 Euro bzw. 964 Euro). Komplementär dazu werden für Nicht-Steuerzahler die maximalen Beträge für SV-Rückerstattung und SV-Bonus erhöht. Um Familien besonders stark zu entlasten, soll der Familienbonus Plus ab 1. Juli 2022 von 1.500 auf 2.000 Euro pro Kind (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) und Jahr erhöht werden. Für Kinder ab dem 18. Geburtstag soll der Familienbonus Plus von derzeit 500 auf 650 Euro pro Jahr erhöht werden. Für geringverdienende Bürger mit Kindern soll der Kindermehrbetrag von 250 auf 450 (350 im Jahr 2022) Euro pro Kind und Jahr erhöht werden. Zudem soll der Kindermehrbetrag zukünftig auf alle niedrigverdienenden Erwerbstätigen (bisher nur Alleinerzieher bzw. Alleinverdiener) mit Kindern ausgeweitet und als Negativsteuer ausbezahlt werden. Die Beteiligung von Mitarbeitern am Gewinn des Unternehmens soll attraktiver gemacht werden, indem Gewinnbeteiligungen bis zu 3.000 Euro im Kalenderjahr von der Einkommensteuer befreit werden. Um einen steuerlichen Beitrag zur Dekarbonisierung des Gebäudesektors zu leisten, sollen Pauschalbeträge als Sonderausgaben (Freibeträge – vermindern die Steuerbemessungsgrundlage) geltend gemacht werden. So können für die thermisch-energetische Sanierung von Gebäuden 800 Euro pro Jahr und für den Ersatz eines fossilen durch ein klimafreundliches Heizsystem („Heizkesseltausch“) 400 Euro pro Jahr geltend gemacht werden.
Entlastung von Selbstständigen und Unternehmen Zur Stärkung des Standorts Österreichs im Sinne einer nachhaltigen, wachstumsfördernden Standortpolitik sind in der ökosozialen Steuerreform auch Entlastungsmaßnahmen für Unternehmen vorgesehen, die Investitionsanreize setzen und die Beschäftigung stärken. Der Körperschaftsteuersatz wird schrittweise von aktuell 25 auf 23 Prozent Magnus Brunner
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im Jahr 2024 reduziert. Auf diese Weise kommt es nicht nur zu einer spürbaren Entlastung der österreichischen Unternehmen, sondern auch zu einem wichtigen Signal im internationalen Standortwettbewerb. Dies ist besonders von Bedeutung, da in den vergangenen Jahren viele Länder ihre Körperschaftsteuersätze reduziert haben und Österreich daher aktuell sowohl über dem EU- als auch dem OECD-Schnitt liegt. Parallel zu den Körperschaften werden auch Personengesellschaften durch die Erhöhung des Grundfreibetrags beim Gewinnfreibetrag von 13 auf 15 Prozent nachhaltig entlastet. Zudem werden Bauern und Selbstständige ab 1. Juli 2022 bei den Beiträgen zur Krankenversicherung entlastet. Die Erhöhung der Grenze für die Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern von 800 auf 1.000 Euro gibt einen steuerlichen Investitionsanreiz, stärkt die Liquidität und reduziert die Verwaltungslast der betroffenen Unternehmen. Um die Transformation der Unternehmen hin zu einer CO2-freien Wirtschaft gezielt zu unterstützen, wird zusätzlich die Möglichkeit eines ökologischen Investitionsfreibetrags eingeführt. Dieser sieht einen steuerlichen Freibetrag für Investitionen vor, der sich für ökologische Investitionen nochmals erhöht. Die Klassifikation orientiert sich dabei an der aktuell laufenden Investitionsprämie. So werden Unternehmen bei Zukunfts investitionen gezielt unterstützt. All diese Maßnahmen stärken den Standort Österreich dauerhaft und verbessern gleichzeitig die Bedingungen für nachhaltige Investitionen.
Erwartete Auswirkungen Das umfangreiche beschriebene Maßnahmenpaket betrifft jede Österreicherin und jeden Österreicher sowie jedes heimische Unternehmen. Die Auswirkungen sind deshalb auch ganzheitlich zu beurteilen, wobei ebenfalls die Wechselwirkungen zwischen den Maßnahmen zu berücksichtigen sind. Wegen der CO2-Bepreisung wird laut Umweltbundesamt durch die ökosoziale Steuerreform eine signifikante Reduktion bei den Treibhausgasemissionen in Höhe von 2,3 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2030 im Vergleich zum Basisszenario erwartet. Dies entspricht 6,8 Prozent der adressierten Emissionen im Bereich Verkehr und 8,7 Prozent im Bereich Gebäude. Hier ist von Bedeutung, dass die Kompensations- und Entlastungsmaßnahmen so gestaltet sind, dass der Lenkungseffekt der CO2-Bepreisung bestmöglich erhalten bleibt. Trotz der Einsparungen zeigt sich deutlich, dass die Reform alleine nicht für die Einhaltung der Klimaziele sorgen kann, sie liefert aber einen wichtigen Beitrag dafür und ergänzt bestehende und zukünftige Maßnahmen. Neben der umweltpolitischen Wirkung ist die soziale Verträglichkeit eines der Kernthemen bei der ökosozialen Steuerreform. Hier wirken sich besonders der regionale Klimabonus sowie die Maßnahmen zur Entlastung von Geringverdienern und die beitragsabhängige KV-Senkung für Selbstständige und Bauern positiv aus. Die regionale 38
Die ökosoziale Agenda der Bundesregierung: Die ökosoziale Steuerreform
Differenzierung berücksichtigt die Gegebenheiten am Land und verhindert so gezielt Härtefälle, ohne die Lenkungseffekte der Reform zu gefährden. Gesamtwirtschaftlich wirken sich besonders die Kompensations- und Entlastungsmaßnahmen positiv aus und überkompensieren etwaige finanziell negative Effekte aus der CO2-Bepreisung. Durch die von der Reform ausgehenden Investitionsanreize und positiven Nachfrageeffekte wird laut EcoAustria und WIFO bis 2025 mit einer zusätzlichen Beschäftigung von rund 30.000 Personen und einem im Vergleich zum Basisszenario bis zu rund 1 Prozent höheren BIP gerechnet. Die Reform ist also ein wichtiger Schritt zur Erreichung der Klimaziele Österreichs, ist sozial verträglich und stärkt die österreichische Wirtschaft.
Ausblick Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. In einigen Bereichen wurden hier bereits deutliche Fortschritte erzielt, in anderen wurden die bisherigen Ziele noch nicht erreicht. Mit der ökosozialen Steuerreform adressieren wir als Bundesregierung gezielt besonders die Bereiche, wo es sowohl die größten Anstrengungen braucht und die größten Potenziale für Treibhausgasemissionen liegen: Verkehr und Gebäude. Durch die ökosoziale Steuerreform alleine wird es freilich nicht gelingen, die anspruchsvollen Ziele in diesen Bereichen zu erreichen, sondern diese sind nur mit dem richtigen Mix aus Regeln, Förderungen, Investitionen und Verhaltensanpassungen zu erreichen. Doch die ökosoziale Steuerreform ist ein wichtiger und zentraler Meilenstein, der Klimaschutz mit beschäftigungsfördernder Wirtschaftspolitik und sozialer Verträglichkeit kombiniert und so klar zeigt, dass Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Fairness und Klimaschutz sich nicht gegenseitig ausschließen. Ganzheitliche Konzepte wie die ökosoziale Steuerreform zeigen, dass die Transformation nicht zwingend zu Lasten von wirtschaftlicher Aktivität und Wohlstand gehen muss, sondern rückt vielmehr die Chancen, die im Wandel liegen, in den Vordergrund. Für mich ist klar: Klimaschutz ist eine der zentralen Aufgaben unserer Generation. Unsere Ziele sind ambitioniert – darum müssen wir jetzt loslegen. Bis 2030 wollen wir 100 Prozent erneuerbaren Strom in und aus Österreich erreichen; bis 2040 wollen wir die Klimaneutralität in Österreich schaffen – immerhin zehn Jahre vor der EU. Diesen Weg gehen wir mit vollen Einsatz: Denn ich will nicht von der Energiewende träumen, sondern sie konsequent umsetzen.
Magnus Brunner
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ROLAND WEISSMANN
Lust auf Zukunft
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien, wie Radio und Fernsehen“ – ein Satz, den der Soziologe Luhman Mitte der 1990er Jahre postuliert hat und der vor gut 30 Jahren seine Richtigkeit hatte. Im Jahr 2022 stimmt er definitiv nicht mehr. Digitalisierung und Globalisierung haben unsere Welt und mit ihr die Welt der traditionellen Massenmedien auf den Kopf gestellt. Das Internet hat die Welt im Sturm erobert und das Verhalten jedes einzelnen Menschen nachhaltig verändert. Noch nie war es so einfach, so billig und vor allem so schnell möglich, so viele Menschen zu erreichen. Das Internet und die sozialen Netzwerke transportieren im Sekundentakt ungefilterte Informationen, um sie sogleich in Abermillionen Filter-Bubbles zu multiplizieren. Durch Digitalisierung und Globalisierung wird persönliche Nähe neu definiert und wir Medien folgen – schließlich ist das für die Menschen relevant –, was persönlich nah ist. Das macht etwas mit uns als Gesellschaft. Für viele Menschen fühlt sich die Gegenwart oft komplex an. Das Gefühl, den Überblick zu verlieren, es nicht zu verstehen und auch keinen Einfluss mehr nehmen zu können, ist für viele Menschen ein täglicher Begleiter. Zusätzlich werden wir andauernd mit globalen und nationalen Krisen konfrontiert, irgendwo scheint es immer „zu brennen“, still ist es eigentlich nie. Die Krisen der letzten Jahre zeigen, wie diese neue Form des öffentlichen Diskurses auf die Gesellschaft einwirkt. Gesteuert durch Algorithmen und Desinformation feiern lang vergessene geglaubte Narrative in den Weiten der sozialen Medien ihre Auferstehung. Fritz Jergitsch ist Jahrgang 1991 und ein selbsternanntes Kind des Internets. Die sozialen Medien machten ihn und sein Satire-Projekt „Die Tagespresse“ bekannt, heute warnt Jergitsch: „Zu Beginn der 2020er Jahre steht fest, dass sich unsere gesellschaftspolitischen Hoffnungen in die neue Technologie nicht erfüllt haben. Von einer aufgeklärten Gesellschaft, in der Propaganda und Lügen kurze Beine haben, in der Autokraten ihre Macht verlieren, weil ihnen die Öffentlichkeit einen unerbittlichen Spiegel vorhält, sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: Soziale Netzwerke, Algorithmen und Technologieriesen haben den Mächtigen neue Werkzeuge in die Hand gegeben, Roland Weißmann
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um Massen nach ihrem Gutdünken zu manipulieren, gegeneinander aufzuhetzen und dabei ihre eigene Agenda zu verfolgen.“ Ich teile diese Analyse. Auch die aktuellen Zahlen der Forschung sprechen für sich. Der britische „Economist“ titelt in Bezug auf den aktuellen „Democracy Index“ im Februar 2022: „A new low for global democracy“. Die Zahl der autokratischen Staaten steigt seit Jahren, rund ein Drittel der Welt lebt heute unter mehr oder weniger autoritären Regimen, nur rund 6,4 Prozent der Weltbevölkerung in einer „full democracy“ wie Österreich. Aber auch in Österreich sinkt das Vertrauen in das politische System. Drei von zehn jungen Menschen denken heute, dass die Demokratie in Österreich eher schwach sei, felsenfest von der Demokratie als beste Staatsform überzeugt ist nur noch knapp die Hälfte.1 Zahlen wie diese zeigen, warum es uns öffentlich-rechtliche Medienmacher in Europa braucht. Gemeinsam bilden wir das Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft. Die Ausgangslage dafür ist nach wie vor gut: Der ORF hat in den vergangenen Jahren Marktanteil und Reichweiten auf hohem Niveau stabil gehalten und in Zeiten der Krise sogar ausgebaut. Ganz gleich ob im Fernsehen, Radio oder Online – für 92 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher stellt der ORF die wichtigste Informationsquelle des Landes dar, mit unserer Information erreichen wir 94 Prozent der TV-Bevölkerung, keinem Medium wird mehr vertraut als dem ORF. Mit diesen Werten liegt der ORF im europäischen Spitzenfeld. Vertrauen, also das Gefühl von Richtigkeit und Wahrheit, ist unsere wichtigste Währung. Eric Gujer, Chefredakteur der NZZ, zieht dazu einen trefflichen Vergleich, wenn er Medien mit Banken vergleicht. Beide Branchen stehen durch die Digitalisierung enorm unter Druck, Blockchain-Technologien bzw. das Internet nagen an den Kompetenzen, machen die „Zwischenhändler“ von Geld bzw. Information scheinbar überflüssig. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Branchen ist das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden. Fehlt das Vertrauen in eine Geldnote oder in eine Nachricht, ist beides wertlos. Ohne Vertrauen in die journalistische Glaubwürdigkeit ist es früher nicht gegangen und wird es auch in Zukunft nicht gehen. In der Coronakrise haben sich speziell auch junge Zielgruppen verstärkt an den ORF gewandt. Und genau da setzen wir an. So disruptiv Digitalisierung auf unsere Branche einwirkt, so groß sind die Chancen: Noch nie war es so einfach wie jetzt, Medien zu konsumieren, sowohl die Zeit als auch der Ort und der Ausspielweg sind nur noch Nebensache. Noch nie war es so einfach, sich über das Gesehene, das Gehörte, das Gelesene auszutauschen. Noch nie war es so einfach, die Menschen individuell anzusprechen – und auch etwas zurück zu bekommen. Und noch nie war es so einfach, das Feedback unseres Publikums durch Daten zu quantifizieren. Diese Chancen sehe ich, wenn ich von Transformation spreche. Auch wenn die gesellschaftlichen Herausforderungen groß sind, bin ich optimistisch. Der Grund dafür ist die neue Generation – eine Generation mit starken Werten, 42
Lust auf Zukunft
eltoffen, divers und überlegt, die sich mit Leichtigkeit durch die neuen digitalen Welten w bewegt. Die jungen Frauen und Männer dieser Generation sind unsere Zukunft. Und das Beste: Sie teilen unsere öffentlich-rechtlichen Werte. Sie wollen sich ihre eigene, unabhängige Meinung bilden, verlangen Einordnung und suchen Identifikation. Es liegt nun an allen demokratischen Institutionen, die Möglichkeiten der Partizipation zu erhöhen und an unserer Ansprache etwas zu verändern. Es braucht mehr Augenhöhe und Ernsthaftigkeit, wir müssen mit unseren Inhalten näher an Bedürfnisse und Nutzungsverhalten. Nur dann werden wir auch in Zukunft die gleiche Relevanz wie heute genießen. Nur dann gelingt uns der Sprung von einem erfolgreichen nationalen Broadcaster zu einer öffentlich-rechtlichen Plattform. Gerade jetzt braucht es in Österreich eine öffentlich-rechtliche Medienplattform, die nicht gewinnorientiert agiert, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist, und damit mehr denn je einen durch Größe und Vielfalt relevanten und starken Österreichischen Rundfunk. Einen ORF , der ganz Österreich erreicht und mit seinen vielfältigen Produkten in Einstellung, Duktus und Sprache alle Menschen in Österreich repräsentiert. Einen ORF , mit dem sich alle Generationen identifizieren können. Einen ORF , der informiert, unterhält, erklärt und einordnet. Einen ORF , der auch aufregt, herausfordert und diskutiert. Der anregt, aufklärt und motiviert, unser Land mitgestaltet und entwickelt und dabei gleichzeitig ein Richtungsweiser in einem vereinten Europa ist. Gerade jetzt.
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Sora: „Junge Menschen und Demokratie in Österreich 2021“, Janine Heinz/Martina Zandonella, Dezember 2021.
Roland Weißmann
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OMAR HAIJAWI-PIRCHNER
Neuaufstellung des Verfassungsschutzes
Im Februar 2020 hat der damalige Innenminister Karl Nehammer den Auftrag für den größten Reformprozess des Verfassungsschutzes in der Geschichte Österreichs gegeben. Wie im Regierungsprogramm vorgegeben, war das Ziel des Projekts „Nachrichtendienst und Staatsschutz NEU“, den Verfassungsschutz umfassend neu aufzustellen und das Vertrauen der österreichischen Bevölkerung und der Partnerdienste wiederzugewinnen. Das Regierungsprogramm sah auch vor, dass mithilfe gesetzlicher Änderungen die neue Behörde strukturell in einen nachrichtendienstlichen und einen Staatsschutzteil getrennt und durch die strikte Trennung die Gefahrenaufklärung gestärkt werden soll. Darüber hinaus waren unter anderem auch die Etablierung internationaler Standards in allen Bereichen, die Behebung von aufgezeigten Sicherheitsmängeln und die gesetzliche Normierung des Anforderungsprofils für Verfassungsschutz-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter vorgegeben. Die im Regierungsprogramm formulierte Reform war notwendig geworden, weil einerseits der Ruf des Verfassungsschutzes durch diverse Veröffentlichungen und Ungereimtheiten in Mitleidenschaft gezogen war und andererseits dringender Erneuerungsund Modernisierungsbedarf bei der seit knapp 20 Jahren unverändert bestehenden Verfassungsschutzbehörde bestand. Die Neuaufstellung war ein wesentlicher Schritt, damit der Verfassungsschutz auf neue Bedrohungslagen, die durch transnationalen Terrorismus, gewaltbereiten Extremismus, Spionage, Proliferation und Cyber-Angriffe entstehen können, zeitnah und angemessen reagieren kann. Die Reformverhandlungen wurden von Beginn an unter Einbindung aller im Parlament vertretenen Parteien geführt. Neben den Parlamentsparteien, die Expertinnen und Experten in eine Arbeitsgruppe entsandten, waren auch interne und externe Expertinnen und Experten aus den Bereichen Sicherheit, Staatsschutz, Justiz und Menschenrechte in das Projekt miteingebunden. Gleich zu Beginn des Projektes wurden jene Dinge umgesetzt, die einer sofortigen Neuerung bedurften. Das war neben der bereits begonnenen Beseitigung von technischen und baulichen Sicherheitsmängeln die Professionalisierung des HR-Managements gemäß internationalen Standards. Dies betraf Themen wie die allgemeinen Omar Haijawi-Pirchner
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Kriterien der Personalauswahl, eine generelle und sich in regelmäßigen Abständen wiederholende Sicherheitsüberprüfung der Bediensteten sowie das Thema Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bei der internen Überprüfung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde die bereits vorhandene Sicherheitsüberprüfung um eine Vertrauenswürdigkeitsprüfung für alle Bediensteten, die mit der Vollziehung von Aufgaben im Bereich des Verfassungsschutzes betraut sind, erweitert. Die Vertrauenswürdigkeitsprüfung ist die Abklärung der Vertrauenswürdigkeit eines Menschen anhand personenbezogener Daten und enthält eine umfassende Überprüfung des Vorlebens sowie der aktuellen Lebensumstände. Diese Erweiterung war aufgrund des sensiblen Aufgabenbereiches notwendig und dient zur Einschätzung, ob sich aus Gründen von persönlichen Interessen, Kontakten oder Tätigkeiten ein Risikopotenzial für die Tätigkeit im Bereich des Verfassungsschutzes ergibt. Diese Überprüfung und ein Sicherheitsinterview sind alle sechs Jahre verpflichtend zu wiederholen. Auch in Bezug auf die Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verfassungsschutz gibt es Verbesserungen. Ein neuer und verpflichtender StaatsschutzGrundausbildungslehrgang wurde in das Aus- und Fortbildungsprogramm der Behörde mitaufgenommen. Die Ausbildung startet mit einem gemeinsamen Lehrgang für die Bediensteten aus dem nachrichtendienstlichen und dem staatspolizeilichen Bereich. Nach erfolgreichem Abschluss dieses mehrwöchigen Lehrgangs folgt eine Spezialausbildung für den jeweiligen Aufgabenbereich. Als akademische Weiterbildungsmöglichkeit wird der Fachhochschul-Lehrgang „Verfassungsschutz“ eingerichtet. Für diese Ausbildung wurden international renommierte Expertinnen und Experten als Vortragende gewonnen und somit eine hohe Qualität des Lehrgangs sichergestellt. Wie bereits erwähnt, wurden bei der Rekrutierung der Bediensteten die Sicherheitsstandards erhöht, um qualifiziertes und spezialisiertes Personal zu gewinnen. Das Aufnahmeverfahren wurde objektiv und transparent gestaltet und ein mehrstufiger Auswahlprozess in Verbindung mit der Vertrauenswürdigkeitsprüfung eingeführt. Durch normierte und standardisierte Tests aus der psychologischen Eignungsdiagnostik wird zuerst ein fachlich zugeschnittenes Anforderungsprofil erstellt. Mithilfe von computerunterstützter Eignungsdiagnostik wird die Testung persönlicher Kompetenzen ermöglicht. Dabei wird anonymisiert nach Verwendungsgruppen und Mindestniveaus differenziert ausgewertet. In einem psychologischen Interview werden ergänzend die persönlichen Kompetenzen, die nicht in der Computerdiagnostik ermittelt werden können, überprüft. Abschließend erfolgt ein Hearing vor einer Kommission, bei dem die fachlichen Fähigkeiten für den jeweiligen Arbeitsplatz evaluiert werden. Mit September 2020 waren die neuen Modelle für die vertiefende Sicherheitsüberprüfung, das neue Aus- und Fortbildungsprogramm sowie die neuen Standards für die Personalrekrutierung abgeschlossen und in entsprechenden Vorschriften gesetzlich verankert. 46
Neuaufstellung des Verfassungsschutzes
Um den Anforderungen des Regierungsprogramms zu entsprechen und ein hybrides Amt mit intern getrennter Staatschutz- und Nachrichtendienst-Komponente aufzubauen, fand ein intensiver Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit Partnerdiensten statt. So konnten folglich auch deren Erfahrungen als Grundlage für das neue Konzept herangezogen werden. Ebenso wurden die Empfehlungen, die von der Kommission nach dem Terroranschlag von Wien ausgesprochen wurden, in das Reformprojekt miteinbezogen. Nach neuerlicher Befassung der Politik konnte das „Staatsschutz- und Nachrichtendienstgesetz“ mit großer Mehrheit im Nationalrat beschlossen und am 26. Juli 2021 mittels Bundesgesetzblatt kundgemacht werden. Mit 1. Dezember 2021 trat das Gesetz in Kraft und damit wurde der Dienstbetrieb in der „Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst“ aufgenommen. Mit der neuen Behörde „Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst“ (DSN) wurde allen Vorgaben des Regierungsprogramms entsprochen und es wurden sogar darüber hinaus neue Mechanismen und Prozesse zur Verbesserung der künftigen Verfassungsschutzarbeit implementiert. Die Grundlage für die Arbeit der Direktion ist im Staatsschutz- und Nachrichtendienstgesetz (SNG) festgelegt. Das SNG regelt die Aufgaben der DSN und der für Staatsschutz zuständigen Organisationseinheiten der Landespolizeidirektionen, wobei die wesentliche Neuerung die Trennung der Aufgaben im Staatsschutz und Nachrichtendienst ist. Dem Staatsschutz obliegen die Aufgaben zum vorbeugenden Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen, die Gefahrenabwehr und die kriminalpolizeiliche Aufklärungsarbeit gemeinsam mit den Justizbehörden. Der Nachrichtendienst hingegen hat die Gewinnung und Analyse von Informationen und Bedrohungen, die terroristisch, ideologisch oder religiös motiviert sind, zum Ziel. Der Vorteil der Trennung ist, dass sich alle Bediensteten ihren speziellen Aufgaben widmen können und es zu keinen Überschneidungen der Tätigkeitsfelder kommt. In einem gemeinsamen Informations- und Lagezentrum werden die Informationen gesichtet und zusammengeführt. Dieser Prozess ermöglicht eine schnellere Kommunikation und garantiert, dass keine Informationen verloren gehen, die für die Abwehr terroristischer Anschläge oder die Bekämpfung von anderen extremistischen Phänomenen notwendig sind. Im SNG wurde neben der bereits bestehenden „Meldestelle NS Wiederbetätigung“ die „Meldestelle Extremismus und Terrorismus“ gesetzlich verankert. Um qualitativ hochwertige Informationen innerhalb der Behörden zu garantieren, wurden Fallkonferenzen nach Vorbild der sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen unter anderem mit Behörden und Bildungs- und Deradikalisierungsorganisationen eingeführt. Das Instrument der sogenannten „Gefährderansprache“ wurde dem Staatsschutz zugewiesen. Die parlamentarische Kontrolle wurde durch neue Berichtspflichten an den Ständigen Unterausschuss des Innenausschusses gestärkt und eine unabhängige und weisungsfreie Kontrollkommission, die sowohl für den Bundesminister für Inneres als auch Omar Haijawi-Pirchner
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für den Nationalrat tätig wird, wurde eingerichtet. Diese Kommission hat die Aufgabe, systemische Mängel und Optimierungsbedarf in der Organisation aufzuzeigen. Die Zusammenarbeit mit den Justizbehörden wird in der DSN weiter intensiviert. Bedienstete des Innen- und Justizressorts kommen künftig unter anderem im Rahmen von Entlassungskonferenzen und Fallkonferenzen an einen Tisch, um sich über die Maßnahmen zur Deradikalisierung von riskanten Personen in der besonders sensiblen Phase des Übergangs zwischen Haft und Freiheit abzustimmen. Die Prävention wird sowohl im Nachrichtendienst als auch im Staatsschutz und ebenso im Schnittstellenbereich institutionalisiert. Künftig sollen eigene StaatsschutzPräventionsbedienstete für eine bürgernahe Sensibilisierung sorgen und relevanten Stakeholdern verdeutlichen, welche Maßnahmen drohen, wenn Straftaten gesetzt werden. In der DSN kommen auch neue Qualitätssicherungssysteme zum Einsatz, um Sicherheits- und Qualitätsmängel zu beheben und die interne Kontrolle der Tätigkeit zu verbessern. Die Wirkung dieser Systeme wird im Rahmen regelmäßiger Audits überprüft. Es wurden auch Maßnahmen zur Optimierungen der technischen und personellen Voraussetzungen im Bereich der Analyse gesetzt. Dazu wird auch ein neues Datenverarbeitungs- und Analysesystem im Verfassungsschutz aufgebaut. Mit den Systemen soll der laufende Informationsaustausch zwischen der DSN und den Landespolizei direktionen standardisiert und verbessert werden. Auch der Personalstand wird in der neuen DSN massiv aufgestockt und annähernd verdoppelt. Die Personalaufstockung ist ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung des Verfassungsschutzes in Österreich. Obwohl eine rasche Aufstockung des Personal geplant ist, gilt bei der Personalrekrutierung das Motto „Qualität vor Quantität“. Für diese Aufgabe hat die DSN detailgenaue Aufgabenprofile erstellt, die in Folge ausschließlich mit adäquaten Mitarbeiterprofilen besetzt werden. Um diesen Part sicherzustellen, wird seitens der DSN aktiv mit der Wissenschaft und weiteren Partnern kooperiert. Die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst verwirklicht also die Erfordernisse einer modernen Sicherheitsbehörde, um zielgerichtet ihrer Aufgabe, nämlich die Bevölkerung sowie die verfassungsmäßigen Einrichtungen der Republik Österreich vor terroristisch, ideologisch oder religiös motivierter Kriminalität zu schützen, gerecht zu werden. Die Direktion wird stärker im Vorfeld von strafbaren Handlungen tätig und investiert in die Erforschung von Gefahren ebenso wie in deren Abwehr. Zusammengefasst ist die DSN die geeignete Einrichtung, um sowohl das Vertrauen der Partnerdienste als auch das Vertrauen der österreichischen Bevölkerung wieder zurückzu gewinnen und gestärkt aus der vergangenen Krise hervorzugehen.
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Neuaufstellung des Verfassungsschutzes
ALBERT POSCH
Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt
Dem Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt kommt im Verwaltungsgefüge der Republik eine besondere Rolle zu. Die Kombination seiner Zuständigkeiten als Legist, Gutachter und Anwalt sticht im internationalen Vergleich hervor. Im tagespolitischen Geschehen zeigt der Verfassungsdienst häufig rechtliche Grenzen auf. Seine Aufgaben erschöpfen sich aber nicht im Erkennen und Aufzeigen von Problemen; vielmehr versteht sich der Verfassungsdienst stets als Teil der Lösung. Während der Corona-Pandemie kam dem Verfassungsdienst eine besondere Rolle in der Beratung von Politik und Verwaltung zu. Dabei wurde nicht nur verfassungsrechtliches Neuland betreten, sondern wurden auch eingespielte Prozesse der Legistik und Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen in hohem Maße strapaziert.
Die Aufgaben des Verfassungsdienstes Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Dem damaligen „Gesetzgebungsdienst“ in der Staatskanzlei kam bereits unmittelbar nach seiner Gründung im Dezember 1918 eine maßgebende Rolle in der Erstellung des verfassungsrechtlichen Rahmens und damit dem Aufbau des neuen Staates zu. Der Verfassungsdienst ist eine spezifisch österreichische Einrichtung und sticht mit seinen zentralisierten Aufgaben als Legist, Gutachter und Anwalt im internationalen Vergleich hervor. Die Kernaufgaben des Verfassungsdienstes blieben seit seiner Gründung vor mehr als 100 Jahren überraschend konstant. So werden dem damaligen „Gesetzgebungsdienst“ bereits im Gründungsakt folgende Aufgaben zugewiesen: „Fragen der Verfassungsgesetzgebung; […] die allgemeinen Fragen der Gesetzgebung, die Sicherung der Klarheit und praktischen Anwendbarkeit der Gesetzestexte, die Überprüfung der Gesetzesentwürfe im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit, auf die Einheitlichkeit der Gesetzestechnik“. Zusätzlich kamen in den vergangenen 100 Jahren einige wesentliche Aufgaben hinzu; zu nennen sind insbesondere die Vertretung der Bundesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof, die Vertretung der Republik vor dem Gerichtshof der Europäischen Union und dem Albert Posch
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Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie der gesamte Themenkomplex des Medienrechts.
Der Verfassungsdienst als Legist Dem Verfassungsdienst obliegt die legistische Vorbereitung von Gesetzen in zahlreichen wichtigen Bereichen wie insbesondere dem Bundesverfassungsrecht, dem Verwaltungsverfahrensrecht, dem Medienrecht, dem Parteienrecht sowie dem Parteien- und Parteienakademieförderungsrecht. Darüber hinaus ist der Verfassungsdienst zuständig für die Vorbereitung von Änderungen des Bundesministeriengesetzes. In all diesen Bereichen erstellt der Verfassungsdienst Gesetzesentwürfe, die in der Regel einem öffentlichen Begutachtungsverfahren unterzogen und in Folge von der Bundesregierung als Regierungsvorlage beschlossen sowie dem Nationalrat zugeleitet werden. In diesen Zuständigkeiten kommt dem Verfassungsdienst auch die Vertretung der Republik Österreich in Gremien europäischer und internationaler Organisationen zu.
Der Verfassungsdienst als Gutachter Der Verfassungsdienst übt umfangreiche Gutachtertätigkeiten aus. So werden sämtliche Gesetzes- und Verordnungsentwürfe aus anderen Bundesministerien auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht, einschließlich der Grundrechte, begutachtet. Gleichzeitig beurteilt der Verfassungsdienst auch legistische Fragestellungen wie Rechtssprache, Rechtstechnik und formelle Gestaltung zur Wahrung der Einheitlichkeit der Gesetzgebung. Ebenso werden Landesgesetzentwürfe bzw. Gesetzesbeschlüsse der Landtage geprüft. Die zentralisierte ex-ante-Prüfung durch den Verfassungsdienst dient der Wahrung der Verfassungskonformität und der Einheitlichkeit der Rechtssetzung des Bundes. Die Notwendigkeit einer zentralisierten ex-ante-Prüfung ist auch im Kontext mit dem österreichischen System der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sehen, wonach eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen erst a posteriori erfolgt. Außerdem können von allen öffentlichen Dienststellen Gutachten beim Verfassungsdienst zu Verfassungsfragen und sonst zum Wirkungsbereich des Verfassungsdienstes zählenden Rechtsfragen eingeholt werden.
Der Verfassungsdienst als Anwalt Der Verfassungsdienst vertritt die Bundesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof. Er vertritt die Republik Österreich in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen 50
Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt
Union in Luxemburg und gemeinsam mit dem Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Bindeglied des Bundes zu den Ländern Darüber hinaus ist der Verfassungsdienst auch für die Koordination in den Bund-Länder-Beziehungen verantwortlich. Der Leiter des Verfassungsdienstes nimmt an den Sitzungen der Landeshauptleutekonferenzen sowie an den vorbereitendenden Sitzungen der Landesamtsdirektoren teil und vertritt dabei den Bund. Daneben besteht ein regelmäßiger Austausch zwischen den Verfassungsdiensten der Länder und dem Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt.
Verfassungsdienst und Politik Ein nicht unerheblicher Teil der Arbeit des Verfassungsdienstes steht mit dem tagespolitischen Geschehen in Verbindung. So sind legistische Vorhaben im Zuständigkeitsbereich des Verfassungsdienstes nicht selten von politischer Brisanz. Zu denken wäre hier etwa an das heikle Unterfangen der Abschaffung der Amtsverschwiegenheit und der Schaffung eines Grundrechts auf Zugang zu Information. Daneben begutachtet der Verfassungsdienst regelmäßig politisch heikle Vorhaben der Bundesministerien. Zusätzlich ist der Verfassungsdienst Anwalt in politisch sensiblen Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, dem Gerichtshof der Europäischen Union und dem Europä ischen Gerichtshof für Menschenrechte. Eine gewisse Nähe zur Politik ergibt sich auch schon daraus, dass der Verfassungsdienst eine Sektion im Bundeskanzleramt ist und mit dem Bundeskanzler und den Kanzleramtsministerinnen und -ministern in regelmäßigem Austausch steht. Aktuell fällt der Großteil des Wirkungsbereichs des Verfassungsdienstes in den Zuständigkeitsbereich von Bundesministerin Mag. Karoline Edtstadler; im Bereich des Medienrechts untersteht der Verfassungsdienst Bundesministerin MMag. Dr. Susanne Raab. Eine der Kernaufgaben des Verfassungsdienstes ist die Beratung der Bundesregierung zu politischen Vorhaben. Dabei gilt es, rechtliche Möglichkeiten auszuloten und zugleich rechtliche Grenzen deutlich aufzuzeigen. Maßstab für die Tätigkeit des Verfassungsdienstes sind stets das geltende Recht, die Rechtsprechung und die maßgebliche Literatur. Die Aufgabe erschöpft sich dabei nicht im Erkennen und Aufzeigen von rechtlichen Problemen; vielmehr sieht sich der Verfassungsdienst stets als Teil der Lösung, um von der Bundesregierung verfolgte Projekte im Einklang mit der Bundesverfassung zu verwirklichen. Entscheidend ist dabei, dass (verfassungs-)rechtliche Grenzen nicht Albert Posch
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überschritten werden. Eine Missachtung dieses Grundsatzes würde nicht nur der Insti tution des Verfassungsdienstes nachhaltig schaden, sondern letztlich auch der Politik einen Bärendienst erweisen.
Der Verfassungsdienst in der Corona-Pandemie Während der Corona-Pandemie kam dem Verfassungsdienst eine bedeutende Rolle in der Beratung von Politik und Verwaltung zu. Während zu Beginn der Krise schon aus Gründen des enormen Zeitdrucks viele „Sicherheitsprozesse“ nicht eingehalten werden konnten und insbesondere reguläre Begutachtungsverfahren und die Einbindung des Verfassungsdienstes teils gänzlich unterblieben, spielte sich im Laufe der Pandemie ein System von massiv verkürzten Begutachtungsverfahren ein. So wurden zwar eingespielte Prozesse der Legistik und Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen wiederbelebt, in zeitlicher Hinsicht wurden diese aber in hohem Maße strapaziert. Teils blieben dem Verfassungsdienst nur wenige Stunden, um verfassungsrechtlich und legistisch herausfordernde Vorhaben einer Prüfung zu unterziehen. Dem Verfassungsdienst kam dabei die wesentliche Rolle zu, Grundrechtsbeschränkungen stets aufs Neue zu hinterfragen und die Verfassungsmäßigkeit von Vorhaben im Rahmen des COVID-19-Maßnahmenrechts einzumahnen. Dass eine qualitätsvolle Begutachtung und Beratung regelmäßig in kürzester Zeit überhaupt möglich war, verdankt der Verfassungsdienst seinen erstklassigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die über eine enorme Fachkunde und ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen verfügen. Auch hier scheinen die vergangenen 100 Jahre von einer auffälligen Kontinuität geprägt zu sein. So wird bereits im Organisationsentwurf für den „Gesetzgebungsdienst“ aus dem Jahre 1918 festgehalten, „[das] Personal an Beamten wäre sorgfältig auszuwählen und auf außerordentlich tüchtige Kräfte zu beschränken“.
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Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt
CARMEN WALENTA-BERGMANN
Die oberösterreichische Landtagswahl 2021
Am 26. September 2021 fanden in Oberösterreich Landtagswahlen statt. Zur Wahl standen insgesamt elf Parteien, sechs davon schafften die Vier-Prozent-Hürde und sind somit im – am 23. Oktober 2021 angelobten – Landtag vertreten. Wie schon in den Jahren davor ging die ÖVP als mit Abstand stimmenstärkste Partei aus der Wahl hervor. Im Vergleich zur Wahl im Jahr 2015 verlor die FPÖ mehr als ein Drittel der Stimmen. Die im Februar 2021 gegründete impfkritische Partei MFG hingegen gewann aus dem Stegreif über sechs Prozent. Nach der Wahl führt die ÖVP ihre Zusammenarbeit mit der FPÖ in der Landesregierung fort.
Ausgangslage In der oberösterreichischen Landespolitik ist die ÖVP seit vielen Jahren die unangefochtene Nummer eins. Seit den ersten Wahlen der Zweiten Republik im Jahr 1945 konnte die SPÖ mit 45,95 Prozent der Stimmen im Jahr 1967 nur ein einziges Mal knapp mehr Stimmen als die ÖVP erreichen. Wie auch in Grafik 1 deutlich zu erkennen ist, gibt es in den letzten zwei Jahrzehnten einen Trend zur Diversifizierung der oberösterreichischen Parteilandschaft. Auch im Jahr 2021 wird dieser Trend fortgesetzt. Mit elf verschiedenen Listen standen am 26. September so viele wie noch nie zur Wahl. In Oberösterreich waren wie schon in den Wahlen davor knapp über eine Million Personen wahlberechtigt, welche – je nach Hauptwohnsitz – fünf verschiedenen Wahlkreisen zugeordnet wurden (siehe Tabelle 1). ÖVP, FPÖ, SPÖ und GRÜNE, welche nach der Wahl 2015 im Landtag vertreten waren, traten auch diesmal wieder in allen Wahlkreisen an. Zusätzlich waren die NEOS, Bestes Oberösterreich, die KPÖ und die Liste MFG in allen Wahlkreisen vertreten. Außerdem traten weitere zwei Parteien in drei von fünf Wahlkreisen (CPÖ in Mühl-, Hausruck- und Traunviertel, UBB in Linz, Mühlund Hausruckviertel) und eine Partei in nur zwei von fünf Wahlkreisen (Referendum in Linz und Hausruckviertel) an.
Carmen Walenta-Bergmann
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Grafik 1: Wahlergebnisse und Wahlbeteiligung in Oberösterreich seit 19451.
Notiz: FPÖ-Ergebnisse inkludieren Stimmanteile der Vorgängerpartei „Verband/Wahlpartei der Unabhängigen“ (VdU/WdU) für die Wahljahre 1949 und 1955.
Für die ÖVP trat der amtierende Landeshauptmann Thomas Stelzer als Spitzenkandidat an. Für die FPÖ ging schon zum dritten Mal Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner als Spitzenkandidat in die Wahl. Für die SPÖ kandidierte erstmals Birgit Gerstorfer, die im Jahr 2016 Landesparteivorsitzende wurde (und am 1. Februar 2022 ihren Rücktritt bekanntgab). Für die NEOS kandidierte der ehemalige Linzer Gemeinderat und Nationalratsabgeordnete Felix Eypeltauer. Die GRÜNEN mussten nach drei Funktionsperioden erstmals wieder ohne Rudi Anschober auskommen und schickten Stefan Kaineder als Spitzenkandidat in die Wahl. Die am 2. Februar 2021 gegründete impfkritische Partei MFG (Menschen – Freiheit – Grundrechte) trat mit Spitzenkandidat Joachim Aigner an. Die oberösterreichische Landtagswahl am 26. September 2021 war eingebettet in eine Reihe von anderen wichtigen Wahlentscheidung. So fanden am gleichen Tag die Gemeinderatswahlen sowie der erste Durchgang der BürgermeisterInnenwahl in 438 oberösterreichischen Gemeinden statt. Außerdem fanden Gemeinderatswahlen in Graz statt (siehe dazu das Kapitel „Grazer Gemeinderatswahl 2021“ in diesem Buch) und im Nachbarland Deutschland wurde nach 16 Jahren Angela Merkel ein neuer Bundestag (und damit auch Kanzler) gewählt. Schon vor der Wahl war klar, dass die andauernde COVID -19 Pandemie ein dominierendes Thema für Wahlkampf und Wahlausgang sein würde. Überraschenderweise wurde man dann jedoch mit einem eher themenlosen Wahlkampf konfrontiert, bei dem die Pandemie wenig thematisiert wurde und allgemein 54
Die oberösterreichische Landtagswahl 2021
keine richtige Diskussion aufkommen wollte.2 Auf der Seite der Wählerinnen und Wähler ergab die Wahltagsbefragung, dass mit 46 Prozent die meisten im Wahlkampf sehr häufig über „Corona“ diskutiert haben, gefolgt von den Themen „Kosten des täglichen Lebens“ (35 Prozent), „Gesundheitsvorsorge und Pflege“ (30 Prozent) und „Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen“ bzw. „Chancen der jungen Menschen in OÖ“ (je 29 Prozent).3 Dabei ist vor allem bemerkenswert, dass die am häufigsten diskutierten Themen des Wahlkampfes 2015 „Flüchtlinge und Asyl“ (61 Prozent) und „Sicherheit und Kriminalität“ (35 Prozent) nicht mehr zu den dominanten Themen gehörten.4
Wahlergebnis Die durchschnittliche Wahlbeteiligung ist seit dem Jahr 2015 um mehr als fünf Prozent gesunken. Dennoch ist sie in Oberösterreich mit einem Landesschnitt von über 76 Prozent immer noch höher als in allen anderen Bundesländern. Die Wahlbeteiligung in den einzelnen Gemeinden lag zwischen 60,9 Prozent in Braunau am Inn und 96,5 Prozent in Nebelberg. Besonders hoch war diesmal die Anzahl der Personen, die mittels Wahlkarten teilgenommen haben. 241.033 Wahlkarten wurden ausgegeben, das entspricht 22,03 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Es standen diesmal nicht nur mehr Listen als bislang zur Wahl, sondern es haben es auch so viele Parteien in den oberösterreichischen Landtag geschafft wie noch nie in der Zweiten Republik. Neben den vier schon nach der vorangegangenen Wahl im Landtag vertretenen Parteien (ÖVP, SPÖ, FPÖ, GRÜNE) haben diesmal gleich zwei weitere die Vier-Prozent-Hürde für den Einzug übertroffen. Die NEOS erreichten 4,23 und die MFG sogar 6,23 Prozent der Stimmen. Damit erreichten die neu eingezogenen Parteien zwei respektive drei der insgesamt 56 Sitze im oberösterreichischen Landtag. Die restlichen Sitze teilen sich ÖVP (22), FPÖ (11), SPÖ (11) und GRÜNE (7). Tabelle 1: Detaillierte Wahlergebnisse in den fünf oberösterreichischen Landtagswahlkreisen 2021. Wahlkreis Oberösterreich gesamt Linz und Umgebung Innviertel Hausruckviertel Traunviertel Mühlviertel
Wahlberechtigt Wahlbeteiligung ÖVP FPÖ SPÖ GRÜNE NEOS MFG 1.094.074 76,34 37,61 19,77 18,58 12,32 4,23 6,23 241.325
68,5
30,33 16,84 24,18 15,85
5,57
5,15
165.218 271.698 195.164 220.669
77,1 77,22 76,68 82,97
42,47 37,83 36,29 41,69
3,48 4,13 3,98 3,86
6,67 5,67 7,29 6,68
24,65 22,57 18,2 17,13
12,92 17,09 21,12 17,02
8,99 11,66 11,98 12,43
Notiz: Niedrigster Wahlkreisanteil hellgrau hinterlegt, höchster Wahlkreisanteil dunkelgrau hinterlegt. Carmen Walenta-Bergmann
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Im Vergleich zur letzten Landtagswahl am 27. September 2015 ist die FPÖ jene Partei, die mit Abstand die größten Stimmverluste hinnehmen muss. In über 97 Prozent der 438 Gemeinden verlor die FPÖ mehr Stimmen als alle anderen Parteien. Über die größten Stimmzugewinne hingegen konnte sich, ebenfalls mit Abstand, die MFG freuen. In knapp 80 Prozent der Gemeinden hatte sie größere Zugewinne als alle anderen Parteien. Ein Blick auf die detaillierten Ergebnisse in den fünf oberösterreichischen Wahlkreisen (siehe Tabelle 1) zeigt zum Teil deutliche regionale Unterschiede. Die größten Unterschiede können zwischen Linz und Umgebung und dem am weitesten westlich, an der Grenze zu Deutschland gelegenen Innviertel festgestellt werden. In Linz und Umgebung schnitten SPÖ, GRÜNE und NEOS vergleichsweise am besten und ÖVP, FPÖ und MFG am schlechtesten ab. Im Innviertel hingegen konnten ÖVP und FPÖ ihre besten Ergebnisse feiern, wohingegen SPÖ, GRÜNE und NEOS die schlechtesten Ergebnisse verbuchten. Auch die Analyse der Ergebnisse auf Gemeindeebene zeigt, dass der Anteil an Stimmen pro Partei stark schwankt.5 Betrachtet man die durchschnittlichen Wahlergebnisse pro Gemeindegrößenklasse (Grafik 2) wird deutlich, dass der Anteil an ÖVP-WählerInnen stark abnimmt, je mehr EinwohnerInnen eine Gemeinde hat. Gleichzeitig steigt der Stimmanteil für SPÖ und GRÜNE deutlich an. Weniger deutlich sind die Unterschiede bei NEOS (leichter Anstieg), MFG (leichte Abnahme) und FPÖ (leichte Abnahme).6 Grafik 2: Wahlergebnisse und Wahlbeteiligung in Oberösterreich 2021, abhängig von der Gemeindegrößenklasse 7.
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Die oberösterreichische Landtagswahl 2021
Die 56 Sitze des oberösterreichischen Landtags sind nach der Angelobung am 23. Oktober 2021 von 36 Männern und 20 Frauen besetzt, der Altersschnitt der Abgeordneten beträgt Anfang 2022 ungefähr 47,5 Jahre. Der Altersschnitt der oberösterreichischen Bevölkerung liegt mit 42,8 Jahren fast fünf Jahre darunter. Ein weiteres interessantes Detail ist die Tatsache, dass fast 20 Prozent der Abgeordneten gleichzeitig auch Bürgermeister bzw. Bürgermeisterin in einer oberösterreichischen Gemeinde sind. Schaut man nur auf die ÖVP-Abgeordneten, sind es sogar 41 Prozent. Da Oberösterreich neben Niederösterreich eines von nur noch zwei Bundesländern in Österreich ist, in dem die Landesregierung nach dem Proporzsystem besetzt wird, sind nach der Wahl neben den Koalitionspartnern ÖVP und FPÖ auch die SPÖ und die GRÜNEN mit je einem Sitz in der Landesregierung vertreten. Zusammengefasst hat die oberösterreichische Landtagswahl durch die Rekordzahl an Briefwählern, die hohe Anzahl an Listen und die Tatsache, dass gleich sechs Parteien in den Landtag eingezogen sind, überrascht. Das dominanteste Thema aber war der kometenhafte Aufstieg der erst sieben Monate davor gegründeten MFG, der die Partei und deren Protagonisten weit über die Bundeslandgrenzen hinweg bekannt gemacht hat.
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Historische Daten stammen aus der Wahldatenbank Österreich, verfügbar unter folgendem Link: https://www.wahldatenbank.at. Für detaillierte Analyse von Wahlkampf und Elefantenrunde siehe z. B. ORF .at vom 21.09.21: https://ooe.orf.at/stories/3122406/, der Standard vom 22.09.21: https://www.derstandard.at/ story/2000129839124/oberoesterreich-elefantenrunde-kandidaten-festigen-positionen-zu-imp fung-klima-und-co, ZIB Spezial vom 26.09.21: https://www.youtube.com/watch?v=YPH9CyleTv4. Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse vom 26.09.21, verfügbar unter folgendem Link: https:// www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/SORA_ISA_Wahltagsbefragung_OOE_2021.pdf. Wahltagbefragung und Wählerstromanalyse vom 27.09.15, verfügbar unter folgendem Link: https:// www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2015_LTW-OOe_Wahlanalyse-Grafiken.pdf. ÖVP-Stimmanteil zwischen 23,87 % in St. Pankraz und 62,87 % in Kaltenberg. FPÖ -Stimmanteil zwischen 7,14 % in Obertraun und 42,16 % in St. Georgen am Fillmanns, SPÖ-Stimmanteil zwischen 2,63 % in St. Radegund und 46,19 % in Obertraun, GRÜNE-Stimmanteil zwischen 2,94 % in St. Georgen am Fillmanns und 27,04 % in Ottensheim, NEOS-Stimmanteil zwischen 0,57 % in Lichtenau im Mühlkreis und 10,99 % in Hirschbach im Mühlkreis, MFG -Stimmanteil zwischen 2,2 % in Schwarzenberg am Böhm und 19,43 % in Maria Neustift. Als Datenbasis diente der Landtagswahlbericht 2021 des Landes Oberösterreich, verfügbar unter folgendem Link: https://wahl.land-oberoesterreich.gv.at/LWahlbericht.pdf. Klassifizierung in zehn Gemeindegrößenklassen: