Steirisches Jahrbuch für Politik 2017 [1 ed.] 9783205200284, 9783205200260


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Steirisches Jahrbuch für Politik 2017 [1 ed.]
 9783205200284, 9783205200260

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Steirisches Jahrbuch für Politik 2017

Herausgegeben von Beatrix Karl Wolfgang Mantl Klaus Poier Manfred Prisching Anita Ziegerhofer

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Kölblgasse 8–10, 1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Gesamtredaktion: Klaus Poier, Graz Veröffentlicht mit Unterstützung des Vereins für Politik und Zeitgeschichte sowie des Landtagsklubs der Steirischen Volkspartei Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien

ISBN 978-3-205-20028-4

Vorwort

Mit der vorliegenden Ausgabe zum Jahr 2017 erscheint das Steirische Jahrbuch für Politik bereits zum 18. Mal. Es konnte sich als Standardwerk der Dokumentation und Analyse des steirischen Zeitgeschehens, eingebettet in den größeren österreichischen, europäischen und internationalen Zusammenhang, etablieren. Die Herausgeberinnen und Herausgeber legen großen Wert darauf, dass mit dem Steirischen Jahrbuch für Politik eine umfassende und pluralistische Darstellung der wesentlichen Entwicklungen der Politik und Gesellschaft in der Steiermark geboten werden kann, wobei die Kombination von authentischen Darlegungen und zeitnahen, kontextbezogenen Kommentierungen einen vertieften Einblick ermöglichen soll. Das Steirische Jahrbuch für Politik 2017 ist in sechs Kapitel gegliedert. Zu Beginn steht unter der traditionellen Rubrik „Perspektiven der Zeit“ ein grundsätzlicher Beitrag des im Jänner 2017 angelobten neuen österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, der „Vertrauen“ als die wichtigste Ressource Österreichs betont. Das zweite Kapitel „Steiermark und Österreich live“ ist – außerhalb der Schwerpunktkapitel – wichtigen Ereignissen bzw. Entwicklungen und ihrer Analyse der österreichischen und steirischen Politik bzw. Gesellschaft im abgelaufenen Jahr gewidmet. An der Spitze stehen Beiträge der Landeshauptleute der Steiermark sowie – neu ins Amt gewählt – von Nieder- und Oberösterreich zu den Entwicklungen im jeweiligen Land. Es folgen die Beiträge von drei Landesregierungsmitgliedern der Steiermark, die ebenso 2017 neue Aufgaben übernommen haben. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Gesundheitsreform in der Steiermark, der wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich, Möglichkeiten der Demokratiereform, dem 300-Jahr-Jubiläum der Freimaurer und dem sogenannten „Brain Drain“ im Hochschulbereich. Abschließend finden sich ein Beitrag über den Sprachwandel in Österreich sowie ein sehr persönlicher Bericht über eine junge Steirerin, die plötzlich im Rampenlicht steht. Das dritte Kapitel des Jahrbuchs ist dem wohl bedeutendsten innenpolitischen Ereignis im Jahr 2017 gewidmet, nämlich der Nationalratswahl, dem Wahlkampf, dem Ergebnis und der Regierungsbildung. Neben Politikberatern, Wissenschaftern und Journalisten wurden für dieses Kapitel die Parteispitzen aller Parlamentsparteien einschließlich der Grünen eingeladen, allerdings blieben manche Einladungen, einen Beitrag zu verfassen, trotz mehrerer Nachfragen leider unbeantwortet. Vorwort

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Im vierten Kapitel – zur Gemeinderatswahl in Graz 2017 – gibt es hingegen erfreulicherweise Beiträge der gesamten Riege der Grazer Parteispitzen, die jeweils aus ihrer Sicht die Wahl, das Ergebnis und die folgende Koalitionsbildung analysieren und bewerten. Im fünften Kapitel des Jahrbuchs „Religion und Kirchen“ finden sich Beiträge zu 500 Jahre Reformation aus protestantischer und katholischer Sicht. Weiters ist ein Beitrag dem neuen steirischen Bischof in Innsbruck gewidmet. Schließlich sind auch das 800-Jahr-Jubiläum der Diözese Graz-Seckau sowie die aktuelle Debatte um das Kopftuchverbot aus rechtlicher Sicht Themen dieses Kapitels. Das abschließende sechste Kapitel des vorliegenden Jahrbuchs ist schließlich wieder einem „Welt-Panorama “ gewidmet, mit Beiträgen zum Verhältnis Europa und USA, zum OSZE-Vorsitz Österreichs 2017, zur Bundestagswahl in Deutschland und der Präsidentenwahl in Frankreich sowie zur weltweiten Diskussion unter dem Kürzel #MeToo. Jahresrückblick, Bildteil sowie Zusammenstellung der Wahlergebnisse seit 1945 finden sich auch im Anhang des Jahrbuchs 2017. Großer Dank der Herausgeberinnen und Herausgeber gilt den 45 Autorinnen und Autoren dieses Jahrbuch für ihre facettenreichen und spannenden Beiträge. Für die organisatorische und redaktionelle Mitarbeit danken wir ganz besonders Gudrun Bergmayer, Mag.a Katharina Holzmann, Herta Miessl, Mag. Manuel P. Neubauer, Mag.a Sandra Saywald-Wedl sowie Mag.a Daniela Orthaber und Johann Trummer. Unser Dank gilt dem Böhlau Verlag namentlich Dr.in Claudia Macho sowie Mag.a Bettina Waringer für die Herstellung. Wir freuen uns, mit der Ausgabe 2017 des Steirischen Jahrbuchs für Politik wieder eine umfassende pluralistische Darstellung und Analyse der politischen und zeithistorischen Entwicklung in der Steiermark bzw. der Rahmenbedingungen vorlegen zu können. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind stolz auf das qualitativ hochwertige Werk und hoffen wie stets auf entsprechende Resonanz. Klaus Poier, Gesamtredakteur und Mitherausgeber

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Vorwort

Inhalt Steirisches Jahrbuch für Politik 2017 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Perspektiven der Zeit Alexander Van der Bellen VERTRAUEN – Österreichs wichtigste Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Steiermark und Österreich live Hermann Schützenhöfer Miteinander Herausforderungen bewältigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Mikl-Leitner Niederösterreich: Land an der Seite der Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stelzer Neue Perspektiven für Oberösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christopher Drexler Ich sehne mich nach Provokation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Eibinger-Miedl Aktuelle Schwerpunkte der steirischen Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Lang Aktuelle Herausforderungen der steirischen Haushalts- und Budgetpolitik . . . Michael Koren Reform des Gesundheitswesens in der Steiermark – ein Zwischenbericht . . . . Christoph Badelt Wahlkampf in Zeiten der Hochkonjunktur: Zur wirtschaftspolitischen Diskussion im Jahr 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin G. Kocher/Klaus Weyerstraß Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Storr Das Demokratieprinzip: Erwartungen und Möglichkeiten der Fortentwicklung eines Verfassungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl A. Kubinzky 300 Jahre Freimaurerei: einige Fragen und Antworten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexandra Dorfer Gekommen, um … weiterzuziehen? Zur internationalen Mobilität von Hochqualifizierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helmut Kuzmics Und keiner sieht das Krokodil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Heimrath Ich im Rampenlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalratswahl 2017: Wahlkampf, Ergebnis, Folgen Sebastian Kurz Ein klarer Auftrag für Veränderung in unserem Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lambert Schönleitner Ursachen einer Bruchlandung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikola Donig NEOS – nicht rechts oder links, sondern vorne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Kolba/Sebastian Reinfeldt Postdemokratie in Österreich? Die Liste Pilz als Kontrapunkt. . . . . . . . . . . . . . . Heidi Glück Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Poier Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz P. Wassermann „ÖVP-Jubel im Steirerland“ oder: politisch polarisierte Soziotope. . . . . . . . . . . Matthias Huber/Stefan Rothbart/Dirk Seybold TV-Duelle im Nationalratswahlkampf 2017: Bedeutung, Darstellung, Themen, Wirkung und mediale Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Sittinger Phänomen Kurz – ein österreichisches Spezifikum oder internationaler Trend?. . . Gemeinderatswahl in Graz 2017 Siegfried Nagl Graz: Alice im Wunderland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Kahr Haltung und Hoffnung: Die Grazer KPÖ nach der Gemeinderatswahl 2017. . . . Mario Eustacchio Das Wahljahr 2017 brachte Graz eine klare bürgerliche Mehrheit . . . . . . . . . . . Tina Wirnsberger Klimawandel in der Stadt: Herausforderung für die Grazer Stadtpolitik . . . . . . Michael Ehmann Wendepunkt für Sozialdemokratie und Plädoyer für bunten Diskurs. . . . . . . . . 8

Inhalt

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Nikolaus Swatek Graz wird pink! Wie NEOS in Graz Fuß fasste und dabei Geschichte schrieb. . . Religion und Kirchen Hermann Miklas 500 Jahre Reformation – aus evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Krautwaschl 500 Jahre Reformation aus Sicht der katholischen Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Lagger Geht, heilt und verkündet! Hermann Glettler – Diözesanbischof von Innsbruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Mantl 800 Jahre Diözese Graz-Seckau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christina Barbara Trapp Die aktuelle Debatte um das Kopftuchverbot aus rechtlicher Sicht . . . . . . . . . . Welt-Panorama Manfred Prisching Europa und die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Robinson Österreich als Vermittler – Die österreichische Außenpolitik im Lichte des OSZE-Vorsitzes 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Decker „Österreichische Verhältnisse“? Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems vor und nach der Bundestagswahl 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antonia Csuk Frankreich „en marche“? Persönliche Eindrücke aus Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Ziegerhofer #MeToo – The Silence Breakers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hatzl Jahresrückblick 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlergebnisse seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Perspektiven der Zeit

ALEXANDER VAN DER BELLEN

VERTRAUEN – Österreichs wichtigste Ressource

Im Oktober 2017 fand in Österreich eine vorgezogene Nationalratswahl statt, im Dezember wurde die neue Bundesregierung ernannt und angelobt. Zur neuen Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ gab es in Österreich selbst, aber auch im Ausland, unterschiedliche Kommentare, positive und viele kritische Stimmen. Mir als Bundespräsident war es sehr wichtig, zunächst unvoreingenommen ein Vertrauensverhältnis zu den Vertretern der jetzigen Regierungsparteien aufzubauen. Meine Aufgabe in der Begleitung der Regierungsverhandlungen war es, das Gesamtwohl des Staates und die Grundsätze unserer Verfassung im Auge zu behalten. Nun ist es ja eine Binsenweisheit, dass jede neue Regierung zunächst einmal mit großen Erwartungen konfrontiert ist. Ob sie diese erfüllen kann, hängt von vielen Faktoren ab: von der wirtschaftlichen Entwicklung, vom sozialen Frieden, von motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von innovativem Unternehmergeist, aber vor allem auch vom Umgang der Parteien mit der neu gewonnenen Macht – in Österreich selbst und bei Entscheidungen in der Außenpolitik. Ob Krieg oder Frieden in einer Region herrscht, Flucht und Vertreibung, das hat direkte Auswirkungen auf den Rest der Welt. Auch auf uns.

Europa: Gemeinsam in die richtige Richtung schauen Die gedeihliche Entwicklung unseres Landes hängt aber vor allem – und es ist mir wichtig, das zu betonen – von einem positiven Vertrauensverhältnis zwischen der Staatsspitze und der Bevölkerung ab, also zwischen Regierenden und Regierten. Natürlich gibt es immer unterschiedliche Meinungen, was die Definition politischer Ziele und den Weg zur Erreichung dieser Ziele betrifft. Man kann darüber debattieren und sogar ausgiebig streiten. Das ist untrennbar mit einer Demokratie verknüpft. Aber ein „Grundvertrauen“ der Bevölkerung in die politische Arbeit, in die Demokratie und in ihre Institutionen ist unabdingbar. Dieses Vertrauen ist daher aus meiner Sicht eine ganz zentrale politische Ressource. Vor allem dann, wenn es um gesellschaftspolitische Themen geht, wo wir uns wirklich ernsthaft bemühen müssen, gemeinsam in die richtige Richtung zu schauen. Alexander Van der Bellen

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Ich möchte nur zwei entscheidende Bereiche herausgreifen: 1. unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2. die Verantwortung Österreichs gegenüber seiner Vergangenheit. Zum ersten Punkt: Wir sind nicht nur Österreicherinnen und Österreicher, Steirerinnen und Steirer, Wienerinnen und Wiener usw., sondern auch Europäerinnen und Europäer. Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, das zeigen alle Umfragen, befürwortet uneingeschränkt unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sie ist klar pro-europäisch eingestellt. Meine erste Reise als Bundespräsident führte mich 2017 auch ganz bewusst zuerst nach Brüssel zum Europäischen Rat und zur Europäischen Kommission sowie nach Straßburg ins Europaparlament. Am 14. Februar 2017 habe ich vor dem Europaparlament gesagt: „Wir sind ein Kontinent des ‚UND’ und nicht des ‚Entweder-oder’. Das macht uns auf dieser Erde einzigartig. So verstehe ich mich persönlich seit langer Zeit als Tiroler, Österreicher und Europäer. Meine Heimat ist Tirol, Wien, Österreich und Europa! Es ist zudem meine tiefe Überzeugung, dass Österreich seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen nur in einem Vereinten Europa verwirklichen kann.“ (P.S. Ich würde das übrigens auch als Steirer so sehen, und ich wäre stolz auf dieses Bundesland.) Ein geeintes Europa ohne Feindschaften, ohne Kriege, ohne Grenzbalken und chauvinistische Abschottungen – das war einst der Traum von Millionen Menschen nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Es war der Versuch, in einer katastrophalen Lage wieder Mut und Zukunftsglauben zu entwickeln. Es ist gelungen. Daraus wurde im Lauf der Jahrzehnte sogar ein überaus erfolgreiches Friedensprojekt, um das uns viele beneiden. Nach wie vor ist die europäische Idee groß und großartig. Sie ist geradezu einzigartig in der Welt und sie muss uns alle Mühen wert sein. Vor allem für die Jugend ist die Weiterentwicklung eines offenen, demokratischen, freien und werteorientierten Europa von immenser Bedeutung. Natürlich sind wir uns alle bewusst, dass der Kontinent heute, im 21. Jahrhundert, angesichts von aufflammenden Nationalismen und kurzsichtiger Eigenbrötlerei um Akzeptanz ringt. Ein Land, Großbritannien, verlässt sogar erstmals die Union. Der Schock sitzt immer noch tief und Europa hat einen neuen Erklärungsbedarf für Attraktivität und Zusammenhalt. Die Menschen verlangen nach neuen Ideen, nach Esprit und Elan, nach Zuversicht und Perspektiven, nach Freude am Gestalten und Leadership. Ich bleibe jedenfalls optimistisch. Im Laufe ihrer Geschichte ist die Europäische Union immer wieder gestärkt aus Krisen hervorgegangen. Vieles spricht dafür, dass auch dieses Mal die Chancen gut stehen – weil wir nur zu gut wissen, was auf dem Spiel steht, 14

VERTRAUEN – Österreichs wichtigste Ressource

wenn der richtige Zeitpunkt zum Handeln, zum entschlossenen Aufbruch in die Zukunft, verpasst wird.

Zukunftsverantwortung durch Erinnerung an dunkle Zeiten Das führt mich zum zweiten Aspekt, der uns allen heuer ganz besonders wichtig sein sollte. Er heißt Verantwortung durch Erinnerung: Das Jahr 2018 ist in Österreich einer großen Rückschau in die Geschichte gewidmet. Es ist eine Rückschau, die das Ringen um Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Frieden durch die Jahrhunderte nachzeichnet. • Wir gedenken des Revolutionsjahres 1848, als um grundlegende bürgerliche Rechte und Freiheiten gekämpft wurde. • Europa erinnert sich an das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. • Im November feiern wir den 100. Geburtstag unserer Republik. 1918 haben nur wenige Menschen es für möglich gehalten, dass unser Land nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie überlebensfähig sein würde. Geschweige denn, dass es sich zu einem derart schönen und erfolgreichen Land weiterentwickeln würde, als das es sich heute präsentiert. Wir gedenken aber auch der dunklen Kapitel unserer Geschichte: • Heuer jährt sich der sogenannte „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland zum 80. Mal. Heuer ist es genau 80 Jahre her, dass nicht nur am Wiener Heldenplatz Österreicherinnen und Österreicher Adolf Hitler stürmisch begrüßt haben, sondern auch in anderen Teilen Österreichs. Längst lief zu diesem Zeitpunkt bereits die Verfolgungsmaschinerie der neuen Machthaber. Damit und mit dem darauffolgenden Novemberpogrom wurden die dunkelsten Jahre österreichischer Geschichte eingeläutet. Wir erinnern uns daran, dass Österreicherinnen und Österreicher Opfer UND Täter waren. • Vor 70 Jahren dann – noch unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkrieges – nahm die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einstimmig an. • Und schließlich erinnern wir uns der 68er-Bewegung, als die Kinder der Kriegsgeneration nach den Verstrickungen ihrer Eltern in den Nationalsozialismus nach Schuld und Verantwortung zu fragen begannen. Seitdem hat Österreich schrittweise einen grundlegenden Wandel vollzogen: Auf die Jahrzehnte des Verdrängens und Vergessens folgte ein spätes, schmerzhaftes Erinnern, ein Eingestehen und Annehmen der Mitverantwortung für die während des Nationalsozialismus verübten Verbrechen. Dieser nicht immer einfache Prozess der Aufarbeitung – und vor allem auch der Einsicht – ist noch immer nicht abgeschlossen. Alexander Van der Bellen

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Heuer, im Gedenkjahr 2018, blickt Österreich auf diese bewegten Zeiten zurück – zwar als eine, wie ich glaube, gereifte und starke Republik, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Aber offensichtlich trifft der gesellschaftlich-demokratische Grundkonsens noch nicht in jenem Ausmaß zu, wie wir uns das erhofften. Es bedarf weiterhin des hartnäckigen Aufzeigens und Bekämpfens von Antisemitismus und Rassismus. Geschichte kann sich wiederholen, wenn wir nicht wachsam sind, wenn wir bedenklichen Tatsachen oder Entwicklungen nicht rechtzeitig mit Bestimmtheit entgegentreten. Wenn heute ein junger Mensch zu mir sagt: „Was geht mich die NS-Vergangenheit an? Könnt ihr nicht endlich damit aufhören?“, dann halte ich entgegen: „Nein, das können wir nicht. Denn wenn du das als Ausrede benutzt, dich nicht mit dieser entsetzlichen Zeit zu beschäftigen, dann läufst du Gefahr, die Zeichen an der Wand nicht zu erkennen, wenn sie bereits sichtbar sind. Glaub nicht, dass die Demokratie unzerstörbar ist, oder gegenseitiger Hass, Verachtung, Ausgrenzung und politische Verblendung als brandgefährliche Mischung nicht wieder kommen können. In einem anderen Kleid, mit einem neuen Gesicht.“

Die Welt wächst zusammen: die globale Schicksalsgemeinschaft Ich möchte diesen Gastbeitrag nicht beenden, ohne wenigstens in Stichworten noch einen dritten Punkt anzumerken: Wir sagen oft in Österreich – und das zu Recht –, dass wir stolz sein können auf das Erreichte, auf unseren Wohlstand, auf die wirtschaftlichen Erfolge, auf die schier unbegrenzten Möglichkeiten an Bildungschancen und Lebensmodellen. Das macht das Leben der Jugend in einer Weise interessant wie nie zuvor. Aber auch herausfordernd. Dank neuer Technologien ist unsere Welt darüber hinaus vernetzt, wie ich mir das in meiner Jugend nicht habe vorstellen können. Wir merken allmählich, dass wir auch ein gemeinsames Schicksal haben, nämlich als Weltgemeinschaft. Wir haben eine gemeinsame Heimat. Es ist unser Planet Erde. Alles, was wir heute tun oder nicht tun, was wir fördern oder unterlassen, was wir schützen oder vernichten, ob wir nachdenken oder einfach nur gedankenlos nehmen, was immer wir kriegen können – all das hat Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Das reicht vom Raubbau an der Natur über die rasante Dezimierung der Tier- und Pflanzenwelt bis hin zu den Folgen des anthropogen verursachten Klimawandels. Das betrifft die solidarische Hilfe für Flüchtlinge ebenso wie eine menschenwürdige Gestaltung der sich abzeichnenden digitalen Arbeitswelt und die Sorge um die Zukunft der älteren Generationen bzw. jenen, die sich aus verschiedensten Gründen nicht mehr selbst helfen können. Ich finde, unsere Nachkommen sollten stolz auf uns sein, wenn sie unsere Arbeit, unsere Weitsicht, unser Verantwortungsgefühl und unser Engagement für eine gute Zukunft der Weltfamilie einmal bewerten. Die Fundamente dafür werden schon gelegt. Die Zukunft beginnt heute. Heute ist immer jetzt. 16

VERTRAUEN – Österreichs wichtigste Ressource

Steiermark und Österreich live

HERMANN SCHÜTZENHÖFER

Miteinander Herausforderungen bewältigen

Wirft man zu Beginn des Jahres 2018 einen Blick auf das abgelaufene Jahr 2017, offenbaren sich die vielfältigen Veränderungen, die diese ereignisreichen zwölf Monate mit sich gebracht haben. Eine kurze Rückschau: Wenige Tage nach dem Jahreswechsel präsentiert der österreichische Bundeskanzler, der zu diesem Zeitpunkt Christian Kern heißt, seinen sogenannten „Plan A“. Eine Regierungskrise später wird er sich mit seinem Vizekanzler Reinhold Mitterlehner auf ein neues Regierungsprogramm einigen. Erwin Pröll kündigt nach fast 25 Jahren im Amt seinen Rücktritt als Landeshauptmann Niederösterreichs an. Am 26. Jänner 2017 wird Alexander Van der Bellen nach langwieriger Wahl als Staatsoberhaupt angelobt. Wenige Tage zuvor zieht jenseits des Atlantiks Barack Obama aus dem und Donald Trump als Präsident in das Weiße Haus. Zwar nicht von globaler, aber für die Steiermark von zentraler Bedeutung, ist die Gemeinderatswahl in der Landeshauptstadt Anfang Februar. Siegfried Nagl wird zum vierten Mal gewählt und führt die Landeshauptstadt seither in einer Koalition mit der FPÖ in die Zukunft. Ein turbulenter Start in ein Jahr, das im Zeichen von Umbrüchen und Aufbrüchen stehen wird. Ein Jahr in dem – vermutlich auch bedingt durch die vielen Veränderungen – die Sehnsucht nach einem neuen Stil der Zusammenarbeit besonders deutlich hervortritt.

Überwindung der Lähmung der Republik Wie sehr Streit und gegenseitige Missgunst innerhalb einer frei gewählten Koalition eine Republik lähmen und notwendige Reformen verzögern können, hat die alte Bundesregierung gezeigt. Der Rücktritt von Reinhold Mitterlehner und die Übernahme der Parteiobmannschaft durch Sebastian Kurz haben einen neuen Stil in die Bundespolitik gebracht. Kurz ist mit dem Versprechen angetreten, einen neuen Weg zu gehen, einen Weg, den wir in der Steiermark in der Reformpartnerschaft und jetzt in der „Zukunftspartnerschaft“ pflegen, nämlich jenen der vertrauensvollen Zusammenarbeit, die über Parteigrenzen hinausreicht und die Interessen des Landes in den Mittelpunkt stellt. Der Zuspruch, den Kurz und die Volkspartei bei der Nationalratswahl im Oktober 2017 erfahren haben, zeigt, wie groß der Wunsch in der Bevölkerung ist, das gegenseitige Anpatzen zu beenden, und Hermann Schützenhöfer

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gemeinsam zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger die Zukunft zu gestalten. Viele verkrustete Strukturen, die die Bundespolitik lähmten, konnten in der Steiermark schon vor Jahren aufgebrochen und die notwendigen Reformen umgesetzt werden. Arbeit für die Steiermark ist dabei in der Landesregierung unser zentrales Thema. Die Herausforderungen, die sich aus der voranschreitenden Digitalisierung sowie der damit einhergehenden Globalisierung ergeben, machen es notwendig, alte Denkmuster zu überwinden. Arbeit für die Steiermark sichern und schaffen bedingt es, Arbeit neu zu denken! Viele Arbeitsplätze, wie wir sie heute kennen, werden verschwinden. Aber eines ist klar: Wenn wir weiterhin einen Fokus auf Wissenschaft, Forschung und Entwicklung legen, wird es auch in Zukunft genügend gute und sichere Arbeitsplätze in unserem Land geben. Es ist und bleibt daher ein Grundsatz der Steiermark: Wir unterstützen die forschungsintensive und entwicklungsgetriebene Industrie. Wir bekennen uns zum Industriestandort Steiermark, denn das schafft steirische Arbeitsplätze! Und nur eine große Zahl von Beschäftigten sichert nachhaltig und langfristig unseren Sozialstaat. Sicherheit und Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit, all das kann es nur geben, wenn unsere Steirerinnen und Steirer Arbeit haben. Dafür braucht es Verbesserungen für den Wirtschaftsstandort. Damit der Standort an Attraktivität gewinnt, braucht es in erster Linie drei Punkte: bessere Rahmenbedingungen, ein Ende der Regulierungswut und eine Senkung der Lohnnebenkosten. Die bisher präsentierten Vorhaben der neuen Bundesregierung stimmen mich dabei zuversichtlich. Ich hoffe, dass hier endlich die notwendigen Schritte gesetzt werden, damit es in Österreich wieder mehr Unternehmer-Lust statt Unternehmer-Frust gibt.

Steiermark ist Forschungseuropameister Im Sommer 2017 gab es einen besonderen Erfolg für die Steiermark: Die Forschungsquoten der europäischen Regionen offenbarten schwarz auf weiß die zukunftsorientierte Arbeit. Mit einer Forschungs- und Entwicklungsquote von nunmehr 5,16 % liegt die Steiermark mit großem Abstand an der Spitze aller österreichischen Bundesländer. Und nicht nur das, wir sind DIE Innovationsregion Europas und damit auch international an der Spitze. In keinem anderen Bundesland haben Forschung und Entwicklung einen so hohen Stellenwert wie bei uns. Forschung schafft Arbeitsplätze. In der Steiermark schon heute mehr als in jedem anderen Bundesland. Erst unlängst konnten wir mit dem Silicon Austria Forschungszentrum wieder hunderte Arbeitsplätze in unser Bundesland holen. Wenn wir heute Geld in Forschung und Entwicklung investieren, sparen wir uns die Sozialausgaben von morgen. Wissenschaft, Forschung und Innovation, das ist unsere Fahrkarte in die Zukunft. Die Steiermark besitzt schon heute die meisten Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen außerhalb Wiens und über die Hälfte aller technischen Wissenschaftler Österreichs haben ihren Arbeitsplatz in unserem Land. 20

Miteinander Herausforderungen bewältigen

Wir wollen sicherstellen, dass alle Steirerinnen und Steirer die gleichen Chancen haben, egal ob in der Stadt oder am Land. Die Gemeindestrukturreform hat die Grundlagen für starke Gemeinden in starken Regionen geschaffen. Das gilt ganz besonders auch für die Kinderbetreuung und die Schulen. Wir haben Ganztagesbetreuung und damit die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie gestärkt. Manche unserer Ortskerne und Bezirksstädte sind vom Aussterben bedroht. Daher setzen wir alles daran, einen Umkehrschub einzuleiten, um diese wieder mit Wohnungen und Unternehmergeist zu beleben. Das Forcieren der Breitbandoffensive ist vor allem Voraussetzung dafür, dass Arbeit und Beschäftigung in den Regionen bleibt. Die globale Vernetzung und die ständige Weiterentwicklung bringen neue Technologien und damit auch beinahe täglich neue Herausforderungen mit sich. Ich will, dass wir in diesen Herausforderungen Chancen sehen, denn dann wird es gelingen, als Gesellschaft von den Veränderungen zu profitieren. Digitalisierung braucht aber die notwendige Infrastruktur. Dazu zählt in erster Linie eine leistungsfähige und ultraschnelle Anbindung an das Internet. Als 1969 der erste steirische Autobahnabschnitt eröffnet wurde, gab es in ganz Österreich 1,1 Millionen Pkw. Damals hat niemand damit gerechnet, dass es einmal viermal so viele Autos geben wird. Aber man war sich bewusst, dass Wachstum nur dann möglich ist, wenn es eine Infrastruktur gibt, die zukunftsorientiert ist. Heute gibt es in der Steiermark zwei Autobahnen und drei Schnellstraßen. Diese Infrastruktur verbindet Regionen, sie verbindet Menschen. Breitband-Internet ist die Autobahn der Zukunft. Schnelles Internet in der gesamten Steiermark ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit zwischen ländlichen Regionen und dem Zentralraum, es ist vor allem eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir der Abwanderung aus dem ländlichen Raum entgegenwirken können. Der Tischler aus der Weststeiermark kann seine hervorragenden Produkte über das Internet in alle Welt verkaufen. Ein Architekt aus dem Gesäuse wird seine Pläne mittels Videokonferenz in New York präsentieren können. Eines ist klar: Breitband-Internet wird in wenigen Jahren so selbstverständlich sein wie Strom. Wir haben das große Glück, in einem Land leben zu dürfen, das – im Herzen Europas gelegen – Heimat sehr vieler talentierter Menschen ist. Wir wollen ihnen die Möglichkeit bieten, sich hier zu entfalten.

Zusammenarbeit aller konstruktiven Kräfte Eines haben die hier umrissenen Herausforderungen gemein: Es braucht die Zusammenarbeit aller konstruktiven Kräfte und den Blick über den Tellerrand hinaus. Es freut mich, dass es mit Sebastian Kurz nun einen Bundeskanzler gibt, der ausgetretene Pfade verlassen und neue Wege gehen will. Ich will unseren Kindern und Enkelkindern keine Hypotheken, sondern Chancen hinterlassen, dafür braucht es geeinte Kräfte. Die Zusammenarbeit muss nicht nur innerhalb der Landesregierung, sondern auch zwischen der Hermann Schützenhöfer

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Landesregierung und der Bundesregierung im Mittelpunkt stehen. Gemeinsam werden wir – unserer Bundeshymne verpflichtet – unser Land und unsere Republik „mutig in die neuen Zeiten“ führen.

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Miteinander Herausforderungen bewältigen

JOHANNA MIKL-LEITNER

Niederösterreich: Land an der Seite der Menschen

Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg Wo Menschen in Lebensräumen denken, darf die Politik nicht an den Landesgrenzen Halt machen! Das ist das Credo meiner Arbeit, denn ich bin fest davon überzeugt, dass in der Welt zunehmender Veränderung, in der wir leben, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Das gilt für die Zusammenarbeit innerhalb des Landes über Gemeinde-, Bezirks- und Regionsgrenzen hinweg, das gilt aber auch für die Zusammenarbeit mit den anderen Bundesländern Österreichs, insbesondere den Nachbarbundesländern, und das gilt auch für die Zusammenarbeit mit unseren angrenzenden Nachbarstaaten und generell mit den Staaten Europas. Als Landeshauptfrau ist es mir ganz besonders wichtig, Niederösterreich als Land an der Seite der Menschen zu verstehen und Niederösterreich als Land an der Seite der Menschen zu gestalten und zu führen. Chancen und Herausforderungen gibt es viele. Gerade jetzt und gerade für die kommenden Jahre. Nicht nur für Niederösterreich, sondern auch für Österreich, für Europa und für die ganze Welt. Eine Herausforderung, mit der alle Staaten gleichermaßen konfrontiert sind, ist die Abwanderung aus den ländlichen Regionen. Immer mehr Menschen zieht es in die Städte, vor allem die jungen. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen am Land eine Zukunft zu geben. Sie brauchen eine Perspektive. Moderne Bildung, hochwertige Arbeitsplätze, eine zukunftsfähige Infrastruktur, verlässliche Gesundheitsversorgung, kulturelle und Freizeitangebote – all das sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass unsere ländlichen Räume Zukunftsräume sind und bleiben. In Niederösterreich haben wir uns einiges für die nächsten Jahre vorgenommen, um genau hier anzusetzen. Ich möchte im Folgenden auf einige Punkte näher eingehen:

Schnellere Verkehrswege und kürzere Fahrtzeiten Ein Thema, die die Menschen – egal ob in der Stadt oder am Land – gleichermaßen bewegt, ist die Mobilität. „Wie komme ich zur Arbeit oder an die Universität?“, „Wie Johanna Mikl-Leitner

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kommt mein Kind zur Schule?“ oder „Wie gelange ich zum nächsten Arzt, Supermarkt oder Bahnhof?“ Das sind wichtige Fragen des Alltags und das sind vor allem Fragen, die uns alle betreffen. In Niederösterreich haben wir daher schon viel in den Ausbau unserer Straßen und Schienen investiert. Nun ist es an der Zeit, einen Schritt weiter zu gehen: Unsere Aufgabe ist es, die Verkehrswege schneller und die Fahrtzeiten kürzer zu machen. Deshalb haben wir im Herbst vergangenen Jahres ein Mobilitätspaket geschnürt, mit dem wir 3,3 Milliarden Euro in den Ausbau unseres Straßennetzes, in den öffentlichen Verkehr und in die E-Mobilität investieren. Denn wir wollen die besten Verbindungen für unsere Landsleute – zwischen Stadt und Land und zwischen Arbeit und zu Hause. Dabei braucht es oftmals auch neue Wege und deshalb prüfen wir die Waldviertel-Autobahn und die Verlängerung der U-Bahn ins Wiener Umland. Das ist gerade in einem Land wie Niederösterreich besonders wichtig, denn hier pendeln täglich Zehntausende zwischen Wien und Niederösterreich. Eines unserer wichtigsten Bauprojekte ist die A5 Nordautobahn, und dabei ist uns die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren tschechischen Nachbarn besonders wichtig, denn für mehr Tempo in der gesamten Region braucht es nicht nur die Bauarbeiten auf niederösterreichischer, sondern auch auf tschechischer Seite. Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt, bei dem es um Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg geht, ist die A4 Ostautobahn. Auch hier sind wir intensiv mit dem Burgenland bemüht, die Verkehrssituation für die Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern.

Initiative Landarzt zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Dieses Zitat des Philosophen Arthur Schopenhauer könnte nicht besser beschreiben, dass Gesundheit unser größtes Gut ist. Denn, was nützen das schönste Haus, der größte Garten oder das teuerste Auto, wenn man krank ist. Doch Gesundheit wird oft als zu selbstverständlich hingenommen. Wir werden uns unserer Gesundheit oft erst dann bewusst, wenn sie abnimmt, wenn sich Beschwerden einstellen oder wenn sich Krankheiten ankündigen. Bei uns im Bundesland Niederösterreich hat das Thema Gesundheit einen hohen Stellenwert und daher sind rund 50  % der Ausgaben in unserem Landesbudget für den Gesundheits- und Pflegebereich reserviert. Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen für eine effiziente und bestmögliche Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Das machen wir durch die medizinische Versorgung in den Landeskliniken, die Langzeitpflege und Betreuung in den Pflegeheimen und die flächendeckende Hospiz- und Palliativversorgung. Ein ganz besonderes Anliegen ist es mir, die ärztliche Versorgung in allen Regionen zu gewährleisten, gerade auch im ländlichen Raum. Daher bekennen wir uns zu unseren 27 Klinikstandorten und daher haben wir auch die „Initiative Landarzt Niederösterreich“ gestartet. Das ist ein gezieltes Maßnahmen-Paket, das 24

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die Arbeit für Landärzte in Niederösterreich attraktiver macht und die Versorgung mit Landärzten in allen Regionen unseres Landes garantiert. Gesundheit kennt keine Grenzen, daher haben wir mit den tschechischen Kreisen Südböhmen, Südmähren und Vysočina einen grenzüberschreitenden Rettungsvertrag abgeschlossen. In der Praxis bedeutet das, dass nun jenes Rettungsteam – ungeachtet der Staatsgrenze – zum Einsatz kommt, das am schnellsten am Einsatzort sein kann. Ein Vorzeigeprojekt grenzüberschreitender Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich ist das Projekt „healthacross“. So konnten etwa im Rahmen des Projekts seit dem Jahr 2008 über 4.000 tschechische Patientinnen und Patienten aus der Grenzregion am Landesklinikum Gmünd ambulant versorgt worden.

Impulse am Arbeitsmarkt durch Beschäftigungspaket Das wichtigste Anliegen der Menschen ist das Thema Arbeit: Arbeit finden, Arbeit haben, Arbeit sichern. Und was für die Menschen das größte Anliegen ist, muss für uns in der Politik die wichtigste Aufgabe sein. Wir wissen, dass der Wettbewerb immer stärker, härter und internationaler wird. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen im Wandel der Technik und Zeit Arbeit im Land haben. Die Basis, auf der wir aufbauen können, ist in Niederösterreich eine gute: Im Jahresdurchschnitt 2017 waren rund 600.000 Menschen in Beschäftigung und wir konnten das stärkste Beschäftigungsplus seit zehn Jahren verzeichnen. Diese Entwicklung wollen wir fortsetzen. Deshalb investieren wir in den nächsten drei Jahren rund 1,3 Milliarden Euro in zusätzliche Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Zudem setzen wir auf Investitionsanreize für die Unternehmen und erleichtern ihnen durch Deregulierungsmaßnahmen die Arbeit. Denn es braucht weniger Bürokratie und mehr Hausverstand. Ein Problem, mit dem unsere Betriebe zunehmend konfrontiert sind, ist der Mangel an Fachkräften. Wir haben daher eine Lehrlings- und Fachkräfteoffensive gestartet: Erstens starten wir flächendeckend Fachmessen für Lehrberufe, sogenannte „Karriere Clubbings“, wo wir die regionalen Schulen und die regionale Wirtschaft zusammenbringen. Zweitens sollen Karriere-Coaches als kompetente Ansprechpartner Jugendlichen unterstützend und beratend den Zugang zu Lehrstellen, Fördermöglichkeiten und Anrechnungen erleichtern. Und drittens starten wir das Sonderprogramm „NÖ Lehre PLUS“ als Bildungsförderung explizit für Lehrlinge und Auszubildende.

Kinderbetreuung ausbauen, um Familien zu unterstützen Einen besonderen Stellenwert in Niederösterreich hat die Familie. Wir in Niederösterreich wollen Partner der Familien sein und nicht Vormund der Eltern. Für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Kinderbetreuung ein ganz zentrales Thema. In den Johanna Mikl-Leitner

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vergangenen zehn Jahren haben wir in Niederösterreich die Zahl der Kindergartenplätze verdreifacht und mit 97 % eine außerordentlich hohe Betreuungsquote. Mit der Öffnung der Kindergärten für Zweieinhalbjährige haben wir zudem eine Vorreiterrolle eingenommen. Mit unserem neuen Familienpaket wollen wir den Familien noch mehr Unterstützung ermöglichen: Daher unterstützen wir die Gemeinden beim Ausbau von Betreuungseinrichtungen, denn unser Ziel sind 100 neue Kleinstkindergruppen im ganzen Land.

Digitalisierung zum Wohle der Menschen nutzen Mobilität, Gesundheit, Arbeit und Familie sind zentrale Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind. Es sind Themen, die die Menschen sowohl im städtischen wie auch im ländlichen Raum betreffen. Eine ganz besondere Herausforderung, die in all diese Bereiche hineinspielt, ist die Digitalisierung. Die Digitalisierung ist heute aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Sie führt in allen Bereichen unseres Lebens zu grundlegenden Veränderungen. Daraus ergeben sich große Herausforderungen, aber auch enorme Chancen. Wir in Niederösterreich haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Digitalisierung zum Wohle der Menschen zu nutzen. Daher haben wir den Masterplan Digitalisierung mit konkreten Maßnahmen entwickelt. Dieser Masterplan zielt auf alle Bereiche ab – von der Arbeitnehmer-Förderung über die Schulen bis hin zur Landwirtschaft. Ein Beispiel ist das Thema Breitbandausbau. Diesen treiben wir in Niederösterreich voran, um eine schnelle und flächendeckende Internetverbindung für uns alle zu erreichen. Breitband ist die Schlüsselinfrastruktur für die Stärkung des Standorts Niederösterreich und vor allem für die Stärkung der ländlichen Regionen. Mit dem Breitbandausbau ist es möglich, dass sich mehr Unternehmen in ländlichen Regionen ansiedeln und auch mehr Arbeitsplätze in den ländlichen Regionen entstehen. Durch die Digitalisierung entstehen neue Formen von Arbeitsplätzen – das führt auch zu Verunsicherung, insbesondere bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen ihre Sorgen und Ängste zu nehmen, ihnen die Vorteile der Digitalisierung aufzuzeigen und sie an der Hand zu nehmen, um sie „digi“-fit zu machen. Neue technische Möglichkeiten, Wandel in der Gesellschaft, Veränderungen am Arbeitsplatz – all diese Faktoren sind Kennzeichen unserer Zeit. Gleichzeitig wächst damit das Bedürfnis nach Halt, Orientierung, Stabilität und Sicherheit. Die Sehnsucht nach Werten, die uns durch das Leben leiten, wird immer größer. Fleiß, Aufrichtigkeit und Zusammenhalt in der Familie sind zentrale Werte im Bundesland Niederösterreich. Nach diesen Werten lebe ich, zu ihnen stehe ich und diese Werte halten wir in Niederösterreich auch hoch.

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Niederösterreich: Land an der Seite der Menschen

THOMAS STELZER

Neue Perspektiven für Oberösterreich

Warum Oberösterreich? „Warum Oberösterreich? Warum soll ich meinen Betrieb in Oberösterreich gründen oder gar dorthin verlagern?“ Wenn mich das eine Unternehmerin oder ein Unternehmer fragen, dann will ich ihr oder ihm folgende Antwort geben können: „Weil es bei uns in Oberösterreich Möglichkeiten und Perspektiven für alle gibt. Und zwar nicht nur für den Einzelnen, sondern und gerade auch für Unternehmen, egal, in welcher Größe. Weil Oberösterreich zu einem Land der Möglichkeiten werden soll.“ Wer immer in Oberösterreich etwas anpacken und umsetzen will, hat die Sicherheit, dass wir alles daran setzen, den Standort so weit wie möglich nach vorne zu bringen: in der Wirtschaft, in der Forschung, in der Bildung, in der Infrastruktur, im Sozialen und im Gesundheitswesen. Wer immer in Oberösterreich eine Firma gründen oder eine bestehende erweitern will, wer hier investieren möchte, hat die Sicherheit, dass wir in Oberösterreich mit aller Konsequenz an der Umsetzung unserer Ziele arbeiten. Und die Sicherheit, dass hinter diesen Zielen eine breite und stabile politische Mehrheit steht.

Gute Aussichten Die wirtschaftlichen Aussichten für Oberösterreich sind gut. Wir erleben einen wirtschaftlichen Aufschwung, der getragen wird von deutlich mehr Investitionen, mehr Produktivität und mehr Innovation. Ein Aufschwung, der nur durch die harte Arbeit nach den Jahren der Wirtschaftskrise möglich wurde. Durch ein gemeinsames Anpacken mit viel Zuversicht, Mut und Willen. Das bringt unser Land wieder nach vorne. Und das manifestiert sich in besonders erfreulichen Zahlen: Das reale Wirtschaftswachstum für Oberösterreich wird 2018 voraussichtlich beachtliche 3,3 % betragen. Die Aufschwungphase wird auch 2018 anhalten und die oberösterreichische Wirtschaft sollte daher 2018 real um 3,3 % wachsen. Die Thomas Stelzer

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reale Wachstumsrate des oberösterreichischen Exports betrug 2017 ca. 5,7 %. 2018 sollten es 5,4 % werden. Das starke Wirtschaftswachstum hat 2017 einen hohen Beschäftigungsanstieg von ca. 1,8 % in Oberösterreich bewirkt. 2018 wird die Beschäftigung noch stärker um etwa 1,9 % wachsen. Die Arbeitslosenquote, die bereits im vergangenen Jahr um 0,4 % gesunken ist – und zwar erstmals seit dem Jahr 2012 – sollte 2018 weiter auf 5,3 % sinken. Ein ganz entscheidendes Indiz für die gute Stimmung im Land ist der im vergangenen Jahr erzielte Rekord bei Unternehmungsgründungen. 4.690 Gründungen bedeuten fast 2 % Zuwachs. Verantwortlich dafür ist einerseits die Gründeroffensive des Landes, andererseits aber auch die optimistische Grundstimmung im Land. Jede Betriebsgründung oder Neuansiedelung bedeutet zusätzlichen Schwung für den Wirtschaftsstandort, ist Bestätigung für den eingeschlagenen Weg und Auftrag, diesen konsequent weiterzugehen, zugleich.

Chancen statt Schulden Oberösterreich ist auf einem soliden Wachstumspfad unterwegs. Es verlangt ein hohes Maß an Verantwortung und Disziplin, diesen weiter zu gehen, damit das Land zu den besten Regionen Europas aufschließen kann. Dazu ist klar, dass der Schuldenrucksack leichter werden muss – und dass wir jetzt, in Zeiten steigender Einnahmen, diese Chance nützen müssen. Das ist auch die klare Erwartung der Bevölkerung. Darum lautet der neue oberösterreichische Weg: Chancen statt Schulden. Die gesetzliche Grundlage dafür ist die oberösterreichische Schuldenbremse, die wir bisher als einziges Bundesland eingeführt haben und die einen einfachen und klaren Grundsatz vorgibt: nicht mehr auszugeben als wir einnehmen. So wie das auch jeder private Haushalt und jedes Unternehmen praktizieren muss, wenn es verantwortungsvoll mit seinem Geld umgeht. Damit werden mit dem heurigen Landesbudget erstmals seit 2010 keine neuen Schulden gemacht. Und erstmals nach 15 Jahren werden wieder Schulden abgebaut – konkret im heurigen Jahr 67,5 Millionen Euro. Wir haben in den vergangenen Jahren viel investiert, insbesondere im Spitalsbereich, in der Infrastruktur oder auch in Kulturbauten. Das zahlen wir jetzt, in wirtschaftlich besseren Zeiten, zurück. Würden wir das nicht tun, würden wir jedes Jahr unseren Schuldenberg von derzeit rund drei Milliarden Euro weiter anwachsen lassen. Wir haben uns dazu entschlossen, diesen neuen finanzpolitischen Weg in den nächsten Jahren weiterzugehen. In den kommenden vier Jahren erwarten wir Überschüsse im gesamten oberösterreichischen Haushalt mit einer Gesamtsumme von rund 278 Millionen Euro. Die freie Finanzspitze wird voraussichtlich von derzeit 7,87 % bis zum Jahr 2022 auf 9,85 % steigen. Das müssen und werden wir nützen: um den Schuldenrucksack abzubauen, und um in die Zukunft unseres Landes zu investieren. 28

Neue Perspektiven für Oberösterreich

Solide Finanzen und keine neuen Schulden für die nächsten Generationen – damit wollen wir auch ein Vorbild für die neue Bundesregierung sein. Finanzminister Hartwig Löger hat dies bei seinem Besuch bei in Oberösterreich zu Jahresbeginn 2018 bestätigt, indem er sagte: „Oberösterreich geht voran und hat bereits einen ausgeglichenen Haushalt. Wir werden uns hier ein Beispiel nehmen.“

Deregulieren und Digitalisieren Wie schaffen wir heute Arbeitsplätze? Durch Wirtschaftswachstum, Innovation und Bürokratieabbau. Die Maßnahmen liegen 2018 insbesondere im Ausbau der Digitalisierung in allen Regionen des Landes, in Forschung und Innovation, bei der Fachkräfteausbildung sowie im Bürokratieabbau. Wir investieren in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, in die Sicherheit, in Gesundheit und Soziales – in Summe um rund 50 Millionen Euro mehr in unsere Schwerpunkte als 2017. Unser Hauptziel ist, neue Jobs zu schaffen, damit alle Menschen in Oberösterreich vom Wirtschaftsaufschwung profitieren. Und damit jeder seine Chancen im Land nutzen kann. Damit Unternehmen in Oberösterreich weiter investieren und Arbeitsplätze schaffen, ist es erklärtes landespolitisches Ziel, die Amtswege sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als auch für Unternehmen, die gerade in der digitalen Zeit einfache, unkomplizierte Wege brauchen, zu erleichtern und zu vereinfachen. Was in der Gesetzgebung und in behördlichen Abläufen weg kann, das soll auch wegkommen. Es wird unter anderem eine deutliche Verfahrensbeschleunigung im Bereich der Betriebsanlagengenehmigungen geben, indem wir verstärkt den Einsatz auch von „nichtamtlichen Sachverständigen“ ermöglichen. Wir werden auch Reformen vorantreiben, Verwaltungsvereinfachungen durchführen und auch Deregulierung – dort, wo es sinnvoll und möglich ist, und dort, wo wir den größtmöglichen Nutzen damit erzielen. Oberösterreichs Behörden sollen von unnötigen Regeln und Vorschriften entlastet werden. Davon profitieren die Verwaltung, die Bürgerinnen und Bürger und die Betriebe – und vor allem steigern rasche Genehmigungen und Entscheidungen letztlich die Attraktivität unseres Wirtschaftsstandortes Oberösterreich. Die Digitalisierung als der wohl wichtigste Megatrend unserer Zeit bedeutet Umwälzungen in nahezu allen Lebensbereichen und in jeder wirtschaftlichen Branche, im Gesundheitsbereich, in der Kommunikation und klarerweise auch in der Verwaltung. Wir erleben es tagtäglich: Was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert. Die Chancen, die sich unserem Standort dadurch ermöglichen, müssen und werden wir nutzen. Darum stehen alleine für die Breitbandoffensive in den Regionen Oberösterreichs als großer Schwerpunkt insgesamt 100 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren zur Thomas Stelzer

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Verfügung. Das ist eine gezielte Maßnahme zur Stärkung des ländlichen Raumes. Oberösterreich hat in all seinen Regionen starke Wirtschafts- und Arbeitsplatzpartner.

Partner in Österreich Oberösterreich braucht für seine Vorhaben auch die Unterstützung des Bundes und wird sich selbst wiederum als aktiver Länder-Partner in Wien einbringen. Wir wollen und werden das neue Österreich entscheidend mitgestalten.

Das Jahr der Möglichkeiten 2018 soll das Jahr der Möglichkeiten für Oberösterreich, die Menschen in diesem Land und seine Betriebe werden. Es soll neue Arbeitsplätze bringen, das gute wirtschaftliche Klima weiter stärken, es soll von Optimismus und Zuversicht geprägt sein – vor allem aber vom Mut, Herausforderungen, die sich uns stellen, anzupacken und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Wir haben nicht nur die Rahmenbedingungen für die Erreichung unserer standortpolitischen Ziele selbst gesetzt, wir wollen auch, dass jede und jeder Einzelne seine Chancen für den persönlichen oder den Erfolg seines Unternehmens nutzen kann. So wie das Land sollen die Menschen ihre Möglichkeiten, ob im Berufsleben oder für sich persönlich, eigenverantwortlich wahrnehmen und die dafür notwendigen Schritte setzen können. Denn der Erfolg Oberösterreichs beruht auf den Erfolgen seiner Bürgerinnen und Bürger, seiner Unternehmerinnen und Unternehmer. Erst durch ihre Leistung können wir daran arbeiten, das Bundesland noch weiter nach vorne zu bringen.

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Neue Perspektiven für Oberösterreich

CHRISTOPHER DREXLER

Ich sehne mich nach Provokation Skizzen zur steirischen Kulturpolitik. Und Erlebnisberichte obendrein.

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich die Kulturagenden in der Steiermärkischen Landesregierung übernehmen dürfen. Der Hintergrund der damaligen Regierungsumbildung war suboptimal, dennoch bereitete mir das neue Aufgabengebiet von Anfang an Freude. Der kleine „Wermutstropfen“, dass ich das Ressort Wissenschaft und Forschung an die neue Landesrätin Barbara Eibinger-Miedl übergeben musste bzw. durfte, trat bald in den Hintergrund. Eines meiner ersten Interviews als Kulturlandesrat wurde mit dem Satz übertitelt: „Ich sehne mich nach Provokation.“ Was war damit gemeint? Damit war die Sehnsucht nach einer vitalen, an den gesellschaftlichen Entwicklungen interessierten, aufrüttelnden und letztlich provozierenden Kulturszene gemeint. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Kunst- und Kulturschaffende gerade in einer von tiefen Umbrüchen und weitreichenden Veränderungen gekennzeichneten Zeit die Aufgabe – nachgerade die Verpflichtung – haben, die Zeitläufte kritisch zu reflektieren. Digitalisierung, die Zeitenwende in der Welt der Medien, die Individualisierung, der demografische Wandel und einiges mehr kennzeichnen die rasante Entwicklung in unserer Gesellschaft. Überwunden geglaubte Phänomene wie Nationalismus, politische Extremismen, Antisemitismus und religiöse Fundamentalismen – kulminierend in einem barbarischen islamistischen Terror – bilden ebenso die Hintergrundbeleuchtung unserer Gegenwart. Freiheit, Demokratie und Frieden sind so bedroht wie selten zuvor. Viele Teile der Welt versinken in Krieg und Chaos. Durch die Annexion der Krim, dem ersten Aggressionskrieg auf europäischem Boden seit mehr als 70 Jahren, ist das „Phänomen Krieg“ nach den Sezessionskriegen am Balkan wieder nach Europa zurückgekehrt. Ich will kein zu düsteres Bild zeichnen; der Wohlstand in Europa hat nach der Überwindung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Vieles entwickelt sich positiv, dennoch leben wir in einer Zeit von Brüchen. Das Vereinigte Königreich bricht mit der Europäischen Union. Die Vereinigten Staaten brechen mit ihrer Tradition des Freihandels und verabschieden sich von ihrer Rolle als „wohlmeinendes Empire“ (© Manfred Prisching). Christopher Drexler

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Wo stehen wir? Wohin gehen wir? Wo wollen wir in wenigen Jahren sein? Das sind Fragen, die politische Menschen interessieren sollten und das sind auch Fragen, die einer künstlerischen Reflexion harren. Täglich gehören die genannten Phänomene hinterfragt. Ebenso täglich gehören diese und andere wichtige und richtige Fragen in den öffentlichen Diskurs geworfen. Wenn sich diese Gesellschaft gedeihlich weiterentwickeln und Brüche überbrückt werden sollen, wenn verderbliche Entwicklungen zu korrigieren sind, braucht es vor allem auch künstlerische Reflexion und künstlerische Provokation. Es braucht Kultur! Die Steiermark birgt eine vielfältige und lebendige Kulturlandschaft. Diese wird getragen von etablierten Institutionen auf der einen Seite und von einer bisweilen fulminanten freien Szene auf der anderen Seite. Der Bogen, der gespannt wird, ist in vielerlei Hinsicht breit. Von der STYRIARTE bis zum Musikprotokoll, von den großen Häusern der Theaterholding Graz / Steiermark GmbH (im Folgenden Theaterholding) bis zu den oftmals unglaublich qualitätsvollen freien Theatern dehnt sich eine weite Landkarte aus. Auch die bildende Kunst setzt Maßstäbe von arrivierten Künstlerinnen und Künstlern bis zu vielversprechenden jungen Talenten. Dies trotz des Fehlens einer einschlägigen Akademie. In einem von Offenheit geprägten Milieu entsteht Beachtliches, das es verdient, weit über die Grenzen der Steiermark hinaus wahrgenommen zu werden. Es besteht in der Steiermark ein solides Fundament für genau jene eingangs genannte kritische Reflexion. Und sie findet statt.

Markenzeichen der Steiermark Kaum ein Festival hat das Bild der Steiermark als Kulturland so sehr geprägt wie der in seinem 50. Jahr stehende „steirische herbst“. Veronica Kaup-Hasler hat es in den letzten zwölf Jahren vermocht, den „herbst“ am Puls der Avantgarde zu halten. Ein besonders eindrucksvolles Projekt ist ihr zuletzt mit der szenischen Darstellung und Verfilmung von Elfriede Jelineks „Kinder der Toten“ gelungen. Ein Stoff, der ungewollt gut in unsere Zeit passt, wurde unter reichhaltiger Beteiligung der Bevölkerung von Neuberg an der Mürz und Umgebung trefflich inszeniert. Nie war ein Ausflug des steirischen herbst in die Regionen, in den ländlichen Raum schlüssiger als bei diesem Projekt. Mit Spannung darf man das filmische Endprodukt erwarten. Für immer unvergesslich wird mir das von Veronica Kaup-Hasler eingefädelte zweieinhalbstündige Gespräch mit der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek bleiben. In einem Wiener Kaffeehaus war es eine Tour d´Horizon durch ihr Werk, unsere Zeit und einiges mehr. Nun erleben wir im steirischen herbst eine Zäsur. Mit Ekatarina Degot übernahm eine ganz andere Intendantinnenpersönlichkeit die Verantwortung. Anfangs noch tastend nach der Identität des Festivals und des Landstrichs, scheint sich nun eine bemer32

Ich sehne mich nach Provokation

kenswerte Neuorientierung des herbst anzukündigen. Die Steiermark ist in einem guten Sinne stolz auf dieses Festival. Die Weiterentwicklung und eine entsprechende internationale Wahrnehmbarkeit bleiben Ziel der steirischen Kulturpolitik. Zu einem weiteren Markenzeichen der Steiermark hat sich die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, entwickelt. Sowohl, was die mediale Rezeption betrifft, als auch bezüglich der Resonanz des Publikums sind die beiden Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber auf einem exzellenten Weg. Nachdem ich gestehen muss, dass mir der Film ein besonderes Anliegen, ja eine persönliche Vorliebe ist, werden wir alles dazu tun, dass die Diagonale diesen erfolgreichen Weg in der Steiermark, in Graz, weiter fortsetzen kann. Das international renommierte Kulturfestival STYRIARTE ist nach dem Ableben seines Spiritus Rector, Nicolaus Harnoncourt, im Jahr 2016 mit dem sehr engagierten Intendanten Mathis Huber, der sich bereits eindrucksvoll der Herausforderung einer Neuorientierung gestellt hat, auf einem sehr guten Weg. Das ELEVATE Festival mit seiner außergewöhnlichen Kombination aus politischem Diskurs, Medienkunst, Avantgarde und Popkultur lässt über mehrere Tage Besucherinnen und Besucher debattieren und tanzen. Bereits zum vierten Mal lassen aufsehenerregende Musik- und Lichtinstallationen Graz in einem besonders magischen Licht erstrahlen. Das unter Bernhard Rinner intendierte „Klanglicht“ begleitet seine Besucherinnen und Besucher durch große Teile der Stadt und ist zu den bemerkenswertesten Innovationen der letzten Jahre zu zählen. Das Klanglicht lässt Graz und die Steiermark buchstäblich in die Welt strahlen.

Flaggschiffe Das Universalmuseum Joanneum und die Theaterholding sind Flaggschiffe der steirischen Kultur. Die Anstrengungen des Landes, die Infrastruktur des Universalmuseums Joanneum auf einen zeitgemäßen Standard zu heben und für die Zukunft tauglich zu machen, waren enorm. Nach dem 2003 entstandenen Kunsthaus Graz ergibt sich mit dem Joanneumsviertel und dem Museum für Geschichte in der Sackstraße ein beispielloses Museumsdreieck in Graz. Dieses wird geschnitten von einer Achse ausgehend vom Volkskundemuseum in der Paulustorgasse bis zur Alten Galerie, Archäologie und Numismatik in Eggenberg. Das Universalmuseum Joanneum mit all seinen Standorten1 ist einerseits das zweitgrößte Museum Österreichs und andererseits der Kern des Schatzes unseres joanneischen Erbes. Als Museum und wissenschaftliche Institution ist es für dieses Land unverzichtbar. Die Qualität seiner Ausstellungen – permanenter wie temporärer – ist von internationalem Format. Das Universalmuseum Joanneum wird in Zukunft ein zentrales Vehikel der steirischen Kulturpolitik sein. Die in Person von Wolfgang Muchitsch bewährte und nun durch die umtriebige Alexia Getzinger ergänzte GeschäftsChristopher Drexler

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führung wird unterstützt durch die für die einzelnen Häuser Verantwortlichen, die daran arbeiten, diese mit einem so großen Maß an Tradition und historischer Verantwortung ausgestattete Institution in die nächsten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts zu führen. Daher ist es auch nur schlüssig, dass das Universalmuseum Joanneum eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der so genannten „Steiermark EXPO“ übernimmt. Im aktuellen Regierungsübereinkommen der Steiermärkischen Landesregierung ist unter dem Arbeitstitel „Steiermark EXPO“ festgelegt worden, dass man ein neues Ausstellungs- bzw. Veranstaltungsformat entwickeln will, welches in die Fußstapfen der legendären Landesausstellungen sowie der „Regionale“ treten soll. Ziel ist es, ein mutmaßlich in biennalem Rhythmus stattfindendes Format zu finden, das die Steiermark neuerlich weit über ihre Grenzen hinaus vernehmbar machen soll. Den Anfang wird wahrscheinlich eine große Vermessung just dieser Steiermark machen. Ziel ist es, die Vergangenheit und Herkunft, vor allem aber die aus der Gegenwart entwickelte Zukunft darzustellen.

Die Steiermark hat das Potenzial zum Kulturland Nummer eins in Österreich Dieses unheimliche Potenzial unseres Heimatlandes wird genährt durch die Vielgestaltigkeit, durch die Heterogenität unseres kulturellen Lebens. Es unterscheidet uns von anderen Bundesländern, ganz besonders auch von Salzburg, und lässt uns vielleicht sogar in einzelnen Bereichen aus dem großen Schatten des kulturellen Zentrums Wien herausragen. Dies ist unser Ziel. Denn auch die Kulturpolitik darf sich der Provokation verschreiben.1

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Landeszeughaus, Kunsthaus Graz, Museum für Geschichte, Schloss Eggenberg (Prunkräume und Gärten, Alte Galerie, Archäologiemuseum, Münzkabinett), Volkskundemuseum, Joanneumsviertel (Neue Galerie Graz, Naturkundemuseum), Österreichischer Skulpturenpark, Schloss Trautenfels, Schloss Stainz (Jagdmuseum, Landwirtschaftsmuseum), Flavia Solva, Peter Rosegger Geburtshaus Alpl und Museum Krieglach, Institut für öffentlichen Raum Steiermark, Museumsakademie, Studienzentrum Naturkunde (Botanik & Mykologie, Geologie & Paläontologie, Mineralogie, Zoologie).

Ich sehne mich nach Provokation

BARBARA EIBINGER-MIEDL

Aktuelle Schwerpunkte der steirischen Wirtschaftspolitik

Positiver Rückblick und optimistischer Ausblick Im Bereich Wirtschaft und Arbeitsmarkt kann die Steiermark auf ein erfolgreiches Jahr 2017 zurückblicken. Laut einer Studie der Bank Austria lag das Wirtschaftswachstum in unserem Bundesland im Jahr 2017 bei 3,6 %. Gegenüber dem Österreichdurchschnitt von 3 % Wachstum bedeutet das den höchsten Anstieg in ganz Österreich. Bereits seit Juli 2016 geht die Arbeitslosigkeit in der Steiermark kontinuierlich zurück. Mit einem Minus von 9,5 % konnte unser Bundesland damit vor Tirol (-8,7 %) den stärksten Arbeitslosenrückgang unter allen österreichischen Bundesländern verzeichnen. Auch die Prognosen für das Jahr 2018 geben Grund für Optimismus: Laut der aktuellen Prognose des Wirtschaftsressorts ist für das heurige Jahr mit 10.900 zusätzlichen Arbeitsplätzen und 400 neuen selbstständig Erwerbstätigen ein weiterer Beschäftigungsrekord für die Steiermark zu erwarten. Insgesamt werden im Jahresschnitt 576.000 Menschen in der Steiermark erwerbstätig sein. Gleichzeitig soll die Arbeitslosigkeit auch heuer deutlich stärker zurückgehen als im Österreichschnitt. Mit einem Minus von 7,2 % bzw. 2.900 vorgemerkten Arbeitslosen wird die Entwicklung in der Steiermark deutlich besser ausfallen als in Österreich, wo ein Rückgang von 3,9 % prognostiziert wird. Diese positiven Entwicklungen gilt es zu nutzen, den Aufwärtstrend weiter zu verstärken und die Rahmenbedingungen für unsere Betriebe und damit auch für den steirischen Arbeitsmarkt weiter zu verbessern. Insgesamt stehen im Landesbudget heuer 54 Millionen Euro zur Förderung heimischer Unternehmen zur Verfügung. Im Fokus unserer Wirtschaftspolitik und der dazu definierten Maßnahmen stehen drei Schwerpunkte: die Stärkung der Wirtschaft in den Regionen, die Digitalisierung und der weitere Ausbau von Forschung, Entwicklung und Innovation.

Barbara Eibinger-Miedl

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Wirtschaftsentwicklung in den steirischen Regionen weiter stärken Die Steirische Wirtschaftsförderung (SFG) verstärkt ihre Präsenz in den steirischen Regionen: neue Innovationscoaches als zusätzliches Serviceangebot Die Stärkung der Unternehmen in den steirischen Regionen ist ein Schwerpunkt des Wirtschaftsressorts im Jahr 2018. Ein neues Instrument sind regionale „Innovationscoaches“, durch die die Angebote der Wirtschaftsförderung verstärkt in die Regionen gebracht werden sollen. Wesentliche Aufgabe der Coaches ist es, direkt vor Ort mit den Unternehmen Möglichkeiten zur Umsetzung von Innovationen herauszuarbeiten und sie dabei zu begleiten sowie im Hinblick auf Fördermöglichkeiten zu beraten. Zielgruppe sind regionale Klein- und Mittelunternehmen aller Branchen. Als Drehscheibe dienen dabei die Impulszentren in der jeweiligen Region.

Erweiterung des Angebotes der steirischen Impulszentren Die Impulszentren werden aber nicht nur für das Innovationscoaching eine wichtige Rolle spielen, sondern auch im Hinblick auf das Angebot erweitert. Derzeit gibt es in der Steiermark 30 Impulszentren, an 16 ist die SFG beteiligt. Die Zentren sind Technologie-, Gründer- und Wirtschaftsparks und damit eine Unterstützung für das Wachstum von regionalen KMU. Sie schaffen durch die räumliche Konzentration vieler kleiner innovativer Unternehmen ein über das herkömmliche Immobilienangebot hinausgehendes, innovatives wirtschaftliches Umfeld. Derzeit sind in den steirischen Impulszentren rund 240 Unternehmen mit knapp 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingemietet, die Auslastung der Zentren ist mit 96 % konstant hoch. 2017 wurde rund eine halbe Million Euro in die bestehenden Zentren investiert, auch für 2018 sind Investitionen und Erweiterungen vorgesehen.

Nahversorgerförderung „Lebens!Nah“ bricht alle Rekorde! Erfolgreiche Förderprogramme zur Unterstützung heimischer Unternehmen werden fortgesetzt und weiter gestärkt Eine weitere Maßnahme zur Stärkung der Regionen ist der Ausbau der Nahversorgerförderung „Lebens!Nah“. Im Rahmen dieser Förderaktion wurden im letzten Jahr rund 1.200 heimische Betriebe unterstützt, die in die Modernisierung oder Erweiterung des Unternehmens sowie in digitale Kommunikationsmaßnahmen investiert haben. Dabei wurden mit einer Fördersumme von 1,7 Millionen Euro 8,8 Millionen an Investitionen in Klein- und Kleinstunternehmen ausgelöst. Knapp 90 % der Förderfälle finden außerhalb des Zentralraums Graz statt. Die Nahversorgerförderung ist damit eine echte Regionalförderung, die im Jahr 2018 weitergeführt und ausgebaut wird. 36

Aktuelle Schwerpunkte der steirischen Wirtschaftspolitik

Chancen der Digitalisierung nutzen Wir befinden uns mitten im digitalen Zeitalter. Und die Digitalisierung wird unsere Welt und unser Leben in den nächsten Jahren noch viel stärker verändern, als wir es uns heute vorstellen können. Man kann dazu stehen, wie man will – eines steht jedenfalls fest: Der Prozess ist nicht aufzuhalten. Die Digitalisierung verändert auch alle Sektoren der Wirtschaft: Produktionsabläufe ändern sich, es entstehen neue Geschäftsmodelle und Berufe. Für ein Innovations- und Forschungsland wie die Steiermark bietet die Digitalisierung große Chancen für wirtschaftliches Wachstum und damit für eine Steigerung der Lebensqualität in unserem Land. Im Wirtschaftsressort des Landes setzen wir daher auf die Digitalisierung und unterstützen unsere Unternehmen dabei, diese Chancen zu nutzen. Grundvoraussetzung für Digitalisierungsprozesse in heimischen Betrieben ist die flächendeckende Versorgung mit Hochleistungsinternet. Um dieses Ziel möglichst rasch zu erreichen, setzt das Land Steiermark auf eine strategischere Vorgehensweise als bisher: Die Steiermärkische Landesregierung hat sich zur Gründung einer landeseigenen Breitbandinfrastrukturgesellschaft entschlossen, bei der die Fäden aller in der Steiermark mit Breitband befassten Akteure zusammenlaufen werden, damit der Ausbau in Zukunft schneller und strategischer erfolgt. Dazu wird die Gesellschaft in jenen Regionen, wo kein Ausbau durch Provider stattfindet, selbst für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur sorgen. Durch die Umsetzung eigener Projekte und die Koordination soll die Gesellschaft auch dazu beitragen, die für die Steiermark zur Verfügung stehenden Förderungsgelder aus den Breitbandmitteln des Bundes besser auszuschöpfen. Die Gesellschaft muss dazu von der EU-Kommission genehmigt werden und wird ihre Arbeit im zweiten Halbjahr 2018 aufnehmen. Außerdem werden mit finanzieller Unterstützung des Landes regionale Masterpläne entwickelt, die Basis für den künftigen Breitbandausbau sein werden. Sie liefern einen genauen Überblick über die vorhandene Netzqualität in der jeweiligen Region, definieren konkrete Ausbaumaßnahmen und werden eine enge Abstimmung zwischen Gemeinden, Infrastrukturanbietern und der landeseigenen Breitbandinfrastrukturgesellschaft ermöglichen. Digitalisierung bedeutet aber vor allem auch Investitionen in Menschen, Maschinen und Märkte. Mit der Digitalisierungsoffensive der SFG haben wir die Förderungsprogramme den künftigen Anforderungen angepasst. Der digitalisierte Arbeitsalltag erfordert zum Teil gänzlich neue Kompetenzen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dazu zählen Fertigkeiten im Umgang mit neuen Technologien ebenso wie persönliche Fähigkeiten – beispielsweise von Führungskräften, die mit virtuellen Teams in einer globalen Welt arbeiten. Deshalb unterstützen wir Qualifizierungsmaßnahmen für „Digital Skills“ mit der Förderungsaktion „Erfolgs!Kurs“. Barbara Eibinger-Miedl

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Mit der Innovationsförderung „Ideen!Reich“ fördern wir Unternehmen, die neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln und diese erfolgreich auf Märkten im In- und Ausland positionieren. In diesem Programm werden Projekte zum Thema Digitalisierung besonders hoch bewertet. Die Nahversorgungsförderung „Lebens!Nah“ wurde ebenfalls um den digitalen Aspekt erweitert: Die Nahversorger in den steirischen Regionen werden bei der Erstellung innovativer Medien, der Nutzung neuer Plattformen und sozialer Netzwerke oder der Digitalisierung ganzer Geschäftsprozesse finanziell unterstützt.

Herausforderung Fachkräftemangel Eine große Herausforderung in diesem Zusammenhang ist der zunehmende Mangel an Fachkräften. Die Digitalisierung bringt zahlreiche neue Berufsbilder hervor, verändert aber auch bestehende Berufe, was den Bedarf nach entsprechend qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ständig erhöht. Als Auswirkung unseres hohen Wirtschaftswachstums betrifft der Mangel an Fachkräften mittlerweile jedoch beinahe alle Sparten und Branchen unserer heimischen Wirtschaft. Dem gilt es entgegenzuwirken, weshalb das Wirtschafts- und Wissenschaftsressort entsprechende Maßnahmen setzt. Diese reichen von Aktionen zur Berufsinformation für Lehrberufe im MINT-Bereich (z.B. „Take-Tech“ Aktionswochen mit tausenden Schülerinnen und Schülern und rund 100 teilnehmenden Unternehmen), über die Erweiterung der Fachhochschulstudienplätze bis hin zur Einführung weiterer Dualer Studiengänge als Kooperation zwischen Technischer Universität und den steirischen Fachhochschulen. Auch die SFG wird im heurigen Jahr ihre Aktivitäten im Bereich der Mitarbeiter- und Nachwuchsförderung in Unternehmen ausbauen.

Forschung, Entwicklung und Innovation vorantreiben: die Steiermark als innovativstes Bundesland Österreichs Die Steiermark ist mit einer Forschungs- und Entwicklungsquote von 5,14 % mit Abstand das Forschungsland Nummer eins in Österreich und liegt damit auch in Europa im absoluten Spitzenfeld. Die Zusammenführung von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung in einem politischen Ressort bietet die Möglichkeit, in den kommenden Jahren zusätzliche Synergien zu nutzen und damit die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft weiter zu stärken. Bereits jetzt arbeiten Unternehmen und Forschungseinrichtungen in den steirischen Kompetenzzentren erfolgreich zusammen. Die Steiermark ist an 25 der österreichweit 44 Kompetenzzentren beteiligt, 19 haben ihren Sitz in der Steiermark. Bei der letzten 38

Aktuelle Schwerpunkte der steirischen Wirtschaftspolitik

Ausschreibung für neue K-Projekte haben zwölf Konsortien mit steirischer Beteiligung eingereicht, die im Falle eines Zuschlags in der zweiten Jahreshälfte 2018 ihre Forschungstätigkeit aufnehmen werden. Die Entscheidung darüber fällt im Juni 2018. Auch die steirischen Cluster setzen 2018 auf die weitere Stärkung der Innovationsbereitschaft ihrer Mitgliedsbetriebe. Die SFG unterstützt sie dabei mit dem Förderungsprogramm „Spitzen!Leistung“. Durch gezielte Beratung und Bewusstseinsbildung soll die Innovationskraft von heimischen KMU gestärkt werden. Die Steiermark ist seit Jahrzehnten dafür bekannt, grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Da auch die Digitalisierung keine Grenzen kennt, wurde mit „Silicon Alps“ vor einem Jahr der erste länderübergreifende Cluster Österreichs ins Leben gerufen. Gemeinsam mit dem Land Kärnten, der Kärntner Wirtschaftsförderung und der Industrie haben wir dieses Netzwerk im Bereich Mikroelektronik – einem Stärkefeld der steirischen Wirtschaft – etabliert, dem nun bereits mehr als 80 Unternehmen und Forschungseinrichtungen angehören – darunter Global Player wie Infineon, AT&S, ams, EPCOS oder NXP. Kein Zufall also, dass die Steiermark auch den Zuschlag für das Headquarter des Forschungszentrums „Silicon Austria Labs“ bekommen hat: 200 Forscherinnen und Forscher werden künftig in Graz – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in Villach und Linz – wegweisende Ideen und Systeme in der Mikroelektronik entwickeln. 280 Millionen Euro investieren Bund, Länder und die Industrie in dieses Zukunftsfeld mit dem Ziel, Österreich zu einem weltweit führenden Land in der Mikroelektronik zu machen. Denn rund ein Zehntel der weltweiten Wirtschaftsleistung hängt direkt oder indirekt von Elektronikprodukten ab. In Österreichs Elektronikindustrie arbeiten mehr als 63.000 Menschen in über 180 Unternehmen und erwirtschaften einen Umsatz von rund 80 Milliarden Euro. Sie alle wollen und werden von Österreich aus die neue, digitale Welt mitgestalten!

Neues Impulszentrum 2.0 an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft Bei der Erweiterung der steirischen Impulszentren setzt die Steiermark unter dem Schlagwort „Impulszentren 2.0“ schon seit einigen Jahren auf eine enge Zusammenarbeit mit den heimischen Hochschulen, damit etwa auch Absolventen vermehrt den Weg in die Selbstständigkeit beschreiten. Im Herbst 2018 startet der Bau eines weiteren Impulszentrums, das direkt an einer steirischen Hochschule angesiedelt wird. Das Zentrum für Wissens- und Innovationstransfer wird ab 2020 an der Karl-Franzens-Universität Graz Flächen für Jungunternehmen und Co-Working-Spaces für Start-ups bieten. Wesentliches Ziel ist es, die ansässigen Unternehmen mit dem universitären Umfeld und weiteren steirischen Betrieben zu vernetzen. Inhaltlich wird sich das ZWI in den Bereichen „Gesundes Altern und Demografischer Wandel“ positionieren. Barbara Eibinger-Miedl

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Das ZWI ist neben dem Zentrum für Wissens- und Technologietransfer in der Medizin (ZWT) an der Medizinischen Universität Graz und den Impulszentren für Werkstoffe und Rohstoffe an der Montanuniversität Leoben ein weiteres Impulszentrum direkt an einer steirischen Universität. Ein zusätzlicher Baustein, um die enge Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft weiter zu stärken.

Die Stimmung in der heimischen Wirtschaft ist gut und wir haben derzeit die beste Arbeitsmarktbilanz aller österreichischen Bundesländer. Unser wesentliches Ziel muss es daher sein, unsere Unternehmen zu motivieren, mutige Entscheidungen zu treffen und jetzt die Chancen zu nutzen, die sich aus dieser positiven Entwicklung ergeben.

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Aktuelle Schwerpunkte der steirischen Wirtschaftspolitik

ANTON LANG

Aktuelle Herausforderungen der steirischen Haushalts- und Budgetpolitik

Finanzpolitik ist bekanntlich nicht nur ein spannendes, sondern auch sehr komplexes Aufgabenfeld. Die Budgetproblematik der öffentlichen Hand bringt der frühere britischen Premierminister Anthony Eden auf den Punkt: „Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Allgemeinen und Freigiebigkeit im Besonderen.“ Es gibt im Endeffekt kaum Entwicklungen, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene, die letztlich nicht Auswirkungen auf den öffentlichen Haushalt haben. Und ich meine damit gar nicht nur die ganz großen Krisen, wie wir sie ab dem Jahr 2008 – ausgelöst durch die Lehman-Brothers-Pleite in den USA – wirtschafts- und finanzpolitisch erleben mussten. Wenn es dem Wirtschaftsstandort Österreich nicht gut geht, merken wir das sofort durch einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und das verursacht wiederum natürlich Mehrkosten für die öffentlichen Haushalte. Und wenn es den Menschen nicht gut geht und keine ordentlichen Gehälter gezahlt werden, dann können sie nichts ausgeben und wir merken das durch steuerliche Einnahmenausfälle. Durch die geringe Größe Österreichs und die damit verbundene, sehr starke Verflechtung mit anderen Volkswirtschaften sind wir massiv von internationalen Entwicklungen – und hier insbesondere von denen im Euroraum – abhängig.

Absicherung des erfolgreichen steirischen Weges Wir können nicht so tun, als könnten wir als steirische Landesregierung globale Entwicklungen umkehren. Aber was wir können, ist entsprechende Standortbedingungen in der Steiermark zu schaffen. Wir müssen für unsere Wirtschaft und unsere Wissenschaft die optimalen Rahmenbedingungen und für alle Menschen im Land die bestmöglichen Lebensbedingungen schaffen. Dafür müssen wir die im Landeshaushalt zur Verfügung stehenden Mittel vernünftig einsetzen. Nur so bleiben wir im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig und nur so werden wir unseren erfolgreichen steirischen Weg langfristig absichern können. Anton Lang

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Der steirische Landeshaushalt ist – wie auch der aller anderen Bundesländer – stets von Entwicklungen auf Bundesebene und hier speziell von der Steuerpolitik abhängig. Das liegt daran, dass die Bundesländer selbst keine wesentlichen Einnahmen haben und sich zum überwiegenden Teil über Ertragsanteile (anteilige Steuereinnahmen des Bundes) finanzieren. Die Tatsache, dass viele internationale Mega-Konzerne kaum Steuern zahlen, indem sie Briefkastenfirmen einrichten und das Geld so lange im Kreis schicken, bis „nichts“ mehr davon übrig ist, wirkt sich auch in Österreich und damit auch bei uns in der Steiermark durch fehlende Einnahmen aus. Gerade solche Problemstellungen sind aber nicht auf nationaler Ebene zu lösen, sondern hier bedarf es einer gesamteuropäischen Lösung. Wir sind uns sicher alle einig, dass wir den Faktor Arbeit in allen Facetten entlasten müssen, damit die Menschen mehr Netto vom Brutto erhalten. Wichtig ist dabei eine gerechte Verteilung zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften. Denn eines haben sämtliche Steuerreformen der letzten Jahrzehnte gezeigt: Einen Gutteil der Rechnung haben stets die Länder und Gemeinden gezahlt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die inhaltlich ohne Frage richtige Abschaffung des Pflegeregresses. Die bisher vom Bund angekündigten Kompensationsmaßnahmen werden bei weitem nicht ausreichen, um den Einnahmenentfall der Länder abdecken zu können. Damit wird uns der Spielraum, den wir zur Standortstärkung dringend benötigen, weiter eingeschränkt.

Tücken des „Maastricht-Regimes“ Aber auch die Europäische Union macht es uns nicht immer leicht. Das Handeln in der Privatwirtschaft geht von einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung aus. In den öffentlichen Haushalten reden wir aber seit ein paar Jahren nur mehr von „ESVG“ und vom „Maastricht-Regime“. Stabilität ist zweifellos wichtig, aber die Art und Weise, wie das umgesetzt wird, ist ein Problem. Ich glaube, wir sind alle der Meinung, dass es in Zeiten absoluter Niedrig- und sogar Minuszinsen sinnhaft wäre, zu investieren und so entsprechende Impulse setzen zu können. Aber genau das wird uns als öffentlicher Hand durch das „Maastricht-Regime“ beinahe unmöglich gemacht. Wir können Investitionen nämlich nicht wie ein Unternehmen über einen längeren Zeitraum – etwa 20 bis 30 Jahre – abschreiben, sondern müssen diese zum Zeitpunkt der Umsetzung voll berücksichtigen. Das reduziert den Spielraum der öffentlichen Haushalte immens und führt dazu, dass immer mehr Gebietskörperschaften auf Miet- oder sogenannte Public-private-Partnership (PPP)-Modelle umsteigen. Bei einem PPP-Verfahren gibt der Auftraggeber den Auftrag, ein Projekt zu bauen, finanziert den Bau aber nicht selbst. Das übernehmen dann die privaten Partner, wodurch die Kosten in die Höhe getrieben werden, da diese bei 42

Aktuelle Herausforderungender steirischen Haushalts- und Budgetpolitik

weitem schlechtere Konditionen bei der Finanzierung erhalten und auch der Gewinn sowie das zu tragende Risiko abzugelten sind. Nicht unterschätzen dürfen wir auch die Belastungen für das Landesbudget, die sich aus den durch den Klimawandel verursachten und immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen ergeben. Im Jahr 2016 hat es unsere Obst- und Weinbauern furchtbar getroffen, im Sommer 2017 waren die Menschen in der Obersteiermark betroffen. Infrastruktur des Landes und der Gemeinden in Millionenhöhe wurde dabei zerstört. Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, den Betroffenen unbürokratisch und rasch zu helfen, aber man muss dabei auch festhalten, dass uns diese nicht planbaren Ereignisse immer wieder vor schwer bewältigbare Herausforderungen im Landesbudget stellen.

Strukturelle Nachteile der Steiermark im Finanzausgleich Historische Ungleichheiten im Finanzausgleich im Vergleich zu anderen Bundesländern benachteiligen die Steiermark und hier besonders die steirischen Gemeinden. Daher kann es auch weiterhin nur unser gemeinsames Ziel bleiben, Ungerechtigkeiten – wie beim letzten Finanzausgleich – weiter zu verringern und langfristig zu beseitigen. Die Steiermark hat als großes Flächenbundesland mit einem hohen Anteil an ländlichem Raum gegenüber anderen Bundesländern strukturelle Nachteile, besonders was die daraus resultierenden hohen Infrastrukturkosten betrifft. Die Digitalisierung und damit verbunden der notwendige Breitbandausbau sind hier ein wesentlicher Faktor, um den strukturschwachen Regionen neue Perspektiven geben zu können. Bei all diesen Herausforderungen bin ich davon überzeugt, dass der Weg, den die Steiermärkische Landesregierung in den letzten Jahren gemeinsam gegangen ist, der absolut richtige war. Die guten Wirtschaftsdaten, die hohe Forschungs- und Entwicklungsquote und die aktuell von allen Bundesländern am stärksten sinkende Arbeitslosigkeit sind der Beweis dafür, dass wir die richtigen budgetären Schwerpunkte gesetzt haben. Und auch aktuelle Investitionen wie das neue voestalpine-Stahlwerk in Kapfenberg, welches eines der modernsten der Welt sein wird, zeigen, dass die Steiermark ein höchst attraktiver Standort mit Top-Facharbeiterinnen und Facharbeitern ist. Derart positive Entwicklungen sind natürlich niemals eine alleinige Leistung der Landespolitik, aber sie zeigen, dass die Rahmenbedingungen bei uns in der Steiermark passen. Die aktuelle Budgetentwicklung möchte ich hier mit ein paar Zahlen erläutern. Das Maastricht-Defizit im Kernhaushalt wird von 305,8 Millionen Euro im Jahr 2017 auf nunmehr 218,9 Millionen Euro gesenkt werden. Die Landesregierung hält damit am beschlossenen Konsolidierungskurs und der mittelfristigen Finanzplanung fest. Wir konnten das Defizit um 28 % reduzieren. Das erklärte Ziel der Steiermark bleibt es, den Stabilitätspakt 2020 durch eine schrittweise Absenkung des Maastricht-Defizites wieder einzuhalten. Anton Lang

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Im Budget 2018 stehen Einnahmen von 5,46 Milliarden Euro Ausgaben von 5,80 Milliarden Euro gegenüber. Der Schuldenstand steigt auf 5,18 Milliarden Euro. Damit ist es der Steiermark gelungen, die Schuldenentwicklung wesentlich abzuflachen. Aber es ist noch viel zu tun und es bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung, um einen nachhaltig ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.

Freiräume erhalten Ein öffentlicher Haushalt ist nicht eins zu eins mit einem Unternehmen vergleichbar, auch wenn das in der öffentlichen Diskussion immer wieder so dargestellt wird. Bei einem Unternehmen ist die Zielsetzung sonnenklar: Ein Unternehmen will für seine Anteilseigner maximale Gewinne erwirtschaften. Dafür soll möglichst jeder einzelne Geschäftsbereich für sich betrachtet Ertrag bringen. Steckt ein Geschäftsbereich in der Verlustzone, wird versucht, diesen durch Steigerungen der Erträge und vor allem durch Senken der Kosten wieder in die Gewinnzone zu bringen. Gelingt dies nicht in absehbarer Zeit, wird er aufgegeben. Dieses Grundprinzip lässt sich nicht auf einen öffentlichen Haushalt übertragen, es wirkt bei genauerer Betrachtung – wenn man die Aufgaben der öffentlichen Hand vor Augen hat – sogar grotesk. Selbstverständlich ist es unsere Pflicht, sparsam, wirtschaftlich und zweckmäßig mit den Mitteln, die uns die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zur Verfügung stellen, umzugehen. Und natürlich müssen wir jede einzelne Ausgabe auf ihre Sinnhaftigkeit und Effektivität hin sorgfältig überprüfen. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch jene Freiräume erhalten, um notwendige Akzente für eine weiterhin positive Entwicklung der Steiermark setzen und auf aktuelle, meist nicht vorhersehbare Entwicklungen entsprechend reagieren zu können. Zusammenfassend möchte ich daher festhalten: Im Sinne einer weiteren positiven Entwicklung des Wirtschafts- und Beschäftigungsstandortes Steiermark gilt es, mit budgetärem Augenmaß gezielt in unsere Zukunft zu investieren.

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Aktuelle Herausforderungender steirischen Haushalts- und Budgetpolitik

MICHAEL KOREN

Reform des Gesundheitswesens in der Steiermark – ein Zwischenbericht

Betrachtet man rückwirkend das Jahr 2017, so kann dies ohne Zweifel als Startjahr für Österreichs größte Gesundheitsreform, in einem Bundesland bezeichnet werden. Damit hat die Steiermark nach der Gemeindestrukturreform im Jahr 2015 eine der größten Reformprozesse gestartet und gilt somit auch in diesem Bereich als Pionier.

Wie alles begann … Nach einer langen Vorbereitungszeit und einer intensiven Kommunikationsphase wurde im Herbst 2016 der „Gesundheitsplan 2035“ präsentiert. Dieser Plan sieht eine Umwälzung der Gesundheitsversorgung der SteirerInnen vor. Die Idee eines Leitspitales pro Region sowie der Implementierung von Primärversorgungseinheiten hat österreichweit für Anerkennung gesorgt. Mit diesem Plan wird erstmals eine Gesamtsicht der Versorgungslandschaft gezeichnet. Sie beginnt bei der abgestuften Notfallversorgung und beinhaltet sowohl den Primärversorgungsbereich als auch die fachärztliche Versorgung, einerseits im niedergelassenen Bereich und andererseits auch im Leitspital. Ziel des steirischen Gesundheitsplans ist es, allen SteirerInnen den gleichwertigen Zugang zu bester Gesundheitsversorgung zu sichern, daher konzentriert sich der Gesundheitsplan auf folgende Prämissen: • mehr Nähe • bessere Qualität • mehr Beteiligung Dabei ist unser höchstes Ziel, den SteirerInnen die beste und qualitativ hochwertigste Versorgung im Krankheitsfall anbieten zu können, damit sie gesünder sind und länger leben als der Rest der Welt.

Michael Koren

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Erste Schritte wurden gesetzt … Als erste Maßnahme wurde, nach einer langen Diskussion, der „Regionale Strukturplan Gesundheit – RSG 2025“ im Juni 2017 beschlossen. Damit wurde der erste Umsetzungsschritt auf dem Weg zur Realisierung des Gesundheitsplans 2035 gesetzt. Dieser Strukturplan sieht als wesentliche Entwicklungsschritte bis ins Jahr 2025 Folgendes vor:

Notfallversorgung: Dies beinhaltet eine neue Konzeption der Notfallversorgung in der Steiermark. Darin berücksichtigt wird der Telefonarzt als Erstkontakt, sowohl im Notfall als auch bei anderen medizinischen Anliegen. Des Weiteren ist eine neue Planung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes von Montag bis Freitag in der Nacht sowie am Wochenende geplant. Ergänzt wird das Konzept um die notärztliche Versorgung der SteirerInnen, deren Qualität unbedingt auch zukünftig gehalten werden muss.

Stärkung der Primärversorgung: Hier sieht der „Regionale Strukturplan“ die Implementierung von 30 Standorten für Primärversorgungseinheiten bis 2025 vor. Die dafür gesetzlichen Voraussetzungen wurden auf Bundesebene im Jahr 2017 durch die Beschlussfassung des Primärversorgungsgesetzes erfüllt. Zusätzlich werden in der Steiermark weitere rund 522 § 2-Einzelplanstellen für Allgemeinmedizin vorgesehen, sodass es weiterhin den „typischen Hausarzt“ geben wird.

Bündelung der ambulanten fachärztlichen Versorgung: Auch hier geht die Steiermark eine Pionierrolle ein. Bis ins Jahr 2025 sollen in Schladming, Rottenmann und Hörgas, als Nachnutzung der vorhandenen Infrastruktur, Facharztzentren eröffnet werden. In Bad Aussee soll ein Gesundheitszentrum mit fachärztlicher Erweiterung entstehen. Die Ausprägung dieser Facharztzentren fällt regional sehr unterschiedlich aus und könnte unter anderem die Bereiche der chirurgischen, internistischen, orthopädischen, traumatologischen, gynäkologischen und radiologischen Versorgung beinhalten. Zusätzlich sind in der Steiermark noch 364 § 2-Planstellen für die ambulante, fachärztliche Versorgung vorgesehen.

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Reform des Gesundheitswesens in der Steiermark – ein Zwischenbericht

Neu- und Umstrukturierung stationärer fachärztlicher Versorgung: Bereits in diesem regionalen Strukturplan ist die Realisierung der Grundidee – ein Leitspital je Versorgungsregion – mit breitem Fächerspektrum abgebildet. So wird die KAGes als größter steirischer Gesundheitsleistungsanbieter in den nächsten Jahren ihre Strategie, Verbunde zwischen Krankenhausstandorten zu schließen, weiter durchführen. Zu einem Umbau des Versorgungsangebotes kommt es dabei vor allem in Graz-Mitte sowie in der Region Liezen. Das Projekt Graz-Mitte betrifft die Krankenhausstandorte der Barmherzigen Brüder in der Marschallgasse sowie das Krankenhaus der Elisabethinen. Hierbei ist angedacht, dass spätestens ab dem Jahr 2025 das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder als chirurgisches Haus geführt wird. Das Krankenhaus der Elisabethinen wird sich zukünftig mit seinem Leistungsangebot auf den älteren Menschen konzentrieren und steiermarkweit unter anderem die alterspsychiatrische Versorgung anbieten. Das Projekt „Leitspital Liezen“ sieht die Zusammenführung der Krankenhausstandorte Bad Aussee, Rottenmann und Schladming auf einen Standort vor. Dabei ist, neben der bisher in der Region durchgeführten Versorgung, eine Erweiterung der ambulanten fachärztlichen Versorgung im Bereich Kinder- und Jugendheilkunde sowie der Neurologie angedacht.

„Mehr Beteiligung“ durch Stärkung der Gesundheitskompetenz … Der europäische Health Literacy Survey zeigte, dass die SteirerInnen im Bundesländervergleich die niedrigste Gesundheitskompetenz in Österreich aufweisen. Nur 36,8  % der SteirerInnen verfügen über eine ausreichende oder exzellente Gesundheitskompetenz. Der Österreichschnitt liegt bei 48,4 %, das bedeutet, dass die Menschen die Informationen über Gesundheit und Krankheit nicht ausreichend verstehen oder beurteilen und daher nicht entsprechend anwenden können. Personen mit höherer Kompetenz schätzen ihre Gesundheit nicht nur besser ein, sie sind im Schnitt auch weniger häufig im Krankenhaus, benötigen seltener ÄrztInnen und nutzen medizinische Notfalldienste weniger. Mit „Mehr Beteiligung“ will der Gesundheitsplan 2035 zu einer, für die BürgerInnen einfacheren und besser verständlichen Gesundheitsversorgung beitragen. Ziel ist es, dass die Menschen in der Steiermark besseren Zugang zu Informationen erhalten und so für mehr Gesundheit in ihrem Alltag sorgen können, um länger gesund zu bleiben. Damit diese Gesundheitskompetenz verbessert wird, startete der Gesundheitsfonds 2017 mehrere Maßnahmen, wobei unter anderem für die nächsten drei Jahre Förderungen für innovative Projekte zur Steigerung der Gesundheitskompetenz abgeholt werden konnten.

Michael Koren

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Weitere Maßnahmen, um einen Mangel zu beseitigen … Wiederholt wurden alarmierende Zahlen über die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Österreich veröffentlicht. Dies zeigt, dass u.a. auch ein Mehrbedarf an Versorgungsstrukturen für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche besteht. Wichtig ist die Fokussierung auf frühzeitige Unterstützung, da psychische Erkrankungen im jungen Alter die weitere Entwicklung beeinflussen und die Gefahr, im späteren Leben gesundheitliche, ökonomische und soziale Nachteile zu haben, für diese Menschen erhöht ist. Umso wichtiger ist es, dass es in der Steiermark gelungen ist, Ende 2016 und Anfang 2017 in den entsprechenden Gremien die Beschlüsse für eine steiermarkweit flächendeckende Umsetzung eines Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgungsangebots im niedergelassenen Bereich zu fassen. Nach Vorliegen der Beschlüsse wurde umgehend begonnen, den Aufbau einer steiermarkweit flächendeckenden Umsetzung eines Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgungsangebots im niedergelassenen Bereich voranzutreiben. Die dem Strukturaufbau zugrundeliegenden Versorgungskonzepte verfolgen den Ansatz einer niederschwelligen, möglichst wohnortnahen Behandlung durch multiprofessionelle Teams, bestehend aus FachärztInnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen. Dies erfolgt im Rahmen von für alle frei zugänglichen Ambulatorien und Beratungsstellen, wie sie auch im Österreichischen Strukturplan Gesundheit festgeschrieben sind. Gerade im Kindes- und Jugendalter besteht häufig eine enge Verbindung zwischen geringer sozialer Kompetenz und psychischer Störung, was häufig zu einer Einschränkung und Beeinträchtigung an der Teilhabe am sozialen Leben führt. Daher ist ein umfassender, teamorientierter Ansatz, der neben anderen sozialen Komponenten noch die differenzierte medizinische Diagnostik beachtet, so wichtig. Dieser Ansatz geht einen Schritt weit über die herkömmlichen, klassischen medizinischen Versorgungsstrukturen hinaus. Es wird damit allerdings ein dem Bedarf und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen auf allen Ebenen gerecht werdendes, durchgehendes, psychiatrisches und psychosoziales Versorgungsangebot geschaffen. So wurden im Laufe des Jahres 2017 flächendeckend in allen steirischen Versorgungsregionen Zentren für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen errichtet. Alle Zentren sind mit spätestens Herbst 2017 in Betrieb gegangen. An der fachärztlichen Besetzung einiger Zentren wird noch mit Hochdruck gearbeitet. Diese soll spätestens mit Sommer 2018 abgeschlossen sein.

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Reform des Gesundheitswesens in der Steiermark – ein Zwischenbericht

Zusammenfassend darf festgehalten werden: Im Steirischen Gesundheitsplan 2035 geht es darum, das hervorragende Gesundheitssystem dem gesellschaftlichen Wandel und technischen Fortschritt entsprechend anzupassen. Und damit die medizinische Versorgung mit einem niederschwelligen Zugang, mit höchster Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität, mit bestmöglicher Versorgungssicherheit und möglichst patientennah auch in Zukunft für alle Menschen sicherzustellen. Die ersten Schritte dazu wurden durch die Beschlussfassung des Regionalen Strukturplans Gesundheit 2025 gesetzt. Denn die SteirerInnen sollen gesünder sein und länger leben als der Rest der Welt.

Michael Koren

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CHRISTOPH BADELT

Wahlkampf in Zeiten der Hochkonjunktur: Zur wirtschaftspolitischen Diskussion im Jahr 2017

In eine Chronik der österreichischen wirtschaftlichen Entwicklung wird 2017 als das Jahr mit den höchsten Wachstumsraten seit sechs Jahren eingehen. Auf der Basis des Wissensstands vom März 2018 prognostizierte das WIFO für 2017 eine Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,8 %. Auch der Ausblick auf das Jahr 2018 ist positiv. Zwar wird es zu einer Abschwächung der Wachstumsraten in der zweiten Jahreshälfte 2018 kommen, dennoch wird für das Jahr insgesamt wiederum ein Wirtschaftswachstum von jedenfalls 3,2 % erwartet. Die mittelfristigen Perspektiven der österreichischen Wirtschaft sind ebenfalls gut. Nach der zu Jahresanfang 2018 fertiggestellten Mittelfristprognose des WIFO sollte es auch 2019 bis 2022 deutliche Wachstumsraten geben, die sich nur langsam von 2,2 % (im Jahr 2019) zu einer Größenordnung von 1,5 % (2022) reduzieren. Unter den gegenwärtig herrschenden internationalen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ist zurzeit nicht mit einem Konjunktureinbruch zu rechnen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit einer Änderung der Rahmenbedingungen naturgemäß mit wachsendem Zeithorizont zunimmt, was auch die Verlässlichkeit der Prognosen beeinträchtigt. Diese wirtschaftliche Lage ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Zunächst hat sich das Konjunkturbild während des Jahres 2017 ständig verbessert, sodass am Schluss des Jahres bereits Wachstumsaussichten prognostiziert wurden, die ein Jahr davor niemand vorhergesehen hatte. So wurden noch im Herbst 2016 die Wachstumsaussichten für 2017 nur mit etwa 1,5 % angenommen. Von besonderer Relevanz ist ferner das Faktum, dass der Konjunkturaufschwung des Jahres 2017 sehr breit, de facto von allen Nachfragekomponenten, getragen war. Der Außenhandel legte kräftig zu, was sich vor allem auf die Industrieproduktion positiv auswirkte. Die Investitionsdynamik blieb während des Jahres aufrecht, wobei das Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen auch zu einer Erweiterung der Kapazitäten führte, die insgesamt gut ausgelastet waren. Und auch der private Konsum hat sich nach dem Auslaufen der Effekte der Steuerreform weiterhin positiv entwickelt, was nicht zuletzt auf das gestiegene Konsumentenvertrauen Christoph Badelt

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zurückzuführen war – dieses wiederum spiegelt auch die langsam kleiner werdenden Ängste der Konsumenten vor Arbeitslosigkeit wider. Allerdings muss die Lage am Arbeitsmarkt nach wie vor ambivalent beurteilt werden. Zum einen ist zwar die Arbeitslosenrate deutlich zurückgegangen, lag sie doch nach zwei Jahren mit Werten zwischen 9 und 10 % im Jahr 2017 im Jahresdurchschnitt nur mehr bei 8,5 %, mit der Aussicht auf eine weitere Reduktion für die Jahre 2018 und 2019 auf die Größenordnung von 7,3 %. Dies bei einem ungebrochenen Wachstum der Beschäftigung von (2017) etwa 2 %. Als Kehrseite der Medaille ist aber die Größenordnung der Arbeitslosigkeit an sich zu sehen. Diese ist gesellschaftlich inakzeptabel und auch wirtschaftlich nachteilig. Dazu kommt die stets steigende Zahl von Langzeitarbeitslosen, die zuletzt schon mehr als ein Drittel aller Arbeitslosen ausmachten, und dies mit steigender Tendenz.

Lange aufgeschobene Strukturreformen Die wirtschaftspolitische Einschätzung der positiven Konjunkturentwicklung war eindeutig: Die Regierung sollte die wirtschaftliche Lage – die unter anderem zu einer positiven Einnahmeentwicklung der öffentlichen Kassen führt – dazu nutzen, endlich die lange aufgeschobenen Strukturreformen anzugehen. Dazu zählen Verbesserungen der Effizienz im öffentlichen Sektor, z.B. durch Reformen im Bereich der föderalen Strukturen, eine stringente Sichtung der Staatsausgaben hinsichtlich Treffsicherheit und Effektivität, eine grundlegende Abgabenreform, die den Faktor Arbeit entlastet und den Wirtschaftsstandort stärkt, aber auch die Erhöhung der Nachhaltigkeit in der Finanzierung des Pensionssystems, Reformen im Bildungswesen und Strukturbereinigungen im Gesundheitswesen. Keinesfalls sollte der Versuchung nachgegeben werden, die relativ entspannte Situation der öffentlichen Haushalte zu einer Ausgabenexpansion zu missbrauchen. Denn diese wäre angesichts der Konjunkturperspektive kontraproduktiv. So ist mit Stand Jahresende für das Jahr 2017 immer noch mit einem Haushaltsdefizit (nach Maastricht) von 0,8 % des BIP zu rechnen. Die realpolitische Entwicklung trug dieser Forderung nur sehr bedingt Rechnung. Einerseits verstärkten sich im Jahresverlauf die politischen Ankündigungen, dass durch Einsparungen und Reformen die Abgabenquote gesenkt und eine neue Phase zielgerichteter staatlicher Aktivität eingeleitet werden könnte. Andererseits wurden in den wechselnden politischen Konstellationen des Wahljahrs 2017 immer wieder zusätzliche Ausgaben beschlossen, ohne dass deren Gegenfinanzierung klar gewesen wäre; eine Vorgangsweise, deren Konsequenzen sich letztlich erst in der Anfang 2018 stattfindenden Budgeterstellung der neuen Regierung für die Jahre 2018 und 2019 niederschlagen werden. Dazu ein paar Beispiele: Auf programmatischer Ebene begann das Jahr 2017 mit der Präsentation des „Plan A“ durch den damaligen Bundeskanzler Kern. In dem umfassenden mittelfristigen Konzept 52

Wahlkampf in Zeiten der Hochkonjunktur: Zur wirtschaftlichen Diskussion im Jahr 2017

für die österreichische Wirtschaft wurden Steuersenkungen von rund 5,5 Mrd. Euro angekündigt, darüber hinaus wurden Einsparungen „durch sinkende Arbeitslosigkeit und Effizienzsteigerungen in der Verwaltung“ in Aussicht gestellt. Insgesamt sollte der Plan ein Finanzierungsvolumen von 9,75 Mrd. Euro bewegen. Bundeskanzler Kern bekannte sich mehrmals öffentlich dazu, dass die Abgabenquote in Österreich nicht mehr steigen, sondern eher fallen sollte, wenngleich sein Bekenntnis zu diesem Ziel stets weniger deutlich war, als dies von den bürgerlichen Parteien in Österreich, einschließlich des Regierungspartners ÖVP, verlangt wurde. So findet sich etwa im Plan A kein Zielwert für eine Abgabenquote in der Zukunft.

„Pakt für Österreich“ Kurz nach der Präsentation des Bundeskanzlers schlug der damalige Finanzminister Schelling einen „Pakt für Österreich“ vor, in dem er einerseits Ausgabenkürzungen, aber auch Steuersenkungen anregte (z.B. durch Abschaffung der Kalten Progression), ein quantifiziertes Konzept wurde aber nicht vorgelegt. Und als sich die rot-schwarze Koalitionsregierung Ende Jänner 2017 auf ein neues Arbeitsprogramm „Für Österreich“ einigte, das sie bis zum Ende der Legislaturperiode umsetzen wollte, waren darin sowohl Steuersenkungen als auch Maßnahmen, die zusätzliche Ausgaben verursachen würden, enthalten. Die Finanzierung des Programms, dessen Kosten mit 4 Mrd. Euro angegeben wurde, blieb weitgehend im Dunkeln, sieht man von der Ankündigung ab, dass 2,8 Mrd. Euro „durch Einsparungen, Minderausgaben und Umschichtungen zu erbringen sind“, während man 1,2 Mrd. Euro durch die positiven Konjunktur- und Beschäftigungseffekte zu lukrieren hoffte. Durch die im Mai 2017 formell getroffene politische Entscheidung, die Koalition zwischen ÖVP und SPÖ vorzeitig zu beenden, verstärkte sich die Dynamik, konkrete Ausgabenerhöhungen zu fixieren, ohne über ein verbindliches Konzept für eine Gegenfinanzierung zu verfügen. So beschloss der Nationalrat knapp vor der Sommerpause unter anderem die Abschaffung des Pflegeregresses, die Erhöhung des Universitätsbudgets, den Beschäftigungsbonus, eine Erhöhung der Forschungsprämie und eine Investitionszuwachsprämie. Im Oktober folgten dann z.B. Verbesserungen bei der Notstandshilfe sowie die Freigabe von zusätzlichen Mitteln für das Kinderbetreuungsangebot. Während die Beschlüsse des Parlaments mit wechselnden Mehrheiten nicht unbeträchtliche zusätzliche Staatsausgaben nach sich zogen, wurde die Frage der in der Zukunft liegenden „Entlastung“ der Bürger durch Steuersenkungen, die auch zu einer deutlichen Reduktion der Abgabenbelastung führen würden, zu einem Kernthema des Wahlkampfs.

Christoph Badelt

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Streit um das „Finanzierungspotenzial“ Die ÖVP identifizierte in ihrem Wahlprogramm ein „Finanzierungspotenzial“ von jährlich bis zu 14 Mrd. Euro, das sich durch Effizienzsteigerungen im System, eine Bremsung der Ausgabendynamik beim Staat und durch gestiegenes Wirtschaftswachstum zusammensetzen sollte. Konkret wurden zwischen 12 und 13 Mrd. Euro steuerliche Entlastungen versprochen. Die SPÖ bezeichnete dies als unrealistisch und wollte selbst nur 5 Mrd. Euro Entlastungen umsetzen, vertraute aber auch zu einem hohen Teil auf die „Selbstfinanzierung“ dieser Entlastungen durch das Wirtschaftswachstum. Die Freiheitlichen versprachen 12 Mrd. Euro „echte Entlastung“, im NEOS-Konzept wurden insgesamt 19 Mrd. Euro als mögliche Einsparungen angesehen, die teilweise zur Finanzierung von Investitionen, vor allem in die Bildung, verwendet werden sollten. Abgesehen von den praktisch überall vorkommenden Hoffnungen auf Einsparungen durch Verwaltungsreform und Bürokratieabbau lieferte keine politische Gruppierung belastbare Hinweise, wo und wie tatsächlich Einsparungen vorgenommen werden könnten. In diesem Sinn entfernte sich die politische Diskussion völlig von einer nachvollziehbaren empirischen Analyse über Veränderungen in der Wirtschaftspolitik. Dieses Auseinanderklaffen von politischer Werbung und ökonomischen Fakten ist für Wahlkampfzeiten nicht überraschend. Besonders bemerkenswert waren aber die über das Zahlenspiel hinausgehenden Schwerpunkte der politischen Argumentarien. So beruhte die Wahlkampagne der ÖVP stark auf der Ankündigung, dass durch das Verhindern einer „Zuwanderung in das Sozialsystem“ bzw. durch andere ausländerspezifische Maßnahmen (etwa Reduktion der Mindestsicherung für Menschen mit Asylstatus, Reduktion der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder) wesentliche Einsparungen erzielt werden könnten. Abgesehen von noch nicht geklärten europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Barrieren für solche Vorhaben, bestand jedoch nie ein Zweifel, dass die finanziellen Wirkungen solcher Maßnahmen eher klein sein würden und keine relevanten Anteile der angepeilten Einsparungsvolumina bringen könnten. Die SPÖ wiederum setzte ihre Wahlwerbung stark unter das Motto „Hol dir, was dir zusteht“ und sprach dabei nicht nur Verteilungskonflikte an, sondern erweckte durch Versprechungen etwa für Verbesserungen im Pensionssystem oder durch schwer nachvollziehbare Einnahmenerwartungen bei der Besteuerung „internationaler Konzerne“ ebenfalls unrealistische Hoffnungen über mögliche Finanzierungsquellen der von ihr geplanten Mehrausgaben. Diese sollten vor allem jenen zugutekommen, die bislang vom Wirtschaftsaufschwung nicht profitiert hatten.

Realistischer Blick auf das Förderwesen Quer über alle Parteien wurde überdies der Eindruck erweckt, dass durch signifikante Kürzungen bei den Förderungen leicht und ohne Nachteile Einsparungen erzielt werden 54

Wahlkampf in Zeiten der Hochkonjunktur: Zur wirtschaftlichen Diskussion im Jahr 2017

könnten. Bei aller berechtigter Kritik am Fördersystem wurde auch hier ein völlig unrealistisches Bild betreffend Finanzierungspotenzialen geweckt. Abgesehen davon, dass viele Förderungen sinnvoll und daher nicht ohne berechtigten Widerstand abzuschaffen sind, lagen die politisch geäußerten Pläne teilweise sogar über dem Niveau der Förderungen, die vom Bund vergeben werden. (Das waren 2016 je nach Abgrenzung ungefähr 5 bis 7 Mrd. Euro.) Die knapp vor Jahresende angelobte Regierung muss nun all diese unrealistischen Perspektiven wieder auf den Boden der Realität bringen. Der Offenbarungseid wird erstmals im März mit dem für die Jahre 2018 und 2019 geplanten Doppelbudget geleistet werden müssen. Am Weg dahin hat die die Regierung zwar gegenüber der Beschlusslage vor den Wahlen einige Einsparungen beschlossen, wie z.B. die Rücknahme oder Einschränkung des Beschäftigungsbonus und der „Aktion 20.000“. Sie hat aber z.B. durch Ankündigung eines „Familienbonus“ im Einkommensteuerrecht auch Festlegungen getroffen, die noch zu weiteren Budgetbelastungen führen werden. Die angekündigten Ambitionen der Regierung, Strukturreformen anzugehen, die mittelfristig auch zu Einsparungen führen, sind hoch. Die tatsächliche Auflösung des beschriebenen finanziellen Puzzles liegt aber noch im Dunkeln. Wie nicht anders zu erwarten, war das halbe Jahr der Wahlkampfzeit für einen qualitätsvollen wirtschaftspolitischen Diskurs nicht hilfreich. Dieser muss im Jahr 2018 wieder aufgenommen werden.

Christoph Badelt

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MARTIN G. KOCHER/KLAUS WEYERSTRASS

Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich

Weltwirtschaftliches Umfeld Die Weltwirtschaft expandiert gegenwärtig auf breiter Basis in hohem Tempo. Nach einem schwächeren Jahresbeginn 2017 legte die Wirtschaft in den Industrieländern im Jahresverlauf kräftig zu; auch in den Schwellenländern war die Konjunktur ganz klar in Richtung Verbesserung gerichtet. In China blieb das Wachstum hoch, Russland und Brasilien haben die Rezession offensichtlich überwunden. Nach einer temporären Schwächephase im ersten Quartal hat auch in den USA die Konjunktur im Jahresverlauf wieder angezogen. Robust expandierte auch die Wirtschaftsleistung in Japan, allerdings mit niedrigeren Wachstumsraten. Im Euroraum ist erstmals seit 2007 die gesamtwirtschaftliche Produktion in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Besonders hoch war das Wachstum in Irland und den meisten mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern. Im Hinblick auf die EU-Mitgliedstaaten entwickelte sich nur die Konjunktur im Vereinigten Königreich vergleichsweise verhalten. Relevante Indikatoren zum Geschäfts- und Konsumklima deuten darauf hin, dass die Weltwirtschaft in den Jahren 2018 und 2019 ihren Expansionskurs beibehalten dürfte. Die Geldpolitik im Euroraum wird angesichts der moderaten Inflation erst allmählich gestrafft werden. Die Europäische Zentralbank wird auch im Jahr 2018 ihr Programm zum Ankauf von Anleihen fortführen und verringerte nur ab Jänner 2018 das monatliche Volumen. Mit Leitzinserhöhungen ist nicht vor 2019 zu rechnen. In den USA ist die wirtschaftliche Erholung weiter fortgeschritten. Insbesondere ist dort die Arbeitslosigkeit bereits sehr niedrig und die Inflation zieht an, sodass die US-Notenbank damit bereits begonnen hat, den Leitzins anzuheben. Die Fiskalpolitik ist in den meisten Industrieländern und im Euroraum insgesamt konjunkturneutral bis leicht expansiv ausgerichtet. Der Rohölpreis bleibt gering. Daher sind die Ausgangsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum auch 2018 gut. Die Prognose des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts in für den österreichischen Außenhandel wichtigen Ländern und Regionen sowie des Wechselkurses und des Ölpreises kann Tabelle 1 entnommen werden (siehe auch Forstner et al., 2017). Gründe Martin G. Kocher/Klaus Weyerstraß

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für die erwartete allmähliche Verlangsamung des Wachstums sind die Rückführung des geldpolitischen Expansionsgrads sowie stärker steigende Verbraucherpreise. In den USA ist zudem die Arbeitslosigkeit bereits so niedrig, dass nur noch eine graduelle weitere Verbesserung möglich ist. In China sollen wirtschaftspolitische Maßnahmen zu einer Verringerung der Verschuldung beitragen, etwa durch eine restriktivere Kreditvergabe. Tabelle 1: Internationale Rahmenbedingungen Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Welthandel BIP, real Deutschland Italien Frankreich Vereinigtes Königreich Schweiz USA Japan China NMS 6 (Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Kroatien) Euroraum EU-28 Welt Österreichische Exportmärkte USD/EUR Wechselkurs (absoluter Wert) Rohölpreis (Brent, USD/barrel) (abs. Wert)

2017

2018

2019

4.5

4.5

4.0

2.3 1.5 1.7 1.5 1.0 2.2 1.6 6.8

2.2 1.5 1.8 1.2 1.7 2.4 1.4 6.5

1.9 1.3 1.6 1.1 1.7 2.3 1.1 6.2

4.6

3.7

3.4

2.3 2.4 3.6 4.8 1.13 54.8

2.1 2.1 3.7 4.5 1.18 61.0

1.9 1.9 3.5 3.8 1.18 62.0

Quelle: Eurostat, IWF, OECD, CPB, nationale statistische Ämter, Berechnungen und Prognose des IHS Wien vom 21.12.2017 (Forstner et al., 2017).

Die österreichische Wirtschaft Die österreichische Wirtschaft expandiert seit Jahresende 2016 immer kräftiger. Treiber der Konjunktur sind die Investitionen und die Exporte. Insbesondere die Ausrüstungsinvestitionen wurden im Jahr 2017 äußerst stark ausgeweitet, gestützt von den niedrigen Fremdfinanzierungskosten und steigenden Unternehmensgewinnen. Zudem 58

Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich

liegt die Kapazitätsauslastung inzwischen deutlich über ihrem langjährigen Durchschnitt und damit nur noch wenig niedriger als in der Hochkonjunkturphase vor Ausbruch der Wirtschaftskrise. Die Exporte profitieren vom oben beschriebenen sehr guten weltwirtschaftlichen Umfeld. Der private Konsum wird durch den starken Beschäftigungsanstieg gestützt. Aufgrund der lebhaften Binnennachfrage und Exporttätigkeit zogen auch die Importe spürbar an. Somit dürfte die Wirtschaftsleistung in Österreich im Jahr 2017 um 3,1 % gestiegen sein; das stärkste Wachstum seit dem Jahr 2007. Der private Konsum hat um 1,5 % zugelegt, gestützt von deutlich steigenden Realeinkommen und dem hohen KonsumentInnenvertrauen. Die Lohneinkommen profitierten von der steigenden Beschäftigung; außerdem wirkte die im Jahr 2016 in Kraft getretene Steuerreform noch leicht nach. Die Gewinneinkommen wurden durch die gute Konjunktur gestützt. Die Güterexporte haben im vergangenen Jahr wohl um 6,0 % zugelegt, womit Marktanteile zurückgewonnen werden konnten. Aufgrund der importierten Vorleistungen bei den Exportgütern und der sehr dynamischen heimischen Investitionsgüternachfrage verzeichnete die Importnachfrage einen Zuwachs von voraussichtlich 5,1 %. Entstehungsseitig hat von der lebhaften Auslandsnachfrage besonders die Sachgütererzeugung profitiert. Positiv entwickelte sich auch die Wertschöpfung im Bauwesen, getrieben durch die steigenden Bauinvestitionen, sowie im Handel und den wirtschaftsnahen Dienstleistungen. Der Handel wurde vom steigenden privaten Konsum gestützt, die Wirtschaftsdienste profitierten von der guten Industriekonjunktur. Die vorliegenden Indikatoren deuten auch für das Jahr 2018 auf eine äußerst rege Wirtschaftsentwicklung in Österreich hin. Im Jahresverlauf dürfte sich das Konjunkturtempo aber etwas verlangsamen. Der historischen Entwicklung folgend, dürfte insbesondere das Expansionstempo der Ausrüstungsinvestitionen merklich nachlassen. Die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind weiterhin günstig für die Konjunktur, sodass sich die Exportdynamik laut Prognose nur leicht abschwächen dürfte. Weiterhin robust bleibt die Konsumnachfrage. Vor diesem Hintergrund erwartet das IHS ein Wirtschaftswachstum von 2,7 % im Jahr 2018. Im Jahr 2019 wird das Bruttoinlandsprodukt laut Prognose um 1,9 % zulegen, wobei in dieser Prognose noch keine Entscheidungen der neuen Regierung berücksichtigt sind. Somit verzeichnet die österreichische Wirtschaft in den Jahren 2017 und 2018 erstmals seit 2012 wieder einen deutlichen Wachstumsvorsprung gegenüber dem Euroraum-Durchschnitt. Aufgrund der lebhaften Konjunktur sollten auch die verfügbaren Einkommen merklich zulegen. Die erfreulichen Konjunkturaussichten, die günstigen Finanzierungskonditionen und die hohe Kapazitätsauslastung sollten die Investitionstätigkeit weiter stützen. Allerdings waren in der Vergangenheit die Aufschwungphasen der Investitionskonjunktur in Österreich nur kurz. Daher wird erwartet, dass sich nach zwei Jahren mit hoher Dynamik das Expansionstempo der Ausrüstungsinvestitionen in den kommenden beiden Jahren abschwächt. Die Bauinvestitionen werden weiterhin von der Zuwanderung und den niedrigen Zinsen Martin G. Kocher/Klaus Weyerstraß

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gestützt. Die Exportdynamik sollte hoch bleiben, da sich die Weltwirtschaft weiterhin lebhaft entwickelt. Die Importdynamik sollte sich insbesondere wegen der schwächer werdenden heimischen Investitionsgüternachfrage etwas verlangsamen. Von der Außenwirtschaft dürfte damit im gesamten Zeitraum 2017 bis 2019 ein positiver Wachstumsbeitrag ausgehen. Seit Jahresmitte 2017 hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Einklang mit den anziehenden Energiepreisen leicht erhöht. Im Jahresdurchschnitt ergab sich eine Inflationsrate von 2,1 %. Damit bestand ein Inflationsdifferenzial von einem halben Prozentpunkt zum Durchschnitt des Euroraums, was primär auf die dynamische Entwicklung der heimischen Dienstleistungspreise zurückgeht. Die hohe Konjunkturdynamik dürfte in den Jahren 2018 und 2019 den Preisdruck etwas erhöhen; der stärkere Euro sollte den Importpreisanstieg aber dämpfen. Da weder von den internationalen Rohstoff- und Energiepreisen noch von der heimischen Lohnstückkostenentwicklung besonders starker Preisdruck ausgehen dürfte, wird die Inflationsrate in den Jahren 2018 und 2019 wohl in etwa auf dem Niveau des Jahres 2017 bleiben. Die Hochkonjunktur hat zu einer leichten Entspannung auf dem Arbeitsmarkt geführt. Aufgrund des äußerst starken Beschäftigungsaufbaus ist die Arbeitslosigkeit im Jahr 2017 trotz des deutlich steigenden Arbeitskräfteangebots erstmals seit dem Jahr 2011 gesunken. In den kommenden beiden Jahren sollte konjunkturbedingt die Beschäftigungsnachfrage kräftig bleiben. Es ist aber weiterhin von einem steigenden Arbeitskräfteangebot aufgrund der Zuwanderung sowie steigender Erwerbsquoten von älteren Personen und von Frauen auszugehen. Zudem klaffen die von der Wirtschaft nachgefragten und die von den Arbeitslosen angebotenen Qualifikationen zunehmend auseinander. Insgesamt gesehen dürften daher der Rückgang der Arbeitslosigkeit geringer als in früheren Aufschwungsphasen ausfallen und die Arbeitslosenquote relativ hoch bleiben. Die Lage der öffentlichen Haushalte wird insbesondere vom konjunkturellen Umfeld und den niedrigen Zinsen geprägt. Unter der Annahme des finanzpolitischen Status quo – ohne Berücksichtigung von noch nicht beschlossenen Gesetzen und Vorhaben – dürften die konjunkturbedingt kräftig steigenden Einnahmen dazu führen, dass das gesamtstaatliche Budgetdefizit in den Jahren 2017 bis 2019 auf 0,5 % in Relation zum nominellen Bruttoinlandsprodukt verharrt, was gegenüber dem Jahr 2016 einem Rückgang um einen Prozentpunkt darstellt. Tabelle 2 fasst die wichtigsten Ergebnisse der Prognose des IHS vom 21. Dezember 2017 zusammen.

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Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich

Tabelle 2: Wichtige Prognoseergebnisse

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % Bruttoinlandsprodukt, real Privater Konsum, real Bruttoinvestitionen insgesamt, real Bruttoanlageinvestitionen, real Ausrüstungsinvestitionen, real Bauinvestitionen, real Inlandsnachfrage, real Exporte i.w.S., real Waren, real (laut VGR) Reiseverkehr, real (laut VGR) Importe i.w.S., real Waren, real (laut VGR) Reiseverkehr, real (laut VGR) Unselbstständig Aktiv-Beschäftigte Arbeitslosenquote: Nationale Definition* Verbraucherpreisindex Budgetsaldo Maastricht in % des BIP*

2017

2018

2019

3,1 1,5 6,2 5,2 7,0 3,2 2,6 5,8 6,0 1,8 5,1 4,8 2,5 2,0 8,5 2,1 -0,6

2,7 1,4 3,7 3,2 3,8 2,5 2,0 4,6 5,0 1,5 3,4 3,3 1,0 1,5 8,0 2,2 -0,6

1,9 1,1 2,2 2,2 2,5 1,8 1,4 3,9 4,3 1,5 3,3 3,3 1,0 1,2 8,0 2,1 -0,5

*: absolute Werte Begründung: Bei den Verbraucherpreisen ist, wie in der übrigen Tabelle, die Veränderung angegeben; nur bei der Arbeitslosenquote und dem Budgetsaldo handelt es sich um die absoluten Werte. Quellen: Statistik Austria, Berechnungen und Prognose des IHS Wien vom 21.12.2017 (Forstner et al., 2017).

Öffentliche Haushalte und Reformen Die von der neuen Bundesregierung angestrebte Reduktion der im internationalen Vergleich hohen Abgabenbelastung ist prinzipiell zu begrüßen. Bei einer Beurteilung der Budgetpolitik sind die kurze und die lange Sicht zu unterscheiden. Kurzfristig sind die Staatsfinanzen stabil und eine Verbesserung des Budgetsaldos ist aufgrund der sprudelnden Steuereinnahmen leicht zu erreichen. Wenn auch die niedrigen Zinsen auf die Staatsverschuldung noch lange den Zinsendienst der öffentlichen Hand erschwinglich machen werden, scheint eine Berücksichtigung jener Kosten der öffentlichen Haushalte angezeigt, die sich besonders dynamisch entwickeln. Die Kosten der Alterung der BeMartin G. Kocher/Klaus Weyerstraß

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völkerung beispielsweise werden die öffentlichen Budgets mittelfristig stärker belasten. Strukturreformen, etwa in den Bereichen Pensionen, Pflege, Gesundheit und Finanzausgleich würden die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte stärken. Eine Rückführung der Verschuldung würde mehr Spielraum für eine aktive Budgetpolitik geben. Im Hinblick auf die Budgetstruktur wäre eine stärkere Priorisierung von zukunftsorientierten öffentlichen Ausgaben (etwa in den Bereichen Bildung, Forschung und Entwicklung, Infrastruktur und Digitalisierung) erforderlich; die Mittel müssen aber auf jeden Fall effizient eingesetzt werden. So sind etwa Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivität im Gesundheits- und insbesondere im Bildungswesen angezeigt. Auch die Integration von MigrantInnen erfordert höhere Investitionen, wenn sie rasch gelingen soll.

Literatur: Forstner, S., Fortin, I., Grozea-Helmenstein, D., Hlouskova, J., Hofer, H., Koch, S. Kocher, M., Kunst, R. M., Reiter, M., Skriner, E., Weyerstrass, K. (2017) Prognose der österreichischen Wirtschaft 2017–2019: Konjunkturhoch weiterhin breit abgestützt. Wirtschaftsprognose / Economic Forecast 100.

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Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich

STEFAN STORR

Das Demokratieprinzip: Erwartungen und Möglichkeiten der Fortentwicklung eines Verfassungsprinzips*

Die Verfassung ist die Antwort auf grundlegende Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart und ist Garant für Stabilität. Das kommt in der Bezeichnung der Verfassung als Grundgesetz des Staates gut zum Ausdruck. Dieses Grundgesetz ist das Fundament des Staates. Die Verfassung steht neuen Entwicklungen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, im Gegenteil, indem sie den gesetzgebenden Organen, Bundesregierung, Bundesrat, Bundespräsident und vor allem dem Nationalrat die Kompetenz zur Rechtsetzung zuweist, ermöglicht sie die Gestaltung der Zukunft. Aber dafür sind bestimmte Verfahren vorgesehen. Das Verfassungsrecht ist eine „neutrale“, „objektive“ Disziplin, insofern, als die Wissenschaft vom Verfassungsrecht keine Parteiprogramme propagiert. Für uns Verfassungsrechtswissenschaftler geht es u.a. um Fragen der Vereinbarkeit bestimmter Ideen mit der Verfassung. In diesem Sinne sollen hier Entwicklungsmöglichkeiten des Demokratieprinzips erörtert werden. Vorschläge gibt es viele und von vielen. Auch der Nationalrat hat sich immer wieder damit beschäftigt, z.B. 2013 ein Demokratiepaket1 diskutiert, 2014 eine Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie in Österreich eingesetzt2 und sich im Mai 2017 für ein sog. Kleines Demokratiepaket ausgesprochen.3 In weiterer Folge seien hier vier Aspekte einer möglichen Verbesserung der Demokratie in Österreich angesprochen:

Direkte Demokratie Es liegt nahe, mit dem Ausbau der direkten Demokratie zu beginnen. In Österreich gibt es bereits mehrere Formen direktdemokratischer Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene. Auf Bundesebene sind es das Volksbegehren, die Volksbefragung und die Volksabstimmung. Ein wichtiger Aspekt der direkten Demokratie ist neben der Möglichkeit des unmittelbar Einbezogenwerdens von Bürgerinnen und Bürgern in den Entscheidungsprozess Stefan Storr

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– ganz im Sinne der Smend´schen Integrationslehre4 – vor allem auch der der „gelebten Praxis dieses Prozesses“.5 Solange die Staatswillensbildung noch nicht abgeschlossen ist, sind vielfältige Formen der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger denkbar. Insbesondere die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sichern die Willensbildung im vorparlamentarischen Raum verfassungsrechtlich ab. Jedenfalls die abschließende Entscheidung muss aber den verfassungsrechtlichen Anforderungen durch das Demokratieprinzip entsprechen. Das bedeutet, dass die Entscheidung über einen Rechtsakt durch ein demokratisch legitimiertes Organ erfolgen muss.

Volksbegehren Das Volksbegehren setzt eine Unterstützung von 100.000 Stimmberechtigten oder von je einem Sechstel der Stimmberechtigten dreier Länder voraus. Seit 1964 hat es 39 Verfahren zur Durchführung von Volksbegehren gegeben. Die erforderliche Unterstützung haben zuletzt das „Volksbegehren Bildungsinitiative“ (2011) und das „EU-Austritts-Volksbegehren“ (2015) erzielt. Aber die Begeisterung der Bevölkerung an diesem Instrument hält sich in Grenzen: Das Volksbegehren „Demokratie Jetzt!“, das das hier zu behandelnde Thema betrifft, hat 2013 nur knapp 70.000 Unterstützerinnen und Unterstützer gewinnen können. Eine erhebliche Schwierigkeit besteht darin, dass Stimmberechtigte in einem Eintragungslokal persönlich erscheinen müssen6 und dass der Eintragungszeitraum sich nur auf acht Tage beläuft.7 Auslandsösterreicher sind nicht stimmberechtigt. Durch das Wahlrechtsänderungsgesetz 2017, das Anfang 2018 in Kraft trat, werden nicht nur Auslandsösterreicher stimmberechtigt, wichtig ist vor allem, dass auch eine elektronische Unterstützung ermöglicht werden kann (unter Verwendung eines elektronischen Identitätsnachweises nach Maßgabe von § 4 E-GovG).8 Eine weitere Möglichkeit, Volksbegehren zu attraktiveren ist, die Quote von 100.000 Unterstützern zu senken9, zumal Bürgerinitiativen, die von mindestens 500 österreichischen Staatsbürgern unterstützt worden sind, ohnehin vom Nationalrat zu verhandeln sind. Verfassungsrechtlich ist das unproblematisch, weil eine Volksinitiative ja keine Rechtsetzung ist, sondern das Parlament nur verpflichtet, sich mit der Angelegenheit zu beschäftigen; der Nationalrat muss z.B. nicht darüber abstimmen.10

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Das Demokratieprinzip

Volksbefragung Ähnlich liegt es bei der Volksbefragung. Eine Volksbefragung kann über eine Angelegenheit von grundsätzlicher und gesamtösterreichischer Bedeutung stattfinden, wenn der Bundesgesetzgeber zuständig ist. Die Volksbefragung muss der Nationalrat beschließen. Zwar bedarf es einer „Erhebung des politischen Willens der Bürger“ in einer parlamentarischen Demokratie nicht. Die öffentliche Meinungsbildung erfolgt durch die Medien und die Parteien, die die öffentliche Diskussion anstoßen. Die Volksbefragung kann den Nationalrat aber bei der Politikgestaltung unterstützen und ihm Orientierungshilfe geben. Dennoch scheint das Potenzial der Volksbefragung nicht ausgeschöpft: Die Durchführung von Volksbefragungen könnte von einem Beschluss des Nationalrats unabhängig gemacht werden und auch von einem Volksbegehren ausgehen. Nicht, weil die demokratische Legitimation durch dieses Instrument eine bessere wäre – das ist sie nicht –, sondern vor allem, weil damit der öffentliche Diskurs gefördert werden könnte und eine „scheinbare Barriere zwischen Volk und Parlament“ beseitigt werden könnte. Weil die Volksbefragung nicht zu einer staatlichen Entscheidung führt, verstößt ihre Stärkung nicht gegen das Grundprinzip repräsentativer Demokratie.

Volksabstimmung Anders bei der Volksabstimmung: Das Bundesverfassungsgesetz kennt vier Varianten der Volksabstimmung. Art. 43 BVG regelt die Volksabstimmung über einen Gesetzesbeschluss des Nationalrats. Die Volksabstimmung kann durchgeführt werden, wenn das Gesetzgebungsverfahren im Nationalrat abgeschlossen ist und die Beurkundung durch den Bundespräsidenten noch nicht erfolgt ist. Eine Volksabstimmung ist außerdem bei einer Gesamtänderung der Bundesverfassung verpflichtend, bei einer Teiländerung fakultativ (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Schließlich kann der Bundespräsident durch Volksabstimmung abgesetzt werden (Art. 60 Abs. 6 B-VG). Die Besonderheit in Österreich liegt darin, dass eine Volksabstimmung nach Art. 43 B-VG durchzuführen ist, wenn der Nationalrat dies beschließt oder wenn die Mehrheit der Mitglieder des Nationalrats eine Volksabstimmung verlangt. Insbesondere führen Volksbegehren nicht zu einer Volksabstimmung, wie das in anderen Ländern der Fall ist. Die Verfassungsgesetzgeber hatten sich 1919 für eine „Zurückdrängung des Referendums“ ausgesprochen.11 Aus den Materialien zur Verfassungsgebung lassen sich v.a. drei tragende Argumente für die im Wesentlichen noch heute geltende Rechtslage finden: 1. Abstimmungsinitiativen, die nicht auf den Nationalrat zurückzuführen sind, seien einer „raschen Gesetzgebung nicht förderlich“. Der Volksentscheid führe zu Verzögerungen und erhöhten Kosten. Stefan Storr

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2. Das Volk sollte nur mit Angelegenheiten befasst werden, „für die es durch die Beratungen des Parlaments und die Berichte darüber vorgeschult“ sei. In den Protokollen wird auf Erfahrungen hingewiesen, die man in der Schweiz mit diesem Institut gemacht habe, ohne dass dies näher ausgeführt wird. Jedenfalls sei es nicht tragbar, dass durch Anrufung des Volksentscheids „ständig in die Gesetzgebung“ eingegriffen werde. 3. Schließlich sei auch „ganz unbegründet“, einer Minderheit das Recht einzuräumen, in vielen Fällen ein Veto gegen die Gesetzgebung auszusprechen, ein Recht, das man weder dem Bundespräsidenten noch dem Bundesrat eingeräumt habe. Die Beschränkung der Volksabstimmung auf Zustimmungsplebiszite – so wie sie es jetzt gibt – behauptet eine Legitimationsstärkung der Gesetzgebung durch unmittelbare Beteiligung des Volkes. Dieses Beiwerks bedarf es in einer parlamentarischen Demokratie aber nicht; in einer demokratischen Verfassungsordnung gibt es keine Notwendigkeit für eine nachträgliche Billigung parlamentarischer Beschlüsse. Bezeichnenderweise hat es in der politischen Praxis nur zwei Volksabstimmungen gegeben, nämlich über die friedliche Nutzung der Kernenergie in Österreich („Kernkraftwerk Zwentendorf“, 1978) und die Zustimmung zum Beitritt zur EU (Gesamtänderung, 1994). Volksabstimmungen könnte unter integrationspolitischen Gesichtspunkten aber eine wichtige Funktion zukommen, wenn sie unabhängig von einem Beschluss des Nationalrats zustande kommen könnten, wenn sie also „neben dem Parlament“ durchgeführt werden könnten. So könnte ein Volksbegehren zu einer Volksabstimmung führen, wenn das Parlament dem Volksbegehren nicht Rechnung trägt. Sicher müsste darüber nachgedacht werden, bei welchen Gegenständen Volksabstimmungen ausgeschlossen sein sollen (z.B. bei Steuern, Minderheitenschutz) und welche Anforderungen bestehen sollen (Quorum). Aber davor gibt es eine ganz andere Hürde auf Bundesebene: Der VfGH hat das Baugesetz des Demokratieprinzips i.S. eines Grundprinzips repräsentativer Demokratie interpretiert, das einer Volksabstimmung „am Parlament vorbei“ entgegenstehen soll.12 Gegen die Mehrheit des Parlaments soll eine Volksabstimmung nicht möglich sein. Denn genau das ist die Aufgabe eines allgemeinen Vertretungskörpers: „nicht die Interessen bestimmter, etwa nach Stand, Beruf oder Bekenntnis gleichartiger Personen, sondern die Interessen aller innerhalb eines bestimmten Gebietes lebenden Menschen (zu) vertreten.“13 Die Konsequenzen sind erheblich: Soweit eine Volksabstimmung ihre Grenzen im demokratischen Baugesetz des B-VG findet, kann sie der verfassungsändernde Bundesgesetzgeber nicht außerhalb des Verfahrens der Gesamtänderung eine Volksabstimmung ausgestalten. 66

Das Demokratieprinzip

Stärkung von zivilgesellschaftlichem Engagement Wie schon ausgeführt, liegt die Stärke der direkten Demokratie nicht unbedingt in der einmaligen Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürger in die Staatswillensbildung, sondern in ihrer permanenten Einbindung.14 Schon heute ist es ja nicht so, dass sich Bürger und Bürgerinnen nur bei Wahlen äußern dürfen. Sie können sich z.B. als Laienrichter zur Verfügung stellen, Anträge an die staatlichen Einrichtungen richten, Auskünfte verlangen, an mündlichen Verhandlungen teilnehmen etc. Vier Beispiele und Vorschläge sollen herausgegriffen werden: Erstens: Für Bürgerinnen und Bürger könnten mehr Ehrenämter geschaffen werden. Sinnvoll erscheint der Vorschlag, der im Vorfeld der Nationalratswahl gemacht wurde, Bürgerinnen und Bürger verstärkt als Beisitzer in den Wahlbehörden oder als Wahlzeugen heranzuziehen. Bisher ist es so, dass die Parteien entsprechende Vorschläge machen. Ein Grund dafür ist, dass die Bürger und Bürgerinnen von der Bürde des Besitzerseines entlastet werden sollen. Das aber verkennt die Bedeutung und die Möglichkeiten der Integration in den Staatsverband durch Mitwirkung an der Gestaltung desselben.15 Zweitens: Weniger überzeugend, wenngleich verfassungsrechtlich zulässig, ist die Einbeziehung einzelner Bürger bzw. Bürgerinnen in bestimmte Organe und Ausschüsse wie das z.B. bei der parlamentarischen Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie des Nationalrats 2014 der Fall war, wenn damit eine bessere demokratische Legitimation behauptet werden soll. Der Enquete-Kommission gehörten 18 stimmberechtigte Abgeordnete an, ferner neun weitere ständige Mitglieder (Mitglieder des Bundesrates oder ExpertInnen) und acht Bürgerinnen und Bürger, die mittels Los ermittelt wurden.16 Die Kommission selbst hat diese Einbeziehung „besonders positiv erwähnt“ und ihre Idee als „beispielgebendes Zukunftsmodell“ gepriesen.17 Aber zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen in ein demokratisch legitimiertes Organ einzubeziehen hat keinen demokratischen Mehrwert. Diese vertreten das Volk nicht und sind von ihm auch nicht gewählt worden. Das Volk zu vertreten ist Aufgabe der Abgeordneten und es ist auch nicht nachvollziehen, wie irgendjemand, der nicht zu den acht Personen gehört, das als eine integrierende Maßnahme begreifen könnte. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Staatswillensbildung darf kein bloßer Marketing-Gag sein. Jedoch können Bürgerräte und Dialogforen sehr wohl sinnvoll sein, wenn es darum geht, Ideen zu sammeln und zur allgemeine Akzeptanz einer (später zu treffenden) Entscheidung beizutragen. Drittens: Verfassungsrechtlich zulässig und zu begrüßen ist es, wenn allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, sich an der Gesetzgebung zu beteiligen. Stefan Storr

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In Finnland wurde eine elektronische Crowdsourcing-Plattform eingerichtet, über die Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen, Vorstellungen und Erfahrungen mit bisherigen Regelungen einbringen können, bevor ein Gesetzentwurf erarbeitet wird. Dazu werden grundlegende Informationen (Problemaufriss, Lösungsskizzierungen…) über das geplante Vorhaben zur Verfügung gestellt. Der Nationalrat hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, dieses Modell auch in Österreich einzuführen. Außerdem könnte Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben werden, zu einem schon ausgearbeiteten Gesetzes- oder Verordnungsentwurf eine Stellungnahme abzugeben. Das Stmk. L-VG sieht das bereits vor. Dabei muss vor zuviel Euphorie gewarnt werden. Ein Blick auf die Homepage des Landtags zeigt, dass die Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen eher verhalten ist. Auch auf Bundesebene waren Stellungnahmen von einem Ministerium von einzelnen Vorschlägen schon länger – aber in Einzelfällen – zugelassen. Zum sog. Sicherheitspaket (Vorschläge des BMI und BMJ) sind im Rahmen der Begutachtungsfrist 9.000 Stellungnahmen eingegangen – auch von vielen Privatpersonen.18 Im September 2017 hat der Nationalrat nun ein sog. erweitertes Begutachtungsverfahren zugelassen. Nun können zu Gesetzesvorschlägen der Ministerien auch Stellen oder Personen Stellungnahmen abgeben, die nicht direkte Adressaten einer Einladung zur Begutachtung sind. Zudem gibt es die Möglichkeit, bereits eingelangte Stellungnahmen auf der Website des Parlaments zu unterstützen. Die Erweiterung der Abgabe von Stellungnahmen ist durchaus sinnvoll. Sinnvoll ist es auch, die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht auf den Zeitraum vor dem Einbringen des Gesetzesentwurfs in das Parlament zu beschränken, denn der demokratische Prozess endet nicht mit dem Einbringen der Initiative. Gerade wenn die Angelegenheit im Parlament debattiert wird (und in die „heiße Phase“ kommt), sollte die Möglichkeit bestehen, sich einbringen zu können. Viertens: Schließlich sollte mit neuen Formen der Entscheidungsfindung mehr experimentiert werden. Das gilt z.B. für Formen e-democracy, also der Stimmabgabe mittels Computer. Sicher hat e-democracy verfassungsrechtliche Grenzen wie der VfGH zu elektronischen Wahlen (ÖH-Wahlen) ausgeführt hat. Denn es muss sichergestellt sein, dass Manipulationen – Programmierfehler in der Software oder zielgerichtete Wahlfälschung durch Manipulation – ausgeschlossen sind, zugleich aber auch – für die Wahlbehörde wie für jede Bürgerin und jeden Bürger – erkennbar sind.19 Die Integrität des Wahlvorgangs ist für eine Demokratie von zentraler Bedeutung – der VfGH spricht plakativ vom Grundsatz der „Reinheit der Wahl“. Daher scheint der Verfassungsgesetzgeber gut beraten, dieses Instrument nur vorsichtig einzusetzen. Mit der gegenwärtigen Verfassungsordnung nicht vereinbar sind Formen der sog. Liquid Democracy, also einer Mischform von direkter und repräsentativer Demokratie. Der Betreffende soll bei jeder Materie entscheiden können, ob er selbst an der Ent68

Das Demokratieprinzip

scheidungsfindung mitwirkt oder ein Vertreter. Außerdem soll er dem Vertreter jederzeit seine Unterstützung wieder entziehen können. Auf elektronischem Wege soll eine entsprechende Kommunikation bewerkstelligt werden. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, was auch deshalb schwierig ist, weil es verschiedene Formen der Liquid Democracy gibt, wäre dieses Mischkonstrukt mit der geltenden Verfassungsordnung nicht vereinbar.20 Zum einen verletzt das jederzeitige Entziehen einer Vertretungsbefugnis den Grundsatz des freien Mandats (Art. 56 B-VG), zum anderen gelten die vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der elektronischen Demokratie auch hier. Vor allem aber widerspricht sie der Prävalenz der repräsentativen Demokratie wie sie der VfGH als Baugesetz erkannt hat.

Resümee Demokratie bedeutet im verfassungsrechtlichen Sinn in erster Linie repräsentative Demokratie. Jedoch erlaubt die Verfassung viele Formen der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, vor allem dann, wenn noch nicht entschieden wird, die Willensbildung also noch nicht abgeschlossen ist. Abschließend seien zwei Grundvoraussetzungen angeführt, die für eine funktionierende Demokratie bestehen müssen: Erstens, die Bereitschaft jedes Einzelnen, sich zu engagieren. Eine Demokratie braucht Demokraten (Holzinger)21 – und es ist anzufügen: aktive Demokraten. Damit ist gemeint, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, sich in den öffentlichen Diskurs einzubringen und bereit zu sein, Aufgaben für die Allgemeinheit wahrzunehmen. Es kommt nicht so sehr darauf an, sich für ein politisches Spitzenamt bereit zu erklären, sondern zunächst einmal sich über politische Angelegenheiten zu informieren, interessiert zu sein und am öffentlichen Leben teilzuhaben. Es bedeutet, sich auf lokaler Ebene einzubringen und die Leistungen, die andere für das Gemeinwohl erbringen, wertzuschätzen. Zweitens, die Bereitschaft jedes Einzelnen, den demokratischen Prozess als einen Meinungsbildungsprozess zu begreifen, d.h. den Positionen anderer zugänglich zu sein und bereit zu sein, im Fall der besseren Argumente seine Position aufzugeben oder abzuändern. Und das muss jeder auch anderen, insbesondere den Volksvertretern, zugestehen. Denn Demokratie bedeutet auch, kompromissfähig zu sein. Das ist eine Frage der Demokratiekultur. Es ist der Zweck eines demokratischen Staates, seinen Bürgerinnen und Bürger Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Wohlstand zu ermöglichen. Damit der demokratische Staat seinen Zweck erfüllen kann, braucht er seine Bürgerinnen und Bürger. Demokratie ist keine Leistung, die der Staat seinen Bürgern und seinen Bürgerinnen gewährt (wie Sozialversicherung oder kostenfreie Bildung), sondern eine Verpflichtung der Bürger und Bürgerinnen gegenüber ihrem Gemeinwesen, ihrem Staat. Stefan Storr

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Auszug aus dem gleichnamigen Vortrag, gehalten am 16. Oktober 2017 bei der „Montagsakademie“ der Universität Graz; http://gams.uni-graz.at/podcasts/2018/34/o-pug-montagsakademie2017-1016-storr.mp4. 1 Parlamentskorrespondenz Nr. 62 vom 31.01.2014. 2 791 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXV. GP, Bericht der parlamentarischen Enquete-Kommission betreffend Stärkung der Demokratie in Österreich. 3 Parlamentskorrespondenz Nr. 580 vom 16.05.2017. 4 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 18 f. 5 Heinisch/Hauser, Österreich und die Zukunft der Demokratie, in: Öhlinger/Poier (Hg.) Direkte Demokratie und Parlamentarismus (2015) 13 (19). 6 § 7 Abs. 1 VolksbegG 1973. 7 § 5 Abs. 2 VolksbegG 1973. 8 § 11 Abs. 1 VolksbegG 2017. 9 Gamper, Was heißt „mehr direkte Demokratie“? Versuch einer Sichtung, in: Öhlinger/Poier (Hg.) Direkte Demokratie und Parlamentarismus (2015) 183 (194). 10 Strittig, vgl. Merli, in: Korinek/Holoubek, B-VG, Art. 41/2 Rdn. 10 und 57. 11 Näher Storr, Die Maßgaben der österreichischen Bundesverfassung für sachunmittelbare Demokratie in Bund und Ländern, in: Neumann/Renger (Hg.), Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2008/2009 (2010) S. 96 ff. 12 VfSlg. 16241/2001; Öhlinger, Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie, in: Öhlinger/ Poier (Hg.) Direkte Demokratie und Parlamentarismus (2015) 289 (293). 13 VfSlg. 17264/2004. 14 Heinisch/Hauser, Österreich und die Zukunft der Demokratie, in: Öhlinger/Poier (Hg.) Direkte Demokratie und Parlamentarismus (2015) 13 (19). 15 Vgl. dazu vor der Wahl: Kleine Zeitung vom 14.8.2017, S. 5: Vorschlag von Präsident des Gemeindeverbandes Alfred Riedl. 16 https://www.parlament.gv.at/PERK/NRBRBV/NR/PARLENQU/PEKDEMO/. 17 791 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXV. GP, Bericht der parlamentarischen Enquete-Kommission betreffend Stärkung der Demokratie in Österreich. 18 Kleine Zeitung vom 1.9.2017, S. 6. 19 VfSlg. 19592/2011. 20 Zur deutschen Rechtslage: Seckelmann, Wohin schwimmt die Demokratie?, DÖV 2014, 1 ff. 21 Holzinger, Gedanken zur Demokratiereform, in: Öhlinger/Poier (Hg.) Direkte Demokratie und Parlamentarismus (2015) 179 (181).

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Das Demokratieprinzip

KARL A. KUBINZKY*

300 Jahre Freimaurerei: einige Fragen und Antworten

„Der freimaurerische Gedanke ist uralt“, heißt es in einem der vielen einschlägigen Rituale. Bezieht man diese Aussage allgemein auf ritualisierte Männerbünde, so stimmt dies sicher. Die Freimaurerei mit ihren speziellen Idealen, Regeln und Ritualen hat inhaltliche Wurzeln in ähnlichen Organisationen, die viel älter sind als eine Großloge von London (1813: United Grand Lodge of England), deren 300-jähriger Bestand im Juni 2017 weltweit gefeiert wurde. Zur Traditions- und Inhaltsfindung bedarf es keiner Herleitung freimaurerischer Wurzeln durch Entlehnungen aus historischen Renommierbünden wie durch die Templer und Illuminaten, und schon gar nicht skurriler Verschwörungstheorien. Letztere haben noch immer Konjunktur. Abgesehen von ihrer historischen Fehlerhaftigkeit drängt sich zu ihrer Beurteilung die Frage auf, ob gar völlige Unwissenheit gepaart mit verleumderischen Unterstellungen oder nur simple Freude an Phantasiespielen dahinterstecken. Also insgesamt eine Mischung von Dan Browns Krimi-Konzept mit üblen Ideen à la „Die Protokolle der Weisen von Zion“.

Von der Zunftordnung zum Weltenbund „Bünde“, so der sozialwissenschaftliche Terminus, gab es vermutlich schon immer und wohl auch so gut wie überall. Die Freimaurerei im heutigen Sinn hat ihre Wurzeln in England und Schottland. Ein Wettlauf um die Priorität zwischen diesen beiden hat sicher auch zur demonstrativen Hervorhebung des englischen Teils geführt und so auch zu den Feiern des Jahres 2017. Folgt man historisch belegbaren Spuren und der diesem Bund eigenen Geschichtsdarstellung, dann wandelten sich Dombauhütten mit Spezialisten für das Entwerfen und Ausführen von Steinmetzarbeiten zu Männer- und aufklärerischen Mysterienbünden, deren Mitglieder nichts mehr mit dem einst sehr symbolträchtigen Baugewerbe zu tun hatten. Nur ein Teil der Symbole und Rituale erinnerte ab dem 16. und

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Der Autor des Textes ist Freimaurer, spricht hier aber ausschließlich im eigenen Namen und nicht im Namen und Auftrag der Großloge von Österreich. Karl A. Kubinzky

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17. Jahrhundert noch an die ursprüngliche Bauhüttentradition. In jener zeituntypischen Mischung von offensichtlichen Gegensätzen (Aufklärung und Mysterium) scheint ein großer Teil der ungebrochenen Anziehungskraft der Freimaurerei auch noch in der Gegenwart zu liegen. Was kam und ging wiederum nicht alles in jenen 300 Jahren auf der großen Weltenbühne? Die Freimaurerei hat trotz aller Phasen der Ablehnung bis hin zur Verfolgung den weiten Weg vom Spätbarock ins 21. Jahrhundert in ihren Grundsätzen unbeschädigt überstanden.

300 Jahre, viel älter oder etwas jünger Im Juni 2017 feierte die United Grand Lodge of England ihr 300-jähriges Bestehen. So ganz exakt ist das nicht. Konkret sollen zum Johannistag 1717 vier Logenclubs freimaurerischen Charakters in London feierlich in eine organisatorische Verbindung getreten sein. Das wird als die Gründung der ersten Großloge, wohl einer von London, interpretiert. Womöglich fand dieses Ereignis aber erst wenige Jahre später statt. Die United Grand Lodge of England (gegründet erst 1813) leitet aus dieser Pionierkonstruktion einen formalen Leitungsanspruch für jenen Teil der weltweit verbreiteten Freimaurerei ab, die ihrer eigenen Definition nach als „regulär“ definiert wird. Die leicht verwirrende Gründungsgeschichte jener ersten und nun gefeierten Großloge von London ist in einer kritischen Dokumentation nachzulesen (Ammen, Bettag, Snoek: Wurzeln der Freimaurerei, Flensburg 2016). In fast 300 nationalen Großlogen gibt es nun rund 30.000 Logen. Die hohe Zahl an nationalen Großlogen erklärt sich aus Sonderkonstruktionen, so hat beispielsweise in den USA jeder Bundesstaat eine eigene Großloge. Auch wenn in einzelnen Staaten die Zahl der Freimaurer in den letzten beiden Generationen, besonders in den USA, stark abgenommen hat, gehören mehrere Millionen Männer diesem Bund an. In Österreich ist die Mitgliedszahl seit der Wiederaktivierung nach der Verbotszeit durch den Nationalsozialismus stets steigend. All das betrifft jenen Teil der Freimaurerei, der von der englischen Großloge als regulär anerkannt wird. Die Begriffe Freimaurer, Loge und Großloge/ Großorient sind weder exakt zu definieren noch irgendwie rechtlich geschützt. Es gibt viele auf ähnlicher Grundlage aktive Großlogen, die sich nicht der englischen Anerkennung erfreuen. Ursache für die Nichtanerkennung können u.a. sein, dass Frauen Mitglieder sind, dass nicht ein „großer Baumeister aller Welten“ als eine höhere, bewusst unscharf definierte höhere Macht anerkannt wird und dass in der Regel in jedem Staat nur eine Großloge anerkannt wird. Auch muss die Bibel (Beginn des Johannes-Evangeliums) oder ein vergleichbares heiliges Buch als Symbol höherer Macht und Ordnung in der Loge aufliegen. Eine öffentliche Parteinahme im Sinne von politischen oder eine konfliktgeladene interne Diskussion von Inhalten von Religionen und Parteiprogrammen sind nicht gewünscht. Nicht alle freimaurerischen Organisationen haben sich daran gehalten. So entstand ein Schisma zu einigen Großlogen im frankofonen Raum (1877, 1913). 72

300 Jahre Freimaurerei: einige Fragen und Antworten

Zahlenmäßig viel kleiner, wohl aber auch Frauen offen, existieren in Österreich ein halbes Dutzend andere maurerische Systeme.

Im Juni 2017 feierten die Freimaurer der Großloge von Österreich das 300-Jahr-Jubiläum in der Wiener Hofburg (Foto: Großloge von Österreich)

Ein soziales Netzwerk als Grundform

Die Grundidee, dass Männer – an Frauen dachte man vor 300 Jahren dabei prinzipiell wohl nicht – sich in einer Art Club zusammenfinden und dort über nationale, religiöse, soziale, politische und andere Grenzen hinweg gemeinsam soziale Kontakte pflegen, ist eines der erfolgreichen Geheimnisse dieses Bundes. Es soll ein Kontakt im sozial brüderlichen Sinn entstehen. Diskurs ohne Konflikt ist gewünscht und ist möglich. Allein dadurch ist die Welt der Freimaurerei in Österreich bunt und, sieht man von gemeinsamen Grundüberlegungen (Stichwort Toleranz und Humanität) ab, hin und wieder auch widersprüchlich. Ein Freimaurer soll in erster Linie an sich selbst arbeiten. Ein Ritual typisch freimaurerischer Art und der Auftrag, was interne Zusammenhänge betrifft, verschwiegen zu sein, schafft die Gemeinsamkeit in der Art von Engbünden. Zusammengefasst ist es der Versuch, aus „ethisch guten Menschen noch bessere“ zu machen. Das wird nicht immer erreicht, es wäre auch ein zu hoch gesteckter Auftrag.

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Ohne ein nennenswertes Ritual gibt es seit dem frühen 20. Jahrhundert Männerbünde, die ebenfalls im Gegensatz zu nun modisch-elektronischen Netzwerken auf direkte Kommunikation bauen. Es sind beispielsweise Rotary (USA, 1905), Kiwanis (USA 1915), Lions (USA, 1917) und Round Table (GB, 1927). Trotz aller Unterschiede, aber auch wegen vieler Gemeinsamkeiten, gehören Studentenverbindungen – in Graz gibt es rund 50 – zu den klassischen Beispielen männerbündischer Organisationen. Erst in letzter Zeit sind Frauen in solchen „Bünden“ aktiv und in Führungspositionen. Die überaus freundliche Rezeption des 300-Jahr-Jubiläums durch die Medien Österreichs spiegelte hier eine weitgehende Anerkennung der Freimaurerei wider. Dazu hat eine wohlüberlegte Pressearbeit der Großloge von Österreich, vertreten durch ihren Großmeister Georg Semler, wesentlich beigetragen. Eine erfolgreiche Ausstellung samt Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek bot interessante Dokumente der Freimaurerei in den Prunkräumen der Wiener Hofburg für Laien und Wissende. Es war dies die dritte große Freimaurer-Ausstellung in Wien. 1984 und 1993 gab es im Museum der Stadt Wien schon solche Ausstellungen. Im Schloss Rosenau nahe Zwettl ist eine ständige Schau freimaurerischen Inhalts laufend zu sehen. Die rund 80 Logen der Großloge von Österreich mit ihren 3.500 Mitgliedern bilden keine Religion, stellen keinen Religionsersatz dar und sind auch keine antireligiöse Vereinigung. In Graz gibt es fünf Logen der Großloge von Österreich und zwei eines anderen maurerischen Systems, letztere mit einem hohen Anteil von Frauen. Auch wenn sich das Verhältnis zwischen Freimaurerei und katholischer Kirche deutlich entspannt hat, gibt es doch von Seiten der Kirche Vorbehalte. Folgt man der innerkirchlichen Argumentation, so sind extrem unterschiedliche Ergebnisse (Ablehnung oder Akzeptanz) feststellbar. Es gibt übrigens viele andere Organisationen, über deren theologische Linientreuheit sich die katholische Kirche keine Gedanken macht. Ein Abt von Heiligenkreuz formulierte vor wenigen Jahren eine grundsätzlich nicht widerlegbare Aussage: „Wenn die Freimaurer nichts gegen die Kirche haben, so hat die Kirche nichts gegen die Freimaurer.“ Dies trifft zumindest für Österreich in der Gegenwart zu. Es sind im Rahmen der Großloge von Österreich vermutlich alle Parteien und viele Religionen vertreten. Die Großloge enthält sich politischer oder religiöser Stellungnahmen. Überhaupt hält sich die Freimaurerei, zumindest in Österreich, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit extrem zurück. Wer sie kritisch beurteilt, sieht darin eine Bestätigung seiner negativen Beurteilung. Logen sind, um mit dem Historiker Dieter Binder zu argumentieren, „diskrete Gesellschaften“. Sie sind keine „Geheimbünde“. Wer sich wirklich informieren will, findet genug solide Literatur und Internetinformationen dazu. Allerdings sind, so wie bei vielen Organisationen, Religionen und Parteien, die Mitgliedslisten nicht öffentlich einsehbar, eben diskret. Auch die Rituale werden nicht öffentlich bekannt gemacht. Fremde müssen sie, beispielsweise im Internet, suchen. Mit dem dafür notwendigen Aufwand lässt sich in den (elektronischen)

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300 Jahre Freimaurerei: einige Fragen und Antworten

Medien alles Wissenswerte finden. Das aktive Erleben in den Logen ist aber nicht mit Studium von außen zu vergleichen. Der so für die Mitglieder geschützte Raum der Identifikation und Freundschaft erzeugt das besondere Klima, das Freimaurerei nach wie vor attraktiv sein lässt. Das Jubiläum 1717–2017 gibt Anlass, die Freimaurerei in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kritisch zu betrachten. Dies ist nun in internen Publikationen und durch eine positive Würdigung durch die Medien geschehen. Wer mitreden will, der sollte sich beispielsweise bei den Autoren Alexander Giese, Helmut Reinhalter, Michael Kraus (Hg.) und dem Nichtfreimaurer Dieter Binder informieren. Die attraktive Mischung eines „aufklärerischen Mysterienbunds“ ist zwar eine große und nicht einfach lebbare inhaltliche Herausforderung, hat aber sichtlich eine interessante persönlichkeitsbildende Wirkung, die trotz aller inhaltlicher Umbrüche über 300 Jahre ansprechend ist. 2018 gibt es schon wieder ein einschlägiges Jubiläum zu feiern. Diesmal ist es ein österreichisches Epochenjahr. Bis 1918 war die Freimaurerei seit Jahrzehnten im österreichischen Teil Österreich-Ungarns verboten, aber im ungarischen erlaubt. Daher arbeiteten 14 „Grenzlogen“ österreichischer Brüder im ungarischen Grenzraum. Die neue politische Konstellation durch den Zerfall der Doppelmonarchie führte dann zur Gründung der Großloge von Wien (später: Großloge von Wien für Österreich, 1955: Großloge von Österreich). Am 8. Dezember 1918 kam es in Wien, im Haus Dorotheergasse 14, zur feierlichen Gründung. 23 sozial engagierte Vereinigungen bestanden in der Folge parallel dazu. Knapp 20 Jahre später endete, zumindest offiziell, wieder einmal in Österreich die Freiheit für freimaurerische Aktivitäten. Die Zeitspanne von 1945 bis heute ist die längste des Nichtverbots in Österreich.

Karl A. Kubinzky

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ALEXANDRA DORFER

Gekommen, um … weiterzuziehen? Zur internationalen Mobilität von Hochqualifizierten

Flüchtlingskrise, Schengengrenze, Drittländer. Fachkräftemangel, Numerus-claususFlüchtlinge, Wirtschaftsstandort Österreich. Migration und internationale Wettbewerbsfähigkeit: zwei Themen, denen in den vergangenen Jahren vermehrt mediale Bedeutung zugekommen ist. Unbestritten ist jeder dieser Themenkomplexe von hoher politischer und gesellschaftlicher Relevanz. Auf den ersten Blick scheinen sie nur bedingt etwas miteinander zu tun zu haben; tatsächlich ist es jedoch genau diese Schnittmenge der beiden Themenbereiche, die den EntscheidungsträgerInnen dieses Landes zu denken gibt.

Migration in Europa Doch was genau ist es, dass an dieser Themenmischung so brisant ist? Historisch betrachtet sind Wanderungen und Migrationsbewegungen doch seit Anbeginn der Menschheit fixer Bestandteil des menschlichen Lebens und dessen Kulturgeschichte. Europa wurde immer schon von Wanderbewegungen beeinflusst und geformt, wie auch ein Blick in die nähere Vergangenheit zeigt: Regionen in Übersee waren bis in die 1930er Jahre bevorzugte Zieldestinationen auswandernder EuropäerInnen. Im Zuge der beiden Weltkriege prägten zunächst Massenwanderungen und Vertreibungen das migrationspolitische Geschehen, in der Nachkriegszeit kam dem Phänomen der GastarbeiterInnen eine wichtige Rolle zu. Zu dieser Zeit wurden zum ersten Mal migrations- und wirtschaftspolitische Überlegungen systematisch aneinandergekoppelt und länderübergreifende Wanderungsströme zielgerichtet zur Befriedigung nationaler arbeitsmarktbezogener Nachfragen eingesetzt. Die aktuellen migrationspolitischen Debatten können vor dem Hintergrund der Supranationalisierung durch die EU, der Auswirkungen der Globalisierung und des weltpolitischen Geschehens verortet werden. Migration ist also auch im Jahr 2017 nach wie vor ein für Europa und Österreich hochrelevantes Thema. In Verbindung mit strategisch-wirtschaftspolitischen Überlegungen kommt einer spezifischen Form der Migration besondere Bedeutung zu: der internationalen Migration von Hochqualifizierten und deren Folgen in Form von Brain Drain, Brain Alexandra Dorfer

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Gain und Brain Circulation. Vereinfacht ausgedrückt versteht man unter Brain Drain den Verlust von Humankapital, den ein Land erleidet, wenn gut ausgebildete Personen auswandern. Brain Gain auf der anderen Seite meint den Gewinn, der sich für ein Land ergibt, wenn sich hochqualifizierte ImmigrantInnen dort niederlassen. Unter Brain Circulation versteht man den Prozess der wechselseitigen Kommunikation und Verflechtung, bei dem ausgewanderte Personen mit KollegInnen im Ursprungsland in Verbindung bleiben. Eine Win-Win-Situation ergibt sich dann, wenn durch diesen Austausch fruchtbare Ideen und Innovationen für Herkunfts- und Zielland entstehen und somit beide Länder von der grenzüberschreitenden Wanderung profitieren.

Internationale Mobilität von Hochqualifizierten Die internationale Migration von Hochqualifizierten stellt ein spezifisches Segment dar, welches anderen Rahmenbedingungen unterliegt als die großen Wanderbewegungen der Flucht und des Asyls, die heute oftmals im Vordergrund der medialen Berichterstattung stehen. Die freiwilligen Wanderungen von Personen, die einer positiven Selektion hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten und/oder ihres (Aus-)Bildungsstandes unterliegen, können mit den Begriffen der Karriere- oder Elitenmobilität umschrieben werden und machen unter allen weltweiten Migrationsvorgänge nur einen kleinen Teil aus. So zeigen Daten der OECD, dass nur 6  % aller weltweiten ImmigrantInnen über einen tertiären Abschluss verfügen (Boeri et al. 2012:49). Volkswirtschaftlich betrachtet kann dieser zahlenmäßig kleine Anteil jedoch durchaus relevante Auswirkungen haben. Die OECD (2017:287) hält fest, dass der Beitrag internationaler MigrantInnen zum ökonomischen Wohlstand eines Landes, zu seiner Wettbewerbsfähigkeit und seinem Innovationssystem überproportional groß ist. So lässt sich beispielsweise nachzeichnen, dass die wissenschaftliche und wirtschaftliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten, „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ und Zieldestination vieler Hochqualifizierter, zu einem großen Teil auf Brain Gain und dem strategischen Umgang mit diesem Thema fußt (Dorfer 2017:107 ff.).

We want YOU! Die USA sind immer sehr pragmatisch mit dem Thema der Migration umgegangen, MigrantInnen mit speziellen Fähigkeiten wurden zielgerichtet nachgefragt und bereitwillig aufgenommen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten einwanderungswillige Personen bestimmte qualifikatorische Anforderungen erfüllen (z.B. Beherrschung der englischen Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit). Im Zuge des Kalten Krieges intensivierten die USA ihre Bemühungen, das nationale Innovationssystem zu stärken, um im Wettstreit mit der Sowjetunion bestehen zu können. Einerseits wurden einheimische Ta78

Gekommen, um ... weiterzuziehen?

lente systematisch gesichtet, andererseits hochqualifizierte Arbeitskräfte, WissenschafterInnen und ForscherInnen aus Europa mit dem Ziel angeworben, sie permanent in den Vereinigten Staaten zu verwurzeln. Mit dem Immigration and Nationality Act (1952) wurde eine bevorzugte Umwandlung von befristeten Aufenthaltsgenehmigungen in unbefristete Visa für bestimmte, privilegierte Berufsgruppen möglich. Im Rahmen des Immigration Act von 1990 wurde die Visumskategorie H-1B für besonders Hochqualifizierte eingeführt; sie stellt das Hauptinstrument zur Aufnahme von qualifiziertem Humankapital dar. Dieser Visumstyp ist einer der wenigen, welcher es den Bezugsberechtigten erlaubt, während der Visumslaufzeit um ein permanentes Visum anzusuchen. Die Länder der Europäischen Union hingegen waren bisher eher widerwillig, was die Öffnung ihrer Grenzen anbelangt. Erst in den letzten Jahren, seitdem sich qualifikatorische Engpässe auf den nationalen Arbeitsmärkten auftun, entstanden Initiativen wie z.B. die Blue Card der EU (2009) oder die Rot-Weiß-Rot-Karte Österreichs (2011), deren Kriteriensysteme unter anderem speziell auf nachgefragte Fachkräfte und Hochqualifizierte abzielen. Im Vergleich zur Green Card werden die europäischen Varianten jedoch deutlich weniger nachgefragt. Ursprünglich rechnete man in Österreich mit der Ausstellung von jährlich 8.000 Rot-Weiß-Rot-Karten, tatsächlich gab es in den letzten Jahren nur zwischen 1.200 und 2.000 Ansuchen. Aus diesem Grund wurden die Anspruchsbestimmungen der Karte adaptiert: Mit 1. Oktober 2017 traten Änderungen in Kraft, durch welche die Rot-Weiß-Rot-Karte der Lebensrealität von Drittstaatenangehörigen besser entsprechen und attraktiver werden soll. Auch die Blue Card soll überarbeitet werden, die Europäische Kommission rechnet jährlich mit bis zu 137.000 zusätzlichen hochqualifizierten Arbeitskräften und einem positiven wirtschaftlichen Effekt von bis zu 6,2 Milliarden Euro. In die Eurobeträge eingerechnet sind auch mittelbare Auswirkungen wie die Vergrößerung des Pools an hochqualifiziertem Humankapital, höhere Verbleiberaten von Studierenden nach Studienabschluss, die Verringerung der Rekrutierungskosten für kleine und mittelgroße Unternehmen oder die Erhöhung des Potenzials von Forschung und Entwicklung (Europäische Kommission 2016b:10).

Österreich als akademischer Durchlauferhitzer? Innerhalb der Gruppe der hochqualifizierten MigrantInnen kommt den international mobilen Studierenden eine besondere Rolle zu. Die Studierendenmobilität hat sich seit den 1970er Jahren mehr als verfünffacht. 2015 waren 5,9 % (3,296 Mio.) aller tertiär Inskribierten in den OECD-Ländern ausländische Studierende, der Anteil international mobiler JungforscherInnen auf Doktorats-/PhD-Niveau liegt mit 25,7 % nochmals deutlich höher (OECD 2017:300). Kurzfristig betrachtet unterstützen internationale Studierende mit der Bezahlung von Studiengebühren und ihren Ausgaben des täglichen Lebens die lokale Wirtschaft. Für die USA beliefen sich die Zahlen im Jahr 2015 auf mehr als 35 Milliarden Alexandra Dorfer

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US-Dollar, die der amerikanischen Wirtschaft durch internationale Studierende zugeführt wurden (IIE 2016). Gelingt es, die internationalen Studierenden auch nach ihrem Abschluss längerfristig im Land zu halten, tragen sie in hohem Maße zu Wissensgenerierung, Innovation und Wirtschaftsleistung bei. Im internationalen Vergleich sind Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA besonders attraktiv für ausländische Studierende, fast die Hälfte aller international mobilen Inskribierten studiert in einem dieser vier Länder. Obwohl Österreich hier in absoluten Zahlen nicht mithalten kann, liegt es aufgrund seines offenen Hochschulzugangs im relativen Ranking weit vorne. Insgesamt sind 15,9 % aller Studierenden AusländerInnen; nur in Neuseeland (21,1 %), Großbritannien (18,5 %) und der Schweiz (17,2 %) sind die Anteile der internationalen Studierenden höher (OECD 2017:300). Laut aktuellsten Daten des Wintersemesters 2015/16 sind knapp 74.000 ausländische Studierende an österreichischen Universitäten eingeschrieben. Deutsche Studierende stellen mit rund 37 % die größte Gruppe, gefolgt von vorwiegend aus Südtirol stammenden ItalienerInnen (11 %) und Studierenden aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens (8 %) (Statistik Austria 2017:49). Laut offiziellen Statistiken verlässt mehr als ein Viertel aller ausländischen Studierenden innerhalb von drei Jahren nach dem Abschluss Österreich. Bei den ausländischen AbsolventInnen eines Doktorats-/PhD-Studiums sind es sogar über 40 %. Fassmann/Shovakar (2015:12) sprechen in diesem Zusammenhang von österreichischen Universitäten als „qualifikatorischen Durchlauferhitzern“.

Der Silberstreif am Horizont … So durchwachsen sich die Situation für Österreich auch darstellt, es gibt auch positive Nachrichten bzw. Ansatzpunkte für mögliche Handlungsoptionen. Einigen Ländern ist es etwa gelungen, den in der Vergangenheit vorherrschenden Brain Drain in Brain Circulation und Brain Gain zu verwandeln. Galten asiatische Länder ehemals als Exporteure von (hoch)qualifiziertem Humankapital, hat sich die Richtung des „talent flow“ in der letzten Zeit geändert. Immer mehr Hochqualifizierte kehren nach längeren Auslandsaufhalten nach Asien zurück und bringen wertvolle Erfahrung, Wissen, Fähigkeiten, Expertise sowie Netzwerke mit. Doch nicht nur asiatische RückkehrerInnen, auch internationale, zumeist in der Wirtschaft tätige Hochqualifizierte ziehen den asiatischen Raum zunehmend für (zumindest temporäre) Aufenthalte zur Steigerung ihrer Karrieremöglichkeiten in Betracht. Es kann sich daher für Österreich lohnen, die asiatische Situation genauer zu analysieren, daraus zu lernen sowie Maßnahmen entsprechend den in Europa geltenden Rahmenbedingungen abzuleiten und zu implementieren. Hohe Gehälter, steuerliche Anreize und gute Lebensbedingungen sind unbestritten relevante Faktoren im Wettbewerb um die besten Köpfe. Dennoch haben auch „weiche“ Faktoren einen gewichtigen Einfluss auf die Entscheidung zur Migration. Eine Befragung 80

Gekommen, um ... weiterzuziehen?

internationaler Hochqualifizierter mit Österreichbezug ergab, dass den mobilen ForscherInnen und Expatriates Transparenz, Leistungsgerechtigkeit und Meritokratie besonders wichtig sind. Auch zeigte sich, dass der Stellenwert von sozialen Faktoren mit zunehmender Verweildauer im Zielland immer größer wird. Basierend auf diesen Erkenntnissen können zielgerichtete Maßnahmen vorangetrieben werden, die von der Nutzung der Expertise der im Ausland lebenden Hochqualifizierten über transparente Regelungen für Nostrifizierungen, die Klärung sozialrechtlicher Rahmenbedingungen bis hin zu Maßnahmen zur Förderung der Integration und Partizipation reichen (Dorfer 2017:264ff.). Unbestritten gibt es für Österreich noch viel zu tun, der Weg ist ein durchaus steiniger. Aber: Wo ein Wille, da auch ein Weg. Ob es Österreich gelingt, die richtige Richtung einzuschlagen, wird die Zukunft zeigen.

Quellen: Boeri, Tito/Brücker, Herbert/Docquier, Frédéric/Rapoport, Hillel (Hg., 2012): Brain drain and brain gain. The global competition to attract high-skilled migrants. Oxford u.a.: Oxford University Press. Dorfer, Alexandra (2017): Internationale Mobilität und Migration von Hochqualifizierten. Eine empirische Studie zu Brain Drain, Brain Gain und Brain Circulation in Wissenschaft und Wirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Österreich. Dissertation. Graz. Europäische Kommission (2016): Proposal for a directive of the European Parliament and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of highly skilled employment, URL: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/ files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-package/ docs/20160607/directive_conditions_entry_residence_third-country_nationals_highly_skilled_ employment_en.pdf (05.02.2017). Fassmann, Heinz/Shovakar, Nadine (2015): Internationalisierungspanorama I/2015. Uniko. Wien. IIE (2016): Open doors 2016. Institute of International Education, URL: https://www.iie.org/Why-IIE/Announcements/2016-11-14-Open-Doors-Executive-Summary (01.10.2017). OECD (2017): Education at a glance 2017. OECD indicators. Paris: OECD Publishing. Statistik Austria (2017): Migration und Integration. Zahlen. Daten. Indikatoren 2017. Wien.

Alexandra Dorfer

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HELMUT KUZMICS

Und keiner sieht das Krokodil

Es ist schon etliche Jahrzehnte her, dass der Besuch eines Kasperltheaters zu den höchsten Genüssen eines – jedenfalls meines – Kinderlebens gehörte. Was für ein Drama, was für eine Spannung, wenn der Kasperl im hell erleuchteten Kasperlbühnengeviert seinen gefahrvollen Auftritt hatte. Da war zwar ein Helfer – der gemütliche und freundliche, schwarze Ali –, aber ob das reichte? Offenkundig nicht. Von der Seite pirschte sich ein langmäuliges, vielzähniges, grünes Monster heran, um Kasperl zu verschlingen. Das Krokodil! Und Kasperl sieht es nicht! Warum sieht er es nicht? Wir Kinder gerieten in Panik. „Das Krokodil! Das Krokodil!“, schrien wir in höchsten, kreischenden Tönen. Wir wollten den Kasperl aufwecken, aber der hörte auch uns nicht! Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte zu ihrem guten Ende kam (irgendwie muss der Kasperl ja überlebt haben, immerhin gab es nächstes Jahr wieder eine Vorstellung). Aber diese Ignoranz, das offenkundige Übersehen im Moment der Gefahr, hat mich für immer beeindruckt. Ich bin diesem Phänomen auch später wieder begegnet. Da passiert etwas Seltsames, und die, die es sehen sollten, sehen es nicht. Oder sie hören es nicht. Allerdings schreien auch nicht mehr so viele „Das Krokodil!“. Ein schöner Fall war der typische ORF-Abendkrimi, vor heimischer Kulisse, z.B. in Wien spielend. Da mischte sich ins österreichische Ermittlerteam (manchmal auch unter die Zeugen oder die Verdächtigen) unauffällig ein Deutscher (kein Bayer), der so redete, wie es die Wenzel-Lüdecke-Synchronisation auch US-amerikanischen Filmhelden verordnete: eigentlich für jeden erkennbar anders als die Vokale umfärbenden und zerdehnenden, Verschlusslaute abfedernden und Diphthonge bewahrenden Einheimischen. Aber interessanterweise merkte das beim Ermittlerteam sonst niemand. Man machte sich nicht die Mühe, zu erklären, wie ein Kommissar aus Wuppertal oder Bochum österreichischer Beamter in Wien werden konnte; was kein Wunder war, denn es fiel ja auch gar niemandem auf. Das erinnert schon in gewisser Weise an den Kasperl und seine Negierung des Krokodils – wenn natürlich auch ein deutscher Kommissarkollege deutlich weniger Gefahr ausstrahlt. Es wird nicht wenige Leute geben, die hier überhaupt keine Gefahr entdecken können. Es geht nun nicht darum, an den Deutschen Anstoß zu nehmen; erstens haben sie ihren fairen Anteil an den Sensiblen und Sympathischen dieser Welt, und zweitens sind sie hinter der einheitssprachliHelmut Kuzmics

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chen Fassade des Fernsehdeutschen oft sprachlich erstaunlich heterogen. Und ich gestehe freimütig zu, dass es in den letzten 50 Jahren in Österreich eine ganze Menge an ignorierten Bedrohungen gab, die weit gravierendere Folgen gehabt haben mögen. Aber das genannte Fernsehkrimi-Beispiel hat dennoch eine gewisse Aussagekraft. Als ich kürzlich einmal unseren Hausberg hinabwanderte und eine kurze Zwischenrast einlegte, kam mit fröhlichem Stimmengewirr ein mittelgroßer Trupp deutscher Kinder an mir vorbei. Es war zweifellos so und ich wunderte mich ein wenig: Sie trieben eine erstaunlich elaborierte Form der sprachlichen Kommunikation, komplexer als die Berliner Ferienkinder auf der steirischen Sommeralm im Jahr 1962, denen ich (bald nach dem Mauerbau), im dortigen Bach plätschernd, freundlich begegnete. Aber ich täuschte mich: Irgendeine Kleinigkeit in der Aussprache (der erwachsenen Begleitpersonen?) machte mich stutzig und: Siehe da! Es waren einheimische Kinder, so um die zwölf bis vierzehn Jahre alt, die bloß eine verwirrende Form von sprachlicher Mimikry praktizierten. Dieses Erlebnis und andere, ähnliche haben nun mein Ohr für die Wahrnehmung der Sprache meiner Mitbürger geschärft. In Bus, Tram oder der Wiener U-Bahn, überall haben es jüngere Menschen ganz offenkundig weitgehend geschafft, „den Dialekt“ aus ihrer Sprechweise zu verbannen. Verblüffenderweise sprechen nun schon die städtischen Kindergartenkinder so, wie wir es aus deutschen Fernsehfilmen oder dem ORF-Kinderfunk kennen. Je kleiner die Kinder, desto norddeutscher wird ihr (herziger) Zungenschlag. Meistens beherrschen sie ihn sogar besser als ihre bemühten Eltern – im Einkaufswagen des Supermarkts sitzend strahlen sie frühe professorale Kompetenz aus. Man hat den Eindruck, die Eltern lernen das von ihren Kindern; langsam werden auch die etwas Älteren (bis zum Alter von etwa vierzig, dann stockt die Entwicklung und man begegnet wieder vertrauteren Klängen) in diesen Strudel hineingezogen. Und: Niemand merkt es, was hier eigentlich abläuft. Keiner warnt vor dem Krokodil, weder Kasperls Freunde noch das stumme Publikum. Was ist da eigentlich passiert? Was geschieht denn mit unserem österreichischen sprachlichen Erbe? Wieso will es niemand mehr? Warum vollzieht sich der Vorgang so unbemerkt? Nun, ganz unbemerkt ist er ja nicht. Es gibt schon eine gewisse Sorge um „das österreichische Deutsch“, aber sie beschränkt sich auf eher periphere Dinge wie das Vokabular von Küche und Haushalt – Paradeiser statt Tomaten, Marmelade statt Konfitüre, Polster statt Kissen werden zurückverlangt. Doch das alles ist vergleichsweise unwichtig, genauso wie andere nervende Sprachübernahmen: „die“ Cola, „die“ Zwei, „die“ Drei statt des herkömmlichen Zweiers oder Dreiers, oder gar das berüchtigte „lecker“. Das sensiblen Gemütern wie das Zischen einer preußischen Gewehrkugel klingende „Tschüss“ ist uns mittlerweile auch vertraut. Und natürlich schaffen nun Sportreporter, nach deutschem Vorbild, Ordinalzahlen ab („Vettel liegt auf der [Position] Drei“ statt „Vettel ist Dritter“). Zwar werden auch hier in vorauseilendem Gehorsam sprachliche Anpassungsleistungen erbracht, aber, wie gesagt, das ist doch alles recht nebensächlich. Was nicht 84

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nebensächlich ist, ist die Entwicklung vom Österreichisch-Bayerischen mit seiner ganzen Vielzahl von Varietäten vom Kärntnerischen bis zum Wienerischen hin zu einer neuen Alltagssprache, dem Fernsehdeutschen. Und das fällt tatsächlich kaum jemandem auf. Es geht die Sprache eines ganzen Volkes verloren; und: wurscht. Es gibt ja einige recht nette, beschönigende Redensarten, die den ganzen Vorgang in milchig-weißen Nebel hüllen. „Sprache wandelt sich schon seit jeher.“ Ja, schon, aber dass wir heute in Irland kaum mehr Gälisch-Sprecher haben, war das Ergebnis der furchtbaren Hungersnot um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wodurch gut die Hälfte der Iren entweder starb oder auswanderte; die Kinder des Rests wurden in englische Schulen gesteckt. Ohne Katastrophen gibt es einen eher beschaulichen Wandel, bei dem in jeder Generation nur ein sehr kleiner Prozentsatz ausgetauscht wird. Das Phänomen hegemonialer Sprachen ist natürlich sehr alt, hängt oft mit politisch-militärischer und ökonomischer Macht oder kulturellem Prestige zusammen und macht weder vor ganzen „Sprachen“ noch vor „Dialekten“ halt. Apropos Dialekt: Manche Dialekte unterscheiden sich von der Amtssprache oder anderen Dialekten mehr als ganze Hochsprachen voneinander. Als Sprachen „ohne Armee und Polizei“ wurden sie in der europäischen Nationalstaatenbildung oft von den jeweiligen Zentralen unterdrückt und abqualifiziert (das gilt etwa auch für das norddeutsche Platt), blieben aber meist als Zweitsprache des alltäglichen Umgangs, jenseits von offizieller und verschriftlichter Kommunikation, erhalten. Genau das war auch in Österreich seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts der Fall. Neben dem amtlichen, vom Gelehrten Gottsched kompilierten Schriftdeutsch („Ostmitteldeutsch“) lebte informell das Alte 250 Jahre weiter; doch jetzt scheint es ans Ende gelangt zu sein. In dieser Zeit haben sich etliche Varianten eines der Schriftsprache angenäherten österreichischen Deutsch (etwa der höheren Beamten oder der „hohen“ Schauspielkunst) herausgebildet, aber sie machten dem Dialekt nicht den Garaus und führten eher zu einer Praxis der Bilingualität. Ein anderes, eher emotional vorgebrachtes, aber die Entwicklung rationalisierendes Argument stammt aus der Abneigung „gebildeter“ Teile der Bevölkerung gegen den als minderwertig angesehenen, verachteten Sprechstil der städtischen Unterschichten. Fußballern hält man so die Verwechslung des dritten Falles mit dem vierten vor, ohne zu bedenken, dass das Englische genau dieselbe Grammatik hat: Auch dort heißt „him“ ihn oder ihm. Es ist nicht bekannt, dass deswegen englischsprachige Literatur unlesbar geworden wäre. Aber für junge Mittelschüler ist mittlerweile eine dialektgefärbte Umgangssprache „proll“; also proletenhaft. Aus dieser Warte sieht man natürlich das Krokodil nicht – man ist ja eigentlich das Krokodil. Ländliche Mundart wird als pittoresk noch einigermaßen geschätzt – aber das Wienerische nicht. In einem schleichenden, unbeabsichtigten und von keiner zentralen Instanz (außer dem Fernsehen) gesteuerten Wandlungsprozess nimmt offenbar jeder in Kauf, dass es ausstirbt. Schon jetzt ist es in Österreich schwer geworden, Nestroy so zu spielen, wie es der Autor wollte, da es nicht mehr viele Schauspieler gibt, die das Wienerische beherrschen. Nestroys Stücke spielen Helmut Kuzmics

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oft „zu ebener Erde“ und „im ersten Stock“ – Schriftdeutsch sprechen die einen, Dialekt die anderen, meist solche Figuren, mit denen Nestroy irgendwie sympathisierte. Was uns noch das Ausmaß des Sprachwandels unterschätzen lässt, ist das Faktum, dass schon seit längerem kleine Österreicher (und -rinnen) von den Eltern bewusst und mit gutem Grund auf das Schriftdeutsch der Schule hingetrimmt werden. Man kann die Elternangst gut verstehen, die dieses Training begleitet hat. Das Neue an der jetzigen Lage ist aber, dass die Kinder nun beim Schriftdeutsch bleiben, nicht nur in der Schule und später vor dem Amt oder in einem solchen. Sie werden einsprachig. Es ist nun schon mindestens die zweite Generation der Einsprachigen herangewachsen – solcher, die bereits monolinguale Eltern haben. Früher haben die Gleichaltrigen eine zumindest partielle Rückkehr zur Verwendung einer dialektgefärbten Umgangssprache herbeigeführt. Warum ist das jetzt anders? Nun, man kann nur spekulieren. Es handelt sich um eine recht deutliche Gegenbewegung zur Dialektwelle der 1960er und 1970er Jahre, in denen es zum Austropop kam und es auch im Parlament salonfähig geworden war, sich sprachlich wenig Zwang anzutun. War damals vieles im öffentlichen Raum und im Berufsleben „informeller“ geworden, so wird es nun wieder „formeller“. Die Konkurrenz um die besseren Plätze in der Gesellschaft ist größer geworden, die Beteiligung an höherer Bildung hat sich massiv ausgeweitet und ethnische Unterschichtung ist in mehreren Etappen, speziell in den letzten 25 Jahren, dazugekommen. Die Anspannung, nicht zu denen „da unten“ gehören zu wollen, ist gestiegen. „Schön sprechen“ zu lernen ist wesentlich leichter als gutes und richtiges Deutsch zu schreiben – wahrscheinlich hat das eine mit dem anderen so gut wie gar nichts zu tun. Aber das alles erklärt wohl noch immer nicht, warum die Kinder, oft sogar in offenem Widerspruch zu ihren Eltern, dann komplett aus den österreichischen Dialekten aussteigen (bzw. aus jenen österreichisch-bayerischer Provenienz; Alemannen, Slowenen, Kroaten und Ungarn sowie fremdsprachige Zuwanderer ausgenommen; für letztere gibt es eigene Hybridisierungsprozesse). Vielleicht ist eine Kombination zweier Kräfte am Werk, die sich wechselseitig verstärken: die explosionsartige Vermehrung des Schriftdeutschen durch Fernsehen und Internet und die Vereinzelung des Kindes gegenüber diesem Einfluss. Denn spontane Gleichaltrigengruppen können sich im heute durchadministrierten städtischen Raum gar nicht mehr bilden. Kinderzusammenführung erfolgt heute in aller Regel nur mehr durch die bemühten Eltern, wenn die Klavier-, Ballett- oder sonstige Stunde das überhaupt noch zulässt. Dazu kommt noch die wachsende Beteiligung an Kindergarten oder Schule von Kindern einer fremden Muttersprache. Es mag sein, dass diese neue Art von Durchmischung Lehrer und Schüler zu einem neuen Standarddeutsch nötigt. Beide letzteren Faktoren sind in ländlichen Umgebungen schwächer, weshalb es gut sein kann, dass hier das Steirische, Kärntnerische oder Salzburgische eine etwas stärkere Rückzugsstellung aufgebaut haben. 86

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Wenn ich vorhin gesagt habe, dass unsere Kinder dem Österreichischen entkommen können, ist auch das natürlich nur eine Teilwahrheit. Bis die gesamte Lautlichkeit einer Sprache sich an verschriftete oder andere massenmedial erzeugte Standards anpasst, dauert es. Die 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets sind, wie Linguisten wissen, weit von einer Lautschrift entfernt. Wahrscheinlich wird ein österreichisch ausgesprochenes Wort „Tore“ nie so wie eines in Hannover klingen, einfach, weil die „r“ ganz verschieden sind. Österreichern, aber auch Süddeutschen, fällt das Imperfekt in der gesprochenen Sprache schwer (es kommt eigentlich gar nie vor, außer bei Ableitungen von „sein“). Die Verwendung des Imperfekts in alltäglicher Rede indiziert daher auch einen gewissen Grad an Affektiertheit. Aber trotzdem reicht der verbleibende Wandel aus, Generationen voneinander zu trennen, insbesondere jene Nachkriegsgeneration, die sich in informeller Behaglichkeit in einer reichhaltigen, entsprechende Gefühle mitkodierenden Dialektsprache suhlt, von den „Kids“ und jungen Erwachsenen der elektronisch bombardierten Gegenwart. Diese gebrauchen nun eine Sprache, die recht formalisiert klingt und für jene anstrengend wirkt, die seinerzeit anders aufgewachsen sind. In beiderlei Sprachen sind das jeweilige generationsspezifische kulturelle Wissen und kulturell geprägte Gefühle gespeichert, wobei die Entwicklung zum wechselseitigen Unverständnis führt. Es sind meist die Älteren, die das als Verlust empfinden. Was heißt denn auf Schriftdeutsch „schiach“? „Hässlich“ ist wohl etwas ganz anderes. Ältere ärgert, wenn im ORF niemand mehr korrekt „Stamperl“ oder „Packerl“ sagen kann (korrekt: Stampadl; Packadl; ORF-Deutsch: ein gutturales „Stampal“ oder „Packal“; aus „Karl der Große“ wird „Kahl der Große“ und „Vorarlberg“ mutiert zu „Vorahlberg“). Jüngeren ist das ziemlich wurscht; sie könnten sogar, mit einem gewissen Fug und Recht, darauf verweisen, dass man nun mit den Bundesdeutschen erstmals auf sprachlicher Augenhöhe verkehren kann. Tatsächlich spürt den Verlust wohl vor allem der, der gelernt hat, gerade im Bereich der früh gemachten emotionalen Erfahrungen, diese alltagssprachlich im Dialekt auszudrücken. So wie man ab einem gewissen Alter (sagen wir, ab zwölf) kaum mehr in der Lage ist, eine Fremdsprache wirklich phonetisch korrekt zu erlernen – der Sprechhabitus wird sozusagen zur körperlich fixierten Ausstattung – ist man dann auch nicht mehr imstande, seine tieferen Emotionen in eine neue Sprache zu transportieren. Ganz seltsam ist es, wenn starke Gefühle plötzlich ins formalisierte Psycho- oder Mediendeutsch übertragen werden, etwa in der Bioenergetikgruppe oder vor einer ORF-Kamera. Das wird nie und nimmer „echt“! Man muss keine metaphysischen Annahmen über das „wahre Selbst“ treffen, um diesen Verlust begreiflich zu machen: Was Menschen früh lernen, haftet besser und reicht tiefer; weg vom Dialekt heißt dann, weg von der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks. Aber ich wage nicht zu behaupten, die jungen monolingualen Österreicher wären auf ewig unfähig, ihre Gefühle verständlich auszudrücken. Helmut Kuzmics

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Bleibt der Verlust an österreichischer Kultur und das Einmünden in den breiten Strom amerikanischer und bundesdeutscher Massenkultur. Auch das wird nicht allen wehtun; selbst die Tatsache, dass der große amerikanische Fisch den mittelgroßen deutschen schluckt, beunruhigt nicht allzu viele. In den letzten zwei, drei Jahren wimmelt es von neuen „Start-ups“ (weiß der Himmel, was das ist), und endlich haben wir das Hollywood- und Oscar-affine Spektakel des „Jurowischn-Song-Contests“ an Land gezogen. Die Steiermark vergibt (Gott sei ihr gnädig!) einen „Fast-Forward-Award“. Ich denke, dass diese Entwicklungen zu weit vorgeschritten sind, um noch gestoppt oder gar umgekehrt zu werden. Auch die jüngst zart vollzogene Kehrtwende des österreichischen Fernsehens wird kaum noch etwas daran ändern – zu spät, du rettest den Freund nicht mehr. Ich selbst habe mich mittlerweile mit dem heimlichen Sprachwandel arrangiert – ich rechne damit, dass es bald Volkshochschulkurse zum Wienerlied oder dem Steirischen geben wird, was dem Sarg den finalen Deckel aufsetzen wird. Wohl aber möchte ich darauf hinweisen, dass die Abgrenzung Österreichs als Nation lange damit operiert hat, uns trenne von den Deutschen gerade unsere gemeinsame Sprache. Wenn das nicht mehr so ist, muss man sich etwas Neues einfallen lassen. Denkt bitte nach! Von meinen guten deutschen Freunden weiß ich, dass gerade sie sich sprachlich eigenständige Österreicher wünschen. Was soll ich ihnen sagen, wenn ihnen – und uns – diese abhanden gekommen sind?

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ANNA HEIMRATH

Ich im Rampenlicht

Mein Name ist Anna Heimrath, ich bin 21 Jahre jung und vor einem Jahr begann meine Reise bei einer deutschen Castingshow – eigentlich ohne dass ich wusste, was auf mich zukommt. Ich war noch nie der Fan von viel Lärm um meine Person. Meist war mir das unangenehm und ich konnte es auch nie gut annehmen – nur im Rampenlicht der Schulmusicals fühlte ich mich wohl. Vor allem, wenn es um das Singen ging, tat ich mir aber schwer, denn das war und ist immer noch etwas, was ich gerne und vor allem für mich mache. Deswegen war es anfangs für mich merkwürdig, so viele Menschen an meinen Gefühlen teilhaben zu lassen. Jeder Song, den ich gesungen habe, hatte einen Teil meiner Geschichte und ein Stück meiner Seele mit eingewoben. Anders könnte ich niemals Musik machen. Ich finde, dass der Beruf des Singer/Songwriters einer der ehrlichsten ist, sofern man ihm aus tiefstem Herzen und größter Überzeugung nachgeht. Ich schreibe Songs nicht für ein Millionenpublikum, sondern um mich mit meiner Lage im Moment auseinanderzusetzen. Doch im Laufe dieser Zeit fiel mir auf, wie wundervoll es sein kann, wenn eine andere Person zu meinem Lied ihre eigene Geschichte aufbauen kann – wie wertvoll es sein kann, wenn jemand aus meinen Liedern Kraft, Mut und Hoffnung schöpfen kann und wie toll es doch ist, Menschen zu bewegen. Immer mehr wurde mir klar, je länger ich meinen Weg ging, desto mehr positive Rückmeldungen bekam ich von Menschen, denen ich damit geholfen habe, in einer Weise dasselbe zutun. Ich habe bemerkt, dass die negativen Kommentare ausgeblieben sind und das hat mich ermutigt, offener meine Social Media-Konten zu nutzen und interessierte Leute teilhaben zu lassen. Ich finde es unfassbar und doch wunderschön, dass ich für manche Menschen jetzt zu einem Vorbild geworden bin und diese an meinem Leben teilhaben wollen, obwohl sie mich gar nicht kennen. Auch höchst erfreulich ist, dass ich meine Social Media-Reichweite für Herzensprojekte nutzen kann wie zum Beispiel einen Crowdfunding-Aufruf für ein integratives Wohnprojekt in Wien. Was mich überrascht und gerührt hat, war der Zusammenhalt von Freunden und Familie, die zu jeder Runde extra aus Österreich angereist kamen. Ich war stolz darauf, dass meine Familie im Publikum vertreten war, jedoch baute das einen Drang auf, sie Anna Heimrath

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auch immer stolz zu machen und sie mit meinen Auftritten zu beeindrucken – das Gefühl, etwas zurückzugeben. Im weiteren Verlauf dieser Reise wurde mir immer mehr bewusst, wie die Grenzen des Möglichen verschwimmen und wie viel Wundervolles geschehen kann, wenn man keine Erwartungen hat. Man geht nicht nur musikalisch bestärkt aus so einer Casting-Show heraus, weil man weiß, dass alles möglich ist, sondern auch reicher an Freunden und Erfahrungen. Weitere schöne Momente und Erlebnisse durfte ich mit meinen neugewonnenen Freunden auf der anschließenden Tour sammeln. Durch zweimonatiges intensives Zusammenarbeiten und -leben wurden schlussendlich aus Freunden Familie. Mir wurde gesagt, dass sich nach der Tour ein Vakuum ergibt, da sich zu Hause selten etwas verändert und so war es in meinem Fall auch. Abgesehen davon, dass ich beim Joggen von spazierenden Müttern mit Kinderwagen angehalten werde und die Frage der Fragen gestellt bekomme: „Habe ich Sie nicht im deutschen Fernsehen gesehen?“ Oft sind sich die Leute auch nicht sicher, da ich meine Haare geschlossen tragen und diese mein Erkennungsmerkmal sind. Das Jahr 2017 war für mich atemberaubend und bereichernd. Ich bin froh, dass ich so viel lernen und sehen durfte und somit bewahrheitet sich das Sprichwort: „Man bekommt im Leben nur das zugespielt, was man auch bewältigen kann!“

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Ich im Rampenlicht

Nationalratswahl 2017: Wahlkampf, Ergebnis, Folgen

SEBASTIAN KURZ

Ein klarer Auftrag für Veränderung in unserem Land

In meiner bisherigen politischen Karriere ist es mir stets wichtig gewesen, das zu tun, was ich persönlich für richtig erachte – egal, ob diese Entscheidungen nun populär sind oder nicht. Auch im Mai 2017, als es darum ging, wer die Bundespartei übernehmen soll, wollte ich meinem Stil und meinen Überzeugungen treu bleiben. In meinen Augen muss eine moderne politische Kraft aus den besten Köpfen bestehen, egal, ob sie ein Parteibuch haben oder aus welchem Bundesland sie kommen. Und jene Person, die die Partei leitet, muss die Möglichkeit haben, die inhaltliche Linie vorzugeben und Personalentscheidungen zu treffen. Am 13. Mai 2017 haben Bundesparteivorstand und Bundesparteileitung die Entscheidung für die nötigen Änderungen der Parteistatuten getroffen, um die Zukunft der Volkspartei neu zu gestalten. Mir war bewusst, dass nicht nur innerhalb der Partei Änderungen notwendig waren. Klar war auch, dass die Fortführung der damals von Minimalkompromissen geprägten Regierung keine Option mehr darstellt. Ein weiterer vermeintlicher Neustart hätte vermutlich nur wenige Wochen später in einem Dauerwahlkampf geendet, der das Land nicht verändern, sondern nur lähmen würde. Die Entscheidung, in welche Richtung sich unser Land verändern wird, sollte von den Wählerinnen und Wählern getroffen werden und nicht von Parteien, die ihre Obmänner selbst in diese Ämter gehoben haben. Um dem stetigen Dauerwahlkampf und dem gegenseitigen Blockieren ein Ende zu setzen, war der einzig konsequente und richtige Schritt, Neuwahlen auszurufen. Nur so kann das politische System in Österreich gestärkt werden und nur so können die besten Entscheidungen im Sinne unseres Landes getroffen werden. Am 15. Oktober 2017 haben die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung getroffen: Sie haben unsere Bewegung und unseren neuen Stil in der Politik honoriert und der Volkspartei 31,4 % der Stimmen gegeben. Dieses Ergebnis war ein klarer Auftrag der Österreicherinnen und Österreicher für Veränderung in unserem Land.

Sebastian Kurz

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Sondierungsgespräche Unser Ziel war es stets, die Wahlversprechen zu halten. Um diese auch zeitnah umsetzen zu können, bemühten wir uns gleich in den ersten Tagen nach der Wahl um die nächsten Schritte. Nachdem Bundespräsident Alexander Van der Bellen der neuen Volkspartei den Regierungsbildungsauftrag erteilt hatte, wurden sofort Sondierungsgespräche mit allen im neuen Parlament vertretenen Parteien in Angriff genommen. Begonnen wurde mit den Neos, es folgten die Liste Pilz, dann die FPÖ und schließlich die SPÖ. Nach Abschluss der Sondierungsgespräche stand fest, dass mit der FPÖ die meisten Überschneidungspunkte vorliegen. Außerdem nahm sich die SPÖ bereits am Wahlabend aus dem Koalitionsrennen, indem der SPÖ-Parteivorsitzende den Gang in die Opposition verkündete. Die Möglichkeit, gute und effiziente Entscheidungen im Sinne von Österreich zu treffen, war mit den Freiheitlichen am größten. Deshalb wurde die FPÖ dazu eingeladen, in Koalitionsverhandlungen mit uns zu treten, um eine türkis-blaue Regierung vorzubereiten.

Regierungsverhandlungen Gleich zu Beginn der Regierungsverhandlungen war es für uns entscheidend, eine umfassende budgetäre Bestandsaufnahme durchzuführen und dabei auf das Fachwissen aus dem Finanzministerium und von Experten zurückzugreifen. Der Fokus lag darauf, Effizienzsteigerungspotenziale und Herausforderungen in unserem Budget ausfindig zu machen, weil diese das Fundament für alle weiteren inhaltlichen Verhandlungen darstellen. Nachdem wir den Kassensturz durchgeführt hatten, haben wir uns im Rahmen der Steuerungsgruppe darauf geeinigt, unsere Verhandlungen nach den Themenbereichen • Staat und Gesellschaft, • Sicherheit, Ordnung und Heimatschutz, • Fairness und Gerechtigkeit, • Standort und • Zukunft aufzubauen und in jedem Themengebiet mehrere Fachgruppen zu installieren, deren Aufgabe es war, konkrete Maßnahmen auszuarbeiten. Bereits in den ersten Tagen der Verhandlungen gelang es uns, einen neuen politischen Stil im Umgang miteinander zu etablieren und zügig ein qualitativ hochwertiges türkis-blaues Regierungsprogramm zu erarbeiten, in dem sich beide Parteien wiederfinden. Mit einem 180 Seiten starken Programm haben wir zwei Monate nach der Wahl die Grundlage für eine gute, sachliche Zusammenarbeit für die nächsten fünf Jahre geschaffen. Neben einem soliden und durchdachten Fahrplan für die nächsten fünf Jahre 94

Ein klarer Auftrag für Veränderung in unserem Land

war es immer schon ein Anliegen, die besten Köpfe für unsere Republik arbeiten zu lassen, um unser Programm auch umsetzen zu können. Mir war es besonders wichtig, stark auf die Expertise von Personen aus Wirtschaft und Wissenschaft zu setzen, damit die besten Entscheidungen für Österreich getroffen werden können. Genauso wichtig ist es, dass neben verschiedenen Altersklassen auch Frauen in der Regierung vertreten sind. Mit dem Team aus der neuen Volkspartei, bestehend aus Gernot Blümel, Elisabeth Köstinger, Hartwig Löger, Josef Moser, Heinz Faßmann, Margarete Schramböck, Juliane Bogner-Strauß und Karoline Edtstadler ist das sehr gut gelungen.

Zukunftspläne Mit der Ausarbeitung des umfassenden Regierungsprogramms wurde die Basis für die Zusammenarbeit der nächsten fünf Jahre geschaffen. Gemeinsam mit der FPÖ wollen wir eine echte Veränderung für Österreich und unser Land wieder zukunftsfit machen. Wir wollen die Menschen in Österreich entlasten und für neue Gerechtigkeit sorgen, zum Beispiel mit der Einführung des „Familienbonus Plus“, der bis zu 1.500 Euro pro Kind netto mehr bringt. Österreich sollte ein Land sein, in dem es nicht immer mehr Regulierung gibt, sondern weniger Regeln, die aber von allen eingehalten werden. Österreich muss ein Land mit einem starken Wirtschaftsstandort sein, in dem man sich mit eigener Leistung etwas aufbauen kann. Österreich muss ein Land sein, in dem es treffsichere Sozialsysteme gibt und wir die unterstützen können, die wirklich Hilfe brauchen. Einige Punkte aus dem Regierungsprogramm sind mir ein ganz besonderes Anliegen: • Diese Regierung soll eine pro-europäische sein, mit dem Ziel, die Subsidiarität in der Europäischen Union zu stärken. Wir brauchen eine starke EU in den großen Fragen, die sich aber in den kleinen Fragen zurücknimmt. • Wir wollen keine neuen Steuern, sondern stattdessen im System sparen. Es soll eine echte Entlastung für unsere Bevölkerung geben. Dazu möchten wir unter anderem die Steuern- und Abgabenquote in Richtung 40 % senken. • Für uns gilt es auch, neue Gerechtigkeit in Österreich zu schaffen. Denn wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein. • Ein wichtiges Ziel ist es, den Standort Österreich zu stärken. • Mit einer umfassenden Deregulierungsoffensive sollen unnötige Gesetze und Verordnungen abgeschafft werden. • Aufstieg durch Bildung muss in Österreich für alle möglich sein. Das bedeutet, dass es besonders wichtig ist, schon vor Schuleintritt über ausreichende Deutschkenntnisse zu verfügen. Genauso möchten wir unser Augenmerk auf die Bildungspflicht legen, damit niemand die Schule verlässt, ohne ausreichend schreiben, lesen und rechnen zu können. Nur so bestehen für junge Menschen auch zukünftig ausreichend Chancen am Arbeitsmarkt. Sebastian Kurz

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• Durch eine Attraktivierung des Polizeiberufs und Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen sowie 2.100 zusätzlichen Planstellen schaffen wir mehr Sicherheit für Österreich. • Ein weiterer für mich zentraler Punkt ist das Thema Digitalisierung. Österreich war Vorreiter beim 3G-Ausbau und wir sollten alles daran setzen, auch beim 5G-Ausbau wieder Vorreiter zu sein. Darüber hinaus braucht es eine Digitalisierung der Ämter, der Behörden, der Verwaltung, aber auch der Verwaltungswege der Bevölkerung. Es muss möglich sein, die wichtigsten Schritte im Bereich der Verwaltung als Bürger digital erledigen zu können – vom Reisepass bis zur Autoanmeldung. Wir haben ein breites Programm geschaffen, in dem sich beide Parteien zu einem großen Teil wiederfinden und das Veränderung in und für Österreich möglich machen soll. Wir freuen uns auf die kommenden Jahre und darauf, unsere Wahlversprechen umzusetzen.

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Ein klarer Auftrag für Veränderung in unserem Land

LAMBERT SCHÖNLEITNER

Ursachen einer Bruchlandung

Der Weg in die Mitte der Gesellschaft steht den Grünen offen. Es braucht nur Mut, ihn zu gehen. Österreich braucht eine kraftvolle Grüne Bewegung, die sich mehr Breite zutraut.

Den polithistorisch entscheidenden Moment der Grünen-Gründung vor mehr als 30 Jahren gedanklich und emotional im Bewusstsein zu haben und immer wieder in Erinnerung zu rufen, ist unerlässlich. Die Grüne Wertehaltung für Ökologie und für gerechtes Wirtschaften als die zentralen Fundamentsteine der Bewegung seit der Gründung weiterzutragen, ist wesentlich und grundrichtig. Wer aber behauptet, man könne heute noch Politik mit den Methoden, Werkzeugen und Konzepten von damals machen, liegt grundfalsch. Jeder der den Grünen von außen zuruft oder innerhalb der Partei dafür plädiert, in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück zu wandern, um wieder zu neuen Kräften zu kommen und für das Wahlvolk rundum attraktiv zu werden, blendet die gegenwärtige Realität und die gesellschaftlichen Veränderungen aus. Auch politische Bewegungen unterliegen einer Evolution – diese ist überlebenswichtig. Wer sich nicht weiterentwickelt oder zurück an den Start will, verzichtet auf den politischen Lernprozess.

Anfänge einer Grünen Strategie, die Beachtung fand Die österreichischen Grünen waren noch elf Monate vor der Nationalratswahl 2017 die erfolgreichste „Grünbewegung“ in Europa. Mit kräftigen Regierungsbeteiligungen in den Bundesländern, mit einer vergleichsweise hohen Anzahl an kommunalen Vertreterinnen und Vertretern, mit einer beständigen parlamentarischen Verankerung auf Bundesebene. Und sie waren nicht zuletzt die einzige Grüne Partei Europas, die es geschafft hat, mit einer konsequent verfolgten Strategie einen ihrer ehemaligen Bundessprecher zum breit getragenen Präsidenten aller Österreicher zu machen. Es ist demnach eine oberflächliche Verdrehung und Fehlanalyse, wenn behauptet wird, die österreichischen Grünen

Lambert Schönleitner

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hätten über Jahre alles nur falsch gemacht und so den Grundstein für ihren „Rausfall“ aus dem Parlament konsequent herbeigeführt. Im Gegenteil, gerade im letzen Drittel ihrer jungen Geschichte haben die Grünen vorsichtig begonnen – auch stark unterstützt durch ein realpolitisches Gestaltungsbekenntnis in den Bundesländern –, den politischen „Hör-Trichter“ in Richtung grün-affiner Menschen zu lenken. Dort hinzusehen, wo jener Teil der Bevölkerung steht, der sich entweder vorstellen kann, Grün zu wählen oder schon einmal Grün gewählt hat. Empirisch gesprochen, das grüne Wählerinnen- und Wählerpotenzial. In Österreich hat diese Gruppe eine Größe von nahezu 30 %. Unter Eva Glawischnig und Stefan Wallner wurde erstmals ein Bewusstsein entwickelt für das Vorhandensein dieser Kluft zwischen den auf den Boden gebrachten Wahlergebnissen und „dem“, was eigentlich möglich wäre. Bis hin zur Bundespräsidentenwahl wurde die Strategie verfolgt, diese offensichtliche Potenzialverengung abzubauen, den Außenauftritt umzukrempeln, wieder stärker auf Umweltthemen und Lebensqualität zu fokussieren und nicht zuletzt das Grüne Gestaltungs- und Verantwortungsbekenntnis stark ins Zentrum der Kommunikation zu rücken. Es war auch ein erklärtes Ziel, das oft penetrante und unverständliche Bespielen von politischen Nebenschauplätzen zu unterbinden und den Grünen Zeigefinger endlich in die Abstellkammer zu verbannen. Zusammengefasst: Die österreichischen Grünen hatten in ersten Ansätzen eine strategische Ausrichtung. Genau deshalb wurden sie in dieser Zeit auch von ihren europäischen Schwesterparteien genau beobachtet und immer wieder beratend beigezogen.

Der Schock über den eigenen Erfolg als Wendepunkt Ein Grüner Präsident an der Spitze der Republik wenige Monate vor der Nationalratswahl. Nach menschlichem Ermessen wäre das geradezu die ideale Grundlage für einen weiteren Wahlerfolg oder zumindest für ein stabiles Ergebnis bei der Nationalratswahl gewesen. Gekommen ist alles anders. Die Bundespräsidentschaftswahl war durch ihre seltsame Bewertung innerhalb der eigenen Bewegung ein dramatischer Wendepunkt. Der vom politischen Mitbewerb losgetretene und von Journalistinnen und Journalisten verstärkte „Spin“, die Grünen hätten in der Zeit des langen Präsidentschaftswahlkampfs ihr Profil verloren, wurde von niemandem lieber geglaubt und nacherzählt, als von den eigenen Mitgliedern und Funktionärinnen und Funktionären. Viele konnten den historischen Erfolg bei der Bundespräsidentenwahl nicht fassen – eine Art Schock für viele in der Partei, vor allem für jene im „Links-Außen-Segment“, die den Überlebenskampf an der Grenze zur Vier-Prozent-Hürde mühevoll erlernt und auch lieben gelernt haben. Erschrocken und verunsichert ob des enormen Grünen Erfolgs bei der Präsidentschaftswahl, der global Beachtung fand, verstiegen sie sich im Versuch, sich von den Van der Bellen-Botschaften abzugrenzen und vermeintlich das alte Profil im „Gründungsoutfit“ 98

Ursachen einer Bruchlandung

zurückzuholen. Dabei hatten gerade der Van der Bellen-Wahlkampf und die entsprechende Kampagne in hoher Qualität und emotionaler Aufbereitung alles inkludiert, was die Gesellschaft bewegt und Grüne Grundwerte leicht verständlich manifestiert: Umwelt, Zusammenhalt, Menschenrechte, Europa. Er und sein Team hatten den Mut, auch tief ausgetretene Grüne Pfade zu verlassen und Signale der Erweiterung zu senden. Den Begriff Heimat bewusst zu besetzen und damit sowohl einen Konnex zur Menschenrechtsfrage und zum Umweltthema herzustellen, war geradezu genial. Das war ein Gegenprojekt zur bisherigen kopflastigen Verengung. Diese staatstragende und visionäre Ausrichtung unaufgeregt weiterzutragen, hätte den Verbleib der Grünen im Parlament allemal gesichert, wenn nicht sogar ein respektables Ergebnis gebracht.

Ein kurzer, intensiver Pannenritt als Hauptgrund für die Wahlniederlage Stattdessen verfiel die Partei innerhalb weniger Wochen in die alten Verhaltensmuster der Gründungsjahre. Die Differenzen mit einzelnen – bis dahin weitgehend unbekannten – Jugendvertreterinnen und Jugendvertretern wurden aus eigenem Antrieb heraus zu einer öffentlichen Verurteilung der gesamten Jugendorganisation hochgespielt. Am Ende blieb das Bild stehen, die Grünen würden sich pauschal gegen junge Menschen richten. Ein „Kommunikations-Supergau“ für eine Partei mit starkem Wählerinnen- und Wähleranteil bei den Jungen. Über Wochen schaffte es in diesem Konflikt niemand in der Partei, die Bundessprecherin aus dem medialen Kugelhagel zu ziehen und eine Korrektur der Linie vorzunehmen. Dann die „Urzeitringkämpfe“ in Kärnten vor offenem Vorhang wie in den Anfängen. Dort wo durch die Arbeit der Grünen mit dem „Hypo-Debakel“ der größte Finanzskandal der Zweiten Republik aufgedeckt wurde, sind die ursprünglich positiven Codierungen der Grünen im Handumdrehen durch öffentliches Gezänk und unnötige Rangkämpfe verloren gegangen. Der Abgang von Eva Glawischnig ohne jede strategische Begleitung und ein Mindestmaß an Vorbereitung für die Nachfolge trieb die Temperatur im Grünen Kochtopf weiter nach oben. Die folgende Personalentscheidung war nur ein Notprogramm, die Trennung von Spitzenkandidatur und Parteivorsitz ein Doppelschuss ins Knie: Einerseits schwächte man Ulrike Lunacek in ihrer Rolle als Frontfrau im Wahlkampf, indem man ihr den Parteivorsitz vorenthielt, und andererseits brachte man die bis dahin tadellos agierende Ingrid Felipe in Gefahr, ihre positive Zuschreibung auf Tiroler Landesebene zu verlieren. Peter Pilz – das glücklichste Opfer einer Listenerstellung, seit es Listenerstellungen gibt – war dann nur mehr die Krönung des nicht einmal ein Jahr andauernden Pannenritts. Der monotone, warnende Ruf gegen „Schwarz-Blau“, ohne parallel dazu zur SPÖ hin abzudichten, drückte uns rasant unter die Vier-Prozent-Marke.

Lambert Schönleitner

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Österreich braucht eine starke Grüne Bewegung im Parlament, dazu muss sich Grundlegendes ändern Wenn einen die Wählerin und der Wähler mit einer derartigen Entschlossenheit vom politischen Spielfeld nimmt, dann muss sich etwas Grundlegendes ändern. Die Niederlage war kräftig genug, um Klarheit darüber zu bekommen, dass kleine Reparaturen an der Grünen Außenhaut nicht reichen werden. Sie ist aber auch eine Chance, die seit der Gründung bestehende politische „Verengung“ abzustreifen und die lähmende Fokussierung auf das eingeschränkte Grüne Kernklientel zu überwinden. Nie war die Chance größer als jetzt, das Grüne Projekt bis hin zur Mitte, dort wo die ÖVP durch ihren rechtspopulistischen Kurs im Sog der FPÖ Platz frei lässt, hineinzustoßen. Es muss eine ernsthafte, offene Auseinandersetzung mit vorhandenen Negativzuschreibungen erfolgen und der seinerzeit vorsichtig begonnene Kurs der Öffnung und Professionalisierung muss intensiv wieder aufgenommen werden. Es darf bei den österreichischen Grünen nicht mehr tabu sein, die Themen Flucht und Migration viel näher an den Lebensrealitäten der Bevölkerung zu kommunizieren. Dazu braucht es keine Abkehr von unseren bisherigen Werten, aber eine Abkehr davon, unangenehme Entwicklungen und notwenige Klarstellungen gar nicht oder viel zu leise anzusprechen. Schauen wir nach Baden-Württemberg. Nichts hindert die Grünen dort daran, sich gleichzeitig für eine mutige, qualitative Integrationspolitik auszusprechen, aber auch unmissverständlich deutlich zu formulieren, dass Ängste vor dem Hintergrund der Globalisierung und Flüchtlingskrise verständlich sind. Die dortige Regierung unter Grüner Führung sagt ganz offen und nicht hinter vorgehaltener Hand, dass sie mit einem weiteren Antiterrorpaket konsequent gegen die Bedrohung durch islamistischen Terror vorgeht. Das macht in den Augen der dortigen Wählerinnen und Wähler offenbar nicht verdächtig, sondern führt zur Unterstützung des realpolitischen Grünen Kurses der Mitte. Genau jene Mitte, welche die österreichischen Grünen seit Jahren ungenutzt liegen lassen. Man könnte hier noch viele Bereiche ansprechen, zum Beispiel den Wert der „Selbstbestimmtheit- und Entscheidungsfreiheit“, der Grünen Wählerinnen und Wählern besonders wichtig ist, sich aber nur sehr marginal und verhalten in der Grünen Außenkommunikation wiederfindet. Genauso das Problem, dass auch die Grünen immer wieder in die Falle gehen und im längst überholten Schema rot-schwarzer Klassenkampfrituale formulieren. Die alte, strikte soziologische Trennung zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern auf der einen Seite und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf der anderen Seite ist längst überholt und passt so gar nicht ins Bild einer dynamischen Grünen Bewegung. Die Lebensrealität der Menschen hat sich wesentlich verändert. Genau diese Veränderungen müssen die Grünen ansprechen. Dazu braucht es Beweglichkeit, Lernfähigkeit, einen realpolitischen Zugang – aber vor allem weniger „Dogmatismus“ in 100

Ursachen einer Bruchlandung

allen Bereichen. Die Angst, bei den eigenen Funktionärswelten den Rückhalt zu verlieren und im politischen Anbiederungssystem der Basisdemokratie nachhaltig Schaden zu nehmen, muss durch zeitgemäße Wahl- und Entscheidungssysteme einer neuen Parteistruktur unterbunden werden. Es geht nicht darum, die eigenen Sänftenträger bei Laune zu halten, sondern eine für die Gesellschaft nutzbringende Politik umzusetzen. Die ersten Monate der schwarz-blauen Regierung haben auch bei unaufgeregten und gelassenen politischen Beobachtern ernsthaft Zweifel aufkommen lassen, ob dieses Projekt das erste Jahr übersteht. Egal ob „Rauchverbot“, „Notstandshilfe“, „Klimaschutzflop“ oder ganz generell der unüberschaubare „Pannentango“ der FPÖ. Die Hoffnungen in den eigenen Reihen der Koalition, dass der zweite Regierungsversuch von Schwarz-Blau professioneller sein wird als der erste, sind Schall und Rauch. Niemand in der ÖVP – vom Bundeskanzler bis hin zu den Landeshauptleuten – wird sich der Verantwortung für diese Regierung am Ende entziehen können. Parteien werden dann gewählt, wenn sie kraftvoll und glaubwürdig Antworten auf die zentralen gesellschaftlichen Problemstellungen geben. Die bedrohliche ökologische Schieflage, das permanente Übersteuern unserer Verschwendungs- und Konsumgesellschaft, der enorme Druck auf Europa durch kriegs- und klimabedingt angetriebene Fluchtbewegungen, die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft, die grundsätzliche Gerechtigkeitsfrage als Basis für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das alles sind Themenfelder, die der Grünbewegung auf den Leib geschrieben sind und die schon bei der Gründung der Grünen wesentlicher Motor waren. Genau deshalb braucht es wieder eine parlamentarische Vertretung der Grünen auf Bundesebene. Ich möchte am Ende Winfried Kretschmann, den Grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zitieren. Er sagte bei der Feier „30 Jahre Grüne im Parlament“: „Ökologische Politik ist eben keine Spinnerei von irgendwelchen Fortschrittsgegnern, sondern es ist ein Menschheitsthema. Heute geht es darum, die Industriegesellschaft so zu transformieren, dass der Planet Erde nicht gefährdet wird und das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt wird.“

Lambert Schönleitner

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NIKOLA DONIG

NEOS – nicht rechts oder links, sondern vorne

Der lange Auftakt Für die erste Herausforderung, den Wahlkampf 2017 aus NEOS Sicht zu beleuchten, ist zu entscheiden, wann dieser für die junge Bewegung genau begonnen hat. 17 Monate vor dem Wahltag, im Mai 2016, als erste Gespräche zwischen dem damaligen Außenminister und stellvertretenden ÖVP-Obmann Sebastian Kurz, NEOS-Chef Matthias Strolz und dem Team der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss stattfanden, um auszuloten, ob eine Bewegung wie die französische „En Marche“ auch in Österreich vorstellbar sei? Oder im Herbst 2016, als feststand, dass sich diese Phantasie einer echten politischen Innovation zerschlagen hatte, und Kurz – anders als Macron – doch lieber innerhalb der Strukturen und Ressourcen seiner Partei Richtung Macht aufbrechen wollte? Oder kurz darauf, rund um den Jahreswechsel, als nach einem spontanen Mutanfall von SPÖ-Kanzler Chrstian Kern alles auf baldige Neuwahlen hindeutete und im Wiener Presseclub Concordia zum ersten Mal eine Pressekonferenz angemeldet wurde, in der Strolz und Griss ihre gemeinsamen politischen Pläne bekannt geben? Spätestens jedoch mit 14. Mai 2017, dem Tag der Wahl von Kurz zum ÖVP-Obmann, standen NEOS mitten im Wahlkampf und vor einem veritablen Problem: Der reformfreudigen Bewegung gegen das alte Machtkartell von SPÖ/ÖVP war in den Augen vieler Beobachterinnen und Beobachter schrittweise die Geschäftsgrundlage abhanden gekommen. Und das lag vor allem an der Strategie der ÖVP. Mehrere Quellen berichteten schon seit längerem von peniblen Analysen der Reden von Strolz und anderen prominenten NEOS Vertreterinnen und Vertreter durch die ÖVP, um möglichst viele Schlüsselwörter in die eigenen Botschaften zu packen. Und so sprachen plötzlich schwarz-türkise Spitzenfunktionäre, die trotz ihrer Jugend ihr halbes Leben in den Strukturen der Bündepartei verbracht hatten, von „Verkrustung“, „Stillstand“ und dem daher nötigen „Aufbruch zur Veränderung“ in einer „Bewegung“. Ein für die Urheber dieser Begrifflichkeiten, die jungen NEOS, ebenso verblüffendes wie existenzbedrohendes Schauspiel. Nikola Donig

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Doch Keywords und Konzepte waren nicht das einzige, worum sich NEOS im Frühjahr 2017 sorgten – es ging auch um Köpfe. Der Spin „2013 konnte man die ÖVP ja wirklich nicht wählen, da waren NEOS eine Alternative, aber jetzt wird ja alles anders“ war vom Mitbewerber flott erzählt, ein zur ÖVP übergelaufener NEOS-Nationalsratsabgeordneter auf steirischem Ticket und der Abschied von NEOS-Aushängeschild Niko Alm in die Privatwirtschaft befeuerten das Narrativ. All das blieb nicht ohne Wirkung. Ende April und Mitte Mai 2017 rutschten NEOS, die zuvor in den Umfragen stabil rund um die sechs Prozent gelegen waren, in den veröffentlichten Daten erstmals seit langem wieder an die bedrohliche Vier-Prozent-Wiedereinzugsmarke. Es war daher Zeit für deutliche Worte. Die strategische Botschaft nach innen und außen von NEOS-Chef Strolz war unmissverständlich: „Wir sind nicht angetreten, um die ÖVP zu erneuern. Wir sind angetreten, um Österreich zu erneuern – das ist ein großer Unterschied und wir sind damit noch lange nicht fertig!“ Diesen Anspruch zu verdeutlichen und mit Leben zu erfüllen, war der erste und dringlichste Auftrag an eine NEOS Kampagne. Doch wie am besten beginnen?

Die parteifreie Partnerin Weitgehend unabhängig von den Entwicklungen rund um die sich wechselseitig demontierende Bundesregierung war bei NEOS schon im Herbst 2016 das Projekt einer „demokratischen Gebrauchsanweisung für engagierte Bürgerinnen und Bürger“, eines „Kompass für eine freie Gesellschaft“ gestartet worden. Das Ergebnis wurde am 1. Juni 2017 vom NEOS-Vorsitzenden Strolz in Buchform präsentiert: „Mein neues Österreich – Heimat großer Chancen“. Der Klappentext liest sich rückblickend wohl nicht ganz zufällig auch als Appell an die eigene Bewegung: „Wer sich nicht definiert, der wird definiert.“ Und es bestand kein Zweifel, NEOS hatten vor, das selbst zu tun! Von zentraler Bedeutung dafür war ein zweites, ebenfalls schon seit längerem verfolgtes Ziel – die Zusammenarbeit mit Irmgard Griss. Getragen vom Verein „Österreich spricht“ waren Strolz und Griss ab Februar 2017 regelmäßig gemeinsam Gast bei sogenannten Bürgerinnen- und Bürger-Foren unter dem Motto „Mehr Zukunft wagen“. Das erste davon fand mit Blick auf Griss’ Wurzeln übrigens in Graz statt. Als die beiden am 6. Juli 2017 schließlich vor die Medien traten, um die „Allianz für Freiheit und Verantwortung“ aus der Taufe zu heben und eine gemeinsame Kandidatur anzukündigen, ergab eins und eins weit mehr als zwei. Denn die Art und Weise wie Irmgard Griss ihre Anliegen vortrug und über Verantwortung, Vernunft und Vertrauen

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NEOS – nicht rechts oder links, sondern vorne

sprach, veränderte auch NEOS. Die Bewegung wurde „erwachsener“ und ohne Zweifel auch breiter, sowohl was die Themen als auch die Personen betraf, die man ansprach. Zwei der Grundpfeiler der NEOS-Kampagne waren damit früh gesetzt: Eine Heimat großer Chancen als gesellschaftliche Vision und die Bereitschaft, dafür gemeinsam mit Partner_innen aufzutreten, auch wenn diese nicht zwingend NEOS-Mitglieder waren. Was also lag näher, als diesen Zugang auszubauen und gleichsam zu institutionalisieren?! Das Konzept der „Chancen-Partnerinnen und -partner“ war geboren und würde mit der Zeit zum bestimmenden Rahmen für den NEOS-Wahlkampf werden; mit einigen prominenten Überraschungen von Heinrich Neisser und Ferry Maier bis hin zu Victoria Kickinger und Max Schrems.

Die neue Position Zum ersten Mal gingen die Augenbrauen wohl am Rande der Strolz-Rede „Unser neues Österreich – Heimat großer Chancen“ am 1. Juni in die Höhe, als mitten unter den gut 600 Zuhörerinnen und Zuhörer im Wiener Uniqa-Tower auch ein jahrzehntelanger ÖVP-Proponent Platz nahm: Ex-Raiffeisen-Generalanwalt und Ex-Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung Christian Konrad. Ein erstes Zeichen, dass der Kurs der Kurz-ÖVP nicht nur viele verlorene Anhängerinnen und Anhänger zurückholen, sondern einige vorhandene auch abschrecken könnte? Mit dem heutigen Wissen um den Wahlausgang und die Wählerströme zwischen ÖVP und NEOS lautet die Antwort „Ja“: Obwohl etwa 60.000 ehemalige schwarze Frust-Stimmen aus 2013 zurück an die Kurz-ÖVP wanderten, nahmen gleichzeitig mehr als 30.000 ÖVP-Wählerinnen und Wähler den neuen türkisen Anstrich zum Anlass, im Oktober Pink zu wählen. Das Auditorium an diesem Frühsommerabend war überhaupt ein erster Eindruck der rund 270.000 Wählerinnen und Wähler, die NEOS am 15. Oktober ihre Stimmen gaben: NEOS-Fans der ersten Stunde, liberale Bürgerliche, bürgerliche Liberale, freiheitsliebende Unternehmerinnen und Unternehmer, bildungsaffine Citoyens. Sie alle waren gekommen, weil sie vor allem „für“ und weniger „gegen“ etwas sein wollten. (Die doch beachtliche Anzahl ehemaliger Grün-Stimmen für NEOS am 15. Oktober wird sich dann in den kommenden Monaten dazugesellen. Am Ende werden es rund 57.000 sein – fast jede vierte NEOS-Stimme.) Und noch eines zeigte sich an diesem Abend: NEOS waren – durchaus gegen den Trend der modernen Marketinglogik und den Rat mancher Beobachterinnen und Beobachter – entschlossen, ihren Wahlkampf konsequent über Inhalte und Themen zu führen. Die Entscheidung für die Breite der Themen und Positionen – sie war NEOS-intern übrigens nicht unumstritten – lag nicht zuletzt an den vorliegenden Daten der Marktforschung. Es gilt als Schicksal vieler liberaler Bewegungen in Europa, „everybody’s second favourite choice“ – also die theoretische Zweit-Wahl-Präferenz ganz vieler Bürgerinnen Nikola Donig

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und Bürger – zu sein. Alleine in Österreich nutzt das, anders als etwa in Deutschland mit der Zweit-Stimme, am Wahltag rein gar nichts. Interne Umfragen im Frühjahr 2017 deuteten darauf hin, dass gerade einmal knapp die Hälfte der NEOS-Wählerinnen und Wähler von 2013 vor hatten, auch diesmal das „Neue Österreich“ zu wählen. Und das hieß nichts anderes als: Um den Wiedereinzug solide zu schaffen, mussten NEOS jede zweite Stimme von einer anderen Partei lukrieren, also weite Netze in mehrere Richtungen auswerfen. Der Auftrag für die Kampagne lautete folgerichtig: möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, dass ihre theoretische, zweite Präferenz diesmal faktisch die bessere, erste Wahl war. Die Übung gelang: Nach zehn Wochen unter dem Slogan „Perspektivenwechsel – Weil die Perspektive der Menschen zählt“ hatten NEOS mehr als 15 % an absoluten Stimmen zugelegt, über die Hälfte davon waren neue Wählerinnen und Wähler. Und das, obwohl am Ende keine der drei alteingessenen Parteien, gegen die die systemkritischen Pinken ja ursprünglich angetreten waren, Prozente verloren hatte und das vermeintliche „Alter Ego“ ÖVP einen überlegenen Wahlsieg einfuhr.

Die weitere Perspektive Die Freude über das Ergebnis kam bei NEOS jedoch erst in den Wochen nach der Wahl und mit einem genauen Blick auf die Details. Heute überwiegen das Positive und die damit verbundenen Möglichkeiten bei Weitem: Zum ersten Mal überhaupt konnte eine liberale Bewegung in Österreich bei einer Nationalratswahl zulegen. Fünf Jahre nach ihrer Gründung sind NEOS viertstärkste Kraft im Nationalrat, in dem sie als konstruktive und konsequente Opposition die Rollen der „Kontrollpartei“, der „Hüterin der Verfassung“ und des „Reform-Turbos“ ausfüllen. Die aber vielleicht wichtigste Erkenntnis dieser Wahl für NEOS zeigt ein Vergleich der Ergebnis-Landkarten aus den Jahren 2013 und 2017. Waren es beim ersten Antritt pinke Inseln in Vorarlberg, Wien und rund um die Ballungsräume der Landeshauptstädte, die das Resultat prägten, konnten diesmal viele der weißen Lücken geschlossen bzw. einst schwächere Regionen ausgebaut werden. Zwar liegen keine detaillierten Auswertungen vor, doch das kräftige Plus in der Steiermark und in Oberösterreich zeigt: Auch wenn weiterhin jede fünfte pinke Stimme aus der Bundeshauptstadt kommt – NEOS sind längst kein reines „Großstadt-Phänomen“ mehr. Der Wert „liberal“ – im Sinne von Freiheit, Nachhaltigkeit und Rechtsstaatlichkeit – hat nach Jahren der Flaute gute Chancen, in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger wieder kräftig zu steigen. Nicht zuletzt liegt das wohl am Umstand, dass mit der Wahl 2017 die jahrzehntelange politische Grenzziehung zwischen Links und Rechts auch in Österreich immer öfter versagt. In der heutigen Welt verschwimmen die alten Fronten zur Unkenntlichkeit, es 106

NEOS – nicht rechts oder links, sondern vorne

findet sich so mancher zumindest ab und an auf der „anderen Seite“ wieder. „Rechte“ Parteien buhlen mit Sozialmaßnahmen um die Stimmen „linker“ Arbeiter, „linke“ Parteien überholen in Sachen Protektionismus rechts außen und traditionelle Volksparteien entwickeln sich perfekt inszeniert Richtung autokratischer Systeme. NEOS hatten ihren Platz schon sehr früh „nicht rechts oder links, sondern vorne“ definiert. Und so können die aktuell teilweise sehr scharfe Abgrenzung zur und Kritik der pinken Opposition an der neuen ÖVP-FPÖ-Regierung nicht wirklich verwundern. Ausgerechnet ein buntes Wiener Boulevard-Blatt brachte in diesen Tagen exemplarisch die neue Trennlinie treffend auf den Punkt. Im Zusammenhang mit dem umstrittenen Familienbonus war zu lesen: „ÖVP und FPÖ haben das angekündigt, sie wurden gewählt – und jetzt ist wohl nicht damit zu rechnen, dass Sebastian Kurz einem fortschrittlichen Familienbild nachhängt und seinen Wählern das vorenthält, was er versprochen hat.“ Wer die politische Landschaft aktuell vermessen will, der orientiert sich also besser an Begriffen wie „progressiv versus traditionell“, „partizipativ versus plebiszitär“, „liberal versus dirigistisch“ und allen voran „europäisch versus national“. Sowohl im linken als auch im rechten Lager – und in der Mitte – wird man Vertreterinnen und Vertreter dieser konkurrienden Strömungen finden. Sie werden unsere Gesellschaft prägen – und die nächsten Wahlkämpfe.

Nikola Donig

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PETER KOLBA/SEBASTIAN REINFELDT

Postdemokratie in Österreich? Die Liste Pilz als Kontrapunkt

Der Nationalratswahlkampf 2017 war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Durch das Wahlergebnis herrschen seit Oktober 2017 neue politische Kräfteverhältnisse in Österreich. Mit den Grünen und der Stronach-Liste schieden zwei Parteien aus dem Nationalrat aus. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums konnten sowohl FPÖ als auch die ÖVP davon profitieren und über die ehemaligen Stronach-WählerInnen hinaus weitere Stimmen anziehen. Rund 58 % der abgegebenen Voten fielen auf die Parteien der neuen Regierungskoalition. Auf der linken Seite des politischen Spektrums wurden die Grünen durch die Liste Pilz ersetzt, allerdings mit 4,3 % in einem weitaus geringeren Ausmaß, denn für die Grünen optierten in der vorherigen Wahl 12,4  %. Übrig blieb ein rundes Stimmendrittel. Die SPÖ wiederum blieb trotz vieler Wahlkampfpannen bei 27 % stabil. Die Gründe für all diese Verschiebungen sind vielfältig, und wir können natürlich nicht nur den Wahlkampf als Ursache für diese Veränderungen annehmen. Dennoch hatte dessen Verlauf einen Einfluss auf das Wahlergebnis. Zudem lassen sich an ihm einige Veränderungen nicht nur in der politischen Kultur, sondern auch im politischen System Österreichs festmachen.

Die Veränderungen im österreichischen Parteiensystem Ein Wahlkampf ist eine Auseinandersetzung um und in den Medien. In erster Linie. Dies wurde im zurückliegenden Wahlkampf 2017 besonders deutlich. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie präsent eine politische Gruppierung und ihr Spitzenpersonal dort ist, sondern auch, wie sie „eingerahmt“ wird. Durch dieses „Framing“ (vgl. Neuweiler: 2015) erhalten alle Neuigkeiten und Stellungnahmen eine bestimmte Färbung. Das Beispiel der Grünen zeigt: Medienpräsenz alleine bringt keinen politischen Einfluss, wenn es dabei nur ums Streiten geht, und wenn sich dabei keine politische Machtperspektive eröffnet. Ganz im Gegenteil zur ÖVP unter Sebastian Kurz. Besonders greifbar – und medientechnisch gelungen – wurde dies bei der Umfärbung der ÖVP durch Sebastian Kurz vorexerziert. Die traditionelle Parteifarbe Schwarz wurde durch Türkis ersetzt, mit Elisabeth Köstinger als Generalsekretärin der Partei wurde auch Peter Kolba/Sebastian Reinfeldt

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ein neues weibliches Gesicht präsentiert. Die altehrwürdige Gründerpartei der Republik mutierte somit zu einer angeblich neuen politischen Bewegung. Damit reagierte die Partei unter Sebastian Kurz auf die allgemeine Ermüdung in der Bevölkerung mit der früheren Koalition aus ÖVP und SPÖ. In ihr würden sich zwei Parteien wechselseitig blockieren, zwei Parteien zudem, die ideologisch wenig gemein hätten und die auch kein gemeinsames politisches Projekt verfolgen würden. Was ja stimmte. In den vorzeitigen Neuwahlen 2017 kam es dann zu folgenden Bewegungen im Parteiensystem: Die ÖVP bewegte sich ideologisch nach rechts, wodurch sich eine neue realistische Koalitionsoption eröffnete: eine schwarz-blaue bzw. türkis-blaue Koalition. Die SPÖ hatte dadurch plötzlich keine reale Machtoption mehr, da eine Dreier-Variante aus ihr, Grünen und Neos in den Umfragen auch nicht in die Nähe einer Mandatsmehrheit kamen. Abgesehen davon, dass diese auch ideologisch keinesfalls vorbereitet worden war. Schließlich gaben sich die Sozialdemokraten in Österreich immer als natürliche Regierungspartei, und Grüne und Neos agierten – notgedrungen – in Opposition zur bestehenden Regierung. Ein Schwenk hätte, wie auf der rechten Seite des Spektrums, zuvor vorbereitet werden müssen. So kam die folgende Konstellation zustande, die durchaus im Sinne der ÖVP unter Sebastian Kurz war: Aus der SPÖ wurde die bewahrende Kraft, denn sie hatte als stärkste politische Option lediglich die einer Neuauflage der alten Koalition. Dafür musste sie aber stärkste Partei werden und also einen Wahlkampf mit der ÖVP als Hauptgegner führen, was wiederum diese Option immer unattraktiver machte. Oder aber die SPÖ könnte selber eine Koalition mit der FPÖ anstreben, die laut Umfragen relativ stabil bei 25 % lag. Dafür hätte sie einen harten Ideologieschwenk vollziehen müssen, wozu ein Teil der Partei überhaupt nicht bereit war und ist. Dieser Teil scheint aber – österreichweit gesehen – in der deutlichen Minderheit zu sein. Eine rot-blaue Koalition hätte wohl eine Parteispaltung von etwa einem gegenüber zwei Dritteln zur Folge gehabt. Diese strategische Inflexibilität der SPÖ ist mit ein Grund dafür, dass sich die politischen Verhältnisse jetzt dauerhaft geändert haben, ja, dass das frühere politische System der Zweiten Republik mit seinem fein tarierten rot-schwarzen Interessensausgleich nun zu einem Ende gekommen ist.

ÖVP hat postdemokratische Methoden in Österreich nicht eingeführt Methodisch und inhaltlich hat die ÖVP unter Sebastian Kurz nichts Neues erfunden, so könnte man sagen. Aber sie haben moderne Kommunikationstechniken und postdemokratische Methoden auf die österreichische Situation adaptiert und zusammengesetzt. Eingeführt haben postdemokratische Instrumente in Österreich aber die Grünen in ihrer Transformation von der Bewegungs- zur Medienpartei. Doch was versteht man unter dem Begriff eigentlich genau? Begriffsbildend sind die Schriften von Colin Crouch 110

Postdemokratie in Österreich? Die Liste Pilz als Kontrapunkt

(Crouch 2008: 10). Demnach kontrollieren „professionelle PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark [...], dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ Diese Passage aus dem Buch von Crouch bringt – im Vorgriff – die Strategie der ÖVP auf den Punkt. So eine Vorgehensweise wirkt stark entpolitisierend, besonders in Österreich, wo die Sozialpartnerschaft dazu verleitet hat, die eigenen Interessen und politischen Wünsche nach oben hin zu delegieren. Der Politikwissenschaftler Oliver Marchart, der hier mit dem Begriff der Postpolitik operiert, sieht zwei Phasen: die erste vor der Krise 2008 mit dem Schwerpunkt auf technokratischen Politikvollzug, die zweite danach, in dem sich die Polittechnokratie populistischer Methoden und Tricks bediente. Eine Verwandlung findet statt. „Auf diese Weise versuchen die zu Populisten konvertierten Antipopulisten der Rückkehr des Politischen Einhalt zu gebieten, was allerdings nur um den Preis gerade jener Politisierung gelingen kann, die sie eigentlich vermeiden möchten. Von diesen populistischen Antipopulisten wird die Spaltung der Gesellschaft beklagt und zugleich befördert.“ (Marchart 2017: 19)

Die strategische Funktion der Postdemokratie in Österreich Die Aufgaben der neuen Regierung sind komplex, geht es ihr doch erklärtermaßen darum, alte Machtstrukturen zu zerschlagen bzw. durch neue Personen und Verfahren zu ersetzen. Bislang bieten die SPÖ und ihre Verbündeten (Gewerkschaft, Arbeiterkammer …) so gut wie keinen wirksamen Widerstand dagegen. Das mag auch daran liegen, dass auch bei ihrem Klientel der Wunsch nach Veränderung vorherrschend ist. Die Grünen haben ihr Machtpotenzial von 2013 im Wahlgang grandios vergeben. Eigentlich war das Ergebnis von 12,4 % aus der Nationalratswahl 2013 ein politisches Gewicht, das zu einer politischen Machtoption hätte ausgebaut werden können. Dies geschah nicht. Stattdessen wurde die Wahlkampflinie weitergeführt, sodass politische Inhalte und kantige Forderungen durch weiche Werbekampagnen ersetzt wurden, in denen Stimmungen vermittelt worden sind. 12,4 % und ein entsprechender politischer Apparat hätten es erlaubt, die Gesellschaft und das eigene Klientel zu politisieren. Doch ist bewusst das Gegenteil passiert. Die gewonnene Bundespräsidentenwahl für Alexander Van der Bellen hätte auch im Sinne eines politischen Gestaltungsauftrags verstanden werden können. Dies ist nicht geschehen. Stattdessen konzentrierte sich die grüne Partei auf interne Debatten und Peter Kolba/Sebastian Reinfeldt

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ideologische Auseinandersetzungen, die jeden Tag, den sie andauerten, mehr und mehr WählerInnen vertrieben haben. Geld bringt auch nicht automatisch Stimmen im Wahlkampf und auch nicht politischen Einfluss. Diese Lektion mussten die Grünen ebenfalls lernen: Obwohl gesegnet mit öffentlichen Förderungen und Finanzmitteln und dadurch in der Lage, österreichweit auch in der Fläche zu plakatieren, flogen sie aus dem Parlament. Den Kontrapunkt hierzu bildete eindeutig die Liste Pilz. Der Wahlkampf wurde mit einem einzigen Plakat bestritten, das von Wahlkampfauftritt zu -auftritt transportiert wurde. 200.000 Euro aus Spenden standen zur für Material Verfügung. Obwohl durch vier Abgeordnete im Parlament vertreten, ist der Frontmann Peter Pilz vom ORF geschnitten worden und wurde zu keiner großen medialen Auseinandersetzung eingeladen. Andere Medienauftritte und Präsenz in den sozialen Medien – besonders Facebook – reichten aber auch so für einen Parlamentseinzug aus. Dennoch: Die eigentliche Zielgruppe wurde nicht erreicht. Die Liste Pilz hat den Grünen und der SPÖ Stimmen gekostet und konnte einige NichtwählerInnen mobilisieren. ProtestwählerInnen konnten jedoch kaum von einer Stimmabgabe für die FPÖ oder ÖVP abgehalten werden. Das war jedoch erklärtes Wahlziel der Liste. Man wird „bei nüchterner Betrachtung feststellen müssen, dass die im Wahlkampf deklarierten Wahlkampfziele [der Liste Pilz] im Großen und Ganzen (qualitativ und quantitativ) verfehlt wurden“, meinen dann auch Dimmel und Noll (2017). Es bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen daraus für die Linie der neuen politischen Formation gezogen werden können. Die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen. Auffallend war in diesem Wahlkampf noch die Rolle der Medien bzw. der JournalistInnen. Nicht nur in der Silberstein-Affäre, die der SPÖ viel gekostet hat, wurde die Rolle gewechselt. Vom Berichten dessen, was vor sich geht, und der unvoreingenommenen Kritik an den Regierenden war wenig zu merken. Stattdessen wollten die Leitmedien offenbar eine neue Regierung herbei schreiben bzw. senden. Seit dem Sommer wurden kritische Berichte in erster Linie gegen die Opposition publiziert. Sebastian Kurz und die neue Regierung waren und sind dagegen sakrosankt. Spins aus den neuen Regierungsapparaten werden eins zu eins übernommen, Kritikpunkte einfach ausgeblendet, indem sie zu Nicht-Themen erklärt werden. Bislang ist auf Seiten der Opposition von noch niemandem ein Gegenmittel gefunden worden. Doch kann dies noch passieren.

Literatur Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/Main. Dimmel, Nikolaus; Noll, Alfred (2017): Woher? – Wohin? Über den Einzug der „Liste Peter Pilz“ in den Nationalrat. 112

Postdemokratie in Österreich? Die Liste Pilz als Kontrapunkt

Machart, Oliver (2017): Liberaler Antipopulismus. Ein Ausdruck von Postpolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, APUZ 44-45/2017 (http://www.bpb.de/apuz/258497/liberaler-antipopulismus-ein-ausdruckvon-postpolitik?p=all). Neuweiler, Philipp (2015): Ein Überblick und Einblick in die empirische Framing-Forschung. Mainz 2015 (philipp-neuweiler.de [PDF]).

Peter Kolba/Sebastian Reinfeldt

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HEIDI GLÜCK

Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf

Wedelt der Hund mit dem Schwanz? Politischer Berater – das ist kein Job, der im Image-Ranking von Berufen weit vorne landen würde, wenn man den Ruf dieser kleinen und oft im Dunkeln agierenden Gruppe abfragen würde. Man denkt an Spin-Doktoren, die Politiker stylen, coachen und manipulieren, dass von ihrer Authentizität nicht viel übrig bleibt, man denkt an Einflüsterer, die Themen aufblasen und Gegner diffamieren. Manche werden berühmt wie Stephen Bannon, der bullige Ex-Berater von Donald Trump (Mastermind hinter der „America First“-Strategie), manche führen das große Wort nur in den klandestinen Zirkeln, in denen die Schlachtpläne für die politischen Kämpfe ausgekocht werden. Oft erscheinen die Schicksalsgemeinschaften zwischen den Kandidaten und ihren Consultern wie faustisch-mephistophelische Pakte, die nicht selten beide in die Tiefe reißen. Gelingt der Wahlsieg, sind beide oben, der Politiker und sein Berater. Kein Wunder also, dass das Verhältnis zwischen Beratenem und Beratendem auch Stoff für Hollywood und die Unterhaltungsindustrie liefert, dass die Rolle des Beraters zur Filmrolle wird, ob es um den dämonischen Wandermönch Rasputin geht und seine Zarin Alexandra, um „gefährliche Seilschaften“ wie in der dänischen TV-Serie „Borgen“, um Intrigen, Korruption und Mord wie in „House of Cards“ oder um einen gefakten Krieg als Ablenkungsmanöver von einem Präsidenten-Skandal wie in „Wag the Dog – Wenn der Hund mit dem Schwanz wedelt“. Aber wedelt der Hund wirklich mit dem Schwanz? – Hat der Berater den Auftraggeber fest am Gängelband? Mitnichten. Das sind satirische Überzeichnungen und der Alltag der Beratung ist – gottseidank – meist viel banaler. In den Ausnahmefällen, in denen der Kandidat die Marionette des Beraters ist, tut es dem Politiker nicht gut.

Rat mal, wer zum Fernsehen kommt Beratung ist so alt wie Politik, aber ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie sich schrittweise professionalisiert. Das hing damit zusammen, dass das Interesse der Heidi Glück

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Öffentlichkeit an transparenterer Politik im Zuge der gesellschaftlichen und demokratischen Entwicklungen ab den 1960er Jahren immer größer wurde und dass Medien diese Nachfrage als Geschäft und Quotenbringer entdeckten, Zeitungen wie Fernsehen. Einst waren Wahlkämpfe ziemlich selbstgestrickt, ohne Datenbasis, ohne ausgefeilte Strategie. Politiker hielten sich selbst für ihre besten Berater und ließen sich Slogans einfallen, die ihnen vor allem selber gefielen. Entscheidungen von großer Tragweite wurden in Hinterzimmern ausgeschnapst, von Öffentlichkeit keine Rede. Der Siegeszug des Fernsehens wurde unterschätzt und ÖVP-Kanzler Julius Raab prophezeite: „Aus dem Büdlradio wird eh nix und deshalb lass ma des den Roten.“ Doch die ersten US-TV-Duelle läuteten das Zeitalter der Personalisierung von Politik ein und als der schwitzende und unrasierte Nixon gegen den telegenen jungen Helden Kennedy 1961 so schlecht performte, dass er die Wahl verlor, wurde auch in Österreich Medientraining ein Thema. Kommunikationsberater wurden gesuchte Leute und selbst mediale Naturtalente wie der „Journalistenkanzler“ Bruno Kreisky bedienten sich eines „Küchenkabinetts“. Politik musste inszeniert werden und verkauft und das ging so weit, dass der Berater Peter Pusch den damaligen Sportminister Fred Sinowatz 1976 in Innsbruck in einen Olympia-Bob setzte – der beleibte Burgenländer starb talwärts tausend Tode, lächelte aber im Ziel tapfer in die Kameras.

Rat und Tat – die zündende Idee und der Weg zum Wähler Heute ist politische Beratung eine Selbstverständlichkeit, die Stäbe werden immer größer, die „Zulieferindustrie“ an Strategiepapieren, Meinungsumfragen, Personal Trainings und Stilberatung wird immer umfangreicher und das ganze Geschäft spitzt sich zu in den Wahlkämpfen. Wahlkämpfe bedeuten für Kandidaten und Berater Ausnahmezustand, Alarm, Adrenalin pur: Agieren, Reagieren, Korrigieren, Draufbleiben, Antizipieren, Krisenmanagement und das alles – wie man heute zu sagen pflegt – im 24/7-Modus: rund um die Uhr, von Montag bis Sonntag. Trotz einer gewissen Tendenz der Akteure zur Hyperventilation und zu Schreiduellen soll die Kampagne wie aus einem Guss daherkommen, rund und überzeugend. Der erste Schritt dazu ist das Erspüren der Stimmung, die im Wahlvolk oft nur latent registrierbar ist, das Erahnen der Erwartungen und Wünsche, die die Menschen umtreiben. Dazu ist Meinungsforschung nützlich, aber oft nur bedingt eine Entscheidungshilfe. Näher kommt man Strömungen in Fokusgruppen, ausgewählten Kleingruppen, die intensiv interviewt werden. Unverzichtbar sind aber Instinkt und Intuition: Der gute Berater verlässt sich auf Gespür, setzt auf Erfahrung und sein Wissen, wie Politik funktioniert und wirkt. So erhält eine Kampagne ihre Kontur, ihre fundamentale Message. Im Fall von 2017 war das die Einschätzung des Kurz-Lagers, dass eine Wendestimmung in der Luft liegt. Später sagt die Wahlforschung, dass zwei Drittel des Elektorats Veränderung wollten. Sebastian Kurz plakatierte: „Zeit für Neues“, „Ein neuer Stil“, 116

Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf

„Damit sich was bewegt“, „Es ist Zeit“ – dynamische Botschaften im Zeitgeist, die eine Antwort waren auf eine in zehn Jahren gewachsene Frustration über Reformblockade, Problemstau und rot-schwarzen Koalitionsstreit. Die SPÖ überhörte das Grundrauschen der Volksseele und plakatierte „Veränderung mit Verantwortung“, „Soziale Sicherheit“ und „Sichere Pensionen.“ Fad und (zu) defensiv.

Der Berater-Traum: Der Kandidat ist die Botschaft Die Stimmung ist die Basis, der Kandidat ist ihr Transporteur, Multiplikator, Missionar. Im Idealfall ist der Kandidat die Inkarnation der Grundbotschaft. Das hat sich bei Sebastian Kurz ideal vereint. Ein junger Charismatiker verkündet die neue Frohbotschaft des Wandels wie ein moderner Messias, der Popstar der Politik, der Selfie-König. Umringt von seinen abertausenden Fans, die dem „Kurz-Kult“ huldigen. Als Beraterin sage ich: Respekt vor dieser perfekten Inszenierung. Die Bewegung begann 2013. Kampagnenchef Philipp Maderthaner studierte den Obama-Wahlkampf. „Die haben einen ‚Grassroots-Bottom up’-Ansatz gepflegt, wie das noch nie jemand vorher geschafft hat,“ erzählte der Mobilisierungsexperte dem Magazin trend. „Es ist so einfach wie nie zuvor, Gleichgesinnte zu identifizieren. Weil sich Menschen heute stark digital exponieren“ verrät er im Kurier. Es gibt 700.000 Facebook-Kontakte mit Anhängern. Über E-Mail kann die ÖVP 270.000 Sympathisanten direkt erreichen. Tausende Freiwillige erhielten Mitmach-Angebote und Supporter-Pakete und schwärmten aus. Maderthaner ist eine Schlüsselfigur des Kurz-Teams. Zusammen ist diese Gruppe ein kleiner Kreis mit starkem Zusammenhalt und wechselseitigem Vertrauen – auch das ist Teil des Erfolgs. Im Schnitt sind sie 35 Jahre jung, im Programmlichen nennen sie sich „eher pragmatisch“, aber auch „Überzeugungstäter“ – ein modern konservatives Wertefundament verbindet sie. Das entspricht meiner Erfahrung, dass gute Beratung nur bei inhaltlicher Übereinstimmung möglich ist. „Ideologiefreie Söldner“, die für gutes Geld jeden beraten, bringen nie den Spirit, der das Team motiviert, das Feuer entfacht und den Unterschied macht. Besonders konkrete Aussagen hat man in der türkisen Kampagne für die Nationalratswahl 2017 wenige gesehen; das Vage, Ungefähre erleichtert den Griff nach dem Wechselwähler. So war das inhaltliche Design der Kampagne soft, atmosphärisch, optimistisch – garniert mit wenigen starken Ansagen. Der politische Mitbewerber wurde wenig angegriffen, auch kaum in den zahllosen TV-Konfrontationen, sogar auf die Causa Silberstein wurde eher verhalten reagiert. Man wollte bewusst nicht negativ agieren, sondern die eigenen, positiven Versprechen in die Auslage stellen. Vermittelt durch einen perfekten Spitzenkandidaten, inszeniert mit perfekten Bildern. Wie sagt Maderthaner: „Eine Kampagne ist ein Maßanzug. Die Kampagne muss ein Gefühl ausdrücken, das schon da ist, eine Idee vermitteln, die bereits existiert. Man doktert an Kandidaten nicht groß herum.“ Heidi Glück

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Der Berater und der Kandidat – Mastermind und Meister (oder Opfer) Das Verhältnis Politiker – Berater funktioniert natürlich nur, wenn es von rückhaltlosem Vertrauen getragen ist. Der alte Satz, den der ehemalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher so gern zitierte: „Erstklassige nehmen Erstklassige, Zweitklassige nehmen Drittklassige“ beschreibt das Dilemma, dass schwache Führungsfiguren dazu neigen, Ja-Sager zu engagieren, die ihr schwankendes Ego stützen. Gute Chefs fordern von ihren Beratern rückhaltlose Offenheit, sie sind ein Schwamm, der Informationen aufsaugt, sie können und sie wollen zuhören. So war Wolfgang Schüssel, der sehr viel persönliche Gestaltung in seine Wahlkampagnen einbrachte. Auch Sebastian Kurz hat verstanden, dass er in Gesprächen viel von anderen profitieren kann. Der Kandidat muss das letzte Wort haben. Er muss sich wohlfühlen in der Entscheidung, nur so kann er sie glaubwürdig und plausibel argumentieren. Ein fast erschütterndes Dokument von Berater-Dominanz lieferte „Der Spiegel“ (40/17) mit seiner Titelgeschichte „Die Schulz-Story“. Der SPD-Spitzenkandidat ließ den Journalisten Markus Feldenkirchen 150 Tage lang den Schulz-Tross begleiten. Das Wahlkampf-Resümee des sozialdemokratischen Spitzenmanns: „Ich hätte stärker auf meinen Bauch und meine Intuition hören müssen.“ „Ich bin völlig verunsichert von all den Ratschlägen.“ „Alle sagen mir ständig, was ich machen soll“. Schulz wurde all seiner Authentizität beraubt. Ob es nun darum ging, konkrete politische Ansagen zu machen oder eher emotional und allgemein daherzukommen, ob es darum ging, Merkel hart zu attackieren oder zu schonen, ob man das Unions-Programm „von uns abgeschrieben“ nennen soll oder herzlos und neoliberal – nie setzte Martin Schulz sich durch. Für den Wahlparteitag lieferte er den Beratern einen flammenden, polemischen, mitreißenden, persönlichen Redevorschlag zum Feinabstimmen. Vier Tage später zeigten ihm die Redenschreiber den finalen Text. „Warum ist das alles rausgeflogen?“ fragte Schulz verärgert. „Alle versuchen, mich zu lähmen.“ Das Ergebnis ist bekannt: 20 % Zustimmung am Wahlabend. Zum Auftakt des Wahlkampfes waren es noch 30 %. Ein abschreckendes Beispiel. So kann Beratung nicht funktionieren. Jede Woche habe er einen neuen Pressesprecher, beklagte sich Schulz. Das Beraterteam war groß und heterogen, dafür fuhren viel zu wenige mit ihm auf Wahlkampftour. Man lernt daraus, dass strategische Beratung ein Geben und Nehmen auf gleicher Augenhöhe ist, bei dem aber der Kandidat die Letztentscheidung haben muss. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss informeller Berater. Hier spielen Familienmitglieder eine nicht unwichtige Rolle. Politiker machen oft, was ihre Ehefrauen ihnen raten. Auch Geldgeber melden sich gerne mit Tipps und Ratschlägen, ebenso wie Lobbyisten im Smalltalk oder alte Parteifreunde etwa, Muppets auf den politischen Balkonen, Gast-Kolumnisten in Zeitungen, die sich als Besserwisser in Erinnerung rufen möchten. Hier hat der Berater oft alle Hände voll zu tun, um so manche Gedankenflüge wieder einzufangen.

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Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf

Silberstein – Sonderfall, Symptom oder State ot the (Un)Art? Die Methoden in Wahlkämpfen sind vielfältig und die Bandagen sind nicht selten hart. Ist man in der Defensive, weil vieles schief läuft und die Umfragen schlecht sind, ist die Versuchung groß, negatives oder auch schmutziges Campaigning einzusetzen. Eine solche Strategie beinhaltet ein großes Risiko. Vor allem die Variante „dirty“, die sich im Gegensatz zur Negativ-Kampagne nicht auf die gezielte Selektion und die Übertreibung von allerdings faktenbasierten Vorwürfen gegen den politischen Gegner beschränkt, sondern mit Unterstellungen und Diffamierungen arbeitet, kann auf die Urheber zurückfallen. Vor allem dann, wenn die Hintermänner, die den Schmutzkübel abgerührt haben, enttarnt werden. Das heißt nicht, dass Dirty Campaigning erfolglos sein muss. So war das NEWS-Interview mit einer erfundenen Pflegerin für den Wahlkämpfer Wolfgang Schüssel 2006 wohl mitentscheidend für seine überraschende Niederlage. Damals hatte Amtsinhaber Schüssel lange Zeit in den Umfragen geführt. Die SPÖ mit Spitzenkandidat Alfred Gusenbauer engagierte den amerikanischen Wahlkampfstrategen Stanley Greenberg, in dessen Tross sich auch der israelische Offizier und Kampagnen-Experte Tal Silberstein befand. Die beiden zogen auftragsgemäß die Glacé-Handschuhe aus und die Rechnung ging auf. Die Situation war 2017 ähnlich. Erneut lag die Sozialdemokratie in der Meinungsforschung weit zurück. Lange hatte die FPÖ geführt, dann die runderneuerte Kurz-ÖVP. Dazu kam eine beispiellose Serie roter Pannen. Bei den Beratern der SPÖ und den Managern ihres Wahlkampfes reifte offenbar die Überzeugung: Wir können den Rückstand nur mit brutalen und brachialen Methoden aufholen, mit dem gezielten Entzaubern und Demontieren von „Basti Fantasti“. Die Werbeagentur wurde beauftragt, Videos zu produzieren, die Kurz verunglimpfen. Diese Videos – verbreitet über Facebook-Accounts – hatten zum Teil sogar rassistische und antisemitische Anklänge. Der im Herbst 2016 engagierte Berater Silberstein nahm die Videos ab. Sie sollten nicht mit der SPÖ in Verbindung zu bringen sein; eine Serie war sichtbar so gestaltet, als ob sie von der FPÖ käme. Silbersteins Credo lautet: „Wir müssen aus einem sauberen Kandidaten einen schmutzigen machen. Wir attackieren den Gegner von außen, damit man es nicht zu uns zurückverfolgen kann“, wie der Consulter in einer südamerikanischen Dokumentation freimütig zugab. Silbersteins Wort – so der Kurier unter Berufung auf SP-Insider – war für Kanzler Christian Kern Gebot. Nachdem Silberstein referiert hatte – etwa bei einer Klausur im November 2016 – sagte Kern danach: „So machen wir das.“ Der Kanzler hielt den Berater für eine „Instanz“ und „unverzichtbar“. Der Israeli dominierte den SPÖ-„War Room“ und schmetterte Einwände schroff ab: „I don’t give a shit what concerns you have“, beschied er Bedenkenträgern laut Insidern – auch Beraterstäbe können strenge Hierarchien haben. Silberstein dürfte auch den Hauptslogan der SPÖ inspiriert haben. Profil zitiert aus Heidi Glück

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einem internen Konzept. „Wir brauchen einen Feind“ steht da. „Kurz hat die Migranten, wir haben jene, die mehr bekommen, als ihnen zusteht.“ Daraus entstand das „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“. Silberstein wurde im August 2017 wegen dubioser Geschäfte in seiner Heimat verhaftet. Die SPÖ kündigte die Zusammenarbeit mit ihm auf. Die Facebook-Seiten wurden fortgesetzt. Der Wahlkampfleiter trat zurück. Die Kanzlerschaft ging verloren. Kern sagt, Silberstein war nicht so wichtig wie behauptet, aber das Ganze war „ein Riesenfehler“. Eine neue, irritierende Facette politischer Beratung hat in Österreich Einzug gehalten. „Das sind ganz üble Methoden, wie es sie in Österreich noch nicht gegeben hat“, schrieb Michael Völker im Standard. Und Michael Jungwirth meinte in der Kleinen Zeitung: „Silbersteins dubiose Aktivitäten in der Schattenwelt des Internets sind die Vorboten einer neuen Perfidie, die dem ohnehin unter Glaubwürdigkeitsverlust leidenden politischen Betrieb nachhaltigen Schaden zufügt.“ Was kann man daraus lernen? Dirty doesn’t pay, Berater – zumal skrupellose, ideologiefreie, söldnerartige – dürfen nie mächtiger werden als die besonnenen Teammitglieder. Die Risiken solcher Methoden sind abseits des ethischen Aspekts zu hoch. Das Politikmachen muss beim Politiker angesiedelt bleiben.

Was man dem Berater raten soll Ich habe versucht, einige Schlaglichter auf die Rolle von Beratung im Wahlkampf zu richten und anhand exemplarischer Beispiele gelungene Kampagnen gleichermaßen wie Fehlentwicklungen zu beschreiben. Die Blaupause für die gelungene Kampagne gibt es ebenso wenig wie das ideale Profil des Beraters. Was beide jedenfalls brauchen ist Disziplin, Diskretion, die Fähigkeit, strategisch zu denken, das Schmieden von Allianzen, eine Art coole Leidenschaft für Politik, aber auch Leidensfähigkeit, denn Politiker sind selten einfache Charaktere. Wenn sie gut sind – und der Bundeskanzler, den ich beraten durfte, war gut – kann man aber sehr viel von ihnen lernen. „Schüssels Schule hatte Harvard-Qualität.“ (Zur besseren Lesbarkeit wurde die männliche Schreibweise verwendet)

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Die Rolle politischer Beratung im Wahlkampf

KLAUS POIER

Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik

Große Koalitionen brauchen große Projekte Mit der Regierungsbildung nach der Nationalratswahl 2017 endete die dritte Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik. Es war zeitlich die kürzeste dieser drei Perioden Großer Koalitionen: Die erste währte mehr als 20 Jahre lang von 1945 (bis 1947 als Konzentrationsregierung einschließlich der KPÖ) bis 1966, die zweite 13 Jahre lang von 1987 bis 2000 und die dritte schaffte es nunmehr von 2007 bis 2017 auf nicht ganz 11 Jahre. Inhaltlich scheinen sich Parallelen in den drei Perioden insbesondere darin zu zeigen, dass Große Koalitionen große Projekte zu ihrer Legitimation und inneren Stabilität brauchen und sich erst recht nach großen Erfolgen „im Alltag“ innerlich zerreiben. In der ersten Periode galt es zuerst, Österreichs Freiheit wiederzuerlangen und den Wiederaufbau zu bewerkstelligen. Nach dem Staatsvertrag 1955 nahmen die Spannungen innerhalb der Koalition deutlich zu. Allerdings währte die Koalition mangels realisierbarer Alternativen bis zur absoluten Mehrheit der ÖVP 1966. Das große Projekt der zweiten Periode der Großen Koalition war der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Nach dem erfolgreichen Abschluss mit der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 dauerte es nur kurze Zeit bis zu schweren Differenzen (um die Budgetpolitik) und dem ersten „Ausbruchsversuch“ aus der Großen Koalition durch Wolfgang Schüssel mit den vorgezogenen Nationalratswahlen 1995 und schließlich der Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung nach der Nationalratswahl 1999. Eine andere Ausgangslage gab es bei der Bildung der Großen Koalition 2006/2007. Dieser fehlte offenkundig der Wille, ein großes Projekt gemeinsam durchzusetzen, vielmehr war die neuerlich gebildete Große Koalition Folge des Mangels an Alternativen der Regierungsbildung nach der Spaltung des „dritten Lagers“ und der Differenzen zwischen FPÖ und BZÖ. Dabei hätte sich dieser mit Verfassungsmehrheit ausgestatteten Großen Koalition eine umfassende Staats- und Verfassungsreform auf der Grundlage der Ergebnisse des Österreich-Konvents (2003–2005) als „Jahrhundertprojekt“ wie am Servierbrett angeboten. Die Fragilität dieser neuen Großen Koalition führte demgegenüber schon nach nur zwei Jahren zu den vorgezogenen Nationalratswahlen 2008. Klaus Poier

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Danach wurde die Große Koalition – insbesondere, da es wiederum keine einzige andere Zwei-Parteien-Mehrheit als Alternative im Nationalrat gab – nach einem Wechsel an der Spitze der ÖVP dennoch fortgesetzt. Diese Koalition hatte anfangs – ihr fehlte nun auch die Verfassungsmehrheit im Parlament – ebenso kein großes Projekt vor Augen. Allerdings fiel ihr dann wenig später ein solches zufällig in die Arme, nämlich die Bewältigung der Folgen der schweren Wirtschafts-, Finanz- und Staatsschuldenkrise, insbesondere auch, was den Arbeitsmarkt betrifft. Tatsächlich zeigten sich in diesen Jahren auch die Vorzüge einer konkordanzdemokratisch agierenden Großen Koalition, die mit allen Registern der Sozialpartnerschaft die Folgen der Krisen für Österreich im internationalen Vergleich auffällig deutlich abmildern konnte. Nach diesem gemeinsamen „Aufbäumen“ – die Folgen der Krisen waren freilich nicht zur Gänze verschwunden, wurden allerdings immer stärker als neuer „Normalzustand“ empfunden – vermittelte die Koalition wiederum kaum das Bild gemeinsamer Zielverfolgung als vielmehr inneren Zanks und wechselseitiger Blockaden. Nach der Nationalratswahl 2013 wurde die Koalition nochmals fortgesetzt, was erneut an fehlenden Alternativen lag – die einzige Zwei-Parteien-Alternative wäre eine Koalition mit hauchdünner Mehrheit aus SPÖ und FPÖ gewesen. Die Unzufriedenheit mit und in dieser Großen Koalition war allerdings schon bei den Regierungsverhandlungen 2013 deutlich zu spüren. Der Zusammenschluss war weder Liebes- noch Vernunftehe, sondern ähnelte eher einer eigentlich ungewollten Zwangsheirat. Dieser Eindruck wurde trotz einiger weniger Versuche, es anders zu machen, und ein paar mehr verheißungsvoller Sonntagsreden bis zuletzt kein anderer.

Parteienlandschaft: Ausgangslage vor der Nationalratswahl 2017 Die Nationalratswahl 2013 hatte eine weitere Plurifizierung der österreichischen Parteienlandschaft mit sich gebracht. Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik zogen sechs Parteien in den Nationalrat ein. Schon zuvor hatte sich am Ende der Legislaturperiode mit dem Team Stronach ein sechster Klub – aus Abgeordneten des BZÖ – gebildet, der nun auch bei der Nationalratswahl erfolgreich war, während das BZÖ aus dem Parlament ausschied. Zusätzlich war jedoch auch die ebenso neu gegründete Partei Neos erfolgreich und erweiterte damit das Parteienspektrum als liberal-bürgerliche Bewegung. SPÖ und ÖVP erzielten beide die schlechtesten Wahlergebnisse in der Zweiten Republik und erhielten gemeinsam auch nur mehr knapp mehr als die Hälfte der Stimmen (50,81 %). Dennoch konnten beide nicht ganz unzufrieden über das Wahlergebnis sein. Die SPÖ hatte den ersten Platz behauptet, die ÖVP hielt die FPÖ trotz der neuen Alternativen für „bürgerliche“ Wähler deutlich auf Abstand – die neuen Parteien hatten offenkundig auch einen Teil des FPÖ-Protestpotenzials abgeschöpft. 122

Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik

Diese Teilerfolge schienen allerdings alles andere als eine Trendumkehr zu sein, sondern vielmehr als vorerst letzte Station einer SPÖ-ÖVP-Mehrheit in Österreich. Plausibel erschien, dass bei der nächsten Wahl die 50-Prozent-Marke unterschritten und damit zwangsläufig das Zeitalter der Großen Koalitionen – zumindest als Zwei-Parteien-Regierung – zu Ende gehen würde. Dieser Eindruck verstärkte sich im Laufe der Legislaturperiode noch weiter: Erstens fiel die Koalition erneut jahrelang durch Zank, wechselseitige Beschuldigungen und Blockaden und bis auf wenige Ausnahmen nicht durch gemeinsame Handlungen und Erfolge auf. Zweitens zeigte sich dies bald auch in den Umfragen, sodass bereits zu Jahresende 2013 die FPÖ in fast allen Umfragen auf Platz eins ausgewiesen wurde. Und drittens schien sich der „Niedergang“ der beiden alten Volksparteien auch bei der Bundespräsidentenwahl 2016 zu manifestieren, bei der bekanntlich die Kandidaten von SPÖ und ÖVP abgeschlagen nicht in die Stichwahl einzogen. Bei dieser gab es dann nur die Alternative, zwischen einem „grünen“ und einem „blauen“ Kandidaten zu wählen, was im Übrigen auch die Folge hatte, dass es „Stammwähler“ damit seit dieser Wahl weitgehend nur mehr bei den Grünen und der FPÖ geben konnte. Denn traditionelle Wähler der SPÖ und der ÖVP – sofern sie zur Wahl gingen – mussten zwangsläufig „fremdwählen“, was dann auch bei Nationalratswahlen vielleicht leichter der Fall sein würde, wenn man den „Tabubruch“ schon einmal getätigt hatte.

Nationalratswahl 2017 – warum es doch anders kam Die weiteren Ereignisse sowie auch das Ergebnis der Nationalratswahl 2017 zeigen allerdings, wie rasch sich – auch in der Politik – Dinge ändern und sicher scheinende Prognosen daneben liegen können. Die beiden langjährigen Großparteien verloren bei der Wahl am 15. Oktober 2017 nicht weiter, sondern legten um 7,5 Prozentpunkte auf gemeinsam 58,4 % zu. Freilich geht dieser Zuwachs faktisch zur Gänze auf das Konto der ÖVP, die mit 31,5 % nicht nur den zweitgrößten Zugewinn ihrer Geschichte (nach der Schüssel-Wahl 2002), sondern auch im Vergleich zu den neun Nationalratswahlen der letzten 30 Jahre immerhin das viertbeste Ergebnis – nur knapp hinter den Ergebnissen von 1990 und 2006 – erzielen konnte.

Klaus Poier

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Tabelle: Nationalratswahlen 2017 und 2013 im Vergleich Nationalratswahl 2017

Nationalratswahl 2013

80,00 %

74,91 %

Wahlbeteiligung Stimmen

Mandate

Stimmen

Mandate

ÖVP

31,47 %

62

23,99 %

47

SPÖ

26,86 %

52

26,82 %

52

FPÖ

25,97 %

51

20,51 %

40

NEOS

5,30 %

10

4,96 %

9

PILZ

4,41 %

8

GRÜNE

3,80 %



FRANK Sonstige





12,42 %

24





5,73 %

11

2,19 %



2,05 %



Quelle: eigene Zusammenstellung aufgrund der Daten bei http://wahl17.bmi.gv.at/; http://wahl13.bmi.gv.at/.

Die SPÖ konnte geringfügig (um 0,04 Prozentpunkte) zulegen, verlor allerdings nach drei Wahlen wieder Platz eins an die ÖVP. Die FPÖ konnte zwar um 5,5 Prozentpunkte auf 26,0 % zulegen, blieb damit aber mit Platz drei hinter den in letzten Jahren geschürten Erwartungen zurück. Die drei weiteren in Bezug auf den Einzug in den Nationalrat chancenreichen Parteien lagen am Ende in der Nähe der für diesen relevanten Vier-Prozent-Hürde: Neos gelang der Wiederzug am Ende mit 5,3 % klar, knapp schaffte es auch die Liste Pilz mit 4,4 %. Die große Überraschung aus einer längerfristigen Perspektive war das Scheitern der Grünen, die mit einem Minus von 8,6 Prozentpunkten bei nur 3,8 % landeten und damit erstmals nach 1986 nicht mehr im Nationalrat vertreten sind. Zwar hatte es mit 16 kandidierenden Parteien einen Rekord in der Zweiten Republik gegeben, alle übrigen Parteien blieben jedoch – die meisten weit – unter einem Prozent und waren chancenlos. Wie kann dieses Wahlergebnis – wider die langjährigen Erwartungen – erklärt werden? Dazu folgende skizzenhafte Erklärungsansätze: 1. Keine Überraschung aus kurzer Sicht: Das Wahlergebnis war zwar aus einer längerfristigen Perspektive unerwartet, nicht aber aus einer kurzfristigen Betrachtung. Seit Mitte Mai 2017 lag die ÖVP in praktisch allen Umfragen auf Platz eins, SPÖ und FPÖ wurden zumeist knapp beieinander im Kampf um Platz zwei gesehen. Ebenso wurden die Grünen, Neos und die Liste Pilz in den Wochen vor der Wahl umfragemäßig rund um die Vier-Prozent-Hürde eingeschätzt. Die oft gescholtenen Meinungsforscher lagen diesmal daher im Großen und Ganzen sehr richtig. 124

Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik

2. Keine monokausale Erklärung: Für das Wahlergebnis gibt es viele verschiedene Gründe, viele unterschiedliche Entwicklungen liefen zusammen (z.B. „Phänomen Kurz“, Probleme innerhalb der Grünen, „Silberstein-Affäre“ …). Monokausale Erklärungen sind daher fehl am Platz und bei Schlussfolgerungen für die Zukunft oder nächste Wahlkämpfe sollte man sehr vorsichtig sein. 3. ÖVP – Sebastian Kurz: Der Erfolg der ÖVP ist sicherlich (fast) ausschließlich auf den Wechsel an der Spitze zu Sebastian Kurz zurückzuführen. Dass dies am Ende für die ÖVP so gut ausgehen würde, war aber bis zuletzt keinesfalls sicher, zu viele Unsicherheitsfaktoren gab es. Kurz war schon lange die große Zukunftshoffnung der ÖVP, aber oft genug verglühen derartige „zukünftige Stars“, wenn das Warten zu lange dauert und die Erwartungen zu hoch geschraubt sind. Zudem schien seit Mitte 2016 mit Christian Kern an der Spitze der SPÖ ein für Kurz wesentlich schwieriger Gegner zu stehen, als dies bei Werner Faymann der Fall gewesen wäre. Schließlich trat Reinhold Mitterlehner im Mai 2017 zu einem für Kurz eigentlich ungünstigen Zeitpunkt überraschend zurück, denn dieser Zeitpunkt ließ keine raschen Neuwahlen vor dem Sommer mehr zu. Kurz musste daher die Spannung über viele Monate bis zur Wahl im Herbst aufrecht erhalten. Der Erfolg von Sebastian Kurz ist daher nicht nur auf seine Persönlichkeit, ja auf sein unbestreitbar vorhandenes Charisma zurückzuführen, sondern auf einen (fast) perfekt geführten Wahlkampf vom Rücktritt Mitterlehners an. Zuerst setzte er öffentlich die ÖVP mit Bedingungen für die Übernahme der Parteiführung unter Druck (Abgrenzung zu früher als nun türkise „Neue Volkspartei“, mehr Freiheiten für den Parteiobmann bei der Koalitionsfrage, der Themen- und vor allem Personalauswahl), dann lehnte er das Angebot Kerns zur Fortsetzung der Koalition ohne Neuwahlen ab. Indem er das Heft in die Hand nahm, strahlte er auch großes Selbstvertrauen aus und widerlegte letztlich auch die These, dass derjenige vom Wähler bestraft würde, der Neuwahlen vom Zaun bricht. Schließlich führte er einen sehr konsequenten Wahlkampf, bei dem er bis zuletzt in einer auch für Sympathisanten schon nervenden Weise das Wahlkampfhauptthema der Bewältigung der mit der Massenmigration verbundenen Probleme („Schließen der Westbalkanroute“) wiederholte. Weiters unterstrich er stetig das Image der personellen Neuaufstellung der Volkspartei durch zahlreiche Quereinsteiger. 4. SPÖ – Christian Kern: Als Christian Kern im Mai 2016 die SPÖ und mit einer brillanten Rede im Nationalrat die Regierungsführung übernahm, waren viele der Meinung, dass nun auch der Stern von Sebastian Kurz verglühen würde und die SPÖ ihre Vorrangstellung wieder einmal gesichert hätte. Folgerichtig war es auch, dass Kern diese Situation mit mögKlaus Poier

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lichst baldigen Neuwahlen absichern wollte. Dem naheliegenden Termin im Herbst 2016 kam allerdings die Aufhebung und Wiederholung der Bundespräsidentschaftswahl dazwischen, denn angesichts dieser Ereignisse auch den Nationalrat auflösen zu lassen, hätte Kerns Image als besonnenen, stabilitätsgarantierenden Leader beschädigt. Im Jänner 2017 präsentierte Kern in einer großen medialen Inszenierung seinen „Plan A“, der in seinen Inhalten besonders auch bei bürgerlichen Kreisen mehrheitsfähig war. Wieder standen vorgezogene Neuwahlen im Raum, doch Kern zögerte oder ließ sich von seiner Partei davon abbringen. Als dann im Mai 2017 Mitterlehner zurücktrat, hätte Kern nochmals das Heft des Handelns in die Hand nehmen können, allerdings versuchte er stattdessen, Kurz in die Fortsetzung der Koalition zu drängen. Wäre dies gelungen, so hätte Kurz wohl tatsächlich als Vizekanzler in einer Großen Koalition ähnlich an Erfolgschancen verloren, wie dies bei vielen Vizekanzlern zuvor der Fall war (zuletzt auch bei Mitterlehner, der kurz nach seinem Antritt sogar Platz eins in den Umfragen hatte, aber dann nach wenigen Monaten rasch an Zuspruch verlor). Mit der Aufdeckung der „Silberstein-Affäre“ wenige Wochen vor der Wahl schienen die Siegchancen Kerns schließlich endgültig begraben worden zu sein. Zur Überraschung wohl der meisten kam es allerdings dann – dennoch oder erst recht – in den letzten Tagen vor der Wahl zu einem Abfließen vieler Grün-Stimmen zur SPÖ, was dieser den zweiten Platz vor der FPÖ sicherte. Das Zuspitzen des Wahlkampfs zuletzt auf die Frage Kern oder Kurz half dabei der SPÖ. 5. FPÖ – Heinz-Christian Strache: Ein großer Erfolg der FPÖ schien für diese Nationalratswahl seit Jahren sicher. Damit waren die Erwartungen freilich auch hoch, lange Zeit war die FPÖ ja auch in Umfragen deutlich auf Platz eins. Der Wechsel an der Spitze der ÖVP zu Kurz und dessen Wahlkampfausrichtung brachte allerdings die FPÖ in ein Dilemma. Kurz nahm nämlich der FPÖ das Monopol sowohl auf das Thema des Protests gegen das verkrustete alte System als auch auf das FPÖ-Kernthema der Migration. Damit hätte die FPÖ diese Themen nur noch radikaler als bisher artikulieren können, was ihr allerdings Stimmen im gemäßigten Protestwählerbereich gekostet hätte. Zudem – und dies war wohl hauptausschlaggebend – war offenkundig, dass die Führung der FPÖ – insbesondere auch nach dem großen Erfolg (trotz der Niederlage am Ende) von Norbert Hofer bei der Bundespräsidentschaftswahl – eine Regierungsbeteiligung anstrebte; nicht zuletzt wohl, weil es auch altersmäßig für die meisten dieser Riege nicht mehr viele Chancen dafür geben würde. So führte die FPÖ schließlich keinen radikaleren Wahlkampf, sondern wählte einen – verglichen mit der Vergangenheit – rhetorisch äußerst gemäßigten Wahlkampfstil, mit dem Heinz-Christian Strache nicht selten geradezu staatsmännisch wirkte. Platz eins war außer Reichweite, eine Regierungsbeteiligung damit aber erst recht wahrscheinlicher. 126

Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik

6. Grüne – Liste Pilz: Die Ausgangslage der Grünen war eigentlich hervorragend. Bei fast allen Wahlen in letzter Zeit hatten die Grünen einen Höhenflug, insbesondere mit dem Einziehen in fast alle Landesregierungen in Österreich und nicht zuletzt dem Gewinn der Bundespräsidentschaftswahl durch Alexander Van der Bellen. Allerdings ging nach dieser Wahl alles schief. Eva Glawischnig schied als bürgerlich-pragmatische Frontfrau überraschend aus. Die Nachfolge mit der Doppelspitze Ulrike Lunacek als Spitzenkandidatin und Ingrid Felipe als Parteichefin wirkte als Notlösung und ohne klare Linie. Intern kam es nicht zuletzt durch den Konflikt mit den Jungen Grünen und deren (Selbst-) Ausschluss zu Reibereien und Demotivation. Dies gipfelte im Rücktritt von Peter Pilz in Folge der Abstimmungen bei der Listenerstellung und dessen wohl schon länger ins Auge gefassten eigenen Kandidatur. Schließlich gelang Peter Pilz auch eine sehr gute Wahlkampfperformance, während Ulrike Lunacek das Potenzial, als einzige Partei konsequent für eine Pro-Migrationsstimmung einzutreten und damit in gewissen Wählerguppen erfolgreich zu sein, letztlich durch die Betonung, dass in erster Linie eine schwarz-blaue Regierung unter Kurz verhindert werden müsse, verspielte, da dadurch viele Wähler am Ende zu Kern wechselten. 7. Neos – Irmgard Griss: Zu Beginn des Wahlkampfs gab es nicht wenige Stimmen in der Öffentlichkeit, die am Wiedereinzug von Neos in den Nationalrat zweifelten. Und zwar insbesondere deshalb, da sich zumindest ein Teil der bisherigen Neos-Wähler eine Neuausrichtung der ÖVP gewünscht und daher als Protest Neos gewählt hatte. Mit dem Wechsel an der ÖVP-Spitze zu Kurz schien diese Neuausrichtung nun allerdings erfolgt und daher der Zweck von Neos erfüllt. Der andere, nicht oder zumindest weniger ÖVP-affine Teil von Neos, insbesondere auf das Liberale Forum und dessen Nachfolge zurückgehend, schien dann zu klein, um die Vier-Prozent-Hürde zu überspringen. Mit der Erklärung von Irmgard Griss, über deren weitere politische Karriere in der Öffentlichkeit seit ihres überraschend guten Abschneidens bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 regelmäßig diskutiert worden war, gemeinsam mit Neos eine Liste für die Nationalratswahl zu bilden, war diese Diskussion allerdings ein für alle Mal beendet und Neos blieb bis zuletzt weitgehend ungefährdet über der Vier-Prozent-Hürde.

Regierungsbildung und Ausblick Nach der Wahl gab es drei Optionen der Regierungsbildung: ÖVP-SPÖ, ÖVP-FPÖ oder SPÖ-FPÖ. Die von einem Teil der ÖVP (insbesondere außerhalb von Wien und Niederösterreich) lange Zeit präferierte Variante einer Großen Koalition unter geänderten Rollen war allerdings durch die „Silberstein-Affäre“ konterkariert und wurde nun kaum mehr für möglich gehalten. Teile der SPÖ liebäugelten zweifelsohne nun mit einer Klaus Poier

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SPÖ-FPÖ-Koalition, allerdings blieb dabei das Risiko, wie sehr dies die SPÖ spalten könnte, quasi unberechenbar. Diese Unsicherheiten auf Seiten der SPÖ gaben möglicherweise am Ende auch bei der FPÖ, in der auf Funktionärsebene ebenso nicht wenige lieber mit der SPÖ als mit der ÖVP koaliert hätten, den Ausschlag für eine ÖVP-FPÖ-Regierung, da sie stabiler wirkte. Kurz vor Weihnachten wurde die neue Koalition dann ernannt und angelobt. Die spannende Frage, die sowohl im In- wie Ausland intensiv beobachtet wird, bleibt nun, ob es der bisher populistisch ausgerichteten FPÖ gelingen wird, sich in der Regierung stabil zu halten oder ob es wie in der ÖVP-FPÖ-Regierung ab 2000 – Stichwort „Knittelfeld“ – wieder zu internen Konflikten, Spaltungen und allenfalls wieder einem Auseinanderbrechen der Partei kommt. Anders als damals ist nun allerdings die gesamte FPÖ-Spitze in der Regierung vertreten und man konnte auch mit wichtigen Ressorts und etwa der Ausrichtung auf Sicherheitsthemen punkten. Angelegt ist die neue Regierung sicherlich von beiden Seiten darauf, fünf Jahre und allenfalls auch zumindest eine weitere Periode gemeinsam zu regieren. Aber wie schon die Ausgangslage gezeigt hat, sind – auch größere – Veränderungen im politischen System stets möglich, wie auch erwartete Veränderungen überraschenderweise dann immer wieder doch nicht eintreten.

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Nationalratswahl 2017: Ende der dritten Periode der Großen Koalition in der Zweiten Republik

HEINZ P. WASSERMANN

„ÖVP-Jubel im Steirerland“1 oder: politisch polarisierte Soziotope

Einleitung Die folgende Abhandlung wird, basierend auf statistischen Standardverfahren, insgesamt 44 Variablen für die derzeit fünf im Nationalrat vertretenen Parteien sowie die Grünen hinsichtlich (hoch) signifikanter Unterschiede bzw. Zusammenhänge2 rechnen, edieren und interpretieren.3 Als Referenzrahmen bzw. Datenbasen dienen a) die Wahlergebnisse sowie b) Daten auf Gemeinebene. Inhaltlich und methodisch baut der Beitrag auf Projekte bzw. Vorgängerstudien des Verfassers im Rahmen der steirischen Gemeinde-4 und Landtagswahlen5 2015 sowie der Bundespräsidentschaftsstichwahlen 20166 auf, wobei die Variablen dem neuen Setting angepasst, erweitert sowie aktualisiert wurden.

Wahlergebnisse Wie auf Bundesebene war die Volkspartei auch auf Landesebene der eindeutige Wahlsieger der Nationalratswahl 2017, wobei die Verschiebungen in der Steiermark massiver ausfielen als im Bund. Lag 2013 die FPÖ (24,05 %) noch vor der SPÖ (23,83 %) und der ÖVP (20,94 %), war die Volkspartei im Oktober 2017 die neue Nummer eins (31,49 %), gefolgt von Freiheitlichen (29,42 %) und Sozialdemokraten (25,09 %).7 Das Landesergebnis der Sozialdemokraten war im Vergleich zum Bund unterdurchschnittlich, das der ÖVP entsprach ihm genau und das der Freiheitlichen war überdurchschnittlich. Auf Bundesebene verbesserte sich die ÖVP um 7,5 Prozentpunkte, die Freiheitlichen gewannen 5,5 Prozentpunkte hinzu, und die SPÖ legte – je nach Zähl- bzw. Berechnungsweise – zwischen 0 und 0,1 Prozentpunkte zu. Auf Landesebene verzeichnete die Volkspartei ein Prozentpunktplus von 10,55, die FPÖ eines im Ausmaß von 5,37, und das SPÖ-Ergebnis fiel im Vergleich zu 2013 um 1,26 Prozentpunkte besser aus.8 Die folgende Tabelle ediert die Wählerströme von 2013 und 2017 für die Bundes-9 und die Landesebene10 für die sechs in Folge untersuchten Parteien.11

Heinz P. Wassermann

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SPÖ

ÖVP

FPÖ

Grüne

Neos

LP

stärkster Zugewinn 13

 

 

 

 

 

 

Bund

BZÖ

FPÖ

BZÖ

SO

ÖVP

n. k. 

Land

ÖVP

SPÖ

ÖVP/SPÖb

ÖVP

n. a.

n. k.

 

 

 

 

 

Bund

FPÖa

Neosa

SPÖa

Neos

n. a.

n. k. 

Land

TS

TS

TS

SO

n. a.

n. k.

stärkster Zugewinn 17

 

 

 

 

 

 

Bund

Grüne

FPÖ

SPÖ

SOa

Grüne

Grüne

Land

Grüne

FPÖ

TS

ÖVP/SOa Grüne

Grüne

stärkster Verlust 17

 

 

 

 

 

stärkster Verlust 13 a

a

 

Bund

FPÖ

FPÖ

ÖVP

SPÖ

ÖVP

n. a.

Land

FPÖ

FPÖ

ÖVP

SPÖ

ÖVP

n. a.

Tab. 1: Wählerströme 2013 und 2017; LP = Liste Pilz; n. a.= nicht angegeben; n. k.= nicht kandidiert; SO = Sonstige; TS = Team Stronach

bedeutet, dass der stärkste Strom in Richtung bzw. von den Nichtwählern ging/ kam. b bedeutet, dass der Zustrom von ÖVP, SPÖ und Nichtwählern gleich groß war.

a

Für die Nationalratswahl 2017 ist gleich mehreres bemerkenswert: erstens, wie sehr in der Kategorie Verluste die ÖVP- und FPÖ-Wählerschaft kommunizierende Gefäße12 waren, zweitens, wie die Grünen von SPÖ, Neos und Liste Pilz geradezu ausgeweidet wurden13, und drittens, dass es kaum Unterschiede in Bezug auf die stärksten Zugewinne bzw. Verluste zwischen Bundes- und Landeswählerströmen gab. Betrachtet man die Gemeindeebene, die im Zentrum der weiter unten durchgeführten statistischen Analysen stehen wird, so verzeichneten die Volkspartei in 286, die FPÖ in 278, Neos in 238 und die SPÖ in 106 Gemeinden einen prozentuellen Zuwachs; die Grünen verloren in allen steirischen Gemeinden.14 Etwas differenzierter stellen sich die Bezirksergebnisse dar.15 In jeweils fünf von 14 steirischen Bezirken lagen ÖVP bzw. FPÖ mit jeweils relativen Mehrheiten an der ersten Stelle, in den übrigen vier Bezirken waren die Sozialdemokraten (relativ) mehrheitsfähig. Die Grünen verzeichneten – wenig verwunderlich ob der Ergebnisse auf kommunaler Ebene – in allen Bezirken Verluste, wohingegen sich FPÖ, Neos und ÖVP in allen Bezirken im Vergleich zu 2013 verbesserten. Für die SPÖ wurde in lediglich drei Bezirken ein besseres Ergebnis ausgewiesen, wobei bemerkenswert ist, dass die Ergebnisse in den Bezirken Bruck-Mürzzuschlag und Leoben, in denen die SPÖ mehrheitsfähig war, schlechter ausfielen als 2013.16 130

„ÖVP-Jubel im Steirerland“ oder: politisch polarisierte Soziotope

Wahlbeteiligung Die steirische Wahlbeteiligung lag mit 79,8 % knapp unter dem Bundesschnitt von 80 %. Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene nahm sie zu, wobei das Plus in der Steiermark mit 4,5 Prozentpunkten geringer ausgeprägt war als im Bund (5,1 Prozentpunkte).17 Die folgende Tabelle ediert (hoch) signifikante Zusammenhänge mit den (Teil-)Ergebnissen der sechs untersuchten Parteien.18  

SP VP FP Grüne Neos LP

Wahlbeteiligung

hs- hs

s

hs-

hs-

hs-

Wahlbeteiligung (Ppd)

ns

hs

ns

ns

ns

ns

Wahlberechtigte absolut

ns

s-

ns

hs

hs

hs

Wahlberechtigte/Wohnbevölkerung (mit Graz)

ns

s

ns

hs-

hs-

hs-

Wahlberechtigte/Wohnbevölkerung (ohne Graz)

ns

ns

ns

s-

hs-

s-

Tab. 2: Signifikanztabelle Wahlbeteiligung Bei insgesamt 30 durchgeführten Berechnungen zeigen sich 13 hoch signifikante und fünf signifikante Zusammenhänge, das sind 60 %. Die Wahlbeteiligung korreliert hoch signifikant negativ mit den Gesamtergebnissen von SPÖ (r= -,32, p