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German Pages 178 [182] Year 2020
Norbert Campagna
Staatliche Macht und menschliche Freiheit Das Staatsdenken Bertrand de Jouvenels
Staatsdiskurse | 35 Franz Steiner Verlag
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Wissenschaftlicher Beirat Andreas Anter, Erfurt Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Sebastian Huhnholz, Hannover Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London Band 35
Staatliche Macht und menschliche Freiheit Das Staatsdenken Bertrand de Jouvenels Norbert Campagna
Franz Steiner Verlag
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Editorial
Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
Inhaltsverzeichnis
1. 2. 3. 4. 5. 6. I. 1. 2. 3. 4. II. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine chamäleonartige Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertrand de Jouvenel und der Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertrand de Jouvenel und der Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertrand de Jouvenel und die menschliche Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertrand de Jouvenel und der Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 10 12 17 22 23 28
Der Staat und die Lenkung der Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Privatinteressen und Allgemeininteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberalismus und Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat in den Händen einer Oligarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gelenkte Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 33 37 43 47
Bertrand de Jouvenel und der Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Marx zu Stalin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritik an den Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Blindheit von Marx. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marxismus und menschliche Hybris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sozialistische England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umverteilung des Reichtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 56 58 62 64 66 71 77
8
Inhaltsverzeichnis
III. 1. 2. 3. 4. IV. 1. 2. 3. 4. 5. V. 1. 2. 3.
Staat und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht und Gehorsam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staat, Wohl der Untertanen und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die demokratische Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 88 94 102 107
Der Staat und die Gegenmächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederentdeckung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Motivation der Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Adel als Gegenmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Parlament als Gegenmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 114 121 125 131 138 142
Der Staat und die natürliche Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Blindheit des herrschenden ökonomischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die anthropologischen und kulturellen Wurzeln der Umweltzerstörung . . . . Der Staat und die ökologische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151 151 155 161 164
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175 175 176
Vorwort
Nach seinem frühzeitigen Tod im Jahr 1859, wurde Alexis de Tocqueville fast gänzlich von seinen Landsleuten vergessen, und es dauerte bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, bevor er in seinem Heimatland wiederentdeckt wurde – in den Vereinigten Staaten, in denen er den Vorboten des modernen demokratischen Zeitalters sah, hatte man ihn allerdings nie ganz vergessen. Ein ganz ähnliches Schicksal traf den 1831 verstorbenen Benjamin Constant, ein anderer großer Vertreter des politischen Liberalismus, der, wie Tocqueville, auch Abgeordneter war. Constants einziges nennenswertes literarische Werk – der der Romantik zuzuordnende, zum Teil autobiographische Roman Adolphe – wurde zwar immer wieder gelesen und neu aufgelegt, aber seine politischen Schriften wurden bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts so gut wie gänzlich ignoriert – ein Schicksal, das übrigens auch, und in vielleicht noch größerem Maße, seine religionsphilosophischen – aber zugleich auch für das politische Denken relevante – Schriften traf. Bei Bertrand de Jouvenel ist die Situation etwas ähnlich. Zwar wurden nach seinem Tod noch einige seiner Schriften neu aufgelegt bzw. in der Form von Sammelbänden publiziert, aber man kann nicht behaupten, dass das Interesse für diese Schriften groß war. Auch wenn ich hier keineswegs beanspruche für Bertrand de Jouvenel diejenige Rolle zu übernehmen, die zu ihrer Zeit Raymond Aron für Tocqueville und Marcel Gauchet für Constant in Frankreich gespielt haben – ganz davon abgesehen, dass dieses Buch sich nicht primär an ein französisches, sondern an ein deutsches Publikum wendet, so hoffe ich trotzdem, dass es dazu beitragen wird, ein Interesse an der Lektüre von de Jouvenels Schriften zu wecken, und es den einen oder die andere dazu motivieren wird, sich etwas eingehender mit dem Denken des heute kaum noch gelesenen Franzosen auseinander zu setzen. Was die Übersetzungen ins Deutsche betrifft, so muss einerseits gesagt werden, dass zwar von den wichtigsten Schriften de Jouvenels eine deutsche Übersetzung vorliegt, andererseits aber, dass die meisten Ausgaben dieser Übersetzungen schon alt sind und man sie auch kaum noch, wenn überhaupt in den Buchhandlungen – sieht man von Antiquariaten ab – findet.
Einleitung
1.
Eine chamäleonartige Persönlichkeit
Ein Radikaler, ein Sozialist, ein Liberaler, ein Konservativer, ein Faschist, ein Nationalist, …. ?1 Welcher dieser Begriffe, wenn überhaupt einer von ihnen in Frage kommt, charakterisiert Bertrand de Jouvenel am Besten bzw. welcher dieser Begriffe bringt die Quintessenz seines Denkens – oder das, was sein Denken während den etwa 60 Jahren, in denen er sich zu konjunkturellen und strukturellen Fragen äußert, kennzeichnet – am Besten zum Ausdruck? Wenn Bertrand de Jouvenel während seines relativ langen Lebens alles dies war – aber zu unterschiedlichen Zeiten selbstverständlich, zumindest für einige der Kennzeichnungen2 –, lässt sich dann nicht zumindest ein Anliegen identifizieren, das hinter diesen unterschiedlichen Positionen wiedergefunden werden kann, so dass man sagen kann, dass de Jouvenel zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens glaubte, dass dieser oder jener -ismus besser in der Lage war, das ihn während all diesen Jahren beschäftigende Grundproblem zu lösen? In welchem Kapitel einer nicht chronologischen, sondern denkrichtungsorientierten Darstellung des politischen Denkens müsste man suchen, um quasi sicher zu sein, eine Erwähnung Bertrand de Jouvenels zu finden?3 Ein Kommunist war er auf jeden Fall nicht, wie er es ausdrücklich sagt (L’économie dirigée, 12). Ein konservativer Liberaler ist denkbar – die Freiheit kann ein zu konservierender Wert sein –, ebenso wie ein sozialistischer Faschist – wie es schon der Begriff des Nationalsozialismus zeigt –, nicht aber ein liberaler Faschist. 3 Wer in gängigen Geschichten des politischen Denkens – sei es in französischer, deutscher oder englischer Sprache nach dem Namen „Bertrand de Jouvenel“ sucht, kann schon froh sein, wenn er ihn überhaupt findet. So sucht man etwa in Henning Ottmans monumentaler Geschichte des politischen Denkens vergeblich nach de Jouvenel. Dasselbe gilt für das zweibändige Handbuch Staat und für den Band Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute, die beide von Rüdiger Voigt herausgegeben wurden – als Autor von Beiträgen in diesen Bänden muss ich ein mea culpa in eigener Sache machen, da ich de Jouvenel durchaus in einigen von mir dort verfassten Beiträgen hätte erwähnen können (etwa in den Beiträgen: Umweltstaat, Wirtschaft, von Hayek). In Catherine Audards groß angelegter Geschichte des Liberalismus erfahren wir zwar, dass de Jouvenel zu den 36 „personnalités de premier plan“ gehörte, die, mit etwa von Hayek, von Mises u. a., am Anfang der Mont-Pélerin Society standen, aber mehr über ihn erfährt man dort nicht (Audard 2009, 347). Audard erwähnt kein einziges Buch de Jouvenels. Selbst Alain Laurent, einer der führenden zeitgenössi1 2
Eine chamäleonartige Persönlichkeit
Oder vielleicht noch anders gefragt: Kann nicht vielleicht einer der eingangs genannten Begriffe die Rolle des Substantivs übernehmen, während die anderen als Adjektive fungieren – wobei allerdings, wie schon angedeutet, bestimmte Substantive mit bestimmten Adjektiven schwer vereinbar, wenn nicht sogar unvereinbar sein könnten? Das Substantiv würde den Zweck oder das zu erreichende Ziel bezeichnen, bzw. den zu verwirklichenden Wert, und die Adjektive würden sich auf die Mittel beziehen, die de Jouvenel zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen historischen und sozialen Bedingungen als angemessen oder notwendig empfand – mit der Gefahr, natürlich, sich dabei zu irren4 –, um den Zweck oder das Ziel zu erreichen bzw. den Wert zu verwirklichen? Glaubte Bertrand de Jouvenel nicht sein ganzes Leben lang an ein bestimmtes Ideal, und suchte er nicht in der ihn umgebenden und sich rasch verändernden Welt nach den zur Verfügung stehenden Mittel, um dieses Ideal zu erreichen oder Wirklichkeit werden zu lassen? Wenn dem so ist, d. h. wenn man ein solches gleichbleibendes Ziel festmachen kann, dann wird man zwischen einer Kritik oder Verurteilung des Ideals, einer Kritik oder Verurteilung der Mittel und einer Kritik oder Verurteilung der Urteilskraft des Urteilenden unterscheiden müssen. Hat de Jouvenel sich im Ideal geirrt? Hat er zur Erreichung des Ideals angemessene, aber moralisch zu verurteilende Mittel gut geheißen? Hat er irrtümlicherweise an die Angemessenheit von unangemessenen – aber nicht unbedingt moralisch zu verurteilenden – Mitteln geglaubt? Die erste Frage mit Ja beantworten bedeutet, das gesamte Denken de Jouvenels in Frage zu stellen, sowie die mögliche Aktualität dieses Denkens zu bestreiten. Denn inwiefern könnte uns ein Denken weiterbringen, das sich einem – zumindest aus unserer Sicht – falschen Ideal verschreibt? Eine Auseinandersetzung mit de Jouvenels Denken besäße dann höchstens nur noch einen rein akademischen bzw. ideengeschichtlichen Wert und de Jouvenel wäre nur noch für den Ideenhistoriker relevant – wie dies heute, für die allermeisten, wie ich hoffe, von Hitlers Mein Kampf gilt.5 Die zweite Frage mit Ja beantworten hieße, sich einerseits im von de Jouvenel verfolgten Ideal wiederzuerkennen, andererseits aber auch, sich die Frage zu stellen, ob schen liberalen, wenn nicht sogar libertären Denkern in Frankreich, belässt es bei drei kursorischen Erwähnungen – de Jouvenel war bei der Mont-Pélerin Society, er hat den Geist des Liberalismus in Frankreich wach gehalten und er ist der Autor von The Ethics of Redistribution (Laurent 2002, 18; 19; 119). In dem „Essai d’arborescence de la tradition libérale“ – so etwas wie ein Stammbaum des Liberalismus, mit den verschiedenen Abzweigungen, sprich Varianten – am Ende des Buches taucht de Jouvenel nicht auf, so als ob er es nicht wert wäre, einer bestimmten liberalen Tradition zugeordnet zu werden – es sei denn, es sei Laurent nicht gelungen, ihn irgendwo in diesem Stammbaum unterzubringen. 4 In Un voyageur dans le siècle, schreibt er 1979, auf die 42 ersten Jahre seines Lebens zurückblickend: „Von L’économie dirigée (November 1928) bis Du pouvoir (Februar 1945) werde ich eine mühsame Lehre der Politik machen, nicht ohne sie durch persönliche Fehler zu bezahlen“ (Un voyageur dans le siècle, 90). 5 Wenige Tage vor der Niederschrift dieser Zeilen hörte ich auf einem französischen Radiosender, dass ein französischer Verlag demnächst eine kommentierte französische Übersetzung von Hitlers Buch veröffentlichen wird.
11
12
Einleitung
es nur die von de Jouvenel aufgezeigten, moralisch bedenklichen, wenn nicht gar unmoralischen Mittel gibt, um das Ideal zu verwirklichen. Gibt es keine anderen Mittel oder hat de Jouvenel es lediglich versäumt – aber dann warum? – nach anderen Mittel zu schauen bzw. hat er diese anderen Mittel – aber auch hier warum? – übersehen? Die dritte Frage mit Ja beantworten kommt einer Infragestellung von de Jouvenels Urteilsvermögen gleich und leitet über zu der Frage, wie de Jouvenel, der ein Buch über L’art de la conjecture verfasst hat, sich in einer derart wichtigen Frage irren konnte. Sollte man nicht von jemandem, der sich vor allem in der zweiten Schaffensperiode seines Lebens der Zukunftsforschung hingegeben hat, erwarten, dass er erkennt, welche Mittel angemessen sind, um das von ihm hoch gehaltene Ideal in der Zukunft zu verwirklichen? Ich werde hier davon ausgehen, dass Bertrand de Jouvenel ein Ziel verfolgte, mit dem auch wir uns identifizieren können – ich werde weiter unten und auch im ganzen Verlaufe dieses Buches darauf zurückkommen. Dass Bertrand de Jouvenel sich zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens in der Mittelwahl geirrt hat, soll nicht verschwiegen werden. Und dass er selbst seinen Fehler eingestanden hat, lässt diesen zwar nicht ungeschehen lassen, zeigt aber, dass de Jouvenel lernfähig war. Dass er sich in seinen späteren Werken relativ zurückhaltend mit Lösungen auf die Probleme der Zeit zeigt, mag darauf zurückzuführen sein, dass er sich nicht wieder irren wollte, wie er es vornehmlich in den 30er Jahren gemacht hatte. 2.
Bertrand de Jouvenel und der Faschismus
Als ihn der israelische Ideenhistoriker Zeev Sternhell 1983 in seinem Buch Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France als einen prominenten faschistischen Autor der 30er Jahre bezeichnete, der sich nach dem Krieg zum Liberalismus bekehrt hatte, konterte Bertrand de Jouvenel, der damals schon 80 war, mit einer Klage wegen Diffamierung.6 Was den Kläger störte war selbstverständlich nicht die Behauptung SternIn einem 1987 erschienenen Beitrag der die Überschrift „Les convergences fascistes“ trägt, bringt Sternhell de Jouvenel wieder mit dem Faschismus in Verbindung. Er weist dort auch darauf hin, dass de Jouvenel in seinem 1941 publizierten Buch Après la défaite – ein Buch, das schon in seinem Erscheinungsjahr auf Deutsch übersetzt wurde – den Triumph des Nationalsozialismus als einen Sieg des Geistes bezeichnete hatte (Sternhell 1987, 440). Was bei diesem Beitrag stört, aber noch mehr beim ganzen Band, in dem er veröffentlicht wurde, ist, dass Bertrand de Jouvenel auf seine Sympathien mit dem Faschismus reduziert wird. Pascal Ory, der den Band koordiniert hat, hatte Bertrand de Jouvenel schon in einem früheren Buch als „Kollaborationisten“ bezeichnet. In mehreren 1944 entstandenen und in Les passions en marche veröffentlichten Texten, geht de Jouvenel auf das Problem des Umgangs mit den Kollaborateuren ein. Dort deutet er u. a. an, dass viele das Etikett „Kollaborateur“ auf so ungefähr jeden anwenden, der während der Besatzungszeit weiter in Frankreich gearbeitet hat, wobei de Jouvenel vor allem die Wissenschaftler und Artisten erwähnt (Les passions en marche, 17). Kann man einen Dirigenten als Kollaborateur verfolgen, bloß weil er sein Orchester vor einem mit ranghohen Nazioffizieren gefüllten Saal dirigiert hat? Kann man einen Wissenschaftler als Kollaborateur verfolgen, bloß weil er weiter geforscht hat und dabei eventuell Dinge 6
Bertrand de Jouvenel und der Faschismus
hells, de Jouvenel habe nach dem Krieg liberale Positionen vertreten, sondern es war in erster Linie das Adjektiv „faschistisch“, mit dem man seinen Namen in Verbindung brachte, und das unter der Feder Sternhells nicht als bloße Beschreibung, sondern als Verurteilung oder gar Verdammung zu verstehen war. Die Richter gaben de Jouvenel – zu dessen Verteidigung u. a.7 der mit ihm befreundete große liberale Intellektuelle Raymond Aron vor dem Gericht aussagte8 – recht.9 Dieser Urteilsspruch ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass de Jouvenel in den 30er Jahren tatsächlich mit dem Faschismus geliebäugelt und einige der prominenten faschistischen Führer der damaligen Zeit zum Teil bewundert hat.10 Zeitweise war er auch ein sehr engagiertes Mitglied von Jacques Doriots Parti populaire français. Doriot, einst Mitglied der kommunistischen Partei11, hatte den PPF gegründet, um Frankreich vor der, wie er es sah, Dekadenz und dem Elend der Arbeitslosigkeit zu retten. De Jouvenel sieht in Doriot jemanden, der sich dem Anliegen des gemeinen Volkes annimmt, dem auch er, de Jouvenel sich, trotz seiner aristokratischen Wurzeln12, nahe fühlt. Auch hier meint der Autor, er hätte einen faux-pas begangen (Un voyageur dans le siècle, 295), indem er sich einer Partei anschloss, die einen klaren Rechtskurs einschlug und in den Führerkult verfiel (Un voyageur dans le siècle, 300) Mag de Jouvenel auch sein Mitgefühl mit den jüdischen Emigranten ausgedrückt haben, die Deutschland verlassen mussten, um im Paris der 30er Jahre nach Sicherheit zu suchen13, und mag er auch die Expansionspolitik Hitlers – vor allem nach München erfunden hat, die den Nazis dienlich sein konnten? Für Bertrand de Jouvenel sollte man hier nuancieren. Und selbst dort wo man es mit wirklichen Kollaborateuren zu tun hat – wie es etwa die Mitglieder der Miliz waren –, sollte man auf gesetzlichem und geordnetem Wege vorgehen und nicht nach einem durch die Rachsucht diktierten Ausnahmerecht vorgehen (Les passions en marche, 8). 7 Zu diesen anderen zählen Henry Kissinger und Milton Friedman. 8 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich unterhielt de Jouvenel zwar noch immer gute Beziehungen zu den Deutschen, u. a. zu seinem langjährigen Freund Otto Abetz, der zu einem treuen Diener Hitlers geworden war, aber er arbeitete auch für den Nachrichtendienst des Freien Frankreichs. Im Prozess gegen Sternhell wurde diese Mitarbeit von Zeugen attestiert. 9 Um genau zu sein: Sternhell wurde nicht verurteilt, weil er de Jouvenel als Faschisten bezeichnet hatte, sondern nur, weil er ihm Kollaboration vorgeworfen hatte. 10 Vorgeworfen wurde ihm u. a. das Interview, das er 1936 in Berlin mit Hitler führte. Er selbst sieht dieses Interview, und vor allem seine Zurückhaltung – wenn nicht sogar Naivität Hitlers Beteuerungen gegenüber –, als einen faux-pas an (Un voyageur dans le siècle, 250) und meint, auch bezüglich seiner Reportagen über den spanischen Bürgerkrieg: „Ich verhielt mich wie ein Beobachter, dort wo man hätte Partei ergreifen müssen“ (Un voyageur dans le siècle, 286). Hier stellt sich allerdings die Frage, für wen man hätte Partei ergreifen müssen? Für die Republikaner, wie George Orwell es getan hatte, oder für die Truppen Francos? 11 Jacques Doriot (1898–1945) wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er deren Anlehnung an Moskau bekämpfte. Während des Zweiten Weltkriegs kollaboriert er mit der deutschen Besatzungsmacht und trägt sogar die Uniform der Wehrmacht. 12 De Jouvenel würde vielleicht das „trotz“ in ein „gerade wegen“ verwandeln. Aus seiner Sicht, aber auch aus der Sicht eines Tocquevilles, war der Adel – vornehmlich der auf dem Land und nahe beim Volk lebende Adel – mehr um das Schicksal des Volkes besorgt als die modernen Industriellen, für die die Menschen lediglich funktional äquivalente und somit austauschbare Rädchen einer großen Maschinerie sind. 13 In den von mir zur Kenntnis genommenen Schriften de Jouvenels, habe ich nur eine Stelle gefunden, die als judenfeindlich betrachtet werden könnte. In Après la défaite heißt es: „[Sie erzählen], dass die große
13
14
Einleitung
und dem Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei14 – verurteilt haben, so ist de Jouvenel doch einerseits durch die antikapitalistische Rhetorik der Faschisten im Allgemeinen und der Nationalsozialisten im Besonderen angezogen, und andererseits auch durch deren antiindividualistische und antimaterialistische Ideologie. Indem der Faschismus die Rolle des Kollektivs hervorhebt, scheint er mit dem egoistischen Individualismus in Widerspruch zu stehen und dessen mögliche, wenn nicht gar einzige Alternative zu sein, nach dem Motto „Faschismus oder Egoismus“. Der Faschismus bringt neues Leben in eine marode gewordene bürgerliche Welt. Der Aristokrat de Jouvenel sieht sozusagen im Faschismus ein Mittel, am Bürgertum Revanche zu nehmen. Dieses hat nämlich den mit dem Aristokraten gleichgestellten höheren Menschen durch den nach bloß materiellen Gütern strebenden Bourgeois ersetzt. Im Faschismus findet de Jouvenel den Geist wieder, den das Bürgertum aus der sozialen Welt ausgetrieben hatte. Dass de Jouvenel hier einem Kult der Männlichkeit und des Elitarismus huldigt, kann nicht bestritten werden, aber es kann auch nicht bestritten werden, dass sein Denken eine soziale und zum Teil egalitäre Dimension hat. De Jouvenel ist der Überzeugung, dass die Wirtschaft im Dienste aller Menschen sein soll – ein Gedanke, den man bis in seine späten Schriften findet –, und nicht bloß einer bestimmten Gruppe, die sich auf dem Rücken ihrer Mitmenschen bereichert, ohne dabei gleichzeitig das allgemeine Wohl zu befördern. In dieser Hinsicht schreibt er: „Die Interessen der großen Zahl, das war für mich wichtig. Und die politische Macht, so schien mir, war dazu bestimmt, ihnen zu dienen“ (Un voyageur dans le siècle, 90). Er bezieht sich hier, aus einer 50jährigen Entfernung, auf sein Denken der 20er Jahre, als er u. a. an De l’économie dirigée arbeitete, das Buch, das den Anfang seiner publizistischen Karriere markiert. Bis zum Ende seines Lebens werden ihm die „Interessen der großen Zahl“ wichtig sein, aber er wird seine Blauäugigkeit gegenüber der politischen Macht verlieren, und ohne auf den Gedanken zu verzichten, dass der Staat eine Rolle in der Gestaltung des Lebens – auch des wirtschaftlichen Lebens – spielen muss aufzugeben, wird er seine Mitmenschen immer wieder darauf aufmerksam machen, dass sie sich vor der staatlichen Macht in Acht nehmen müssen, gerade und vor allem dann, wenn sie vorgibt, sich in den Dienst ihrer materiellen Interessen zu stellen. Der Staat konnte Macht über die Menschen erlangen, weil die Menschen dem Staat diese Macht gaben, um ihr Wohlergehen zu fördern. Oder noch anders gesagt: Je mehr die
Donauhauptstadt in einen riesengroßen Verkaufsplatz verwandelt wurde, wo alle wertvollen Möbel zu Spottpreisen verschleudert wurden, zu Gunsten einer kleinen Anzahl von Dieben, oft Juden“ (Après la défaite, 19). Insofern de Jouvenel hier nur das wiederzugeben scheint, was man erzählt, kann nicht unbedingt darauf geschlossen werden, dass er die Juden als Diebe brandmarken wollte. Knegt spricht von einem Philo-Antisemitismus de Jouvenels (Knegt 2017): De Jouvenel, der, wie Knegt es anmerkt, laut Rasengesetze ein Halbjude war, erklärt und legitimiert zwar einerseits den Antisemitismus bestimmter Kreise, bekennt sich andererseits aber nicht dazu. 14 Das Schicksal der Tschechoslowakei liegt de Jouvenel, der eine Zeit Sekretär von Benes war, besonders am Herzen.
Bertrand de Jouvenel und der Faschismus
Menschen vom Staat verlangen, umso mehr Macht wird der Staat verlangen, um das Verlangen der Menschen zu befriedigen. Und irgendwann wird der Punkt kommen, an dem der Staat die ihm zugestandene Macht benutzt, um seine eigenen Machtinteressen zu befriedigen, zum Unheil der Menschen. Was zunächst als ein Instrument gedacht war, das den Menschen dienen sollte, macht aus diesen Menschen Instrumente, die ihm, dem Staat, dienen sollen und die er, und das ist der Angelpunkt von Du pouvoir, in seinen kriegerischen Unternehmen verschlingt. De Jouvenel ist auch der Überzeugung – und das führt ihn auch dazu, im Faschismus einen möglichen Ausweg aus der Krise zu sehen –, dass die Menschen es nötig haben, wieder eine Dosis Spiritualität in ihr Leben zu bringen, und somit die Sphäre des hedonistischen Individualismus15 – wo man nur sich selbst und die Befriedigung seiner unmittelbaren materiellen Interessen sieht – zu transzendieren. Während er in den 20er Jahren vor allem die Befriedigung der materiellen Interessen der Menschen in den Vordergrund stellt und die Wirtschaft in eine Richtung lenken will, die dazu beiträgt, die Grundbedürfnisse der großen Masse zu befriedigen, wird er sich in der 30er Jahren auch der spirituellen Krise bewusst, die mit der Moderne entstanden ist. Und ab der 60er Jahre wird er einen ganz großen Wert auf die ästhetischen und kulturellen Interessen legen. Er wird aber zu keinem Zeitpunkt die Moderne als solche über Bord werfen. Sein Denken lässt sich somit als ein im wahrsten Sinn des Wortes modernitätskritisches Denken auffassen, als ein Denken, das weder blind gegenüber den Errungenschaften der Moderne ist, noch gegenüber ihren Gefahrenpotentialen. De Jouvenel sucht nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Moderne, die einerseits ihr Versprechen eines allgemeinen materiellen Wohlstands erfüllt, andererseits aber nicht auf ihre spirituelle Dimension verzichtet. Während einer kurzen Zeit in den 30er Jahren und auch noch zu Beginn der 40er Jahre erscheint ihm der Faschismus – den er mehr im Sinne einer Politikform bzw. Methode betrachtet, als dass er ihn mit einem ganz bestimmten Politikinhalt identifiziert16 – als die angemessene Lösung der von ihm identifizierten Probleme der modernen Zivilisation, wie sie sich vor allem seit der Industrialisierung entwickelt hat. Der Faschismus, heißt es noch 1941 in Après la défaite, ist eine „brutale Reaktion gegen Der Begriff des Individualismus ist mehrdeutig. Seit Tocqueville wird der Individualismus mit dem Rückzug der Menschen in ihre Privatsphäre gleichgesetzt, so dass niemand sich mehr um das öffentliche Wohl und um die als öffentliches Gut gedachte Freiheit kümmert. Die von Tocqueville gezeichneten demokratischen Individuen denken nur noch an ihr materielles Wohlergehen und unterwerfen sich einem Staat, der sie von ihrer individuellen Verantwortung befreit und ihnen auch ihre individuelle Freiheit nimmt. 16 „[E]s ist nicht das Programm, das den Faschismus macht, es ist die Disziplin“, schreibt er z. B. an einer Stelle (Un voyageur dans le siècle, 197). Oder wie Knegt es treffend formuliert, für de Jouvenel war der Faschismus „a method that could be used for different ends“ (Knegt 2017, 82). Ob zu diesen Zwecken auch eine menschenwürdige Gesellschaft zählt, ist fraglich, und es war sicherlich einer der fatalen Fehler de Jouvenels, den Glauben gehegt zu haben, der Faschismus könne im 20. Jahrhundert dieselbe Funktion erfüllen wie der absolutistische Staat zu Beginn der Moderne, als er den Religionskriegen ein Ende setzte und damit den inneren Frieden schuf, ohne den eine menschenwürdige Gesellschaft nicht möglich ist. 15
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Lebens-, Fühl und Denkweisen, die den modernen Zeiten nicht mehr angepasst sind“ (Après la défaite, 37). Der Faschismus gibt der Jugend eine Hoffnung, die sie andernorts nicht mehr findet.17 In diesem Jahrzehnt, so könnte man sagen, ist Bertrand de Jouvenel ein Anhänger des Faschismus faute de mieux, d. h. weil er von allen anderen politischen Strömungen, und vor allem von deren Ausdruck im konkreten, alltäglichen politischen Leben, also in der Parteipolitik, enttäuscht ist. Wenn alle anderen bisher eingeschlagenen Wege nicht dahin geführt haben, wo man hin wollte und sollte, dann sollte man es auf dem sich neu präsentierenden Weg versuchen. So schreibt er 1948, und denkt dabei sicherlich auch an sich selbst im vorigen Jahrzehnt bzw. zu Beginn der 40er Jahre: „Wenn der Staat dem Menschen keinen festen Grund, d. h. die soziale Garantie, mehr gibt, erscheint alles sicherer als der Treibsand des pervertierten Parlamentarismus: Entweder das Argusschiff der Kommunisten, die nach einem neuen Land suchen, oder die Arche Noahs des vom Schicksal geschickten Menschen“ (L’Amérique en Europe, 287).18 Oder, und das scheint de Jouvenel übersehen zu haben: fundamentale Reflexion auf den Parlamentarismus und Versuch einer Rückkehr zu seinen Prinzipien.19 In dem eben zitierten Satz fällt auf, dass de Jouvenel eigentlich nicht den Parlamentarismus als solchen verurteilt, sondern die pervertierte Form, die er angenommen hat. Doch anstatt sich zu fragen, wie und warum man diese Perversion entstanden ist und wie man sie wieder rückgängig machen kann, wirft de Jouvenel das Kind mit dem Badewasser. Während den 20er Jahren stand de Jouvenel dem Sozialismus und dem Radikalismus20 relativ nahe, wandte sich dann aber enttäuscht von ihnen, und vor allem vom Sozialismus, ab. Auch der Liberalismus bzw. die damals herrschende Form des LibeHier stellen sich dann gleich zwei Fragen. Erstens die Frage, ob de Jouvenel recht hat zu behaupten, dass es außer dem Faschismus keine Sinn und Hoffnung gebende Ideologie mehr gibt. Die Antwort auf diese Frage fällt negativ aus, wie de Jouvenel es selbst zugibt, wenn er im Kommunismus eine solche Ideologie sieht – eine Ideologie die für ihn persönlich aber keine Option darstellt. Zweitens stellt sich dann aber die Frage, ob der Intellektuelle, wenn er nur den Faschismus und den Kommunismus als hoffnungsgebende Glaubenssysteme vorfindet, nicht ein anderes System aufbauen sollte bzw. nicht an der Regenerierung früherer Glaubenssysteme – wie dem Liberalismus – arbeiten sollte. 18 In Après la défaite spricht er von jungen kampfbereiten Männern die überall in Europa auftauchen und sich hingeben „einem Mythos, kommunistisch oder faschistisch“ (Après la défaite, 45). Dard zitiert folgende Worte de Jouvenels: „Was die Faschisten taten, war mir zuwider, ich habe sie als nationaler Franzose bekämpft. Aber ich finde bei ihnen einen Ton, der zu mir passt. Ich mag den Faustschlag des Faschisten lieber als die fettige und erstickende Umhüllung des Demokraten. Was den Demokraten tolerierbar macht, ist sein Liberalismus. Aber genau wenn er aufhört, liberal zu sein! Was bleibt ihm?“ (zitiert in: Dard 2008, 192). In Les passions en marche weist de Jouvenel darauf hin, dass Faschismus und Kommunismus die Menschen nicht so sehr durch die Ideen angezogen haben, sondern durch das Gefühl von Solidarität das sie Menschen vermittelten, die sich einsam und verlassen fühlten. 19 Dieses „Zurück zu den Prinzipien“ wurde seiner Zeit von Machiavelli verteidigt. 20 Der Radikalismus entstand in Frankreich unter Louis-Philippe und spielte besonders unter der Dritten Republik eine große Rolle im politischen Leben Frankreichs. Er positionierte sich auf dem linken Spektrum und verteidigte republikanische Thesen. Im Gegensatz zu ganz stark nach links tendierenden sozialistischen Strömungen hielt der Radikalismus am Prinzip des Privateigentums fest. Bertrand de Jouvenel kennzeichnet den Radikalismus durch sein Festhalten an der Idee der individuellen Freiheit und durch die 17
Bertrand de Jouvenel und der Liberalismus
ralismus überzeugte ihn nicht. Mehr und mehr erscheint es dem jungen, nach sozialer Anerkennung aber auch nach sozialem Einfluss suchenden Denker notwendig, einen dritten Weg zwischen dem Kapitalismus, wie er damals in der westlichen Welt existierte, und dem Sozialismus, wie er in der Sowjetunion Fuß gefasst hatte, zu suchen. Der Kapitalismus leidet an der Tatsache, dass er die Dimension des Gemeinwohls ausklammert und damit viele Menschen ihrem ärmlichen und erbärmlichen Schicksal überlässt, wohingegen der Sozialismus dazu tendiert, die Rolle der Privatinitiativen gänzlich zu ignorieren und nur den Staat als sozialen Akteur anerkennt. Man sollte deshalb nach einem dritten Weg suchen, der diesen beiden Dimensionen Rechnung trägt, der also einerseits dem wirtschaftlichen Leben einen Rahmen setzt, der aber den in diesem Rahmen handelnden Menschen ermöglicht, frei zu handeln.21 De Jouvenel war aber zu dieser Zeit vor allem davon überzeugt – und diese Überzeugung wird er nicht aufgeben –, dass der Mensch sich sozusagen regenerieren muss. Dem immer dekadenter werdenden Frankreich wird das zu einem neuen Leben findende Deutschland entgegengestellt22 – wobei de Jouvenel sich aber einerseits für die Verständigung zwischen der deutschen und der französischen Jugend einsetzen wird, und andererseits, auch während der deutschen Besatzung, für die Unabhängigkeit Frankreichs eintreten wird – insofern kann man in de Jouvenel auch einen Nationalisten sehen.23 3.
Bertrand de Jouvenel und der Liberalismus
Sind die Liebäugeleien mit dem Faschismus, dem Sozialismus und dem Radikalismus jedes Mal von relativ kurzer Dauer im Leben de Jouvenels gewesen, so ist das ganz anders mit dem Liberalismus. Seine bekanntesten Werke, allen voran Du pouvoir und dieses Festhalten begleitende Ablehnung eines Opfers der individuellen Freiheiten zu Gunsten von sozialen Idealen (Les passions en marche, 122). 21 Die totalitären Regimes, heißt es in Après la défaite – wobei eher Deutschland als die Sowjetunion gemeint sein dürfte – stellen den privaten Reichtum in den Dienst der öffentlichen Interessen (Après la défaite, 218). 22 Auf den Anfangsseiten von Après la défaite bedauert de Jouvenel die Armseligkeit der französischen Eliten, denen es nicht gelungen ist, den Sieg Frankreichs im Ersten Weltkrieg auszunutzen, um aus ihrem Land einer der führenden Nationen zu machen (Après la défaite, 9). Dem spirituell verarmten Frankreich stellt de Jouvenel das spirituell lebendige Deutschland entgegen. Dass Deutschland sich 1940 so schnell gegen Frankreich behaupten konnte, lag nicht nur oder vielleicht sogar nicht hauptsächlich an der militärischen Übermacht des Reiches, sondern an der Tatsache, dass es dem Nationalsozialisten gelungen war, eine Antwort auf das spirituelle Verlangen der Menschen zu finden. So lesen wir in Après la défaite: „Der größte Erfolg des Nationalsozialismus besteht darin, eine Jugend geformt zu haben, die ihre Lust gerade in der Ausübung ihrer Pflichten empfindet“ (Après la défaite, 221). 23 So schreibt er etwa zu Beginn der deutschen Besatzung an Abetz: „Wenn sie [die deutsche Politik] unseren permanenten Interessen, unserer nationalen Würde Rechnung trägt, dann werden wir für die Kollaboration sein“ (Un voyageur dans le siècle, 432). Zu dieser Zeit war de Jouvenel ein französischer Nationalist, der den deutschen Nationalismus insofern akzeptierte, als dieser den französischen Nationalismus respektierte.
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De la souveraineté, verfolgen den Weg der sich stetig ausbreitenden staatlichen Macht und der damit einhergehenden Gefährdungen für die Freiheit. Dabei sieht de Jouvenel schon in den 60er Jahren den Zusammenhang zwischen der wachsenden Macht über die Menschen und der wachsenden Macht über die Natur24, was ihn zu der Behauptung führt, dass der Mensch, und vor allem der westliche Mensch, ein nach unbeschränkter Macht strebendes Wesen, und unsere Zivilisation eine civilisation de puissance ist, wie er es im Titel eines 1976 erschienenen Buches ausdrückt. Die ihren Anflug vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts nehmende Machtzivilisation zerstört somit nicht nur die Natur und ihre Schönheiten, sondern sie transformiert auch den Menschen und die sozialen Relationen, die alle in den Dienst des Produktivismus gestellt werden und deren soziale Daseinsberechtigung nur darin zu bestehen scheint, den kollektiven Reichtum zu vermehren, wobei dieser Reichtum darüber hinaus zum Selbstzweck wird. Die ökonomische Macht steht demnach nicht im Dienste des Menschen, sondern der Mensch steht ganz im Dienste der ökonomischen Macht. Insofern Bertrand de Jouvenel den Schaden sieht, den die rein wirtschaftliche Logik – die er nicht nur in den kapitalistischen Ländern am Werke sieht, sondern auch jenseits des damals noch bestehenden Eisernen Vorhangs, also in den Ländern des real existierenden Sozialismus – der Natur und dem Menschen zufügt und dieser Schädigung entgegen treten will, kann er nicht als ein Vertreter eines reinen laissez-faire Liberalismus betrachtet werden. Weit davon entfernt, das Schicksal der Menschen zu verbessern, stürzt ein solcher Liberalismus die große Mehrheit der Menschen ins Elend. Der traditionelle Liberalismus hat recht, wenn er auf den individuellen Initiativgeist pocht, aber er übersieht die Tatsache, dass dieser Initiativgeist sich nur in einem bestimmten, vom Staat aufgestellten Rahmen entfalten darf, wenn man verhindern will, dass seine negativen Potentialitäten die positiven überwiegen. Ein Gedanke, den man sowohl beim frühen wie auch beim späten de Jouvenel findet, ist der der fundamentalen Identität zwischen dem freien Kapitalismus und dem zu seiner Zeit real existierenden Kommunismus oder Sozialismus. Beiden geht es um die Schöpfung sozialen Reichtums, wobei nur die Seite der Produktion und nicht auch diejenige des Konsums gesehen wird. Oder genauer gesagt: Der Konsum tritt hinter die Produktion zurück und damit tritt auch das Wohl der Arbeiter-Konsumenten hinter die Interessen der Kapitalisten – im Kapitalismus – bzw. des Staates – im Kommunismus – zurück. Im Gegensatz zu bestimmten vom Aufklärungsdenken beeinflussten Liberalen ist de Jouvenel kein unkritischer Anhänger des Fortschritts, d. h. er teilt nicht die Überzeugung, dass die Menschheit sich stets von einem guten zu einem noch besseren Zustand entwickelt und dass man sich sozusagen nur dem Prozess der geschichtlichen
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Adorno und Horkheimer machen eine ähnliche Feststellung in ihrer Dialektik der Aufklärung.
Bertrand de Jouvenel und der Liberalismus
Entwicklung überlassen sollte. Das Neue ist nicht automatisch dadurch gut, dass es neu ist, und das Alte ist nicht automatisch dadurch schlecht, dass es alt ist. Insofern kann man de Jouvenel durchaus als einen Konservativen beschreiben. Einerseits kommt es ihm darauf an, jene Institutionen zu bewahren, durch die, wie Montesquieu es formulierte, die Macht die Macht begrenzt, wobei die Bewahrung dieser Institutionen – oder zumindest äquivalenter bzw. äquifunktionaler Institutionen – zugleich auch, wenn sie wirksam sein sollen, die Bewahrung eines bestimmten Geistes der Freiheit voraussetzt. Denn wenn die Menschen nicht frei bleiben wollen, dann werden auch die besten freiheitsgarantierenden Institutionen sie nicht schützen können, wie schon Alexis de Tocqueville es bemerkt hatte. Die Dimension des Spirituellen sollte nicht nur den Faschisten überlassen bleiben, sondern sie sollte auch im Liberalismus eine Rolle spielen. Wer den Liberalismus auf die Dimension des rein Materiellen reduziert und den Menschen nur als homo oeconomicus betrachtet, überlässt dem Faschismus oder einer sonstigen totalitären Doktrin ein Feld, auf dem sie sich frei werden ausbreiten können. Andererseits will de Jouvenel aber auch dasjenige bewahren, das unser Leben zu einem lebenswerten Leben macht, zu einem Leben, das einen Eigenwert hat und das sich nicht auf seine Zweckmäßigkeit für unabhängig von unserem Willen definierte soziale Zwecke reduzieren lässt. Vor allem in den Aufsätzen die im Sammelband Arcadie veröffentlicht wurden, pocht de Jouvenel auf die Notwendigkeit, dem Ästhetischen wieder einen größeren Stellenwert zu geben. Was also ist Bertrand de Jouvenel bzw. welcher der eingangs erwähnten Begriffe eignet sich am Besten, um sein Denken zu kennzeichnen? Kann man ihm überhaupt ein bestimmtes Etikett aufkleben, ohne seinem geistesgeschichtlichen Werdegang und ohne seinem eigenen Selbstverständnis untreu zu werden? Ist dieses Denken nicht derart komplex und facettenreich, dass es sich jeder präzisieren Kennzeichnung entzieht? Er selbst hat darauf hingewiesen, es falle ihm schwer, sein eigenes Denken in einer davon gemachten Analyse wiederzuerkennen (Dard 2008, 11).25 Wenn man unter einem politischen Denken ein Aufzeigen von ganz konkreten Lösungen versteht, dann wird man es sicherlich schwer haben, so etwas wie das politische Denken Bertrand de Jouvenels zu identifizieren – auch wenn manchmal, skizzenhaft, Lösungen angedeutet werden. Und eine ähnliche Bemerkung gilt für den Fall, wo man ein politisches Denken mit einer bis in ihre feinsten Verästelungen verfolgte Theorie des Staates und der Gesellschaft identifiziert, die sich nicht nur damit begnügt zu sagen, wie alles De Jouvenel bezieht sich auf die Einleitung zur italienischen Übersetzung von De la souveraineté, in welcher Enzo Sciacca versucht, die Gedanken des übersetzten Autors synthetisch zu präsentieren. Und auch als Carl Slevin sich für sein politisches Denken interessiert, zeigt er sich darüber intrigiert, dass jemand ein Buch dem „politischen Denken Bertrand de Jouvenels“ widmen will (zitiert in Dard 2008, 12), so als ob es entweder kein solches politisches Denken gibt oder dieses politische Denken völlig irrelevant ist und demnach nicht der Mühe wert ist, untersucht und diskutiert zu werden. 25
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funktioniert, sondern die auch und vor allem ein ideales Staats- oder Gesellschaftsbild entwirft. De Jouvenel weiß ganz klar, was er nicht will, aber nach einer genauen Beschreibung eines idealen Zustandes sucht man bei ihm vergeblich26 – was hier nicht unbedingt als Vorwurf aufzufassen ist. De Jouvenels politisches Denken, vor allem wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, ist demnach kein politisches Lösungsdenken, sondern es ist primär ein politisches Problemdenken, ein Denken, das sich kritisch gegenüber der Wirklichkeit positioniert und auf Gefahrenpotentiale hinweist. Ohne die Moderne radikal abzulehnen, verfällt de Jouvenel nicht einem naiven, unkritischen Fortschrittsdenken, wie man es auch heute noch oft findet, sondern er streicht die Ambivalenz bestimmter Entwicklungen hervor und macht dabei implizit auf die Notwendigkeit aufmerksam, gegenüber diesen Entwicklungen wachsam zu bleiben. Bertrand de Jouvenel will auf nichts verzichten: Weder auf die Versprechen der neuen Gesellschaft, noch auf die Garantien der alten Gesellschaft; weder auf die Verbreitung des materiellen Wohlstands, noch auf die Bewahrung und Förderung der noch bestehenden Freiheitsgarantien; weder auf das Individuum, noch auf die Gemeinschaft. Er ist ein Mensch, der die Freiheit will und den sich ausbreitenden materiellen Wohlstand begrüßt. Und er lebt unter Menschen, die den materiellen Wohlstand wollen und denen die Freiheit oft gleichgültig zu sein scheint. Er muss sich demnach um die Artikulierung von zwei sich nicht von selbst artikulierenden Zielen kümmern, so dass er einen wesentlich schwereren Stand als diejenigen hat, die die Freiheit ohne materiellen Wohlstand – die klassischen republikanischen Denker verschmähten den Luxus – oder umgekehrt den materiellen Wohlstand ohne Freiheit – der sanfte Despotismus, wie ihn Tocqueville für die modernen Demokratien an die Wand malte – wollen. Das eben angesprochene Jouvenelsche Problemdenken wird durch eine dreifache Sorge getragen, und zwar erstens durch die Sorge um die soziale Gerechtigkeit, zweitens durch die Sorge um die menschliche Freiheit, und drittens durch die Sorge um die Bewahrung der spirituellen und ästhetischen Dimensionen des menschlichen Lebens. Dabei stellt sich für Jouvenel die Frage, welche Rolle der Staat bzw. die öffentlichen Autoritäten spielen können und sollen. De Jouvenel glaubt einerseits, dass staatliche Eingriffe notwendig sind, um die drei eben genannten Güter zu schützen oder zu fördern, aber er weiß auch, dass staatliche Eingriffe gefährlich sein können. Der Staat kann die Produktion materieller Güter fördern und er kann auch dafür sorgen, dass diese Güter so unter die Menschen verteilt werden, dass jeder genug davon hat. Wenn die modernen Staaten die Produktion materieller Güter fördern, so fördern sie allerdings nicht immer die Produktion jener Güter, die zum materiellen Wohlstand der Menschen beitragen. Die Interessen des Staates werden über diejenigen seiner Bürger gestellt, nachdem man die Fiktion eines Allgemeinwohls ausgearbeitet hat, das sich De l’économie dirigée ist die Schrift, in der de Jouvenel die genaueste Beschreibung des, wenn nicht idealen, so doch in seinen Augen optimalen Staat gibt. 26
Bertrand de Jouvenel und der Liberalismus
separat vom Wohl der einzelnen Bürger denken lässt. Der totalitäre Staat beginnt, wenn man will, mit der Fiktion eines abstrakten Gemeinwohls. Insofern wird auch seine Kritik am Jakobinismus verständlich. De Jouvenel, so könnte man es ganz kurz formulieren, will in erster Linie das bewahren, was es den Menschen erlaubt, ein menschenwürdiges Leben zu führen, da wo es anderen darum geht, jenes durchzusetzen, wovon sie glauben, dass es den Menschen erlauben wird, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die Modernen blicken meistens nur in die Zukunft und glauben, dass mit jeder Neuerung auch ein Fortschritt im Sinne eines menschenwürdigeren Lebens gemacht wird. De Jouvenel blickt meistens in die Vergangenheit und sieht dabei den Wert bestimmter Erfahrungen (etwa der Naturerfahrung) oder Institutionen (etwa der sozialen Eliten), so dass er zur Vorsicht aufruft hinsichtlich der Entwicklungen, die das Bestehen dieser Erfahrungen oder Institutionen gefährden. Dieser Blick in die Vergangenheit hält Bertrand de Jouvenel aber keineswegs ganz davon ab, auch in die Zukunft zu blicken, genauer gesagt in die möglichen ‚Zukunften‘ die dem Menschen offen stehen und die er selbst zu gestalten hat. Dieses Interesse für die Zukunft findet seinen konkreten Ausdruck im Netzwerk Futuribles und in der gleichnamigen Zeitschrift, mit denen der Name de Jouvenels ganz eng verbunden ist. Die menschliche Geschichte entwickelt sich nicht entlang einer vorgezeichneten Linie, sondern es ist ein Weg, der sich an einigen Stellen verzweigt und wo sich dann mehrere Möglichkeiten der Weiterentwicklung darbieten. Unter diesen Bedingungen ist es wichtig, sich dieser Möglichkeiten bewusst zu werden und zugleich die Chancen und Risiken zu erwägen, die man auf jedem der möglichen Wege begegnen wird. Es geht also darum, die Gestaltung der Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, aufbauend auf einem Wissen, das so gesichert wie möglich ist, das aber nie zu einem Wissen im vollen Sinn des Wortes werden kann. Um noch einmal auf die Anfangsfrage zurückzukommen, aber diesmal mit einer klaren Antwort: Was ist Bertrand de Jouvenel? Ich denke, dass man ihn am Besten als einen konservativen Liberalen bezeichnen kann, wie es u.a Guénaire (Guénaire 2011, 39), Mahoney (Mahoney 2005, 2) und Pisier-Kouchner (Pisier-Kouchner 1973, 618). tun. Insofern diese Form des Liberalismus sich schon bei Burke und dann vor allem bei Tocqueville – der sich selbst als Liberalen eines neuen Genres beschreibt – findet, scheint es übertrieben, in de Jouvenel einen Erneuerer des Liberalismus zu sehen (Finske u. a. 1988, 552). Man wird höchstens von ihm sagen können, dass er einer in Vergessenheit geratenen Tradition des Liberalismus wieder neuen Aufwind gibt. Bertrand de Jouvenel, so könnte man es auch formulieren, will die Freiheit der konkreten Menschen vor der sie bedrohenden Freiheit bzw. Souveränität eines als kollektive, homogene und über alle normativen Vorgaben erhabene Einheit gedachtes Volk schützen.
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Bertrand de Jouvenel und die menschliche Freiheit
Bertrand de Jouvenel ist ein Liberaler, insofern die menschliche Freiheit für ihn im Mittelpunkt steht, eine Freiheit, die er in mehreren Dimensionen denkt. Der Mensch muss zuerst die innere Freiheit erlangen, und das bedeutet, dass er sich zunächst von der Tyrannei der Begierden befreien muss, also den Tyrannen in sich selbst besiegen, damit er sich nicht zum Tyrannen über andere macht. Denn eine dieser Begierden von denen sich der Mensch befreien muss, ist die Machtbegierde, die Begierde, andere Menschen bei der Verfolgung seiner eigenen Zwecke als bloße Mittel zu benutzen. Was diese anderen Menschen betrifft, so dürfen sie sich nicht von ihrer eigenen, und oft sehr starken Begierde nach Sicherheit und materiellem Wohlstand derart beherrschen lassen, dass sie bereit sind, sich durch jeden beherrschen zu lassen, der ihnen Sicherheit und materiellen Wohlstand verspricht, vorausgesetzt, man überlässt ihm die Macht, um das von ihm gegebene Versprechen zu erfüllen – eine Macht die sich nicht im Voraus bestimmen lässt, und die ihm dementsprechend als eine absolute Macht überlassen werden muss. Die innere, psychologische Freiheit und die äußere, politische Freiheit, hängen also für Bertrand de Jouvenel ganz eng zusammen, und ein Gemeinwesen in welchem die Menschen sich durch ihre Begierden beherrschen lassen, kann kein freies Gemeinwesen sein. Und die in ihnen lebenden Menschen können auch nicht die politische Freiheit genießen. Die politische Freiheit ist für de Jouvenel nicht nur eine Sache von Rechten, sondern auch von Pflichten. Insofern mein Handeln Konsequenzen für meine Mitbürger haben kann, bin ich dazu verpflichtet, so zu handeln, dass dieses Handeln meinen Mitmenschen nicht schadet. Insofern aber meine Begierden sich nur auf die Befriedigung meiner Privatinteressen richten und diese Befriedigung nicht von sich aus meinen Mitbürgern Rechnung trägt, muss ich mein Handeln verantwortungsvoll gestalten. Ich muss meine Macht bzw. den Gebrauch meiner Macht einschränken, wobei diese Einschränkung nicht als eine Einschränkung meiner Freiheit gedacht werden darf, denn meine Freiheit ist nicht mit meiner Macht identisch. Es ist die Aufgabe der Gesetze, meiner äußeren Freiheit jene Grenzen zu setzen, denen der Schutz meiner Mitmenschen bedarf. Wer sein Handeln nur solchen Gesetzen zu unterwerfen hat, die dieser letztgenannten Bedingung entsprechen, ist im politischen Sinne frei: Er ist zu nichts anderem verpflichtet als zu dem, was das Gesetz von ihm verlangt. Und das Gesetz verlangt nichts anderem von ihm, als was es von ihm verlangen darf. Indem der Mensch innerlich frei ist, sich also von seinen Begierden und Leidenschaften distanzieren kann, kann er sich auch autonom zum Handeln bestimmen, d. h. er kann immer entscheiden, ob und wie er auf die Bitte oder den Befehl eines anderen Menschen reagiert. Diese Dimension der Freiheit ist eine der wichtigsten für de Jouvenel, der die Macht immer vor dem Hintergrund des Gehorsams denkt, und den Gehorsam als Produkt einer individuellen Entscheidung, die, wenn der Entscheidende es gewollt hätte, auch anders hätte ausfallen können. Die Macht ist also nichts, das
Bertrand de Jouvenel und der Konservatismus
sich unsere Freiheit unterwirft, sondern sie resultiert vielmehr aus einem bestimmten Gebrauch unserer Freiheit. Der Leviathan, wie Hobbes ihn in seinem gleichnamigen Werk denkt, lebt nur solange, wie die ihn bildenden Individuen ihm freiwillig gehorchen. Meine Freiheit hängt in diesem Sinne von dem Gebrauch ab, den andere von ihrer Freiheit machen: Wenn sehr viele andere den Befehlen des Fürsten freiwillig gehorchen, dann kann meine politische Freiheit gefährdet sein, denn der Fürst hat, durch den Gehorsam der Vielen, genügend Macht, mich einzusperren oder gar zu töten. Die Freiheit die jeder hat, „Nein“ zu einem ungerechten Befehl zu sagen, ist die mächtigste Waffe gegen die Tyrannei. Wer das Bewusstsein dieser Freiheit verliert, lässt der Macht einen unendlichen Spielraum, auf dem sie sich uneingeschränkt entfalten kann. Mit dem Verlust dieses Bewusstseins kann auch ein anderes Freiheitsbewusstsein verloren gehen, nämlich das Bewusstsein der Freiheit, den Lauf der Dinge bestimmen zu können, also geschichtsmächtig zu sein, ein Punkt auf den ich schon vorher aufmerksam gemacht hatte, als ich kurz über de Jouvenels Arbeiten zur Vorhersage der Zukunft sprach. Wenn der Mensch seine Zukunft zwar nicht aus freien Stücken gestaltet, so kann er doch frei mit den vorgegebenen Stücken arbeiten und sich für eine der in ihnen steckenden Möglichkeiten entscheiden. Die Zukunft stellt uns nicht vor die Alternative „Eine einzige Zukunft oder eine unendlich große Anzahl von möglichen Zukunften“. Hinsichtlich der Zukunft ist der menschliche Wille weder vollkommen durch ein ihm vorgegebenes Schicksal gebunden, noch kann er absolut frei über die Zukunft bestimmen. Er steht vielmehr vor der Wahl zwischen mehreren konkreten Möglichkeiten, und er muss sich dann für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, wohl wissend, dass seine Wahl einen Einfluss auf die Möglichkeiten haben wird, die sich zu einem späteren Zeitpunkt vor ihm öffnen werden. Weder Fatalismus, also, der die menschliche Freiheit vollständig untergräbt, noch absolute Freiheit, die sich an keine wie auch immer geartete Vorgaben halten will und, bedient man sich der traditionellen Kategorien, eher den Namen „Willkür“ als den Namen „Freiheit“ verdient. Es ist diese schwierige Gratwanderung, die Bertrand de Jouvenel zu einem wahren Liberalen macht, zu einem Denker, der den Menschen als ein handlungsmächtiges Subjekt auffasst und damit weder als Automaten oder Sklave der Umstände, noch als reines Individuum das seinen persönlichen Willen zum absoluten Maßstab macht. 5.
Bertrand de Jouvenel und der Konservatismus
Hier lässt sich auch das konservative Element – das nicht unbedingt mit einem im schlechten Sinn des Wortes reaktionären Element gleich gestellt werden darf27 – im Heute wird das Wort „reaktionär“ eigentlich nur noch in einem negativen Sinn verstanden, so als ob es immer schlecht wäre, auf bestimmte Entwicklungen zu reagieren, um ihnen Einhalt zu gebieten – und sei es nur, um sich die nötige Zeit zum Nachdenken zu nehmen. 27
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Denken Bertrand de Jouvenels anführen. Im Gegensatz zu utopischen Denkern, glaubt der Franzose nicht, dass man eine Gesellschaft auf dem Reißbrett entwerfen kann, ohne dem Gegebenen im Geringsten Rechnung zu tragen, so als ob der menschliche Wille das Vorgegebene völlig missachten könnte und die ihm äußere Welt, die natürliche ebenso wie die soziale, sich immer so ordnen lasse, wie er sie ordnen möchte. Das, wie es ihm Französischen heißt, „faire table rase du passé“ – wortwörtlich: „einen reinen Tisch von der Vergangenheit machen“ – ist unmöglich, und wer sich gänzlich von der Vergangenheit und vom Vorgegebenen befreien will, wird früher oder später wieder von ihm eingeholt. Der Mensch, so sieht es de Jouvenel, wird immer in eine ihm vorgegebene Lebenswelt hineingeboren, und auch wenn diese Lebenswelt ihn nicht völlig determiniert – und sie determiniert auch nicht die weitere Geschichte der Gesellschaft –, so muss ihr doch Rechnung getragen werden, wenn wir uns vor dem Chaos und dem aus ihm hervorgehenden Despotismus bewahren wollen. Genauso wenig wie wir uns von der Natur befreien können, da wir auf sie und ihre Materialien angewiesen sind – weshalb es wichtig ist, sie zu erhalten –, können wir uns jemals ganz von unserer Lebenswelt befreien. Wer die Komplexität der Lebenswelt nach einem einfachen Muster rekonstruieren will, stürzt die Gesellschaft letztendlich in die Tyrannei (Du pouvoir, 225). Die französischen Revolutionäre sind ein Beispiel hierfür, und Bertrand de Jouvenel glaubt auch, dass jede Revolution, insofern sie die Gesellschaft radikal verändern will – und genau dieser Wille macht sie zur Revolution im eigentlichen Sinn des Wortes und erlaubt es, sie von der sogenannten „Palastrevolution“ zu unterscheiden, bei der nur die Köpfe der Regierenden sich ändern, die soziale und ökonomische Struktur des Landes aber gleich bleiben – zu einer Vergrößerung der Macht führen wird. Denn je mehr man verändern will, umso mehr Macht braucht man. Wer die Gesellschaft absolut verändern will, braucht demnach eine absolute Macht. Der Absolutismus ist demnach keine Theorie der bewahrenden, sondern eine Theorie der radikal verändernden oder, wie bei Hobbes, der, bei Null anfangend, neu gründenden Macht. Eine radikale Veränderung kommt eigentlich einer Neugründung gleich. Der principe nuovo, wie Machiavelli ihn nennt und in seinem Hauptwerk, dem Principe beschreibt, muss alle ihm unterworfenen Kräfte mobilisieren, um die neue Ordnung durchzusetzen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes revolutionäre Macht ist insofern immer eine absolute, wenn nicht sogar totalitäre Macht. Und es ist eine Macht, die keine andere Macht neben sich duldet und die demnach darauf bedacht sein wird, auch in dieser Hinsicht einen reinen Tisch zu machen und nichts zu bewahren, was sich in der Vergangenheit der bis dahin existierenden Hauptmacht entgegen gestellt hat. Wer die Gesellschaft neu gründen will, wird also auch die bislang existierenden Gegenmächte abschaffen, da sie einer Neugründung nur im Wege stehen können. Die Neugründung wird nämlich nur dann erfolgreich sein können, wenn man der politischen Macht, die sich der Aufgabe der Neugründung angenommen hat, freie Hand lässt. Und wo man sich von dieser Neugründung eine Gesellschaft erwartet, in dem
Bertrand de Jouvenel und der Konservatismus
es jedem gut gehen wird, können eventuelle Gegenmächte nur als Kräfte angesehen werden, die sich dem Glück der Menschheit in den Weg stellen. Für de Jouvenel sind solche Gegenmächte aber wichtig und erhaltenswert, da er nämlich kein absolutes Vertrauen in die politische Macht des Staates hat. Die den Regierenden anvertraute Macht kann nämlich nicht nur zum Guten der Menschheit benutzt werden, sondern auch zu ihrem Schaden. Und wie u. a. das 20. Jahrhundert gelehrt hat, ist ein die Menschheit ins Unheil stürzender Gebrauch der politischen Macht kein Hirngespinst. Das 1945 veröffentliche Werk Du pouvoir bringt de Jouvenels Sorge zum Ausdruck, dass sich dem neuen Minotaurus – wie er die staatliche Macht nennt – kein Thesäus entgegenstellen wird, der ihn umbringt oder auch nur zähmen kann. Dabei geht es Bertrand de Jouvenel nicht unbedingt darum, ganz bestimmte Institutionen zu bewahren, sondern wichtig ist für ihn, dass in der Gesellschaft die Funktion dieser Institutionen bewahrt wird. Wenn sich herausstellt, dass etwa der Adel, der sich dem königlichen Absolutismus widersetzte, nicht mehr als soziale Klasse bewahrt werden kann, dann sollte man doch danach trachten, ein funktionales Äquivalent des Adels in der Gesellschaft zu etablieren, so dass der neuen Figur der politischen Macht, nämlich dem demokratischen, auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruhenden Staat, ein Hindernis in den Weg gestellt wird. Je mehr die Macht des Staates sich vergrößert, umso mehr muss sich auch die Gegenmacht vergrößern. Hier dringt die, wie man sagen könnte, Tragik des Jouvenelschen Denkens durch28: Die Menschen brauchen die staatliche Macht, und sie brauchen sie umso mehr, als sich die gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen, usw. Bedingungen verändern. Und je schneller diese Veränderungen geschehen, umso schneller muss auf sie reagiert werden, wenn sie Menschen ins Elend stürzen. Eine Krise größeren Ausmaßes, wie es etwa die finanzielle und ökonomische Krise war, die Ende der 20er Jahre ausbrach und auch noch zum Teil die 30er Jahre markierte, verlangt nach einer staatlichen Reaktion, da nur der Staat dem Ausmaß der Krise gewachsen zu sein scheint. „Man brauchte also eine aktive Macht, und wie wurde dieser Wunsch verstärkt, als der Skandal der Arbeitslosigkeit sich durch die Inaktivität der Regierungen ausbreitete“, so de Jouvenel in einem kurzen Vorwort der 1972 veröffentlichten Neuausgabe von Du pouvoir (Du pouvoir, 6). Knegt, der die Tagebücher de Jouvenels konsultiert hat, weist darauf hin, dass der Autor von Du pouvoir den Widerspruch in seinem Denken schon 1943 bemerkt hat: Einerseits plädiert de Jouvenel für einen Staat der stark genug ist, um die Wirtschaft zu lenken, und andererseits wird er immer kritischer, was die Vergrößerung der staatlichen Macht betrifft (Knegt 2017, 149). Knegt, dem es in erster Linie darum geht, de Jouvenels Denken zu diskreditieren, gibt sich nicht die Mühe, nach den tiefen Ursachen dieses Widerspruchs zu suchen. Diese liegen in de Jouvenels Ideal einer dem Menschen würdige Gesellschaft. In seinen Augen kann nur eine Lenkung der Ökonomie zu diesem Ziel führen, aber diese Lenkung setzt eine Stärkung der staatlichen Macht voraus, die auch in den Dienst anderer Ziele gesetzt werden kann. In seinem Buch De la souveraineté deutet de Jouvenel auf die Lösung hin, die das traditionelle politische Denken für dieses Problem hatte: Der Begriff des Gemeinwohls und Herrscher, die sich zur Bewahrung und Förderung dieses Gemeinwohls verpflichtet fühlten. 28
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Einleitung
Der vormoderne Staat konnte sich auf seine ordnungsbewahrende Funktion beschränken, da die Ordnung sich so gut wie nicht veränderte. Im Jahr 1400 war die Lebenswelt der Menschen nicht wesentlich anders als im Jahr 1000. Wer im Jahr 1000 eingeschlafen wäre, um im Jahr 1400 zu erwecken, hätte kaum Unterschiede gemerkt. Ganz anders, wer im Jahr 1600 eingeschlafen wäre, um im Jahr 2000 aufzuwachen. Der moderne Staat hat es mit einer sehr dynamischen Gesellschaft zu tun, in welcher die Veränderungen sich beschleunigen und wo demnach auch die Lebenswelt der Menschen ihre stabilen oder quasi-stabilen Strukturen verliert. Der moderne Mensch, und das macht eben seinen modernen Charakter aus, gibt sich nicht mehr mit dem Gegebenen zufrieden, er will es stets verändern, seinen Bedürfnissen, Begierden und Wünschen gemäß gestalten, so dass die ständige Veränderung zum Prinzip der modernen Gesellschaft geworden ist, wobei man sich eine Veränderung so schnell wie möglich wünscht. Daraus ergibt sich aber ein Problem auf epistemischer Ebene: Das große Problem unserer Zeit ist, dass wir gleichzeitig wollen, dass sich die Dinge schneller ändern und dass die kommenden Dinge besser bekannt seien. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist, beides zu vereinbaren, aber eine solche Vereinbarung stellt ein Problem dar (L’art de la conjecture, 62)
In einer Welt, in der sich nichts ändert, weiß man, wie die Dinge morgen, übermorgen und bis ans Ende der Zeit sein werden. In einer solchen Welt braucht man eigentlich keine bewahrende29, und schon gar keine lenkende Macht. Je mehr Dinge sich aber verändern, je mehr die Dinge sich verändern und je schneller sich die Dinge verändern, umso nötiger wird eine bewahrende Macht – falls man Dinge bewahren will und falls sich die betreffenden Dinge bewahren lassen – und auch eine Macht, die die Dinge in eine gewünschte – und mögliche – Richtung lenken kann. Diese lenkende, in die Veränderungen eingreifende Macht ist nötig, wenn man davon ausgeht, dass die Dinge sich nicht spontan, von sich aus, in die gewünschte Richtung entwickeln. Wo Dinge sich entwickeln und man die Entwicklung nicht aufhalten kann, wird man zumindest versuchen, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und je größer die Macht der Dinge, umso größer muss auch die Macht sein, die sie lenkt. Die im Vergleich zur Vergangenheit immens große Macht des modernen, das Leben der Menschen lenkenden Staates ist demnach nicht vom Himmel gefallen und kann auch nicht als das bloße Produkt des Machtwillens einzelner Individuen betrachtet werden. Sie lässt sich auch soziologisch erklären.
Oder um genauer zu sein: Man braucht nur eine Macht, die das Gegebene behauptet oder bekräftigt. Wenn der Richter den Dieb verurteilt, so verurteilt er nicht jemanden, der die gegebene Ordnung stürzen wollte. Insofern unterscheidet sich der Dieb vom Revolutionär. Gegenüber dem Dieb behauptet man die vorgegebene Ordnung, gegenüber dem Revolutionär bewahrt man sie. 29
Bertrand de Jouvenel und der Konservatismus
Bertrand de Jouvenel glaubt, dass die u. a. technischen Veränderungen das Leben der Menschen in vielerlei Hinsichten verbessert haben, so dass er in seinem 1969 veröffentlichten Aufsatz ‚Technology as a Means‘ behaupten kann, dass wir auf keinen Fall bedauern sollten, jetzt, also im 20. Jahrhundert zu leben (Economics and the Good Life, 119), also im Zeitalter jener Civilisation de Puissance, die er 1976 in seinem gleichnamigen Buch beschreibt und deren Ursprung er ins 18. Jahrhundert zurück datiert. Bertrand de Jouvenel ist konservativ, er ist aber nicht reaktionär in dem Sinne, dass er das Blatt der Geschichte wieder ganz umdrehen und die Menschheit wieder in eine Zeit zurückführen will, in welcher sich nichts wesentlich änderte.30 „[T]he Arcadian ideal is quite dead […]“, heißt es in ‚A Better Life in an Affluent Society“ (Economics and the Good Life, 113). Man sollte es unter diesen Umständen nicht wieder aufleben lassen – falls es denn überhaupt jemals existiert hat. Die Rolle des Staates kann es also nicht sein, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen – ganz davon abgesehen, dass das Leben in der Vergangenheit gar nicht so ideal war, wie manche es sich vorstellen. Der amerikanische Durchschnittsarbeiter des 20. Jahrhunderts führt ein angenehmeres Leben als der Adlige des 15. Jahrhunderts. Die technischen Errungenschaften und die durch den Kapitalismus ermöglichte Massenproduktion von bestimmten Gütern werden auf keinen Fall als solche verurteilt. Aber die Rolle des Staates kann auch nicht darin bestehen, inaktiv zu sein und einfach zuzusehen, wie die Dinge sich verändern. In La crise du capitalisme américain, ein Buch, das 1933, also kurz nach der großen Krise und zu Beginn des New Deal erscheint, zeigt de Jouvenel auf eine detaillierte Art und Weise, was geschieht, wenn man Menschen gewähren lässt, die es nur auf die eigene Bereicherung abgesehen haben und dieses Ziel ohne jedweden Skrupel verfolgen. Haben die Menschen sich im 18. Jahrhundert das Recht erkämpft, sich ihr politisches Regime zu wählen, so fehlt ihnen bislang jede Möglichkeit, sich ihr ökonomisches Regime zu wählen, was bedeutet, dass sie dieses Regime erleiden müssen, ohne es auf irgendeine Weise mitzubestimmen (La crise du capitalisme américain, 9).31 Das wirtschaftliche Leben eines Landes ist aber von fundamentaler Bedeutung, und dies umso mehr, als die Ökonomie sich im Zuge der technischen Neuerungen rasch entwickelt. Wo die Wissenschaft die Kraft des Feuers bzw. der Wärme versteht und wo es der Technik gelingt, auf diesem Verständnis aufbauend, Maschinen zu bauen, die diese Kraft optimal ausnutzen, kann sich die Ökonomie dieser Maschinen bedienen, um die Produktion zu steigern. Diese Steigerung der Produktion wird aber einen gesamtgesellschaftlichen Einfluss haben. Wenn dem so ist, dann kann das ökonomische Leben dem Staat nicht gleichgültig sein. Auch wenn Bertrand de Jouvenel – und darin zeigt sich ein Aspekt seiner wesentDe Jouvenel ist höchstens in dem Sinne reaktionär, dass er auf bestimmte Ereignisse oder Entwicklungen reagiert, statt sie einfach hinzunehmen oder sich mit ihnen hinreißen zu lassen. 31 Er fügt aber gleich hinzu, dass die UdSSR hier eine Ausnahme bildet. 30
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Einleitung
lich liberalen Orientierung – die Verstaatlichung der Produktionsmittel und des Kapitals verwirft, wie sie zu seiner Zeit in der UdSSR besteht, so erkennt er doch gleichzeitig die Notwendigkeit, eine sich anarchisch entwickelnde Ökonomie in eine Richtung zu lenken, in welcher die Produktionssteigerung und die Schöpfung von Reichtum im Interesse der Menschen geschieht. Nur der Staat kann dazu beitragen, dass in einer Welt in welcher sich alles stets verändert, es trotzdem möglich bleibt, Zukunftserwartungen aufzubauen. Der Staat, so könnte man sagen, sollte die Orientierung des gesellschaftlichen Lebens am Gemeinwohl bewahren – was er aber immer weniger tut. In Du pouvoir identifiziert de Jouvenel den Liberalismus mit der Ansicht, dass der Staat sich nicht in die Ökonomie einmischen darf (Du pouvoir, 578). Diesen liberalen Gedanken bewahrt de Jouvenel insofern, als er dem Staat nicht die Entscheidungsmacht über die Produktion überlassen will. Aber er bewahrt auch den Gedanken des Gemeinwohls, der im klassischen liberalen Denken in erster Linie mit der Politik und nicht mit der Ökonomie in Verbindung gebracht wurde. Bertrand de Jouvenel will eine Gesellschaft, in welcher Eigennutz und Gemeinnutz sich nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig bedingen. 6.
Aufbau des Buches
Dieses Buch versucht, Bertrand de Jouvenels Staatsdenken zu rekonstruieren und dabei den unterschiedlichen Dimensionen dieses Denkens gerecht zu werden. Es schlägt eine Lektüre de Jouvenels vor, die ihn nicht, wie etwa Knegt es tut, auf den Rechtsextremismus oder gar Faschismus reduziert. Insofern kann die hier gemachte Lektüre als wohlwollend beschrieben werden – ohne dass aber de Jouvenels Kokettieren mit dem Faschismus unterschlagen wird. Sie will nicht einen Autor verdammen, weil er in seinem Leben Fehlentscheidungen getroffen hat32, ebenso wenig will sie ihn aber auch verherrlichen und als unkritisch zu übernehmendes Vorbild darstellen. Sie will vielmehr eine berechtigte Sorge artikulieren bzw. die Artikulierung dieser Sorge bei einem bestimmten Autor nachzeichnen. Das erste Kapitel nimmt das 1928 erschienene Buch L’économie dirigée zum Ausgangspunkt einer Darstellung von de Jouvenels Konzeption einer durch den Staat gesteuerten Wirtschaft. Es vermittelt somit einen Einblick in die Rolle, die de Jouvenel Auch wenn man sicherlich einen Autor und sein Werk nie radikal voneinander trennen sollte, so wäre es doch fehl am Platz, Autor und Werk derart miteinander zu identifizieren, dass das Werk nicht mehr unabhängig vom Autor gewürdigt werden kann. Und ebenfalls: Auch wenn man sicherlich das Werk eines Autors immer als Ganzes betrachten sollte, so wäre es doch fehl am Platz, aus der Präsenz bestimmter inakzeptabler Passagen zu schließen, dass man das ganze Werk verteufeln sollte. In Frankreich wurden einige Stimmen laut, die Heidegger ganz vom Programm des Philosophiekurses an Sekundarschulen streichen wollen – nicht, und das könnte man gegebenenfalls noch nachvollziehen, weil er zu schwer für Sekundarschüler ist, sondern wegen seiner Schwarzen Hefte und der dort ausgedrückten Gedanken. 32
Aufbau des Buches
in seinen frühen Jahren dem Staat in ökonomischen Fragen zugestand. Auch wenn seine diesbezüglichen Gedanken sich mit der Zeit entwickelt haben, so hat er doch niemals den Gedanken aufgegeben, dass die Ökonomie am Gemeinwohl orientiert bleiben sollte. Das zweite Kapitel geht auf de Jouvenels Auseinandersetzung mit dem Marxismus, dem englischen Nachkriegssozialismus und den Umverteilungsgedanken ein. In seinem dem Denken von Marx und Engels gewidmeten Buch setzt de Jouvenel sich mit der Frage auseinander, ob der realexistierende Sozialismus als Verrat an Marx oder als konsequente Verwirklichung der Marxschen Gedanken zu betrachten ist. De Jouvenel macht dabei den Unterschied zwischen dem ursprünglichen sozialistischen Gedanken und seiner Bürokratisierung. Das dritte Kapitel stützt sich vornehmlich auf de Jouvenels Hauptwerk Du pouvoir und thematisiert die vom Autor in einer historischen Perspektive dargestellte Vergrößerung der staatlichen Macht, wobei vor allem auf den Einfluss des Krieges bzw. der Kriegsgefahr auf diese Vergrößerung insistiert wird. Ganz allgemein ließe sich in dieser Hinsicht sagen: Je größer die Herausforderungen, denen sich eine Gesellschaft stellen muss, umso größer das Risiko, dass der Staat sich die Mittel nimmt, diesen Herausforderungen zu begegnen, und je größer demnach auch die Mittel selbst. Das vierte Kapitel geht auch hauptsächlich von Du pouvoir aus und behandelt die Frage der sich der staatlichen Macht entgegen setzenden Gegenmächte. Insofern er ein Liberaler ist, begnügt de Jouvenel sich nicht mit der Diagnose der sich ausbreitenden staatlichen Macht, sondern er sucht auch nach Möglichkeiten, sich dieser Ausbreitung entgegen zu setzen. Allerdings muss er feststellen, dass viele der traditionellen Hindernisse nicht mehr wirksam sind bzw. der sich stets ausbreitenden Macht schon zum Opfer gefallen sind. Im fünften und letzten Kapitel stehen die Aufsätze im Vordergrund, die de Jouvenel ab Ende der 50er Jahre verfasst und die in zwei Sammelbänden – Arcadie und Economics and the Good Life – veröffentlicht wurden.33 In diesen Texten zeigt sich de Jouvenels Hinwendung von der politischen Ökonomie zur politischen Ökologie und sie werfen die Frage nach der Rolle des Staates beim Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen auf, eine Frage die, wie auch die anderen von de Jouvenel aufgeworfenen Fragen, immer noch aktuell ist.
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Manche Aufsätze sind in beiden Bänden enthalten.
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I.
Der Staat und die Lenkung der Ökonomie
Einleitung
„Es ist höchste Zeit, dass die Nation wieder einen Staat schaffe“ (L’économie dirigée, 84), so Bertrand de Jouvenel in seiner ersten bedeutenden Schrift, die er im Verlag Librairie Valois publiziert, und dort in der Reihe Bibliothèque syndicaliste. Das 194seitige Buch trägt als Untertitel: Le programme de la nouvelle génération – das Programm der neuen Generation, eine Generation, zu der er sich selbst zählt und die mit der traditionellen Politik brechen will. Die Erstausgabe kündigt auch schon das Erscheinen eines neuen Buches des damals 25jährigen de Jouvenel an, nämlich La politique à vingt ans – Die Politik mit zwanzig Jahren Diese letztgenannte Schrift erscheint in der Zeitschrift Notre Temps, in welcher de Jouvenel auch schon jene Texte veröffentlicht hatte, die im November 1928 in Buchform unter dem Titel L’économie dirigée erscheinen werden. Im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg sucht sich Bertrand de Jouvenel einen Platz in den Reihen idealistischer junger Männer, die denken, dass es an der Zeit ist, die Lektionen aus dem Desaster des Krieges zu ziehen und Europa, und sogar die Welt, auf den Weg des Friedens und des allgemeinen Wohlstands zu bringen. In einem 1924 erschienenen und gemeinsam von Jean Luchaire und Bertrand de Jouvenel verfassten Artikel mit dem Titel ‚Premiers principes d’une politique de bon sens‘ – Erste Prinzipien einer Politik des gesunden Menschenverstandes – heißt es: „Was das Volk vom Staat verlangt, was das Land von der Politik seiner Regierenden verlangt, ist der größtmögliche Wohlstand eines jeden Bürgers“ (zitiert in: Dard 2008, 37). Hier werden zwei Elemente hervorgehoben, und zwar einerseits der größtmögliche Wohlstand und andererseits die Verteilung dieses Wohlstands auf jeden Bürger. Setzt man die eben zitierte Stelle mit der eingangs zitierten in Verbindung, so lässt sich schließen, dass der damals in Frankreich bestehende Staat seine Aufgabe nicht erfüllt. Die staatlichen Institutionen existieren zwar noch und sie besitzen auch noch immer eine bestimmte Wirksamkeit – Frankreich befindet sich also nicht in einem Hobbesschen Naturzustand und wir sind auch weit entfernt von den Zuständen des 16. Jahrhunderts, als die Religionskriege die staatliche Einheit gefährdeten oder sogar
Einleitung
zerstört hatten –, aber anstatt im Dienst des Allgemeinwohls zu stehen, werden sie von Privatinteressen parasitiert und zu deren Befriedigung benutzt. Es gilt demnach, so de Jouvenels Programm, den Staat aus den Fängen dieser Privatinteressen zu befreien und ihn in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen. Dieses Allgemeinwohl sollte allerdings nicht unabhängig vom Wohl der Individuen verstanden werden, denn, so de Jouvenel, „der demokratische Staat ist für das Individuum gemacht“, „[d]er Staat ist nur unser Intendant“ (L’économie dirigée, 192). Der demokratische Staat handelt also im Dienste des Individuums und er bezieht seinen Wert einzig und allein daraus, dass er diesen Dienst gut leistet. Wir bewegen uns also hier im Rahmen eines individualistischen Paradigmas, in welchem der Staat nicht als Selbstzweck gedacht, sondern als Mittel konzipiert wird, und zwar als Mittel im Dienste der Individuen und ihrer Interessen und Bedürfnisse. Wie der Intendant des Königs im Ancien Régime ein bestimmtes Gebiet im Interesse des Königs verwaltete, so müssen die Regierenden das Land und seinen Reichtum im Interesse des Volkes verwalten. Der Staat wird hier in einer ökonomischen Perspektive gedacht. De Jouvenels Ansicht steht etwa derjenigen des jungen Carl Schmitts entgegen, der zunächst die Alternative „entweder ist der Staat der Diener des Individuums oder des Rechts“ aufstellt, um sich dann ganz entschieden für das zweite Glied der Alternative – der Staat ist der Diener des Rechts – zu entscheiden (Schmitt 2004, 86). Zeit seines Lebens wird de Jouvenel es ablehnen, den Staat – nur oder hauptsächlich – als im Dienste einer ihm übergeordneten abstrakten Idee stehend zu sehen, und auch wenn er in dem eingangs dieser Einleitung zitierten Satz von der „Nation“ spricht, die nach einer Neugestaltung des Staates verlangt, so sollte diese „Nation“ auf keinen Fall mit einem corpus mysticum gleichgesetzt werden, das Interessen hat, die denjenigen der Individuen fremd sind, aus denen sich die Nation zusammensetzt. De Jouvenel hat an mehreren Stellen seiner Schriften die Gefahren einer Mythisierung der Nation angedeutet (Les débuts de l‘Etat moderne, 92; Du pouvoir, 91). Das Volk bzw. die Nation sind nichts anderes als die Summe der vielen einzelnen Bürger. Ist L’économie dirigée auch aus einer Unzufriedenheit mit der französischen Politik der 20er Jahre entstanden, so deutet de Jouvenel doch auch auf den ersten Seiten des Buches an, dass man es vor einem weit größeren Hintergrund betrachten muss, nämlich vor dem Hintergrund jener gesellschaftlichen Revolution, die uns vor allem im 19. Jahrhundert von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft geführt hat und die mehr als nur oberflächliche Veränderungen mit sich gebracht hat (L’économie dirigée, 8). Was für Alexis de Tocqueville der Übergang von der aristokratischen zur demokratischen Gesellschaft ist, ist für die de Jouvenel der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Dieser Übergang betrifft nicht bloß die Produktionsweise, sondern prägt auch die Ideen, die die Menschen sich von sich selbst, von ihren Relationen und von der Welt im Allgemeinen machen. Die Geisteswelt einer Industriegesellschaft
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Der Staat und die Lenkung der Ökonomie
ist eine ganz andere als diejenige einer Agrargesellschaft.34 So tritt etwa an die Stelle des Fatalismus des Landwirtes – denn was kann er gegen das Klima tun, von welchem seine Ernte abhängt? – der Voluntarismus des Menschen in der Industriegesellschaft – auf die industrielle Produktion kann der Mensch nämlich einwirken. Der Mensch in der Agrargesellschaft unterwarf sich den Bedingungen, der Mensch in der Industriegesellschaft unterwirft sich die Bedingungen, oder zumindest strebt er danach, auf die äußeren Bedingungen einzuwirken, um sie seinen Bedürfnissen gemäß zu gestalten. De Jouvenel hätte demnach, genauso wie zu seiner Zeit Tocqueville, sagen können, ein neues Zeitalter brauche eine neue politische Wissenschaft. Diese neue politische Wissenschaft muss die Regierenden bei der Gestaltung der neuen Gesellschaft beraten, damit es ihnen gelingt, den Staat jene Aufgabe erfüllen zu lassen, für dessen Erfüllung er existiert. Die Nation muss einen Staat schaffen, der sie auf dem Weg von der Agrarzur Industriegesellschaft begleitet und es ihr erlaubt, alle Früchte dieses epochalen Ereignisses zu ernten. De Jouvenel glaubt nämlich nicht, dass man die Ökonomie sich selbst überlassen kann, wenn man will, dass alle von der industriellen Revolution profitieren. Auf der anderen Seite ist de Jouvenel aber auch davon überzeugt, dass eine dem Staat vollständig unterworfene Wirtschaft, wie sie in der damaligen UdSSR bestand, keine Lösung ist. Es geht ihm demnach darum, einen dritten Weg zwischen dem klassischen laissez faire Liberalismus und dem Sozialismus bzw. Kommunismus zu finden, einen Weg, auf dem das Wirtschaftsleben sich zwar gemäß seinen eigenen Gesetzen entwickeln kann, aber innerhalb eines vom Staat gesetzten Rahmens. Nur so kann sichergestellt werden, dass die ökonomische Eigengesetzlichkeit allen zu Gute kommt und nicht nur einigen Privilegierten. Auch wenn L’économie dirigée nicht mit Tocquevilles De la démocratie en Amérique – in welcher die neue politische Wissenschaft entwickelt wird – verglichen werden kann, so lässt de Jouvenels Buch doch genügend Züge der neuen, für die Industriegesellschaft angemessene Politik erkennen. Dabei betont der Autor gleich zu Beginn seines Buches, dass ihm nicht daran gelegen ist, eine Utopie zu entwerfen und die konkrete Wirklichkeit dem utopischen Korsett anzupassen.35 Vielmehr will er die sich in der Wirklichkeit vollziehenden Entwicklungen begleiten, und zwar so, dass sie den Menschen, und zwar allen Menschen profitieren. Auch hier ist ein Vergleich mit Tocqueville angebracht, für den es nicht darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse einem
Montesquieu hätte von einem „esprit“, Tocqueville von „moeurs“ und Marx von „(ideologischem) Überbau“ gesprochen. 35 Bertrand de Jouvenel verwirft die Utopien nicht als solche. Utopien sind „schöne Bilder, die es schön ist, von Jahrhundert zu Jahrhundert den Menschen zu zeigen“, aber es wäre gefährlich, das als „ein nachzuahmendes Modell zu nehmen, was nur ein zu meditierendes Ideal war“ (L’économie dirigée, 120). Die Politik muss stets von der gegebenen Wirklichkeit ausgehen und die Möglichkeiten erkennen, die konkret gegeben sind. 34
Privatinteressen und Allgemeininteressen
den real existierenden Menschen nicht zugänglichen Ideal anzugleichen36, sondern die Demokratisierung der Gesellschaft zu begleiten und sie davon abzuhalten, in einen demokratischen Despotismus zu münden. Aber da wo es Tocqueville in erster Linie darum geht, dass der Staat auf die kulturellen oder geistigen Faktoren einwirkt, konzentriert sich de Jouvenel auf die ökonomischen Faktoren. In diesem Beitrag werde ich zunächst auf die Gegenüberstellung von Privat- und Allgemeininteressen eingehen und zeigen, dass für de Jouvenel eine Übereinstimmung dieser beiden Interessen zu Stande gebracht werden soll. Diese Gegenüberstellung entspricht übrigens der Gegenüberstellung von Liberalismus und Kommunismus, auf die ich im zweiten Teil des Beitrags zu sprechen komme. Die beiden letzten Teile befassen sich dann direkt mit der Frage des Staates und seiner Beziehung zur Wirtschaft. Zunächst wird de Jouvenels Kritik der bestehenden Verhältnisse dargestellt, unter denen der Staat von den Industriellen und Bankiers instrumentalisiert wird. Dieser Instrumentalisierung gilt es entgegenzuwirken, wobei ein Umdenken nötig ist. Der Staat, so de Jouvenel, soll die Wirtschaft lenken, so dass die Produktion, statt nur der Logik der Privatinteressen zu folgen, auch und vor allem in den Dienst des Allgemeinwohls gestellt wird. Genauer gesagt geht es de Jouvenel darum, das Wirtschaftsleben in einen Rahmen zu stellen, innerhalb dessen die ihr Eigeninteresse verfolgenden Menschen zugleich, auch ohne es bewusst zu wollen, das Allgemeinwohl fördern. 1.
Privatinteressen und Allgemeininteressen
In seiner berühmten Fable of the bees wollte Bernard de Mandeville zeigen, wie, „those very Vices of every Particular Person by skilful Management were made subservient to the Grandeur and worldly Happiness of the whole“ (Mandeville 1970, 55). Das Gedicht und der mit ihm zusammenhängende Kommentar richten sich gegen Denktraditionen, die den Luxus und das üppige Leben der Reichen verurteilten. Eine solche Verurteilung ging sowohl vom klassischen Republikanismus – für den der Luxus, u. a., die für ein republikanisches Gemeinwesen wesentlichen Tugenden untergrub – als auch vom Christentum aus – Stand nicht im Evangelium, dass es für ein Kamel leichter wäre, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, ins Himmelreich zu kommen? Der republikanische Bürger sollte nur die, mit Mandeville gesprochen, „Grandeur“ seines Vaterlandes kennen, und der Christ sollte nur an seine, diesmal Mandeville adaptierend, „otherworldly Happiness“ denken. Dem ersten sollte der Luxus Mehr als einmal weist Tocqueville darauf hin, dass die Demokratie die Epoche des Kleinen einläutet, das im Gegensatz zu der Größe des aristokratischen Zeitalters steht. Aber er denkt keinen Augenblick daran, aus den demokratischen Menschen große Menschen zu machen – denn er weiß, dass das Ideal der Größe sie nicht mehr anzieht. Die demokratische Gesellschaft ist nicht die, absolut gesehen, beste Gesellschaft, aber es ist die beste Gesellschaft, die sich mit dem krummen Holz des demokratischen Menschen, wen nicht sogar des Menschen überhaupt, verwirklichen lässt. 36
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wenn nötig durch Gesetze verboten werden, und dem zweiten sollte von der Kanzel herab die Gefahren des Luxus für das Seelenheil gezeichnet werden. Für beide war der Luxus ein Laster, und da man davon ausging, dass Laster an sich schlecht sind und es immer und unter allen Umständen sind, wurde der Reichtum und das mit ihm einher gehende üppige Leben verurteilt. Bernard de Mandeville ist nicht primär am Seelenheil des Christen interessiert und beschränkt seine Überlegungen auf das weltliche Glück. Seine Frage ist also nicht, ob die Laster von X das himmlische Wohl von X fördern – das tun sie sozusagen per definitionem nicht –, sondern ob diese Laster einen Beitrag zum irdischen Wohl aller anderen Individuen leisten – wobei vorausgesetzt wird, dass sie das Wohl von X fördern, ansonsten er sich ihnen ja nicht hingeben würde. Es geht ihm nicht darum zu wissen, ob X, aus Sorge um sein himmlisches Wohl, seine Laster aufgeben sollte, sondern ob alle anderen Individuen, denen das himmlische Wohl von X eigentlich gleichgültig sein kann, einen guten, weltlich bestimmten Grund haben, X daran zu hindern, gegebenenfalls durch das Gesetz, seinen Lastern zu frönen. Schaden die Laster von X dem weltlichen Wohl seiner Mitmenschen bzw. schaden alle Laster von X diesem Wohl? Da wo Bertrand de Jouvenel fragt: „Ist unsere ökonomische Struktur ihrer Natur nach dazu geeignet, uns zum größtmöglichen Wohlstand zu führen?“ (Economie dirigée, 13), könnte Bernard de Mandeville fragen: „Ist unsere moralische Struktur ihrer Natur nach dazu geeignet, uns zum größtmöglichen Wohlstand zu führen?“. Die Fable of the bees gibt eine positive Antwort auf diese Frage: Würden die Reichen keine Luxusgüter begehren bzw. hätten die Menschen keine Reichtümer mehr, um sich Luxusgüter zu leisten, würden sehr viele Menschen keine Arbeit mehr haben und sie würden dadurch in das Elend fallen. Der Reichtum und die Ausgaben der Reichen tragen zum (relativen) Wohlstand der Armen bei „[T]he very Poor / Lived better than the Rich before“ (Mandeville 1970, 69), heißt es etwa an einer Stelle des Gedichtes. Die Laster der Reichen sind also sozusagen der Preis für den Wohlstand der Armen, und würden diese Laster abgeschafft, so würde auch, wie das Gedicht es zeigt, die Situation der Massen und damit das allgemeine Wohl stark darunter leiden. Die Moral des Gedichtes kann demnach mit den Worten beginnen: „Then leave Complaint: Fools only strive / To make a Great an honest Hive“ (Mandeville 1970, 76). Man kann nicht beides haben, individuelle Tugend eines jeden Menschen und allgemeinen Wohlstand. Will man, dass es möglichst vielen Menschen ökonomisch (relativ) gut geht, so muss man das Laster akzeptieren. Das Laster wird dadurch nicht zur Tugend, aber es wird dennoch gerechtfertigt. In seinem Aufsatz ‚A better Life in an Affluent Society‘ zeigt de Jouvenel, wie sich ab dem 18. Jahrhundert die Haltung gegenüber dem individuellen und allgemeinen materiellen Wohlstand ändert, eine Änderung die u. a. dadurch bedingt ist, dass mit den neuen sozialen, ökonomischen, technischen, usw. Bedingungen eine, könnte man sagen, Demokratisierung des Wohlstands denkbar wird (Economics and the Good Life, 98 ff.). Fragt man einen Menschen der neuen Gesellschaft, einen „resident of the
Privatinteressen und Allgemeininteressen
City of Productivity“, wie de Jouvenel ihn an einer Stelle nennt (Economics and the Good Life, 108), ob er die Verallgemeinerung der Tugend oder die Verallgemeinerung des Wohlstands will, so wird er ohne großes Zögern das zweite Glied der Alternative wählen. Obwohl er alles andere als blind für die negativen Konsequenzen der Industriegesellschaft und des mit ihr einher gehendem Produktivismus ist, weiß Bertrand de Jouvenel ganz gut, dass die Verbesserung der ökonomischen und materiellen Situation der Massen nur um diesen Preis zu haben war. Und an diejenigen gerichtet, die den Kapitalismus und die Kapitalisten verurteilen, schreibt er in einem ‚The Treatment of Capitalism by Continental Intellectuals‘ überschriebenen Aufsatz: Dare we deny that the immense improvement which has occurred in the condition of the toiling many is chiefly the work of the businessmen? (Economics and the Good Life, 152).
Die von vielen Linksintellektuellen – sie sind hier de Jouvenels Zielscheibe – verhassten „businessmen“ sind notwendig, wenn man den von diesen selben Linksintellektuellen gewollten allgemeinen Wohlstand will. Genauso wie man laut Mandeville Menschen braucht, die sich ihren Lastern hingeben, braucht man laut de Jouvenel Menschen, die ihren privaten Reichtum vermehren möchten – ein privater Reichtum der nicht die allgemeine Armut, sondern den allgemeinen Reichtum schafft. Er wird nicht müde, eine Inkohärenz bei vielen Linksintellektuellen zu diagnostizieren: Einerseits wollen sie eine Bereicherung der Gesellschaft, andererseits verurteilen sie aber eine Bereicherung der Individuen (The Ethics of Redistribution, 12). Für de Jouvenel kann die Gesellschaft aber nur reich werden, wenn man auch den Individuen die Möglichkeit lässt, reich zu werden. Aber, und dies ist ein Gedanke, den man bei ihm nie aus den Augen lassen darf, muss die Bereicherung der Gesellschaft als Ziel den größtmöglichen Wohlstand aller Individuen haben. Die individuelle Bereicherung ist demnach terminus a quo und terminus ad quem, wobei man von einigen reichen bzw. wohlhabenden Individuen ausgeht, um einen Zustand herzustellen, in dem möglichst viele Individuen reich oder wohlhabend sind.37 In der ganz zu Beginn dieses Teils zitierten Passage deutet Mandeville allerdings darauf hin, dass man einen „skilful Management“ braucht, damit die privaten Laster dem Allgemeinwohl dienen. Und in der Moral des Gedichts schreibt er ausdrücklich: „So Vice is beneficial found, / When it’s by Justice lopt, and bound“ (Mandeville 1970, 76). Die Gerechtigkeit hält die Menschen allerdings nur davon ab, einander zu schaden, so dass sie eigentlich noch nicht genügt, um das Laster auch „beneficial“ zu machen. Dazu bedarf es jenes „skilful Management“, auf das Mandeville aber nicht genau eingeht, ohne das aber kein Zustand hergestellt werden kann, in dem „Vertue […] / Made Friends with Vice“ (Mandeville 1970, 68). Vor allem ab den 50er Jahren wird de Jouvenel neben der bloß quantitativen Dimension des Wohlhabens auch dessen qualitative Dimension berücksichtigen. 37
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Mandevilles primäres Ziel ist der Nachweis, dass der Reichtum der wenigen dem Wohlstand der vielen de facto dienlich ist und deutet damit implizit an, dass man es sich zweimal überlegen sollte, bevor man die Laster der Reichen verurteilt und eine reine Tugendrepublik einführen will. Ein solches Beweisziel ist ebenfalls dem frühen de Jouvenel nicht fremd, da auch er beweist, dass unter den gegebenen sozio-ökonomischen Bedingungen „die Kollektivität ein Interesse an der Konzentration des Reichtums“ hat (L’économie dirigée, 115), da nur diese Konzentration sicherstellen kann, dass die nötigen Investitionen für eine größere Produktion getätigt werden – und ohne eine solche Erhöhung der Produktivität werden die Armen weiter im Elend leben. Bertrand de Jouvenel ist sich aber der Gefahren einer solchen Konzentration bewusst und er stellt diesen Zustand nicht als ideal bzw. als nicht zu verändernden Zustand dar, sondern er strebt nach einer anderen ökonomischen Struktur. Diese übernimmt aber viele Elemente der alten. Dabei obliegt es den Regierenden, diese neue ökonomische Struktur bzw. ein neues Verhältnis zwischen der Politik und der Ökonomie ins Leben zu rufen. Sie müssen „allgemeine Bedingungen bestimmen, derart, dass das Individuum ein Interesse daran hat, das zu tun, was dem allgemeinen Interesse dient“ (L’économie dirigée, 109). Für Mandeville stellte sich dieses Problem nicht, da von den Reichen eigentlich nichts anderes „verlangt“ war, als dass sie weiter in ihren Lastern schwelgen und sich ihnen hingeben. Man brauchte die Aristokraten nicht dazu aufzufordern, Schlösser zu bauen und große Feste zu veranstalten, denn sie taten das schon von sich aus. Die Fable of the bees will also nicht den Reichen deutlich machen, dass es gut ist, dass sie sich ihren Lastern hingeben bzw. sie will sie nicht mit ihrem lasterhaften Leben versöhnen, sondern sie will vielmehr den potentiellen Sozialreformatoren zeigen, dass sie sich, sofern der allgemeine Wohlstand ihnen nicht gleichgültig ist, mit der Existenz der Laster abfinden sollten und sogar in dieser Existenz etwas Positives – wenngleich nur in ihrer instrumentellen Dimension – sehen sollten, das es nicht zu bekämpfen gilt, sondern wenigstens zu akzeptieren, wenn nicht sogar, aber das wäre vielleicht zu viel von ihnen verlangt, zu fördern. Den Freunden der „Vertue“ soll gezeigt werden, dass sie sich mit dem Laster anfreunden sollten, da das Laster positive Konsequenzen hat. Bertrand de Jouvenel bedient sich nicht der Kategorien der Tugend und des Lasters, sondern geht einfach von dem Eigeninteresse einerseits und dem Allgemeinwohl bzw. Allgemeininteresse andererseits aus. Dabei will er zeigen, dass das Allgemeinwohl sich mit dem Eigeninteresse anfreunden sollte, da dieses Eigeninteresse, wenn man es in einen angemessenen Rahmen setzt, das Allgemeinwohl fördert. Dies führt ihn zu einer Gegenüberstellung von klassischem Liberalismus – der, zumindest in einigen Versionen, die Dimension des Allgemeinwohls ignoriert38 – und Kommunismus – der das Eigeninteresse nicht nur ignoriert, sondern radikal überwinden will. Bestimmte zeitgenössische Fassungen des Liberalismus sind auch auf diesem Auge blind. Ein Liberalismus der behauptet, dass es keine politischen Pflichten gibt, übersieht, dass die Freiheit sich nicht von selbst 38
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„Ich bin kein Kommunist“, kündigt Bertrand de Jouvenel gleich zu Beginn von L’économie dirigée an (L’économie dirigée, 12), um sich sofort gegen einen Vorwurf zur Wehr zu setzen, dem man ihm bei der Lektüre des Buchtitels machen könnte. Eine ähnlich klare Absage an den Liberalismus findet man nicht im Buch, was de Jouvenel aber nicht daran hindert, sich auch in manchen Hinsichten von diesem und bestimmter seiner Prämissen zu distanzieren. Kommunismus und Liberalismus sind in seinen Augen zu einseitig, und eine für die Gesellschaft seiner Zeit adäquate Theorie verlangt, eine Synthese – durchaus im Hegelschen Sinne – zu finden. War der Liberalismus – nur das Eigeninteresse – die These, und der Kommunismus – nur das Allgemeininteresse – die Antithese, so muss die Synthese sowohl das Element des Eigeninteresses wie auch dasjenige des Allgemeininteresses berücksichtigen. Bertrand de Jouvenel beurteilt den Kommunismus und den Liberalismus vom Standpunkt ihrer Wirksamkeit. Das Ziel der Gesellschaft und des Staates, so wie de Jouvenel sie verstanden wissen will, ist die vollständige Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der großen Masse (L’économie dirigée, 110). Dieses Ziel ist auch der Maßstab, an dem der jeweilige Wert des Kommunismus und des Liberalismus gemessen werden muss. De Jouvenel positioniert sich also nicht a priori oder ideologisch, sondern er untersucht die konkreten Auswirkungen der beiden Organisationsweisen. Das bedeutet u. a., dass er nicht vom Prinzip der Unantastbarkeit des Privateigentums ausgeht und daraus auf die Unannehmbarkeit des Kommunismus schließt. Vielmehr historisiert er dieses Prinzip und fragt etwa, ob das in einer individualistischen Agrargesellschaft entworfene Prinzip des Privateigentums auch noch einen Sinn in einer Industriegesellschaft haben kann bzw. ob es auch noch in einer solchen Gesellschaft seinen Zweck erfüllen kann (L’économie dirigée, 14). Politische oder gesellschaftliche Theorien und die von diesen Theorien entworfenen Institutionen sollten nicht in abstracto beurteilt werden, sondern immer vor dem Hintergrund der real existierenden Verhältnisse, und aus der Tatsache, dass der Liberalismus für eine bestimmte Gesellschaftsform gut war, folgt noch nicht, dass er es auch für eine andere, ihr ganz unähnliche sein muss. In ihrer Reinform sind sowohl der Kommunismus als auch der Liberalismus ein Hindernis für den Fortschritt. Unter Fortschritt muss hier alles verstanden werden, was dem vorhin genannten Ziel förderlich ist, also alles was dazu führt, dass die elementaren Bedürfnisse der großen Masse besser bzw. optimal befriedigt werden können. erhält, sondern verteidigt werden muss. Und eine solche Verteidigung setzt politisches Engagement voraus. Dieses Engagement setzt seinerseits eine angemessene Kenntnis der Situation voraus. Insofern kommt der Liberalismus nicht ohne eine bestimmte Portion Perfektionismus aus, wenn er eine liberale Gesellschaft will, die dauerhaft ist.
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Als er die Economie dirigée verfasst, lebt die Sowjetunion schon seit einem Jahrzehnt unter einem politischen Regime, das sich offiziell zum Kommunismus bekennt. 1921 hatte Lenin die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt, die bis 1929 – also das Jahr nach dem Erscheinen von de Jouvenels Buch – in Kraft bleiben wird. Auch wenn man die NEP selbstverständlich nicht als freie Marktwirtschaft bezeichnen kann, so macht sie doch einige Zugeständnisse an deren Prinzipien, so dass de Jouvenel schreiben kann, dass diese Politik „den Gründern von Betrieben eine unbeschränkte Fähigkeit [gibt], sich zu bereichern“ (L’économie dirigée, 29). Das widerspricht natürlich den Dogmen des reinen Kommunismus, der zwar die Notwendigkeit der privaten Kapitalakkumulation in den vorsozialistischen Gesellschaften anerkennt, nicht aber nach dem Sieg der proletarischen Revolution. Mit Mandeville gesprochen ist die private Kapitalakkumulation, aus einer orthodox kommunistischen Sicht, ein privates Laster, das es in einer sozialistischen Gesellschaft mit allen Mittel zu bekämpfen gilt, statt es zu fördern oder zumindest zu dulden. Der reine Kommunismus, wie ihn Stalin 1929 mit dem ersten Fünfjahresplan und in den folgenden Jahren mit der Dekulakisierung durchsetzen wird, sieht von den Individuen und deren Interessenbefriedigung ab und sieht nur die politische Gemeinschaft als Ganzes. Der produzierte Reichtum muss der politischen Gemeinschaft als Ganzer zugute kommen, muss dazu beitragen, ihre – von den Regierenden definierten – Interessen zu befriedigen. So wollte Stalin die UdSSR nicht zu einem Land machen, in welchem alle Menschen sich angemessen ernähren und unter dezenten Bedingungen leben konnten, sondern zu einem Land, das sich mit den Vereinigten Staaten in einem internationalen Prestigewettbewerb messen konnte. Der Staat stand nicht im Dienste des Wohlstands seiner Bürger, sondern die Bürger standen im Dienst der Größe und des Prestiges des Staates. Auf manchen Gebieten – man denke etwa an die Weltraumfahrt mit dem Sputniksatelliten, der Hündin Laika und dem Kosmonauten Yuri Gagarin – hat die UdSSR diesen Wettbewerb gewonnen. Er konnte aber nur gewonnen werden, weil das politische Regime die Arbeiter unter oft unsäglichen Bedingungen arbeiten ließ. Als de Jouvenel 1928 sein Buch verfasste, war Stalin zwar schon seit 4 Jahren an der Macht, aber er hatte seine menschenverachtende Politik noch nicht in großem Ausmaß durchsetzen können, so dass man bei de Jouvenel noch keine Hinweise auf die Arbeitsbedingungen in der UdSSR findet. Hätte er das Buch zehn Jahre später geschrieben, wäre seine Kritik am Kommunismus noch viel schärfer ausgefallen.39 Seine Kritik am Kommunismus geht von dessen Prämisse aus, dass, zumindest in einer Anfangsphase, der Staat der Besitzer aller Produktionsinstrumente ist, das also das Regime des Staatssozialismus vorherrscht. Unter diesen Umständen sind alle Arbeiter und Angestellte Staatsbeamte. Sie beziehen einen bestimmten Lohn vom Staat, Siehe hierzu etwa Marx et Engels: la longue marche oder den Aufsatz ‚On the Character of the Soviet Economy‘. 39
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und solange sie diesen Lohn beziehen, ist es ihnen eigentlich gleichgültig, wie viel sie produzieren. Sie haben also prinzipiell kein persönliches Interesse an einer Ausweitung der Produktion. Und wenn man davon ausgeht – und eine auch schon ganz elementare Kenntnis der menschlichen Psychologie erlaubt es uns, diesen Ausgangspunkt zu nehmen –, dass der Mensch in den allermeisten Fällen das tut, was im Sinne seines persönlichen Interesses ist, so wird man schlussfolgern müssen, dass in einer nach dem Prinzip des Staatssozialismus organisierten Gesellschaft die Produktion stagnieren wird, was seinerseits mit sich bringt, dass die elementaren Bedürfnisse der großen Masse nicht optimal, wenn überhaupt, befriedigt werden. Wo weniger produziert wird, wird, ceteris paribus, auch weniger konsumiert. Wie schon vorhin erwähnt wurde, konnte de Jouvenel nicht wissen, dass Stalin das persönliche Interesse auf eine ganz spezielle Art und Weise mobilisieren würde, nämlich durch das Schaffen eines generalisierten Angstklimas: Jeder hatte ein persönliches Interesse daran, sein Soll zu erfüllen, ansonsten er eventuell riskieren konnte, als Volks- oder Staatsfeind verurteilt zu werden. Nicht die Hoffnung auf Bereicherung, sondern die Angst vor dem Tod oder der Verschleppung nach Sibirien – ein sozusagen verzögerter Tod – war hier das Motiv. Sieht man von diesem Motiv ab, und sieht man auch von der Möglichkeit ab, dass sich die Arbeiter und Angestellten derart mit dem Staat und seinem Prestige identifizieren, dass ihr persönliches Interesse in nichts anderem besteht, als dass der eigene Staat und das eigene Volk im internationalen Wettbewerb als Sieger hervorgehen, so wird man mit Bertrand de Jouvenel feststellen müssen, dass es in einem staatssozialistischen Regime eigentlich kein persönliches Interesse gibt, mehr zu produzieren. Und darin liegt für de Jouvenel die Hauptschwäche des Kommunismus: „Im reinen Kommunismus, wo jeder an eine bestimmte Aufgabe gebunden ist, ein- für allemal und mit einem fixen Lohn, würde der ökonomische Fortschritt durch die Routine gestoppt“ (L’économie dirigée, 98–99). Warum sollte man mit der Routine brechen, wenn einem ein solcher Bruch keinen persönlichen Vorteil, sondern höchstens Probleme bringt? Doch wenn der ökonomische Fortschritt gestoppt wird, fällt eine der wesentlichen Bedingungen der Möglichkeit der Verbesserung der Lage der Mehrheit der Menschen weg. Wie sieht es in einem kapitalistischen System aus, also in jenem System, das man gewöhnlich mit dem Liberalismus in Verbindung bringt, indem man von freier, also sich selbst überlassener Marktwirtschaft spricht? Wer geglaubt hatte, dass sich zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus keine Ähnlichkeiten finden lassen, wird von de Jouvenel eines Besseren belehrt: „Durch die Schwierigkeit, an kapitalistisches Eigentum zu gelangen, durch das Verschwinden des persönlichen Interesses, durch die Abschaffung der Konkurrenz, ähnelt das jetzige System dem Kommunismus“ (Economie dirigée, 93). Das System das der Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorfindet, hat nur noch relativ wenig mit dem ursprünglichen Gedanken des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft zu tun, der sich, so de Jouvenel, an drei Grund-
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axiomen orientierte, nämlich (1) am Axiom des freien Erwerbs von Eigentum, (2) am Axiom der Privatinitiative und (3) am Axiom der freien Konkurrenz (L’économie dirigée, 87). Diese drei Axiome wurden im 18. Jahrhundert entworfen, zu einer Zeit, in welcher die Gesellschaft noch hauptsächlich durch die Agrikultur bestimmt wurde und diese somit auch den Denkhorizont der ökonomischen Theorie prägte. Mit der Entwicklung der Industrie und einer ihr eigenen Logik, hat sich das alles aber geändert, so dass die drei Axiome nur noch auf dem Papier und nicht mehr in der Wirklichkeit gelten. Das 19. Jahrhundert sieht die Geburt der großen kapitalistischen Unternehmen, gegen welche die kleinen Unternehmen keine Chance mehr haben, was zur Folge hat, dass das Eigentum an den Produktionsmitteln zwar noch immer privat bleibt, aber unter immer weniger Menschen aufgeteilt ist. Es kommt, anders gesagt, zu einer Konzentration des Eigentums in wenigen Händen, und das bedingt eine Einschränkung der Konkurrenz bzw. eine Konkurrenz die aufhört, eine Konkurrenz zwischen Gleichen zu bleiben oder eine Konkurrenz, bei welcher jeder die gleichen Chancen hat, sich durchsetzen, bedingt nur durch seine individuellen Anstrengungen und die Qualität seiner Arbeit. Die kleinen Unternehmen haben keine Chance gegen die großen und gehen zu Grunde bzw. werden sie von den großen aufgekauft. De Jouvenel weist in diesem Kontext auf die Bildung einer industriellen Oligarchie der Verwaltungsräte hin, die der modernen, industriellen Gesellschaft ein neues Feudalwesen bildet und eine absolute Macht besitzt (L’économie dirigée, 74). Der Autor greift hier einen Gedanken auf, den schon Alexis de Tocqueville 1840 im zweiten Band von De la démocratie en Amérique geäußert hatte. Auf diesen Gedanken ist Tocqueville allerdings wahrscheinlich nicht so sehr während seines Aufenthaltes in Amerika, als vielmehr während einem seiner Aufenthalte in England gekommen. Als kritischer Beobachter der Entwicklungen seines Zeitalters hatte Tocqueville festgestellt, dass sich im Rahmen der demokratischen Gesellschaft – deren Kennzeichen die Angleichung der sozialen Bedingungen und die soziale Mobilität ist – eine neue Gruppe – die sich allerdings noch nicht, so meint Tocqueville, als eigenständige Klasse mit homogenen Interessen versteht – bildet, durch die langfristig die Demokratie gefährdet werden könnte. Bei dieser Gruppe handelt es sich um die großen Industriellen, die Tausende von Menschen für sich arbeiten lassen und einen immer größeren Reichtum ansammeln, während die für sie arbeitenden Menschen geistig verkümmern, da sie im Rahmen einer strikten Arbeitsteilung nur repetitive Arbeiten vollziehen. Mag diese Arbeit auch den materiellen sozialen Reichtum vergrößern, so lässt sie den geistigen individuellen Reichtum verkümmern. Die „Aristokratie der Fabrikanten“, heißt es bei Tocqueville, „überlässt die Menschen, nachdem sie sie in ihrem Dienst elend und stumpf gemacht hat, in Krisenzeiten der öffentlichen Wohltätigkeit, um sie zu ernähren“, sie ist „eine der härtesten, die auf Erden erschienen ist“. Und auch wenn Tocqueville sie als „eine der kleinsten und ungefährlichsten“ bezeichnet, so ruft er doch die „Freunde der Freiheit“ auf, „ihre Blicke ständig mit Besorgnis nach dieser Seite hin [zu] lenken“, da
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diese noch sich noch nicht als Klasse bewusste Aristokratie das Tor sein könnte, durch das eine neue Aristokratie ihren Einzug in die Welt machen könnte (Tocqueville 1976, 650).40 Was Tocqueville als mögliche zukünftige Gefahr kommen sah, scheint für Bertrand de Jouvenel zur Wirklichkeit geworden zu sein. So weist er etwa auf die Bildung von Kartellen hin (L’économie dirigée, 78), durch die die freie Konkurrenz und damit das dritte Axiom der klassischen freien Marktwirtschaft zu einem leeren Wort werden. Doch auch das zweite Axiom bricht zusammen; „Es sind nunmehr Gehaltsempfänger, die den Betrieb leiten. Diejenigen die das Geld bringen, diejenigen die ein Interesse daran haben, dass der Betrieb funktioniert, arbeiten nicht mehr dort, und diejenigen die Arbeit bringen, haben kein Interesse daran, dass der Betrieb floriert“ (L’économie dirigée, 91). De Jouvenel veranschaulicht diese Situation anhand des Beispiels einer Person, die in einem Betrieb der Firma A arbeitet, aber Aktien von einer Firma B hat. Diese Person wird dann Interesse am Wohlergehen der Firma B, nicht aber an demjenigen der Firma A haben. Mag auch der erste Teil dieser Behauptung stimmen, so ist der zweite Teil fraglich, zumindest dann, wenn man eine wirtschaftliche Situation voraussetzt, in welcher die Arbeiter beim Zugrundegehen ihres Betriebs nicht sofort eine neue Stelle finden bzw. in welcher sie nicht von den Dividenden, usw. leben können. Mag auch der Betrieb dem Arbeiter nicht gehören, so wird er doch an dessen Wohlergehen interessiert sein, denn sein eigenes hängt davon ab. Aber ganz unrecht hat de Jouvenel nicht: Wer jeden Monat als Angestellter einen festen Lohn bekommt, indem er für jemanden arbeitet, wird in erster Linie an seinem Lohn interessiert sein und das Wohl des Betriebs wird ihm, wenn auch nicht völlig gleichgültig sein, so doch zweitrangig. Und das bedeutet eine Außerkraftsetzung des zweiten Axioms: Wer nicht Besitzer einer Firma ist, wird keine Initiative treffen, um ihre Resultate zu optimieren, was nichts anderes bedeutet, als dass er keine Privatinitiative mehr ergreifen wird. Dadurch – und hier zeigt sich für de Jouvenel die zumindest scheinbare Konvergenz zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus – wird der Angestellte zu einem Beamten.41 Wenn ein Unterschied bezüglich der arbeitenden, einen festen Gehalt erhaltenden Menschen besteht, dann ist es nur der, dass diese Menschen in einem kapitalistischen System den Oligarchien der Verwaltungsräte unterworfen sind, wogegen sie in einem kommunistischen System dem Staat unterworfen sind. Der Arbeiter im Kapitalismus ist ebenso demotiviert wie der Arbeiter im Kommunismus. War in einem kommunistischen System die Routine das Haupthindernis für den Fortschritt, so ist
Halten wir hier fest, dass de Jouvenel nicht glaubt, dass die Mechanisierung der Produktion dazu führt, dass die für die Arbeiter nur noch elementare, animalische Aufgaben übrig bleiben (L’art de la conjecture, 349). 41 Eine scheinbare Konvergenz die einige dazu führt, die kapitalistische Kopie durch das kommunistische Original ersetzen zu wollen (L’économie dirigée, 94). 40
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es in einem (monopolistischen) kapitalistischen System die Schwäche der Individuen. Im Kommunismus fehlt der Elan, im Kapitalismus fehlt die Wirksamkeit. Kommunismus und Kapitalismus – zumindest in der Form, die er unter den Prämissen eines absoluten laissez faire angenommen hat – sind nicht in der Lage, jenes Ziel zu erreichen, das de Jouvenel einem ökonomischen System setzt, nämlich die Bedürfnisse der Masse zu befriedigen. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse setzt die Massenproduktion voraus, und diese setzt ihrerseits die Konzentration der Produktionsmittel voraus, da nur eine solche Konzentration ihre optimale Nutzung ermöglicht. Diese Konzentration findet man sowohl im Kommunismus als auch im Kapitalismus wieder, bloß dass im Kommunismus alles in den Händen des Staates konzentriert ist, wohingegen im Kapitalismus sich alles in den Händen weniger Kapitalisten konzentriert. Diese Konzentration der Produktion spielt bei de Jouvenel eine ähnliche Rolle wie bei Tocqueville die sich entfaltende Logik der Demokratie. Auch wenn er für eine noch sehr ferne Zukunft die mögliche Gefahr einer Rückkehr der Aristokratie an die Wand malt, geht Tocqueville doch allgemein davon aus, dass sich in der nahen Zukunft die sozialen Verhältnisse immer mehr angleichen werden, mögen die Menschen dies wollen oder nicht. Die Demokratie ist eine den menschlichen Willen transzendierende Tatsache, die Tocqueville als gottgewollt darstellt, so dass es keinen Sinn macht, sich ihr zu widersetzen.42 Auch wenn de Jouvenel die religiöse Perspektive nicht ins Spiel bringt43, so geht auch er davon aus, dass man ein bestimmtes Faktum voraussetzen muss, ein Faktum, das mit der Entwicklung der Gesellschaft hin zur Zivilisation zusammenhängt: „Wir müssen hier anerkennen, dass in einer entwickelten Gesellschaft, welches auch immer ihr Modell sein mag, der Mensch sich als Beamter ansehen muss, im eigentlichen Sinn des Wortes“ (L’économie dirigée, 106). Die Zivilisation setzt eine „massive und standardisierte Produktion“ voraus und eine sich zivilisierende Gesellschaft tendiert demnach immer mehr in Richtung einer solchen Produktion (L’économie dirigée, 110). Eine solche Produktion ist allein in der Lage, den allgemeinen Wohlstand, das Ziel einer jeden Gesellschaft, zu fördern. Kommunismus und Kapitalismus enthalten aber Elemente, die einer solchen Förderung hinderlich sind, und diese Elemente betreffen in erster Linie den individuellen Menschen und dessen Motivationsstruktur. Unter diesen Bedingungen müssen die Regierenden, um die Passage noch einmal zu zitieren, „allgemeine Bedingungen bestimmen, derart, dass das Individuum ein Interesse daran hat, das zu tun, was dem allgemeinen Interesse dient“ (L’économie dirigée, 109). Oder, wie de Jouvenel es noch formuliert, das Individuum muss „in der Kollektivität eine Rolle spielen, die dem Ich sehe hier von der Frage ab, ob diese Darstellung den Tocquevilleschen Ansichten entsprach, oder ob ihr Zweck nur darin besteht, die (französischen) Katholiken dazu zu bringen, ihren seit der Revolution von 1789 begonnenen Kampf gegen die Demokratie aufzugeben. 43 Einen Bezug zur Religion erhält sein Denken erst in der zweiten Hälfte der 40er Jahre. 42
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Allgemeininteresse entspricht und sie mit einem solchen Eifer spielen, den nur das partikulare Interesse gibt“ (L’économie dirigée, 108). Dieser Zustand kann aber nur dann erreicht werden, wenn die beiden Interessen zusammenfallen. Da dieses Zusammenfallen nicht als Resultat einer unsichtbaren Hand betrachtet wird, muss der Staat eingreifen. Der Staat muss demnach die Bedingungen schaffen, die einerseits sicherstellen, dass das kommunistische Ziel – das Allgemeinwohl – erreicht wird, ohne dass der von den Liberalen hochgehaltene Wert – die individuelle Freiheit – geopfert wird. 3.
Der Staat in den Händen einer Oligarchie
Wir hatten vorhin gesehen, dass das ursprüngliche liberale Konzept der freien Marktwirtschaft auf Axiomen beruhte, die ihren Ursprung und ihre Gültigkeit in einer noch größtenteils agrarisch orientierten Gesellschaft hatten, dass sie aber nicht mehr für die Industriegesellschaft, wie sie sich vornehmlich im 19. Jahrhundert ausgebildet hat, geeignet sind. Angesichts dieser Situation versuchen diejenigen, die Bertrand de Jouvenel als Neoliberale bezeichnet, mittels der Gesetzgebung eine Situation wieder herzustellen, die der Anwendungssituation der Axiome so ähnlich wie möglich ist, so dass die Axiome wieder greifen können. Das bedeutet u. a., dass sie die großen Trusts verbieten, ebenso wie den großen Reichtum, und dass sie andererseits die handwerklichen Betriebe unterstützen und die Lehre fördern (L’économie dirigée, 97). Dieses neoliberale Programm ist insofern problematisch, als es die Tatsache zu ignorieren scheint, dass man, will man die Bedürfnisse der großen Masse befriedigen, nicht mehr mit einer auf dem kleinen Handwerk beruhenden Ökonomie operieren kann. Die Zeiten in denen es viele kleine und relativ autonome Handwerker und Bauern gab, die Besitzer ihrer jeweiligen Produktionsmittel waren, sind vorbei. Die Produktion muss konzentriert werden, was voraussetzt, dass es auch Kapital gibt, das in den Ausbau der Produktionsmittel investiert werden kann. In der bestehenden Gesellschaft, so de Jouvenel, ist dieses Kapital in den Händen von wenigen Privatpersonen konzentriert. Eine solche Konzentration sollte allerdings nicht als allgemein gültig bzw. als in jeder Gesellschaft notwendig angesehen werden. Es obliegt vielmehr dem Staat, Bedingungen herzustellen, unter denen man ohne eine solche massive Konzentration des Kapitals in wenigen Händen einen Ausbau der Produktionsmittel und damit auch ein Wachsen der Produktion herbeiführen kann. Bertrand de Jouvenel ist sich vollends der Gefahren bewusst, die eine Konzentration des Reichtums in wenigen Händen mit sich bringen kann. Wir hatten schon vorhin auf die Entstehung einer neuen Aristokratie hingewiesen. De Jouvenel hebt aber auch noch eine wesentlich politischere Gefahr hervor, nämlich die Kontrolle der Politik durch diese industrielle Aristokratie:
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Eine Regierung ist eine Partei. Eine Partei ist eine Bank, es sind die Interessen dieses oder jenes industriellen Milieus, dieser oder jener Korporation. […] Die Partei, die an der Macht ist, gebraucht sie, um ihre … Ideen anzuwenden. Wir sollten uns nicht über diesen Zustand wundern. Alle schwachen Republiken haben das Regime von aufeinander folgenden ökonomischen Koterien gekannt, die ihren Durchgang in der Regierung maximal ausgenutzt haben (L’économie dirigée, 81).
Hier noch eine andere Stelle an welcher dieser Zustand einer Kontrolle der Politik durch die Ökonomie und damit auch eine Pervertierung der politischen Logik des Allgemeinwohls durch die ökonomische Logik des Privatwohls angeprangert wird: Die Abgeordneten hängen von den Wählern ab, deren Meinung zum größten Teil von den Zeitungen gemacht wird. Sie hängen auch von den Industriellen ab, die sie subventionieren, oder von ihrer durch die Industriellen subventionierten Partei, was dasselbe ist. / Die Regierung zittert übrigens vor den Banken, die den Franken stürzen lassen können, und mit ihm das Kabinett. / Sie zittert noch mehr vor den Zeitungen, die wir hier wiederfinden, und die in den Händen der Industriellen und der Bankiers sind. / Wohin wir uns auch wenden mögen, so sehen wir diese das Regime beherrschen. So wird eine de iure Demokratie in eine de facto Oligarchie verwandelt.. / […] Diese Oligarchie löst sich in Anarchie auf.. / So intrigieren die Industriellen, die Politiker bereichern sich, und der Staat löst sich auf. (L’économie dirigée, 172 f.)
Es geht also eigentlich nicht darum, zwischen einer freien und einer gelenkten Wirtschaft zu entscheiden, sondern die zentrale Frage ist: Wer soll die Wirtschaft lenken? Soll man diese Lenkung den großen ökonomischen und finanziellen Akteuren, also den Industriellen und den Banken44, überlassen, oder sollte man sie einer Instanz geben, die von diesen Akteuren unabhängig ist? Im ersten Fall wird das Privatinteresse der jeweiligen Koterie das Allgemeinwohl in den Hintergrund drängen, da jede Koterie nur daran denkt, so viel wie möglich von den mit dem Besitz oder der Kontrolle der politischen Macht verbundenen Vorteile zu profitieren. Will man eine auf das Allgemeinwohl gerichtete Ökonomie, dann muss man diese in die Hände eines starken Staates legen, der sich, und vor allem das ihm immanente Ziel einer Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Massen, gegenüber den gesellschaftlichen Akteuren behaupten kann. In diesem Kontext formuliert de Jouvenel den eingangs dieses Kapitels De Jouvenel bezeichnet die 20er Jahre als das „Zeitalter der Bankiers“ (La décomposition de l’Europe libérale, V). Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang auch sein Buch über die Krise des amerikanischen Kapitalismus, in welchem de Jouvenel zeigt, wie der wilde amerikanische Kapitalismus sein eigenes Grab grub, indem er zur Finanzkrise führte. Als de Jouvenel sein Buch 1933 veröffentlicht, hat Roosevelt schon mit seinem „Experiment gelenkter Ökonomie“ (La crise du capitalisme américain, 309) begonnen, und de Jouvenel sieht in ihm den Vorgänger einer „verantwortlichen Elite“ (La crise du capitalisme américain, 343), die die „größte Revolution unserer Zeit“, sprich die „strukturelle Reform der amerikanischen Ökonomie“ (La crise du capitalisme américain, 341) durchführen wird. 44
Der Staat in den Händen einer Oligarchie
schon zitierten Satz: „Es ist höchste Zeit, dass die Nation wieder einen Staat schaffe“ (L’économie dirigée, 84). Gemeint ist, dass es höchste Zeit ist, dass der Staat wieder auf das ihm spezifische Ziel hin orientiert wird und dass er auch die Mittel erhält, um dieses Ziel zu erreichen. Oder noch anders gesagt: Es ist höchste Zeit, dass die politische Logik des Allgemeinwohls die ökonomische Logik des Privatwohls wieder auf einen Kurs setzt, auf welchem sie auch dem Allgemeinwohl dient, anstatt eine Situation fortdauern zu lassen, in welcher die ökonomische Logik des Privatwohls die politische Logik des Allgemeinwohls zum Verschwinden bringt und deren Instrument, also den Staat, für sich alleine gebraucht. Nur ein Jahr nachdem Bertrand de Jouvenel diese Gedanken in L’économie dirigée formuliert hat, schreibt Carl Schmitt in seinem Aufsatz ‚Wesen und Werden des faschistischen Staates‘: „Nur ein schwacher Staat ist kapitalistischer Diener des Privateigentums“ (Schmitt 1994, 129). Auch bei Schmitt ist ein schwacher Staat ein solcher, der sich in den Dienst des Kapitals stellt und damit seine Autonomie einbüßt. Dabei sieht Schmitt im Liberalismus, der das Ökonomische in den Vordergrund stellt, eine der Hauptursachen für die Schwächung des Staates (Schmitt 1994, 125). Wie Bertrand de Jouvenel, will auch Schmitt ein Erwachen des Staates, wobei Schmitt – der das Beispiel Italiens vor Augen hatte – diesen Staat als einen faschistischen bezeichnet45: Der faschistische Staat will mit antiker Ehrlichkeit wieder Staat sein, mit sichtbaren Machtträgern und Repräsentanten, nicht aber Fassade und Antichambre unsichtbarer und unverantwortlicher Machthaber und Geldgeber (Schmitt 1994, 130)
Dieser faschistische Staat wird sich auf die Seiten der Arbeitnehmer stellen (Schmitt 1994, 129), d. h. auf die Seite der großen Masse des Volkes. Insofern kann Schmitt ihn auch als demokratisch bezeichnen (Schmitt 1994, 126). Liberal ist dieser Staat aber auf keinen Fall. In einem 1931 verfassten Text thematisierte Schmitt, wie es im Titel des Textes heißt, ‚Die Wendung zum totalen Staat‘. In diesem Aufsatz schreibt er u. a.: „In jedem modernen Staat bildet das Verhältnis des Staates zur Wirtschaft den eigentlichen Gegenstand der unmittelbar innerpolitischen Fragen“ (Schmitt 1994a, 174). Unter diesen Umständen ist es nur plausibel, wenn Schmitt festhält: „In der Wendung zum Wirtschaftsstaat liegt die auffälligste Veränderung gegenüber den Staatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts“, was vor allem bedingt ist durch das „erdrückende[…] Übergewicht[…] der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Probleme“ (Schmitt 1994a, 175). Der traditionelle Gesetzgebungsstaat ist den neuen Bedingungen nicht mehr gewachsen. Je schneller sich die konkrete Wirklichkeit verändert, umso weniger kann man auf das Gesetz – das eine bestimmte feste Ordnung voraussetzt – setzen. Parlament und Justizwesen treten
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Wobei das Adjektiv hier keinesfalls negativ zu verstehen ist, wie das heute meistens der Fall ist.
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damit in den Hintergrund und die Regierung, die ihre Maßnahmen schnell anpassen kann, gewinnt an Bedeutung und wird zum neuen wichtigen Akteur. Dies umso mehr, als das Parlament auch aufgehört hat, seine eigentliche Rolle zu spielen, die darin besteht, ein „Schauplatz einer einheitsbildenden freien Verhandlung freier Volksvertreter“ zu sein; es wurde vielmehr „zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte“ (Schmitt 1994a, 177), auf dem sich egoistische Privatinteressen entgegentreten, denen es höchstens um Kompromisse geht und nicht um eine Transzendierung der Privatinteressen. Ein Jahr später, also 1932, hält Schmitt einen ‚Starker Staat und gesunde Wirtschaft‘ betitelten Vortrag. Wie auch in anderen Texten, charakterisiert Schmitt den starken Staat dadurch, dass er „in seinem Inneren keinerlei staatsfeindlichen, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen“ lässt; dieser Staat „kann Freund und Feind unterscheiden“ (Schmitt 1995, 74). Nur ein solcher Staat kann auch für eine gesunde Wirtschaft bürgen, d. h. bei Schmitt u. a. für eine Wirtschaft, die im Dienste des Staates steht und zur Erhöhung seiner Machtmittel beiträgt. In der von ihnen gemachten Diagnose begegnen sich de Jouvenel und Schmitt auf einigen Punkten. So gehen beide davon aus, dass es keine stabile Ordnung und damit auch keine Sicherheit bezüglich der Lebensbedingungen mehr gibt. Mag es auch stimmen, dass es eine solche Unsicherheit schon in der vormodernen Gesellschaft gegeben hat, so besteht doch ein großer Unterschied zwischen beiden Situationen: In der vormodernen Agrargesellschaft war man den unkontrollierbaren Launen des Klimas ausgesetzt und man wusste, dass man nichts daran ändern konnte; in der modernen Industriegesellschaft ist man den prinzipiell kontrollierbaren oder zumindest lenkbaren Entscheidungen der Menschen ausgesetzt, so dass die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht rein utopischen Charakters ist (L’économie dirigée, 9). Wie Schmitt, stellt auch de Jouvenel fest, dass die egoistischen Privatinteressen, wenn man sie sich selbst überlässt, nicht von sich zum Allgemeinwohl beitragen und dass sie dazu tendieren, sich der Staatsmaschinerie zu bedienen, um sich durchzusetzen, u. a. auf dem Rücken der Arbeiter, eine Situation, die unbedingt verändert werden muss: „Im XIX. Jahrhundert war die Arbeit die Milchkuh des Kapitals, im XX. Jahrhundert wird das Kapital die Milchkuh der Arbeit sein“ (L’économie dirigée, 30).46 Das ist nur möglich, wenn der Staat wieder zum Staat wird, zu einem Organ des Allgemeinwohls, der sich nicht mehr in den Dienst von Partikularinteressen stellt. Mögen auch die Diagnosen in einigen Punkten die gleichen sein, so gibt es doch einen fundamentalen Unterschied zwischen de Jouvenel und Schmitt: Während es dem deutschen Theoretiker des totalen Staates um eine Erweiterung der staatlichen Machtmittel geht, also um die Größe des Staates, geht es de Jouvenel um die Orientierung des Das „wird“ drückt hier nicht nur eine Prognose oder eine die Zukunft betreffende Feststellung aus, sondern hat einen durchaus normativen Charakter: Das Kapital – dessen Existenz als solche nicht in Frage gestellt wird – soll der Arbeit dienen. 46
Die gelenkte Ökonomie
Staates auf seine sozialen Aufgaben. Für Schmitt hat der Staat einen Eigenwert, den er für de Jouvenel nicht hat. De Jouvenel geht es nicht um das Prestige des Staates, noch um die nationale Größe, sondern um das unmittelbare Wohl der Individuen. Schmitt kritisiert den in den Händen der Bankiers liegenden Staat, weil dieser Staat bestimmte überindividuelle Werte nicht mehr verwirklicht. De Jouvenel kritisiert einen solchen Staat, weil er die Bedürfnisse der großen Masse der Individuen nicht befriedigen kann. Auch wenn sie beide in den 30er Jahren eine Lanze für den faschistischen Staat brechen, so tun sie es doch aus einer gänzlich verschiedenen Perspektive. 4.
Die gelenkte Ökonomie
Bertrand de Jouvenel denkt den Staat vor dem Hintergrund einer sich zum Teil immer schneller verändernden sozialen Wirklichkeit. Auch wenn das Staatsziel stets dasselbe bleibt – den Massen ein dezentes Leben ermöglichen –, so können die zur Erreichung dieses Ziels angemessenen Mittel sich mit der Zeit ändern, zumal wenn mit der Entwicklung der Technik neue Instrumente auftauchen, die ein dezentes Leben für alle in den Bereich der konkreten Möglichkeiten katapultieren – die aber auch, und das wird ein Thema der Schriften de Jouvenels nach den 40er Jahren sein, die Bedingungen eines solchen dezenten Lebens zerstören können. Bei diesen Betrachtungen sieht de Jouvenel nicht nur den Menschen in seiner Rolle als Arbeiter, sondern auch in seiner Rolle als Konsumenten. Es geht ihm nicht nur darum, dass der Arbeiter mehr produziert, um dadurch den Reichtum zu vermehren, sondern sein primäres Ziel ist es, eine Situation herzustellen, in welcher dieser vermehrte Reichtum zu einer Verbesserung der Lage aller Konsumenten beiträgt: Aber ich behaupte, dass es ein großer Fehler ist, ihn als Arbeiter und nicht als Konsument zu betrachten. Denn so verliert man die Tatsache aus dem Blick, dass das Wesentliche die ökonomische Politik und nicht die Sozialpolitik ist, dass die wirkliche Verbesserung des Schicksals der Masse nur durch eine ökonomische Politik kommen kann (L’économie dirigée, 13)
Auch wenn de Jouvenel ausdrücklich schreibt, dass unsere ganze Sorge dem Konsumenten – und der Arbeiter ist auch ein Konsument – gewidmet sein sollte (L’économie dirigée, 13), sollte diese Behauptung eher als ein Versuch gesehen werden, den Pendel in eine andere Richtung zu lenken, damit er eine vernünftige Mittelposition einnimmt, und nicht als ein Verzicht auf jede Sozialpolitik. Allerdings stellt man diesbezüglich einen großen Unterschied zwischen den Positionen des frühen und des späten Bertrand de Jouvenels fest. Dem frühen Bertrand de Jouvenel geht es primär darum, dass die Produktivität erhöht wird, damit genügend Güter produziert werden, mittels derer die Bedürfnisse der Massen befriedigt werden können und sie ein relativ zufriedenes Leben führen können. Insofern kann er schreiben: „Die Politik die wir empfehlen ist nur machbar, wenn die
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Regierenden sich nur an ökonomischen Überlegungen inspirieren, und nicht an politischen oder ethischen […]“ (L’économie dirigée, 131), was man so verstehen kann, dass es nur auf die Wirksamkeit der Maßnahmen oder Regelungen ankommt. Und dies bedeutet, wie de Jouvenel in der Folge der eben zitierten Passage schreibt, dass man den konkreten Wirklichkeiten Rechnung tragen muss und keine a priori Position einnimmt. In diesem Zusammenhang geht er auch auf den Taylorismus ein, wie er seit einem guten Jahrzehnt in den Vereinigten Staaten die Produktion bestimmt, u. a. in der Autoindustrie. Grundprinzip des Taylorismus ist die Effizienz der Produktivität, d. h. es kommt primär darauf an, dass so viel wie möglich produziert wird, was etwa durch eine ganz strikte Aufteilung der Arbeit geschieht. Adam Smith hatte schon darauf aufmerksam gemacht, dass mehr produziert werden kann, wenn nicht jeder den ganzen Gegenstand produzieren muss, sondern wenn jeder sich auf die Produktion eines Teils konzentriert. Tocqueville greift den Gedanken wieder auf, weist aber gleichzeitig auf die negative Seite hin: Je mehr der Arbeiter sich auf eine spezielle und partielle Arbeit konzentriert, umso mehr verkümmern seine menschlichen Potentialitäten: „Je durchgreifender der Grundsatz der Arbeitsteilung angewandt wird, um so schwächer, beschränkter und abhängiger wird der Arbeiter. Die Fertigkeit schreitet voran, der Fertigende zurück“ (Tocqueville 1976, 648). Tocqueville sieht hier nur die negative Seite und denkt nicht an eine mögliche Lenkung der Produktion. Bei ihm steht die Produktion ganz im Dienst der Reichtumsschöpfung zu Gunsten der Industriellen. Er sieht den Arbeiter lediglich als Arbeiter, nicht als Konsumenten, und er sieht auch von der Möglichkeit arbeitsrechtlicher Eingriffe des Staates ab. Es sind dies aber Aspekte, auf die de Jouvenel eingeht. Bei ihm steht die Erhöhung der Produktivität nicht im Dienste der Klasse der Kapitalisten, sondern sie soll um des Allgemeinwohls willen geschehen. Und dabei spielt, wie schon mehrfach erwähnt, die möglichst vollständige Befriedigung der Bedürfnisse der großen Masse eine zentrale Rolle. Wenn die Arbeiter also mehr produzieren, so tun sie das, um als Konsumenten mehr materielle Bedürfnisse befriedigen zu können. Der junge Bertrand de Jouvenel konzentriert seinen Blick auf die Erhöhung der Produktivität. Nach seiner ökologischen Wende Ende der 50er Jahre wird er den Arbeitsbedingungen ein größeres Interesse schenken. So schreibt er etwa in seinem 1960 veröffentlichten Aufsatz ‚Efficiency and Amenity‘, man sollte „regard the amenity of work as a much more interesting goal than the shortening of work hours“(Economics and the Good Life, 51). Anstatt sich also auf die Reduktion der Arbeitszeit zu konzentrieren, die eine Reduktion der Produktion mit sich bringen könnte, sollte man vielmehr versuchen, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen die Arbeit nicht mehr al seine Qual47 bzw. als etwas Unangenehmes betrachten, Das französische Wort „travail“ stammt etymologisch vom Lateinischen „tripalium“ ab, und dieses Wort bezeichnete ein dreipfähliges Folterinstrument. Erinnert sei hier auch daran, dass laut dem Alten Testament Gott die Menschen zum Arbeiten verurteilte, als er sie aus dem Paradies verjagte. 47
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sondern als etwas, das sie bereichert und ihnen Freude macht. Die Arbeit, um es noch anders zu formulieren, sollte also nicht mehr negativ, sondern positiv erfahren werden, und der Mensch sollte sich in ihr nicht von sich selbst entfremdet erfahren, sondern sich vielmehr bestätigt fühlen. Es kommt also nicht darauf an, ein größeres durch ein geringeres Quantum unangenehmer Arbeit zu ersetzen, sondern die Revolution soll qualitativer Natur sein. Während es dem frühen Bertrand de Jouvenel also noch primär darum ging, die Produktivität zu steigern, um auf diese Weise auch die Konsummöglichkeiten zu steigern, geht der späte de Jouvenel davon aus, dass zumindest in den westlichen Gesellschaften die gesteigerte Produktivität die elementaren Bedürfnisse der großen Masse befriedigen kann und dass es an der Zeit ist, dem Aspekt der Lebensqualität einen größeren Stellenwert zu geben. Um noch eine Stelle aus dem Aufsatz ‚Efficiency and Amenity‘ zu zitieren: When organizers of production have to relieve a situation of hunger, efficiency is the one and only virtue. But when this virtue has been thoroughly developed and comes to be applied to less and less vital objects, the question surely arises of the right choice of objects (Economics and the Good Life, 46)
Als de Jouvenel De l’économie dirigée verfasste, war die Tugend der Wirksamkeit noch nicht genügend entwickelt, d. h. die Industrien produzierten noch nicht genügend Grundgüter, um die Bedürfnisse der großen Masse zu befriedigen. Die Kapitalisten, so de Jouvenel, investieren ihr Kapital nicht so sehr in die Produktion von lebenswichtigen Objekten, sondern ihnen geht es darum, so viel Profit wie nur möglich zu erzielen (L’économie dirigée, 64). Die sich selbst überlassene kapitalistische Produktionsweise befriedigt die Privatinteressen der Kapitalisten, arbeitet aber nicht für das Allgemeinwohl. Der Kapitalist vergisst dabei ganz die soziale Funktion, die er hat (L’économie dirigée, 30). Dabei bemerkt de Jouvenel, dass die Arbeiter den sich frei überlassenen Kapitalismus nicht so sehr wegen seiner Ungerechtigkeit verwerfen, sondern sie tun es in erster Linie wegen seiner Unwirksamkeit (L’économie dirigée, 43).48 Für den Kapitalisten ist es also nicht ungerecht, einen Profit aus seinem Betrieb zu ziehen und auf diese Weise Geld zu akkumulieren. Problematisch ist, was er mit diesem Geld macht, wie er es investiert, sowie auch, welche Konsequenzen diese Investitionen für die große Masse der Bevölkerung haben. De Jouvenel zu Folge hat die Gesellschaft eine Verantwortung gegenüber dem Proletariat, das sich durch die sozio-ökonomischen Transformationen in einer Lage befindet, die immer prekärer wird. Diese Transformationen sind nicht das Produkt einer vom Menschen unabhängigen Macht, sondern sie resultieren aus menschlichen In Amerika, so de Jouvenel, wurde der Kapitalismus nicht so sehr wegen der Ausbeutung der Arbeiter verurteilt, sondern weil er einen negativen Impakt auf die kleinen Produzenten und auf die Konsumenten hatte (La crise du capitalisme américain, 55). 48
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Entscheidungen. Und genau das begründet die Verantwortung der gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen. De Jouvenel spricht von einer Art Vertrag: „Das Proletariat schließt eine Art Vertrag mit der kapitalistischen Gesellschaft. Er gibt ihr seine Arbeit und erwartet eine gewisse materielle Sicherheit“ (L’économie dirigée, 45). Wenn die kapitalistische Gesellschaft, und vor allem die Kapitalisten selbst, diesen Vertrag nicht von sich aus und freiwillig erfüllen wollen, dann muss die Ökonomie so gestaltet werden, dass der Vertrag erfüllt wird und die Arbeiter-Konsumenten die materielle Sicherheit haben, die ihnen zusteht. Dies aber nur möglich, wenn man eine andere politische Philosophie voraussetzt und die herrschende politische Philosophie des reinen Liberalismus aufgibt, die im Staat lediglich den Nachtwächter sieht, der die Individuen vor gegenseitigen Gewaltakten schützt und über die Einhaltung der individuellen Verträge wacht. Ein Schutz vor den gesellschaftlichen Transformationen und deren Konsequenzen für die Individuen ist hier nicht vorgesehen. Und genau da liegt für de Jouvenel die Schwäche des klassischen Liberalismus und die Notwendigkeit, diesen klassischen Liberalismus zu überdenken und durch anderweitig genommene Elemente zu ergänzen: Es ist schön, dass das Individuum, das durch eine ökonomische Katastrophe getroffen wird, die es überwältigt, die Sicherheit hat, dass der Staat ihm helfen wird.. / Ich würde mehr sagen: Das ist notwendig. (L’économie dirigée, 129)
Diese Notwendigkeit ist nicht nur moralischer oder politischer, sondern auch ökonomischer Natur. Denn ein Arbeiter, der seine Arbeit verliert und keine Ressourcen mehr hat, ist ein Konsument weniger. Und ein Konsument weniger ist eine Einnahmequelle weniger für andere Betriebe, da für sie die Nachfrage nach ihren Produkten abnimmt. Man hilft den hilfsbedürftigen Individuen also nicht nur, weil es moralisch richtig oder weil es politisch ratsam ist – etwa um eine Revolution zu vermeiden –, sondern man hilft diesen Menschen (auch), weil damit der Ökonomie in ihrer Gesamtheit geholfen werden kann. Es ist also im Privatinteresse eines jeden, dass allen, die Hilfe benötigen, geholfen wird. Privatinteresse und Allgemeinwohl treffen hier zusammen. Allein der Staat kann hier Abhilfe leisten, was aber voraussetzt, dass man ihn nicht nur die Menschen, sondern auch die Sachen regieren lässt: Der Staat hat dem Individuum die Sicherheit seiner Person gegeben. Aber das Individuum kann keine Arbeit finden oder keinen gerechten Lohn für seine Arbeit. Dem muss man vorbeugen. Die Sicherheit der Person muss durch die Sicherheit der Arbeit und ihrer Früchte ergänzt werden.. / Dafür muss der Staat über die Regierung der Sachen verfügen. (L’économie dirigée, 130)
Damit meint Bertrand de Jouvenel nicht, dass es dem Staat obliegt, zum Industriellen zu werden, indem er sich die Produktionsmittel aneignet, so wie es der Kommunismus bzw. Staatssozialismus vorsehen. Aufgabe des Staates ist es, einen Rahmen aufzustellen, innerhalb dessen die Individuen weiter selbst agieren, bloß dass sie sich an die
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diesen Rahmen definierenden Regeln halten müssen. Alle diese Regeln werden nur um eines Zweckes willen aufgestellt: Die Produktion steigern, damit die Bedürfnisse einer möglichst großen Zahl von Menschen befriedigt werden können. Der Staat muss also dafür sorgen, dass die Industrialisierung vorangetrieben wird, was er allerdings nicht durch Befehle – die auf einem Appell an die Angst vor Bestrafung beruhen – erreichen soll, sondern durch Anreize – die an das wohlverstandene Eigeninteresse appellieren (L’économie dirigée, 130). Bestimmte Entwicklungen sollen durch den Staat unterstützt oder gefördert werden, andere nicht. Man könnte auch sagen, dass der Staat ein für bestimmte Industriezweige günstiges Klima schaffen muss, so dass diese Zweige sich entwickeln können. Der Staat lenkt also die Wirtschaft in eine bestimmte Richtung, ohne sie mittels Gewalt in diese Richtung zu beugen. Für Bertrand de Jouvenel ist es wichtig, dass die letzten Entscheidungen bei den Individuen selbst und nicht beim Staat liegen. Er darf die individuellen Entscheidungen zwar beeinflussen, etwa indem er bestimmte kostspieliger macht als andere bzw. ungünstiger, aber mehr darf er nicht. In seiner Schrift über den englischen Sozialismus macht de Jouvenel den Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten gelenkten Wirtschaft. Die gute gelenkte Wirtschaft ist diejenige, die „zum Vorteil des Individuums werden lässt, was zum Vorteil der Gesellschaft ist, und die es also dazu bringt, seine soziale Aufgabe mit aller jener Energie zu erfüllen, die er von Natur aus für seine eigene Befriedigung aufbringt“ (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 351). Eine gut gelenkte Wirtschaft ersetzt also nicht das eigennützige Motiv durch ein anderes, sondern sorgt dafür, dass eigennützig motivierte Menschen für das Wohl aller arbeiten, so dass niemand bei der Sache verliert und eine, wie man heute zu sagen pflegt, win-win Situation entsteht. Als Beispiel schlecht gelenkter Wirtschaft kann der sowjetische Staatssozialismus dienen. Der Staat ist einer Lenkung der Wirtschaft mittels finanzieller Anreize fähig, da Steuern, usw. ihm den dafür nötigen Reichtum in die Hände gelegt haben (L’économie dirigée, 65). In seinem 1969 publizierten Aufsatz ‚Technology as a Means‘ kommt de Jouvenel auf die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu sprechen und hält dort u. a. fest, dass der Staat durch seine Ausgabenpolitik die Forschung in bestimmte Richtungen lenken kann. Der Staat schreibt also den Forschern nicht vor, woran oder wonach sie forschen sollen, sondern er begnügt sich damit, bestimmte Forschungen finanziell zu unterstützen und es damit den Forschern zu erleichtern, ihre Forschungsarbeit zu tun. De Jouvenel bedauert in diesem Kontext, dass in den entwickelten Ländern das Geld vor allem zu Gunsten der Machtpolitik ausgegeben wird und dass man sich relativ wenig um die Interessen der Menschheit kümmert, dass also die Forschung nicht in jene Richtung gelenkt wird, in welcher sie den konkreten Menschen und ihren ebenso konkreten Bedürfnissen am meisten nutzen könnte (Economics and the Good Life, 130 ff.). Genauso wie die Kapitalisten das ihnen zur Verfügung stehende Geld nicht im Sinne des Allgemeinwohls investiert haben, investiert auch der moderne Staat das ihm
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zur Verfügung stehende Geld nicht, um die Lage der großen Masse der Bevölkerung zu verbessern bzw. ist eine solche Verbesserung keine Priorität für ihn. In De l’économie dirigée ist Bertrand de Jouvenel noch relativ optimistisch gegenüber der Möglichkeit einer gut gelenkten Wirtschaft, wobei dieser Optimismus aber nicht mit einer blauäugigen Naivität gleichgesetzt werden darf. So gibt er seinen Landsleuten recht, wenn sie dem Staate gegenüber misstrauisch sind (De l’économie dirigée, 169). Er glaubt aber dieses Misstrauen dadurch entschärfen zu können, dass er für eine grundlegende Reform des Staates plädiert. Dem bestehenden Staat ist nicht zu trauen, einem reformierten Staat kann aber getraut werden. Dieser reformierte Staat wird nicht mehr der Diener einer kleinen Gruppe sein, sondern im Dienst des Allgemeinwohls stehen, und zwar der jetzt existierenden Menschen als auch der zukünftigen Generationen. De Jouvenel spricht von einer doppelten Pflicht des Staates: „[D]en Individuen helfen, so gut wie möglich zu leben, und gleichzeitig dazu beitragen, den zukünftigen Generationen eine noch bessere Lebensweise zu sichern“ (L’économie dirigée, 170). Das Thema der zukünftigen Generationen taucht also nicht erst in den Schriften aus den 60er Jahren auf, sondern man findet es schon 1928. Und was er 1969 in ‚Technology as a Means‘ schreibt, hätte er auch schon 1928 in De l’économie dirigée schreiben können: „No generation has been more free to lay the foundation of the good life. But we shall not be free if we do not become aware of our freedom“ (Economics and the Good Life, 135). Wie hieß es gleich auf den Anfangsseiten von De l’économie dirigée: „Er [der Mensch – N. C.] hat keinen Grund mehr, fatalistisch zu sein. […] Er fängt also wahrscheinlich zum ersten Mal an zu glauben, dass die Welt besser gemacht werden kann“ (L’économie dirigée, 9). Armut und Elend sind keine Fatalitäten, und es hängt von den Menschen selbst ab, ob ihr Leben ein glückliches oder ein elendes sein wird. Nur müssen sie sich dessen bewusst werden und die richtigen Entscheidungen treffen. Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft ist das Bewusstsein entstanden, dass der Mensch über sein Schicksal entscheiden kann und es nicht einfach passiv über sich ergehen zu lassen braucht. 1928 traf Bertrand de Jouvenel die Entscheidung, dem Staat die Lenkung der Wirtschaft zu überlassen, da er nur auf diese Weise glaubte, das bessere Leben herbeizuführen. Das bedeutete u. a., dass der Staat ein Einsichtsrecht in das Funktionieren der von ihm unterstützten Betriebe haben sollte und sogar bestimmte Maßnahmen zu treffen: Insofern der Staat einer Industrie seinen für die Allgemeinheit kostspieligen Schutz gewährt, hat er die Pflicht, die Umgestaltungsmaßnahmen dieser Industrie zu treffen, so dass diese Opfer so schnell wie möglich aufhören (L’économie dirigée, 167)
Anders gesagt: Wenn eine Industrie den Schutz oder die Unterstützung des Staates in Anspruch nehmen will, dann muss sie auch bereit sein, dem Staat einen Einblick in ihr funktionieren zu gewähren und ihn auch ein Wort bei der internen Organisation mitsprechen zu lassen. Und was für die Industrie gilt, gilt auch für die Agrikultur: „Wie wir es hinsichtlich der Industrie getan haben, denken wir, dass der Schutz des Staates
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ein Einblicksrecht impliziert“ (L’économie dirigée, 161). Insofern öffentliche Gelder in einen Privatbetrieb investiert werden, muss die öffentliche Hand das Recht haben, über den Gebrauch dieser öffentlichen Gelder mitzubestimmen, mit dem Ziel, wie es auf Seite 167 von de Jouvenels Buch heißt, dass der Betrieb in eine Lage versetzt wird, die eine öffentliche Unterstützung nicht mehr nötig machen.49 Es geht also nicht darum, alle Betriebe permanent einer staatlichen Kontrolle zu unterwerfen oder gar den Staat zu einer industriellen Macht zu machen. In diesem Sinne unterscheidet de Jouvenel ganz klar zwischen einem „établissement d’utilité publique“ – eine Einrichtung zum öffentlichen Nutzen – und einem „établissement public“ – einer öffentlichen Einrichtung (L’économie dirigée, 193). Im zweiten Fall gehört die Institution dem Staat, als Vertreter der Allgemeinheit, und es ist auch der Staat, der ihr tagtägliches Funktionieren bestimmt. Im ersten Fall kann die Institution durchaus in den Händen von Privatpersonen sein und damit autonom vom Staat und von staatlichen Eingriffen funktionieren. Diese Institution arbeitet aber im Sinne des Allgemeinwohls, wobei nicht ausgeschlossen ist, ganz im Gegenteil, dass auch die sie leitenden Privatpersonen Vorteile aus diesem Funktionieren ziehen. Die von de Jouvenel herbeigewünschte Situation ist eine solche, in welcher der Gegensatz zwischen dem Allgemeinwohl und dem Privatwohl aufgehoben ist, in welchem also eine dem Privatwohl dienende Handlung zugleich auch dem Allgemeinwohl dient und in welcher der Staat auch die auf das Privatwohl gerichtete Handlungen unterstützt, insofern sie auch im Interesse des Allgemeinwohls sind. So führt der Autor das Beispiel eines Industriellen an, der in einer armen Gegend einen Betrieb errichten will, dies aber nicht kann, weil niemand ihm die dafür nötigen Grundstücke verkaufen will (L’économie dirigée, 193). Ein ganz strikter Liberalismus, der das Privateigentum als sakrosankt ansieht, kann dem Industriellen nur sagen, dass er sein Projekt aufgeben oder den Betrieb in einer anderen Gegend errichten soll bzw. dass er mehr für die Grundstücke bieten soll, da irgendwann einmal der Eigentümer dem Angebot nachgeben wird.50 Wer, wie de Jouvenel, das Privateigentum nicht als sakrosankt ansieht, sondern es vor dem Hintergrund seines Beitrags zur Förderung des Allgemeinwohls betrachtet51, wird die Möglichkeit einer Zwangsenteignung – mit entsprechender Entschädigung – erwägen. Eine solche Zwangsenteignung setzt natürlich ein Man kann diese Zeile vor dem Hintergrund der letzten Finanzkrise lesen, als viele Staaten verschiedene Banken vor dem Untergang retteten, indem sie sie finanziell unterstützten. 50 Das Problem ist natürlich, dass ab einem bestimmten Preis der Käufer kein Geld mehr übrig haben wird, um das von ihm geplante Projekt auf dem Grundstück zu verwirklichen. 51 So heißt es etwa: „Wenn der Nutzen und nicht die Gerechtigkeit das Fundament des Eigentumsrechts ist, dann folgt, dass dieses den Kapitalisten nur überlassen wird, damit sie eine soziale Funktion erfüllen. Und damit muss seine Ausübung geregelt werden“ (L’économie dirigée, 63). Mit einer solchen Aussage befindet de Jouvenel sich allein auf weiter liberaler Flur. So schreibt etwa Benjamin Constant: „Das Eigentum, insofern es sich bei ihm um eine gesellschaftliche Konvention handelt, fällt in den Kompetenz- und Juridiktionsbereich der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat Rechte über das Eigentum, die sie nicht über die Freiheit, das Leben oder die Meinungen ihrer Mitglieder besitzt“ (Constant 1997, 207) (Dazu auch Campagna 2001). 49
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Gesetz voraus, das sie legal möglich macht. Ein solches Gesetz ist Teil des Rahmens, mittels dessen der Staat die Ökonomie lenkt, ohne selbst direkt in sie einzugreifen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Der Staat befiehlt nicht, dass der Betrieb errichtet werden soll, sondern er ermöglicht oder erleichtert nur seine Errichtung. Und ebenso: Der Staat schafft nicht das Privateigentum ab, sondern integriert es in einen Rahmen, so dass es auch sozial nützlich ist. Und indem der Staat den Privateigentümer entschädigt, ersetzt er eigentlich nur eine Form des Privateigentums – das Grundeigentum – durch eine andere – das monetäre Eigentum. De Jouvenel gesteht dem Staat das Recht zu, einen Mindestlohn per Gesetz durchzusetzen (L’économie dirigée, 45). Was jenseits dieses Minimallohns liegt, sollte zum Verhandlungsgegenstand der, wie wir heute sagen würden, Sozialpartner werden, wobei aber der Staat es ist, der über die zwischen den Sozialpartnern geschlossenen Abmachungen wacht, zumindest insofern er ihnen zugestimmt hat (L’économie dirigée, 39). Ein solcher Mechanismus existiert heute in vielen Ländern, so etwa in Luxemburg die sogenannte Tripartite52, und er erlaubt es in vielen Fällen, Sozialkonflikte zu entschärfen, bevor es zum Streik kommt. Wichtig ist für de Jouvenel auch, dass die Macht der Kapitalisten bzw. allgemeiner die Macht des Reichtums gemindert wird. So sollen Ausgaben für Luxusgüter einer Luxussteuer unterworfen werden und der Staat sollte auch nicht davor zögern, die Gewinne aus spekulativen Geschäften oder die Kasinogewinne zu besteuern. Dabei ist sich de Jouvenel bewusst, dass man dadurch zwar nicht die Klasse der Kapitalisten und Rentiers abschaffen wird, aber man wird ihre Zahl und vor allem ihre Macht begrenzen. Der Autor glaubt übrigens, dass es unter den gegebenen Verhältnissen utopisch wäre, die Kapitalisten als solche zu eliminieren: „Sie sind, in einer kapitalistischen Gesellschaft, wie ein Angelpunkt. Unbeweglich ermöglichen sie die Bewegung des Ganzen“ (L’économie dirigée, 119). Das Ziel des Staates sollte es demnach nicht sein – wie ein kommunistischer Staat es tun würde –, die Kapitalisten zu eliminieren, sondern die von ihnen ermöglichte Bewegung in die Richtung des Allgemeinwohls zu lenken. Die Kapitalisten sollen dazu gebracht werden, so zu handeln, wie sie es täten, wenn das Allgemeinwohl ihr bewusstes Ziel wäre. Auf lange Sicht kann vielleicht ein neues ökonomisches Modell entstehen, das ohne die Kapitalisten funktioniert. De Jouvenel gibt hier als Vorbild die dänischen Milchkooperativen an (L’économie dirigée, 164). Sie haben die Vorteile der Konzentration – die unabdinglich ist, will man die Produktion steigern –, ohne deren Nachteile zu haben. Die Mitglieder der Kooperative regeln gemeinsam die Milchproduktion und sind auch gemeinsam verantwortlich. Wie Tocqueville es vor ihm gemacht hatte, lobt auch de Jouvenel die Vorteile der freien Assoziation. Sie erlaubt es nämlich, die Schwäche und Ohnmacht des modernen Individuums zu überkommen, ohne auf die Stärke und
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Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat sitzen an einem Tisch und verhandeln zusammen.
Die gelenkte Ökonomie
Macht des Staates zurückzugreifen bzw. diese zu vergrößern. Tocqueville kontrastiert hier Amerika mit Frankreich und England: „Überall, wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden“ (Tocqueville 1976, 195). Die Amerikaner die Tocqueville während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten beobachtete, hatten selbst die Vorzüge der Vereinigungen erkannt, und es bedurfte demnach keines zusätzlichen Stachels – außer eben dem des zu lösenden Problems –, um sie dazu zu bringen, Vereinigungen zu gründen. Die Franzosen, an die de Jouvenel denkt, bedürfen eines solchen Stachels: „Die wirklichen Vorteile der Vereinigung sind nicht so kurzfristig und so evident, dass man keine künstlichen Vorteile hinzufügen müsste, um ihre Gründung zu beschleunigen“ (L’économie dirigée, 167). Eine finanzielle Unterstützung durch den Staat oder steuerliche Vorteile könnten solche künstlichen Vorteile sein. Aber, wie wir gesehen hatten, impliziert die Gewährung solcher Vorteile, dass dem Staat auch ein Einblicksrecht gegeben wird. Anstatt den Abgeordneten, von denen er nicht all zu viel hält53, die Aufgabe zu überlassen, die nötigen Gesetze zu machen, sollte man, de Jouvenel zu Folge, eine Nationale Interessenkammer damit beauftragen (L’économie dirigée, 186). Sie würde sich aus sachkundigen Experten zusammensetzen und würde auch ihre Entscheidungen auf der Basis statistischer Daten treffen (L’économie dirigée, 183). Die von de Jouvenel gewünschte gelenkte Ökonomie wäre demnach keine demokratisch, sondern vielmehr eine technokratisch gelenkte Ökonomie. Diese Technokratie steht dabei im Dienste der großen Masse. Und damit sie sich den rasch ändernden Umständen anpassen kann, müssen die Beamten über einen breiten Spielraum an Entscheidungsfreiheit verfügen – verbunden allerdings, mit einer ebenso großen Verantwortung für die von ihnen getroffenen Entscheidungen (L’économie dirigée, 190).
An einer Stelle schreibt er, die Könige seien, was die Entscheidungen betrifft, besser gewesen als die Abgeordneten (L’économie dirigée, 171). 53
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II.
Bertrand de Jouvenel und der Marxismus
Einleitung
„Ein Gespenst geht um die Welt: dasjenige von Karl Marx“ (Marx et Engels, 11), so heißt es, mit einer evidenten Anspielung auf das Manifest, bei Bertrand de Jouvenel im Vorwort von Marx et Engels. La longue marche, ein Buch, das er zwar erst 1983 veröffentlicht hat, in dem sich aber ein Interesse manifestiert, das er schon seit 1926 mit sich trägt. Das Buch ist eine Mischung aus biographischen Elementen und theoretischen Überlegungen, wobei eine Frage de Jouvenel besonders beschäftigt: Entspricht der real existierende Sozialismus, also der Sozialismus, wie er in der damaligen Sowjetunion existierte, dem, was für Marx und Engels der soziale Idealzustand war? Oder noch anders gefragt: Würden Marx und Engels die Sowjetunion als Verwirklichung ihrer Vorstellungen ansehen, oder würden sie, ähnlich wie Marx, als er eine französische Arbeiterkommune besuchte, gesagt haben soll, sagen: „Wenn das der Marxismus ist, dann sind wir keine Marxisten“? Die Frage ist insofern nicht leicht zu beantworten, als wir bei keinem der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus eine detaillierte Beschreibung der neuen und idealen Gesellschaft finden. Sieht man von einigen kurzen, und manchmal zum Teil auch eher ironisch gemeinten Bemerkungen ab, haben Marx und Engels uns nichts über das tägliche Leben der konkreten Menschen in der sozialistischen, geschweige denn kommunistischen Gesellschaft gesagt, also darüber, wie die Zukunft konkret aussehen wird (L’économie dirigée, 21).54 Wir finden bei ihnen auch keine genaue Be-
Der Kommunismus scheint auch bei Marx und Engels einer Entwicklung zu unterliegen, mit einer niederen und einer höheren Phase: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen, erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (MEW XIX, 21). An einer anderen Stelle wird der Kommunismus als die „endgültige Lösung“ bezeichnet (MEW XXXVI, 540). 54
Einleitung
schreibung der Institutionen dieser Gesellschaft,55 und im Allgemeinen dessen, was man gemeinhin im Marxismus als Überbau bezeichnet. Daraus folgt für Bertrand de Jouvenel: „Praktisch gesehen kann das Bild von Marx als riesiges Plakat für jedwede soziale Organisation dienen, vorausgesetzt nur, dass es dort kein Privateigentum an den Produktionsmitteln mehr gibt“ (Marx et Engels, 20). Es genügt also eine bestimmte Basis, der Überbau mag sein, was er will. Wobei aber anzumerken ist, dass Marx dem entgegen gehalten hätte, dass mit einer bestimmten Basis auch immer ein bestimmter Überbau gegeben ist. Wie er es selbst im Vorwort seines Buches anklingen lässt, will de Jouvenel nicht die gesamte Lehre von Marx darstellen, sondern nur das, was die meisten Menschen von ihr zurückbehalten haben (Marx et Engels, 12). Genauer hätte es hier heißen sollen, dass de Jouvenel von Marx und von denjenigen, die sich auf ihn berufen, nur das zurückbehält, was aus seiner eigenen Perspektive relevant erscheint. Und diese Perspektive artikuliert sich, wie in vielen anderen Schriften des Autors, um die Begriffe der Freiheit, der politischen Macht und der mit letzterer einhergehenden politischen Unterdrückung. De Jouvenel ist nämlich am dialektischen Umschlagen einer Theorie der Freiheit in eine Praxis der Unterdrückung interessiert, und dabei geht es ihm in erster Linie darum, in der Theorie der Freiheit nach den dort schon angelegten Keimen zu suchen, die eine Praxis der Unterdrückung erzeugen konnten. Warum wurde aus dem Traum ein Albtraum? Warum nahm das versprochene Reich der Freiheit die Form des Reichs der Nomenklatura an? Welche Verantwortung trägt Marx dabei? Inwiefern ist Marx einer bestimmten Denkart verhaftet geblieben, die sein Zeitalter kennzeichnete und die ihm die Sicht auf jene Elemente versperrt hat, die tatsächlich eine Praxis der Freiheit hätte eröffnen können? Dies sind die Fragen, die de Jouvenel im Buch behandelt und die eigentlich nur historische Konkretisierungen seines zentralen Anliegens sind, nämlich zu zeigen, dass der Weg zur Freiheit nicht über eine Vergrößerung der politischen Macht – die sich als Wegbereiterin der Freiheit ausgibt – führt. Marx ist ein Denker der Moderne, einer Moderne, die unter dem Banner der Vergrößerung der menschlichen Freiheit aufgetreten ist, die aber in Wirklichkeit dem Staat eine immer größere Macht gegeben hat. Mögen der Kommunismus und der Kapitalismus sich auch in vielerlei Hinsichten unterscheiden, so sind sie doch beide Kinder der Moderne. Im ersten Teil dieses Kapitels soll gezeigt werden, dass de Jouvenel Marx zwar nicht unbedingt für schuldig am Aufkommen des Stalinismus erklärt, wohl aber für verantwortlich. Marx hat nie ein Regime wie dasjenige Stalins gewollt oder als Ideal dargestellt, aber er hat sich keine Vorkehrungen ausgedacht, um die Errichtung eines solchen Regimes zu verhindern. Im zweiten Teil des Kapitels befasse ich mich mit de Jouvenels Ansichten zu den im Namen der Freiheit geführten Revolutionen und gehe Insofern unterscheiden sie sich von den utopischen Schriftstellern, die oft eine ganz detaillierte Beschreibung der idealen Gesellschaft geben. 55
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Bertrand de Jouvenel und der Marxismus
dabei genauer auf seine Bemerkungen zur Revolution von 1917 ein. Der dritte Teil behandelt das Thema der menschlichen Hybris. Diese Hybris, von der sich auch Marx nicht abgrenzt bzw. die er implizit, wenn nicht sogar explizit gutheißt, liegt am Ursprung alles menschlichen Elends, und wer ihr bei der Aufstellung einer politischen Theorie keine oder nur eine ungenügende Aufmerksamkeit schenkt bzw. wer nur ihre positiven und nicht zugleich auch ihre negativen Seiten sieht, macht sich nicht zum Diener der menschlichen Befreiung, sondern wird zum – wenngleich nicht immer freiwilligen – Helfer der Unterdrückung des Menschen. Der vierte Teil befasst sich mit der sozialistischen Politik, wie sie in England nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt wurde. Auch wenn man hier nicht stricto sensu von Marxismus sprechen kann, so inspiriert sich diese Politik, wie sie de Jouvenel in einer 1947 veröffentlichten Monographie untersucht, doch ganz stark an bestimmten Gedanken, die man auch bei marxistischen Autoren finden kann. Eine ähnliche Bemerkung gilt für den fünften und letzten Teil, in dem ich auf die Grundgedanken von de Jouvenels Ethics of Redistribution eingehe, ein Buch, in dem der Autor auf die Frage eingeht, ob es moralisch ist, den individuell produzierten Reichtum umzuverteilen, um damit die ökonomische Gleichheit zwischen den Individuen zu fördern. 1.
Von Marx zu Stalin
Bertrand de Jouvenel hatte die Gelegenheit, die Verwirklichung des Marxismus, d. h. die Umsetzung der Marxschen Theorie, oder dessen, was als solche ausgegeben wurde, in die konkrete Wirklichkeit bzw. ihre Anwendung auf die realen sozialen Verhältnisse, sowohl in der Sowjetunion als auch in China zu erleben – von anderen kleineren Staaten (etwa Albanien, Jugoslawien oder Kuba) abgesehen. Gleichzeitig war er auch Zeuge der Ausbreitung Marxscher Gedanken im Westen, u. a. im Frankreich der Nachkriegszeit, als die Kommunistische Partei von ihrer sehr aktiven Rolle in der Resistenz profitierte, um die französische Politik der zweiten Hälfte der 40er und der 50er Jahre zu beeinflussen und u. a. ein gerechtes System allgemeiner Krankenversicherung – die Sécurité sociale – durchzusetzen. Der lange Marsch des Marxismus zur Staatsideologie, zur neuen Glaubenslehre vieler Intellektueller und zum Hauptkonkurrenten des Liberalismus, mit dem er in einen kalten Krieg treten wird, ist ihm demnach nicht fremd. Während viele andere großen französischen Intellektuellen seiner Generation die realen Zustände im Land des realexistierenden Sozialismus lange Zeit nicht sahen bzw. nicht sehen oder zumindest nicht zugeben wollten – ein hier zu nennendes Beispiel ist Jean-Paul Sartre –, ist sich Bertrand de Jouvenel vollends bewusst, dass der Stalinismus alles andere als die Befreiung der Arbeiter aus der durch den Kapitalismus bedingten Unmündigkeit und Ausbeutung bedeutet. Die Sowjetunion ist kein Arbeiterparadies, sondern ein totalitärer Staat, der die Arbeiter zur Erreichung der von ihm definierten Zwecke gebraucht. Und der höchste dieser Zwecke ist machtpolitischer Natur: Es gilt,
Von Marx zu Stalin
der Sowjetunion einen Platz unter den großen Nationen zu sichern. Dass dabei individuelle Leben geopfert und die öffentlichen Freiheiten unterdrückt werden, ist zweitrangig. Die kollektive Größe steht über dem individuellen Wohlergehen. Die Frage stellt sich allerdings, ob der Stalinismus, wie es u. a. die Trotzkysten oder die libertären Sozialisten behaupten, nur ein akzidentelles Phänomen ist, für das man die Wirklichkeit anklagen muss, und nicht die Theorie, oder ob er nicht vielmehr schon, wie der sprichwörtliche Wurm im Apfel, in der Theorie enthalten ist. Hat die Wirklichkeit der Theorie lediglich einen temporären Strich durch die Rechnung gemacht, so dass es genügt, auf bessere Bedingungen zu warten, damit die Theorie ihr eigentliches emanzipatorisches Potenzial in der Wirklichkeit zeigen kann, oder geht die Theorie von Prämissen aus, die entweder der Wirklichkeit als solchen – und nicht bloß einer bestimmten, historisch genau umgrenzten Wirklichkeit – nicht genügend Rechnung tragen, oder die dahin führen mussten, wo sie in der Sowjetunion geführt haben? Oder noch anders gesagt: Ist nur der Mensch Stalin das Problem, oder ist die Marxsche Theorie das Problem? Und man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob die Marxsche Theorie selbst nicht Ausdruck einer bestimmten Konzeption der Welt ist, die sich auch in anderen Theorien wiederfindet, so dass das, was der Marxismus in der Sowjetunion bewirkt hat, auch in anderen Teilen der Welt gefunden werden kann, die sich nicht zum Marxismus bekennen bzw. die sich sogar dem Marxismus widersetzen und sich als seine Feinde deklarieren. Wie viele seiner Werke, spiegelt auch de Jouvenels Marx et Engels, la longue marche einen metaphysischen Standpunkt wider, dem es nicht nur darum geht, ökonomische, soziale und politische Entwicklungen akribisch genau nachzuzeichnen, sondern der diese Entwicklungen in einen größeren Rahmen stellt, ein Rahmen, der sie nicht bloß als Zufallserscheinungen darstellt, sondern als Teil eines langen Marsches der Geschichte. Die Sowjetunion und der sich dort etablierende Staat wären somit nicht als ein Schritt auf dem langen Marsch der Menschheit zur Freiheit zu sehen, sondern als ein weiterer Schritt auf ihrem langen Marsch zur Unfreiheit. Die Sowjetunion könnte somit dem Westen seine eigene Wahrheit vor Augen führen, eine Wahrheit, die er nicht sehen und von welcher er sich absolut abgrenzen will. Die Sowjetunion unter Stalin hätte gewissermaßen das zur Vollendung gebracht, wonach man im Westen seit Jahrhunderten strebt: Eine Kontrolle der gesamten Gesellschaft durch eine den Interessen des Staates unterworfene Bürokratie. Aber, so wird man gleich fragen, strebt man im Westen nicht seit Jahrhunderten nach der Freiheit? Und hat die Französische Revolution, mit der Abschaffung des absolutistischen Ancien Régime, diese Freiheit nicht jedem zugänglich gemacht bzw. hat sie nicht den Weg zur allgemeinen Freiheit geöffnet, mag sich auch jemand wie Napoleon zeitweilig als Hindernis auf diesem Weg etabliert haben? Nährt sich der Westen nicht am liberalen Gedanken, am Gedanken, dass der Mensch den Staat zwar braucht, dass die Macht dieses Staates aber stets begrenzt sein muss, wie es u. a. Wilhelm von Humboldt in seiner berühmten Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates
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dargelegt hatte, und wie man es auch in den Werken anderer Autoren wie Benjamin Constant, Alexis de Tocqueville, Edouard Laboulaye, Jules Simon, usw. findet? Wenn der Westen nach Freiheit strebt, dann kann nicht gesagt werden, dass die Sowjetunion ein Ideal zur Vollendung bringt, nach dem man im Westen schon seit Jahrhunderten strebt, nämlich das Ideal eines Menschen, der zwar vom Staat vor seinesgleichen geschützt wird, der aber im Schatten dieses Schutzes sein Leben frei führen kann, soweit er dadurch die Freiheit und Sicherheit seiner Mitmenschen nicht gefährdet. Wäre die Vollendung dieses Ideals nicht eher in einer anarchistischen Gesellschaft zu sehen, einer Gesellschaft, in welcher es keinen Staat mehr gibt, sondern in der die Menschen ihr Leben ganz frei gestalten? Nährt sich der liberale Westen nicht am utopischen Ideal einer Gesellschaft ohne Staat, während sich der marxistische Osten dem dystopischen Ideal eines die Gesellschaft vollkommen kontrollierenden Staates nährt? Karl Marx, so Bertrand de Jouvenel, wollte die Zerstörung des Staates (Marx et Engels, 144). Oder wie es noch an einer anderen Stelle heißt: „Marx und Engels begannen als überzeugte Gegner der staatlichen Autorität“ (Marx et Engels, 89). Der lange Marsch von Marx und Engels begann also sozusagen an einem noch früheren Standpunkt als es derjenige des westlichen Liberalismus war, der sich meistens mit einer Zähmung des Leviathan zufriedengab und nur im Falle der Anarchisten seine völlige Zerstörung verlangte. Die Liberalen wollten keinen absolutistischen Staat, in dem der Wille des Souveräns das einzige Gesetz war, aber sie erkannten die Notwendigkeit einer staatlichen Autorität an. „So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig“ war ihr Kampfwort, und auch gegenüber dem nötigen Staat sollten die Bürger stets misstrauisch sein und sich nicht von denjenigen überreden lassen die ihnen in Krisensituationen sagten, Not kenne kein Gebot. Die Bolschewiki die 1917 in der Sowjetunion an die Macht kamen, offenbarten sich zwar als überzeugte Gegner der zaristischen Autorität, genauso wie der bourgeoisen Autorität, wie sie die Kerensky-Regierung darstellte, aber sie waren alles andere als Gegner der staatlichen Autorität schlechthin. Weit davon entfernt, den Staatsapparat völlig zu zerstören und, wie es in der Propaganda hieß, alle Macht den Sowjets zu geben, ergriffen sie die Kontrolle des Staatsapparates und bedienten sich seiner, um zuerst den bewaffneten Kampf gegen die Feinde der Revolution aufzunehmen und um dann aus einem armen Agrarland eine reiche Industrienation zu machen. Ist das despotische Regime Stalins darauf zurückzuführen, dass Russland zur Zeit der Revolution erst anfing, den Übergang von einer zum Teil noch feudalen zu einer bürgerlichen Gesellschaft zu machen, also zu jener Gesellschaft, aus der sich die sozialistische, und nach ihr die kommunistische Gesellschaft entwickeln sollte, nachdem der notwendige soziale Reichtum geschaffen worden war? Liegt das Problem also letztendlich darin, dass die Revolution zu früh stattgefunden hat? Wäre alles anders gekommen, wenn Lenin ein wirklich orthodoxer Marxist gewesen wäre, für den eine erfolgreiche sozialistische Revolution in einem noch kaum industrialisierten Land im
Von Marx zu Stalin
Rahmen des Marxismus undenkbar war? Liegt das Problem also vielleicht bei Lenin, der zu früh handeln wollte? Und ist der stalinistische Despotismus lediglich die logische, wenngleich von Lenin nicht gewollte Konsequenz dieses frühzeitigen Handelns? Liegt das Problem also letztlich doch nur bei menschlichen Entscheidungen (Lenins Fehlentscheidung) und idiosynkratischen Charakterzügen (Stalins Größenwahn)? Bertrand de Jouvenel lässt keine dieser Erklärungen gelten. Der stalinistische Totalitarismus ist in seinen Augen kein zufälliger Unfall auf dem langen Marsch zur Freiheit, ein Marsch, zu dem auch Marx aufgerufen hatte. Bezüglich des stalinistischen Regimes heißt es: Die einen werden hierzu sagen, dass Marx das nicht wollte: und sie haben vielleicht recht. Die anderen werden sagen, dass Marx’ Werk logisch dahin führte, und ich glaube, dass sie nicht unrecht haben. (Marx et Engels, 144)
Marx wäre also zwar einerseits als verantwortlich, wenngleich anderseits nicht unbedingt auch als schuldig zu betrachten.56 Schuldig wäre Marx, wenn er sich ausdrücklich und entschieden für die unbegrenzte Stärkung des Staatsapparates ausgedrückt hätte, wenn er also einen solchen Staatsapparat herbeigewünscht und seine Einrichtung begrüßt hätte. Einige Stellen seiner Schriften zeigen aber in die entgegengesetzte Richtung. Aber auch wenn man ihn vielleicht vom Willen freisprechen kann, einen totalitären Staat einrichten zu wollen, so muss man ihm doch die Verantwortung anlasten, eine Theorie aufgestellt zu haben, die, folgt man ihrer internen Logik, zum Totalitarismus führt. Es ist eine interne Dialektik am Werk, durch die eine ursprüngliche Absicht sich in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Die Dynamik dieser Dialektik zu entlarven ist eine der Aufgaben, die sich Bertrand de Jouvenel zum Ziel setzt, wobei er es sich auch zum Ziel setzt, die Universalität dieser Dialektik und der sie treibenden Kraft aufzuzeigen. Er gehört nicht zu jenen Denkern, die mit dem anklagenden Finger auf die sowjetische Staatsmacht zeigen, um, im Kontrast dazu, die Freiheit der Individuen im Westen zu loben. Die Menschen im Westen mögen sich zwar freier fühlen, aber auch sie sind Opfer jener Dialektik, die in der Sowjetunion den totalitären Staat herbeigeführt hat. Was die Revolution von 1917 für Russland war, war die Revolution von 1789 für den Westen.
„Responsable, mais pas coupable“ hieß es im Falle der durch den HIV-Virus kontaminierten Blutreserven in Frankreich. Den zuständigen politischen Autoritäten konnte man zwar nicht vorwerfen, dass sie die Patienten willentlich infizieren wollten – insofern sind sie nicht schuldig. Aber sie tragen trotzdem die Verantwortung, da sie nicht rechtzeitig reagiert und die nötigen Maßnahmen getroffen haben, um die Patienten vor einer Infizierung zu schützen. 56
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2.
Die Kritik an den Revolutionen
Bertrand de Jouvenel hat sich nirgends detailliert mit der bolschewistischen Revolution von 1917 befasst, durch welche das alte Regime in Russland niedergeschlagen und durch ein neues ersetzt wurde, dessen Wille, einen radikalen Bruch mit dem alten Regime einzuläuten u. a. in der Entscheidung zum Ausdruck kam, die in der Zarenzeit aufgenommenen Staatsschulden nicht anzuerkennen und somit den Gläubigern – darunter viele Franzosen – ihr Geld nicht mehr zurückzuzahlen. In Du pouvoir findet man allerdings einige Hinweise auf die Revolution von 1917, die in Parallele gesetzt wird zu der ersten englischen Revolution, die Cromwell an die Macht brachte, und zur Französischen Revolution von 1789. Dabei geht es de Jouvenel nicht darum, die Unterschiede zwischen diesen Revolutionen aufzuzeigen, sondern vielmehr die Gemeinsamkeiten, um auf diese Weise zu zeigen, dass sich überall, unabhängig von den politischen Ideologien, eine und dieselbe Dynamik behauptet, nämlich die Dynamik der Macht. Mögen die Revolutionen auch vorgeben, die Macht zu bekämpfen, um der Freiheit Platz zu machen, so erzeugen sie in der Praxis genau das Gegenteil. Zuvor war es die Autorität von Karl I., Ludwig XVI., Nikolaus II. Danach diejenige Cromwells, Napoleons, Stalins. Das sind die Herren, denen sich die Völker unterworfen sehen, die sich gegen die ‚Tyrannei‘ der Stuart, der Bourbonen oder der Romanoffs erhoben haben (Du pouvoir, 350)
Indem er das Wort „Tyrannei“ zwischen Anführungsstriche setzt, will de Jouvenel nicht leugnen, dass die genannten Könige eine bestimmte Macht hatten, aber er will zu verstehen geben, dass diese Macht nur einen Bruchteil derjenigen war, die ihre Nachfolger für sich beanspruchten, Nachfolger die nicht, wie ihre Vorgänger, ein Gottesgnadentum für sich beanspruchten, sondern sich als Vertreter des Volkes oder der Nation betrachteten. De Jouvenel stellt auch fest, dass die Revolutionen in den drei genannten Fällen nicht zu einem Zeitpunkt stattgefunden haben, als die Macht der Herrscher auf ihrem Höhepunkt war, sondern als sie zerbröckelte. Es ist demnach falsch zu behaupten, dass die Revolutionen einen übermächtigen Herrscher stürzen, um ihn durch eine geringere Macht zu ersetzen. Es geschieht vielmehr das Gegenteil: Eine relativ schwache Macht wird durch eine größere ersetzt. Und dieser größeren Macht gelingt, was ihrer Vorgängerin wahrscheinlich nie gelungen wäre. So etwa in Frankreich: Ludwig XVI. versuchte vergeblich, das Land zu reformieren, stieß aber permanent auf den Widerstand der Privilegierten. Hätte er seine Reformen durchziehen können, wäre Frankreich die Revolution vielleicht erspart blieben. Aber die Revolution kam, und an einem Tag gelang der französischen Nationalversammlung, was den absoluten Königen, mit dem Sonnenkönig angefangen, nie gelungen war, nämlich die Abschaffung der Privilegien. Die aus der Revolution hervorgegangenen Instanzen hatten demnach eine Macht
Die Kritik an den Revolutionen
an sich gerissen, die weit größer war als die der absoluten Könige, und zwar sowohl auf dem Papier als auch in der konkreten Wirklichkeit. Die neue Macht durfte nicht nur mehr, sondern sie konnte auch mehr. In Russland war es ganz ähnlich. Unter den Zaren geschah die Transformation Russlands in eine Industrienation zögernd, und wie es der verlorene Krieg gegen Japan – der zur Februarrevolution von 1905 führte – zeigt, war die weltpolitische Macht Russlands auch nicht mehr das, was sie einst unter dem Zaren Peter dem Großen und der Tzarin Katharina – Voltaires Semiramis des Nordens – war. Unter diesen Umständen lässt sich der relativ schnelle Untergang des Zarenreichs leicht erklären. Seine Macht war zu schwach, um die inneren Reformen durchzuziehen, und sie war auch zu schwach, um dem Land wieder eine wesentliche Rolle auf dem internationalen Parkett spielen zu lassen. Mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki sollte sich alles ändern: Eine Macht die weit größer war als die des Zaren, schöpft ganz andere Kräfte aus dem Land und erlaubt es, die durch das Reich verlorenen Gebiete, und weit mehr, wiederzugewinnen. (Du pouvoir, 353)
In nur einem halben Jahrhundert ist es Stalin gelungen, aus einem Agrarland eine Industrienation zu machen, die sich, was die Technologie betrifft, mit den Nationen des Westens messen kann.57 Gleichzeitig erstreckt sich die geopolitische Macht der Sowjetunion weit über die Grenzen des Landes hinaus, und genauso wie der Satellit Sputnik die Erde umkreiste, umkreisen die Satellitenstaaten die Sowjetunion und richten sich nach den in Moskau getroffenen Entscheidungen – oder sie werden militärisch besiegt, wie es in Ungarn und der CSSR der Fall war. Die Revolution hat die Macht der Zaren zerstört, aber sie hat eine ungeheuer größere Macht an ihre Stelle gesetzt, und dies obwohl sie im Namen einer politischen Theorie – dem Marxismus – geführt wurde, dessen Begründer den Staat als Instrument der Bourgeoisie und des Kapitalismus zerstören wollte, um den Menschen zu erlauben, frei zu sein. Und wie de Jouvenel ausdrücklich festhält, waren Cromwell in England und Stalin in Russland keine „zufälligen Konsequenzen, Unfälle, die während eines sozialen Sturms geschehen sind“, sondern sie waren das „unausweichliche Ende“, das Ziel, auf das der ganze Prozess notwendig hinauslief (Du pouvoir, 350). Revolutionen sollten demnach nicht mehr als Momente auf dem Weg der Befreiung des Menschen angesehen werden, sondern ganz im Gegenteil als Momente auf dem Weg ihrer immer größeren Unterwerfung. Nach der Revolution sind die Menschen De Jouvenel verweist auch auf die nationalistische Wende des Kommunismus (Quelle Europe?, 196) und darauf, dass die kommunistische Doktrin von Zeitgenossen oft mit der imperialistischen Politik der UdSSR identifiziert wird (Quelle Europe?, 194). Im Hinblick auf den ersten dieser beiden Punkte kann auch noch angemerkt werden, dass de Jouvenel darauf hinweist, dass die immer größer werdende Abhängigkeit der Arbeiter vom Staat ein wesentliches Element beim Verschwinden des von Marx vorausgesetzten internationalen oder grenzüberschreitenden Charakter der Arbeiterklasse ist. 57
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nicht freier als vor der Revolution, sondern unfreier. Und dies nicht wegen bestimmter historischer Zufälle, sondern weil der Vormarsch der Unfreiheit wie ein eisernes Gesetz in der Geschichte wirkt. Und die diesen Vormarsch in der Sowjetunion erklärenden Prämissen sind schon in den Schriften von Marx enthalten, so dass de Jouvenel behaupten kann, das sowjetische Regime könne sehr wohl als „die Verwirklichung des Marxschen Denkens“ angesehen werden (Marx et Engels, 234). 3.
Die Blindheit von Marx
Hat Marx auch an mehreren Stellen seiner Schriften zur Zerstörung des Staatsapparates aufgerufen, so findet man in seinen Schriften auch Stellen, die dem Staat eine Rolle im Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft zuerkennen. So erwähnt de Jouvenel jene Stelle aus dem Manifest der kommunistischen Partei, in welcher Marx sich für die Verstaatlichung der Produktionsinstrumente ausspricht (Marx et Engels, 118). Durch eine solche Verstaatlichung werden die Arbeiter zwar von den einzelnen Kapitalisten befreit, aber im Gegenzug kommen sie unter die Kontrolle des Staates, der zum einzigen Arbeitgeber wird. An die Stelle einer Vielzahl von kleinen Machtpunkten tritt somit eine einzige große Machtzentrale, und die ökonomische Macht der Kapitalisten nimmt die Form der politischen Macht des Staates sein. Die Macht ändert somit nicht nur ihr Ausmaß, sondern auch ihre Natur. Jouvenel steht hier vor einem Rätsel: Wie konnte sich Marx keine Sorgen bezüglich einer solchen totalen Macht machen? Das ist, für mich, ein unlösbares Rätsel (Marx et Engels, 118)
Während Thomas Hobbes sich zumindest der Tatsache bewusst war, dass der Souverän seine absolute Macht missbrauchen konnte, ohne allerdings institutionelle Mittel vorzusehen, die vor einem solchen Machtmissbrauch schützen bzw. durch die man adäquat auf ihn reagieren konnte, ist bei Marx nicht nur keine Spur von institutionellen Gegenmächten zu finden, sondern es fehlt selbst die Sorge um einen möglichen Machtmissbrauch. Es sieht demnach so aus, als ob Marx sich keinen Missbrauch der politischen Macht durch den im Namen und im Interesse des Proletariats handelnden Staates vorstellen konnte, so dass es ihm auch nicht nötig schien, irgendwelche diesbezüglichen Vorkehrungen zu treffen. Auch wenn de Jouvenel das Rätsel als ein unlösbares ansieht, findet man doch bei ihm bestimmte Hinweise auf eine mögliche Lösung. Marx, so de Jouvenel, hat sich in einem solchen Ausmaß mit der sozialen Frage befasst, dass er blind für die politische Frage geworden ist (Marx et Engels, 145). Das soziale, ökonomische und ganz einfach auch rein menschliche Elend der Massen war für Marx so groß, dass er nur an etwas dachte, und zwar diesem Elend mit allen zur Verfügung stehenden Mittel ein Ende zu bereiten. In dieser Hinsicht lässt er sich mit Hobbes vergleichen: Das durch den Krieg
Die Blindheit von Marx
eines jeden gegen jeden hervorgerufene Übel ist derart groß, dass alle anderen Übel, inklusive das Übel eines irrationalen, d. h. nicht an seine langfristigen Interessen denkenden Souveräns, in den Schatten gestellt werden. Marx sieht also in erster Linie das durch die ökonomische Macht bewirkte Übel. Die Industriebesitzer haben in einem bestimmten Sinne ein ius vitae necisque über die Arbeitnehmer. Der Arbeiter kann nur überleben, wenn er arbeitet, und arbeiten kann er nur, wenn er die Arbeitsinstrumente betätigt. Diese Instrumente befinden sich aber im Besitz der Kapitalisten, so dass diese entscheiden können, wer für sie arbeitet und unter welchen Umständen – vor allem dann, wenn es weit mehr Arbeitnehmer als Arbeitsplätze gibt. Und wer über das ius vitae necisque verfügt, verfügt auch über den Willen und damit über die Freiheit, inklusiv die politische. Hatte Kant den Staatsbeamten das aktive Wahlrecht nicht abgesprochen, weil sie vom Staat abhängig waren? Und den Bediensteten, weil diese von ihrem Herrn abhängig waren? Die ökonomische Macht ist also alles andere als eine geringe, nicht oder kaum fühlbare Macht. De Jouvenel hält es Marx zu Gute, dass dieser die ökonomische Macht klar erkannt und das westliche Denken durch diese neue Perspektive bereichert hat. Diese Bereicherung hat aber ihren Preis in der Vernachlässigung der politischen Macht und der mit ihr einhergehenden Gefahren für die menschliche Freiheit (Marx et Engels, 146). Genauer sollte es hier heißen, dass Marx die Frage nach der politischen Macht nach der Überwindung des Kapitalismus vernachlässigt hat. Die mit und im Interesse der Bourgeoisie arbeitende politische Macht der kapitalistischen Gesellschaft wird von Marx durchaus thematisiert und verurteilt, und wenn er die Zerstörung des Staatsapparates verlangt, dann ist damit die Zerstörung eines Apparates gemeint, der seine politische Macht in den Dienst der ökonomischen Macht stellt. Hier wird ersichtlich, wieso Marx die politische Macht nach der Revolution bzw. nach dem Klassenkampf vernachlässigt hat: Diese Macht steht nicht mehr im Dienste einer von ihr unabhängigen und sie kontrollierenden und dominierenden ökonomischen Macht. Der Staat, anders gesagt, ist kein Instrument einer herrschenden Klasse mehr, da die Klassengesellschaft mit der Revolution verschwunden ist, und damit auch die Unterdrückung. Für Marx gab es keinen Grund, einer politischen Macht zu misstrauen, die nicht mehr abhängig von partiellen Interessen war, sondern die sich vielmehr in den Dienst des Menschen als solchen stellte. Der „fundamentale Fehler“ von Marx und Engels, so Bertrand de Jouvenel, bestand darin, die libido dominandi nicht als Konstante der menschlichen Natur, sondern als bloßes Produkt bestimmter sozio-ökonomischer Verhältnisse betrachtet zu haben, und dementsprechend geglaubt zu haben, dass mit dem Verschwinden dieser Verhältnisse auch die libido dominandi verschwinden würde (Marx et Engels, 149). Und wo es diesen Beherrschungsdrang nicht mehr gibt, wird man sich auch nicht mehr in Acht vor dem Staat nehmen müssen, da die Menschen an der Spitze des Staates nicht mehr herrschen, sondern vielmehr nur ihren Mitmenschen helfen wollen, das Reich der Freiheit herbeizuführen.
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Was also wie ein unlösbares Rätsel erschien, hat schlussendlich doch eine Lösung gefunden, nämlich ein bestimmtes Menschenbild. Im Gegensatz zu Hobbes, der ein pessimistisches Menschenbild hat, die politischen Gefahren sieht, die von dem Souverän ausgehen können, diesen Gefahren aber nicht institutionell vorbeugen will, weil jede solche Vorbeugung in seinen Augen noch schlimmere Gefahren erzeugen kann, denkt Marx weder an solche Vorbeugungen, noch an die Gefahren, weil er ein positives Menschenbild hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Marx auch von den liberalen Denkern. Diese gingen auch, wie Hobbes, von einem pessimistischen Menschenbild aus. Wie Hobbes sahen sie die Gefahren, die vom Souverän ausgingen, aber im Gegensatz zu Hobbes glaubten sie, dass man diesen Gefahren vorbeugen sollte und vorbeugen konnte, etwa durch ein System der checks and balances. Ein dem Marxschen entsprechendes Menschenbild findet man bei Jean-Jacques Rousseau. Auch Rousseau geht von der Prämisse aus, dass der Mensch von Natur aus gut ist, und dass es die Gesellschaft und die Zivilisation sind, die aus ihm ein schlechtes Wesen gemacht haben. Für Marx und Rousseau, so de Jouvenel, geht es um „eine Veränderung des individuellen Verhaltens durch eine Veränderung der Institutionen“ (Marx et Engels, 226). Diese Formulierung scheint mir noch zu schwach zu sein, denn auch Hobbes, Locke, usw. geht es darum, das individuelle Verhalten zu ändern. So sollen bei Hobbes etwa die Individuen aufhören, ihre Konflikte mittels Gewalt zu lösen, und stattdessen diese Konflikte vor einen Richter tragen, damit er sie friedlich löst. Bei Rousseau und Marx geht es vielmehr um ein Verändern des Menschen als solchen, um ein Verändern des inneren Menschen und nicht nur des äußeren Handelns – diese letzte Veränderung geschieht als natürliche Folge der ersteren, so dass man sich also nicht besonders um sie zu kümmern hat. Marx hat sich nicht besonders um das Verhalten der an der Spitze des postrevolutionären Staates stehenden Menschen gekümmert, weil durch die Veränderung der sozio-ökonomischen Bedingungen diese Menschen innerlich verändert wurden. 4.
Marxismus und menschliche Hybris
Die Schuld des Marxismus an den Entwicklungen in der UdSSR lässt sich also nicht einfach wegleugnen, sondern diese Entwicklungen finden ihren letzten Ursprung in einem bestimmten, dem Marxismus inhärenten Menschenbild. Aufgrund seines optimistischen Menschenbilds kam es Marx nicht in den Sinn, dass die Menschen nach der Umkehrung der sozio-ökonomischen Verhältnisse weiter so machen würden wie früher, dass sie also weiterhin versuchen würden, ihre Mitmenschen zu unterdrücken. Marx hatte fälschlicherweise geglaubt, es würde genügen, die ökonomische Dimension der Macht zu unterbinden bzw. die auf den ökonomischen Ungleichheiten beruhende Macht zu zerstören, um damit die Macht als solche unschädlich für die Menschen zu machen. Insofern kann man einerseits durchaus zugestehen, dass Marx nicht
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die Absicht hatte, die Menschen einer politischen Macht wie derjenigen Stalins zu unterwerfen, wobei man aber andererseits auch zugeben muss, dass seine anthropologischen Prämissen den Weg für den Stalinismus freimachen. Marx hat den Stalinismus zwar nicht gewollt, aber er hat nicht gesehen, dass seine Prämissen zum Stalinismus führen konnten bzw. ihn nicht verhindern konnten. De Jouvenel vermisst bei Marx und Engels eine genaue Beschreibung der kommunistischen Gesellschaft (Marx et Engels, 20; 142), sowie auch genaue Angaben über das, was sie unter Sozialismus verstehen (Marx et Engels, 89). Bertrand de Jouvenel verweist zwar auf den Begriff der Diktatur des Proletariats, den man bei Marx findet, aber auch dieser Begriff bleibt weitgehend unbestimmt (Marx et Engels, 142). Marx, so de Jouvenel, wusste ganz genau, dass der Begriff der Diktatur auf eine Institution verwies, in der eine einzige Person die Macht ausübte, so dass der Begriff der Diktatur einer ganzen Klasse in sich widersprüchlich ist. De Jouvenel hätte in diesem Kontext aber darauf hinweisen sollen, dass der klassische Begriff der Diktatur den Gedanken einer zeitlichen Begrenzung enthielt und dass dieser Gedanke sich auch beim Marxschen Begriff der Diktatur des Proletariats wiederfindet. Wichtig sind für de Jouvenel der radikalhumanistische Ausgangspunkt, sowie die radikalhumanistische Ausrichtung des Marxschen Denkens. Hatte der Liberalismus des 18. Jahrhunderts den Gedanken Gottes so gut wie ganz aus der politischen Theorie evakuiert58, so geht Marx über diese Evakuierung hinaus und ersetzt den transzendenten Gott der Vergangenheit durch den Menschen (Marx et Engels, 14). Wie einst die Christen an einen absolut guten Gott glaubten, glaubt Marx an einen absolut guten Menschen. Und wie die Christen an das die Gerechtigkeit überall herstellende Gottesreich glaubten, glauben die Marxisten an eine vollkommen humanisierte Gesellschaft, an ein Reich der Freiheit, das an die Stelle des Reichs der Notwendigkeit treten wird. Die Struktur bleibt dieselbe, nur der Inhalt ändert, und der Marxismus ist, so wie das Christentum, eine Heilslehre, aber eine auf das Diesseits und nicht auf das Jenseits gerichtete. An seinen Anfängen ist der noch schwache Mensch der Natur unterworfen. Seine Geschichte erscheint für den Marxismus als ein langer Marsch aus diesem Unterworfensein, als ein Weg zur Freiheit, mit der die eigentliche Geschichte des Menschen erst anfangen wird. Anstatt der Natur unterworfen zu sein, soll der Mensch sie seinen Interessen und Bedürfnissen unterwerfen, sie in seinen Dienst nehmen. Für Marx ist der Mensch, so de Jouvenel, dazu berufen, sich die Natur untertänig zu machen (Marx et Engels, 163) – ein Gedanke, den schon Bacon und Descartes, etwas mehr als zwei Jahrhunderte vor Marx, formuliert hatten. Dies erklärt auch, wieso Marx den Kapitalismus nicht als ein absolutes Übel verurteilt. Die kapitalistische Produktionsweise, mit dem ungeheuren Zoll, den sie von der Natur abverlangt – Ausbeutung der natürlichen ResDiese Behauptung ist nur ganz bedingt wahr. Sieht man von den französischen Materialisten ab, so findet man Gott bei vielen liberalen Autoren wieder. Aber es ist ein Gott, so könnte man sagen, dem das irdische Schicksal der Menschen genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist als ihr jenseitiges Schicksal. 58
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sourcen, Umweltverschmutzung, usw. –, nicht zu sprechen von den Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf das Proletariat, erscheint als eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Freiheit. Erst im Kapitalismus entwickeln sich die Instrumente, mittels derer der Mensch die Natur seinem Willen hörig machen kann und mittels derer er jenen Reichtum schaffen kann, der es jedem erlauben wird, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die libido dominandi, die sich zunächst nur auf die Menschen erstreckte, erstreckt sich, dank der technologischen Entwicklungen, auch auf die Natur, und wo der Sklavenhalter früher Sklaven für sich arbeiten ließ, lässt der Kapitalist die Natur bzw. die Naturkräfte für sich arbeiten. Der Kapitalismus ist Ausdruck einer Machtzivilisation, wie de Jouvenel sie in einem 1976 erschienenen Buch La civilisation de puissance beschreibt. Kennzeichnend für diese Zivilisation ist die menschliche Hybris: Der Mensch will alles beherrschen. Was allerdings noch besorgniserregender ist, ist die Tatsache, dass die Beherrschung dazu tendiert, zum Alleinzweck zu werden, dass man also in der Beherrschung kein Mittel mehr sieht, dessen Zweck das menschliche Wohl ist – in dem Fall hätte die Beherrschung eine mögliche Grenze und müsste dann aufhören, wenn die Ausbeutung der Natur das menschliche Wohl oder gar Überleben gefährdet –, sondern dass es nur noch darum geht, so effizient wie möglich in der Naturbeherrschung und -ausbeutung zu sein. Während Adam Smith geglaubt hatte, man bräuchte den Rahmen des Kapitalismus nicht zu verlassen, um das menschliche Wohlergehen zu verwirklichen, meint Marx, dass der Kapitalismus überwunden werden muss (Marx et Engels, 97). Insofern der Kapitalismus die ökonomische Macht bestehen lässt und diese Macht in den Augen von Marx das eigentliche Übel darstellt, das Übel, das durch sein Wesen alle anderen sozialen Institutionen kontaminiert, muss der Kapitalismus überwunden werden. Doch sollte man hier zwischen dem Kapitalismus als einer bestimmten ökonomischen Organisationsform der Gesellschaft und dem Geist des Kapitalismus bzw. dem hinter dem Kapitalismus stehenden aktiven Geist unterscheiden. In der Sowjetunion wurden die Kapitalisten enteignet, aber der Staat hat sozusagen ihre Funktion übernommen. Statt vieler kleiner Kapitalisten gibt es einen großen Kapitalisten (Marx et Engels, 127). Wer an die Wahrheit der Marxschen Geschichtsphilosophie mit ihrer Entwicklungslogik vom primitiven Kommunismus zum Kommunismus der idealen Gesellschaft glaubt, wird damit kein größeres Problem haben: Insofern die Revolution von 1917 in einem Land stattgefunden hatte, das den Übergang von der feudalen Agrargesellschaft zum Kapitalismus noch nicht geschaffen hatte, musste dieser Übergang geschehen, damit die Entwicklungslogik respektiert bleibe. Aber es kam nicht in Frage, vielen kleinen Kapitalisten die Aufgabe zu überlassen, den Reichtum zu produzieren, ohne den der Übergang zum Kommunismus unmöglich ist. Also blieb nur eine Möglichkeit: Der Staat erfüllt die Funktion, die in den westlichen Staaten die Kapitalisten erfüllt haben. Der Stalinismus, so de Jouvenel, hat die Arbeiter nicht vom Zwang zur Produktion befreit, sondern er hat sie vielmehr demselben produktivistischen Diktat
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unterworfen, dem sie schon in der kapitalistischen Gesellschaft unterworfen waren (Les débuts de l’Etat moderne, 278). Insofern das Ziel dasselbe ist – soviele Güter wie möglich produzieren – sind auch die Mittel dieselben. In seinem 1957 erschienenen Aufsatz ‚On the Character of the Soviet Economy‘ stellt de Jouvenel sogar einen Widerspruch zwischen der real existierenden sowjetischen Ökonomie und den Zielen einer kommunistischen Ökonomie fest, wie man sie bei Marx finden kann: The avowed purpose of the Soviet government is to bring Russian industrial power, in the shortest possible time, to parity with that of the United States. There is nothing specificially ‚communist‘ in this purpose. Indeed it stands in stark contradiction to the Marx-Engels picture of a communist economy which would not be concerned with building-up of capacities but with their full employment for the consumer satisfaction of the workers (Economics and the Good Life, 213)
Marx und Engels ging es zwar auch um das „building-up of capacities“, aber aus ihrer Sicht hatte dieser Aufbau schon unter dem Kapitalismus stattgefunden, und die nächste Etappe war das „full employment for the consumer satisfaction of the workers“, eine Etappe die die Zerstörung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und ihre Kollektivisierung voraussetzte.59 In der Sowjetunion war das Problem, dass der Kapitalismus seine historische Aufgabe zum Zeitpunkt der Revolution von 1917 noch nicht erfüllt hatte und ein hinreichendes „building-up of capacities“ noch nicht vorausgesetzt werden konnte. Dieses musste demnach erst stattfinden, und de Jouvenel kann in dieser Hinsicht und in dem eben zitierten Aufsatz den sowjetischen Kommunismus als „a synthetic version of early industrial capitalism“ bezeichnen (Economics and the Good Life, 216). Aber, und hier liegt der wesentliche Kritikpunkt, unter Stalin fand dieser Aufbau nicht statt, um durch den Einsatz der neu zu schaffenden Kapazitäten die elementaren Bedürfnisse der großen Masse zu befriedigen, sondern, wie de Jouvenel es in der vorhin Passage schreibt, um die Sowjetunion so schnell wie möglich auf den Stand der Vereinigten Staaten zu bringen und um auf diese Weise aus der Sowjetunion eine respektierte Wirtschafts- und Militärmacht zu machen. Unter Stalin nahm die sowjetische Wirtschaft keinen Kampf gegen das im Land herrschende menschliche Elend auf, sondern es ging nur darum, erfolgreich aus dem Konkurrenzkampf gegen die Vereinigten hervorzugehen. Um siegreich aus diesem Kampf hervorzugehen, musste der Konsum im Lande gebremst werden: Bestimmte Grundgüter wurden nicht in genügender Quantität produziert, da ihre Produktion die Produktion industrieller oder militärischer Güter verhindert hätte bzw. wurden sie in genügender Quantität produziert, aber zum Zweck des Devisen einbringenden Exports. Für de Jouvenel sind die materiellen Forderungen der kommunistischen Parteien durchaus plausibel, d. h. es ist durchaus sinnvoll nach einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen in den westlichen Staaten zu verlangen (Quelle Europe?, 194). 59
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Bertrand de Jouvenel und der Marxismus
Insofern der von der Sowjetunion eingeschlagene Weg in manchen Hinsichten erfolgreich war, wurde er zu einem Beispiel für arme Länder, denen es auch in erster Linie darum ging, in Sachen Produktion auf den Stand der kapitalistischen Länder zu kommen, wie de Jouvenel es in seinem Aufsatz ‚Efficiency and Amenity‘ festhält (Economics and the Good Life, 37). Was im Aufsatz über die sowjetische Wirtschaft als Widerspruch dargestellt wird, nimmt in dem 1961 publizierten Aufsatz ‚Mieux vivre dans la société riche‘ schon fast die Form eines regelrechten Verrats an: Aber, von seinem Prinzip her, hatte der Sozialismus nicht die Sorge der kollektiven Bereicherung: er hatte die Sorge, eine Gesellschaft von Freunden zu schaffen, eine Gemeinschaft. Der Gefühls- und Gedankenstrom den man als sozialistisch bezeichnen kann wurde durch einen starken Nebenfluss in eine andere Richtung gelenkt, nämlich durch die Idee, dass die Bereicherung eine gute Sache ist: so kam es, dass der moderne Sozialismus, wie er sich in der UdSSR manifestiert, mehr chrematistisch als kommunitaristisch geworden ist (Arcadie, 126)
Genauso wie dem Kapitalismus, geht es dem sowjetischen Regime also letztendlich nur darum, sozialen Reichtum zu schaffen, und je mehr sozialen Reichtum er schafft, umso besser. Im Westen haben die Kapitalisten den sozialen Reichtum nicht aus humanitären Gründen produziert. Ihnen ging es darum, sich selbst zu bereichern. Und dies konnten sie umso besser, als sie die Menschen und die Natur beherrschten. Und ihr Ziel war es, die Menschen und vor allem die Natur immer besser zu beherrschen, um auf diese Weise immer mehr produzieren zu können. Je mehr produziert wurde, umso mehr konnten sie verkaufen und sich bereichern. Und je mehr sie sich bereicherten, umso mehr vergrößerten sie ihre Macht. Hinter dem ganzen Prozess stand also die libido dominandi, und es ist komisch, dass de Jouvenel in diesem Zusammenhang nicht die Menschen im Hobbesschen Naturzustand erwähnt, denen es ja auch nur darum geht, so viel Macht wie nur möglich an sich zu reißen. Die Industrialisierung die im Westen das Werk der Kapitalisten war, ist also in der Sowjetunion das Werk des Staates. Und wie de Jouvenel zeigt, ging es bei dieser Industrialisierung nicht darum, das Wohl der Arbeiter zu verbessern, sondern die Sowjetunion zu einer führenden industriellen Macht zu machen (Marx et Engels, 126). Nicht der Sozialismus war das Ziel, sondern die Macht. Und diese Macht war nicht die Macht des Proletariats oder der arbeitenden Klasse, sondern die Macht des Staatsapparates bzw. derjenigen, die an der Spitze dieses Apparates stehen: Sicherlich würde sich diese Macht in den Händen der Führer des proletarischen Heeres befinden. Aber hat man je schon zu sehen bekommen, dass sich die Führer eines erobernden Heeres nicht gegenüber ihren Kommettanten verselbständigt haben, sobald sie es konnten? (Marx et Engels, 174)
Das sozialistische England
Die menschliche Hybris taucht dabei unter einem doppelten Gewande aus: Einerseits geht es darum, sich die Natur vollständig zu unterwerfen, um sie vollständig auszubeuten; andererseits geht es darum, sich soviele Menschen wie möglich zu unterwerfen, um auch diese für sich arbeiten zu lassen. In einem ersten Schritt bedient man sich dieser Menschen, um das alte Regime zu stürzen, und lockt sie dabei durch das Versprechen an, ihnen endlich die herbeigesehnte Freiheit zu schenken, und in einem zweiten Schritt lässt man sie dann glauben, dass das neue Regime, für dessen Sieg sie sich eingesetzt haben, ihnen diese Freiheit garantieren wird, vorausgesetzt, sie unterwerfen sich ihm. Was dabei geschieht, ist kein Verschwinden der Macht, sondern ihre Übertragung. Und die neuen Machthaber, mögen sie auch den Mantel der demokratischen Legitimation tragen, werden genauso selbständig handeln, wie die alten. Aber, und das ist ein Punkt, auf den de Jouvenel besonders pocht, die Macht der neuen Führer wird noch größer sein als die der alten. Einerseits muss sie nämlich größer sein, da die Aufgabe, die sich die neuen Führer – zumindest offiziell – gesetzt haben, viel größer ist, als es die Aufgabe der alten Führer war. Letzteren ging es darum, eine bestimmte soziale Ordnung zu stabilisieren, ersteren geht es darum, eine neue Ordnung zu schaffen. Und andererseits darf diese Macht größer sein, da sie ja – so immer noch der offizielle Diskurs – nichts anderes als die Macht des Volkes ist. Was das Volk über sich selbst bestimmt, kann nicht ungerecht sein. Damit sind einer uneingeschränkten Kontrolle und Macht Tür und Tor geöffnet. 5.
Das sozialistische England
Für Montesquieu war das England des 18. Jahrhunderts das Vorbild einer der individuellen Freiheit verpflichteten Nation. Für de Jouvenel ist das England der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg das Modell einer Nation die versucht, die sozialistischen Ideale in die Praxis umzusetzen, ohne allerdings das sowjetische Modell nachzuahmen. Doch auch wenn es nicht zu verleugnende Unterschiede zwischen dem Vereinigten Königreich und der UdSSR gibt, so gibt es doch wichtige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern, Gemeinsamkeiten, die darauf schließen lassen könnten, dass die individuelle Freiheit im sozialistischen England nicht viel besser geschützt ist als in der kommunistischen Sowjetunion. In seiner im selben Jahr wie die Problèmes de l’Angleterre socialiste erschienenen Schrift Quelle Europe?, bezeichnet Bertrand de Jouvenel England als die einzige Hoffnung Europas im Wettrennen gegen die UdSSR und die USA (Quelle Europe?, 89). Allerdings wird England dieser Funktion als Hoffnungsträger nur dann gerecht werden können, wenn es jene Institutionen bewahrt, die Montesquieu bewunderte und die die europäischen Nationen nach den bitteren Kriegsjahren annehmen sollten. Für de Jouvenel stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob das Europa nach 1945 ein liberales oder ein totalitäres sein wird (Quelle Europe?, 91). Und wenn England vom liberalen
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Weg abweicht, wird es ein falsches Signal für die anderen europäischen Länder setzen. Unter diesen Umständen versteht man, wieso de Jouvenel ein ganzes Buch den Problemen des sozialistischen Englands widmet. Die Entwicklungen die er in England beobachten konnte lassen ihn die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass sich die politische Macht eines Tages „in den Händen einer Oligarchie von Bürokraten und Technikern“ findet (Quelle Europe?, 119). Gleich zu Beginn seines England gewidmeten Buches formuliert de Jouvenel zwei für den Fortgang seiner Untersuchung wesentliche Fragen, von denen hier nur die zweite aufgegriffen werden soll: Wie bringt es England fertig, ein Gleichgewicht zwischen Bürokratie und Individualismus herzustellen?60 Und können beide überhaupt in Einklang miteinander gebracht werden? Während der Liberalismus dem unkoordinierten Handeln der Individuen die Macht verleiht, eine dem Allgemeinwohl profitable Ordnungsstruktur hervorzubringen, geht der Sozialismus davon aus, dass eine dem Allgemeinwohl profitable Ordnungsstruktur nur dann existieren kann, wenn sie geplant wurde, wobei es die Aufgabe der Bürokratie ist, den Plan aufzustellen und für seine Einhaltung zu sorgen.61 Ging der klassische Liberalismus von der Prämisse aus, dass die Individuen zweckrational handeln und dass aus diesem zweckrationalen, wenngleich egoistischen Handeln eine für alle profitable Ordnung hervorging, geht der moderne Sozialismus von der Idee aus, dass die Menschen dumm sind und dass allein die Regierung weise ist (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 293). Doch in den Augen de Jouvenels ist die Idee des weisen Staates ebenso falsch wie die Idee des rational handelnden homo oeconomicus. Wie in vielen anderen Schriften, ist de Jouvenel auch in seinem Buch über England darauf bedacht, die von ihm beobachteten Tatsachen in eine weitere Perspektive zu stellen und das mit dem Sozialismus gegebene Phänomen nicht als plötzlicher Einbruch des Neuen in die Geschichte zu sehen. Der Nachkriegssozialismus, so de Jouvenel, schließt an eine Logik an, die man schon bei den Konservativen vor dem Krieg am Werk sehen konnte, und was die Labour von den Tories unterscheidet, ist nicht das Ziel, sondern die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit welcher sie dieses Ziel erreichen wollen und dementsprechend auch die Mittel, die sie zur Erreichung des Zieles einsetzen (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 32–33). Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang, und zwar nicht nur während, sondern auch schon vor dem Krieg, Lord Beveridge. Für Beveridge musste der Staat jenen Menschen helfen, die in der Not waren und er sollte auch all jenen einen Die andere Frage ist geopolitischer Natur und bezieht sich auf das Ende des europäischen Imperiums über einen großen Teil der Welt. 61 Man spricht in diesem Zusammenhang oft von Staatssozialismus, ein Wort, über das Marx schreibt: „Das Wort drückt keinen klaren Begriff aus, sondern ist wie ‚soziale Frage‘ und dgl. Ein bloßer Journalisten Ausdruck, eine reine Phrase, wobei man sich alles und nichts denken kann. Um den wahren Sinn eines solchen Worts zu streiten, ist für die Katz; sein wahrer Sinn besteht eben darin, keinen zu haben“ (MEW XXXVIII, 511). 60
Das sozialistische England
Arbeitsplatz sichern, die arbeiten wollten (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 91). De Jouvenel macht aber darauf aufmerksam, dass diese Maßnahmen sich bei Beveridge in einen individualistischen Rahmen einschrieben (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 95); es war, so könnte man sagen, eine temporäre Hilfe, die es dem Individuum erlauben sollte, wieder kompetitiv auf dem Markt zu werden. Das Individuum sollte also nicht vom Staat bzw. von der staatlichen Hilfe abhängig gemacht werden, sondern es sollte in eine Lage versetzt werden, die es ihm erlauben sollte, nicht mehr die Gefahr zu laufen, in die Abhängigkeit zu fallen. Wichtiger als die Maßnahmen Beveridges ist der Zweite Weltkrieg und die Kontrolle der gesamten britischen Ökonomie durch den Staat (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 214). Hier greift de Jouvenel wieder auf jenen Gedanken zurück, die er einige Jahre früher in Du pouvoir formuliert hatte: Der totale Krieg führt zu einer totalen Kontrolle des Wirtschaftslebens durch den Staat. Der totale Krieg mobilisiert nämlich alle Kräfte und diese Kräfte müssen auf ein Ziel gerichtet werden. Dieses Ziel ist aber nicht die Befriedigung der Wünsche der Konsumenten, sondern der Sieg gegen den Feind. Der klassische Wirtschaftsliberalismus rechtfertigte die Politik des laissez faire mit dem Hinweis, dass diese Politik am Besten zur Befriedigung der Wünsche der Konsumenten beitragen konnte. Die Konsumenten wünschen sich aber nicht die vier „Güter“, die Churchill ihnen 1940 bei den Angriffen der Luftwaffe anzubieten hatte: „Blood, sweat, toil and tears“. Die englische Wirtschaft musste damals in den Dienst des Sieges gestellt werden, und dies ging nur durch eine zentrale Planung. Dass diese zentrale Planung der englischen Wirtschaft während des Krieges zum Sieg geführt hat, ließ in einigen Köpfen den Gedanken aufkommen, dass das, was im Krieg wirksam war, auch in Friedenszeiten wirksam sein konnte, und dass das, was zum Sieg gegen Nazideutschland geführt hatte, auch zum Sieg gegen die Armut führen könnte (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 216). Der Grundgedanke des ökonomischen Planismus, wie de Jouvenel ihn nennt, ist in beiden Fällen derselbe: Will man die Produktion steigern und dementsprechend mehr Güter für den Konsum – des Heeres im Krieg, der Bevölkerung in Friedenszeiten – zur Verfügung stellen, dann muss man dem Staat die Leitung der Wirtschaft in die Hand geben, da nur durch eine zentrale Planung bewirkt werden kann, dass überall das produziert wird, was man produzieren will, und dies auch in hinreichenden Quantitäten. Den Planismus definiert er dabei wie folgt: „Die nationalen Ressourcen in ihrer Gesamtheit betrachten und darauf achten, dass sie zum Besten der Interessen der Nation in ihrer Gesamtheit benutzt werden“ (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 217). Der ökonomische Planismus setzt also einerseits eine Bestandsaufnahme der Ressourcen voraus, zweitens eine Bestimmung dessen, was die Interessen der Nation in ihrer Gesamtheit sind, und drittens einen Gebrauch der Ressourcen, durch den diese Interessen am Besten befriedigt werden können. Das Modell des ökonomischen Planismus übernimmt der Staat von der Privatwirtschaft, d. h. von den Privatfirmen. Wollen Privatfirmen oder -unternehmen überleben und gedeihen, müssen sie einen
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rationalen Gebrauch der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen machen, und je rationaler dieser Gebrauch ist, umso besser wird es dem Betrieb in der Regel gehen. Dabei ist das von den Privatbetrieben verfolgte Ziel der ökonomische Profit: Einem Betrieb geht es umso besser, als die Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Eine solche klare Definition des Ziels lässt sich aber im Fall des Staates nicht geben. Denn dem Staat geht es letztendlich nicht nur oder primär darum, möglichst viel Geld in den Staatskassen zu haben. Er verfolgt eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Gütern, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, so dass man nicht sagen kann, was für die Nation am Besten ist (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 229). Unter diesen Umständen lässt sich das Modell der wirtschaftlichen Rationalität nicht auf den Staat übertragen (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 216), zumindest nicht auf den Staat in Friedenszeiten. Mag der Staat auch in Kriegszeiten am Besten in der Lage sein zu bestimmen, wie viele Panzer, Flugzeuge, Bomben, usw. die Betriebe produzieren müssen, so kann ihm nicht zugemutet werden in Friedenszeiten zu bestimmen, wie viele Züge auf einer Zugstrecke zirkulieren sollen, wie viele Liter Milch ein Bauernbetrieb produzieren soll, wie viele Patienten ein Arzt an einem Tag zu behandeln hat, usw. Doch genau diese Bestimmungen wollen die Anhänger des Planismus dem Staat in die Hände legen. Er soll über das gesamte ökonomische Leben der Nation bestimmen. Der Planismus, so de Jouvenel, gründet auf der Idee dass die Menschen im Allgemeinen töricht sind und dass nur der Staat allein weise ist (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 293), und dementsprechend die Leitung der ihm unterworfenen Menschen in die Hand nehmen muss. Er trägt demnach die Züge des aufgeklärten Despotismus (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 258), dessen Wurzeln bis zu Platons Politeia zurückreichen und der einen seiner Höhepunkte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte. Dieser aufgeklärte Despotismus hat aber relativ wenig mit dem ursprünglichen sozialistischen Gedanken zu tun. Die ursprüngliche Idee des Sozialismus war nämlich die Idee der Solidarität zwischen den Menschen, eine Solidarität die nicht auf dem Egoismus der Individuen beruhte – frei nach dem Motto: Ich helfe Dir, in der Hoffnung, dass Du mir auch helfen wirst –, sondern als eine Gefühlssache gedacht wurde. Es ist der Zusammenbruch dieser ursprünglichen Idee, die Adam Smith in einer berühmten Passage seiner Theory of Moral Sentiments zum Ausdruck bringt: Where the necessary assistance is reciprocally afforded from love, from gratitude, from friendship, and esteem, the society flourishes and is happy. All the different members of it are bound together by the agreeable bands of love and affection, and are, as it were, drawn to one common centre of mutual good offices. But though the necessary assistance should not be afforded from such generous and disinterested motives, though among the different members of the society there should be no mutual love and affection, the society, though less happy and agreeable, will not necessarily be dissolved. (Smith 1976, 85–86)
Das sozialistische England
In dieser Passage stellt Smith zwei Gesellschaftsmodelle einander gegenüber, von denen das eine auf dem Gedanken der Gutmütigkeit und d. h. Solidarität, das andere auf dem Gedanken des aufgeklärten Egoismus beruht. Ein drittes Modell ist bei Smith nicht vorgesehen, so dass bei ihm als Alternative zum ersten Modell nur das zweite in Frage kommt. Der moderne Sozialismus, so wie de Jouvenel ihn darstellt, bringt eine dritte Option ins Spiel, nämlich eine von oben durch den Staat gelenkte Gesellschaft, in welcher die Menschen weder Freunde, noch Geschäftspartner sind – wie in den zwei von Smith vorgestellten Modellen –, sondern verwaltete Bürger (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 238). Anstatt aktiv ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, folgen sie passiv den Anweisungen, die sie erhalten. Damit tritt der Sozialismus aber mit sich selbst oder mit seinen ursprünglichen Intentionen in Widerspruch, und aus einer Theorie, die aus dem Menschen ein Wesen machen wollte, das, unter gerechten sozialen und ökonomischen Bedingungen, sein Schicksal selbst in die Hand nahm, ist eine Praxis entstanden, die den Menschen einer ihm fremden, aber zunächst einmal wohlwollenden – zumindest was die materielle Dimension seines Lebens betrifft – Macht unterwirft. Bertrand de Jouvenel hebt in diesem Kontext auch die Rolle der Gewerkschaften und ihrer Führer hervor. In England haben die Gewerkschaften nämlich ein großes politisches Gewicht, bedingt u. a. durch eine ihnen günstige Gesetzgebung. Die Gewerkschaftsfunktionäre leiten dabei die Gewerkschaften so, wie ein Manager seinen Betrieb leitet, d. h. von oben herab (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 258). Der Staat und die Gewerkschaften befinden sich somit in den Händen von Funktionären und werden nach einem Modell verwaltet, das dem Modell einer freien Gemeinschaft von ihr Schicksal selbst in die Hand nehmenden Menschen nicht mehr oder kaum noch entspricht. Das sozialistische England, so de Jouvenel, stellt die modernen, dem demokratischen und liberalen Ideal treu gebliebenen Gesellschaften vor zwei miteinander zusammen hängende Probleme, nämlich erstens vor das Problem der Vereinbarkeit von Technokratie und Demokratie, und andererseits vor das Problem der Verwandlung des aktiven Volkes in ein passives Publikum (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 280). Je komplexer die Gesellschaft wird, umso schwieriger wird es, einen Überblick zu haben. Selbst die Minister, so de Jouvenel, haben diesen Überblick nicht, so dass sie ganz von den Beamten abhängig sind, deren Amtszeit die der Minister meistens weit übersteigt und die deshalb eine viel bessere Kenntnis haben. Unter diesen Umständen werden die Entscheidungen zwar vielleicht noch vom Minister getroffen, aber er trifft sie immer nur auf Grund der Informationen die er von seiner Verwaltung erhalten hat. Ohne ihre Beamten, so de Jouvenel, wären die Minister verloren (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 273). Die Entscheidungen gleiten somit aus den Händen der demokratisch Verantwortlichen und konzentrieren sich in den Händen von nicht-gewählten Beamten. Diese sind das zentrale Element des neuen sozialistischen Staates, wie England ihn verwirklicht, wenn nicht sogar schon vervollkommnet. Im sozialistischen
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Staat sind sie die neue Bourgeoisie, die neue herrschende Klasse, deren Interessen den Interessen der Bevölkerung im Allgemeinen übergeordnet werden (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 233). Ähnlich Nietzsche, der dem siegreichen den kämpfenden Liberalismus entgegen gestellt hatte (Nietzsche 1999, 139)62, stellt de Jouvenel dem siegreichen den kämpfenden Sozialismus entgegen. Hier zuerst die Beschreibung der Epoche des kämpfenden Sozialismus: Sozialismus und Syndikalismus bedeuteten, in den heroischen Zeiten, dass jeder Anstrengungen und Risiken zum Vorteil aller akzeptierte, dass jeder am gemeinsamen Unternehmen teilnahm; der Sinn für die individuelle Würde und Verantwortung war die moralische Bedingung des Sozialismus: in seinem Sieg, wird er da nicht ganz andere Früchte tragen? (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 236)63
Hier die Antwort de Jouvenels auf die von ihm gestellte Frage: Vereinigungen die mehr als eine halbe Million Mitglieder zählen sind keine wirklichen Vereinigungen mehr: die Mitglieder kennen sich nicht mehr unter sich; die Solidarität ist abstrakt geworden. Die Arbeit wird durch genannte Gewerkschaftsfunktionäre geleistet, ein Personal das im Dienste von so gut wie unabsetzbaren Führern steht. Die Mitglieder müssen sich nur verteidigen lassen, eine Verteidigung die im Regelfall energisch und auf eine kompetente Weise geschieht. Aber Mitglied einer Gewerkschaft sein impliziert keine persönliche Tätigkeit mehr; es ist eine Versicherung, Versicherung die man übrigens heutzutage obligatorisch machen will, da die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu einer Bedingung für eine Arbeitsstelle wird (closed shop) (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 236)
De Jouvenel beschreibt hier die Bürokratisierung der Gewerkschaften, eine Bürokratisierung die mit derjenigen des Staates einhergeht. Der Passivität der Gewerkschaftsmitglieder entspricht die Passivität der Staatsbürger. Und genauso wie die Staatsführer eine eigene Agenda entwickeln und die Bürger oder Untertanen in den Dienst dieser Agenda stellen, sieht man auch bei den Gewerkschaften, dass die Führer eine autonome Aktion entwickeln (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 265).
Solange man noch für den Sieg der liberalen Institutionen kämpfen musste, so Nietzsche, förderten sie die Freiheit, verstanden als Freiheit des Individuums von der Versklavung unter sein Gemütlichkeitsbedürfnis. Mit dem Sieg der liberalen Institutionen trat auch die von Nietzsche verurteilte Herdenvertierung ein. 63 In Après la défaite wird dem Marxismus vorgeworfen, die psychologische Dimension nicht zu berücksichtigen und nicht zu sehen, dass es die Menschen mögen, zusammen zu arbeiten. Der quasi-mystischen menschlichen Gemeinschaft der ersten Gewerkschaften stellt er die durch die Marxisten geförderte Bürokratisierung der Gewerkschaften entgegen (Après la défaite, 191). 62
Die Umverteilung des Reichtums
6.
Die Umverteilung des Reichtums
Das 1951 publizierte Büchlein – es hat nicht einmal 100 Seiten – The Ethics of Redistribution geht aus Vorlesungen hervor, die de Jouvenel in Cambridge gehalten hat und die sich der Frage der Umverteilung nicht vom Standpunkt der ökonomischen Effizienz zuwenden, sondern in denen der Autor nach dem moralischen Wert einer solchen Umverteilung fragt (The Ethics of Redistribution, 3). Die Forderung nach einer Umverteilung der materiellen Güter wird vor allem vom Sozialismus erhoben, und dies umso lauter, als der Sozialismus sich dem Produktivismus verschrieben und demnach die Produktion immer größerer Mengen materieller Güter zu seinem obersten Zweck gemacht hat. Dadurch sind mehr Güter vorhanden, als die Menschen tatsächlich brauchen. Und in der real existierenden kapitalistischen Gesellschaft besitzen einige Menschen wesentlich mehr, als sie tatsächlich brauchen, während andere Menschen viel weniger haben, wobei einige von ihnen nicht einmal über das Lebensnotwendige verfügen. Wie soll der Staat in einer solchen Situation handeln? Und dass er sich die Frage nach dem geeigneten Handeln stellen muss, ergibt sich aus den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen: [R]elief is an unquestionable social obligation which the destruction of neighbourliness, of responsible aristocracies and of Church wealth has laid on the State for want of any other agency (The Ethics of Redistribution, 19–20)
Wo die gesellschaftlichen Akteure keine Hilfe mehr leisten können, bleibt nur noch der Staat übrig, um eine solche Hilfe zu leisten. Und die Frage ist, unter welcher Form er sie leisten soll. Sollte er es unter der Form der Solidarität tun und einem verhungernden Menschen die Nahrung geben, die dieser sich nicht leisten kann? Oder sollte er es über den Weg der Umverteilung tun, indem er einigen Bürgern Geld nimmt, um es anderen Bürgern zu geben bzw. indem er den Lohn einiger Menschen kürzt, um so den Lohn anderer erhöhen zu können (The Ethics of Redistribution, 20), mit dem Ziel einer möglichen Angleichung der Nettolöhne? De Jouvenel weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Kultur womöglich unter einer solchen Angleichung der Nettolöhne leiden wird (The Ethics of Redistribution, 41). Ein konkretes Beispiel kann dies auf eine einfache Weise zeigen: Vor der Umverteilung verdiente der Reiche 10 000 und der Arme 200. Angenommen das Kulturgut kostet 6000. Nach der Umverteilung verdienen beide, im Fall einer Angleichung der Nettolöhne, 5100. Dann kann keiner der beiden mehr das Kulturgut kaufen. Will man dennoch einen Käufer finden, dann wird es nur der Staat sein können. Doch hier sieht de Jouvenel drei Probleme. Ein erstes betrifft die Nachfrage: Wieso sollte der Staat ein Kulturgut kaufen, wenn es in der Bevölkerung keine allgemeine Nachfrage gibt? Der Staat wird nur darauf bedacht sein, die Bedürfnisse der Vielen zu befriedigen, nicht diejenigen der Wenigen. Und Kulturgüter werden meist nur von
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Wenigen gewollt (The Ethics of Redistribution, 43). Das zweite Problem betrifft die Auswahl: Angenommen der Staat finanziert Kulturgüter, nach welchen Kriterien wird er sich bei der Auswahl der von ihm finanzierten Güter orientieren (The Ethics of Redistribution, 42)? Besteht hier nicht das Risiko, dass der Staat die Kultur als ein Propagandamittel missbraucht? Doch es gibt noch ein drittes Problem: Wenn der Staat Geld für Kulturgüter ausgibt, wird er dieses Geld nicht mehr zur Verfügung haben, um es zu verteilen (The Ethics of Redistribution, 66). Aus allen diesen Gründen sollte man dem Staat nicht die Aufgabe geben, die Kultur zu finanzieren. Will man demnach Kultur, wird man sich nach einer anderen Finanzierungsquelle umsehen müssen, und diese kann nur der private Bereich sein. Aber dann muss es in der Gesellschaft Menschen geben, die über genügend Geld verfügen, um Kulturgüter zu kaufen bzw. um die Schaffung kultureller Güter zu fördern. Das heißt aber wiederum, dass man von einer Angleichung der Löhne und von einer Umverteilung, wie manche sie fordern, absehen muss. Für Bertrand de Jouvenel ist es wichtig, den Sinn und Zweck des individuellen Einkommens richtig zu erfassen. Man sollte in ihm nicht nur ein Mittel sehen, mit dem die Individuen ihre subjektiven Bedürfnisse befriedigen können (The Ethics of Redistribution, 49). Die gute Gesellschaft, so schreibt er, ist keine Gesellschaft, in welcher es nur um Konsum geht, in welcher die Menschen sich in Geschäfte stürzen, um massiv Konsumgüter zu kaufen – und je mehr Geld umverteilt wird, umso mehr Menschen es geben wird, die vor diesen Geschäften Schlange stehen. Anstatt sich auf die Frage der Umverteilung zu fokussieren, sollte man die Frage stellen, was die Menschen mit dem ihnen durch die Umverteilung zur Verfügung gestellte Geld anfangen. Dass viele Menschen es nur zur Befriedigung ihrer subjektiven Bedürfnisse ausgeben, sollte nicht zum Schluss führen, dass das Einkommen nur diesen subjektiven Zweck erfüllen kann. The notion of income as means to consumer-enjoyment implies that the individual, his day’s work done, his debt to society discharged, retires to masticate his income-bone in seclusion, a selfish gastric process, leading nowhere. But it is not so. Living is a social process. Our individual life is not for ourselves alone. A generous spirit will render many services to society outside his professional activities. A professor’s open table may be a means of education superior to his lectures, or complementary to them. Individual income, socially consumed, is a means to such services. These are not accounted as productive services, because they are free. (The Ethics of Redistribution, 54)
Damit der hier beschriebene Professor Gäste bei sich empfangen kann, mit denen er Gedanken austauscht, muss er, so suggeriert de Jouvenel, über ein bestimmtes Einkommen verfügen. Einen Teil dieses Einkommens wird auch er sicherlich in den „selfish gastric process“ investieren. Er muss schließlich auch leben, und indem de Jouvenel „not for ourselves alone“ [Hervorhebung N. C.] schreibt, gibt er zu verstehen, dass
Die Umverteilung des Reichtums
es durchaus legitim ist, einen Teil unseres Lebens für uns zu führen. Falsch wäre es zu glauben, dass es den Individuen nur um sich selbst geht, dass sie also alle Egoisten oder Individualisten sind. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass der Gedanke der Umverteilung, so wie er allgemein verstanden wird, eigentlich kein im ursprünglichen Sinn sozialistischer Gedanke ist, sondern ein individualistischer (The Ethics of Redistribution, 47). Die Umverteilung soll nämlich den individuellen Konsum fördern und es wird nicht gefragt, ob dieser individuelle Konsum auch sinnvoll ist in dem Sinn, dass er die Gesellschaft spirituell bereichert. Unsere Gesellschaft, so de Jouvenel, tendiert dazu, nur jene Dienstleistungen zu berücksichtigen, für die man bezahlt wird. Ihm zu Folge geht dabei etwas Wichtiges verloren, nämlich das, was aus einer Gruppe von Individuen eine Gesellschaft macht, eine integrierte Gruppe von Menschen die nicht nur an sich selbst denken, sondern die ebenfalls für ihre Mitmenschen da sind, auch außerhalb ihrer Arbeitszeit. It would be a sorry society in which men gave nothing to their contemporaries over and above the services for which they are rewarded and which enter into the computation of national income. That would be no society at all (The Ethics of Redistribution, 68)
De Jouvenel geht hier einen Schritt weiter als Adam Smith, der es bei dem Verdikt der, um de Jouvenels Ausdruck zu verwenden, „sorry society“ beließ. Für den Franzosen kann man nicht mehr einmal von Gesellschaft sprechen, wenn alle Güter und Dienstleistungen nur noch im Medium der Bezahlung gedacht werden, wenn man sich also für alles bezahlen lässt bzw. wenn man nur mehr das berücksichtigt, was einen Preis hat. Man sollte, so der Autor, neben dem „commercial price“ auch noch die „values which are not commercialized“ berücksichtigen (The Ethics of Redistribution, 55). Aus Passagen wie diesen wird deutlich, dass es Bertrand de Jouvenel in seiner Ethics of Redistribution um die Rettung bestimmter Werte bzw. wertvoller Güter geht, die man nicht kaufen kann und die der Mensch schätzen sollte, insofern er kein rein biologisches, auf den Konsum materieller Güter orientiertes Wesen ist. Hier eine nicht vollständige Liste solcher Güter: „warm hospitality, leisured and far-ranging conservation, friendly advice, voluntary and unrewarded services“ (The Ethics of Redistribution, 68). Solche Werte machen das aus, was wir Kultur und Zivilisation nennen. Im Schlussteil seines zuerst 1962 veröffentlichten Aufsatzes ‚The Elite under Capitalism‘ spricht Ludwig von Mises das Problem der „vulgar tastes and habits“ der Massen an (von Mises 1990, 28). In der kapitalistischen Gesellschaft, so ein das ganze von Misesssche Werk durchziehender Gedanke, ist der Konsument souverän: Seine Suche nach Bedürfnisbefriedigung bestimmt, was produziert wird, und demnach, wo die Kapitalisten ihr Geld investieren. Insofern steht für von Mises auch fest, dass der Reichtum der Kapitalisten sozial gerechtfertigt ist, da er für die Investitionen notwendig ist, mittels derer die Produkte hergestellt werden, nach denen die Konsumenten fragen. Nun ist es aber so, dass viele Intellektuelle dieses System in Frage stellen, weil in ihm die ganze Produktion nur in den Dienst der „vulgar tastes and habits“ der Massen
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gestellt wird, was schließlich zu einer Verrohung der Gesellschaft führt. Diese Intellektuellen wünschen sich eine Gesellschaft, in welcher die Vielen „more for higher and nobler gratifications“ ausgeben (von Mises 1990, 28). Anstatt sich mit ihnen über die Rohheit der Massen aufzuregen, redet ihnen von Mises wie folgt ins Gewissen: „The serious crisis of our civilization is caused not only by the shortcomings of the masses. It is no less the effect of a failure of the elite“ (von Mises 1990, 28). Käme die intellektuelle Elite ihrer Pflicht nach, würde sie versuchen, die Masse davon zu überzeugen “to drop their vulgar tastes and habits” (von Mises 1990, 28). Bertrand de Jouvenel spricht zwar nicht von einer „failure of the elite“, weist aber darauf hin, dass der Blick der Massen auf die Reichen sich geändert hat. True aristocracies have never enjoyed an aristocratic status because they are strong – this Darwinian concept is inadequate; true aristocracies have been willingly favoured by the people, who sensed that excellent types of mankind, in any realm, needed special conditions, and they have always delighted in granting them such conditions. If the richer classes of our day do not benefit from such an attitude, it is because they do not seem excellent to the people of our day (The Ethics of Redistribution, 80)
Sehen wir hier vom sicherlich übertriebenen Charakter des „willingly favoured“ und des „delighted in granting“ ab und konzentrieren wir uns auf den Gedanken, dass die Menschen bereit sind, Ungleichheiten zu akzeptieren, wenn diese zur Ausbildung der Vollkommenheit beitragen. Eine Gesellschaft braucht Eliten, und diese Eliten können nur unter ganz bestimmten Bedingungen gedeihen. Diese Bedingungen wird man aber nur dann akzeptieren, wenn die Eliten, so könnte man es formulieren, einen sozialen Nutzen haben, wenn also die Existenz einer Elite sozial wertvoll ist. Und eine sozial wertvolle Elite ist keine Elite, die nur auf ihre Rechte pocht, sondern auch und vor allem eine Elite, die ihre Pflichten anerkennt. In seiner der Krise des amerikanischen Kapitalismus gewidmeten Studie hält Bertrand de Jouvenel fest, dass die führende Klasse Amerikas, also die amerikanische Elite, sich diese Führungsrolle nicht zugestehen wollte, „aus Angst, dadurch gezwungen zu sein, sich Pflichten anzuerkennen“ (La crise du capitalisme américain, 176). Die industrielle Elite, heißt es weiter, war nicht in der Lage, „die sozialen Wirkungen ihrer individuellen Initiativen zu berechnen“, während die amerikanischen Politiker nicht im Stande waren, „den schnellen, ungeordneten und fruchtbaren Fluss der individuellen Anstrengungen zu lenken“ (La crise du capitalisme américain, 342). Roosevelt, so de Jouvenel, kann als Vorläufer einer „verantwortungsvollen Elite“ angesehen werden (La crise du capitalisme américain, 343), einer Elite von welcher man sich vorstellen kann, dass sie wieder das Vertrauen der großen Massen finden wird. Sozial verantwortliche Eliten sind notwendig und, wie de Jouvenel schreibt, es kann keine solchen Eliten ohne höhere Einkommen geben (The Ethics of Redistribution, 59). In diesem Kontext geißelt er den französischen Egalitarismus, der für alle denselben Lohn vorsieht und es ablehnt, die Löhne den Talenten anzupassen (Les passions en
Die Umverteilung des Reichtums
marche, 191). Anstatt dieser egalitaristischen Doktrin, die sich ganz oft bei linken Theoretikern wiederfindet, eine sich am Gedankengut der Rechten inspirierende Theorie entgegenzusetzen, stellt de Jouvenel ihr die UdSSR entgegen und fragt sich, ob nicht: in den Augen vieler der Vorteil des Kommunismus über die Demokratien darin besteht, dass er heute die Umkehr der egalitaristischen Tendenz darstellt, einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Entwicklung, die die Demokratien weiterhin akzentuieren? (Les passions en marche, 201)
Während man also in einigen westlichen Demokratien dazu tendiert, die Löhne über den Weg der Umverteilung anzugleichen, kommt man in der UdSSR wieder dazu, eine Hierarchie der Löhne aufzustellen und die Löhne den Talenten anzupassen.64 Die UdSSR kann in diesem Zusammenhang als eine jener – im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Westeuropa – rückständigen Staaten angesehen werden, von denen es heißt, sie bräuchten unbedingt Talente, um sie aus ihrer Rückständigkeit zu heben, wobei man solche Talente durch höhere Löhne motivieren muss, „even at the cost of great hardship to the masses“ (The Ethics of Redistribution, 57). Man könnte dazu geneigt sein, Bertrand de Jouvenel hier eine Insensibilität gegenüber der Situation der Massen vorzuwerfen. Nur sollte man bedenken, dass er sich nicht mit einer Situation abfinden will, in welcher die Massen leiden. Was er sagen will ist, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung einer Nation das mühsame und schwere Leben der Massen in Kauf nehmen muss, damit es den Massen in Zukunft besser geht. Es geht ihm nicht darum, dass Einzelne sich um ihrer selbst willen bereichern, sondern diese personelle Bereicherung legitimiert sich dadurch, dass die sich Bereichernden zur Verbesserung der Lage der Massen beitragen, dass sie also ihre Talente in den Dienst der Gesellschaft stellen. Eine Angleichung der Löhne über den Weg der Umverteilung des Reichtums ist demnach für de Jouvenel nicht nur ungerecht, sondern widerspricht auch dem Gedanken des sozialen Nutzens (The Ethics of Redistribution, 63). Wenn es keine finanziellen Anreize mehr gibt, werden die Talente sich nicht ausdrücken, und wenn die Talente sich nicht ausdrücken, wird es der Gesellschaft nicht besser gehen können. Was de Jouvenel aber besonders stört, und damit meldet sich die einige Jahre zuvor in De pouvoir entwickelte Idee zu Wort, ist die Tatsache, dass die Umverteilung des Geldes letzten Endes eine Umverteilung von Macht ist: The more one considers the matter, the clearer it becomes that redistribution is in effect far less a redistribution of free income from the richer to the poorer, as we imagined, than a redistribution of power from the individual to the State (The Ethics of Redistribution, 73)
In diesem Zusammenhang unterscheidet de Jouvenel zwischen einem modernen und einem neuen Geist. Der moderne Geist wollte das Aufkommen von Talenten, der neue Geist will keine Wertunterschiede mehr anerkennen (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 267). 64
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Bertrand de Jouvenel und der Marxismus
Der Staat tritt nämlich als Vermittler zwischen die Reichen und die Armen. Er nimmt den Reichen einen Teils ihres Reichtums und gibt es den Armen. Damit entmachtet er in einem gewissen Sinn die Reichen, die etwa nicht mehr über die finanzielle Macht verfügen, die Produktion kultureller Güter zu finanzieren. Gleichzeitig nimmt man ihnen auch damit die Möglichkeit, in philanthropische Projekte zu investieren, so dass fortan der Staat sich darum kümmern muss. Was vormals Individuen taten, tun dann „corporate bodies“ im Namen des Staates (The Ethics of Redistribution, 81). Die Armenhilfe wird dann zu einer Sache der staatlichen Verwaltung. De Jouvenel beendet sein Buch mit der Feststellung: The method of so-called redistribution through the agency of the redistributing State, and its outcome, the favouring of corporate bodies over individuals, seem to us to pertain to a vast evolutionary process which will not result in equality, and in which the egalitarian ideal is put to work, in all good faith, for ends other than itself (The Ethics of Restribution, 81)
Der Hinweis auf einen „evolutionary process“ erinnert an die Kennzeichnung von Du pouvoir als eines Werkes, in welchem der Autor den natürlichen Prozess der Machtvergrößerung nachzeichnen will. Die Menschen, so suggeriert de Jouvenel, sind guten Glaubens, dass sie dem Ideal der Gleichheit dienen und dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen zu einer Gesellschaft der Gleichen führen, eine Gesellschaft die, weil sie das Ideal der Gleichheit verkörpert, zugleich auch eine gerechte Gesellschaft ist. Das Resultat dieser Entwicklung ist aber nicht die erhoffte Gleichheit, sondern es bildet sich eine neue Gruppe von Privilegierten heraus, eine Staatsbürokratie, die die gesamte Gesellschaft kontrollieren wird. Diese „corporate bodies“, mögen sie unabhängig vom Staat sein oder, wie in der zitierten Stelle gesagt, von ihm abhängig sein, sind de Jouvenel ein Dorn im Auge. Sie lähmen nämlich die individuelle Initiative und verwandeln somit die Gesellschaft in eine leblose Masse, die nur durch den Staat in Bewegung gesetzt werden kann. Der Staat hört damit auf, seine eigentliche und legitime Funktion zu erfüllen, nämlich die Kooperation zwischen den Menschen zu ermöglichen (De la souveraineté, 71). Der Staat hört damit aber auch auf, den Menschen zu dienen, um sich ihrer zu bedienen. Die durch die freie Kooperation zwischen den Menschen definierten Zwecke werden durch Zwecke ersetzt, die der Staat selbst setzt. Und diese Zwecke sind solche, die seinen eigenen Interessen dienen.
III.
Staat und Macht
Einleitung
Was ist Macht? Diese Frage, so Bertrand de Jouvenel, fällt in den Bereich der politischen Metaphysik bzw. der Metaphysik des Politischen, in welcher man das Wesen oder die Natur der Macht zu bestimmen versucht (Du pouvoir, 44). De Jouvenel ist nicht der erste politische Denker der sich mit der Frage der Macht befasst, und eine ganze Reihe klassischer Autoren haben diese Frage viel tiefgründiger behandelt als er.65 Und de Jouvenel ist auch nicht der erste politische Denker, der vor der Macht warnt. Aber trotz dieses Mangels an absoluter Originalität, kann man de Jouvenels Analysen nicht jede Originalität absprechen. Decken sich diese Analysen auch zum Teil mit denjenigen Tocquevilles, so entwickelt de Jouvenel sie vor einem politisch-sozialen Hintergrund, den Tocqueville zu seiner Zeit vielleicht schon auf eine dunkle Weise vorausahnte, nicht aber als soziale Realität kannte. Die von Tocqueville beschriebene Macht des sanften Despotismus ist eine zum Teil andere als die Macht der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum englischen Wort power, beziehen sich sowohl das deutsche Wort Macht, als auch das französische Wort pouvoir primär, wenn nicht sogar ausschließlich auf die Menschenwelt. Während es bei den Engländern die power – des Wassers, der Luft, … – ist, die Maschinen in Gang setzt, ist es bei den Deutschen die Kraft und bei den Franzosen die force.66 Die force kann belebte und leblose Körper in Bewegung setzen. Die Macht ihrerseits, so zumindest de Jouvenel, kann nur belebte Körper in Bewegung setzen, und genauer gesagt nur bewusste und intelligente belebte Körper. Bertrand de Jouvenel zu Folge verweist die Macht nämlich auf den Gehorsam (Du Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird der Begriff der Macht in einem von unterschiedlichen Autoren verfassten Artikel behandelt, der sich von Seite 586 bis Seite 631 des 5. Bandes (L–MN) des Werkes erstreckt – der Beitrag erwähnt de Jouvenels Buch lediglich in einer der Bibliographien. Dies zeigt zur Genüge, welchen Platz dieser Begriff in der Philosophiegeschichte, auch und vor allem in der Geschichte der Staats- und Rechtsphilosophie, einnimmt. 66 Im Französischen gibt es auch noch das Wort puissance, das auch seinen Platz im politischen Kontext findet – etwa wenn man von den puissants, den Mächtigen, spricht. 65
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Staat und Macht
pouvoir, 44), der seinerseits auf den Befehl verweist, der, so de Jouvenel, sogar das eigentliche Wesen der Macht bildet bzw. die Macht in ihrer Reinform darstellt (Du pouvoir, 171). Wer Macht besitzt, kann Menschen durch seine Befehle dazu bringen, dass man ihm gehorcht, dass man das tut, was er getan sehen will und zu tun befiehlt. Die Macht, so könnte man auch sagen, ist die Fähigkeit, Menschen in Bewegung zu setzen und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Diese Macht kann, muss aber nicht unbedingt, auf die Kraft oder die Gewalt zurückgreifen, um wirksam zu werden. Man könnte sogar sagen, dass die Macht umso fester oder gesicherter ist, als sie nicht auf die Kraft oder Gewalt zurückgreifen muss, wenn also der Gehorsam sozusagen von selbst erfolgt, die Menschen der Macht gehorchen, ohne dass man sie zu diesem Gehorsam zwingen muss. Auf die Notwendigkeit einer diesbezüglich klaren Begriffsunterscheidung hat u. a. Hannah Arendt hingewiesen: „Für die Beschreibung politischer Phänomene hängt viel davon ab, dass so entscheidende Kategorien politischen Denkens wie Autorität, Macht und Gewalt klar voneinander geschieden werden“ (Arendt 2000, 232). Taucht der Name Bertrand de Jouvenels nicht in diesem Buch der Philosophin auf, so finden wir ihn in der Studie, die Arendt dem Phänomen der Gewalt widmet.67 Du pouvoir wird dort als „die angesehenste, jedenfalls interessanteste neuere Abhandlung zu diesem Thema [der Macht – N. C.]“ bezeichnet (Arendt 1975, 37). Hannah Arendt wirft de Jouvenel allerdings vor, die Macht nicht genügend von der Gewalt unterschieden zu haben (Arendt 1975, 38).68 Du pouvoir erscheint zuerst 1946 auf Französisch im schweizerischen Verlag Le cheval ailé. Pessimistisch über die Möglichkeit, nach dem Krieg einen französischen Verleger zu finden, wendet de Jouvenel sich an Constant Bourquin, der den eben genannten Verlag im Frühjahr 1944 gegründet hatte und dort u. a. Texte von Joseph Goebbels oder dem belgischen Rexisten Léon Degrelle69 veröffentlicht hat. Bourquin selbst hat de Jouvenel gegenüber seine Sympathie für den Menschen, wenngleich nicht unbedingt auch für den Staatsmann, Hitler ausgedrückt (cf. Dard 2008, 213). Angesichts dieses Hintergrundes kann man die Frage aufwerfen, ob es eine gute Idee de Jouvenels war, sein Buch in diesem doch problematischen Verlag zu publizieren, zumal wenn man bedenkt, dass er alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war und einige Jahre zuvor selbst eine bestimmte Sympathie für den Faschismus ausgedrückt hatte. Sein Während die englischsprachige Originalausgabe lediglich die violence in der Überschrift erwähnt, haben die Herausgeber der deutschen Übersetzung die zwei Begriffe der Macht und der Gewalt in den Titel aufgenommen. 68 Es ist auch interessant zu bemerken, dass Arendt de Jouvenel rechts auf dem politischen Spektrum einordnet, schreibt sie doch: „Sollte also von Rechts bis Links, von Jouvenel bis Mao Tse-tung […]“ (Arendt 1975, 39). 69 Die 1935 vom Belgier Degrelle gegründete Bewegung des Rexismus – die ihren Namen dem Christus rex entnimmt –, verurteilte den Parlamentarismus und setzte auf eine autoritäre Staatsführung. Wegen ihrer Kollaboration mit den Nazis wurde die Bewegung 1945 aufgelöst, nachdem ihr Gründer 1944 den Weg des Exils angetreten war – Degrelle stirbt 1994 im spanischen Malaga. 67
Einleitung
Engagement auf Seiten der Résistance konnte ihm zwar zu Gute geschrieben werden, ließ aber seine Stellungnahmen aus den 30er Jahren nicht verschwinden. In Frankreich und der französischsprachigen Welt wird damals so gut wie nicht über das Buch de Jouvenels gesprochen.70 Anders in der englischsprachigen Welt, in welcher so gut wie niemand den Menschen Bertrand de Jouvenel und seine Positionen der 30er Jahre kennt, so dass es keine Berührungsängste gibt. Zu einem großen Dank ist Bertrand de Jouvenel hier dem in Cambridge lehrenden Politologen Brogan verpflichtet, der für den Londoner Times Literary Supplement eine sehr wohlwollende Rezension des französischen Originals verfasst hat, die sicherlich einen Einfluss auf die Entscheidung hatte, das Werk ins Englische zu übersetzen. Diese Übersetzung erscheint 1949 in der New Yorker Viking Press – wo u. a. auch einige Jahre später Hannah Arendts On Revolution erscheinen wird. Rezensionen der englischen Übersetzung des Buches erscheinen in vielen renommierten amerikanischen Tageszeitungen – Wall Street Journal, New York Times, … – und tragen somit dazu bei, dass Bertrand de Jouvenels Gedanken einen größeren Anklang jenseits als diesseits des Atlantiks finden.71 Und was mit Du pouvoir angefangen hat, wird sich mit De la souveraineté fortsetzen, denn auch dieses Buch wird zunächst einen weit größeren Erfolg in der angelsächsischen als in der französischen Welt finden. Es dauert bis 1972, bevor das Hauptwerk de Jouvenels in einer Taschenbuchausgabe bei Hachette in Paris erscheint. Diese Neuausgabe beginnt mit einem kurzen Vorwort, die selbst mit den Wörtern beginnt: „Dieses Werk ist ein Kriegsbuch, in allen Hinsichten“ (Du pouvoir, 5). Dass es während des Krieges geschrieben wurde, als de Jouvenel sich zunächst in einem Kloster versteckte, um dann in die Schweiz ins Exil zu gehen, macht es in einer chronologischen Hinsicht zu einem Kriegsbuch. Die eigentlich wesentliche Hinsicht ist aber eine ganz andere: Es ist ein Buch über die Entwicklung zum totalen Krieg. Dieser Aspekt wird vor allem im achten Kapitel des Buches behandelt, das zunächst, und noch bevor de Jouvenel den konkreten Gedanken des Buches erwog, separat verfasst wurde und einen für sich stehenden Text bildete.72 Das Buch beschränkt sich aber nicht auf den Aspekt des Krieges, sondern zeichnet, wie es der Untertitel andeutet, eine natürliche Geschichte der Vergrößerung der Macht – Le pouvoir. Histoire naturelle de sa croissance. Man kann das Buch aber auch noch in einer dritten Hinsicht als ein Kriegsbuch bezeichnen. Es ist nämlich ein Buch, mit dem de Jouvenel bestimmten Theorien der Macht den Krieg erklärt und diese Theorien auf dem Gebiet des Diskurses bekämpft. Die Machttheorien, so heißt es an einer Stelle, werden der Macht immer günstiger, und das gilt selbst, wenn nicht sogar besonders, für jene Theorien, die der Macht am Französischsprachige Rezensionen erscheinen vor allem in Zeitschriften, die man politisch gesehen auf dem rechten Spektrum situieren würde (Dard 2008, 247–248). 71 Hayek und Morgenthat sind nur zwei der vielen Rezensenten des Buches. 72 Der Text erschien schon 1943 in der Revue Suisse Contemporaine. 70
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Anfang Grenzen setzen wollten (Du pouvoir, 112). Die Vergrößerung scheint in der Natur der Macht selbst zu liegen, weshalb de Jouvenel eine natürliche Geschichte ihres Wachstums schreiben kann. Die Macht hat eine Eigendynamik, die selbst dort wirksam ist, wo versucht wird, dieser Eigendynamik Hindernisse in den Weg zu stellen. Die von de Jouvenel erzählte Geschichte der Macht versteht sich aber nicht bloß als eine aus der Distanz geschriebene Untersuchung eines neutralen Phänomens. De Jouvenel konstatiert nicht nur den Wachstum der Macht, sondern er warnt auch davor, und er warnt vor allem vor einer Macht, die sich nicht mehr offen als solche zeigt und deren kontinuierliches Wachstum man demnach nicht sieht: „Jetzt, durch ihre Anonymität verschleiert, behauptet sie, keine eigene Existenz mehr zu haben, nur das unpersönliche und leidenschaftslose Instrument des allgemeinen Willens zu sein“ (Du pouvoir, 33). Die Ubiquität der Macht erweckt den Eindruck, als sei sie nirgends, und die Abwesenheit einer die Macht verkörpernden Person – vergleichbar den absoluten Königen – führt zum Glauben, dass es kein Machtzentrum mehr gibt. Das dem französischen Sonnenkönig zugeschriebene „L’Etat, c’est moi“ – „Der Staat, bin ich“, was man auch im Sinne von „Die höchste Macht, bin ich“ – ist zum demokratischen „L’Etat, c’est nous“ – „Der Staat, sind wir“ – geworden, wobei dieses wir über sich selbst herrscht und demnach den Eindruck hat, keiner Macht mehr unterworfen zu sein.73 Der Minotaurus – mit welchem de Jouvenel die Macht vergleicht – ist verschleiert, versteckt, und es geht dem Autor darum, ihn in seinem Versteck aufzusuchen und seine Wachstumslogik an den Tag zu legen. „[M]eine Absicht“, so de Jouvenel in der als Einleitung gedachten Präsentation des Minotaurus, „beschränkt sich darauf, die Ursachen und den Modus des Wachstums der Macht in der Gesellschaft zu suchen“ (Du pouvoir, 39). Er wolle sich nicht „dem Wachstum der Macht, dem Aufblähen des Staates“ widersetzen, denn er wisse nur allzugut, dass die Menschen sich nach einem solchen Wachstum sehnen, weil sie Gutes von ihm erwarten (Du pouvoir, 38). De Jouvenel kann hier mit Tocqueville verglichen werden, der sich auch nicht dem Fortschreiten der Demokratie widersetzt, weil er erkennt, dass die Ausbreitung der demokratischen Gleichheit den Menschen Vorteile bringt. Und Tocqueville widmet sich auch einer Ursachenanalyse; auch er will verstehen, wie sich der demokratische Despotismus allmählich durchsetzt. Aber, und hier scheint ein Unterschied zwischen de Jouvenel und Tocqueville vorzuliegen, der Autor der Démocratie en Amérique sucht nach Strategien, um dem demokratischen Despotismus entgegenzuwirken. Widersetzt er sich auch nicht der fortschreitenden Angleichung der sozialen Bedingungen,
Bei seiner Untersuchung der Macht bleibt de Jouvenel allerdings beim klassischen Modell, der vom Staat ausgeht, bloß dass er nicht mehr den monarchischen Staat untersucht, sondern den demokratischen. Insofern unterscheidet er sich von Michel Foucault, der mit aller Deutlichkeit die seine Untersuchungen leitende methodologische Prämisse formuliert: „[M]an muss dem Modell des Leviathan los werden“ (Foucault 1997, 30), um den Blick auf die Mikrotechniken der Macht zu werfen. 73
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so widersetzt er sich doch ganz entschieden dem Wachstum der Macht und dem Aufblähen des Staates unter den neuen sozialen Bedingungen. Aber der Unterschied ist vielleicht nur ein scheinbarer: Denn auch wenn Bertrand de Jouvenel behauptet, er wolle sich dem Minotaurus nicht widersetzen, so atmet doch das ganze Buch von einem Geist der Freiheit, den de Jouvenel, nicht ganz unähnlich Tocqueville, zum Teil in vormodernen Quellen wiederfindet. Wenn ein Unterschied besteht, dann liegt er darin, dass de Jouvenel an manchen Stellen pessimistischer ist als Tocqueville – der manchmal einen vorgetäuschten religiösen Glauben74 mobilisiert, um, wenn nicht sich selbst, so zumindest seinen – noch – gläubigen Lesern Hoffnung zu geben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so de Jouvenel in einem 1979 erschienen Rückblick auf die ersten Jahrzehnte seines Lebens, kündigten sich die politischen Regimes, wie sie ab den 20er Jahren entstanden sind, noch nicht an (Un voyageur dans le siècle, 19). Nach 1945 gibt es aber auf dem Planeten mehr totalitäre als liberale Regierungen bzw. der totalitäre Regierungsmodus findet sich häufiger als der liberal-demokratische (Un voyageur dans le siècle, 40). Wie konnte es dazu kommen? Bis wohin lassen sich die Wurzeln dieser totalitären Regimes verfolgen? Und warum haben sie sich so schnell durchsetzen können? Diese Fragen stehen nicht nur im Zentrum von Du pouvoir, sondern sie durchziehen das gesamte Denken Bertrand de Jouvenels nach dem Zweiten Weltkrieg. Im ersten Teil dieses Kapitels werde ich mich zunächst mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Macht und Krieg befassen, wobei das sogenannte Gesetz der politischen Konkurrenz im Mittelpunkt steht (1). Es ist, wie schon vorhin angedeutet, diese zunächst eigenständig behandelte Problematik, die Bertrand de Jouvenel dazu veranlasst hat, die Frage der Macht und ihres Wachstums genauer zu untersuchen. Im zweiten Teil werde ich mich mit dem von de Jouvenel behaupteten Zusammenhang von Macht und Gehorsam befassen. Wird diese Frage schon in Du pouvoir angeschnitten, so widmet der Autor ihr sein 1963 erschienenes Buch De la politique pure. Hier liefert er sozusagen die begrifflichen Unterscheidungen nach, die im 1945 erschienenen Buch noch nicht richtig als solche thematisiert worden sind – was denn den oben erwähnten Vorwurf Hannah Arendts als zum Teil berechtigt erscheinen lässt –, aus denen aber hervorgeht, dass er die Wichtigkeit bestimmter Unterscheidungen eingesehen hat (2). Im dritten Teil soll der Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Macht und dem Wohl der dieser Macht unterworfenen Menschen thematisiert werden. Dieser Wachstum kann nämlich nicht angemessen erklärt werden, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass die Macht sich in den Dienst der Menschen gestellt hat (3). Die Macht des Staates hat sich nicht gegen den Willen der großen Masse der Untertanen vergrößert, sondern eine größere Macht des Staates entsprach diesem Willen. Insofern Tocqueville selbst geschrieben hat, er habe den religiösen Glauben während seiner Jugend verloren, tut man ihm nicht unrecht, wenn man alle jene Sätze in seinen Werken, in denen so etwas wie ein religiöser Glaube anklingt, als diesen Glauben nur vortäuschend bezeichnet. 74
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Der vierte und letzte Teil des Kapitels befasst sich mit der Macht des demokratischen Staates, so wie er seit der Französischen Revolution gedacht wurde, als das Volk bzw. die Nation als ursprüngliche Träger der Souveränität betrachtet wurden (4). Braucht man die Macht des Staates nicht mehr zu fürchten, wenn sie sich als eine Macht darstellt, die nicht nur im Interesse des Volkes handelt – den absolutistischen Königen war dieser Anspruch nicht fremd –, sondern auch als eine Macht, die vom Volk ausgeht? Oder ist diese Macht genau dann am meisten zu fürchten, wenn sie sich auf den Willen des Volkes beruft? Damit wird noch nicht unbedingt die Demokratie als solche verurteilt, aber der naive Glaube wird in Frage gestellt, dass die Demokratie an sich gut ist und keiner Schranken bedarf. 1.
Macht und Krieg
Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, bildet das zunächst als Aufsatz veröffentlichte 8. Kapitel den Ansatzpunkt für Du pouvoir. Dieses Kapitel trägt die Überschrift ‚Von der politischen Konkurrenz‘, und in ihm formuliert de Jouvenel ein Gesetz der politischen Konkurrenz, deren Wurzel er schon bei Jean-Jacques Rousseau findet (Du pouvoir, 235). Die Macht eines Staates, so der Grundgedanke, ist relativ und nicht absolut, d. h., ob ein Staat mächtig ist oder nicht, kann man nur dann bestimmen, wenn man ihn mit den ihn umgebenden Staaten vergleicht. Insofern kann es sich ein Staat, der sich um seine Macht sorgt, nicht ersparen, auf seine Nachbarn bzw. sogar auf alle Staaten zu schauen und sich nach dem zu richten, was dort geschieht. Sieht er, dass einer seiner Nachbarn dabei ist, seine Macht zu vergrößern, so wird er dazu geneigt sein, auch seine eigene Macht zu vergrößern. Denn tut er es nicht, so wird seine Macht nicht die gleiche bleiben, sondern sie wird sich vermindern, und dies auch, wenn er immer noch über dieselben Machtmittel verfügt. Der Besitz von 100 Panzern sagt insofern nichts über die Macht eines Staates A aus: Besitzen die anderen Staaten keine Panzer, so ist die Macht von A, ceteris paribus, sehr groß. Besitzen diese Staaten aber 1000 Panzer, so ist die Macht von A, wiederum ceteris paribus, klein. Bringt er dieses Gesetz mit Rousseau in Verbindung, so hätte de Jouvenel ebenso gut Hobbes anführen können. In Du pouvoir schreibt er: „Aber es genügt, wie wir es soeben gesehen haben und wie die ganze Geschichte es bezeugt, dass ein einziger der allmächtigen Staaten der Zukunft einen Führer findet, der alle für das soziale Wohl übernommenen Machtmittel in Mittel zum Krieg verwandelt, damit alle anderen dazu gezwungen sind, sich ähnlich zu verhalten“ (Du pouvoir, 38). Auch im Hobbesschen Naturzustand gilt die Regel: Du wirst nur dann überleben können, wenn Du mehr Machtmittel als Deine Mitmenschen besitzt. Und da keines der Individuen im Naturzustand weiß, über wie viele Machtmittel die anderen verfügen bzw. in nächster Zukunft verfügen werden, übernimmt jedes von ihnen die Strategie, so viele Machtmittel wie nur möglich anzuhäufen, so dass das ganze Leben sich darin erschöpft, die eige-
Macht und Krieg
ne Macht zu vergrößern, was u. a. durch die Eroberung der Machtmittel anderer geschieht. Und hier ist jeder gezwungen mitzumachen, wenn er sich selbst erhalten will: Also because there be some, that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue further than their security requires, if others, that otherwise would be glad to be at ease within modest bounds, should not by invasion increase their power, they would not be able, long time, by standing only on their defence, to subsist (Hobbes 1996, 88).
Sogar wer nicht an einer grenzenlosen Vergrößerung seiner eigenen Macht interessiert ist und darin sozusagen einen Selbstzweck sieht, muss ständig danach streben, seine Macht zu vergrößern. Es genügt, dass einige Lust an der Besitznahme fremder Güter empfinden, um jeden in einen Zustand der Angst zu versetzen, eine Angst die man dadurch zu reduzieren versucht, dass man hinreichend fremde Güter, die als Machtmittel fungieren können, in Besitz nimmt, um sich bei jedem möglichen Angriff bestens verteidigen zu können. Es gilt also nicht nur der Imperativ „Sei stark!“, sondern „Sei stärker!“. Und stärker wird man durch die Eroberung und die Besitznahme, also durch den Krieg. Ganz darauf bedacht, die Entstehung des Staates aus der Unzufriedenheit mit dem aus dem bellum omnium contra omnes hervorgehenden Leben im Naturzustand zu erklären, hat Hobbes sich relativ wenig mit dem Konflikt zwischen den Staaten befasst und dementsprechend auch wenig mit einer sich vor dem Hintergrund der Möglichkeit solcher Konflikte entwickelnden nationalen Wirtschaft, die dem Staat die nötigen Machtmittel zur Verfügung stellt. Hobbes weiß zwar, dass die Staaten im Naturzustand leben, und er glaubt auch, dass man diesen Naturzustand nicht wie denjenigen zwischen Individuen durch die Schaffung einer über den Staaten stehenden repressiven Macht – einem internationalen Leviathan –, beheben wird, aber seine Überlegungen klammern diesen Aspekt so gut wie ganz aus oder geben ihm nicht die Relevanz, die er eigentlich verdient. In dieser Hinsicht geht de Jouvenel einen Schritt weiter als Hobbes, was sich u. a. dadurch erklären lässt, dass zur Zeit, als de Jouvenel schreibt, das Problem der internen staatlichen Ordnung im Wesentlichen geregelt ist. Oder genauer gesagt: Das Problem einer Gefährdung der staatlichen Ordnung durch rein interne Faktoren scheint größtenteils geregelt zu sein und das Problem ist nicht mehr der Bürgerkrieg. Dadurch wird der Blick frei oder freier für Gefährdungen von außen, und es geht jetzt nicht mehr nur darum, dass der Leviathan bzw. der Minotaurus über genügend Macht verfügt, um sich im Inneren behaupten zu können, sondern er muss auch über genügend Macht verfügen, um sich nach außen behaupten zu können. Und hier muss er sich an das oben erwähnte Gesetz der politischen Konkurrenz halten, wenn er nicht von den Nachbarstaaten überwältigt werden will. Der Satz, mit dem Du pouvoir anfängt – „Wir haben den grausamsten und den am meisten zerstörerischen Krieg erlebt, den der Westen je gekannt hat“ (Du pouvoir, 21) –
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kann als ein deutliches Dementi des Friedensoptimismus gelesen werden, den wir etwa bei Benjamin Constant zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden und der auch ein Charakteristikum der Aufklärung war – man denke nur an Kants Zum ewigen Frieden.75 In seinem gegen Napoleon gerichteten De l’esprit de conquête et de l’usurpation hatte Constant nämlich gemeint, die Epoche der Kriege neige sich ihrem Ende zu, um der Epoche des Handels zu weichen. Der Handel, so könnte man sagen, ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln und er ersetzt die militärische durch eine ökonomische Konkurrenz. Benjamin Constant ist dabei nicht naiv und denkt sich den Übergang nicht als einen Übergang vom Egoismus zum Altruismus, so als ginge es fortan primär darum, anderen Völkern zu helfen: In beiden Fällen geht es den Menschen um dasselbe, nämlich sich dasjenige Gut anzueignen, das sie begehren. In dem einen Fall tun sie es, indem sie Land erobern, im anderen, indem sie Märkte oder Marktanteile erobern.76 Dabei haben ihm zu Folge drei Faktoren zum Rückgang des Krieges geführt. Erstens haben die Menschen festgestellt, dass der Handel wirksamer ist als der Krieg, um ihre Ziele zu verfolgen. Kriege kosten schrecklich viel Geld, und jeder auch nur halbwegs intelligente Mensch wird einsehen, dass der Handel in dieser Hinsicht günstiger ist. Ein zweiter Faktor betrifft die Entwicklung der Waffen: Vorbei sind die Zeiten, in denen man in Zweikämpfen seinen Mut und seine Stärke unter Beweis stellen konnte. Moderne Kriege sind Massenkriege in denen es keine schlachtentscheidenden Zweikämpfe mehr gibt, wo der Gewinner als Held hervorgehen kann. Damit versiegt aber auch die Leidenschaft zum Kriege. Dieser wirkt übrigens auch, und das ist ein dritter Faktor, dem Wunsch des modernen Menschen entgegen, ein angenehmes und ruhiges Leben zu führen (Constant 1980, 117 ff.). Der moderne Mensch, sprich der Bourgeois, will nicht, dass der Staat ihm sein Geld für kriegerische Zwecke wegnimmt, genauso wenig wie er will, dass der Staat ihn oder seine Söhne aufs Schlachtfeld schickt. Constant glaubt allerdings nicht, dass es in Zukunft überhaupt keine Kriege mehr geben kann oder wird. Seine These ist nur: Ein aufgeklärtes Volk, das die Politik mitbestimmen kann, wird sich nicht mehr für einen Eroberungskrieg mobilisieren lassen. Anders sieht es bei einem Defensivkrieg aus, bei einem Krieg also, wo man nicht versucht, sein eigenes Territorium zu vergrößern, sondern sich vielmehr einem anderen Volk widersetzt, das versucht, sein Territorium auf Kosten des unsrigen zu vergrößern. Wie Bertrand de Jouvenel feststellt, lebt dieser Gedanke u. a. im Milieu der angelsächsischen Finanzwelt weiter, von deren Glauben es bei de Jouvenel heißt: „In Zukunft wird der den Kollektivitäten wie den Individuen natürliche Machtwille von seinen alten politischen Manifestationen hin zu neuen ökonomischen Manifestationen geleitet. Vom Zeitalter des Krieges ging man zum Zeitalter der Konkurrenz über“ (La décomposition de l’Europe libérale, V). Für die Londoner City und die New Yorker Wall Street versprach die ökonomische Konkurrenz größere Profite als der militärische Kampf. 76 In seinem Napoleons Politik gegen England gewidmeten Buch, stellt de Jouvenel sein eigenes Zeitalter demjenigen Napoleons entgegen. Zur Zeit Napoleons wollte man den Gegner finanziell zerstören, indem man ihn daran hinderte, seine Güter zu exportieren und sich durch diesen Export zu bereichern. Im 20. Jahrhundert, hingegen, will man den Gegner physisch zerstören, indem man ihn daran hindert, die für die Ernährung seines Volkes notwendigen Güter zu importieren (Napoléon et l’économie dirigée, xi). 75
Macht und Krieg
Hier, schreibt Constant, wird das Volk „sich mit Freude [dem Krieg] unterwerfen, wie einem Mittel, wieder in den Ruhezustand einzutreten“ (Constant 1980, 140). Wie wichtig auch der hier von Constant angesprochene Enthusiasmus eines Volkes sein mag, sein Land zu verteidigen, so kann er allein relativ wenig gegen einen stark bewaffneten Feind ausrichten, umso mehr, wenn das andere Volk im Bann einer den Kampfwillen animierenden imperialistischen Ideologie ist. Will man sich also angemessen verteidigen, muss man auch auf der Ebene der Waffen ebenbürtig sein, und dies sowohl auf der Ebene der materiellen als auch auf derjenigen der ideologischen Waffen – „Qui desiderat pacem, praeparet bellum“ wie es wortwörtlich bei Vegetius im Traktat über Militärkunst heißt bzw. „Si vis pacem, para bellum“, wie man es allgemein in quasi-imperativischer Form zu sagen pflegt. Wo die eine Partei den Krieg um der Eroberung willen vorbereitet, bereitet die andere ihn vor, um zu verhindern, dass der Kriegswille der ersten Partei sich in einem wirklichen Krieg manifestiert. Man steht also vor einem Mimetismus, von dem de Jouvenel schreibt: Und wenn der Gegner, um die Körper besser zu handhaben, die Gedanken und die Gefühle mobilisiert, muss man ihn nachahmen, will man keinen Nachteil erleiden. Der Mimetismus des Duells nähert auf diese Weise die ihn austragenden Nationen dem Totalitarismus. Die vollständige Militarisierung der Gesellschaften ist also das Werk Adolf Hitlers, direkt in Deutschland, indirekt in den anderen Ländern. Und wenn er diese Militarisierung bei sich durchgeführt hat, so deshalb, weil er nicht weniger als die Gesamtheit der nationalen Ressourcen benötigte, um seinem Machtwillen zu dienen (Du pouvoir, 23)
Hitler hat sozusagen die Spielregeln gesetzt, und wer eine Siegeschance im Spiel behalten will, muss nach denselben Spielregeln spielen. Er kann sich nicht erlauben, die Ressourcen nur partiell zu mobilisieren, wo der Gegner sie total mobilisiert, zumindest dann nicht, wenn er seine Erfolgschancen nicht reduzieren will. In einem Duell haben die beiden Duellanten dieselben Waffen, und diese Gleichheit soll die Siegeschancen der beiden soweit wie möglich angleichen, so dass letztendlich nur das individuelle Geschick, das Glück oder – wie man im Mittelalter glaubte – Gott den Erfolg bzw. die Niederlage beeinflusste. Der Krieg unterscheidet sich allerdings dadurch vom klassischen Duell, dass keine Partei der anderen die Wahl der Waffen überlässt, sondern jede Partei alle ihr zur Verfügung stehenden Waffen gebraucht, um ihre Siegeschancen zu erhöhen.77 Somit lässt sie der anderen Partei keine Wahl: Diese muss erstens ihre 77 Wie u. a. Stephen Neff es formuliert, ging und geht es der Theorie des gerechten Krieges nicht darum, einen level playing field herzustellen, also von den kriegführenden Parteien zu verlangen, dass sie sich mit genau den gleichen Waffen und derselben Anzahl an Kombattanten gegenübertreten (Neff 2008, 64). Im Gegensatz dazu konnte das Ergebnis eines Duells noch dann als gerecht und damit akzeptierbar angesehen werden, wenn beide Parteien am Anfang dieselben Siegeschancen hatten bzw. keine Partei a priori den Eindruck hatte, ihre Siegeschancen seien geringer. Brantôme, ein französischer Autor der von 1540 bis 1614 lebte, erwähnt den Fall, wo man zwei Duellanten Zucker gab, „eine Portion Zucker, dem einen soviel wie dem anderen (und beachten Sie, dass man sie wog)“ (Brantôme 1873, 242).
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Staat und Macht
eigenen Machtmittel denjenigen des Gegners angleichen und zweitens diese Machtmittel im Falle eines Konfliktes auch maximal ausnutzen bzw. auf alle ihre zur Verfügung stehenden Mittel zurückgreifen. Man muss mit anderen Worten bereit sein, alles – Menschen und Sachen – was prinzipiell zum Sieg führen könnte einzusetzen, so dass die Trennlinie nicht mehr eine moralische – was man einsetzen darf vs. was man nicht einsetzen darf –, sondern eine rein utilitäre ist – was die Siegeschancen erhöht vs. was keinen Einfluss auf sie hat bzw. sie sogar verringert. Der Blick des Staates erstreckt sich demnach auf alles, da zumindest a priori alles die Siegeschancen erhöhen kann. Dies meint Bertrand de Jouvenel, wenn er in der vorhin zitierten Stelle von einem Totalitarismus spricht, dem sich die modernen Nationen nähern.78 Die modernen Staaten müssen jederzeit in der Lage sein, eine „totale Mobilisierung“ vorzunehmen, da sie jederzeit damit rechnen müssen, dass andere Staaten auf eine solche totale Mobilisierung aller ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel zurückgreifen, um sich in einem Krieg durchzusetzen. Immer bereit sein, alles einzusetzen, aber auch immer alles einsetzen, um die einzusetzenden Ressourcen zu erhöhen. Ein Staat darf sich nämlich nicht mit dem ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel begnügen, sondern er muss diese stets vergrößern. Das bedeutet erstens, dass er immer mehr oder doch zumindest immer zerstörerische Waffen produzieren muss, zweitens, dass er immer mehr Menschen für den Waffendienst ausbilden muss bzw. immer mehr Menschen in den Krieg schicken muss oder für das Funktionieren der Kriegsökonomie mobilisieren muss, und drittens, dass er sein Territorium oder zumindest seine Einflusssphäre vergrößern muss, um an die nötigen Rohstoffe zu gelangen oder um seine Hauptstadt oder andere wichtige Zentren so weit wie möglich vom Kriegsschauplatz zu entfernen. Unter diesen Umständen werden „Mann, Frau und Kind“ zu unmittelbaren Kriegsteilnehmern (Du pouvoir, 235). Oder anders gesagt: Jeder Mensch, jede Sache und jede Handlung die einen Beitrag zum Sieg leisten kann, wird im Kriegsfall oder für den Kriegsfall mobilisiert. Das hat zur Folge, dass auch jeder Mensch und jede Sache fortan als legitime Zielscheibe dienen kann, was de Jouvenel zu folgender Überlegung führt: Wir enden dort, wo die Wilden anfangen, wir entdecken die verlorene Kunst, die NichtKombattanten verhungern zu lassen, die Hütten zu verbrennen und die Besiegten in die Sklaverei zu führen. Wieso brauchen wir die Invasionen der Barbaren? Wir sind unsere eigenen Hunnen. (Du pouvoir, 235)
Mahoney schreibt, de Jouvenel habe den modernen Totalitarismus mit dem von Tocqueville angekündigten sanften Despotismus identifiziert, so dass es ihm nicht gelingt, das eigentliche Übel des Totalitarismus zu identifizieren (Mahoney 2005, 45). In Un voyageur dans le siècle sieht de Jouvenel aber im stalinistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus eine neue Regierungsform und streicht vor allem ihren Rückgriff auf die Zensur und die Indoktrination hervor (Un voyageur dans le siècle, 40). In dem von Tocqueville besprochenen sanften Despotismus braucht der Staat nicht auf die Zensur und die Indoktrination zurückzugreifen, da hier schon die öffentliche Meinung dafür sorgt, dass alle dasselbe Denken. 78
Macht und Krieg
Ein solcher totaler Krieg ist ein Krieg einer ganzen Nation gegen eine ganze Nation, für den nichts und niemand heilig ist und bei dem nur eines zählt: Der eigene Sieg und die endgültige Niederlage, wenn nicht sogar die totale Zerstörung oder zumindest Neutralisierung des Gegners, so dass er sich nicht mehr erheben und einen Revanchekrieg führen kann.79 Der totale Krieg ist im 20. Jahrhundert mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu einem Faktum geworden. Hier stehen sich nicht mehr, wie in den dynastischen Kriegen, zwei Herrscher oder Herrscherfamilien gegenüber, und es handelt sich auch nicht mehr nur um einen Krieg zwischen zwei Staaten. Wir haben es vielmehr mit einem Krieg zwischen zwei Nationen zu tun. Solange der Krieg ein rein zwischenstaatlicher bleibt, so Carl Schmitt, „muss er eben alles übrige Nicht-Staatliche – insbesondere Wirtschaft und Handel und den ganzen Bereich der bürgerlichen Gesellschaft – unberührt lassen“ (Schmitt 1988, 176).80 Wo aber Wirtschaft, Handel und bürgerliche Gesellschaft von der einen Partei zu Kriegszwecken mobilisiert werden, wird die andere Partei sie auch als legitime Angriffsziele betrachten. Bertrand de Jouvenel geht es in seinem Buch Du pouvoir darum, die Genese dieses Faktums der Totalisierung des Krieges nachzuzeichnen. Und ein zentrales Element ist dabei die Vergrößerung der staatlichen Macht. Der totale Krieg ist die Konsequenz der Absolutisierung der staatlichen Macht bzw. hat diese Absolutisierung den totalen Krieg möglich gemacht: „Je größer die Zuständigkeiten der Macht, umso größer auch die materiellen Mittel für den Krieg […]“ (Du pouvoir, 37), wobei dann aber auch umgekehrt das Faktum der Totalisierung des Krieges zu einem Argument der weiteren Absolutisierung der staatlichen Macht wird. Nur eine absolute Macht kann eine ganze Gesellschaft für den Krieg mobilisieren, und je mehr diese Gesellschaft für den Krieg mobilisiert werden muss, umso mehr muss die Macht auch vergrößert werden. In Quelle Europe?, dem ersten der zwei Bände von Raisons de craindre, raisons d’espérer, zeichnet de Jouvenel ein relativ düsteres Bild der Zukunft: Wir sind in eine katastrophale Spirale engagiert und es wird einer fast übermenschlichen Weisheit bedürfen, um Nietzsche und Spengler Lügen zu strafen, damit das XX. Jahrhundert nicht „das klassische Zeitalter des Krieges“ wird (Quelle Europe?, 244)
De Jouvenel verurteilt die von den Verbündeten praktizierte systematische Bombardierung deutscher Städte (Les passions en marche, 104). Diese Bombardierungen wurden im Namen des Sieges über ein unmenschliches Regime gerechtfertigt bzw. wurden als notwendig dargestellt, um dem unmenschlichen Naziregime ein Ende zu setzen. Hierzu bemerkt de Jouvenel, dass ein im Namen der Moral und Menschlichkeit geführter Krieg oft zu den schlimmsten Gräueltaten führt (Les passions en marche, 105–106). Auf diesem Punkt begegnet sein Denken demjenigen Carl Schmitts, wenn dieser schreibt: „Wenn das Wort ‚Menschheit‘ fällt, entsichern die Eliten ihre Bomben und sehen sich die Massen nach bombensicherem Unterstand um“ (Schmitt 1991, 283). 80 Bei Schmitt spielt natürlich noch eine ganz andere Frage eine Rolle, nämlich die Anwendung strafrechtlicher, wenn nicht sogar moralischer oder theologischer Kategorien – und der Schuldbegriff gehört zu den drei Sphären – auf den Krieg. 79
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Aus einem Mittel, Probleme zu lösen, ist der Krieg zu etwas geworden, das mehr Probleme schafft als es deren löst. Und anstatt den Weg der paix perpétuelle des Abbé de Saint-Pierre oder des ewigen Friedens Kants eingeschlagen zu haben, scheint die Menschheit sich eher auf dem Weg in den Hobbesschen Kriegszustand zu befinden. Die Mitte und Ende der 40er Jahre erschienenen Schriften de Jouvenels sagen uns weder, wie wir uns der Rückkehr der Barbarei im Kriege, noch, ganz konkret, wie wir uns der sich stets vergrößernden Macht widersetzen können. De Jouvenel ist ein Analytiker und Historiker, der zwar Zeiten in Erinnerung ruft, in denen der Krieg noch gehegt und die staatliche Macht noch begrenzt war, der aber keine konkreten Andeutungen macht, wie man wieder den Weg zu ähnlichen Zeiten zurückfinden kann. Der Hinweis, dass es einer „fast übermenschlichen Weisheit“ (Hervorhebung N. C.) bedarf, mag uns zwar etwas Hoffnung geben81, da sie zumindest noch die Möglichkeit offen lässt, dass wir mit unserer bloß menschlichen Weisheit der katastrophalen Spirale ein Ende bereiten oder unseren Weg auf ihr wenigstens bremsen können, aber es lässt uns doch in der Ungewissheit darüber, worin, für de Jouvenel, die Lösungen einer noch menschlichen Weisheit bestehen.82 Dass man die kriegerischen durch friedliche Tugenden ersetzen soll (Les passions en marche, 29) und dass man auch „den Leidenschaften Schweigen aufzwingen“ soll (Les passions en marche, 33) klingt sicherlich ganz plausibel, aber um hierauf zu kommen genügt eigentlich schon eine ganz banale und triviale Weisheit. Was eine „fast übermenschliche Weisheit“ verlangt ist die Frage, wie man die Menschen zu Wesen machen kann, die ihre kriegerischen zu Gunsten friedlicher Tugenden ablegen. Constant und einige andere Optimisten dachten, dass mit der modernen, auf dem Handel und der Wirtschaft aufgebauten Gesellschaft, die ökonomischen die militärischen Kriege ersetzen würden und dass mit dem wachsenden Wohlstand immer mehr Menschen den Krieg verabscheuen würden. Spätestens 1914 verwandelte ich diese Hoffnung in eine Illusion. 2.
Macht und Gehorsam
Spätestens ab den 40er Jahren wird die Frage des Staates und der sich ausbreitenden staatlichen Macht zu einem zentralen Thema des Jouvenelschen Denkens. Du pouvoir ist dabei das erste Werk, in welchem er sich eingehend und vor allem kritisch mit dieser Frage befasst.83 In den folgenden drei Jahrzehnten verfasst er De la souveraineté (1955), In Quelle Europe? ruft er dazu auf, die Hoffnung nicht aufzugeben, die Kriege abzuschaffen (Quelle Europe?, 84). 82 Dabei ist zu fragen, ob und inwiefern die Weisheit sich in der Politik behaupten kann. Den platonischen Dialog Alcibiades kommentierend, meint de Jouvenel, er lehre uns eine unendlich traurige Lektion, „nämlich dass das politische Handeln nicht sehr sensibel für die Lehren der Weisheit ist“ (De la politique pure, 38). 83 In L’Economie dirigée hatte de Jouvenel schon die Frage des Staates gestellt, aber er tat es vor dem Hintergrund eines schwachen Staates, den es zu regenerieren galt. In Du pouvoir ist nicht mehr so sehr die 81
Macht und Gehorsam
The Pure Theory of Politics (1963), Du principat et autres réflexions politiques (1972) und Les origines de l’Etat moderne (1976). Doch auch andere Schriften, wie etwa seine kritische, durch den ‚Essai sur la politique de Rousseau‘ begleitete Ausgabe von Rousseaus Contrat social (1947), das sich mit England befassende Buch Problèmes de l’Angleterre socialiste (1947) oder die aus Vorlesungen hervorgegangene Ethics of Restribution (1951) behandeln, direkt oder indirekt, die Frage der Macht und ihrer Vergrößerung. Doch wie misst man eigentliche die Größe oder Ausdehnung der Macht? Eine Macht, so de Jouvenel, ist umso ausgedehnter, je vollständiger sie die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder leiten und je mehr sie die von ihr vorgefundenen Ressourcen ausnutzen kann (Du pouvoir, 44). Die Ausnutzung der natürlichen Ressourcen ist zu einem großen Teil ein technisches Problem. Wie er es in seinem Buch La civilisation de puissance zeigt, hat die westliche Zivilisation in dieser Hinsicht im 18. Jahrhundert einen wahren Quantensprung erlebt. Dank den Experimenten Watts ist es möglich geworden, die Dampfkraft ausnutzen und dadurch ins maschinelle Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten überzugehen (La civilisation de puissance, xi). Der Explosionsmotor und die Nutzung der durch die Kernspaltung produzierten Energie sind lediglich weitere Etappen auf diesem Weg und gehorchen grundsätzlich derselben Logik, die ihren letzten Ursprung, glaubt man de Jouvenel, in der menschlichen Natur hat. Der Mensch ist ein nach Macht über seine natürliche Umwelt strebendes Wesen und als solches sucht er nach den Mitteln, diese Macht zu vergrößern. Die wissenschaftliche Forschung und die aus ihr hervor gehende Technik sind solche Mittel, und staatliche Investitionen in die Forschung und Entwicklung der Technik sind, wenn man es so sagen kann, ein Metamittel. Allerdings hatte schon Francis Bacon behauptet dass, wer die Natur nutzen wolle, ihr zu gehorchen habe. Die Menschen können sich nicht gegen die Naturgesetze durchsetzen, sondern sie müssen lernen, diese Naturgesetze zu ihren Zwecken nutzbar zu machen. Wo der Mensch die Naturgesetze und seine Position innerhalb der Natur ignoriert, wird er scheitern und zu Grunde gehen. Der späte Bertrand de Jouvenel wird nicht müde, auf diesen Punkt hinzuweisen und die Machtzivilisation darauf aufmerksam zu machen, dass sie, wenn sie nicht schonend mit den begrenzten Ressourcen umgeht, sich selbst zerstören wird. Was uns im Folgenden interessieren soll ist aber nicht die Ausnutzung der natürlichen Ressourcen und die Nutzung der Natur für menschliche Zwecke. Wichtiger ist hier die Nutzung der menschlichen Kräfte. Insofern der Mensch ein freies Wesen ist, das sich mittels seines Willens zum Handeln bestimmen kann, stellt sich die Frage, wie es dem Staat gelingen kann, den Willen der Individuen derart zu bestimmen, dass Schwäche des Staates das Problem, als dessen Macht. Diese veränderte Problemlage hängt u. a. damit zusammen, dass es de Jouvenel 1928 darum ging, konkrete politische Lösungen zu geben, wohingegen es ihm in Du pouvoir darum geht, die Macht als Idee zu erfassen, die sich in der Sinnenwelt manifestiert. Die politische Gelegenheitsschrift hat einem metaphysischen Traktat Platz gemacht.
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das Individuum das tut, was der Staat von ihm verlangt. Im Mittelpunkt steht also die Frage des Gehorsams. Insofern der Gehorsam ein tagtägliches Phänomen ist, erscheint er uns als etwas Normales. Er ist ein Teil unserer Lebenswelt und wird kaum hinterfragt; „Die erstaunlichsten Fakten strengen unsere Vernunft nicht an, vorausgesetzt, sie ereignen sich täglich“ (Du pouvoir, 46). Das erklärt wahrscheinlich, so de Jouvenel weiter, „dass man so wenig über den wunderhaften Charakter des Gehorsams der großen menschlichen Ensembles nachgedacht hat, tausende oder Millionen Menschen, die sich den Regeln oder Befehlen einiger beugen“ (Du pouvoir, 46). Wo es Eltern manchmal nicht gelingt, ihr junges Kind abends ins Bett zu schicken, gelingt es einem Staatschef, Millionen Menschen in den Krieg zu schicken. De la politique pure ist ganz diesem wunderhaften Ereignis gewidmet, das wir in unserer Lebenswelt als etwas ganz Selbstverständliches ansehen. In diesem Buch befasst de Jouvenel sich nämlich eingehend mit dem elementarsten politischen Phänomen, nämlich der In-Bewegung-Setzung des Menschen durch den Menschen (De la politique pure, 12). Jeden Tag setzen Menschen andere Menschen in Bewegung, sei es durch schriftliche oder mündliche Anweisungen oder Befehle. Eltern sagen ihren Kindern, sie sollen ins Bett gehen, Lehrer sagen ihren Schülern, sie sollen eine Aufgabe schreiben, Polizisten sagen Autofahrern, sie sollen an einer Unfallstelle langsamer fahren, Politiker sagen Bürgern, sie sollen ein Rauchmeldegerät in ihrem Haus installieren, usw. In den allermeisten, wenn auch nicht in allen, Fällen folgen die Adressaten diesen Anweisungen, und zwar ohne dass der Anweisungsgeber auf Zwang zurückgreifen muss, ja sogar ohne dass er ausdrücklich mit Zwangsausübung drohen muss – wiewohl das Recht, auf Zwang zurückzugreifen, in den meisten Fällen gegeben ist. Für Bertrand de Jouvenel durchziehen politische Beziehungen unser Alltagsleben und sind diesem sozusagen konsubstantiell. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das immer in Beziehung zu seinesgleichen steht und sich auch immer in faktischen Abhängigkeitsverhältnissen befindet (De la politique pure, 103). Den Theoretikern des Gesellschaftsvertrags wirft er vor, ihre eigene Kindheit vergessen zu haben und meint – was aber zumindest auf Rousseau nicht zutrifft84 –, dass es sich bei ihnen um Männer handelte, die keine Kinder hatten (De la politique pure, 74). Der Mensch, so de Jouvenel in Anspielung an Rousseau und die französischen Revolutionäre, „wird nicht frei geboren, sondern abhängig“ (De la politique pure, 75), und das Kind ist das Sinnbild dieser im Wesen des Menschen verankerten faktischen Abhängigkeit. Der klassische politische Liberalismus ist also von einem Menschenbild ausgegangen, das nicht mit den Fakten übereinstimmt, und weit davon entfernt, etwas zu sein, das uns sozusagen mit in die Wiege gelegt wird, ist die Freiheit etwas, das wir erwerben müssen.
Allerdings ist gewusst, dass Rousseau seine Kinder in die assistance publique schickte. Biologisch war er Vater, aber seine soziale Vaterrolle nahm er nicht wahr. 84
Macht und Gehorsam
Soziale Beziehungen sind ihrem Wesen nach politische Beziehungen, und ein Elternteil, der das Kind dazu bringt, ins Bett zu gehen, handelt in diesem Sinne nicht weniger politisch als ein Staatsmann, der sein Volk dazu bringt, dem Heer beizutreten, um das Nachbarland zu erobern. Politische Beziehungen im engen Sinn des Wortes, also jene Beziehungen, die das Politische oder die Politik ausmachen, sind lediglich ein Auswuchs jener, wie man sagen könnte, mikropolitischen Beziehungen, ohne die eine menschliche Gesellschaft undenkbar wäre (De la politique pure, 126).85 Die praktische Kunst des Politikers, so de Jouvenel, besteht darin, sich anderer Menschen zu bedienen, um dadurch seine eigenen Zwecke zu erreichen (De la politique pure, 26). Und die politische Anstrengung ist eine „systematische Anstrengung, die an irgendwelchem Punkt des sozialen Feldes appliziert wird, um andere Menschen zur Verfolgung irgendeines von seinem Autor lieb gehaltenen Zwecks mitzuziehen“ (De la politique pure, 54–5). Wir haben also eine Person A, die ein bestimmtes Ziel verfolgt, das sie aber nicht selbst erreichen kann, so dass sie auf die Mithilfe anderer Menschen angewiesen ist.86 Wir gehen davon aus, dass diese anderen Menschen nicht schon von sich aus so handeln, dass das Ziel von A erreicht werden kann. Sie verfolgen vielmehr andere Ziele, von deren Verfolgung sie aber zum Teil abgebracht werden müssen, so dass zumindest ein Teil ihres Handelns auf die Erreichung des von A gewollten Ziels gerichtet ist. Die Frage ist dann, wie A es schaffen kann, diese andere Menschen in Bewegung zu setzen bzw. die Bewegung dieser anderen Menschen in jene Richtung zu lenken, die der Erreichung seiner Ziele förderlich ist. Wenn A es schafft, dann kann von ihm behauptet werden, dass er Macht über diese anderen Menschen hat und dass diese anderen Menschen ihm gehorchen.87 Insofern die Menschen sich durch innere, rationale und weniger oder gar irrationale Faktoren – Gründe, Begierden, Leidenschaften, Gefühle, … – zum Handeln bestimmen, ist eine Kenntnis der menschlichen Psychologie für denjenigen wichtig, der Macht über seinesgleichen ausüben will (De la politique pure, 26). Nur wer im konkreten Fall den jeweils richtigen psychologischen Hebel ansetzt – und dieser kann von einer Person zur anderen variieren –, wird die Menschen dazu bringen, zu freiwilligen Instrumenten seiner Ziele zu werden, so dass de Jouvenel schreiben kann: „Der Appell an die menschlichen Affekte und, man muss es sagen, ihre Ausnutzung, ist charakteristisch für die Politik“ (De la politique pure, 85). Der – im außermoralischen Sinn – gute Im Französischen kann man „la politique“ mit einem kleinen, und „la Politique“ mit einem großen Anfangsbuchstaben unterscheiden. Die These de Jouvenels lautet, dass es zwischen beiden höchstens nur einen quantitativen, nicht aber auch einen qualitativen Unterschied gibt. 86 Das gilt auch für den Fall der Eltern, die ihr Kind ins Bett schicken. Die Eltern wollen einen bestimmten Zustand der Wirklichkeit herbeiführen, nämlich den Zustand, in dem ihr Kind im Bett liegt. Diesen Zustand können sie aber nur dadurch herbeiführen, dass sie das Kind dazu kriegen, ins Bett zu gehen. 87 Streng genommen müsste man hier zwischen potentieller und aktueller Macht unterscheiden. Manche Menschen besitzen die Fähigkeit, andere Menschen in Bewegung zu setzen. Diese Fähigkeit stellt eine bloß potentielle Macht dar. Aktuell wird dieser Macht, wenn sie ihre Fähigkeit anwenden und andere Menschen tatsächlich in Bewegung setzen. 85
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Politiker ist derjenige, dem es gelingt, große Massen in Bewegung zu setzen, so dass die die Masse bildenden Individuen nicht mehr ihre je eigenen und äußerst disparaten Ziele verfolgen, sondern das ihnen vom Politiker vorgesetzte Ziel, welches auch immer dieses Ziel sein mag. Der in diesem Sinne gute Politiker ist also derjenige, der viel Macht besitzt, und diese Macht beruht auf nichts anderem als dem freiwilligen Gehorsam. Hier gilt also einerseits das Prinzip, dass Wissen Macht ist – wer weiß, welche Affekte er ansprechen muss, um die Masse dazu zu bringen, zu seinem Instrument zu werden, wird Macht über die diese Masse bildenden Individuen besitzen – und andererseits das Prinzip, dass Gehorsam Macht voraussetzt – wem, ceteris paribus, mehr Menschen gehorchen, hat auch mehr Macht.88 In diesem Kontext macht de Jouvenel auch einen Unterschied zwischen der Politik im engeren Sinn und der Ökonomie, die zwar beide mit Appellen funktionieren, sich aber in einer wichtigen Hinsicht voneinander unterscheiden. Während erstere an die menschlichen Affekte appelliert, richtet sich die zweite an die menschlichen Begierden (De la politique pure, 85). Ökonomische Beziehungen beruhen auf dem Tausch von Äquivalenten (De la politique pure, 111). Der Bäcker hat das Brot, und der Kunde hat das Geld; der Bäcker will das Geld des Kunden, und der Kunde will das Brot des Bäckers. Der Kunde wird dem Bäcker das Geld nur dann geben, wenn der Bäcker ihm das Brot gibt, und der Bäcker wird dem Kunden das Brot nur dann geben, wenn der Kunde ihm das Geld gibt.89 In De la politique pure führt de Jouvenel eine lange Passage aus Platons Dialog Alcibiades an. Dort sagt Alcibiades, dass der Politiker nicht daran vorbei kommt, sich auf die Meinungen über das Gute seiner Landsleute zu beziehen (De la politique pure, 49). Oder anders ausgedrückt: Der Politiker muss das von ihm verfolgte Ziel als ein solches erscheinen lassen, das mit den Meinungen über das Gute seiner Landsleute übereinstimmt. Sie müssen den Eindruck gewinnen, dass ihr Gehorsam ihnen, wie man sagt, auch etwas bringen wird. De Jouvenel glaubt allerdings, dass wir es hier eher mit einer freien Gabe als mit einem Tausch im engen ökonomischen Sinn des Wortes zu tun haben, und er vergleicht die Situation mit derjenigen zwischen Eltern und Kindern: Die Kinder bekommen, ohne zu geben, und die Eltern geben, ohne zu bekommen (De la politique pure, 79). Die Erwartungshaltung des Kindes bleibt beim Erwachsenen bestehen: Wie wesentlich auch der Unterschied zwischen der überlegenen Macht der Eltern […] und der überlegenen Macht des Regierenden […] sein mag, hat der Begriff einer aufmerksamen, sensiblen und hilfsbereiten überlegenen Macht die Tendenz, vom einen zum anderen überzugehen (De la politique pure, 81)
Das ceteris paribus soll daran erinnern, dass auch materielle Ressourcen das Ausmaß der Macht bestimmen. 89 Wobei jeder entscheidet, wie viel er haben will und von welcher Qualität es sein muss. 88
Macht und Gehorsam
Das Volk bekommt Aufmerksamkeit und Hilfe von den Regierenden, die ihrerseits, sozusagen als Gegenleistung, Gehorsam erwarten. Und je mehr Hilfe die Menschen brauchen, umso mehr werden diese Menschen bereit sein, derjenigen Macht zu gehorchen, die ihnen diese Hilfe verspricht. Und dies umso mehr, als es dieser Macht gelingt, die Leidenschaften der Menschen für sich und ihre Ziele zu mobilisieren. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen der Ökonomie und der Politik: Der Käufer gibt dem Bäcker das Geld, weil er muss, der Regierte gehorcht dem Regierenden, weil er will.90 Die politische Macht kann demnach als eine Macht über die Leidenschaften der Menschen gesehen werden, eine Macht, die sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um ihre Zwecke zu verwirklichen. Dies lässt de Jouvenel sagen, die Politik sei einerseits die ernsteste Sache, andererseits aber die Sache, wo wir Menschen am kindischsten sind (De la politique pure, 86). Er unterscheidet auch zwischen zwei Kategorien von Menschen, nämlich zwischen denjenigen, die Lust an der Machtausübung empfinden und demnach ohne Skrupel handeln, somit den Ernst der Sache vernachlässigend und von der kindischen Einstellung der ihnen Gehorchenden profitierend, und denjenigen, die sich vor dem Gebrauch der politischen Macht ängstigen, weil sie Angst haben, sie falsch zu gebrauchen (De la politique pure, 28). Die Menschen der zweiten Kategorie sind das Ideal, die der ersten Kategorie die Wirklichkeit. Gegen Ende von De la politique pure bezeichnet de Jouvenel die Leidenschaften als „die wesentlichen Vorgaben der Politik“ (De la politique pure, 288). Insofern die Menschen ganz oft ihren Leidenschaften gehorchen und dabei nicht den Eindruck haben, unfrei zu sein, ist die Kontrolle über diese Leidenschaften das wesentliche Ziel des Politikers. Je mehr die Menschen ihren Leidenschaften unterworfen sind und diese Unterworfenheit nicht als Unfreiheit empfinden, umso gefährlicher ist der Politiker, der diese Leidenschaften anspricht und sich ihrer bedient. Die Welt der Ökonomie ist eine Welt der Begierden und der kalkulierenden Vernunft, die Welt der Politik ist eine Welt, in welcher skrupellose Politiker dazu tendieren, sich der Leidenschaften der Menschen zu bedienen. Dabei stellt Bertrand de Jouvenel fest, dass der sozialisierte Mensch von Natur aus zum Gehorsam neigt, und diese Neigung ist a priori nicht zu verurteilen (De la politique pure, 113). Der im engeren Sinn des Wortes politische Gehorsam erscheint sogar edler im Vergleich mit dem, was in den ökonomischen Beziehungen geschieht (De la politique pure, 112). Wer einem anderen hilft, bloß weil dieser ihn fragt und ohne an einen Lohn zu denken, hat ein edleres Handlungsmotiv als derjenige, der eine Gegen-
Marcel Reding hat in dieser Hinsicht nicht ganz recht, wenn er schreibt, de Jouvenel sehe den Unterschied zwischen „politischem und wirtschaftlichem Appell in der Dunkelheit und Undurchsichtigkeit des politischen Appells einerseits, in der Klarheit und Durchsichtigkeit des wirtschaftlichen Appells andererseits. Leistung und Gegenleistung seien im Wirtschaftlichen durchsichtig, im Politischen nicht“ (Reding 1972, 190). 90
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leistung erwartet. „Frag nicht, was Dein Vaterland für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Vaterland tun kannst“, hatte der amerikanische Präsident John F. Kennedy gemeint. Wenn das Vaterland ruft, dann sollte man dem Appell folgen, ohne sich zu fragen, was man für diesen konkreten Hilfsakt als Gegenleistung bekommt. Der patriotische Soldat steht allgemein in höherer Ehre als der Söldner der nur solange kämpft, wie er dafür bezahlt wird. De Jouvenel teilt die eben erwähnte allgemeine Einschätzung, findet aber, dass die Politik deshalb trostlos ist, weil sie „so oft ein Missbrauch einer lobenswerten Hilfsbereitschaft ist“ (De la politique pure, 112). Insofern warnt er auch vor der Figur des „instigateur“, also desjenigen, der versucht, einen anderen Menschen in Bewegung zu setzen. Versucht er, viele Menschen zu unterschiedlichen Handlungen zu bewegen, so wird er zu einem „opérateur“. Und er wird zum „entrepreneur“, wenn er eine große Gefolgschaft hat, die ihm gehorcht (De la politique pure, 29). Die Warnung vor dem „instigateur“ ist nichts anderes als eine Warnung vor dem Politischen.91 Dieses Politische ist aber unser menschliches Schicksal, und da wir uns keine Gesellschaft vorstellen können, in welcher die Menschen keine Appelle aneinander richten, müssen wir uns davor hüten, jedem Appell einfach blind zu folgen. Im Kontext eines Kommentars bestimmter Stellen aus Shakespeares historischpolitischen Tragödien, zeigt de Jouvenel, dass die menschliche Macht – im Gegensatz zur göttlichen – kein den Individuen inhärentes und unverlierbares Attribut ist (De la politique pure, 128). Die drei eben genannten Figuren – instigateur, opérateur und entrepreneur – haben erst dann und nur solange Macht, wie ihnen tatsächlich gehorcht wird. Wenn jemand befiehlt, und keiner gehorcht, dann ist die soziale Macht des Befehlenden gleich Null. In einer kurzen Passage von De la politique pure gibt de Jouvenel seine bis dahin eingenommene Rolle des aus einer wertfreien Perspektive beobachtenden Analytikers auf, um dem Leser seine „affektive Haltung“ bekannt zu geben. Er habe, so schreibt er, ein großes Misstrauen gegenüber jenen Menschen, denen es tatsächlich gelingt, andere in Bewegung zu setzen. Dabei leugnet er keineswegs, dass es solcher Menschen bedarf. Ohne solche Persönlichkeiten ließe sich nichts Großes vollbringen, sei das auf dem Gebiet der Politik, des Sozialen, der Ökonomie, der Kunst, der Wissenschaft, usw. Große Projekte gelingen nur dann, wenn diejenigen, die diese Projekte ausgedacht haben, Menschen dazu bewegen können, diese Projekte mit ihnen zu verwirklichen. Eines sollten die gehorchenden Menschen allerdings dabei nicht vergessen – und hier vermischen sich sozusagen die Stimmen des Analytikers (der feststellt) und des Ethikers (der seine Mitmenschen an etwas Wichtiges erinnern will) –, nämlich dass die Macht die eine solche Persönlichkeit besitzt, „nur aus den Kräften besteht, die sie ihr In Du principat heißt es diesbezüglich: „Aus meiner Sicht ist die Aktivität die die Form der Operation oder des politischen Unternehmens (entreprise) annimmt, ein natürliches, wildes und schrecklich gefährliches Phänomen“ (Du principat, 93). 91
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leihen und die sie ihr verweigern könnten“ (De la politique pure, 113). Die Macht ist also nicht unabhängig vom Gehorsam, sondern sie hängt ganz von ihm ab. Es ist nicht die Größe der Macht, die die Größe des Gehorsams bestimmt, sondern die Dinge liegen umgekehrt: Je mehr Menschen einem anderen gehorchen, umso größer ist dessen Macht. Wer die Macht mindern will, muss dementsprechend den Gehorsam mindern. Aber da der Gehorsam eines jeden freiwillig gegeben wird, liegt es sozusagen in der Macht eines jeden, der Macht eines Menschen über seinesgleichen ein Ende zu setzen oder sie zu mindern. Doch wie de Jouvenel schreibt, sind die Menschen sich selten der Tatsache bewusst, dass sie prinzipiell immer den Gehorsam verweigern können (De la politique pure, 131). Ohne auf ihn und sein bekanntes Werk einzugehen, knüpft Bertrand de Jouvenel hier an Etienne de la Boétie an, der große Freund Montaignes, der mit seinem Contr’Un, besser bekannt unter dem Titel De la servitude volontaire – Von der freiwilligen Knechtschaft – einen der wichtigsten antiabsolutistischen Traktate aller Zeiten verfasst hat.92 Wie de Jouvenel, stellt sich auch La Boétie die Frage nach dem Ursprung der Macht. Und wie de Jouvenel stellt auch La Boétie fest, dass die Macht eine Funktion des Gehorsams ist: Derjenige der so über euch herrscht, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Körper, und hat nichts anderes, als was der geringste Mensch der großen und endlichen Anzahl unserer Städte hat, mit Ausnahme des Vorteils den ihr ihm gewährt, euch zu zerstören. Woher hat er so viele Augen genommen, mit denen er euch überwacht, wenn ihr ihm sie nicht gegeben habt? Wie hat er so viele Hände, mit denen er euch schlägt, wenn er sie nicht von euch nimmt? Die Füße, mit denen er eure Städte zerstampft, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgendeine Macht über euch, wenn nicht durch euch? (La Boétie 1983, 138)
Der physische Körper des Herrschenden unterscheidet sich in keiner wesentlichen Hinsicht vom physischen Körper seiner Untertanen. Und der politische Körper, über den er verfügt und den er in Gang setzt, ist nicht sein Körper, sondern setzt sich zusammen aus den Körpern der Untertanen – wie es mit aller Deutlichkeit auf dem berühmten Titelbild des Leviathan zum Ausdruck kommt. Der Herrscher kann die Untertanen überwachen, weil Untertanen für ihn überwachen, er kann seine Untertanen festnehmen und bestrafen, weil Untertanen für ihn festnehmen und bestrafen. Unter diesen Umständen erübrigt sich für La Boétie die zu seiner Zeit wieder aktuell werdende Frage des Tyrannenmordes oder des Widerstandes gegen den Herrscher. Ist man sich der Tatsache bewusst, dass die Macht von unserem Gehorsam abhängt, dann Glaubt man Montaigne, hatte der 1530 geborene La Boétie um die 17 Jahre, als er eine erste Fassung des Textes schrieb. Nach dem Tod seines Freundes verzichtete Montaigne auf eine eigenständige Publikation des Textes, was aber nicht verhinderte, dass er auszugsweise publiziert wurde und auch eine große Resonanz bei den Protestanten fand. 92
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sieht man sogleich ein, dass die Gehorsamsverweigerung genügt, um den Herrscher machtlos zu machen. Vernichtet man die Macht durch die Gehorsamsverweigerung, dann braucht man den Herrscher nicht mehr zu vernichten. La Boétie muss aber feststellen, dass viele Menschen ihrem Herrscher auch dann gehorchen, wenn dieser tyrannisch regiert und das Gemeinwesen ins Elend stößt. Unter diesen Umständen genügt es nicht, den Menschen die Augen zu öffnen, indem man ihnen zeigt, dass der Herrscher ohne ihren Gehorsam machtlos ist, sondern man muss auch genau untersuchen, was die Menschen dazu bringt, zu gehorchen, obwohl niemand sie wirklich dazu zwingt und, vor allem, obwohl dieser Gehorsam ihnen weit mehr schadet als nützt. Drei Ursachen werden von La Boétie angeführt (La Boétie 1983, 150). Zuerst erwähnt er die Gewohnheit: Wer von Jugend an gelehrt wird zu gehorchen, wird den Gehorsam normal finden. Wenn auch mit einigen Nuancen, ist dies eine Ursache, die wir auch bei de Jouvenel gefunden haben. Die zweite Ursache hängt mit der ersten zusammen: Wer lange unter einem Tyrannen lebt, wird einen unterwürfigen Charakter entwickeln, wobei der Tyrann auch alles daran setzen wird, um die Untertanen davon abzuhalten, Enthusiasmus und Charakterstärke zu entwickeln: „Denn das ist ganz gewiss, dass der Tyrann nie glaubt, dass seine Macht gesichert ist, es sei denn, es befinde sich unter seinen Untertanen kein Mensch mehr, der etwas taugt […]“ (La Boétie 1983, 154). Schließlich kommt noch eine dritte Ursache hinzu, und sie ist für La Boétie der eigentliche Schlüssel zum Rätsel des Gehorsams: „[E]s finden sich schließlich ebenso viele Menschen, denen die Tyrannei vorteilhaft ist, als solche, denen die Freiheit angenehm ist“ (La Boétie 1983, 163). Der Tyrann hat eine Handvoll Menschen um sich, die er, als Gegenleistung zu ihrer Unterstützung, mit Reichtümern überschüttet; jeder dieser Menschen hat wiederum Menschen unter sich, denen auch er, als Gegenleistung für ihre Unterstützung, Vorteile verschafft; und von diesen Menschen gilt wiederum dasselbe. Folgt man dieser Kette bis zu ihrem Ende, so wird man feststellen, dass eine sehr große Zahl von Menschen ihren Wohlstand – direkt für einige wenige, indirekt für die große Masse – dem Tyrannen verdanken, so dass sie kein Interesse daran haben, ihn zu stürzen. Die Macht des Staates hängt von unserem Gehorsam ab, und unser Gehorsam dem Staat gegenüber hängt von den Vorteilen ab, die der Staat uns bringt. Genau dies ist auch die Diagnose, die Bertrand de Jouvenel in Du pouvoir aufstellt, und auf die wir im nächsten Teil dieses Kapitels eingehen werden. 3.
Staat, Wohl der Untertanen und Macht
Wie entsteht ein Staat? Die Theoretiker des Staatsvertrags haben diese Entstehung auf einen Vertrag eines jeden mit einem jeden zurückgeführt, wobei sie den Staatsvertrag aber eher als ein theoretisches Modell zur Erklärung der Legitimität des Staates, denn
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als historisches Faktum verstanden haben.93 Wie auch immer die Staaten entstanden sind, so sollte man so tun, als ob sie aus einem freien Vertrag zwischen allen Untertanen entstanden sind, so dass die Legitimität der politischen Macht letzten Endes auf dem freien Willen der Untertanen beruhend angesehen werden konnte. Wenn die Menschen dem Staat unterworfen sind, dann ist es, weil sie es selbst so gewollt haben. Das politisch-theologische „Non est potestas nisi a Deo“ sollte im Zeitalter der Detheologisierung der politischen Macht durch das demokratische „Non est potestas nisi a populo“ ersetzt werden, wobei man entweder, wie Locke, den populus schon als organisierte Gesellschaft auffassen konnte, oder aber, wie Hobbes, in ihm lediglich eine noch ungeordnete Masse von Individuen sehen konnte, die erst durch die Unterwerfung der Individuen unter einen Souverän zu einer Gesellschaft werden. Bertrand de Jouvenel lehnt die Staatsvertragstheorien als unrealistisch ab (De la souveraineté, 93). Es ist nicht davon auszugehen, dass die individuellen Willen sich von sich aus dazu entschieden haben, einen Staat zu gründen, sondern es bedurfte vielmehr eines „instigateur“, einer Person, die die Initiative der Staatsgründung ergriff und die anderen dann dazu brachte, sich dieser Initiative freiwillig anzuschließen, also das zu tun, was sie wollte. Er verwirft auch Theorien die behaupten, dass die Eroberung zur Gründung der ersten politischen Gemeinschaften geführt hat, denn, so sein Argument, die Eroberung setzt immer schon eine organisierte politische Gemeinschaft voraus, die erobert (De la souveraineté, 94). In Du pouvoir hatte er allerdings behauptet, dass die Eroberung die Entstehung großer politischer Gemeinschaften erklären kann (Du pouvoir, 174). Am Anfang war eine kleine Gruppe von Eroberern, und dieser Gruppe ist es dann gelungen, andere, kleinere oder schwächere Gruppen zu unterwerfen. Es war demnach nicht eine schon bestehende Nation, die sich einen Herrscher gegeben hat, sondern es war vielmehr ein Herrscher, der die Nation hat entstehen lassen. Der Befehl des Herrschers kommt vor dem nationalen Bewusstsein der Untertanen, und nicht umgekehrt (Du pouvoir, 174). Doch wie kann eine kleine herrschende Gruppe ihre Macht über eine immer größer werdende Masse von Untertanen bewahren? De Jouvenel denkt hier wie La Boétie: „Die elementarste Vorsicht verpflichtet diejenigen, die herrschen, sich durch Mitarbeiter zu stärken, die sie unter den Untertanen rekrutieren“ (Du pouvoir, 181). Das geht allerdings nur, wenn diesen Mitarbeitern bestimmte Vorteile versprochen werden. Auf diese Weise festigt sich die Macht der Herrscher mit der Zahl derjenigen, die einen Vorteil aus der Beherrschung ziehen. Auch wenn Hobbes keine verfassungsmäßigen Garantien gegen den Leviathan vorgesehen hatte, so rechnete er doch damit, dass der Herrscher – oder die Herrschenden, denn für Hobbes gibt es nicht nur die Monarchie als mögliche Staatsform – vorsichtig genug sein wird, seine Untertanen nicht in eine Lage zu versetzen, in denen ihr Man könnte hier natürlich den Mayflower-Vertrag als Beispiel für einen historisch real existierenden Gründungsvertrag ansehen. 93
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Leben demjenigen im Naturzustand ähnelt und in welcher es demnach wieder unter dem Damoklesschwert des gewaltsamen Todes steht. Kein Vertrag verpflichtet den Hobbesschen Souverän dazu, seine Untertanen zu schützen und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, damit sie ein friedliches und glückliches Leben führen können, und vor allem ein Leben, in welchem sie Reichtum produzieren. Ein rational denkender Souverän braucht aber keinen solchen Vertrag, denn seine Vernunft94 allein genügt schon, um ihm zu sagen, dass sein eigenes Wohl von demjenigen seiner Untertanen abhängt. Er wird sich also von sich aus schon in den Dienst seiner Untertanen stellen bzw. nichts tun, was seine Untertanen daran hindert, sich zu bereichern. Bei Hobbes wird ein Souverän primär eingesetzt, um das Bedürfnis der Untertanen zu befriedigen, einem brutalen Tod und einem elenden Leben zu entkommen. Insofern de Jouvenel den Gedanken ablehnt, der Staat entstehe durch Vertrag, lehnt er auch diesen Hobbesschen Gedanken ab. Aber er denkt wie Hobbes, wenn es um die Fortdauer der Macht geht: Der Monarch wird keineswegs von der Gemeinschaft bestimmt, damit er die Bedürfnisse der Gemeinschaft befriedigt. Er ist ein beherrschendes parasitäres Element, das sich aus der herrschenden parasitären Vereinigung der Eroberer abgesetzt hat. Aber die Etablierung, die Konservierung und das Rendement seiner Autorität sind an ein Verhalten gebunden, in dem die größtmögliche Zahl der Untertanen ihren Vorteil findet (Du pouvoir, 185)
Eine Seite vorher hatte er geschrieben: „Er verfolgt immer nur seine eigene Macht: aber der Weg der Macht führt über die geleisteten Dienste“ (Du pouvoir, 184). Was Francis Bacon von dem Verhältnis des Menschen zur Natur gesagt hatte, lässt sich auch auf das Verhältnis des Herrschers zu den Untertanen anwenden und unter der Form eines Paradoxes formulieren: Der Herrscher wird umso mehr Herrscher, als er sich zum Diener seiner Untertanen macht. Genauso wie das Unterwerfen unter die Naturgesetze der Preis ist, den die Menschen zahlen müssen, wenn sie die Naturkräfte zu ihren Zwecken gebrauchen wollen, sind die Dienstleistungen der Preis, den der Herrscher zahlen muss, um den Gehorsam der Untertanen zu seinen eigenen Zwecken, also primär zum Zweck seiner Machtvergrößerung, zu bekommen. Den Menschen im Hobbesschen Naturzustand geht es in erster Linie darum, sich voreinander abzusichern, d. h. niemand soll mehr in der ständigen Gefahr leben, von jemand anderem umgebracht, seines Besitzes oder der Früchte seiner Arbeit beraubt zu werden. Dieses Ziel können sie nur dann erreichen, wenn sie eine Macht einrichten, die abschreckend genug ist, damit niemand sich mehr traut, seinen Nachbarn anzugreifen oder zu berauben. Und je größer diese Macht ist, umso abschreckender wird sie sein bzw. umso mehr Individuen oder Gruppen werden von ihr abgeschreckt Unter Vernunft bzw. reason versteht Hobbes die Fähigkeit zu kalkulieren. Und egoistischen Menschen dient das Kalkulieren zur Bestimmung dessen, was ihre Interessen langfristig am Besten fördern wird. 94
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werden. Doch auch hier gilt: Die Macht ist kein dem Souverän inhärentes Attribut, sondern hängt von seiner Fähigkeit ab, den Gehorsam seiner Untertanen zu gewinnen. In seinem Second Treatise on Civil Government hatte John Locke in einem berühmt gewordenen Vergleich auf die Unvernünftigkeit einer solchen Überlegung hingewiesen: This is to think that Men are so foolish that they take care to avoid what Mischiefs may be done them by Pole-cats, or Foxes, but are content, nay think it Safety, to be devoured by Lyons (Locke 1993, 328)
Schwächere Individuen suchen Schutz vor mächtigeren Individuen und sie suchen ihn bei einem noch mächtigeren Individuum. Was Hobbes in abstracto darstellte und Locke als unvernünftig oder sogar verrückt bezeichnet, trifft aber anscheinend auf die Situation Frankreichs zu. Im Kampf der französischen Monarchie gegen den Adel konnten die Könige sich als Beschützer des Volkes und als Träger des diesem Volk dienenden Fortschritts darstellen, so dass die Untertanen sich der Vergrößerung der Macht des Königs nicht widersetzten.95 Wie Tocqueville es schon in der Einleitung zum ersten Band seines Hauptwerkes feststellte: „Und noch häufiger sah man die Könige, die den Adel erniedrigen wollten, die unteren Klassen an der Regierung teilnehmen lassen“ (Tocqueville 1976, 6).96 Tocqueville will hier zeigen, wie sich die Gleichheit durchgesetzt hat und wie das Königtum dazu beigetragen hat. Ungesagt, aber mitgedacht, ist der Gedanke, dass diese Ausweitung der Machtpartizipation zugleich auch oft eine Ausweitung der Machtfülle war. Denn je mehr das Volk an der Macht beteiligt ist, umso mehr kann man diese Macht ausweiten, denn es scheint unmöglich, dass das Volk die Macht gegen sich selbst benutzen wird. Und dass die Macht gegen das Volk genutzt werden kann war immer einer der Hauptgründe, wieso man sie begrenzen wollte. Die Absolutisierung der politischen Macht wird nicht so sehr als etwas gesehen, unter dem die große Masse des Volkes leidet, sondern vielmehr als ein Mittel, diese große Masse von dem Druck zu befreien, den der Adel auf sie ausübte. Der König verbündet sich also mit dem Volk gegen den Adel, aber mit dem Adel verschwindet gleichzeitig eine Macht, die das Volk vor dem König schützen könnte. In einer Kritik am Bürgertum seiner Epoche wird Tocqueville auch die Haltung derjenigen verurteilen, die, um der Gefahr des Sozialismus zu entkommen, in die Arme Napoleon III. flüchten. „Die Allmacht des Staates und des Königs, der ihn verkörpert, richtet sich nicht gegen die Rechte des Individuums, die es noch nicht gibt, sondern schützen das Individuum gegen die Tyranneien des kommunitären Regimes. Der Etatismus der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts entwickelt sich zu Ungunsten der Familien und der Gemeinschaften“ (Thuau 2000, 364). 96 Wir finden diesen Gedanken auch bei Bertrand de Jouvenel: „Plebejische Berater, plebejische Soldaten, plebejische Beamte, das sind die Instrumente der Macht die, mehr oder weniger bewusst, absolutistisch sein will“ (Du pouvoir, 298). Die Plebejer verdanken alles was sie sind dem König, wohingegen der Adel seine Macht unabhängig vom König besitzt. 95
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Die sich als machtlos denkenden Menschen vergrößern also die Macht des Staates, um sich dadurch vor einer anderen Macht zu schützen. Es ist dies ein Prozess, der sich seit Jahrhunderten abspielt und durch den der Staat immer mächtiger geworden ist. So schreibt de Jouvenel über diesen Prozess und die Akzeptanz seiner Resultate bei der großen Masse: Wie wird die Plebs der Abhängigen und der Unterdrückten sein sich über die Jahrhunderte erstreckendes Unternehmen aufnehmen? Notgedrungen mit Freude. Es geht darum, dominierende Mächte zu zerstören; ein auf dem Ehrgeiz beruhendes Unternehmen, aber die Beherrschten sehen darin ihre Befreiung. Es geht darum, die Schale kleiner besonderer Herrschaften zu knacken, um die energetische Substanz zu stehlen: Ein auf der Gefräßigkeit beruhendes Unternehmen, aber die Ausgebeuteten begrüßen darin den Fall ihrer Ausbeuter (Du pouvoir, 262)
Das Volk, so könnte man sagen, erscheint als auf einem Auge blind: Es sieht zwar seine Befreiung von den kleinen Mächten – den Wildkatzen und Füchsen in der Lockeschen Metapher –, aber es sieht nicht die Unterwerfung unter die eine große Macht – der Löwe bei Locke. Man sieht, so de Jouvenel, den Untergang der kleinen Mächte, übersieht aber dabei die Erhöhung des Staates, der am Ende als einzige große Macht übrig bleibt (Du pouvoir, 259). An die Stelle der Aristokratie trat im absolutistischen Frankreich die Statokratie (Du pouvoir, 262). An die Stelle sich im Schach haltender und sich sogar manchmal bekämpfender Mächte – der junge Ludwig XIV. musste sich während der sogenannten fronde nobiliaire noch mit Waffengewalt gegen die großen Adligen behaupten –, tritt jene Macht, von der es im Buche Hiob heißt97 – und Hobbes hat diese Formulierung nicht umsonst in das Titelbild des Leviathan integriert –, dass es keine Macht auf Erden gibt, mit welcher man sie vergleichen könnte. Anstatt also die Vergrößerung der staatlichen Macht als einen Prozess zu sehen, der sich gegen den Willen der großen Masse des Volkes durchgesetzt hat, sollte man in ihm vielmehr einen Prozess sehen, der nur möglich war, weil ihn die große Masse des Volkes begrüßt und unterstützt hat. Das Volk hat nicht gesehen, dass es an der Ausbildung einer Macht mitarbeitete, die alle vorhin existierenden Mächte in den Schatten stellen würde. Es hat nur gesehen, wie diese Mächte progressiv entmachtet wurden. Ging es den Menschen anfangs nur um die, wie Locke es formuliert, „mutual Preservation of their Lives, Liberties and Estates, which I call by the general Name, Property“ (Locke 1993, 350), so kommt mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auch das Recht auf die „pursuit of happiness“ hinzu, so dass die Rolle des Staates nicht mehr nur in der Bewahrung, sondern gegebenenfalls auch in der Förderung des Eigentums bestand – denn wer kein Eigentum hat, kann auch nicht glücklich werden. Wo der
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Im Buche Hiob ist selbstverständlich nicht der Staat gemeint.
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Staat zum Agenten des Glücks seiner Bürger wird, müssen ihm auch die Mittel gegeben werden, dieses Ziel zu erreichen: Die Macht übernimmt in gewisser Weise die Aufgabe des öffentlichen und privaten Glücks, und es ist eine unbedingte Klausel dieses Vertrages, dass alle Eigentümer, alle Produktivkräfte, alle Freiheiten ihr zugestanden werden, Materialien und menschliche Kräfte ohne welche er eine derart gigantische Aufgabe nicht erledigen könnte. Somit geht es darum, ein riesiges Patriarchat herzustellen, oder, wenn man das lieber hat, Matriarchat, denn man sagt uns, dass die kollektive Macht sich durch mütterliche Gefühle leiten lässt (Du pouvoir, 578)
Je mehr Aufgaben der Staat hat, umso größer muss seine Macht sein. Diese Aufgaben kann er nämlich nur dann erledigen, wenn er möglichst viele Menschen in Bewegung setzt, also ihren Gehorsam gewinnt. Aber je größer seine Macht ist, umso gefährlicher wird er für die Freiheit der Individuen. Solange diese im Staat einen gütigen Vater oder eine gütige Mutter sehen, werden sie diese Gefahren nicht sehen, sich nur über die positiven Aspekte freuen und dem Staat weiter ihr Vertrauen und ihren Gehorsam schenken. Und Bertrand de Jouvenel hat durchaus Verständnis für die Hoffnungen, die die Individuen in den Staat legen (Du pouvoir, 38). Der Staat kann s. E. ein wirksames Instrument für die Verbesserung der Situation der großen Masse sein. Aber er kann auch ein Instrument der Unterdrückung werden, und er kann es vor allem dann werden, wenn er sich als einen auf dem Prinzip der Volkssouveränität basierenden Staat darstellt, wenn er also als demokratischer Staat auftritt. Die Theorien der Macht, so de Jouvenel, geben der Macht ihre Stärke (Du pouvoir, 54). 4.
Die demokratische Macht
Angesichts des bislang Gesagten könnte jemand entgegnen, dass man der politischen Macht solange misstrauen sollte, wie sie sich in den Händen von Aristokraten oder Königen befindet, dass dieses Misstrauen aber keinen Platz mehr hat, wenn das eine geeinte Nation bildende Volk im Besitz der Macht ist und wenn es sich beim Staat also um einen demokratischen Staat handelt. In dem Fall braucht man sich nicht mehr auf die nicht unbedingt immer gegebenen mütterlichen oder väterlichen Gefühle des Herrschers zu verlassen, damit er kein Unrecht begeht und jedem der es nötig hat, zur Seite steht, sondern man wird mit Rousseau sagen können, dass das Volk sich niemals selbst ein Unrecht zufügen wird. Legt man also die Macht in die Hände des Volkes, so scheinen alle mit ihr verbundenen Gefahren beseitigt zu sein, und weit davon entfernt, diese Macht zu verringern, sollte man sie immer weiter vergrößern, um somit dem Volk immer angemessenere Mittel in die Hand zu geben, damit es seine Lage verbessern kann.
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Die Französische Revolution wird gemeinhin als das welthistorische Ereignis betrachtet, durch das die Macht aus den Händen des Königs genommen und in die Hände der Nation gelegt wurde. Fortan herrschte nicht mehr eine Privatperson über das Volk, sondern das Volk regierte über sich selbst. Der Souverän war nicht mehr eine fremde Person, die ihre Macht von Gottes Gnaden inne hatte, sondern das Volk selbst war zum Souverän geworden, und als Souverän konnte das Volk über sich selbst bestimmen. Und diese Souveränität des Volkes über sich selbst wurde als unbegrenzt gedacht, denn wer, außer dem Volk selbst, konnte der Souveränität des Volkes Grenzen setzen? Und selbst solche selbstgesetzten Grenzen könnten zu jedem Augenblick wieder abgeschafft werden, so dass man sie nicht wirklich als Grenzen betrachten kann. Mit der Französischen Revolution ist demnach aus der absoluten Souveränität des Königs die absolute Souveränität der Nation geworden, oder anders gesagt, die Souveränität hat sich nicht ihrer Natur nach verändert, sondern verändert hat sich nur ihr Träger. Was die französischen Könige und ihre Berater oder Minister wie Richelieu, Mazarin, Colbert, Maupéou im Laufe von zwei Jahrhunderten aufgebaut hatten, wurde nicht niedergerissen, sondern übernommen. Die Revolution hat somit zwar die Monarchie zerstört, nicht aber den Absolutismus. Was die Revolutionäre störte war nicht so sehr die absolute Macht, sondern die Tatsache, dass diese Macht sich in den falschen Händen befand. In diesen falschen Händen konnte sie für tyrannische Zwecke gebraucht werden, und wurde es ihnen zu Folge auch. Aus diesen falschen Händen entfernt und in die richtigen Hände gelegt, wird sie für gute Zwecke gebraucht werden können. „Der Dritte Stand restauriert die Monarchie ohne den König“, so die paradox klingende Überschrift des Unterteils eines Kapitels von Du pouvoir (Du pouvoir, 363). Die französische Monarchie unter Ludwig XVI. war nur noch der Schatten der Monarchie, die Ludwig XIV. ein Jahrhundert früher errichtet hatte und die als Paradigma der absoluten Monarchie gelten kann. Als die Revolutionäre sich ab 1789 zunächst gegen das Ancien Régime und dann gegen die Monarchie auflehnten, waren diese nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht, sondern diese Macht war schon erheblich geschwächt. Oder genauer gesagt: Der König, Ludwig XVI., war nicht mehr in der Lage bzw. war nicht gewillt, die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel zu gebrauchen, um das Ancien Régime zu retten. Was den absoluten Königen niemals gelungen war, nicht einmal dem Sonnenkönig, nämlich die Abschaffung der parlements und der Privilegien des Adels, wird dem revolutionären Frankreich ohne großen Widerstand gelingen. Und schließlich wird selbst die Monarchie, mit dem König an ihrer Spitze, abgeschafft. Was aber nicht abgeschafft wird, ist die dem Souverän de iure zustehende Macht. Im Gegenteil, diese Macht wird noch erhöht. Denn durch die Abschaffung des Adels und seiner Privilegien, schuf man eine die Macht der Könige einschränkende Macht ab. Und die Abschaffung einer Gegenmacht ist gleichbedeutend mit der Vergrößerung der bisher eingeschränkten Macht.
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Fortan ist die Nation die Inhaberin der Macht, jene Nation, die sich eine Nationalversammlung gegeben hat, in welcher keine Repräsentanten der Stände – die abgeschafft wurden – mehr sitzen, sondern Repräsentanten der Nation. Von nun an, so wurde gesagt, stehen sich die Interessen der Nation und die Interessen des Souveräns nicht mehr gegenüber, sondern es besteht eine Identität zwischen beiden: Die Nation herrscht über sich selbst mittels der von ihr gewählten Repräsentanten. Was diese wollen, will die Nation, so dass es Frevel wäre, sich gegen die Entscheidungen der Nationalversammlung zu stellen. Da die Nation eine absolute Macht hat und da die Nationalversammlung die Nation repräsentiert, hat auch die Nationalversammlung eine absolute Macht. Auch wenn die Revolutionäre sich auf Rousseau beriefen, widerspricht dieser letzterwähnte Punkt den Gedanken des französischen Philosophen.98 Rousseau hatte nämlich ausdrücklich festgehalten, dass die volonté générale nicht repräsentiert werden kann. Der allgemeine Wille kann nur dann zustande kommen, wenn jeder einzeln seinen Willen kundgibt. Daraus folgte für Rousseau, dass eine wahre Demokratie nur in einem relativ kleinen Gemeinwesen funktionieren konnte, wo man alle Bürger versammeln und abstimmen lassen konnte. Die Größe Frankreichs machte es aber notwendig, auf Repräsentanten zurückzugreifen, so dass die Souveränität des Volkes durch die Nationalversammlung ausgeübt wurde. Doch wer sitzt in der Nationalversammlung? Ehrgeizige Menschen, die Macht über andere Menschen ausüben wollen, sagt uns de Jouvenel (Du pouvoir, 409). Auch wenn man bei ihm keine ausgearbeitete Anthropologie findet, so erkennt man doch in seinen Schriften ein Menschenbild wieder, bei dem der Machtdrang einen zentralen Platz einnimmt. Hier sei nur eine Stelle aus Du pouvoir zitiert: Es genügt, dass die Herrscher eine große Enthaltsamkeit an den Tag legen, eine strikte Sparsamkeit, damit das gemeine Volk ihren Egoismus durchgehen lässt. So als ob die wahren Lüste des Autoritären nicht anderswo lägen. In jeder Lage, in jeder sozialen Situation, fühlt sich der Mensch umso mehr Mensch, als er sich durchsetzt, aus anderen die Instrumente seines Willens macht, die Mittel hoher Zwecke, deren Aussicht ihn berauschen. Ein Volk leiten, welche Ausdehnung des Ichs (Du pouvoir, 208)
Die Menschen streben also nach Macht über andere Menschen, und insofern man ihnen Machtmittel in die Hand legt, werden sie sich dieser Machtmittel bedienen, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen.99 Wenn sie sich, wie es für die Mitglieder der NatioDe Jouvenel macht auf diesen Widerspruch aufmerksam (Du pouvoir, 409). Aber angenommen es gibt Menschen, die nicht nach Macht streben. Könnte man ihnen die Macht nicht anvertrauen, wie es etwa Platon hinsichtlich der Philosophen tun wollte? De Jouvenel meint, es gäbe „ein Klima der Macht, das die Menschen verändert. So dass die Bewohner der Macht ebenso zu deren Verteidigern werden, wie die Opiumabhängigen es von ihrem Rauchen werden“ (Du pouvoir, 197). Man wird hier an Lord Acton erinnert und an seinen berühmten Spruch: „Power corrupts, absolute power ab98 99
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nalversammlung der Fall war, als Repräsentanten des Volkes ansehen, werden sie ihre Ziele mit den Zielen des Volkes identifizieren, so dass aus dem alten monarchischen Prinzip „Si veut le roi, si veut la loi“100 das neue demokratische Prinzip „Si veut la loi, si veut le peuple“ wird, wobei das Gesetz mit dem Willen der Nationalversammlung gleichgesetzt wird. Es wird kein Gesetz mehr anerkannt, das unabhängig vom Willen der Nationalversammlung existieren würde und diesem Willen eine Grenze ziehen könnte. Die Berufung auf das Volk wird unter diesen Umständen zu einem Deckmantel, wie einst der Rückgriff auf das Gottesgnadentum. Die Herrscher sind nicht mehr die Repräsentanten Gottes auf Erden, sondern sie sind die Repräsentanten des Volkes. Aber anstatt dass sie dem Volk dienen, bedienen sie sich des Volkes. Ihr primäres Ziel ist es nicht, ihren Ehrgeiz in den Dienst des Volkes zu stellen, sondern das Volk zum Instrument ihres Ehrgeizes zu machen. Die Volkssouveränität musste notwendig im Dienste dieses Ehrgeizes angerufen werden. Mittels einer gewagten Fiktion, gab sich das Parlament für das versammelte Volk aus; es stand ihm demnach zu, Gesetze zu machen, es waren die Gesetze des Volkes. Aber es stand ihm auch zu, zu regieren: und es würde die Regierung des Volkes sein (Du pouvoir, 409)
Wenn es keine Macht auf Erden gibt, mit welcher man die Macht des Volkes vergleichen kann – und das ist die Grundprämisse eines reinen demokratischen Denkens –, und wenn die Macht des Volkes sich immer nur durch die Stimme seiner Repräsentanten ausdrücken kann – und das ist eine Grundprämisse der französischen Revolutionäre –, dann gibt es auch keine Macht auf Erden, mit welcher man die Macht der Nationalversammlung vergleichen kann. Und wenn schließlich die Regierung sich aus der parlamentarischen Konstellation ergibt – wenn, wie das im heutigen Frankreich der Fall ist, der Präsident direkt vom gesamten (wahlberechtigten) Volk gewählt wird – dann gibt es auch keine Macht auf Erden, mit welcher man die Macht der Regierung vergleichen kann. Auch wenn de Jouvenel den modernen französischen Staat mit dem Staatsstreich des 18. Brumaire beginnen lässt (Les débuts de l’Etat moderne, viii), hatte die Revolution schon so gut wie alles vorbereitet, und zwar einerseits die ideologischen Voraussetzungen, und andererseits den sozialen und politischen Chaos, der die Sehnsucht nach jemandem nährte, der wieder Ordnung ins Land brachte. Denn wie Bertrand de Jouvenel festhält: solutely“. In Quelle Europe? heißt es auch: „[D]er Totalitarismus ist in uns selbst. Und da muss er zuerst bekämpft werden“ (Quelle Europe?, 50). 100 Auch wenn im Ancien Régime der Wille des Königs mit dem Willen des Gesetzes gleichgesetzt wurde, so wurde immer vorausgesetzt, dass dies nur für den vernünftigen Willen des Königs gelten konnte. Die parlements waren u. a. da, um diese Vernünftigkeit zu prüfen und den Monarchen gegebenenfalls durch die sogenannten remontrances darauf aufmerksam zu machen, dass ein von ihm gewolltes Gesetz nicht vernünftig war. In den Konflikten behielt der König allerdings immer das letzte Wort.
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So können die gefährlichen Umstände, unter denen die Macht für das soziale Heil handelt, ihr große Erweiterungen ihrer Mittel bringen, und, wenn die Krise vorbei ist, behält sie diese Erwerbungen (Du pouvoir, 219)
Dabei spielt es keine Rolle, um welche Krise es sich handelt, ob es etwa eine interne politische Krise – Aufstände, Terroranschläge, usw. –, eine interne ökonomisch-soziale Krise – Massenarbeitslosigkeit, Armut, usw. – oder eine externe militärische Krise – Bedrohung durch einen Nachbarstaat oder gar Angriff – ist. Sobald die dem Staat unterworfenen Individuen sich bedroht fühlen, legen sie ihr Schicksal in die Hände der Regierung und überlassen ihr damit auch die Mittel, um die Krise zu meistern. Nichts Neues unter der Sonne, wird man vielleicht hier anmerken. Im antiken Rom hatte man für Krisensituation den Diktator vorgesehen, dem auch alle Mittel gegeben wurden, um die Krisensituation zu überwinden. Bloß dass die Diktatur zeitlich begrenzt war und der Diktator nach spätestens sechs Monaten seine Macht verlor. Das Neue unter der Sonne ist, dass die modernen Regierungen die ihnen übergebene Macht nicht wieder abgeben, sondern sie behalten. Besonders gefährlich wird dies, nach einem Krieg. Denn während eines Krieges geht ein großer Teil der Initiative vom Parlament auf die Regierung über, denn es muss oft schnell und dezidiert entschieden werden. Außerdem kommt mit den modernen Kriegen ein neues Element ins Spiel, nämlich der Rückgriff auf alle dem Staat zur Verfügung stehende Ressourcen, sowohl materieller als auch humaner Natur. Um diese Ressourcen zu mobilisieren, muss ein kräftiger Impuls seitens der Regierung ausgehen, was nur möglich ist, wenn man ihr eine große Machtfülle gibt. Es besteht dabei die Gefahr, dass man diese Machtfülle nach dem Krieg nicht wieder abbaut, sondern sie bestehen lässt: Wenn es dank ihrer gelungen ist, den militärischen Krieg gegen den Feind zu gewinnen, wieso sollte man sich nicht auch ihrer im Krieg gegen die Armut, die Arbeitslosigkeit, usw. bedienen? Zitieren wir hier eine Passage mit welcher de Jouvenel sein Werk L’Amérique en Europe beendet und in welcher er von der Situation Amerikas Ende der 40er Jahre spricht: Es ist äußerst peinlich, dass sich eine Gesellschaft immer mehr militarisiert, in welcher bislang die militärische Institution so gut wie keinen Platz einnahm. Aber das ist ohne Zweifel besser, als wenn sie ihre Verbündete und am Schluss sich selbst erobern lässt. Es ist widerlich, wenn die Polizei dazu kommt, die Vergangenheit der öffentlichen Beamten zu kontrollieren, und dies in einem Land, in welchem ein Mensch auf Grund seiner Miene und seines Wortes beurteilt wurde. Aber wenn damit das Fallen unter das Joch der bedrückendsten und grausamsten Polizei, die die Welt je gekannt hat, verhindert werden kann, dann muss man eben dadurch hindurch. Aber es soll ein Durchgang sein. Das worum es im Grunde geht, ist, dass das Andauern der jetzigen Spannung während Jahren die amerikanische Gesellschaft zum Verlust jener Merkmale führen würde, die sie der Verteidigung so würdig machen (L’Amérique en Europe, 324)
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In De l’esprit des lois hatte Montesquieu zugestehen müssen, dass „der Brauch selbst der freiesten Völker, die es jemals auf Erden gegeben hat“, ihn dazu geführt hat zu glauben, „dass es Fälle gibt, wo man für einen Augenblick einen Schleier über die Freiheit legen muss, wie man die Statuen der Götter verdeckt“ (Montesquieu 1951a, 449). Dass es nur „für einen Augenblick“ sein darf, betont Montesquieu in den Pensées: „Wenn man dazu gezwungen ist, den Gesetzesweg zu verlassen, so sollte man doch wenigstens so schnell wie möglich wieder auf ihn zurückkehren“ (Montesquieu 1951, Nr. 287). Bertrand de Jouvenel denkt ähnlich wie Montesquieu. In Krisenzeiten ist man auf einen wirksamen Schutz des Staates angewiesen und man wird ihm seinen Gehorsam auch dann noch schenken, wenn er Handlungen befiehlt, die wir unter normalen Umständen verurteilen würden. In de Jouvenels Beispiel geht es um den Kampf gegen die kommunistische Gefahr: Wie verabscheuungswürdig auch immer die Methoden der amerikanischen Polizei sein mögen, so dienen sie der Abwendung der Gefahr, unter noch verabscheuungswürdigere Methoden zu fallen. Aber besteht hier nicht das Risiko, dass die Regierungen immer wieder neue Gefahren heraufbeschwören, um auf diese Weise ihre Machtfülle rechtfertigen zu können? Kurz vor der vorhin zitierten Stelle aus L’Amérique en Europe hatte de Jouvenel darauf hingewiesen, dass die Macht des Staates sich zunächst wegen seiner militärischen Funktion vergrößert hat, dann aber wegen seiner sozialen Funktion (L’Amérique en Europe, 321). Ein Staat der den Krieg gegen die Armut und die Arbeitslosigkeit gewinnen will, der muss, wie es u. a. Roosevelts New Deal gezeigt hat, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel mobilisieren. Und was damals für die Armut und die Arbeitslosigkeit galt, gilt heute für die Umweltverschmutzung, den Klimawandel, den Kampf gegen den Terrorismus, usw. Es soll hier nicht bestritten werden, dass es sich dabei um äußerst wichtige Angelegenheiten handelt, um Fragen, auf die unbedingt eine Antwort gefunden werden muss. Nur sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Tatsache, dass wir heute im Westen ein demokratisches Staatsverständnis voraussetzen, keine Garantie dafür ist, dass man im Namen dieses Staatsverständnisses – das Volk will es so – die liberalen Freiheiten untergräbt, ohne die ein demokratischer Staat kaum noch Vorteile gegenüber dem monarchischen Absolutismus oder gegenüber totalitären Staaten besitzt – vor allem nicht für diejenigen, die sich in der Minderheit befinden. Bertrand de Jouvenel warnt uns vor Politikern, die uns versprechen, siegreich im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, usw. zu sein, wenn wir ihnen bloß die Regierungsgeschäfte anvertrauen. Es sind dies Politiker, die der Nation ein Ziel vorsetzen und dieses Ziel dann als große nationale Angelegenheit verkünden, mit welcher jeder sich identifizieren und für deren Erreichen jeder sein Bestes geben sollte – denn es wird ja schließlich jeder etwas davon haben, So entsteht dann ein gemeinsamer Wille, und der Politiker wird diesen Willen lenken können. Und je mehr man sich an seine Lenkung gewöhnt, umso weniger wird man daran denken, sich von ihm zu befreien. 1789, so de Jouvenel, konnte der französische König nicht mehr auf die Gewohnheit und die
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Vorstellungskraft101 des Volkes als Garantien für dessen Gehorsam zählen (Les débuts de l’Etat moderne, 76). Der moderne Staat lebt noch zum Teil von der Gewohnheit des Gehorsams – aber in manchen Staaten immer weniger – und was die Vorstellungskraft betrifft, so wird man sich fragen können, wer noch tatsächlich an das Prinzip der Volkssouveränität glaubt bzw. ob wir nicht dabei sind, das Aufkommen eines populistischen Verständnisses der Volkssouveränität zu erleben, ein Verständnis, das keineswegs in den liberalen Denkrahmen passt, aber dem Volkssouveränitätsverständnis einiger französischer Revolutionäre eher entspricht als dem liberalen Verständnis.
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De Jouvenel meint hier die Tatsache, dass das Volk sich vom Prunk der Monarchie beeindrucken ließ.
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Der Staat und die Gegenmächte
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Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, zeichnet Bertrand de Jouvenels Du pouvoir den Weg eines immer mehr Macht an sich reißenden Staatsapparates nach, wobei es ganz oft nicht so sehr der Staat ist, der die Macht brutal an sich reißt, sondern es sind auch die Bürger, die dem Staat neue Aufgaben geben, d. h. mehr vom Staat verlangen oder erwarten bzw. vom Staat erwarten, was bisher ohne staatliche Intervention geregelt wurde. Dabei erscheint der Staat als Schutzinstrument der Schwachen gegen die Mächtigen: Es ist zur Genüge gewusst, welche Ordnung [die Monarchie] ins Land gebracht hat, welchen Schutz sie den Schwachen gegen die Starken gegeben hat, wie sehr sie das Leben der Gemeinschaft verändert hat, was ihm die Agrikultur, der Handel und die Industrie verdanken (Du pouvoir, 29)
Aber damit der Staat alle diese Aufgaben bzw. alle in ihn gesteckten Hoffnungen und Erwartungen auch angemessen erfüllen kann, muss er die dafür nötige Macht besitzen, wobei diese Macht sich in materielle und rechtliche Mittel ausdifferenzieren lässt. Soll der Staat etwa seine Bürger vor der Ansteckung durch bestimmte Krankheiten schützen, so muss er sowohl über die nötigen Impfmittel verfügen – materielle Dimension –, als auch das Recht besitzen, seine Bürger – gegebenenfalls gegen deren Willen bzw., unter Strafandrohung, falls sie die Impfung verweigern sollten – zu impfen – rechtliche Dimension. Und, das darf hier nicht vernachlässigt werden, es ist auch wichtig, dass er über einen angemessenen Zugang zu den Informationsmitteln bzw. den Medien besitzt, damit er die Bürger davon überzeugen kann, sich impfen zu lassen, so dass, wenn der Staat ihnen sagt, die Zeit der Impfung sei gekommen, sie freiwillig in die Impfzentren schreiten. De Jouvenel vergleicht den Staat mit einem riesigen Maschinenraum in dem sich sehr viele Hebel befinden. Durch die Betätigung dieser Hebel werden die Untertanen in Bewegung gesetzt (Du pouvoir, 29), und je weniger der Staat dabei auf Zwang zurückgreifen muss, umso effizienter ist er. Mit anderen Worten: Die Macht eines Staates über seine Bürger oder Untertanen sollte nicht an der Wirksamkeit der
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Zwangsandrohungen gemessen werden, sondern an der Fähigkeit des Staates, seine Bürger bzw. Untertanen unabhängig von jeder Zwangsandrohung zu mobilisieren. Besitzt der Staat aber die für die Erfüllung seiner zahlreichen neuen Aufgaben nötige Macht, so wird er sie einerseits wahrscheinlich auch noch dann behalten, wenn er die Aufgaben erfüllt hat und andererseits wird er sie auch möglicherweise für andere Zwecke als die ursprünglich gegebenen benutzen können. Man sollte nämlich nicht blauäugig glauben, dass die dem Staat überlassene oder anvertraute Macht immer nur auf die Erfüllung einer ganz bestimmten Aufgabe beschränkt bleiben kann. Wenn der Staat etwa die materiellen und rechtlichen Mittel besitzt, die Telefongespräche von vermutlichen Terroristen zu überwachen, dann hat er potentiell auch die Mittel, die Telefongespräche aller seiner Bürger zu überwachen. Und wo es die Regierung oder die Verwaltung ist, die eigenmächtig darüber bestimmt, ob jemand ein vermutlicher Terrorist ist oder sein könnte, kann kein Bürger sicher sein, dass seine Telefongespräche nicht überwacht werden. Die aktuell beschränkte oder als beschränkt erscheinende Macht des Staates ist somit in Wirklichkeit eine potentiell unbeschränkte Macht, und eine dem Staat misstrauende politische Theorie wird entweder versuchen sicherzustellen, dass der Staat seine potentiell unbeschränkte Macht immer nur für gute Zwecke benutzt, oder sie wird versuchen, die Macht des Staates tatsächlich zu beschränken, so dass die Schranken niemals überschritten werden können, auf die Gefahr hin, dass dem Staat auch die Möglichkeit genommen wird, die Macht für einen guten Zweck zu benutzen. Will man sicherstellen, dass der Staat niemals die Telefongespräche einer unschuldigen Person kontrolliert, dann gibt es kein besseres Mittel, als ihn jeder Möglichkeit zu berauben, Telefongespräche überhaupt zu überwachen. Wie eingangs erwähnt wurde, zeigt uns Du pouvoir einen sich über die Jahrhunderte erstreckenden Prozess der Machterweiterung des Staates. Am Ende des Buches stellt de Jouvenel diesbezüglich eine Reihe von Fragen, auf die er aber keine Antwort gibt, so dass es dem Leser überlassen bleibt, selbst eine Antwort zu finden, und dies vor dem Hintergrund der von De Jouvenel aufgezeichneten Entwicklung: Wissen wir, ob die Gesellschaften in ihrem Gang nicht durch unbekannte Gesetze geleitet werden? Ob es ihnen zusteht, jene Fehler zu vermeiden, an denen sie sterben? Ob sie sich nicht gerade durch jenen Schwung auf sie zubewegen, der sie zu ihrem Höhepunkt getragen hat? Ob ihre Blüte und ob die Früchte, die sie tragen, nicht um den Preis des Zersprengens der Formen erhalten werden, in denen sich ihre Kraft akkumuliert hatte? Feuerwerk, das nach sich nur eine amorphe Masse übrig lassen würde, die dem Despotismus oder der Anarchie geweiht ist … (Du pouvoir, 606–7)
In L’art de la conjecture stellt Bertrand de Jouvenel fest, dass wir hinsichtlich der Zukunft niemals etwas wissen können, sprich niemals eine absolute Gewissheit werden besitzen können, dass es sich tatsächlich so verhalten wird, wie wir es vorausgesagt oder -geahnt haben. Die facta, also wortwörtlich das schon Gemachte oder Geschehene, kann prinzipiell Gegenstand eines Wissens werden, da es nämlich schon gegeben
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ist und sich nichts mehr an ihm ändern wird; bei den futura, also dem, was erst kommen wird bzw. zu machen ist, ist dem aber nicht so. Insofern kann es auch keine Wissenschaft der Zukunft geben (L’art de la conjecture, 30). Im Hinblick auf die Zukunft können wir immer nur mehr oder weniger begründete Prognosen aufstellen und dabei sogenannte futuribles konstruieren, also mögliche Zukunften.102 Es kann sein, dass die sich tatsächlich verwirklichende Zukunft unter diesen von uns konstruierten Zukunften vorkommt, dass also eines der aufgestellten Szenarien sich verwirklichen wird, aber das muss nicht unbedingt der Fall sein. Ein unvorhergesehenes, und vielleicht sogar unvorhersehbares Ereignis kann dem Lauf der Dinge eine ganz andere Richtung geben als die, die vorausgesagt wurde.103 In L’art de la conjecture geht es de Jouvenel darum, den Menschen bei der Entwicklung von Zukunftsszenarien behilflich zu sein, damit sie ihre Zukunft, so weit wie möglich, meistern können. Dabei ist es vor allem wichtig, sogenannte Prozesse richtig zu verstehen und zu deuten. Man sollte aber den von Auguste Comte begangenen Fehler vermeiden, der darin besteht, die sozialen Prozesse nach dem Modell der natürlichen, von der Physik oder Chemie studierten Prozessen zu konstruieren. Die Geschichte stellt sich Comte als ein gewaltiger, naturgesetzlicher Prozess dar, den der Geist umfassen kann (L’art de la conjecture, 140). Und vor allem stellt er sich ihm als ein Prozess dar, der sich nicht von uns beeinflussen lässt, so dass es nicht mehrere mögliche Zukunften gibt, sondern nur eine einzige, und zwar eine schon vorgezeichnete. Wenn unter diesen Umständen mehrere Zukunftsszenarien entworfen werden, so deuten diese nicht auf die Offenheit der Zukunft hin, sondern betreffen nur unser defizitäres Erkenntnisvermögen. De Jouvenel macht in diesem Kontext den Unterschied zwischen einer dominanten und einer dominierbaren Zukunft, also zwischen einer Zukunft, die beeinflussbar ist, und einer Zukunft, die es nicht ist (L’art de la conjecture, 71).104 Wo die Zukunft dominant ist, bleibt keine andere Wahl, als sich ihr zu unterwerfen und, wenn es geht, sich ihr anzupassen. Ein gutes Beispiel für eine solche dominante Zukunft sind die durch die Position der Sonne bestimmten Jahreszeiten. Wir können nicht verhindern, dass sich in den nächsten Jahrmilliarden die Jahreszeiten auf unserem Planeten ablösen. Anders aber, wo die Zukunft dominierbar ist, d. h. wo ich davon ausgehen kann, dass nicht nur ein einziger Zustand der Zukunft möglich ist, sondern dass sich mehrere Das von de Jouvenel im Französischen erfundene Wort futurible setzt sich zusammen aus den zwei Wörtern futur und possible. Auf Deutsch könnte man es mit Zukunftliches – Zukunft + (Mög)liches – übersetzen. Die Quelle für die französische Neuschöpfung ist der spanische Theologe Luis de Molina. 103 Dazu eine Stelle aus Pascals Pensées: „Cromwell war auf dem Punkt, die gesamte Christenheit zu zerstören, die königliche Familie war verloren, und seine eigene für alle Ewigkeit mächtig, wäre da kein kleines Sandkörnchen gewesen, das sich in seiner Harnröhre niederließ. Rom selbst sollte unter ihm zittern, aber da dieser kleine Kiesel sich dort gesetzt hat, ist er gestorben, seine Familie wurde erniedrigt, alles war im Frieden, und der König wurde wieder in seine Macht eingesetzt“ (Pascal 1954, 1147–1148). Man findet die Thematik auch in Machiavellis Principe wieder: Die launische Göttin Fortuna kann selbst den Prognosen des Vorsichtigsten einen Strich durch die Rechnung machen. 104 Wobei er auch darauf hinweist, dass eine Zukunft für A dominant und für B dominierbar sein kann. 102
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futuribles vor mir auftun, und wo es dann von meinem Handeln abhängt, welcher dieser futuribles sich tatsächlich verwirklichen wird. Was geschehen wird, hängt hier von meinem Handeln ab, und dieses hängt von meinen nicht mit naturwissenschaftlicher Exaktheit voraussagbaren Entscheidungen ab. Das Verstehen der nicht absolut vordeterminierten Prozesse kann uns hier die Hoffnung geben, sie auch zu beeinflussen und in die gewünschte Richtung zu lenken. In vielen Fällen, so de Jouvenel, können wir eine sich anbahnende Tragödie bis zum letzten Moment abwenden (L’art de la conjecture, 156). Und weiter schreibt er: [W]ir sind nicht darauf beschränkt uns nur zu fragen, wohin der technologische Prozess ‚uns führt‘, sondern wir können, und ohne Zweifel müssen wir es, uns fragen, wie wir daraus das Beste für das Erblühen der pianta uomo ziehen können (L’art de la conjecture, 293)
Den an einigen Stellen seiner Schriften auftauchenden Vergleich des Menschen mit einer Pflanze hat de Jouvenel vom italienischen Schriftsteller Giaccomo Leopardi übernommen, und er zeigt uns, worum es dem Franzosen eigentlich geht: Die natürliche und soziale Welt muss so eingerichtet werden, dass der Mensch sich darin frei entfalten oder entwickeln bzw. wachsen kann, wobei nicht nur an die Befriedigung der materiellen, sondern auch an diejenige der ästhetischen, moralischen, spirituellen, usw. Bedürfnisse gedacht werden muss. Die Pflanze Mensch hat nämlich nicht nur, mit Aristoteles gesprochen, eine vegetative Seele, sondern auch eine fühlende oder wahrnehmende und eine intellektuelle – sowie, müsste man hinzufügen, eine moralische und eine ästhetische. Der Mensch muss immer in seinen vielfältigen Dimensionen gedacht und darf nicht auf eine einzige Dimension seines Seins reduziert werden. Die eben zitierte Stelle verweist auf den technologischen Entwicklungsprozess, auf den de Jouvenel vor allem in La civilisation de puissance eingegangen ist. Gegen Ende dieses Buches stellt er fest, dass wir die Entwicklung des Menschen durch die Entwicklung der Ökonomie ersetzt haben (La civilisation de puissance, 200), so dass die Technik und die Ökonomie nicht mehr dem Menschen, sondern die Technik und der Mensch der Ökonomie dienen, deren Ziele in der Vergrößerung eines rein quantitativ definierten Bruttoinlandproduktes formulierbar sind.105 Es geht also eigentlich nicht mehr so sehr um die Frage, was produziert und konsumiert wird, als darum, dass soviel wie möglich produziert und konsumiert wird. Der Autor beklagt dabei die Zerstörung der Lebensformen, die ihm noch gefährdeter erscheinen als der Verbrauch der natürlichen Ressourcen. Er deutet dabei die Möglichkeit an, dass der Staat, um dieser Gefahr entgegenzuwirken, die Produkte auf Grund ihrer Schädlichkeit für die Umwelt und für die Menschen besteuert, dass der Staat also aktiv interveniert, um das Verhalten der
So dass eine Gesellschaft, in welcher es viele Autounfälle gibt ceteris paribus besser ist als eine Gesellschaft, in welcher es keine gibt. Denn jeder Autounfall führt zu einer Reparatur oder zum Kauf eines neuen Autos, und diese Zahlen erhöhen das Bruttoinlandprodukt. 105
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Menschen in eine Richtung zu lenken die der Entwicklung der Pflanze Mensch förderlich ist. Bertrand de Jouvenel ist demnach kein Anarchist, also jemand, der den Staat als solchen ablehnt, weil er in ihm nur das Negative sieht. Die Menschen, und vor allem die in immer komplexeren Gesellschaften lebenden Menschen, brauchen den Staat, denn „die politischen Autoritäten sind Garanten der Vorhersehbarkeit für die Mitglieder des sozialen Körpers“ (L’art de la conjecture, 302). Die Mehrzahl der den politischen Autoritäten unterworfenen Menschen gestaltet ihr Verhalten in der Regel gemäß den durch die politischen Autoritäten erlassenen Gesetzen. Wer den Gesetzen zuwider handelt, riskiert eine Strafe. Wir können somit zu einem bestimmten Teil die Handlungen unserer Mitmenschen voraussehen und unser eigenes Handeln demgemäß gestalten. Um lang- und sogar schon mittelfristige Entscheidungen treffen zu können, benötigt der Mensch die Gewissheit, dass sich nicht alles in einem ständigen Fluss befindet und dass es eine Macht gibt, die dauernde Strukturen aufrecht erhält. Je mehr und je schneller sich die Situation in welcher ich mich befinde verändert bzw. je mehr mein Lage durch äußere, mir oft unmittelbar unzugängliche Faktoren impaktiert wird, umso wichtiger ist es, dass der Staat mir erlaubt, die möglichen Handlungen der anderen Menschen vorauszuberechnen. Die politische Kunst, so de Jouvenel, besteht darin, ein Gefühl der Sicherheit in einer sich ständig verändernden Welt zu geben (Du principat, 55). Aber es genügt nicht, dass wir die Handlungen unserer Mitmenschen voraussehen können. Es ist auch wichtig, dass wir in der Lage sind, die Handlungen der politischen Macht vorauszusehen, so dass wir uns auch hier einrichten können (L’art de la conjecture, 304). Aber in diesem Zusammenhang entsteht ein Problem: Wenn ich etwa weiß, dass der Staat die potentiellen Terroristen streng überwacht, kann ich mich darauf einstellen, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit – eine absolute Gewissheit gibt es hier nicht und es kann sie auch nicht geben – nicht einem Terroranschlag zum Opfer fallen werde. Aber kann ich mich auch darauf einstellen, dass der Staat seine Überwachungsinstrumente nur gegenüber potentiellen Terroristen einsetzen wird? Kann ich mich darauf einstellen, dass die diese Instrumente einsetzenden Menschen nicht von der Prämisse ausgehen, dass eigentlich jeder ein potentieller Terrorist ist? Die klassische Frage, wer die Überwacher überwacht, ist noch immer aktuell und ist vielleicht aktueller denn je in einer Welt, in welcher der Staat uns in immer mehr Dimensionen unseres Lebens überwacht – da er sich (oft von uns selbst) dazu berufen fühlt, sich dieser Dimensionen anzunehmen, um uns zu schützen. Genauso wie wir feststellen können, dass die Entwicklung der Technik zu einer unheimlichen Vergrößerung der Produktivität geführt hat, so müssen wir auch feststellen, dass die Konzentration der Macht in den Händen des Staates zu einer erhöhten Kontrolle über die Gesellschaft geführt hat. Und hier ließe sich eine vorhin zitierte Passage aus der Civilisation de puissance, aber in leicht veränderter Form, mit Ersetzen eines zentralen Wortes, anführen:
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[W]ir sind nicht darauf beschränkt uns nur zu fragen, wohin der Prozess der Machtkonzentration ‚uns führt‘, sondern wir können, und ohne Zweifel müssen wir es, uns fragen, wie wir daraus das Beste für das Erblühen der pianta uomo ziehen können
Die politische Macht kann dem Menschen schaden, wobei im besten Fall die pianta uomo nur verwelken kann, weil sie nicht die für sie nötigen Nährstoffe findet oder ihr der Zugang zu diesen Nährstoffen durch den Staat oder andere Mächte verwehrt wird. Im schlimmsten Fall kann die pianta uomo entwurzelt oder gar zertrampelt oder abgeschnitten werden. Die politische Macht kann dem Menschen aber auch helfen, indem sie ihn vor den anderen Mächten schützt und ihm gegebenenfalls auch Hilfe in Notsituationen leistet bzw. indem sie dem Menschen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, so dass er Eigeninitiativen ergreift, durch die er seine eigene Situation verbessern und glücklich leben kann. Der Staat ist also nicht ausschließlich schlecht und der Staat ist nicht ausschließlich gut. Er ist eine Institution, die für einen guten oder für einen schlechten Zweck benutzt werden kann. Er kann sowohl zum Erblühen als auch zum Untergang der pianta uomo beitragen. Es ist die eigentliche Aufgabe der Politik, einer Politik, wie sie sein sollte, ein Klima zu schaffen, das dem Erblühen der Pflanze Mensch förderlich ist. Wie kann man das Schlimmste verhindern? Wie kann man verhindern, dass sich die Menschheit in jene amorphe Masse von an sich schwachen Individuen verwandelt, die Hobbes unter der Form des anarchischen Naturzustandes beschreibt, und aus dem die Menschen sich nur dadurch zu erretten glauben können, dass sie einen absoluten Staat errichten – einen Despotismus, um mit de Jouvenel zu reden?106 Wie kann man die Skylla des Naturzustandes umfahren, ohne an der Charybdis des Despotismus zu zerschellen? Was sind jene „Formen“, von denen de Jouvenel sagt, dass sie zersprengt werden oder vielleicht schon zersprengt wurden, und aus denen die Gesellschaften ihre Kraft bezogen haben? Was ist im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen? Hatten wir im vorigen Kapitel die Ausbreitung der politischen Macht thematisiert, so wollen wir uns in diesem Kapitel mit der Frage befassen, was in der Vergangenheit dieser Ausbreitung Grenzen gesetzt hat, und ob und inwiefern auch in der Gegenwart noch die Möglichkeit besteht, solche Grenzen zu setzen – vielleicht nicht unbedingt dieselben wie in der Vergangenheit, aber zumindest funktional äquivalente. Die Moderne, mit ihrer Komplexität, ihrem Kult des Wandels und des Fortschritts, bedarf, viel mehr noch als frühere Gesellschaften, einer politischen Autorität, die diese potentiell das Chaos fördernden Phänomene – Phänomene, die man nicht mehr rückgängig machen kann – kontrolliert. Die Frage ist dann, wie wir unter diesen Bedingungen, um Bei Hobbes ist nicht nur die Tatsache problematisch, dass im Naturzustand jeder Mensch zu jedem Augenblick jeden anderen Menschen umbringen kann, so dass das Leben aller meistens nur kurz ist, sondern es ist ebenso problematisch, dass die Menschen sich im Naturzustand nicht gegenseitig helfen, so dass sie ihre individuelle Schwäche nicht durch eine kollektive Stärke ersetzen. 106
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de Jouvenel zu zitieren, „das Beste für das Erblühen der pianta uomo [tun] können“? Oder wie er an einer anderen Stelle schreibt: „Je größer nämlich die öffentliche Macht ist, umso größer müssen auch die Garantien gegen die Schäden sein, die sie uns zufügen kann“ (Du principat, 181). Und im selben Werk heißt es auch noch: „[ J]e mehr das Schicksal der Menschen von den Herrschenden abhängt, umso mehr müssen die Beherrschten über die Mittel verfügen, die Handlungen der Regierenden zu kontestieren, die ihnen schaden“ (Du principat, 166). Um das ganze in diesem Kapitel zu behandelnde Problem in wenigen Worten zu formulieren: Wir brauchen den Staat immer mehr als Garanten und gleichzeitig brauchen wir immer mehr Garantien gegen den Staat. Aber die bisherigen Garantien gegen den Staat wurden vom Staat eliminiert, als er sich in seiner Rolle als obersten, allmächtigen Garanten etablierte. Wir haben den Staat, den wir gebraucht haben, aber wir haben nicht mehr die Garantien gegen den Staat, die wir bräuchten. Und das Schlimmste: Wir haben applaudiert, als einige dieser Garantien verschwanden, wenn wir uns nicht sogar selbst an ihrem Sturz beteiligt haben. Was in der Vergangenheit andere für uns taten – die Staatsmacht zähmen –, müssen wir vielleicht jetzt selbst tun. Unter diesen Umständen genügt es nicht, sich nach angemessenen Institutionen umzusehen, sondern wir sind dazu aufgefordert, nach einer globalen, mehrere Dimensionen – darunter selbstverständlich die institutionelle – integrierende Lösung zu suchen. Wie sich zeigen wird, hat de Jouvenel weit mehr über den progressiven Abbau der Gegenmächte zu sagen, als über die Möglichkeiten und Modalitäten eines Wiederauflebens solcher Mächte. Der, wenn man so will, konkreteste Rat de Jouvenels besteht darin zu sagen, dass wir an der Quelle ansetzen müssen, d. h. bei uns selbst, die uns dem Staat willentlich unterwerfen und viel mehr als in der Vergangenheit von ihm erwarten. In diesem Kapitel werde ich im ersten Teil auf die Thematik des Allgemeinwohls eingehen. Bertrand de Jouvenel bedauert nämlich, dass sich die politische Theorie der letzten Jahrhunderte vornehmlich mit der Frage der entscheidenden Instanz befasst hat und dabei die Frage nach dem richtigen Inhalt der Entscheidung vernachlässigt hat. Von einer substantiellen Legitimität der Entscheidung – es ist die richtige Entscheidung – ist man somit zu einer prozeduralen Legitimität übergegangen – die richtige Entscheidungsprozedur wurde eingehalten bzw. die richtige Instanz hat entschieden. Das die Entscheidung charakterisierende Adjektiv hat sich in ein das Entscheiden charakterisierende Adverb verwandelt. Dadurch wurde der Wille der entscheidenden Instanz aber von allen substantiellen, den Inhalt der Entscheidung betreffenden Schranken befreit, und ein als substantiell definiertes Allgemeinwohl hat aufgehört, gegen die Entscheidungen der Machthaber mobilisiert werden zu können. Der zweite Teil des Kapitels weist nach, welche Rolle Bertrand de Jouvenel der individuellen Motivationsstruktur bzw. dem Charakter der Akteure zuschreibt. Es geht ihm demnach nicht nur darum, ein schönes abstraktes institutionelles Gefüge zu beschreiben, innerhalb dessen die Akteure sozusagen mechanisch nach dem Allgemeinwohl streben. Um das Allgemeinwohl zu verwirklichen, müssen die Menschen, die Re-
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gierenden und die Regierten, es auch verwirklichen wollen. Die Institutionen können diesen Willen unterstützen, ersetzen können sie ihn nicht. Im dritten Teil des Kapitels soll gezeigt werden, wie auch das Recht nicht mehr gegen den souveränen Willen des Staates mobilisiert werden kann. Mit dem Aufkommen des Rechtspositivismus, so de Jouvenel, hat das Recht nämlich aufgehört als etwas gedacht zu werden, das unabhängig vom Staat existiert und das der Staat lediglich schützen und garantieren soll. Das Recht wird vielmehr als ein Instrument betrachtet, dessen sich der Staat bedienen kann, um seine eigenen Zwecke zu verwirklichen. Die Gesetze dienen immer weniger der Gerechtigkeit und immer mehr der Erreichung eines durch den Staat gesetzten Ziels. Aus einer Nomokratie wurde eine Telokratie. Dem Willen des Staates steht somit keine autonome Sphäre des Rechts mehr gegenüber, im Namen derer man die Gesetze als ungerecht kritisieren kann. Vor allem der Übergang vom monarchischen zum demokratischen Absolutismus hat hier zu einer für das Gedeihen der pianta uomo gefährlichen Situation geführt. Der vierte und der fünfte Teil des Kapitels befassen sich mit dem Schicksal der organisierten Gegenmächte, also jener gesellschaftlichen Gruppen oder sogar Institutionen, die sich dem Staat, und besonders der exekutiven Gewalt – mit welcher der Staat oft identifiziert wird –, in der Vergangenheit entgegengesetzt haben. Dass diese Gegenmächte oft nur oder hauptsächlich ihre eigenen Interessen gegen den Staat verteidigt haben, ändert nichts an der Tatsache, dass sie dadurch die Macht des Staates als solchen beschränkt haben und somit, wenn gleich auch nicht absichtlich, auch zu Gunsten derjenigen gehandelt haben, die sich noch nicht durch den Staat bedroht fühlten. Während im vierten Teil der Adel im Fokus unseres Interesses stehen wird, behandelt der fünfte Teil das Parlament. 1.
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Das 1955 erschienene De la souveraineté, das de Jouvenel als Folge des ein Jahrzehnt zuvor erschienenen Du pouvoir betrachtet, beginnt mit der Feststellung, das die politische Theorie die Frage nach der Qualität des Inhalts einer Entscheidung zu Gunsten der Frage nach der zur Entscheidung habilitierten Instanz ersetzt hat (De la souveraineté, 52). Es geht somit nicht mehr so sehr, wenn überhaupt noch, darum, was entschieden wird, als vielmehr oder ausschließ darum, wer entscheidet. Die Begutachtung des Einhaltens der vorgeschriebenen Prozeduren – und dass eine bestimmte Instanz die Entscheidung trifft, ist ein rein prozedurales Element – ersetzt die Begutachtung der Substanz der Entscheidung. In seinem dem Problem der Souveränität gewidmeten Schrift Politische Theologie, hat Carl Schmitt diesen Gedanken paradigmatisch zum Ausdruck gebracht und zum Kernstück seiner Theorie der Souveränität gemacht:
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Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab. Die Entscheidung wird im Augenblick unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert. (Schmitt 1991, 37)
Eine Entscheidung des Souveräns gilt nicht, weil sie richtig ist, sondern sie gilt, und ist in diesem Sinne richtig, weil der Souverän sie getroffen hat. Hat der Souverän eine Entscheidung getroffen, so steht es dem Untertanen nicht mehr zu, sich über ihre Richtigkeit zu erkunden oder diese Richtigkeit gar anzufechten.107 Oder wie Hobbes es im Leviathan formuliert hatte: Auctoritas non veritas facit legem. Insofern es die Frage nach dem guten oder richtigen Inhalt durch die Frage nach dem zuständigen Entscheider ersetzt – wobei natürlich vorausgesetzt wird, dass der zuständige Entscheider nicht per definitionem derjenige ist, der nur gute Entscheidungen trifft108 –, bricht das moderne politische Denken mit der Tradition, da es dieser primär auf den Inhalt der Entscheidung ankam. Die Fürstenspiegel, die sicherlich einer der besten Ausdrücke dieser Tradition sind, hielten die Herrscher stets an, immer nur solche Entscheidungen zu treffen, die gerecht waren und dem Gemeinwohl entsprachen. Der Herrscher musste nicht nur entscheiden, sondern er musste auch und vor allem richtig entscheiden, und gegebenenfalls konnte es besser sein, nicht zu entscheiden, als eine ungerechte Entscheidung zu treffen.109 Mochte es andererseits für die Untertanen auch ratsam sein, einer ungerechten Entscheidung zu folgen – um einen eventuellen Chaoszustand oder, trivialer, eine Bestrafung zu vermeiden –, so gehorchte man einer solchen Entscheidung nicht, weil sie verbindlich war – da von der zuständigen Autorität getroffen –, sondern weil es ratsam war bzw. weil das Gemeinwohl manchmal verlangte, auch einer ungerechten Entscheidung zu gehorchen. Für Bertrand de Jouvenel steht fest, dass wir nicht an der Frage nach der Güte oder Richtigkeit der Entscheidung vorbeikommen, dass also die Frage nach der Genealogie oder der Prozedur nicht ohne Weiteres die Frage nach der Qualität ersetzen kann (De la souveraineté, 67). Der Mensch ist ein Wesen das dazu neigt, Entscheidungen rational zu evaluieren, und bei einer rationalen Evaluierung fragt man nicht nur, wer die Entscheidung getroffen hat oder wie bei der Entscheidung vorgegangen wurde, sondern Die Entscheidung kann natürlich falsch sein bzw. von uns als falsch angesehen werden, aber diese inhaltliche Falschheit bzw. unser Urteil darüber hat nicht die geringste Auswirkung auf ihre Verbindlichkeit. 108 Und die Richtigkeit der Entscheidung müsste hier auch unabhängig von der Identität des Entscheiders definiert werden können. 109 Im Falle der mittelalterlichen Herrscher kommt noch eine andere Dimension ins Spiel, nämlich das individuelle Seelenheil. Eine ungerechte Entscheidung konnte den Herrscher seinen Platz im Paradies kosten, so dass ein in dieser Hinsicht vorsichtiger – und gläubiger – Herrscher lieber den Untergang seines Staates in Kauf nahm, als sein ewiges Seelenheil aufs Spiel zu setzen. 107
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auch, was der Inhalt ist und ob dieser Inhalt auch tatsächlich gut ist. Der Aspekt der rein prozeduralen Rationalität weicht vor dem Aspekt einer substantiellen Rationalität zurück. Das gilt nicht für die Entscheidungen von Privatpersonen, sondern es sollte auch, und vielleicht sogar noch mehr, für die Entscheidungen der politischen Autorität gelten, da diese Entscheidungen in der Regel eine weit größere Menschenmasse betreffen als private Entscheidungen und gewöhnlich auch viel tiefer in das Leben dieser Menschen eingreifen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass wir uns in vielen Fällen an das halten, was eine bestimmte Autorität uns sagt, und dies unabhängig von der Angst vor einer möglichen Bestrafung oder vor dem gesellschaftlichen Chaos im Falle des Ungehorsams. Wie schon Tocqueville bemerkt hatte, verfügen wir nicht über die nötige Zeit, um alles selbst zu überprüfen bzw. um uns die zu einer Überprüfung nötigen Kompetenzen anzueignen. Wenn jemand mich fragt, warum ich ein bestimmtes Arzneimittel nehme, dann ist es durchaus legitim zu antworten: „Weil der Arzt mir es verschrieben hat“. Wir unterwerfen uns also manchmal einer Autorität, ohne weiter über die Richtigkeit des Inhalts dessen nachzudenken, was uns diese Autorität zu tun geraten hat. Wir setzen sozusagen die Richtigkeit voraus, weil wir der betreffenden Autorität Vertrauen schenken, die richtige Entscheidung zu treffen bzw. den richtigen Rat oder die richtige Handlungsanweisung zu geben. Wie de Jouvenel festhält, legen wir immer einen ganz großen Wert auf die Auswahl der Autoritäten, denen wir uns in dieser Hinsicht unterwerfen (De la politique pure, 140). Ich tue das, was mein Arzt mir sagt, weil ich ihm vertraue, und ich vertraue ihm, weil seine Ratschläge mir in der Vergangenheit immer geholfen haben, weil sie also im Sinne meines Privatwohls waren, oder weil mir Menschen, denen ich vertraue, gesagt haben, dass sie mit dem Arzt zufrieden sind. Und, könnte man hier noch hinzufügen, ich vertraue dem Arzt, weil ich a priori keinen Grund habe zu glauben, dass er seine ärztliche Kunst missbrauchen wird. Dass er durch die Ausübung dieser ärztlichen Kunst auch sein eigenes Privatwohl fördert, indem er von mir eine bestimmte Geldsumme verlangt, ist ganz legitim, und man sollte nicht vom Arzt erwarten, dass er nur für das Wohl seiner Patienten arbeitet. Wichtig ist, dass eine Situation hergestellt wird, in welcher jeder durch die Verfolgung seines eigenen Wohls auch das Wohl des anderen verfolgt. Für Bertrand de Jouvenel sollte die Gesellschaft so organisiert werden, dass die Individuen, indem sie ihr eigenes Wohl verfolgen, auch das Allgemeinwohl verfolgen. Indem er sein eigenes Wohl fördert, fördert der Arzt auch das Wohl seiner Patienten, und es gehört seit Hippokrates zum Beruf des Arztes, dass er sich auch das Wohl der Patienten zum Ziel setzt. Es wäre in diesem Kontext allerdings übertrieben zu behaupten, dass der Arzt, indem er das Wohl seiner individuellen Patienten, auch das Allgemeinwohl, also das Wohl der politischen Gemeinschaft, bewusst fördert. Er leistet höchstens indirekt einen bescheidenen, aber nichtsdestoweniger wichtigen Beitrag zu dieser Förderung. Einer Gemeinschaft, in welcher die Menschen gesund sind, geht es in der Regel in vielerlei Hinsicht besser als einer Gemeinschaft, in welcher sie krank
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sind. So etwa auf dem Gebiet der Ökonomie. Aber daraus folgt nicht, dass man die Ärzte als eine gesellschaftliche Gruppe ansieht, die das ökonomische Wohl der Gemeinschaft fördert. Wenn es in der Gesellschaft eine soziale Gruppe gibt, die sich das Allgemeinwohl bewusst zum Ziel ihres Handelns setzen sollte, dann sind es die Politiker, also diejenigen die danach streben, sich an die Spitze der politischen Gemeinschaft zu stellen, um sie, wie das heute der Fall ist, auf ein bestimmtes Ziel hin zu leiten. Wenn die Regierenden andere Menschen in Bewegung setzen – und dieses InBewegung-Setzen ist für de Jouvenel das Merkmal einer im weiten Sinn des Wortes politischen Handlung –, dann muss die Bewegung eine solche sein, die auf das Allgemeinwohl hinführt. Sie darf demnach weder ausschließlich, und ohne Achtung für das Allgemeinwohl, zum Wohl des Bewegten hinführen, sie darf auch nicht bloß das Wohl eines jeden einzelnen Mitglieds der Gesellschaft anstreben110, noch darf sie, was vielleicht sogar noch schlimmer wäre, ausschließlich das Wohl der Beweger bewirken. Doch worin besteht das Gemeinwohl, dieses erstrebenswerte politische Gut, das die sogenannten republikanischen Theorien, aber nicht nur sie, seit der Antike in den Mittelpunkt stellen? Bertrand de Jouvenel beantwortet die Frage im zweiten Teil von De la souveraineté, der dementsprechend Le Bien Politique überschrieben ist. Dort heißt es: Durch einen langsamen Gang ist es uns gelungen, uns das Allgemeinwohl als etwas vorzustellen, das sich in der Kraft des sozialen Bandes, der Wärme der Freundschaft unter Bürgern, der Festigkeit der Versicherungen, die sie sich einander geben befindet, alles dies sind Bedingungen des Guten, das die Menschen sich gegenseitig durch die Existenz der Gesellschaft antun können. Und die wesentliche Funktion der Autorität ist uns als die Vergrößerung des Vertrauens erschienen, die in der Menge herrscht (De la souveraineté, 227)
Das Allgemeinwohl besteht, wenn man es so formulieren kann, in den Bedingungen, unter denen die pianta uomo gedeihen kann. Und diese Pflanze Mensch kann nur dann gedeihen, wenn sie gesicherte Erwartungen hegen kann, wenn sie also ihrer Zukunft mit Vertrauen entgegenblicken kann. An und für sich liegt Bertrand de Jouvenel hier mit Hobbes auf einer Linie, denn auch der Hobbessche Staat soll in den Menschen das Vertrauen herstellen oder aufkommen lassen, dass ein Handeln nach den natürlichen Gesetzen ihnen keine Nachteile bringen wird. Der kooperationswillige Mensch – und ohne Kooperation kann es keinen Wohlstand geben – muss darauf vertrauen können, dass derjenige, mit dem er kooperiert, ihm nicht in den Rücken fällt. Bei Hobbes muss jedes Individuum eine große Gewissheit haben, dass sein Verzicht auf Gewaltanwendung es nicht gegenüber den anderen Individuen benachteiligen wird, dass also kein anderes Individuum ihm Gewalt antun wird. Man kann es auch kantianisch formulieren: Jeder muss darauf vertrauen können, dass die anderen ihn nicht nur als Mittel,
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Für einen aufwendigen Beweis, siehe De la souveraineté, 206–11.
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sondern immer auch als Zweck an sich betrachten und behandeln werden. Das Allgemeinwohl besteht also in einem bestimmten sozialen Klima, einem Klima, das der Pflanze Mensch das Gedeihen ermöglicht. Es besteht in einer bestimmten sozialen Ordnung die es erlaubt, Zukunftspläne zu schmieden und sein Handeln dementsprechend zu organisieren. Bertrand de Jouvenel warnt aber eindringlich vor einem Missverständnis hinsichtlich der Rolle der staatlichen Autoritäten. Es ist nicht die Rolle des Staates, die Freundschaft unter den Bürgern mittels bestimmter Maßnahmen zu fördern, sondern diese Rolle beschränkt sich darauf, Bedingungen zu garantieren, die es dieser Freundschaft erlauben, zu entstehen und zu gedeihen (De la souveraineté, 240). Der Staat soll also bloß ermöglichen bzw. die Bedingungen der Möglichkeit schaffen, und er soll nicht selbst herstellen. Er soll eine Situation schaffen, in welcher die Individuen keine Angst haben, Initiativen zu ergreifen, aber er soll nicht selbst diese Initiativen ergreifen. So soll er mir nicht sagen, mit wem ich und zu welchem Zweck ich kooperieren soll, sondern er muss lediglich sicherstellen, dass ich jedem, mit dem ich kooperieren möchte, a priori vertrauen kann und dass ich auch auf einigermaßen konstante Strukturen zählen kann. Dabei spielt das Recht – auf das wir noch später zurückkommen werden – eine große Rolle. Bertrand de Jouvenel schlägt demnach vor, dass wir uns über die rein prozedurale Sicht der Richtigkeit einer politischen Entscheidung hinwegsetzen und diese Entscheidungen im Lichte ihrer substantiellen Richtigkeit beurteilen. Der Staat hat eigentlich nur das Recht solche Entscheidungen zu treffen, die das Vertrauen der Menschen nicht untergraben und dieses Vertrauen fördern, ein Vertrauen sowohl einander gegenüber als auch gegenüber dem Staat. 2.
Die Motivation der Akteure
Bertrand de Jouvenel setzt nicht, wie andere liberale Denker, alle Karten auf die Güte der Institutionen, so als ob die menschlichen Motivationen keine Rolle zu spielen hätten. Die Tatsache, dass er mit dem Hinweis auf das Allgemeinwohl, das zum Teil aus dem modernen politischen Diskurs verschwunden ist, wieder an die Tradition der Fürstenspiegel anschließt, führt ihn dazu, sich auch mit den Handlungsmotiven und ganz allgemein der Psyche der Regierenden zu befassen. Den im Rahmen der Fürstenspiegeltradition schreibenden Autoren ging es nicht so sehr darum, die Macht des Fürsten durch bestimmte Institutionen zu binden oder einzuschränken, sondern die Bindung oder Einschränkung sollte im Prinzip vom freien Willen des Fürsten selbst ausgehen. Dem Fürsten sollte einsichtig gemacht werden, dass er sich am Allgemeinwohl orientieren sollte. Die Überlegung des Fürsten sollte also nicht sein: „Ich verfolge das Allgemeinwohl, weil ich nicht anders kann“, sondern „Ich verfolge das Allgemeinwohl, weil ich es will und soll“. Diesen Autoren ging es demnach nicht, um noch ein-
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mal eine kantianische Begrifflichkeit zu gebrauchen, um die bloße Legalität der Handlungen der Regierenden, sondern auch und vor allem um deren Moralität. Dies war u. a. deshalb wichtig, weil der irdische Fürst keine ihn einschränkende oder bremsende Macht vorfand, oder zumindest keine Macht, die ihm wirksam widerstehen konnte.111 Wenn man in seinem Handeln nicht mehr von außen gebremst werden kann, dann ist es wichtig, eine interne Bremse zu haben. So meint etwa Martin Moller kurz vor der Wende zum 17. Jahrhundert, der Fürst solle sich um seine Untertanen sorgen, wie Gott sich um die Menschen sorgt (Moller 1997, 268), und er sollte auch wissen, dass mit der Größe der Macht die man hat, gleichzeitig auch die Pflicht zur Tugendhaftigkeit wächst (Moller 1997, 287). Je gefährlicher die Mittel, die man einem Menschen übergibt oder die er besitzt, umso tugendhafter muss dieser Mensch sein, um diese Mittel nicht zu missbrauchen. Das Recht auf Herrschaft wird hier mit der Pflicht zur Tugendhaftigkeit verbunden: Wer die politische Macht bekommt oder eines Tages bekommen wird, muss sich darum bemühen, jene Charaktereigenschaften in sich zu züchten, die ihn dazu bringen werden, seine Macht auf eine gerechte Art und Weise zu gebrauchen.112 Mehr als zwei Jahrhunderte später, greift Benedikt Maria von Werkmeister den Gedanken auf und schreibt: Wenn von der Pflicht des Monarchen die Rede ist, so fordern wir, daß er, wie die Gottheit, nur zum wohl Anderer arbeite, und ueber dem Vortheile des Staates vergesse, daß er selbst ein Mensch ist, der mit den Versuchungen des Eigennutzes und der Bequemlichkeit zu kaempfen hat (Werkmeister 1997, 751)
Vereinfacht ausgedrückt: Das Volk ist nicht da, um dem Fürsten zu dienen, sondern der Fürst ist da, um dem Volk zu dienen. Er soll sich daran gewöhnen, so Friedrich Carl von Moser, „die Pflichten seines Amts den Rechten desselben allzeit vorzuziehen“ (Moser 1997, 639). Der Fürst hat nicht nur das Recht, die Gemeinschaft zu lenken, sondern er hat die mit diesem Recht einhergehende Pflicht, sie gut zu lenken. Der politische Pflichtbegriff beinhaltet immer eine qualitative Dimension, so dass die Vermutung naheliegt, dass mit dem Verschwinden dieses qualitativen Elements, das de Jouvenel bedauert, gleichzeitig auch der Pflichtgedanke selbst verloren geht und letztendlich jeder nur noch sein Recht sieht. Mit einem solchen auf die Pflichten des Herrschers pochenden Diskurs glaubten die post- und vor allem antimachiavellischen Autoren, sich vom Machiavellismus und der mit dem Namen des Florentiners oft in Verbindung gebrachten Staatsräson zu distanzieren. In Wirklichkeit entsprach ihr Diskurs aber demjenigen Machiavellis, für Solange die päpstliche Autorität in Rom stark war, konnte die katholische Kirche als eine Art institutionalisierter Gegenmacht angesehen werden. 112 Was auch erklärt, wieso man einen so großen Wert auf die Erziehung des zukünftigen Fürsten gelegt hat. Er sollte so erzogen werden, dass er seines Amtes würdig wurde. 111
Die Motivation der Akteure
den der Fürst bereit sein musste, sein eigenes Wohl zu opfern, um das Wohl seiner Gemeinschaft zu wahren.113 Machiavelli ist nicht weniger ein Theoretiker der politischen Pflichten als es seine Gegner sind. Der wirkliche Stein des Anstoßes lag damals also, wirft man einen Blick hinter die Polemik, nicht in der Tatsache – die keine war –, dass Machiavelli den Fürsten rät, nur an ihr eigenes Wohl zu denken und das Wohl der politischen Gemeinschaft gänzlich zu ignorieren bzw. nur ihre Rechte zu sehen, nicht aber auch ihre mit diesen Rechten einher gehenden Pflichten. Das allerletzte Kapitel des Principe straft diejenigen der Lüge114, die die Lehre Machiavellis so interpretieren, als ginge es letzterem nur um das private Wohl des Fürsten. Für Machiavelli ist das Machtstreben des Fürsten nur dann legitim, wenn es auch das Gemeinwohl fördert und sich demnach in eine die Zeit überdauernde soziale und politische Konstruktion einschreibt, wenn es also die Bedingungen des „vivere civile“ schafft, wieder herstellt oder aufrecht erhält. Die im letzten Kapitel des Principe beschriebene Situation Italiens ruft wortwörtlich nach einem Fürsten, der ihr ein Ende bereitet und damit das Allgemeinwohl der italienischen Halbinsel fördert. Der Fürst soll Italien um Italiens wegen retten – dass er sich dabei einen ewig in Erinnerung bleibenden Namen machen kann, ist an die Erfüllung seiner sozusagen historischen Pflicht gebunden. Was die Gegner Machiavellis wirklich störte, war die Tatsache, dass der Florentiner dem Fürsten zu verstehen gab, dass er gegebenenfalls auch bereit sein muss, sein jenseitiges Wohl aufzugeben, um die politische Gemeinschaft zu wahren. Insofern war Machiavelli noch radikaler als seine Gegner, da jemand wie Werkmeister nie hätte schreiben können, dass der Fürst „ueber dem Vortheile des Staates vergesse, daß er selbst ein Christ ist, der mit den Versuchungen des ewigen Seelenheils und der Wonnen des Paradieses zu kaempfen hat“ (Kursiv gedruckte Wörter sind meine Ersetzungen im ursprünglichen Zitat – N. C.). Wo Machiavelli sagt, dass die Bewahrung des Allgemeinwohls manchmal verlangt, göttliches Recht zu brechen, glauben seine Gegner, dass die Bewahrung des Allgemeinwohls niemals ein solches Opfer fordert. Für die politische Philosophie des 21. Jahrhunderts steht nicht mehr, wie John Rawls es gleich zu Beginn seiner Theory of Justice anmerkt, die Gerechtigkeit der Menschen im Vordergrund, sondern die Gerechtigkeit der Institutionen. Die Gerechtigkeit um die es geht, ist also eine Tugend der Institutionen und nicht der Menschen. Was bei Platon noch zusammen gehörte, wird hier getrennt, und wenn die Institutionen gerecht organisiert sind, kann man die Frage nach einer gerechten Organisation der menschlichen Seele vergessen. Die gerechten Spielregeln machen die Gerechtigkeit des Spielers überflüssig. Siehe hierzu Campagna 2003 und 2012. Es war oft kein bloßer Irrtum, sondern eine bewusste Verfälschung der Thesen Machiavellis. In diesem Sinne ist es auch falsch pauschal zu behaupten, Machiavelli habe mit der Fürstenspiegeltradition gebrochen. Er hat vielmehr die bislang herrschende – ob wirkliche oder scheinbare, sei dahin gestellt – Einheitlichkeit der Tradition gebrochen. Seit Machiavelli gibt es nicht mehr nur eine, sondern mindestens zwei solcher Traditionen. 113 114
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Schon gut 15 Jahre bevor Rawls diesen Schritt von der Gerechtigkeit des Menschen zu der Gerechtigkeit der Institutionen als Ausgangspunkt seiner Theorie nahm, hatte Bertrand de Jouvenel geschrieben: Anstatt zu denken, dass sich die sozialen Beziehungen durch die Gerechtigkeit der Menschen verbessern, glaubt man im Gegenteil, dass die Einrichtung der Gerechtigkeit in den Institutionen eine Verbesserung in den Menschen erzeugen wird. Diese Umkehrung gehört der modernen Denkweise an, die das Moralische durch die Umstände bestimmen lässt (De la souveraineté, 252)
Bertrand de Jouvenel widerspricht allerdings entschieden dieser von ihm als modern bezeichneten Denkweise: Der Glaube, dass eine gerechte Autorität diejenige ist, die eine gerechte Ordnung einführt, ist in allen Hinsichten der Weg zum gefährlichsten Wahnsinn: Die Autorität ist gerecht, wenn sie das Beispiel der Gerechtigkeit in allen ihren eigenen Handlungen gibt; was schon ziemlich schwierig ist. Die Illusionen die man hegt münden logischer Weise in die Absurdität einer Gesellschaft, in welcher alles gerecht wäre, ohne dass irgendjemand es zu sein bräuchte (De la souveraineté, 284)
Es kann also laut de Jouvenel keine gerechte Gesellschaft ohne gerechte Menschen geben, so dass man bei der Frage nach der Zähmung der politischen Macht nicht bei den Institutionen stehen bleiben kann, sondern auch auf die Psyche des Menschen, und in erster Linie der Regierenden, achten muss. So knüpft de Jouvenel an die vormoderne Fürstenspiegeltradition an, wenn er schreibt, dass der Souverän sich bei den politischen Handlungen von seinen rein eigenen Interessen befreien muss, da sonst die Gefahr eines egoistischen Gebrauchs der politischen Macht besteht, der auf den „despotischen Instinkt“ (De la souveraineté, 187) zurückführbar ist. Es soll zu einer „Entpartikularisierung des souveränen Willens“ kommen (De la souveraineté, 186), sprich der souveräne Wille soll nicht mehr der Wille eines bloß durch seine partikularen Interessen geleiteten Individuums sein, sondern ein Wille, der sich mit dem Allgemeinwohl identifiziert. Man kann auch sagen, dass der Wille eigentlich nur solange souverän ist bzw. das Recht hat, sich als souverän auszugeben, wie er das Allgemeinwohl will. Die Souveränität ist somit kein sich selbst rechtfertigendes Faktum, noch kann sie sich durch ihren Ursprung rechtfertigen, sondern sie ist an ein substantielles Element gekoppelt. Bertrand de Jouvenel verdeutlicht dies durch einen Rückgriff auf den Fall der absoluten Monarchie. Der als absolut und souverän gedachte Wille war hier nicht der Wille des Menschen, sondern der Wille des Königs, und der partikulare Mensch sollte sich anstrengen, seinen partikularen Willen dem auf das Allgemeinwohl gerichteten Willen des Königs anzugleichen (De la souveraineté, 344). Das auf dem Königsthron sitzende und zum König gekrönte Individuum sollte wollen, was ein König zu wollen
Die Motivation der Akteure
hat, nämlich das Allgemeinwohl seines Königreichs.115 Der König hatte demnach nicht nur zwei Körper, wie es bei Kantorowicz heißt116, sondern auch zwei Willen: Der Wille des empirischen Individuums und der Wille des Königs. Dabei unterscheidet de Jouvenel zwei Dimensionen, und zwar die des Wissens und die des Wollens. Es genügt nämlich weder, dass der Regierende das Allgemeinwohl kennt, noch, dass er es will. Er muss es zugleich kennen und wollen. Was das Wissen anbelangt, so hatten die Könige stets Berater an ihrer Seite, die nicht nur das Recht hatten, sie zu beraten, sondern deren Pflicht es war dem König zu sagen, welche Entscheidungen dem Allgemeinwohl entsprachen. Sie sollten das die Krone tragende Individuum wissen lassen, was es als König zu wollen hatte bzw. sollten sie dem König die nötigen Informationen liefern, damit er die richtigen Entscheidungen treffen konnte.117 Sie waren keine Rivalen des Königs, die seine Macht schwächten oder gefährdeten, sondern sie halfen ihm, die richtige Entscheidung zu treffen und damit auch seine Macht zu festigen oder zu bewahren. Die großen politischen Fehler, die oft dem Herrscher die Macht und dem Land das Allgemeinwohl gekostet haben, finden ihren Ursprung in einer falschen Einschätzung des Allgemeinwohls bzw. dessen, was das Allgemeinwohl tatsächlich verlangt (Du pouvoir, 212). Je absoluter die Macht, so de Jouvenel, umso weniger willkürlich darf sie sein (De la souveraineté, 181), und sie ist umso weniger willkürlich, als sie sich an der Vernunft orientiert. Die ehrlichen Berater, also diejenigen, die dem Herrscher die Lage des Landes wirklichkeitsgetreu vorstellen und ihm mögliche Entwicklungspfade dieser Lage aufzeigen, erlauben es ihm, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Ob er sie allerdings auch tatsächlich trifft oder ob er die Informationen ignoriert, die ihm seine Berater geben, hängt von seinem persönlichen Willen ab. Was de Jouvenel hier sagt gilt nicht nur für den absoluten Monarchen, sondern auch für den demokratischen Souverän, also für das Volk bzw. für diejenigen, die vom Volk gewählt werden und dann in seinem Namen herrschen und Gesetze machen. Auch wenn er den Gedanken eines einheitlichen demokratischen Souveräns – die Volkssouveränität, wie man sie zur Zeit der Französischen Revolution verstand – verwirft, weist de Jouvenel darauf hin, dass auch ein solches souveränes Volk beraten werden muss, So schreibt Ludwig XVI. – aber der Satz entspricht auch dem Selbstverständnis seiner Vorgänger, zumindest dem von ihnen öffentlich verkündeten Selbstverständnis: „Die Freiheit des Souveräns unterscheidet sich nicht von derjenigen seiner Völker: Es ist ihm nicht gestattet, alles zu wollen, was er kann; er ist, wie sie, verpflichtet, nur dass zu wollen, was er soll“ (zitiert in Boissy 1949, 328). Der Souverän ist also nicht weniger gebunden als der Untertan. 116 Kantorowicz hält in seinem bekannten Buch fest, dass der Angriff auf den natürlichen Leib des Königs zugleich als ein Angriff auf den politischen Körper angesehen wurde, dass also die rein biologische Existenz des Individuums nicht unabhängig von der politischen Existenz des Körpers gedacht wurde (Kantorowicz 1994, 39). Im Falle des Willens sind die Dinge nicht so klar. Auch wenn ein Widerstand ausgeschlossen wird, so kommt eine Kritik des Willens des Individuums nicht einer Kritik des Willens des Königs gleich. 117 Man kann hier zwei Gesichtspunkte unterscheiden, nämlich einerseits den des Wissens um die Gerechtigkeit, und andererseits den des Wissens um die Fakten. 115
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wenn es aufgeklärte und richtige Entscheidungen treffen soll (De la souveraineté, 182). Das Volk ist nicht von sich aus allwissend und es kann, ebenso wie der Monarch, irren. Diese Irrtumsmöglichkeit der großen Masse wächst mit dem Fortschritt, und Bertrand de Jouvenel hat wenig Vertrauen in die Tugend der großen Masse: In dem Maße, wie der Fortschritt den Hedonismus und den moralischen Relativismus entwickelt, und die individuelle Freiheit als das Recht verstanden wird, seinen Begierden zu gehorchen, kann die Gesellschaft sich nur durch eine sehr starke Macht erhalten. Die Idee politischer Freiheit ist mit ganz anderen Tendenzen verbunden (De la souveraineté, 404)
Die politische Freiheit ist nicht ohne Tugend zu haben. Im klassischen, vormodernen politischen Denken beruhte das System der Freiheit „auf dem Postulat, dass die Menschen sich ihrer Freiheit auf eine bestimmte Weise bedienen würden“ (Du pouvoir, 522). „Auf eine bestimmte Weise“ heißt „auf eine richtige Weise“, und das wiederum heißt „auf eine verantwortliche Weise“, was seinerseits heißt „auf eine dem Allgemeinwohl entsprechende Weise“. Bevor man an die mit der politischen Freiheit verbundenen Rechte dachte, war man sich der mit ihr verbundenen Pflichten bewusst. Der Souverän hatte nicht nur das Recht zu entscheiden, sondern er hatte auch die Pflicht, richtig zu entscheiden, und diese Pflicht schränkte sein Recht ein. Wenn aber das Pflichtbewusstsein der Tyrannei der Begierden weicht, und wenn jeder die Freiheit mit dem Hobbesschen natürlichen Recht identifiziert, ist es nur normal, dass sich, wie Hobbes es erahnt hatte und wie de Jouvenel es formuliert, „eine sehr starke Macht“ etabliert, da nur sie die Willkür der Individuen in ihre Schranken verweisen kann, um somit ein geordnetes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Wer möchte, dass man ihm gehorcht, kann diesen Gehorsam dadurch bekommen, dass er die Begierden der Menschen anspricht. Dabei unterwirft er sich zwar in einem bestimmten Sinn diesen Begierden, erlangt aber gerade dadurch Macht über die diesen Begierden unterworfenen Menschen. Nachdem er festgestellt hat, dass in den Vereinigten Staaten das Budget für die Nationale Erziehung sich auf 2,873 Milliarden Dollar und das für die Werbung vorgesehene Budget der großen kapitalistischen Unternehmen sich auf 1,782 Milliarden Dollar beläuft, stellt de Jouvenel fest: [D]ie Geister werden zu drei Fünftel durch das modelliert, was man für ihr Wohl hält, und zu zwei Fünftel zum materiellen Vorteil der kapitalistischen Unternehmen (La crise du capitalisme américain, 94).
Hier kann man von einem sanften Despotismus sprechen, wie Tocqueville ihn schon in De la démocratie en Amérique vorausgesehen hatte, mit dem Unterschied allerdings, dass Tocqueville an den Despotismus des Staates und nicht der Großunternehmen gedacht hatte – diesen sah er vielmehr in einer sehr entfernten Zukunft und dachte ihn nur unter seiner grausamen Gestalt: Ausbeutung der Produzenten, nicht Manipulation der Konsumenten.
Das Recht
Würden die Menschen sich nicht durch ihre materiellen Begierden leiten lassen, dann wäre es nicht so einfach, sie zu manipulieren. Insofern müssen die Menschen sich von der Tyrannei ihrer Begierden befreien, um nicht den Mächten unterworfen zu werden, die diese Begierden kontrollieren und sich dadurch selbst vergrößern. Der Kampf gegen die Ausbreitung der Macht muss also in den Menschen selbst anfangen. Die einen müssen ihre eigene Gier nach Ausbeutung der Macht kontrollieren und aufhören, in der politischen Macht ein Beuteobjekt zu sehen, dessen sie sich dann zur Befriedigung ihrer eigenen Begierden bedienen können. Die anderen, und das ist die große Masse, müssen lernen, nicht alles von der politischen Macht, also von den staatlichen Instanzen zu erwarten und die Funktionen dieser Instanzen ad infinitum zu multiplizieren. Indem er den Hedonismus als einen der Faktoren betrachtet, die zu einer Vergrößerung der Macht beitragen, gibt de Jouvenel also klar zu verstehen, dass der Kampf gegen den Missbrauch der Macht ein Kampf ist, den zuerst jeder gegen sich selbst führen muss. Der Widerstand gegen bestimmte soziale Tendenzen kann keinen anderen Ursprung haben als der Wille der Individuen. Das Beispiel Deutschlands hat gezeigt, dass Institutionen allein nicht genügen, um den Sieg des Faschismus zu verhindern. In diesem Zusammenhang heißt es bei Bertrand de Jouvenel: Die Wahrheit ist, dass [der Faschismus] nicht möglich gewesen wäre, wenn es nicht in den von ihm betroffenen Ländern ein allgemeines Abgleiten der Gefühle, der Meinungen (croyances) und der Ideen gegeben hätte, ein Aufgeben der Sitten, die die Demokratie möglich machen (Quelle Europe?, 50)
Die liberale Demokratie lebt nicht allein von Institutionen, sondern auch von den Sitten, eine Einsicht, die de Jouvenel mit Tocqueville teilt, genauso wie die Einsicht betreffend die Wichtigkeit des Rechts bzw. einer bestimmten Auffassung des Rechts. 3.
Das Recht
Wie sehr er auch auf die Notwendigkeit der Tugend und der Sitten hinweist, so ist sich Bertrand de Jouvenel ganz klar der Tatsache bewusst, dass diese rein psychologischen Schranken nicht genügen. Genauso wie bei Hobbes die Macht der Individuen durch die Präsenz eines Schwertes, das man gegebenenfalls zu spüren bekommt, in Schach gehalten werden muss, muss auch bei de Jouvenel ein spürbares Element gegeben sein, wenn man verhindern will, dass ein Organismus sich selbst zerstört: „[D]ie Einrichtung spürbarer Schranken ist die Bedingung für das gute Funktionieren und das Bewahren eines jeden Organismus“ (De la souveraineté, 355). Er betont aber zugleich, dass solche Schranken lediglich ein notwendiges, und nicht auch schon ein hinreichendes Element sind. Eine dieser Schranken ist das sich in den Gesetzen ausdrückende Recht, und in Du pouvoir bezeichnet Bertrand de Jouvenel auch die Herrschaft der Gesetze als den an-
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zustrebenden Idealzustand. Auch wenn dieser Zustand nie in seiner Vollkommenheit verwirklicht werden kann, so sollte er doch für uns „der Mythos [sein], an dem man sich inspirieren soll“ (Du pouvoir, 583).118 Dieser Zustand sollte also für uns eine, mit Kant gesprochen, regulative Funktion haben, was u. a. bedeutet, dass wir uns niemals mit einem gegebenen Zustand zufriedengeben sollten, da jeder gegebene Zustand verbesserungsfähig ist. Den Gedanken einer Herrschaft des Gesetzes finden wir u. a. schon bei Platon. In der Politeia hatte Platon den Philosophenkönig noch als lex viva über die Gemeinschaft etabliert, der sich nicht an geschriebene Gesetze zu halten hatte, und solcher Gesetze auch gar nicht bedurfte, da er die Idee der Gerechtigkeit kannte und diese auch in der ihm anvertrauten Gemeinschaft verwirklichen wollte. In den Nomoi wies Platon dann aber auf die Unwahrscheinlichkeit hin, einen geeigneten Philosophenkönig zu finden, und er zog daraus die Konsequenz, dass in der politischen Gemeinschaft das geschriebene Gesetz herrschen sollte, dem alle Menschen, auch die politischen Amtsträger, unterworfen sein mussten. Alle sind gleichermaßen Diener des Gesetzes, und das Gesetz dient seinerseits der Gerechtigkeit. Dieser Gedanke wird im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende nach Platon einen großen Einfluss auf das politische Denken haben und er wird vor allem von denjenigen Denkern aufgegriffen werden, die die menschliche Freiheit, und besonders die Freiheit des individuellen Menschen, in den Mittelpunkt stellen. Für sie bedeutet Freiheit nämlich, keinem fremden menschlichen Willen unterworfen zu sein. Allerdings bedeutet sie auch, nicht seinen eigenen Begierden unterworfen zu sein. Die Unterwerfung unter die tyrannische Herrschaft der eigenen Begierden ist ebenso schlimm wie die Unterwerfung unter die tyrannischen Begierden des Herrschers. Die moralische Freiheit bedeutet, nur der (eigenen) Vernunft unterworfen zu sein119, und die politische Freiheit bedeutet, nur den die Vernunft zum Ausdruck bringenden Gesetzen unterworfen zu sein. Montesquieu hat es ganz deutlich in De l’esprit des lois formuliert: Es stimmt, dass in den Demokratien das Volk das zu tun scheint, was es will; aber die politische Freiheit besteht nicht darin, das zu tun, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft, in welcher es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen soll, und nicht dazu gezwungen zu werden, das zu tun, was man nicht wollen soll. (Montesquieu 1951, 395)
Wenn De Jouvenel die Mythen als „Ungeheuer des Geistes“ (Quelle Europe?, 114) bezeichnet, deren Souveränität Georges Sorel vorausgesagt hatte – Sorel, der selbst den Mythos des Generalstreiks propagiert hat – und die man nur mittels der Kraft eines Herkules bekämpfen kann, so meint er damit Mythen, von denen ein konstitutiver Gebrauch gemacht wird. Dass er sie als „grobe Mythen“ bezeichnet zeigt, dass er sie von einer anderen, legitimen Kategorie von Mythen unterscheiden will (Quelle Europe?, 114). Zu diesen letzteren Mythen gehört der Mythos des Rechtsstaats. 119 Dabei ging man davon aus, dass die Vernunft immer nur mit einer Stimme sprach. Wer seiner eigenen Vernunft folgte, folgte damit automatisch der Vernunft schlechthin. 118
Das Recht
Die Existenz von Gesetzen an die sich jeder halten muss und an denen auch so gut wie jeder sich hält, erlaubt es jedem Menschen vorauszuplanen und damit jene Gewissheit zu erhalten, die ein Teil, wenn nicht der zentrale Teil des Allgemeinwohls ist. Im Gegensatz zur menschlichen Willkür ist das Gesetz keinen Launen unterworfen und es verlangt immer dasselbe von uns, so dass wir unsere Handlungen rational planen und eigene Initiativen ergreifen können. Das Gesetz, wenn es gerecht ist, schreibt vor, was man wollen soll, und es bezieht seinen Verbindlichkeitscharakter auch nur aus diesem Bezug zur Gerechtigkeit. Wo Rousseau kurze Zeit später sagen wird, dass der Mensch dazu gezwungen werden kann, frei zu sein, indem man ihn dazu zwingt, sich dem von ihm selbst gewollten Gesetz zu unterwerfen, ist Montesquieu vorsichtiger und behauptet lediglich, dass der Mensch nicht dazu gezwungen werden kann, unfrei zu sein, indem man ihn dazu zwingt etwas zu tun, was nicht möglicher Inhalt eines gerechten Gesetzes sein kann und nur der Willkür eines Menschen entstammt. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der politischen Autorität und den Gesetzen. Bis ins späte Mittelalter wurde der Herrscher in erster Linie als Bewahrer der Gesetze und als Richter gedacht. Die Gesetze waren gegeben – durch Gott, die Natur oder die Tradition bzw. die Gewohnheiten – und der Herrscher musste sich an sie halten. Er stand nicht über den Gesetzen, sondern sie standen über ihm. Und wo ein Rechtskonflikt auftrat, musste er zwischen den Kontrahenten richten und ein gerechtes Urteil treffen.120 Man erwartete vom Herrscher nicht bloß, dass er eine Entscheidung trifft und somit den Konflikt beendet, sondern seine Pflicht war es, die gerechte Entscheidung zu treffen. Die Gerechtigkeit war das die politische Gesellschaft zusammen haltende Band und sie war zugleich auch ein Wert, dem jeder, und in erster Linie der Herrscher, zu dienen hatte. Wichtiger noch als die Macht des Herrschers, war seine Gerechtigkeit. Oder noch besser: Die Gerechtigkeit des Herrscher war das einzige legitime Fundament seiner Macht, und sie war auch der Wert, dem allein die Macht zu dienen hatte. Der mittelalterliche Fürst war nicht jemand, der mittels seiner Macht eine von seiner Willkür definierte gesetzliche Ordnung herbeizuführen hatte, sondern seine Macht sollte ganz im Dienst einer unabhängig von ihm existierenden gerechten Ordnung stehen. Und wenn er schon in die existierende Ordnung intervenierte, so war es höchstens nur, um die gerechte Ordnung wieder herzustellen. Der mittelalterliche König war also ein Bewahrer, kein Erneuerer.121 Die Vormoderne und die Moderne haben in dieser Hinsicht eine andere Beziehung zur Zeit, und vor allem zur Vergangenheit und zu den Spuren oder Überbleibsel der Vergangenheit in der Gegenwart. In seiner Démocratie en Amérique schrieb Tocqueville von der Demokratie, die bei ihm zugleich auch den Schritt in die Moderne bedeutete:
In der französischen politischen Ikonographie wird hier oft auf das Bild Ludwig des Heiligen hingewiesen, der unter einer Eiche sitzt und Recht spricht. 121 Siehe hierzu die klassische Studie von Fritz Kern (Kern 1992). 120
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So lässt die Demokratie jeden nicht nur seine Ahnen vergessen, sie verbirgt ihm auch seine Nachkommen und trennt ihn von seinen Zeitgenossen; sie führt ihn ständig auf sich selbst zurück und droht ihn schließlich ganz und gar in der Einsamkeit seines eigenen Herzens einzuschließen (Tocqueville 1976, 587)
Das Vergessen der Ahnen ist zugleich ein Vergessen der Vergangenheit bzw. ein Symptom dieses Vergessens. Damit ist es gleichzeitig ein Vergessen der sich aus der Vergangenheit ergebenden Bindungen. Der moderne Mensch gleicht jenem Menschen, von dem Hobbes spricht, wenn er den Naturzustand beschreibt. Wie frisch aus der Erde gesprossene Pilze leben die Menschen in einem durch keine vorgegebene normative Ordnung bestimmten Raum und haben somit keine Verpflichtungen einander gegenüber. Es ist allerdings so, dass dieser Raum normativ geordnet werden muss, wenn ein glückliches Leben, nach dem die Menschen streben, möglich sein soll. Und auch wenn bei Hobbes, wie später bei Kant, das Heraustreten aus dem Naturzustand als Gegenstand einer Forderung der Vernunft gedeutet wird, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass es sich im Falle Kants um einen kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft und bei Hobbes um einen hypothetischen Imperativ der kalkulierenden Vernunft – also eigentlich des Verstandes – handelt. Auf rechtlicher Ebene kennzeichnet sich die Moderne122 dadurch, dass sie das Gesetz als Gesetztes und damit auch implizit als Setzbares – und damit auch prinzipiell Absetzbares – begreift. Denn wenn jemand in der Vergangenheit das Gesetz gesetzt hat, warum sollte man dann nicht neue Gesetze setzen dürfen – was u. a. bedeutet, dass man das alte Gesetz außer Kraft setzt und es durch ein neues ersetzt oder gegebenenfalls auch nicht ersetzt? Welche Autorität hat die Vergangenheit über die Gegenwart? Inwiefern ist die Gegenwart an die Vergangenheit gebunden? Und mag sie auch kausal an sie gebunden sein – was jetzt geschieht ist kausal bedingt durch das, was in der Vergangenheit geschah –, so folgt daraus noch keine normative Bindung. Als Thomas Jefferson sich die eben erwähnten Fragen stellte, kam er in einem 1789 an James Madison gerichteten Brief zur Schlussfolgerung, dass jedes Gesetz nach 19 Jahren – die Dauer einer Generation – automatisch seine Gültigkeit verlieren sollte123, denn „by the law of nature, one generation is to another as one independant nation to another“ ( Jefferson 1999, 596). Die Erde, so heißt es ebenfalls in diesem Brief,
Es sollte hier gesagt werden, dass die Moderne kein einheitliches Phänomen ist. Innerhalb der Moderne gibt es radikalere und gemäßigtere Strömungen. Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Strömungen gibt, dann besteht sie höchstens in einem a priori gegebenen Misstrauen gegenüber der Tradition. Radikale Strömungen verwandeln dieses Misstrauen in eine Feindschaft, wohingegen gemäßigtere Strömungen es zum Anlass eines kritischen Auseinandersetzens nehmen und nicht von vorne herein ausschließen, dass man Elemente der Tradition retten sollte. In seinen Schriften zur Religion offenbart sich Jürgen Habermas als der Vertreter einer solchen gemäßigteren Strömung. 123 Jefferson weist ebenfalls darauf hin, dass keine Generation Schulden eingehen kann, deren Rückbezahlung sich über die Lebensdauer dieser Generation hinaus erstreckt. 122
Das Recht
gehört den Lebenden. Die Entscheidungen der Toten sollen also keine normativen Bindungen für die Lebenden schaffen. Aus Jeffersons Formulierung geht hervor, dass er im Raum des Normativen nicht nur Platz für zwei mögliche Optionen sieht – die durch die Toten und die durch die Lebenden gesetzten Gesetze –, sondern dass bei ihm immer noch der Gedanke von Naturgesetzen weiterlebt, von Gesetzen also, die jedem menschlichen Willkürakt entzogen sind und die eine überzeitliche Geltung beanspruchen. Da diese Gesetze nicht von den Menschen gesetzt wurden, können sie auch nicht von den Menschen außer Kraft oder abgeschafft werden. Die „law of nature“ bedarf nicht einer neuen Zustimmung durch jede Generation, sondern sie steht über den Generationen und schafft einen normativen Rahmen, an den sich jede Generation zu halten hat und der auch, so lässt sich sagen, die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit einer jeden Generation schafft. Demnach ist, folgt man Jeffersons Überlegungen, keine Generation dazu berechtigt zu bestimmen, dass ihre Gesetze für alle zukünftigen Generationen verbindlich sein werden. Und wenn in einer geschriebenen, dem Votum des Verfassungsgebers vorgelegten und von ihm abgestimmten Verfassung festgehalten wird, dass keine Generation eine andere gesetzlich binden kann, dann gilt diese Verfassungsnorm nicht, immer noch im Rahmen des Jeffersonschen Denkmodells bleibend, weil der Verfassungsgeber dies so wollte, sondern weil dem so ist. Der Verfassungsgeber hat keine Norm gesetzt, sondern er hat lediglich eine schon unabhängig von ihm existierende Norm behauptet oder bekräftigt oder an sie erinnert, usw.124 Was ist der Ursprung einer solchen Norm und woher bezieht sie ihre Verbindlichkeit? In Du pouvoir erklärt Bertrand de Jouvenel, dass man die das soziale und das natürliche Leben bestimmenden Gesetze in der fernen Vergangenheit oft als das Produkt eines höheren Wesens betrachtet hat (Du pouvoir, 589). Mit der Zeit verwandelt sich dieses höhere Wesen in den Geschichten, die man erzählt, in einen Menschen, zumindest insofern es um die das soziale Leben betreffenden Gesetze geht. Man erzählt sich dann die „falsche Geschichte“ (Du pouvoir, 590) eines ursprünglichen menschlichen Gesetzgebers, der am Anfang des politischen Gemeinwesens Gesetze gegeben hat. Mit dem Eintritt in die Moderne hört aber der Respekt für das Altehrwürdige auf und die bis dahin bestehenden Gesetze verlieren ihre Autorität. Sie erscheinen nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern als etwas von einem Menschen Gemachtes: „Ein Mensch hat die soziale Organisation diktiert, andere können sie also auf anderen Prinzipien neu aufbauen“ (Du pouvoir, 590). Die alten Gesetze weichen somit den neuen, die ihrerseits wiederum als veränderbar gedacht werden. Dies ist einer der zentralen Unterschiede zwischen der amerikanischen und der französischen Revolution. Die Amerikaner dachten sich als der Souveränität Gottes untergeordnet und sie beanspruchten 1776 nichts anderes, als daran zu erinnern, mit welchen unveräußerlichen Rechten Gott den Menschen ausgestattet hatte – „life, liberty and the pursuit of happiness“. Die französische Rechteerklärung ließ die Grundrechte sozusagen mit dem Willensakt des diese Rechte proklamierenden Souveräns entstehen. Und sie musste dies, da sie keine Autorität über derjenigen der souveränen Nation anerkannte. 124
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Schon früher in seinen Überlegungen hatte de Jouvenel festgehalten, dass, sobald die Gesetze als veränderbar gedacht werden, jeder versuchen wird, sich die gesetzgebende Macht anzueignen, um auf diese Weise das Instrument zu beherrschen, mittels dessen er die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen verändern kann (Du pouvoir, 396). Unter diesen Umständen hört aber das Recht auf, die Funktion einer Gegenmacht ausüben zu können und es wird zu einem Machtinstrument. Der Übergang von einer rationalistischen zu einer voluntaristischen Auffassung des Gesetzes markiert den Übergang von einer Epoche in welcher die Gesetze die Freiheit schützten, zu einer Epoche, in welcher die Gesetze die Freiheit bedrohen können. Für Bertrand de Jouvenel liegt die Lösung des Problems der Bewahrung der Freiheit nicht darin, dass man bei der Rechtsschöpfung den Willen des Monarchen durch den Willen des souveränen Volkes bzw. der Vertreter des souveränen Volkes ersetzt, wie man es 1789 gedacht hatte, sondern diese Lösung kann nur in der Anerkennung einer Rechtsordnung bestehen, die dem Willen aller Akteure vorausgeht und ihn bindet. Das Recht kann die Freiheit des Individuums nur dann schützen, wenn man es vor der Willkür der Mächtigen schützt und nicht einfach als eine leere Hülse sieht, die jeder mit dem Inhalt füllen kann, der seinen Interessen am meisten entspricht, und mag es sich bei diesen Interessen auch um die Interessen der Mehrheit handeln. In diesem Zusammenhang warnt de Jouvenel allerdings vor zwei Extremen, die er als Legalismus und Voluntarismus bezeichnet. Während letzterer davon ausgeht, dass die Menschen immer alles können und dürfen, sofern sie es nur wollen – was zu utopischen Entwürfen führt, die, weil sie auf Hindernisse stoßen, diese mit Gewalt aus dem Weg zu räumen suchen –, geht der Legalismus davon aus, dass alles Bestehende bestimmten Gesetzen unterworfen ist. De Jouvenel gesteht dieser These Richtigkeit zu, wirft ihr bzw. ihrer Anwendung aber vor, die sozialen Gesetze nach dem Modell der natürlichen Gesetze zu denken, wodurch die Dimension der menschlichen Freiheit geleugnet wird. Der Voluntarismus, so de Jouvenel, führt zum Vulgärsozialismus, wohingegen der Legalismus in den Vulgärliberalismus mündet (Du pouvoir, 591). De Jouvenel geht es darum, dem Recht eine bestimmte Transzendenz gegenüber den vom Gesetzgeber erlassenen Gesetzen zu geben, und er ist dabei überzeugt, dass auch noch in der Moderne „ein diffuses Gefühl der Transzendenz des Rechts in den Geistern herumspukt (hante)“, so dass die Hoffnung besteht, die Unabhängigkeit des Rechts wieder herzustellen (Du pouvoir, 490). Mit der Unabhängigkeit des Rechts meint de Jouvenel hier seine Unabhängigkeit vom Willen des Gesetzgebers, mag es sich bei diesem auch um den demokratischen Souverän, also um die souveräne Nation handeln. Die Trennung der Gewalten, könnte man sagen, erhält ihren eigentlichen Sinn nur vor dem Hintergrund der Trennung von Recht und Gesetz. Wo das durch den Willen gesetzte Gesetz das Recht definiert, hat die Gesellschaft keinen normativen oder axiologischen Bezugspunkt mehr, um sich dem Gesetzgeber zu widersetzen. Und dass man manchmal berechtigt ist, sich einem Gesetzgeber zu widersetzen, der
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im Namen der souveränen Nation Gesetze macht, ist für de Jouvenel eine Evidenz. Die mit dem rapiden Wechsel der Lebensbedingungen gegebene Gesetzesinflation kommentierend schreibt er: Sagen wir es laut, die Flut der modernen Gesetze schafft kein Recht. Sie sind, diese Gesetze, die Übersetzung des Drucks der Interessen, der Fantasie, der Meinungen, der Gewalt, der Leidenschaften (Du pouvoir, 498)
Die Gesetze stehen nicht im Dienste der Verwirklichung des Rechts, sondern werden von den Menschen instrumentalisiert. Soll das Recht nicht als vollkommen autonom vom Menschen und seinen Bedürfnissen und Interessen gedacht werden, so sollte es nicht mit den Bedürfnissen und Interessen bestimmter Menschen gleichgesetzt werden. Das Recht transzendiert alles Partikulare, wohingegen die von de Jouvenel angeprangerten Gesetze dem Partikularen den Status des alle Verbindlichen geben wollen. Es ist nicht verwunderlich, dass de Jouvenel mit Sympathie nach den Vereinigten Staaten von Amerika blickt, wo seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts und dem berühmten Madison vs. Marbury Fall die Richter sich als Wächter über die Verfassung etabliert haben und wo mit dem Supreme Court eine Institution geschaffen wurde, die sich dem Gesetzgeber widersetzen kann, indem sie seine Gesetze für verfassungswidrig erklärt. In den Richtern sieht er die Bewahrer des Rechts. Dabei ist er sich des Vorwurfs bewusst, dem man dem amerikanischen System aus demokratietheoretischer Sicht machen kann, nämlich dass in Amerika die Meinung von 9 Richtern über der Meinung aller steht. Seine Antwort lautet, dass es hier gerade nicht um Meinungen geht: Man hat einerseits eine momentane Emotion, die dank immer perfekterer Agitationsmethoden durch eine Regierung oder eine Partei mit einer großen Leidenschaft geschaffen werden können. Und auf der anderen Seite rechtliche Wahrheiten, deren Respekt sich absolut aufdrängt. Ohne Zweifel diskreditiert der geringste faux-pas auf eine schlimme Weise die Hüter dieser Wahrheiten. Aber deswegen verlieren sie noch lange nicht ihren Notwendigkeitscharakter (Du pouvoir, 509)
Vor über 70 Jahren geschrieben sind diese Zeilen aktueller denn je, stützen sich doch die sogenannten populistischen Parteien auf „momentane Emotion[en]“, um bestimmte rechtliche oder sogar moralische Wahrheiten zu stützen, Wahrheiten, die unser demokratisch-liberales Selbstverständnis ausdrücken und für die uns viele Menschen die in Unrechtsregimes leben beneiden. Es obliegt den Richtern nicht, politische Entscheidungen zu treffen, aber es obliegt ihnen durchaus jene rechtlichen Wahrheiten zu verteidigen, die ein demokratischliberales Regime kennzeichnen. Diese rechtlichen Wahrheiten definieren den Rahmen, innerhalb dessen wir zusammen nach konsensfähigen politischen Antworten suchen können.
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Der Staat und die Gegenmächte
4.
Der Adel als Gegenmacht
„Damit man die Macht nicht missbrauchen kann, muss alles so geordnet sein, dass die Macht die Macht aufhält“, so hatte es schon Montesquieu in einer der berühmtesten Formulierungen seines Hauptwerkes ausgedrückt (Montesquieu 1951, 395), bevor die amerikanischen Verfassungsväter das System der sogenannten checks and balances einrichteten, durch das vermieden werden sollte, dass ein Machtpol sich ungehemmt behaupten und seine eigenen Interessen durchsetzen kann. Je größer die Macht eines Machtpols ist, desto größer muss auch die Macht sein, die sich der Ausbreitung dieses Machtpols widersetzt. Und je geringer die Macht eines Machtpols ist, umso weniger wird er sich der Ausbreitung größerer Machtpole widersetzen können. Die unterschiedlichen Machtpole müssen sich nicht nur gegenseitig kontrollieren und in Schach halten (to check), sondern sie müssen sich auch gegenseitig balancieren (to balance). Ein sich ausbreiten wollender Machtpol wird es unter diesen Umständen als wünschenswert ansehen, die sich ihm widersetzenden Machtpole zu schwächen und, wenn es möglich ist, ganz zum Verschwinden zu bringen. Für einen solchen Machtpol kennzeichnet sich der Idealzustand dadurch, dass es auf der einen Seite nur ihn gibt, und auf der anderen Seite eine unorganisierte Masse von Individuen, die er in eine bestimmte, von ihm definierte Richtung lenken kann. Die Macht eines jeden solchen Individuums ist unendlich klein im Vergleich zur Macht des Machtpols. Aus dem Machtpol wird dann ein Machtmonopol. Und diese Monopolisierung der Macht ist ein Phänomen, das de Jouvenel als eine Art historischer Konstante betrachtet, wobei es der Moderne zukommt, diesen Prozess unheimlich beschleunigt zu haben. Die Monopolisierung der staatlichen Macht ist die Kehrseite der Individualisierung der Gesellschaft (Du pouvoir, 535–536) Benjamin Constant ist einer der ersten liberalen Denker, der auf dieses Problem aufmerksam gemacht und damit auch vor einer Logik gewarnt hat, die sich seit dem späten Mittelalter durchgesetzt hat und deren theoretischer Ausdruck sich einerseits bei Hobbes, und andererseits bei Rousseau findet, wobei der Contrat social wahrscheinlich noch einen Schritt weiter in der Abschaffung der sogenannten Zwischenmächte geht als der Leviathan. Der Hobbessche Staat duldet nämlich durchaus private Körperschaften, innerhalb derer die Mitglieder private Interessen verfolgen können (Hobbes 1996, 155). Die Existenz dieser Körperschaften hängt allerdings vom Willen des Souveräns ab, der sie erlauben muss und der sie auch jeden Augenblick auflösen kann. Zu diesen Körperschaften zählen auch die adligen Familien und ihre Diener oder Abhängige, also jene Körperschaften, die noch bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts manchmal mächtiger waren als die nationalen Herrscher. Was diese Körperschaften betrifft, schreibt Hobbes:
Der Adel als Gegenmacht
In all Common-wealths, if a private man entertain more servants, than the government of his estate, and lawfull employment he has for them requires, it is Faction, and unlawfull. For having the protection of the Common-wealth, he needeth not the defence of private force. And whereas in Nations not thoroughly civilized, severall numerous Families have lived in continuall hostility, and invaded one another with private force, yet it is evident enough, that they have done unjustly; or else they had no Common-wealth (Hobbes 1996, 164)
Bis ins 16. und zum Teil sogar noch bis ins 17. Jahrhundert, also bis zu Hobbes‘ eigener Epoche, besaßen viele Adlige Privatheere, mit denen sie sich dem königlichen Heer – das sich u. a. zum Teil aus den Privatheeren der ihm treuen Adligen zusammensetzte – widersetzen konnten oder mit denen sie, wie Hobbes es in der eben zitierten Passage sagt, den Besitz eines anderen Adligen überfielen. In einem wohlgeordneten Gemeinwesen, wie Hobbes es sich vorstellt, haben solche Privatheere keinen Platz, denn sie sind erstens gefährlich und zweitens unnötig. Unnötig sind sie, weil der durch den Souverän gewährte Schutz für jeden genügt, so dass er sich nicht noch durch Privatkräfte schützen lassen muss. Und gefährlich sind sie, weil sie einerseits Privatkriege begünstigen und andererseits, und das liegt Hobbes besonders am Herzen, gegen den Souverän eingesetzt werden können. Der Wille, sich dem Souverän gegebenenfalls mit Gewalt zu widersetzen, ist an sich „unlawfull“, wie Hobbes sagt. Und wenn schon dieser Wille einen Unrechtscharakter hat, dann noch mehr der Besitz eines Instrumentes, mittels dessen er sich verwirklichen lässt. Bei Rousseau ist jede Zwischenmacht zwischen dem Souverän und den Individuen unerwünscht, da jede solche Zwischenmacht eine volonté particulière hat, dem sich das Individuum verpflichtet fühlen könnte, wobei es diese Pflicht als höherrangig im Vergleich zu seiner Pflicht gegenüber dem Souverän und dem allgemeinen Willen betrachten könnte. Bei Rousseau gibt es den Körper der Nation – und jeder Bürger ist ein Teil dieses Körpers – und die Körper der Untertanen – die nur dem Körper der Nation unterworfen sind. Körperschaften kann es in seinem Idealstaat nicht geben. Wenn Menschen ein gemeinsames Interesse haben, das sich in einem gemeinsamen Willen ausdrückt, dann kann es nur das allgemeine Interesse sein, das sich in dem allgemeinen Willen ausdrückt. Wie schon angedeutet, war Constant einer der ersten, der auf die Gefahren eines Vakuums zwischen dem Souverän bzw. der die Souveränität ausübenden Macht einerseits und den Individuen andererseits hingewiesen hat. Je mehr die Menschen voneinander isoliert werden, je weniger sie vereinigt sind, umso einfacher ist es für den Staat, seinen Willen durchzusetzen. Er wird dann mit Leichtigkeit jeden sich gegen ihn erhebenden Widerstand brechen können: Auf diese Weise zerstückelt, verteidigt der Mensch sich nicht mehr; es gibt nur noch Instrumente, zwischen denen keine gemeinsame Verbindung mehr besteht und die passiv dem partiellen Impuls folgen, denen ihnen die Hand der Autorität aufdrückt (Constant 1980, 212)
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Der Staat und die Gegenmächte
Tocqueville hat einige Jahrzehnte später die Gedanken Constants ergänzt. Ging es diesem in erster Linie darum zu zeigen, dass die Schwächung der Individuen diese der Macht des Staates ausliefert, so will ersterer zeigen, dass schwache, isolierte Individuen auf die Macht des Staates angewiesen sind. Constant spricht von der Macht, die der Staat leichter gegen die Individuen verwenden kann, Tocqueville von der Macht, die der Staat im Dienste der Individuen einsetzen kann. Aber indem er sich auf diese Weise in ihren Dienst stellt, verlangt er eine immer größere Macht von ihnen, und je größer seine Macht über sie wird, umso weniger werden sie in der Lage sein, sich ihm zu widersetzen, wenn er seine Macht nicht mehr gebraucht, um ihnen zu dienen, sondern um sie für seine eigenen Zwecken zu verwenden. Tocqueville, der mehr noch als Constant den Verlust des aristokratischen Geistes in der modernen Gesellschaft vermisst, sah im alten französischen Adel eine wichtige Gegenmacht. Es war der französische Hochadel, der sich während Jahrzehnten den Versuchen der Krone widersetzte, ihren Willen zu behaupten und die – so wurden sie zumindest dargestellt – seit Jahrhunderten gegebenen Verhältnisse zu verändern. Der König wollte ändern, der Adel bewahren; der König war revolutionär oder zumindest reformistisch, der Adel konservativ, wenn nicht sogar reaktionär.125 Der König konnte aber nur ändern, wenn er seine Macht vergrößerte, um sich somit gegen die Hindernisse zu behaupten. Eine solche Machtvergrößerung ging aber auf Kosten der Macht des Adels: Je mehr Macht der König hat, umso weniger Macht hat der Adel. Und je weniger Macht der Adel hat, umso weniger kann er sich dem König widersetzen. Und je weniger er sich dem König widersetzen kann, umso mehr kann der König die Macht des Adels weiter beschneiden. Am Schluss hat der Adel seine Macht verloren – und kann sie 1789 nicht mehr einsetzen, um den König vor der Entmachtung und dann der Absetzung und Hinrichtung zu bewahren. Bertrand de Jouvenel stammt aus einer französischen Adelsfamilie, den Jouvenel des Ursins, deren Ursprünge bis ins Mittelalter zurückreichen. Einige frühere Mitglieder seiner Familie dienten der französischen Krone. So war Jean Jouvenel des Ursins ein Berater Karl VII. und sein Bruder Guillaume Kanzler desselben Karl VII. und seines Nachfolgers Ludwig XI. Ludwig XI., der von 1461 bis 1483 König war, musste sich der sogenannten Ligue du Bien Public widersetzen, in welcher Karl der Kühne den Hochadel um sich versammelt hatte. Es gelingt ihm, diesen Widerstand zu brechen und damit die Macht der Krone zu verteidigen und sogar noch zu vergrößern. Dabei ist zu bemerken, dass Ludwig XI., als er noch nicht König war, die sogenannte Praguerie126, eine Revolte des Hochadels, gegen seinen Vater Karl VII. unterstützt hatte. Karl VII. hatte diese Revolte aber besiegen können. Es war auch Karl VII., König von 1422 bis 1461, der ein ständiges Heer in Frankreich einführte und damit dazu beitrug, die Reaktionär insofern es galt, wieder zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren, die durch das Königtum schon zum Teil abgeschafft oder verändert wurden. 126 Der Name sollte an den Aufstand der Hussiten in Prag erinnern. 125
Der Adel als Gegenmacht
militärische Macht des Königs von der militärischen Macht des Adels unabhängig zu machen. Zwei der Vorfahren Bertrand de Jouvenels standen demnach im Dienste von Königen, die zu ihrer Zeit schon dazu beitrugen, jene Macht aufzubauen, vor der Du pouvoir eindringlich warnt. Die Macht des modernen Staates hat sich durchgesetzt, indem sie sich gegen ihre Gegenmächte behauptete. Im Falle der Monarchie war der Adel einer dieser Gegenmächte. In Du pouvoir sagt Bertrand de Jouvenel, dass sich der Adel überall der Macht und ihrer Verabsolutierung widersetzt (Du pouvoir, 291). Insofern sollte man die historische Rolle oder Funktion des Adels nicht so sehr im Regieren sehen, als vielmehr darin, der Regierungsmacht Grenzen zu setzen (Du pouvoir, 313). Der Adel kennzeichnet sich nämlich durch einen Geist der Unabhängigkeit (Du pouvoir, 306), und der Adlige ist jemand, der auf seinem Gebiet sein eigener Herr und Meister sein will und sich nicht etwa vom Staat vorgeben lassen will, um auf Hobbes zurückzukommen, wie viele Bedienstete er haben und wofür er sie einsetzen darf. Bertrand de Jouvenel macht sich keine Illusionen über die Handlungsmotive der großen Adligen: Es geht ihnen nicht um die Bewahrung der Freiheiten ihrer Abhängigen, sondern um die Bewahrung ihrer eigenen Freiheit und Unabhängigkeit. Sie wollen nicht ihre Abhängigen davor bewahren, einer absoluten Macht unterworfen zu werden, sondern sie wollen sie davor „bewahren“, einer anderen absoluten Macht als der eigenen unterworfen zu sein, indem sie sich selbst davor bewahren, einer absoluten Macht unterworfen zu sein. Die Geschichte, so de Jouvenel, ist ein Wettkampf zwischen Machtwillen, die die menschlichen Kräfte kontrollieren wollen (Du pouvoir, 287). Der König will sie kontrollieren, um sie in den Dienst seiner Zwecke zu stellen, und die Adligen wollen sie kontrollieren, um sie in den Dienst ihrer Zwecke zu stellen. Da ursprünglich die Macht der Adligen größer war als die des Königs, der über kein eigenes Heer verfügte bzw. nur über ein kleines eigenes Heer, musste der König die Zahl der Menschen erhöhen, deren Kräfte er kontrollierte. Und dies gelang ihm u. a. dadurch, dass er Privilegien und Posten vergab (Du pouvoir, 283). Dabei konnte sich die Krone in einer Hinsicht als eine Befreierin darstellen. Sie befreite die Untertanen von der Macht der Adligen, aber sie tat dies, um sie ihrer eigenen Macht zu unterwerfen – und indem sie dies tat, eliminierte sie eine Konkurrentin, so dass die Untertanen sich nicht mehr auf den Schutz dieser Gegenmacht verlassen konnten, wenn sie sich eines Tages durch die Macht des Königs bedroht fühlten. Wie einst der Adel die Menschen an sich gebunden hatte, bindet der Staat sie jetzt an sich, sei es, indem er sie zu seinen Beamten macht – die dann in den Genuss der Machtausübung kommen – oder indem er sie durch bestimmte politische Maßnahmen befriedigt. Es geht Bertrand de Jouvenel nicht so sehr darum, den Adel wieder als eine soziale Gruppe einzuführen und die Mitgliedsschaft in dieser Gruppe von der Geburt abhängig zu machen. Wie Tocqueville, trägt auch de Jouvenel den gesellschaftlichen Realitäten Rechnung und akzeptiert den Gedanken der rechtlichen Gleichheit zwischen allen Menschen. Was ihm am Herzen liegt, und darin folgt er auch Tocqueville,
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ist einerseits die Bewahrung eines aristokratischen Geistes und andererseits die Existenz eines funktionalen Äquivalentes zum Adel. Es muss Menschen geben, denen die eigene Unabhängigkeit wichtiger ist als die absolute Sicherheit, die der Staat ihnen verspricht, wenn sie sich von ihm abhängig machen. Und es muss in der Gesellschaft Körperschaften geben, die sich dem Staat, und in allererster Linie der Regierung, entgegensetzen und sie in ihrem Handeln, wenn dieses die Freiheiten gefährdet, behindern können. In diesem Zusammenhang spielt die Mittelklasse eine große Rolle bei Bertrand de Jouvenel, der damit Gedanken aufgreift, deren Wurzeln man schon bei Aristoteles findet. Die Mittelklasse, heißt es in Du pouvoir, befindet sich in einer Situation, in der sie einerseits nicht, etwa vor dem ökonomischen Elend, geschützt zu werden braucht, und in der sie andererseits nicht mächtig genug ist, um die anderen Klassen zu unterdrücken (Du pouvoir, 559). Die Mittelklasse kann sich gegen den Staat verteidigen, aber sie kann nicht selbst zu einer unterdrückenden Macht werden. Das macht sie zu einer geeigneten Gegenmacht. Die Mittelklasse befindet sich zwischen zwei Extremen, nämlich einerseits dem Extrem der „‚Aristokratie‘ der kapitalistischen Promotion“, die, weil sie einen großen Reichtum besitzt, auch eine entsprechende Macht besitzen will, und andererseits dem Extrem des gemeinen Volkes, das sich in die Arme der „staatlichen Allmacht“ stützt, um geschützt zu werden (Du pouvoir, 544). Von keiner dieser beiden Gruppen kann man einen „freiheitlichen Widerstand“ erwarten, sondern dieser kann nur das Werk von „Bürgern sein, die subjektive Rechte zu verteidigen haben, und deren natürliche Führer Standespersonen (notables) sind, die einen guten Ruf besitzen, ohne dass ihr unverschämter Wohlstand sie disqualifiziert“ (Du pouvoir, 545). Es ist der Niedergang der Mittelklasse, die in einigen europäischen Staaten das Bett der Tyrannei vorbereitet hat (Du pouvoir, 560). In den Vereinigten Staaten weicht sie der Herrschaft der großen Unternehmen und den Finanzleuten, „die der Regierung verbieten in die Geschäfte einzugreifen, im Namen der freien Konkurrenz, des Individualismus und der gleichen Chancen für alle“ (La crise du capitalisme américain, 146). Dass dabei die Bedingungen einer freien Konkurrenz und der gleichen Chancen für alle untergraben werden, sagen die Großunternehmer nicht. 5.
Das Parlament als Gegenmacht
Die Idee der Gewaltenteilung, wie wir sie heute als zentraler Teil der Rechtsstaatlichkeit kennen, war dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit nicht oder kaum bekannt. Die Gesetze waren durch die Natur oder die Zeit vorgegeben, d. h. das Natur- und Gewohnheitsrecht bildete den normativen Hintergrund, der dem Fürsten zwar noch die Möglichkeit ließ, neue Normen zu erlassen, diese Möglichkeit aber insofern einschränkte, als die natur- und gewohnheitsrechtlichen Normen nicht abgeschafft oder
Das Parlament als Gegenmacht
verändert werden durften. Die exekutive Macht des Fürsten war demnach durch Gesetze gebunden, und dies, ohne dass es einer legislativen Macht bedurfte.127 Der Fürst war überdies auch Richter, wobei er sich ebenfalls in dieser Funktion an die ihn transzendierende Norm der Gerechtigkeit halten musste. Ab dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit kommt es zu Vertragsschlüssen zwischen dem Volk bzw. seinen Vertretern und den Fürsten. Der Vertrag spielt die Rolle einer Verfassung, er definiert den legitimen Spielraum des fürstlichen Handelns. Es wird u. a. vom Fürsten verlangt, dass er keine Erhöhung der Steuern bzw. Abgaben beschließt, ohne die Stände oder eine ähnliche, die Gesellschaft bzw. die gesellschaftlichen Stände repräsentierende Struktur konsultiert zu haben.128 Wo der Fürst die Grenzen dieses Spielraums verlässt, wird er zum Tyrannen und man kann ihm Widerstand leisten und ihn sogar gegebenenfalls töten. Als die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sich ab dem 16. Jahrhundert beschleunigten und als zur selben Zeit die großen nationalen zentralisierten Monarchien sich bildeten, wurde die Rolle des Fürsten immer wichtiger und damit wuchsen auch die Machtmittel, die er in seiner Hand hielt. Außerdem mussten immer mehr Entscheidungen getroffen werden, um das nationale Interesse, vor allem in der ökonomischen Sphäre, zu fördern. Damit nahm die gesetzgebende Macht der Regierung zu, da sehr oft keine spezifische gesetzgebende Instanz existierte und das Natur- und Gewohnheitsrecht in den Hintergrund gedrängt wurde bzw. keine Normen für die sich neu stellenden Probleme enthielt. Mit dem 18. Jahrhundert kam dann aber immer mehr der Gedanke auf, dass man dem Fürsten zwar die exekutive Gewalt überlassen sollte, dass man ihm aber die legislative Gewalt abnehmen musste, um sie einem Organ zu geben, das die Interessen des Volkes repräsentierte oder zumindest desjenigen Teil des Volkes, der wahlberechtigt war. Dieses Organ sollte die Gesetze machen und der Fürst sollte sie im Alltag anwenden bzw. die Regierung, an deren Spitze der Fürst stand, sollte für diese Anwendung sorgen. Der Fürst und seine Regierung unterstanden dabei der gesetzgebenden Gewalt, waren also Exekutanten der von dieser Gewalt erlassenen Gesetze und durften nur im Rahmen des von diesen Gesetzen definierten Spielraums handeln. Die Französische Revolution wird, zumindest in ihrer ersten Phase, dieses Modell einer dem Willen der repräsentierenden Nationalversammlung unterworfenen Monarchie verwirklichen.
Sieht man einmal von Gott ab, der oft als Urheber der natürlichen Gesetze angesehen wurde. In The Ethics of Redistribution weist de Jouvenel darauf hin, dass die Parlamente ursprünglich geschaffen wurden, um dem König die Möglichkeit zu geben, Geld von seinen Untertanen zu verlangen (The Ethics of Redistribution, 75). Durch das Ja-Wort der Repräsentanten sollte dem König ein legitimer Weg geöffnet werden, das für die ständig wachsenden Ausgaben des Staates nötige Geld zu bekommen. In Du principat wird die Repräsentation als eine Erfindung der Monarchie (Du principat, 33) und der mittelalterliche König als ein Bettler (Du principat, 34) bezeichnet, der sich das von ihm benötigte Geld erbetteln muss. 127 128
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Der Staat und die Gegenmächte
In diesem Denkmodell stand der exekutiven Macht eine Gegenmacht gegenüber. Und auch wenn, zur Zeit der Monarchien, diese Gegenmacht den Fürsten nicht stürzen oder in Verlegenheit bringen konnte129, so konnte sie dies doch hinsichtlich der dem Fürsten unterstehenden Regierung. Um zu regieren bedurfte die Regierung nämlich nicht nur des Vertrauens des Fürsten, sondern auch desjenigen des Parlaments. Die Projekte der Regierung bedürfen der Zustimmung des Parlaments und dieses kann diese Zustimmung stets verweigern. Damit wird das Parlament zum wichtigsten Organ im Staat und es trägt somit auch eine große Verantwortung. Ihm obliegt es einerseits, gute, dem Allgemeinwohl dienende Gesetze zu machen, und andererseits, die Regierung zu kontrollieren, damit diese ihre Macht nicht missbraucht. Das Prinzip der Gewaltentrennung sollte nicht so verstanden werden, dass die verschiedenen Gewalten nicht aufeinander einwirken können. Die legislative Gewalt hat eine Wirkung auf die exekutive Gewalt, die diese nicht auf die legislative Gewalt hat. In einer parlamentarischen Demokratie wird nicht von der legislativen Gewalt verlangt, dass sie sich den Weisungen der exekutiven Gewalt beugt, aber es wird von letzterer verlangt, dass sie sich der legislativen Gewalt unterwirft. Und genau hier diagnostiziert Bertrand de Jouvenel ein Problem, das er in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entstehen sieht und das er als Übergang „von der parlamentarischen Regierung zum Prinzipat“ (Du principat, 132) oder noch als „Monarchisierung“ (Du principat, 134) bezeichnet: Man bemerkt zuerst im 20. Jahrhundert eine schnelle Ausbreitung der Zuständigkeiten der Regierung, die, materiell gesehen, zu einer Zunahme der öffentlichen Bürokratie führt und die, psychologisch gesehen, die Exekutive wieder aufwertet. Je mehr die Regierungsaufgaben Initiativen verlangen, umso weniger sind sie die routinemäßige Ausführung der vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze, umso mehr erhebt sich die exekutive Macht wieder aus der niederen Position, die sie in den Lockeschen Ansichten hatte und die sie tatsächlich bis in die Mitte des XIX. Jahrhunderts einnahm. Und die Wichtigkeit die der Exekutive de facto wieder gegeben wird, richtet alle Blicke auf ihren Chef, so dass die Individualisierung der Exekutive mit ihrer Aktivität Schritt hält (Du principat, 134–135)
Locke hatte der Exekutive einen gewissen Spielraum gelassen, indem er ihr ein Recht zusprach, in ganz problematischen, vom Gesetz nicht explizit vorhergesehenen, aber nach einer raschen Entscheidung fragenden Situationen auf die sogenannte Prärogative zurückzugreifen und demnach extra leges zu handeln, also keine „routinemäßige
Die französische Nationalversammlung wird allerdings, sich auf die englischen Präzendenzfälle von 1649 und 1688 stützend, als Richterin über den König auftreten, und diesen nicht nur absetzen, sondern auch zum Tode verurteilen und hinrichten lassen. 129
Das Parlament als Gegenmacht
Ausführung“ der Gesetze zu machen. Der Rückgriff auf die Prärogative sollte aber die Ausnahme bilden.130 Locke beschreibt nicht genau die Fälle, in denen der Rückgriff auf die Prärogative erlaubt ist, und eine solche genaue Beschreibung ließe sich auch wahrscheinlich nicht geben. Aber eines lässt sich sagen: Je schneller sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern und je mehr Aufgaben der Regierung hinsichtlich der gesellschaftlichen Organisation auferlegt werden, umso öfters wird es nötig werden, auf die Prärogative zurückzugreifen. Eine „routinemäßige Ausführung“ der Gesetze ist nur dort möglich, wo die Gesellschaft sich nicht oder kaum verändert, und die Situation, auf die das Gesetz gewissermaßen zugeschneidert wurde, mehr oder weniger dieselbe bleibt. Wo der Ausnahmezustand zur Regel wird, tritt die Macht des Parlaments vor derjenigen der Regierung und Verwaltung zurück. In der eben zitierten Passage ist nicht nur die Rede davon, dass die exekutive Gewalt immer mehr an Gewicht gewinnt, sondern de Jouvenel weist auch darauf hin, dass sich innerhalb der exekutiven Gewalt einzelne Persönlichkeiten profilieren und sich an die Spitze stellen. In bestimmten Ländern kann das der Premierminister sein, in anderen, vor allem dort, wo er direkt vom Volk gewählt wird, der Staatspräsident.131 Damit steht der moderne Staat aber vor einem Problem, das de Jouvenel wie folgt formuliert: Je größer der Staatsapparat und je vollständiger er in die Gesellschaft eindringt, umso wichtiger ist es, dass er nicht als Instrument der Beherrschung in die Hände von jemandem geliefert wird, dem es gelungen sein wird, sich in der Kabine der zentralen Kommandostelle heimisch zu machen (Du principat, 157)
Nach dem klassischen liberalen Muster, wie wir es etwa bei John Locke finden, wäre es eigentlich die Rolle des Parlaments, eine solche Situation zu verhindern. Wie de Jouvenel an einer Stelle schreibt, und klarer könnte er es nicht sagen: „Die Existenz eines Parlaments rechtfertigt sich nur, wenn es in der Lage ist, sich der Exekutive zu widersetzen“ (Du principat, 72). Das Parlament ist also kein Selbstzweck, sondern es bezieht seine Daseinsberechtigung aus seiner Macht und seinem Willen, sich der Regierung Hierzu Campagna 2001. In den parlamentarischen Demokratien die noch eine monarchische Regierungsform haben, an deren Spitze also noch ein König oder eine Königin (Belgien, Niederlande, Großbritannien, …), ein Großherzog (Luxemburg) oder sonst ein gekröntes Haupt steht, hat der Monarch keine wirkliche politische Funktion mehr bzw. verzichtet er darauf, diese Funktion auszuüben. Gegebenenfalls führt das zu einer Situation wie die des belgischen Königs Baudouin, der die Einführung des Euthanasiegesetzes hätte verhindern können. Um das Gesetz nicht unterschreiben zu müssen, dankte der König für einen Tag ab. In Luxemburg wurde in einem ähnlichen Fall die Verfassung kurzfristig geändert, so dass die großherzogliche Unterschrift nicht mehr, wie bis dahin in der Verfassung festgehalten, ein Gutheißen des Gesetzes bedeutete, sondern diese Unterschrift wurde zu einem rein formalen Akt. Mit anderen Worten: Die konstitutionellen Monarchen spielen nicht mehr ihre Rolle als Gegenmacht zum Parlament. Würden sie es tun, so stünde sicherlich das Weiterbestehen der Monarchie in den betroffenen Ländern auf dem Spiel. Sie haben demnach nicht mehr die Rolle jenes pouvoir neutre, die Constant ihnen noch zuerkannte. 130 131
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zu widersetzen. Wenn das Parlament dies nicht mehr kann oder nicht mehr will, dann braucht man es nicht mehr. In seinem Traktat über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus hat Carl Schmitt den Impakt der neuen sozialen und politischen Gegebenheiten auf den Parlamentarismus untersucht und den Unterschied zwischen dem klassischen Modell des parlamentarischen Liberalismus und der modernen Massendemokratie hervorgehoben. Das dabei entstehende Problem, das in seinen Augen den Parlamentarismus obsolet werden lässt, formuliert er wie folgt: Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat (Schmitt 1969, 10)
Das Parlament hat aufgehört, der Ort zu sein, an dem im Rahmen einer öffentlichen Diskussion, in welcher, um mit Habermas zu sprechen, nur der zwanglose Zwang des besseren Argumentes gelten sollte, am Schluss die Wahrheit sich durchsetzte, wo also das Gesetz nicht einfach eine Setzung der Autorität war, sondern der Ausdruck der Wahrheit oder normativen Richtigkeit. Wie Schmitt festhält, entsteht die Daseinsberechtigung des Parlaments nicht durch die Tatsache, dass es in großen Flächenstaaten unmöglich ist, das ganze Volk zu versammeln und man deshalb auf Repräsentanten zurückgreifen muss (Schmitt 1969, 42). Sinn und Zweck des Parlamentes ist es, die Wahrheit zu gebären, wobei die öffentliche argumentierende Diskussion als Geburtshelferin fungiert. Demnach kann Schmitt schlussfolgern, dass dort, wo das Parlament nicht mehr seine ursprüngliche Funktion erfüllt, das Parlament auch seine Daseinsberechtigung verliert (Schmitt 1969, 63). Und eben das ist laut ihm in den Massendemokratien der Fall. In diesen Massendemokratien kommt es nämlich nicht mehr auf die Wahrheit an, sondern nur noch auf den Willen des Volkes (Schmitt 1969, 22). Was das Volk will, ist Gesetz. Und da eine Homogenität zwischen den Regierten und den Regierenden postuliert wird – sie bilden alle zusammen die in sich homogene Nation –, ist der Wille der Regierenden zugleich der Wille des Volkes. Am Ende seiner Schrift kommt Schmitt auf den Mythos zu sprechen, um festzustellen: „Die Theorie des Mythus ist der stärkste Ausdruck dafür, daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat“ (Schmitt 1969, 89). In dem zur gleichen Zeit wie die Schrift zum Parlamentarismus entstandenen Text ‚Die politische Theorie des Mythos‘, kündigt Schmitt das Ableben des Parlamentarismus an, wenn dieser „den antiparlamentarischen Ideen nur sein ‚Parlamentarismus – was sonst?‘ entgegenzusetzen vermag“ (Schmitt 1994, 21). Der Parlamentarismus nährt sich am Gedanken der Wahrheit oder Richtigkeit und schreibt sich somit in die Tradition des Rationalismus ein. In der modernen Massendemokratie herrscht aber der irrationale Mythos, der jede rationale Diskussion aus-
Das Parlament als Gegenmacht
schließt.132 Und wenn im Parlament noch diskutiert wird, dann nur, um Kompromisse zu schließen. Es gilt, wie Schmitt festhält, eine Mehrheit zu finden. Die Parteien sind dabei Instrumente deren man sich bedient, um die Macht zu gewinnen. In seinem aus dem Jahr 1928 stammenden Aufsatz ‚Der bürgerliche Rechtsstaat‘, hatte Schmitt vom parlamentarischen System gesagt, es sei „die Form, die sich das Bürgertum zum Schutz vor dem Staat geschaffen hat, also eine antipolitische Form, wie das liberale Bürgertum selbst etwas Unpolitisches ist“ (Schmitt 1995, 46). Wenn der Staat mit der Regierung identifiziert wird, dann ist das gewählte Parlament tatsächlich ein Schutz vor dem Staat. Und Schmitts Verweis auf das Bürgertum ist auch historisch korrekt: Es sollte vermieden werden, dass der Staat in die Eigentumsordnung eingreift, sei es, um das Eigentum umzuverteilen – wie es die sozialistischen Staatskonzeptionen vorschlugen –, oder um Kriege zu finanzieren – wie es imperialistische Staatskonzeptionen wollten. Das Bürgertum wollte sein Eigentum behalten und sah auch in diesem ein Zeichen seiner Unabhängigkeit: Wer viel Eigentum hat, ist nicht auf den Staat angewiesen, um zu überleben. De Jouvenel, so hatten wir vorhin gesehen, schreibt dem Parlament auch eine schützende Funktion vor. Das Parlament muss sich, wenn es sein muss, der Exekutive widersetzen, was voraussetzt, dass die Abstimmungen der Parlamentarier nicht von der Regierung kontrolliert werden. Wo dies der Fall ist, wird der Parlamentarier, wie Schmitt es 1935 in seinem Aufsatz ‚Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland‘ formuliert, zu einem nur noch „in Reih und Glied marschierende[n] Funktionär, der seine Befehle außerhalb des Parlaments erhält und für den die Beratung im Parlament zur leeren Farce werden muß“ (Schmitt 1958, 364). De Jouvenel hat 1948 auf diese Gefahr hingewiesen, wobei das amerikanische Modell des Parlamentarismus ihm zeigt, dass es durchaus Mittel gibt, dieser Gefahr entgegenzuwirken und zu verhindern, dass das Parlament, mit Habermas geredet, „zu einer Stätte [wird], an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“ (Habermas 1993, 305): Das Parlament wäre zu einer bloßen Registrierkammer der Gesetze geworden, die die Exekutivdienste ihm im Namen des allgemeinen Interesses abzustimmen gefragt hätte, wenn die Partikularinteressen auf den Punkten, die sie betreffen, keine Gegendokumentierung, Dossier für Dossier, gebracht hätten (L’Amérique en Europe, 264)
Genauso wie Schmitt es für unumgänglich hält, „den Liberalismus als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System zu sehen“ (Schmitt 1993, 45), sucht auch de Jouvenel nach der Hintergrundmetaphysik des europäischen, und vornehmlich französiIn Les passions en marche schreibt de Jouvenel, dass in den öffentlichen Debatten des 19. Jahrhunderts miteinander argumentiert wurde, also rationale Argumente ausgetauscht wurden. Das hat sich aber geändert und an die Stelle der Argumente und Appelle an die Vernunft, sind Appelle an die Emotionen getreten, womit, so de Jouvenel, der Mensch eigentlich verachtet wird (Les passions en marche, 42). 132
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schen Parlamentarismus. Er identifiziert diese als die Metaphysik der Souveränität des Volkes (L’Amérique en Europe, 251). Das Volk wird als eine Person mit einem Willen gedacht, und die Partei, die im Parlament die Mehrheit besitzt, gibt dann ihren Willen als den Willen des Volkes aus. Anstatt ein Ort zu sein, an dem die unterschiedlichen Interessen zusammen- und aufeinandertreffen und damit die Heterogenität der Nation widerspiegeln, wird der Mythos einer einheitlichen Nation postuliert133, deren Wille sich im Parlament ausdrückt, aber in einem Parlament, das zum Instrument der Regierung wurde. In seinem Buch über den Sozialismus in England, das ungefähr zeitgleich mit dem eben erwähnten Buch über Amerika entstand, weist de Jouvenel auf einen Grund hin, wieso das Parlament immer mehr ins Schlepptau der Regierung und der für die Regierung arbeitenden Bürokratie gerät. Insofern die Dossiers immer technischer werden, wird es für die Parlamentarier fast unmöglich, den Durchblick zu behalten und alle relevanten Fakten zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Debatten einfließen zu lassen (Problèmes de l’Angleterre socialiste, 284). Sie werden damit von den Regierungsbeamten abhängig, die ihnen fertige Dossiers liefern. Und diese Dossiers, so wird man annehmen können, enthalten nur diejenigen Informationen, die die von der Regierung schon getroffene Entscheidung stützen. Die Regierungsbeamten verfügen immer über mehr Informationen als die Abgeordneten. Für Bertrand de Jouvenel ist es aber wichtig, dass alle Entscheidungsträger über dieselben Informationen verfügen, vor allem was die Konsequenzen der Handlungen betrifft (Du principat, 291). Man muss demnach dafür sorgen, dass auch die Parlamentarier über alle relevanten Informationen verfügen, ansonsten die Macht sich in „den Händen einer Oligarchie von Bürokraten und Technikern“ konzentrieren wird (Quelle Europe?, 119). Da die Amerikaner noch am ursprünglichen Modell des Parlamentarismus festhalten und nicht in den Bann der Einheitsmetaphysik geraten sind, spielt bei ihnen das Parlament noch immer seine ursprüngliche Funktion. In Amerika, so de Jouvenel, hat kein staatliches Organ eine absolute Macht, denn jenseits des Atlantiks stehen das Naturrecht und die Verfassung über dem Willen der Regierung und des Parlaments, das sich diesen normativen Vorgaben unterworfen fühlt (L’Amérique en Europe, 253). De Jouvenel begrüßt es auch, dass die amerikanischen Parteien – wie übrigens schon Tocqueville ein gutes Jahrhundert früher festgestellt hatte – keine ideologischen Parteien sind (L’Amérique en Europe, 256). Das amerikanische Parlament ist dementsprechend kein Ort, an dem in ihren jeweiligen Ideologien eingesperrte Abgeordnete bestenfalls aneinander vorbei reden und sich schlimmstenfalls gegenseitig auszuschließen versuchen. Die Verfassung bildet in den Vereinigten Staaten jene von Schmitt erwähnte
Den Mythos des homogenen politischen Körpers bezeichnet de Jouvenel als die Basis aller Totalitarismen (Du principat, 43–44).
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Das Parlament als Gegenmacht
„gemeinsame, nichtdiskutierte Grundlage“, ohne die das Parlament durch die „kontradiktorischen Gegensätze“ aufgehoben wird (Schmitt 1969, 58).134 Was de Jouvenel besonders am amerikanischen Parlament interessiert, und worauf er in der längeren vorhin zitierten Stelle hinweist, ist die Tatsache, dass die amerikanischen Abgeordneten ihre Informationen nicht nur von den Regierungsbeamten bekommen, sondern von Gruppen, die wir heute als Lobbies bezeichnen, und denen es darum geht, ihre Interessen bei der Gesetzgebung, wenn nicht unbedingt ganz durchgesetzt, so zumindest respektiert zu sehen. Betrachten wir heute die Lobbyarbeit oft mit einem negativen Auge – weil manche Lobbyisten neben Informationen auch Geschenke u. ä. anbieten –, so sind sie für de Jouvenel insofern wichtig, als sie eine kontradiktorische Diskussion ermöglichen, indem sie kontradiktorische Informationen vorbringen. Es ist dann an den Abgeordneten zu sehen, welche Informationen ihnen am plausibelsten und glaubwürdigsten erscheinen. Pocht er im Principat auf den Widerstand gegen die Regierung als eine wichtige Daseinsberechtigung des Parlaments135, so räumt er in seiner Schrift über Amerika ein, dass es noch andere Gründe gibt, ein Parlament zu haben. Ein Parlament, so heißt es dort, erlaubt es, die Interessen in ihrer Vielfalt zu kennen und sie auch in dieser Vielfalt zu respektieren (L’Amérique en Europe, 248). Nur wenn man sich für die Vielfalt der Interessen öffnet, wird man hinzulernen. Und hinzulernen wird nur der wollen, der nicht davon ausgeht, dass er den einheitlichen Willen des Volkes ausdrückt. Auch die Regierung kann hiervon profitieren, denn sie „sichert sich die Mitarbeit von Kräften, die der Despotismus auslöscht, indem er sie fordert“ (L’Amérique en Europe, 250). Wenn die Regierung auf das Parlament hört und wenn es dem Parlament das Recht lässt, seine Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu schöpfen, werden das Parlament sowie auch diese Informationsquellen, d. h. die unterschiedlichen Interessenverbände, mitarbeiten. De Jouvenel und Schmitt sind sich in einem Punkt einig: Die Alternative zum Parlamentarismus sind der Kommunismus und der Faschismus (L’Amérique en Europe, 287; Schmitt 1969, 7) – denen Schmitt noch die unmittelbare Demokratie hinzu stellt. In den 30er Jahren war auch für beide klar, dass die parlamentarische Demokratie am Ende war und dass man eine andere Option wählen musste. Da für keinen der beiden der Kommunismus als Option in Frage kam und die unmittelbare Demokratie in großen Staaten nicht praktizierbar war, entschieden sie sich alle beide für den Faschismus. Schmitt, indem er der NSDAP beitrat, de Jouvenel, indem er sich Doriot anschloss. Im Falle kontradiktorischer Urteile ist das eine Urteil wahr und das andere falsch, wohingegen bei konträren Urteilen beide falsch sein können. Wo die Logik des Kontradiktorischen waltet, wird eine Seite sich als Trägerin der Wahrheit sehen, was die andere dann als Trägerin der Falschheit erscheinen lässt. Wenn man sich aber im Rahmen einer Logik des Konträren bewegt, folgt aus der Tatsache, dass die Falschheit auf der Seite meines Gegenübers ist. noch nicht, dass die Wahrheit auf meiner Seite zu finden ist. 135 Der Aufsatz ‚Sur l’évolution des formes de gouvernement‘, in dem de Jouvenel sagt, ein Parlament, das sich der Regierung nicht widersetzen könne, habe keine Daseinsberechtigung, stammt aus dem Jahr 1961. 134
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Der Staat und die Gegenmächte
Bei de Jouvenel sucht man aber vergeblich nach Texten, die vom Inhalt her denjenigen gleichen, die Schmitt zwischen 1933 und 1944 verfasst hat, und die, für viele, nicht nur den faschistischen Staat, sondern auch den nationalsozialistischen Staat und seinen Führer verherrlichen. Bei de Jouvenel findet man keinen Lob der Homogenität, welcher Art sie auch immer sein mag, und schon gar keine krassen antisemitischen Äußerungen. Außerdem findet man bei ihm auch immer ein gewisses Misstrauen dem Staat gegenüber. Wo Schmitt darauf pocht, die Macht der Exekutive – des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik – zu stärken (Schmitt 1996), plädiert de Jouvenel Ende der 20er Jahre implizit für die Abschaffung des Präsidenten: Ist es nötig zu sagen, dass wir keinen Präsidenten der Republik brauchen? Ich verstehe allerdings, dass man zögert, ihn abzuschaffen, wenn man an alle Souveräne denkt, die der Ministerpräsident dann empfangen müsste, an alle Ausstellungen, die er zu eröffnen hätte! (L’économie dirigée, 186)
Der Präsident, wenn man ihn behält, wäre somit auf eine rein repräsentative Funktion reduziert. Aber läge dann nicht alle Macht in den Händen des Ministerpräsidenten? Nicht bei Bertrand de Jouvenel, der die Schaffung einer Chambre Nationale des Intérêts vorschlägt, in welcher die Gesetzestexte vorbereitet werden, die dann dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Die Finanzkommission des Parlaments behält auch eine Kontrollfunktion über die Regierung. Hier, wie an vielen anderen Stellen, zeigt sich, dass Bertrand de Jouvenel keinen Augenblick daran denkt, der Regierung eine unkontrollierte Macht in die Hände zu legen. Auch wenn die technischen und sozialen Entwicklungen dazu führen, dass die Exekutive immer öfter in das gesellschaftliche Leben eingreifen muss, so sollte doch gleichzeitig dafür gesorgt werden, dass es Instanzen gibt, die den Eingriffen der Exekutive Hindernisse entgegensetzen. Hatte de Jouvenel eine Zeit lang antiparlamentarische Positionen eingenommen, so erkennt er doch die wichtige Rolle eines korrekt funktionierenden Parlaments, eines Parlaments, das seine Kontrollfunktion ernst nimmt.
V.
Der Staat und die natürliche Umwelt
Einleitung
Zum Überleben ist der Mensch auf seine natürliche Umwelt angewiesen, so dass er, wenn er diese Umwelt zerstört, zugleich auch seine natürlichen Lebensgrundlagen mit zerstört. Diese an sich elementaren Wahrheiten sind uns in diesen letzten Jahrzehnten mit einer immer größer werdenden Akutheit bewusst geworden, wobei die Menschheit auch immer mehr feststellen musste, dass das zerstörerische Handeln sich nicht nur lokal auswirkt und auf den Landstreifen oder die Gegend beschränkt bleibt, wo es stattfindet, sondern globale Formen annehmen kann, wie es in der 70er Jahren das sogenannte „Loch“ in der uns vor der Sonneneinstrahlung schützenden Ozonschicht zeigte – ein Phänomen das, dank der Einschränkung des Gebrauchs von FCKWs gestoppt werden konnte –, und wie es heute die globale Erwärmung der Erdatmosphäre und der Ozeane verdeutlicht. Die Einwohner bestimmter kleiner Südseeinseln fürchten sich heute nicht so sehr vor der unwahrscheinlichen absichtlichen Zerstörung durch nukleare Waffen – das nukleare Säbelgerassel zwischen den USA und Nordkorea brachte allerdings die Einwohner des Hawaiischen Archipels während einer kurzen Zeit zum Zittern –, sondern weitaus mehr vor der durch die CO2-Emissionsländern – gemeint sind hier die Länder mit der höchsten Emissionsrate – in Kauf genommenen und kaum noch abwendbaren Konsequenzen der Lebensweise der Menschen dieser Länder auf das Steigen des Meeresspiegels. Je mehr Treibhausgase wir emittieren, umso wärmer wird es, und je wärmer es wird, umso wärmer wird das Wasser der Meere, was zu einem Zunehmen des Volumens und damit zu einem Steigen des Meeresspiegels führt, dem viele Inseln, deren höchster Punkt knapp 10 Meter über dem Meeresspiegel liegt, in den nächsten Jahrzehnten zum Opfer fallen werden. Doch sind nicht nur die Bewohner ferner Südseeinseln betroffen. Der Klimawechsel macht sich auch in den Industrieländern bemerkbar: Mehr, und vor allem heftigere, Stürme; Migration und Ausbreitung bestimmter gefährlicher Tier- und Pflanzenarten
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Der Staat und die natürliche Umwelt
nach Norden136, usw. Hinzu kommen die schon vor der Bewusstwerdung klimatischer Veränderungen thematisierte Umweltverschmutzung und die immer massivere Präsenz von Schadstoffen in der Luft oder der Nahrung. Und hinzu kommt auch die, wie man sie nennen könnte, ästhetische Verschmutzung, die durch das Zubetonieren bestimmter Landschaften und die grassierende Urbanisierung bedingt ist. Die Menschheit ist, so das Fazit das man ziehen könnte, im Augenblick dabei, die Erde zu einem unbewohnbaren Ort zu machen – und sie sucht inzwischen auch schon nach Aufenthaltsmöglichkeiten auf anderen Planeten des Sonnensystems. Auch wer davon ausgeht, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, uns vor den rein naturbedingten Schäden zu schützen137, muss sich die Frage stellen, ob es nicht Aufgabe des Staates sein kann, uns vor den naturbedingten Schäden zu schützen, die bei genauer Betrachtung auf menschliches Handeln zurückzuführen sind bzw. die als – oft ungewollte oder nicht mit beabsichtigte – Konsequenzen menschlichen Handelns angesehen werden können. Aus der Sicht der klassischen Staatstheorie, wie sie etwa Hobbes entwickelt hat, soll der Staat den Menschen primär vor dem Menschen und dessen im Dienste des Egoismus stehenden Gewaltbereitschaft schützen. Im Naturzustand ist jeder bereit, seine Interessen gewaltsam durchzusetzen; im staatlichen Zustand besitzt allein der Staat das Monopol der legitimen Gewaltanwendung – zumindest solange er seine Untertanen voreinander schützen kann. Dass darunter der Schutz vor absichtlichen Schäden fällt, steht außer Zweifel. Aber man kann darunter auch, ohne Hobbes’ Gedanken grundsätzlich zu verraten, den Schutz vor Schäden zählen, die zwar nicht beabsichtigt, die aber durchaus vorhersehbar sind und einfach in Kauf genommen werden. Ein Beispiel wäre hier eine in der Nähe einer Ortschaft implantierte Firma die massiv Schadstoffe emittiert, was zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Einwohner der Ortschaft führt. Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften kann der Mensch immer besser vorhersehen, welche Auswirkungen sein Handeln auf die natürliche Umwelt und auf die Mitmenschen haben wird und welche potentiellen Katastrophen es auslösen kann.138 Angesichts des eben Gesagten wundert es kaum, dass sich die Staatstheorie seit etwa einem halben Jahrhundert mehr und mehr mit Umweltfragen befasst und auf die Rolle des Staates bei der Lösung der durch menschliches Handeln bedingten UmweltprobleGenannt sei hier nur der sogenannte Tigermoskito, der u. a. Zika und Denge überträgt, und der sich inzwischen bis nach Paris ausgebreitet hat. 137 Nicht in dem Sinne, dass er Stürme verhindern muss, sondern in dem Sinne, dass er jedem eine Wohnung garantieren sollte, die ihn vor den Auswirkungen von starken Stürmen schützt bzw. für die Schäden aufkommen sollte die Privatpersonen oder auch Privatbetrieben durch die starken Stürme entstehen und in manchen Fällen nicht durch die Privatversicherungen gedeckt werden. (Ich verfasse diese Zeilen knapp einen Monat nachdem meine Geburtsgemeinde Petingen und deren Nachbargemeinde durch einen Tornado verwüstet wurden, der, laut ersten Berechnungen der Versicherungen, einen Schaden in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro hinterließ). 138 Auf der anderen Seite darf aber nicht verschwiegen werden, dass die Naturwissenschaften an der Basis jener technologischen Entwicklungen stehen, die zur Umweltkrise geführt haben. 136
Einleitung
me eingeht (Campagna 2018). Dass der Staat auf die Zerstörung der natürlichen Umwelt reagieren muss – vor allem dann, wenn es auch Auswirkungen auf die Gesundheit gibt –, wird kaum noch bestritten. Die Frage ist nur, wie er darauf reagieren sollte. Und das Wie betrifft hier nicht nur die ganz praktischen Maßnahmen – wie etwa die Erhöhung der Treibstoffpreise –, sondern es erstreckt sich bis zu philosophisch relevanten Fragen des Verfassungsrechts: Sollte man der Natur bzw. jeder natürlichen Kreatur eine Eigenwürde zusprechen oder sollte der Umweltschutz im Rahmen des sogenannten anthropozentrischen Rahmens bleiben? Sollte man sich damit begnügen, dem Menschen neben seinen bürgerlichen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen auch noch ökologische Rechte – wie etwa das Recht auf eine saubere oder eine artenreiche Umwelt – einzuräumen, oder sollte man dazu übergehen, neben den Menschen auch die Tiere, die Ökosysteme oder gar die ganze Natur als solche als eigenständige Rechtssubjekte anzusehen? Sollte man, anders gefragt, die Natur nur schützen, weil sie dem Menschen nützlich sein kann bzw. für ihn zum Überleben notwendig ist, oder sollte man sie auch, und vielleicht sogar in erster Linie, schützen, weil sie an sich schützenswert ist? Oder noch: Wenn wir der Natur Rechte zuschreiben, tun wir das, weil sie solche Rechte tatsächlich besitzt, oder handelt es sich nur um eine rechtliche Fiktion deren Sinn und Zweck darin besteht, die Natur wirksamer schützen zu können – aber im Interesse des Menschen. Eine andere hier zu stellende Frage wäre, welche Form genau der Staat annehmen sollte, der sich wirksam für die Bewahrung der natürlichen Ressourcen einsetzen wird. 1992, also vor fast dreißig Jahren, schrieb der Jurist Klaus Bosselmann in einem der ersten umfassenden Buch zum Thema: „Wir befinden uns auf dem Weg zum ökologischen Rechtsstaat“ (Bosselmann 1992, 8). Angesichts vieler seitdem verabschiedeten Gesetze zum Umweltschutz, gibt es heute eine Reihe von Menschen die eher den Eindruck haben, als hätten wir den Weg zur Ökodiktatur eingeschlagen. Fest steht, dass der Staat, wenn er sich den Schutz der natürlichen Umwelt tatsächlich zur Aufgabe macht – und mehr noch, wenn er dieser natürlichen Umwelt Rechte verleiht, die gegebenenfalls vor Gericht eingeklagt werden können –, notgedrungen in Sphären der menschlichen Freiheit eingreifen muss, die er bislang so gut wie ganz ignoriert hat. Allgemein gilt: Je mehr Schutz wir vom Staat verlangen, umso mehr wird er sich dazu befugt fühlen, unser Handeln zu bestimmen und zu kontrollieren. Denn der Schutz, den wir von ihm verlangen, ist nicht so sehr ein Schutz gegen außerirdische Wesen, sondern ein Schutz vor unseren Mitmenschen. Die Menschen müssen dazu gebracht werden, Handlungen zu unterlassen, die sie bislang frei ausgeführt haben. Und der Staat bestimmt, sich gegebenenfalls auf wissenschaftliche Studien stützend, welche Handlungen es sind. Auch wenn Bertrand de Jouvenels Überlegungen zum Umweltschutz sich nicht bis zu diesen rechtsphilosophischen Höhen emporschwingen, findet man in den in dem Sammelband Arcadie. Essais sur le mieux-vivre veröffentlichten Aufsätze139 Gedanken, die, In dem ebenfalls als Sammelband konzipierten Economics and the Good Life findet man auch einige Anmerkungen zur politischen Ökologie. 139
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betrachtet man die Entstehungsperiode der Aufsätze – 1957 bis 1967, mit, im Anhang, ein Text, der auf den Anfang der 70er Jahre datiert ist –, den Franzosen, mit seinen Landsleuten René Dubos, André Gorz oder noch Jacques Ellul, zu einem der großen Vordenker der sogenannten politischen Ökologie – ein Begriff, den er übrigens selbst verwendet (Arcadie, 23; 242) – machen. Zu einer Zeit, als sich die umweltbezogenen Probleme schon anbahnten, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, zog de Jouvenel bereits das Alarmsignal und rief zu einem Umdenken auf. Und dieses Umdenken sollte in erster Linie auf dem Gebiet der Ökonomie stattfinden, ohne sich allerdings auf dieses Gebiet zu beschränken. Genauso wie Marx ein gutes Jahrhundert vor ihm die These vertrat, dass die sozialen Probleme nur durch eine Revolution auf dem Gebiet der Ökonomie gelöst werden können, vertritt Bertrand de Jouvenel die These, dass die Lösung der ökologischen Probleme auch eines mehr oder weniger radikalen Umdenkens auf dem Gebiet der Ökonomie bedürfen. Dabei behauptet er allerdings nicht, wie Marx, dass man die Produktionsmittel in die Hände der Gesellschaft legen sollte, dass also der Kommunismus gleichzeitig die Lösung der sozialen und der ökologischen Probleme darstellt. Wie wir schon in einem vorigen Kapitel gesehen haben, geht de Jouvenel von der Prämisse aus, dass der Kapitalismus und der real existierende Sozialismus auf einer und derselben Wachstumslogik beruhen und nicht, wie es die Autoren einer kurz vor dem Mauerfall verfassten und im Dietz-Verlag publizierten ostdeutschen Studie zum Thema schreiben, zwei „sehr verschiedene ‚industrielle Systeme‘ darstellen, die ein ganz unterschiedliches Verhältnis zur natürlichen Umwelt entwickeln“ (Kösing u. a. 1989, 17). Was für die von Marx entwickelte Theorie gelten mag bzw. was sich gegebenenfalls in der von Marx herbei gewünschten kommunistischen Gesellschaft verwirklichen sollte, war nicht vergleichbar mit dem, was sich hinter dem Eisernen Vorhang tat. Der real existierende Sozialismus musste, wenn er seine Hoffnung, im Kampf mit dem real existierenden Kapitalismus als Sieger hervorzugehen, verwirklichen wollte, die Natur genauso ausbeuten, wie es sein Widerpart machte. Für de Jouvenel kommt es primär darauf an, bei der Nutzung der Produktionsmittel auf die sie begleitende Zerstörung des Allgemeinguts Natur zu achten. Es gilt also nicht, die kapitalistische Produktionsweise durch eine andere zu ersetzen, sondern den Gedanken des Allgemeinwohls in die Theorie der freien Marktwirtschaft zu integrieren und somit das Modell einer freien, sozialen und ökologischen Marktwirtschaft zu entwerfen. Das Problem ist nicht der Kapitalismus oder die freie Marktwirtschaft, sondern die Wachstumslogik, unter welchen Kleider diese auch immer erscheinen mag. Auch hier versucht de Jouvenel sich sowohl von einer Theorie des reinen laissez faire zu distanzieren, die davon ausgeht, dass sogenannte natürliche Mechanismen genügen, um das Allgemeinwohl zu fördern, als auch von einer Theorie, für die nur eine Ökodiktatur in der Lage ist, uns vor der Katastrophe zu bewahren.140 Dabei ist selbstverständlich zu bedenken, dass de Jouvenel zu einer Zeit schreibt, als das Krisenbewusstsein erst in seinem Anfangsstadium war. Insofern könnte man de Jouvenels Schriften auch als eine 140
Die Blindheit des herrschenden ökonomischen Denkens
In diesem abschließenden Kapitel möchte ich einen Überblick über die ökologische Dimension von Bertrand de Jouvenels Denken geben, wie sie sich vor allem in dem vorhin genannten Aufsatzband kund tut. In einem ersten Teil werde ich auf seine Kritik am herrschenden ökonomischen Denken eingehen und die Verbesserungsvorschläge vorstellen, die er präkonisiert. Solange sich nämlich das ökonomische Denken von falschen oder unterkomplexen Prämissen nährt, ist nicht an eine Lösung der sich stellenden Probleme zu denken. Der zweite Teil befasst sich mit der Zurückführung der Umweltzerstörung auf ihre anthropologischen bzw. kulturellen Wurzeln. Die ökologische Krise ist nämlich das Produkt eines bestimmten Welt- und Menschenbildes bzw. einer bestimmten Logik, die sich vornehmlich im Westen durchgesetzt hat. Die ökologische Krise, um es ganz konkret zu sagen, ist das Resultat jener civilisation de puissance, deren Aufkommen de Jouvenel in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat. Im dritten Teil werden wir sehen, wie de Jouvenel, dessen Warnungen vor der stetigen Vergrößerung der staatlichen Macht in fast allen seinen ab der ersten Hälfte der 40er Jahre verfassten Werken – vornehmlich in Du pouvoir – wiederzufinden sind, die Aufgaben des Staates angesichts der ökologischen Krise konzipiert. 1.
Die Blindheit des herrschenden ökonomischen Denkens
In De la souveraineté unterscheidet de Jouvenel die Politik von der Ökonomie, indem er der ersten die Aufgabe zuschreibt, die Menge der zur Verfügung stehenden Mittel zu vergrößern, und der zweiten, die jeweils zur Verfügung stehenden Mittel optimal zu gebrauchen, d. h. so zu gebrauchen, dass man das gewünschte Ziel mit einem möglichst geringen Verbrauch der gegebenen Mittel oder Kräfte erreicht (De la souveraineté, 79). Im Französischen gibt es in diesem Kontext den Ausdruck „économiser ses forces“, was man im Deutschen mit „sparsam mit seinen Kräften umgehen“ ausdrücken kann. Dies bedeutet, dass man bei der Nutzung der vorgegebenen Kräfte aufpassen und sie so verwenden soll, dass man das angestrebte Ziel erreichen kann, ohne seine Kräfte schon vorher ganz aufgebraucht zu haben. Das ökonomische Denken lässt sich somit als ein Kosten/Nutzen-Denken darstellen: Das zu erreichende Ziel stellt den Nutzen dar, und die zur Erreichung dieses Ziels einzusetzenden Mittel sind die Kosten. Und je weniger mir die Erreichung des Ziels kostet, umso ökonomischer ist mein Handeln. Das ideale ökonomische Handeln wäre ein solches, bei dem man nichts einsetzt und alles gewinnt, was aber unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist. Man muss demnach danach streben, den Einsatz Art Warnung lesen: Wenn ihr die Ökodiktatur eines Tages vermeiden wollt, dann müsst ihr jetzt handeln, um nicht eine Situation entstehen zu lassen, in welcher eine solche Ökodiktatur als einzige Möglichkeit erscheint, die Lebensgrundlagen des menschlichen Lebens, und vor allem eines lebenswerten menschlichen Lebens zu retten.
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so klein wie möglich zu halten. Wenn mir mehrere Wege zur Erreichung eines Zieles zur Verfügung stehen, und wenn alle diese Wege es mir erlauben, das Ziel zu erreichen, dann muss ich, wenn ich mich ökonomisch rational verhalten will, jenen Weg wählen, der mir am wenigsten kostet, auf die Frage nach der Kommensurabilität der Kosten werde ich gleich eingehen. Wichtig ist hier der Gedanke, dass ich die anstehenden Kosten auf die für mich selbst entstehenden Kosten beschränke. Was ich in allererster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich bewahren will, sind die Mittel, die ich als mein Privateigentum ansehe und um die ich mich gewöhnlich selbst kümmere. Alles, was dieses Privateigentum zerstört oder verbraucht, macht mich, allgemein gesprochen, ärmer. Und wo man die individuelle Perspektive verlässt, um eine soziale einzunehmen, geht es darum, dass die Gesellschaft die für sie selbst entstehenden Kosten reduziert. Dass diese Kosten auf andere bzw. eine andere Gesellschaft abgewälzt werden, wird dabei ausgeblendet – solange diese Abwälzung nicht ihrerseits Kosten für mich oder die Gesellschaft involviert. Im Rahmen der klassischen Ökonomie werden die entstehenden Kosten – sowie der zu entstehende Nutzen – gewöhnlich in monetären Begriffen ausgedrückt, d. h. alle Kosten und Nutzen werden auf eine, im wahrsten Sinn des Wortes, gemeinsame Währung reduziert, so dass sie miteinander kommensurabel werden. Wenn man wissen will, wie wichtig etwas einem ist, kann man folgenden Test machen: Wie viel Geld müsste jemand mir geben, damit ich ihm das betreffende Gut gebe oder auf dieses Gut verzichte? Dabei wird davon ausgegangen, dass prinzipiell alles seinen Preis hat, so dass für jedes Gut einmal der Punkt erreicht werden kann, an dem man bereit ist, es zu verkaufen.141 Die klassische Ökonomie schließt demnach jene Güter aus, von denen Immanuel Kant behauptet hatte, sie hätten nur einen Wert und keinen Preis – und wozu in erster Linie die menschliche Würde zählt. Insofern der Preis einer Sache im Zentrum des ökonomischen Denkens steht, tendiert dieses Denken von allem abzusehen, für deren Verbrauch man keinen Preis zu zahlen hat bzw. tendiert es dazu, diese preislosen Güter, also diese Güter deren man sich bedienen kann, ohne einen Preis dafür zu zahlen, zu ignorieren, was nichts anderes bedeutet, als dass ihr weiteres Vorhandensein nicht thematisiert wird. Hätten sie einen Preis und würde dieser Preis mit ihrem stetigem Verbrauch steigen, was die Produktionskosten erhöhen und damit den Profit gegebenenfalls senken würde, dann würde das ökonomische Denken diesen Gütern seine volle Aufmerksamkeit schenken und nach Wegen suchen, weniger davon zu verbrauchen.
Die ökonomische Denkweise lässt sich allgemeiner durch die Frage kennzeichnen: Was wärest Du bereit zu opfern, um ein bestimmtes Gut X zu erlangen? Die Möglichkeit eines Kalküls wird für jede Art von Gut erwogen. Ein sich dem ökonomischen Denken entgegenstellendes Denken schließt bestimmte Güter vom Kalkül aus. Für ein solches Denken ist es schon an sich unanständig zu fragen, wie viel jemand uns anbieten müsste, damit wir einen Freund verraten. 141
Die Blindheit des herrschenden ökonomischen Denkens
Bertrand de Jouvenel wirft dem ökonomischen Denken eine dreifache Blindheit vor bzw. eine sich auf drei Ebenen ausdrückende Blindheit (Arcadie, 10). Es gibt Dinge bzw. Aktivitäten, die von dem ökonomischen Denken ausgeklammert werden, weil sie dessen Logik nicht entsprechen, entweder dass sie sich dieser Logik intrinsisch entziehen, oder unter bestimmten, kontingenten Umständen nach einer anderen Logik funktionieren. Damit steht man vor der Frage, ob man die Logik des ökonomischen Denkens, zumindest für bestimmte Gebiete, aufgeben bzw. sie für diese Gebiete um eine weitere Dimension erweitern soll – aber besteht dann nicht die Gefahr, das ökonomische Denken in etwas Anderes zu verwandeln? –, oder ob man besagte Dinge und Aktivitäten nicht neu konzipieren sollte, so dass sie in die bestehende Logik des ökonomischen Denkens passen. Das ökonomische Denken, so de Jouvenel, ist einerseits blind für die Dienstleistungen, die die Menschen ganz umsonst erbringen, für die sie sich also keinen monetären Gegenwert, also keinen Preis, geben lassen und auch keinen Lohn oder ähnliches erwarten. Der Wert dieser Dienstleistungen taucht nirgends im Bruttosozialprodukt auf, da sie nicht mit einem für sie gezahlten Preis verbunden sind. Aber dass sie keinen Preis haben und nicht im Bruttosozialprodukt auftauchen, heißt noch lange nicht, dass sie an sich keinen Wert und damit auch keine Wichtigkeit haben, so dass man sie einfach ignorieren könnte. Wer dies glaubt, zeigt, dass er in der eindimensionalen Logik des klassischen ökonomischen Denkens gefangen ist und nur das als wertvoll ansieht, was mit einem Preis verbunden ist. Sozialer Wert und Preis müssen demnach auseinander gehalten werden und der Preis darf auf keinen Fall als alleiniger Gradmesser der Wichtigkeit angesehen werden. Eine dieser Dienstleistungen ist, um das paradigmatische Beispiel anzuführen, auf das auch de Jouvenel zurückgreift, die Arbeit der Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern. Während eine Kinderpflegerin für ihre Arbeit bezahlt wird, tut die Mutter dieselbe Arbeit umsonst. Die Dienstleistung der ersteren taucht in den Rechnungen der Wirtschaftswissenschaftler und im Bruttosozialprodukt auf, die der letzteren nicht, und dies obwohl das Resultat, wenn man es so nennen kann, dasselbe ist bzw. im Fall der Mutter gewöhnlich noch besser ist, da man eine Arbeit, die man, wie das der Fall sein sollte, mit Liebe ausführt, im Prinzip besser ausführt als eine Arbeit, die man nur, oder doch zumindest primär – und primär bedeutet hier keinesfalls ausschließlich –, um des Gewinnes eines Lebensunterhalts willen ausführt. Die Ökonomie kann diesen Mehrwert der mütterlichen Arbeit aber nicht einsehen, da sie die unbezahlte Arbeit der Mutter völlig ignoriert. Der Ökonomist Friedrich List hat es griffig, und im Sinne einer Kritik, auf den Punkt gebracht: „Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“ (List 1959, 151). Der Schweinezüchter wird erstens für seine Arbeit bezahlt und man zahlt auch für die Schweine, die er gezüchtet hat. Wer sein Kind zu Hause erzieht wird nicht für seine Arbeit bezahlt und man zahlt nicht für die Kinder, die er oder sie erzogen hat.
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Das ökonomische Denken ist zweitens blind für die natürlichen Ressourcen, deren Benutzung nicht unmittelbar mit einem Preis verbunden ist, deren Verbrauch einem also möglich ist, ohne dass man für ihn bezahlen muss. De Jouvenel erwähnt hier den Wind, die Luft und das Wasser. Diese Ressourcen unterscheiden sich dadurch von anderen natürlichen Ressourcen wie etwa das Land oder die Bodenschätze, dass sie erstens in unbegrenzten Mengen verfügbar sind, und dass sie zweitens nicht privativ angeeignet werden können.142 Hinsichtlich der Luft kann man de Jouvenel zustimmen: Man braucht keinen Preis für den Verbrauch von Luft zu zahlen. Sie ist ein Gemeingut, von dessen Verbrauch man niemanden ausschließen kann.143 Beim Wasser ist es etwas komplizierter. Wer Wasser aus dem Wasserhahn verwendet, muss dafür zahlen – allerdings ist der Preis relativ niedrig. Wer aber Wasser aus einem Fluss oder aus dem Meer benutzt, kann dies umsonst tun. Wenn das erste Wasser uns etwas kostet, so betreffen diese Kosten nicht so sehr das Wasser als solches, als vielmehr die Infrastrukturen, mittels derer das Wasser uns sauber ins Haus geliefert wird. Wenn die Betreiber eines Atomkraftwerkes das Wasser des nahe bei der Zentrale fließenden Flusses benutzen, um den Reaktor abzukühlen, entstehen ihnen keine Kosten für den Verbrauch als solchen. Die eben erwähnten natürlichen Ressourcen, deren Verbrauch nichts kostet, werden von der Ökonomie ignoriert, da ihr Preis nirgendwo in den Produktionskosten auftaucht. Doch die Produktion vieler Güter setzt den Verbrauch dieser Ressourcen voraus, woraus ersichtlich wird, dass auch das, was nichts kostet, wichtig sein kann. De Jouvenel beanstandet also hier eine Blindheit der Ökonomie gegenüber wichtigen Bedingungen der Möglichkeit der Produktion und damit der Ökonomie selbst. Die Atomzentrale kann das Wasser des Flusses nur solange verwenden, wie dieses Wasser im Fluss fließt. Die dritte Blindheit hängt in einem gewissen Sinne mit der zweiten zusammen. Mag auch Wasser den Menschen unbegrenzt zur Verfügung stehen, so gilt das nicht für sauberes oder allgemeiner brauchbares Wasser. Dabei sind es ganz oft die menschlichen Tätigkeiten, die zu einer Verschmutzung des Wassers führen und damit die Quantität von sauberem Wasser, auf das andere Menschen angewiesen sind, reduzieren, und damit gegebenenfalls – zumindest in bestimmten Gegenden – eine Überfluss- in eine Mangelsituation verwandeln. De Jouvenel macht hier auf das Phänomen der sogenannten Externalisierung der Kosten aufmerksam. Ein Betrieb verschmutzt das Wasser eines Flusses, aus dem die lokale Bevölkerung ihr Trinkwasser nimmt. Will letztere weiter auf sauberes Trink-
Man muss hier etwas nuancieren. Der Wind bläst nicht überall mit derselben Stärke und dasselbe gilt für das Fließen des Wassers. 143 Hier muss man allerdings zwischen der Luft als solchen und der sauberen Luft unterscheiden. Manche Leute leben in Gegenden, in denen sie keine saubere Luft mehr atmen können, und in manchen großen Städten gibt es schon Automaten, an denen man für eine bestimmte Summe Geld saubere Luft atmen kann. 142
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wasser aus dem Fluss zurückgreifen, muss sie eine Kläranlage bauen. Die Kosten für diesen Bau tauchen aber nicht in der Bilanz bzw. den Produktionskosten des verschmutzenden Betriebes auf, sondern sie müssen von der Bevölkerung selbst getragen werden. Sie wurden somit vom Betrieb externalisiert, d. h. auf andere, äußere Entitäten übertragen. Der Betrieb verschafft sich einen Vorteil, für den er nicht zu zahlen braucht, und wenn die Bevölkerung weiterhin von einem bestimmten Vorteil, der bisher umsonst war, profitieren will, muss sie fortan dafür zahlen. In einem 1990 veröffentlichten Buch konnte Sighard Wilhelm diese Externalisierung noch als „das ungelöste Kernproblem“ der Umweltpolitik darstellen, und schreiben: Solange die Nutzung der Umwelt – Boden, Wasser und Luft – für die Produktion umsonst ist, fallen externe Kosten nicht nur aus der betrieblichen Kalkulation heraus, sondern die Umwelt wird auch verschwenderisch genutzt (Wilhelm 1990, 26)
In der Kosten/Nutzen-Kalkulation wird nur der sich in einem Preis ausdrückende Verbrauch berücksichtigt, und der betreffende Preis muss auf ein optimales Minimum reduziert werden, was dann nichts anderes bedeutet, als dass auch der Verbrauch auf ein optimales Minimum reduziert werden muss, will die Firma einen möglichst großen Gewinn erzeugen. Wo kein Preis ist, wo also keine Kosten anstehen, wird der Verbrauch nicht auf dieses Minimum reduziert und die natürliche Ressource wird dementsprechend verschwendet, d. h. bei ihrem Verbrauch setzt man sich keine Grenzen und man strebt auch keinen niedrigeren Verbrauch an, zumal dann nicht, wenn eine Reduzierung des Verbrauchs Investitionskosten bedeuten und damit den möglichen Profit reduzieren würde. Was die von de Jouvenel dargestellte dreifache Blindheit besonders schlimm macht, ist die Tatsache, dass es spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr die politische Wissenschaft ist, die, wie noch Aristoteles es verlangte, allen anderen Wissenschaften das Ziel vorgibt und in diesem Sinn über sie herrscht, damit sie einem bestimmten Zweck dienen, sondern dass diese Führungsrolle oder architektonische Funktion von der Ökonomie übernommen wurde (Arcadie, 10). Die politischen Entscheidungen werden dementsprechend nach den Vorgaben und Kriterien einer rein ökonomischen Logik getroffen, und da diese ökonomische Logik von der eben vorgestellten dreifachen Blindheit gekennzeichnet ist, leiden auch die politischen Entscheidungen unter dieser Blindheit, und weit davon entfernt, uns vor den Gefahren des rein ökonomischen Denkens zu schützen, setzt uns die Politik diesen Gefahren aus. Aus der Politik wurde die politische Ökonomie, aber diese muss, wenn die Menschheit sich vor einem selbstverschuldeten Untergang bewahren will, durch eine politische Ökologie ersetzt bzw. um die Dimension einer solchen politischen Ökologie erweitert werden, wie de Jouvenel es in der Überschrift eines Aufsatzes aus dem Jahr 1957 zum Ausdruck bringt. Der herrschenden Wirtschaftstheorie wirft de Jouvenel in einem 1980 veröffentlichten Aufsatz vor, sich im Himmel der Abstraktionen zu bewegen und den Boden der
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konkreten Tatsachen vergessen zu haben und er plädiert für einen „return to a realistic understanding of the workings of the concrete economy“ (Economics and the Good Life, 303), ein Plädoyer das sich in der im Titel des Aufsatzes auftauchenden Formulierung „back to basics“ zusammengefasst findet. In diesem Kontext ist es interessant darauf hinzuweisen, dass de Jouvenel hier einen Gedanken aufgreift, den man schon bei Benjamin Constant findet, zu einer Zeit, als die politische Ökonomie erst in ihren Kinderschuhen steckte und die ökonomischen Werke eines Adam Smith, David Ricardo oder Jean-Baptiste Say, um nur sie zu nennen, noch vereinzelt Spuren einer Verankerung in der konkreten Wirklichkeit erkennen ließen. Doch trotz der Präsenz dieser Spuren schreibt Constant in seinem Kommentar zu Filangieris Scienza della legislazione: „Ich mag die politische Ökonomie […], aber ich möchte, dass man nicht vergisst, dass der Mensch nicht nur ein arithmetisches Zeichen ist“ (Constant 2004, 135). Der Mensch, so Constant, ist ein leibliches Wesen, das Gefühle hat, die man in den ökonomischen Traktaten berücksichtigen sollte, und zwar um ihrer selbst willen.144 Bei Bertrand de Jouvenel stehen nicht so sehr oder nicht nur die konkreten Menschen im Mittelpunkt, sondern die Natur insgesamt. Auch sie soll nicht als ein rein arithmetisches Zeichen betrachtet werden, etwas, das man nur dann berücksichtigt, wenn ihm, als Zeichen, eine relevante Funktion in den Kalkülen der Theoretiker zukommt. Ein Autor in dem de Jouvenel einen Vorreiter einer neuen ökonomischen Denkweise sieht ist Arthur Cecil Pigou, der als erster eine Theorie der Externalitäten aufgestellt und damit auf jene Faktoren hingewiesen hat, die zwar nicht im ökonomischen Kalkül auftauchen – weil sie sich etwa nicht monetär ausdrücken lassen –, die aber von der ökonomischen Aktivität vorausgesetzt und in vielen Fällen durch sie zerstört werden (Pigou 1912). Hat Pigou die externen Kosten mitberücksichtigt und dachte er die Regierung als eine Art trustee für die Umwelt, also eine Instanz die dafür sorgt, dass die Umwelt in ihrer nicht monetisierbaren Dimension durch das ökonomische Handeln zerstört wird, so ist er doch sozusagen auf halbem Weg stehen geblieben (Arcadie, 403). De Jouvenel will die Reflexion dort aufgreifen, wo Pigou sie unterbrochen hat. Und dazu gehört auch eine Besinnung auf die tieferen Wurzeln der Umweltzerstörung. Denn für Bertrand de Jouvenel genügt es nicht, auf die Mängel der herrschenden Wirtschaftstheorie hinzuweisen. Diese Theorie ist eine von Menschen aufgestellte Theorie, und bevor die Theoretiker die Natur in ihrer Theorie vernachlässigten, haben die Menschen in ihrem konkreten Handeln die Natur als eine reine, anscheinend unerschöpfliche Ressource betrachtet. Der Umgang des Menschen mit der Natur ist der Ausdruck eines Chauvinismus der Spezies (Arcadie, 240), ein Begriff, den de Jouvenel schon 1965 in seinem Aufsatz ‚Pour une conscience écologique‘ gebraucht, also noch Der Satz taucht im Rahmen einer Debatte über die Armen auf, die zu viele Kinder haben, um sie selbst zu ernähren. Bestimmte Autoren, so Constant, predigen den Armen die sexuelle Abstinenz und fordern sie dazu auf, nicht zu heiraten. Für Constant trägt eine solche Forderung, die aus einer rein ökonomischen Sicht absolut rational ist, den Gefühlen der konkreten Menschen keine Rechnung. 144
Die anthropologischen und kulturellen Wurzeln der Umweltzerstörung
bevor der australische Philosoph Peter Singer den Begriff des „Speziesismus“ prägte. Indem er sich nur auf die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse konzentrierte, hat der Mensch, und vornehmlich der westliche Mensch, einerseits seine spirituellen Bedürfnisse vergessen, und andererseits kein Bewusstsein für die Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen entwickelt. 2.
Die anthropologischen und kulturellen Wurzeln der Umweltzerstörung
Bertrand de Jouvenel beschränkt sich nicht auf die Feststellung, dass die Externalisierung der Kosten ein Phänomen ist, das man nur bei Betrieben findet, also im Falle moralischer Personen, die nach einer ihnen eigenen Logik funktionieren. Er führt das Phänomen vielmehr auf seine tiefen anthropologischen Wurzeln zurück, sucht also bei den leiblichen Personen, bei den konkreten Individuen, nach Spuren eines Denkens, das schon nach der auf großer Ebene herrschenden ökonomischen Logik funktioniert. Die Externalisierung der Kosten ist somit nicht erst mit der kapitalistischen Produktionsweise aufgekommen, so dass es genügen würde, diese durch eine andere zu ersetzen, um damit automatisch das Problem der Externalisierung zu beseitigen. Das menschliche Individuum scheint von Natur aus ein Wesen zu sein, das dazu neigt, nur sich selbst zu sehen bzw. nur den Nutzen und die Kosten für sich selbst und nicht auch die Kosten für andere Individuen. So schreibt de Jouvenel: Der Lärm, der Geruch und der Schmutz der asiatischen Städte erinnern uns daran, dass die ‚Produktion‘ dieser Übel das unausweichliche Resultat der großen Bevölkerungsansammlungen ist; und der Gebrauch den unser Nachbar von seinem Radio macht lässt uns unmittelbar die fundamentale Ursache des Übels spüren: Der Mensch ist sich von Natur aus der Leiden nicht bewusst, die er seinem Nachbarn zufügt. (Arcadie, 19–20)
Hier zeigt sich, wie so oft, der dem Jouvenelschen Denken zu Grunde liegende anthropologische Pessimismus. Das fundamentale Übel liegt nicht, oder doch zumindest nicht primär, wie es etwa der Marxismus annimmt, in ungerechten oder unangemessenen sozialen, ökonomischen oder politischen Strukturen, sondern es liegt im Menschen selbst, in der menschlichen Natur. De Jouvenel verankert das Übel allerdings in einem mangelnden Bewusstsein und nicht so sehr in einer böswilligen oder gar sadistischen Veranlagung: Wer sein Radio auf die maximale Lautstärke stellt ist sich nicht bewusst, dass seine Handlungsweise seinen Nachbarn eventuell stören könnte. Er denkt nicht so weit und bleibt bei sich stehen; er ist sich des Nutzens für sich selbst bewusst, nicht aber der Kosten für den anderen.145 Und je näher die Menschen beieinAuf Grund der uns heute zur Verfügung stehenden Daten über die Konsequenzen einer übertriebenen Lautstärke beim Musikhören kann man sagen, dass man sich oft nicht einmal der mittel – und langfristigen Kosten für einen selbst bewusst ist bzw. dass man diese Konsequenzen ignoriert. 145
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ander leben bzw. je dichter die Bevölkerung, und je weiter sich die möglichen Konsequenzen ihrer Handlungen erstrecken, umso mehr Menschen werden die Kosten ertragen müssen, und zwar ohne dass diese Nähe von sich aus ein größeres Bewusstsein für den Schaden entstehen ließe, den man seinen Mitmenschen zufügt. In einem anderen Text vertritt de Jouvenel allerdings eine Position die etwas nuancierter ist, da er hier eine Ambivalenz in der menschlichen Natur konstatiert und zwei Arten der Intelligenz voneinander unterscheidet, der er jeweils einem anderen Kulturkreis zuordnet (Arcadie, 234). In China und ganz allgemein in den buddhistisch und taoistisch geprägten Kulturen des Ostens herrscht die Intelligenz der Sympathie146, wohingegen im industrialisierten Westen die Intelligenz der Ausbeutung vorherrscht. Im Osten hat man während Jahrhunderten den ersten Intelligenztyp gefördert, im Westen den zweiten. Der erste Typ von Intelligenz sucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur und berücksichtigt diese demnach. Für Bertrand de Jouvenel kennzeichnet dieser Intelligenztyp auch den sogenannten Wilden. Dieser nimmt sich zwar in der Natur, was er zum Überleben braucht, aber er reduziert die ihn umgebende Natur nicht auf ein reines Ressourcenreservoir, das ihm frei zur Verfügung steht und auf das er nicht weiter zu achten braucht. Der Mensch sieht sich als Teil einer ihn umgreifenden Natur, und auch wenn er Teile dieser Natur braucht, um sich selbst zu erhalten, nimmt er sich nur das, was absolut notwendig ist. Der zweite Typ von Intelligenz zeigt keine Achtung mehr für die Natur, sondern diese erscheint nur noch mehr als ein grenzenlos ausbeutbares Objekt: Nehmen ohne zu verstehen, ist die Tat des Barbaren. Verstehen nur um zu nehmen, ist die Rationalisierung der Barbarei, und es ist der Geist unserer Zivilisation. Es ist die Intelligenz des Diebstahls, nicht der Sympathie (Arcadie, 234)
Während der Barbar sich in einer sich seinem Verständnis so gut wie ganz entziehenden Welt einfach nimmt, ohne sich zu überlegen, wie er durch ein Verständnis der Naturmechanismen noch mehr nehmen könnte, versucht der der Mensch „unserer Zivilisation“ also der westliche Mensch, der Mitglied jener civilisation de puissance, nach welcher de Jouvenel eines seiner Bücher benannt hat, die Welt besser zu verstehen, um sich in ihr mehr nehmen zu können. Das von ihm gesuchte Verständnis der Welt und ihrer Gesetze oder Mechanismen geschieht also nicht um des bloßen Verständnisses willen, sondern um sich die Güter der Natur besser und effizienter aneignen zu können. Sein Wissen ist, wie schon Francis Bacon es formuliert hatte, ein bloßes Mittel, um seine Macht über die Natur zu erhöhen. Das Wissen ist kein Selbstzweck, sondern es wird, ebenso wie die verstandene Natur, zum bloßen Mittel.
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Siehe hierzu Ames 1989.
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Die Natur erscheint dem westlichen Menschen insofern nicht als ein ihm anvertrautes Gut, das es, wenn nicht unbedingt in seinen einzelnen Elementen, so doch in seiner Gesamtintegrität zu bewahren gilt, sondern als eine reine Ressource, auf deren optimale Ausbeutung es ankommt, wobei diese optimale Ausbeutung ihrerseits der Verbesserung des materiellen Wohlstands der Menschheit dienen soll. Und dass eine solche Verbesserung in den letzten drei oder vier Jahrhunderten tatsächlich stattgefunden hat, und dies in einem bis dahin nicht gekannten Maße, stellt Bertrand de Jouvenel keineswegs in Frage, genauso wenig wie er diese Verbesserung als solche verurteilt oder in eine naive Kritik oder gar Verurteilung des technischen Fortschritts verfällt. Er warnt vielmehr vor einem rein einseitigen Fortschritt, der den Wert einer Sache mit ihrem Preis gleichsetzt und den Menschen auf die Dimension des Konsumenten materieller Güter reduziert: Ebenso wie diese Rationalität dasjenige in der Natur zertritt, was keine produktive Ressource ist, vernachlässigt sie im menschlichen Leben alles, was sich nicht mittels der Produktion befriedigen lässt. Sie schematisiert das zu dienende menschliche Ensemble ebenso wie sie das ähnlich einem Diener behandelte natürliche Ensemble schematisiert (Arcadie, 235)
Wir hätten somit die Produktion materieller Güter einerseits und die Befriedigung materieller Begierden und Wünsche andererseits, und alles was sich nicht auf diese Dimension des Materiellen reduzieren lässt, wird einfach vernachlässigt. Weit davon entfernt, dem Geist einer wahren Zivilisation zu entsprechen, haben wir es hier mit einer „barbarischen Rationalität“ (Arcadie, 235) zu tun, die umso gefährlicher ist, als sie rationaler wird und als ihr immer effizientere Mittel zur Verfügung stehen, um die Natur auszubeuten. Anstatt uns auf die der Natur inhärenten Grenzen aufmerksam zu machen, sieht die im Dienste der barbarischen Rationalität stehende Wissenschaft nur die Ausbeutungsmöglichkeiten. Im Westen, so de Jouvenel, war es „der Wille zur Selbstbehauptung, zur Übersteigung, zur Macht“ der hinter dem technischen Fortschritt stand (Arcadie, 222), und somit nicht, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen, die Suche nach einem besseren Leben für alle Menschen (Arcadie, 220). Das eigentliche Ziel des technischen Fortschritts, heißt es an einer anderen Stelle, war die Machtvergrößerung, und die Vergrößerung des Wohlstandes war nur ein Nebenprodukt (Arcadie, 39). Wo der technische Fortschritt und die durch ihn ermöglichte größere Produktivität die Lebensbedingungen der Menschen verbessern, und zwar nicht nur in materieller, sondern auch in spiritueller Hinsicht, sind sie für de Jouvenel willkommen (Arcadie, 149).147 Insofern allerdings die asiatischen Länder den produktivistischen Weg des Westens eingeschlagen haben, nimmt auch bei ihnen die Intelligenz der Ausbeutung immer Bertrand de Jouvenel spricht in diesem Zusammenhang oft von „aménité“, ein etwas veralteter Begriff, den man mit „Anmut“ oder „Bequemlichkeit“ übersetzen könnte. 147
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mehr die Überhand, was dann zu dem Lärm, Geruch und Schmutz der überbevölkerten asiatischen Städte führt, auf die de Jouvenel hinweist. Die Entwicklung des sekundären ökonomischen Sektors führt auch in den asiatischen Ländern zu einer Landflucht und zur Entstehung von urbanen Ballungszentren, in denen jeder – jedes Individuum, aber auch jede Firma – seinen bzw. ihren Geschäften nachgeht, ohne an die globalen Konsequenzen zu denken. Die von de Jouvenel angeprangerte barbarische Rationalität droht damit, weltweit zum einzigen Modell der Rationalität zu werden. Diese Rationalität charakterisiert den Menschen der produktivistischen Polis, mag diese sich als kapitalistisch oder sozialistisch bezeichnen. Sie reduziert sich auf das rein Quantitative und vernachlässigt die qualitative Dimension. Je mehr Bedürfnisse und Begierden der Mensch entwickelt, umso mehr kann produziert werden, damit diese Bedürfnisse und Begierden befriedigt werden können (Arcadie, 148). 3.
Der Staat und die ökologische Krise
Wie soll der Staat, dessen Aufgabe es ist, die Menschen zu schützen, sich angesichts der grassierenden Zerstörung der natürlichen Umwelt, und damit auch der Lebensbedingungen der Menschen, verhalten? Welche Maßnahmen muss er ergreifen angesichts der Tatsache, dass die Menschen nicht freiwillig und ohne einen von außen kommenden Impuls ihre Handlungsweise ändern werden? Und vor allem auch, welche Maßnahmen darf er ergreifen, wenn er gleichzeitig die Lebensbedingungen der Menschen schützen und deren Freiheit bewahren will? In welche bislang noch nicht durch das Gesetz geregelte lebensweltliche Kontexte darf er überhaupt eingreifen? Besteht hier nicht das Risiko, dass der Minotaurus, dessen stetigen Machtzuwachs Bertrand de Jouvenel vor allem in Du pouvoir angeprangert hatte, seine Macht noch weiter erhöht und damit die menschliche Freiheit noch weiter beschneidet? Wie im 19. Jahrhundert die soziale Krise zu einem enormen Machtzuwachs des Staates geführt hat, könnte im 20. Jahrhundert die ökologische Krise zu einem neuen Machtzuwachs führen. Von Krise zu Krise erscheint der Staat immer als die einzige Instanz, die sich der Aufgabe stellen kann, die Krise zu meistern. Und bei jeder Krise verlangt er, dass man ihm auch die Mittel zur Verfügung stellt, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Doch je mehr Mittel man dem Staat zur Verfügung stellt, umso mächtiger wird er. Damit wird er vielleicht in eine Lage versetzt, die es ihm erlaubt, die Krise zu meistern. Aber er wird auch gleichzeitig in eine Lage versetzt, die es ihm erlaubt, die Freiheit seiner Bürger zur Illusion werden zu lassen. Jede Krise droht somit zu einer Krise der Freiheit zu werden. Dieses Risiko einer immer größer werdenden Gefährdung der Freiheit hätte Bertrand de Jouvenel dazu verleiten können, staatliche Eingriffe zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen kategorisch abzulehnen. Das tut er allerdings nicht. In mehreren Aufsätzen weist er auf Möglichkeiten hin, die bestehende Situation durch gezielte staatliche Eingriffe zu verbessern bzw. sie vor einer weiteren Verschlechterung zu be-
Der Staat und die ökologische Krise
wahren. Einen besonderen Wert legt er dabei auf die Landesplanung und die Bauordnung, auf die er in den 1963 und 1964 entstandenen ‚Notes sur l’habitat‘ etwas genauer eingeht. „Der Wohnungsbau ist eine Angelegenheit der öffentlichen Ordnung“ (Arcadie, 249) heißt es gleich im Einleitungssatz der ersten der drei Bemerkungen zum Wohnungsbau. Dieser öffentliche Charakter ist einerseits durch die Tatsache bedingt, so der Autor, dass kaum jemand in der Lage ist, den Bau oder den Ankauf einer Wohnung aus der eigenen Tasche zu finanzieren. Will man demnach sicherstellen, dass jeder sich eine dezente Wohnung leisten kann, so muss dafür gesorgt werden, dass ein Finanzierungssystem besteht, das es den Bürgern erlaubt, Geld zu einem vernünftigen Preis zu leihen. Bertrand de Jouvenel hat hier eine Gesellschaft vor Augen, in welcher jeder Eigentümer seiner eigenen Wohnung ist und in welcher der Staat einen finanzpolitischen Rahmen schafft, der die Verwirklichung dieses Ideals ermöglicht. Doch es gibt noch einen gewichtigeren Grund, um den Wohnungsbau als eine öffentliche Angelegenheit anzusehen. Es genügt nämlich nicht dafür zu sorgen, dass Häuser gebaut werden oder dass die Menschen sich Häuser kaufen können, sondern diese Häuser müssen auch an eine ganze Reihe von Infrastrukturen – Wasser, Elektrizität, Abwasser, usw. – angebunden werden, und der Bau dieser Infrastrukturen fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Individuen, sondern hier muss die öffentliche Hand aktiv werden. Wenn dem aber so ist, dann muss der Wohnungsbau staatlich geregelt werden, damit der Staat die nötigen Infrastrukturen rational gestalten kann und dass auch dafür gesorgt wird, dass die Abwässer der etwas höher gelegenen Häuser nicht die Einwohner der etwas niedriger gelegenen Häuser plagen. Bei großen Infrastrukturprojekten obliegt es dem Staat dafür zu sorgen, dass die negativen Konsequenzen auf ein Minimum reduziert werden und dass jeder gleichmäßig von den Infrastrukturen profitieren kann, ohne dass einige ungleichmäßig unter möglichen negativen Konsequenzen leiden. Gleichfalls ist zu beachten, dass der den Menschen auf diesem Planeten zur Verfügung stehende Raum nicht unendlich ist, so dass sich für sie die Frage nach der Aufteilung des Raumes stellt. Dies umso mehr, als einerseits der Raum für viele sehr unterschiedliche menschliche Aktivitäten gebraucht werden kann, die nicht alle am selben Ort miteinander kompatibel sind, wie etwa Wohnen, Agrikultur, Freizeit, usw., und als andererseits die Anzahl der den Raum in Anspruch nehmenden Personen immer größer wird.148 Hieraus ergibt sich für Bertrand de Jouvenel, dass die öffentlichen Autoritäten zu „Bewahrerinnen des Raumes“ werden müssen, die erstens über den Raum wachen, zweitens aber auch seinen Gebrauch orientieren. Die Raumbesetzung sollte zum Gegenstand einer zentralisierten Raumplanung gemacht werden, da nicht anzunehmen ist, dass die individuellen Entscheidungen der Menschen von sich aus, wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, zu einer rationalen Aufteilung führen werden.
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Das Problem des Bevölkerungswachstums taucht bei Bertrand de Jouvenel nur ganz marginal auf.
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Weniger noch als auf anderen Gebieten, kann man hier mit natürlichen Mechanismen rechnen, die eine für alle zufriedenstellende Ordnung herbeiführen werden. Eine solche öffentliche Orientierung geschieht heute durch das Aufstellen sogenannter Bebauungspläne, die den Raum in unterschiedliche Zonen einteilen. In einigen dieser Zonen darf überhaupt nicht gebaut werden, in anderen ist das Bauen zwar erlaubt, aber es müssen bestimmte, oft restriktive Auflagen respektiert werden149, und es gibt Zonen, die primär für das Bauen vorgesehen sind und wo die Auflagen relativ liberal sind. Dadurch soll eine Situation vermieden werden, in welcher jeder den Raum ganz nach seiner freien Willkür benutzen kann, ohne im Geringsten auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu achten. Das Ziel ist es, das Zusammenleben der Menschen und das Zusammenbestehen der unterschiedlichen Aktivitäten so gut wie möglich und im gemeinsamen Interesse zu regeln. Bertrand de Jouvenel liegen vor allem zwei Aspekte am Herzen, und zwar einerseits die Qualität der Wohnungen und andererseits deren Ästhetik. Die Gefahr, dass diese beiden Aspekte vernachlässigt werden, ist besonders groß in einer Epoche schnell wachsender Bevölkerung, in welcher die Nachfrage nach neuen Wohnungen sehr groß ist und in welcher man demnach geneigt ist, die Quantität gebauter Wohnung der Qualität vorzuziehen. In Frankreich bieten die sogenannten HLM150 ein perfektes Beispiel für diese Gefahr: Wie senkrecht aufgestellte Schuhkasten aussehend, sollten diese schnell und oft mit billigem Material gebauten Hochhäuser die Bevölkerung aufnehmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den Städten zunahm. Die eben erwähnte Gefahr wird noch durch die Tatsache erhöht, dass die Bauunternehmen an einem möglichst schnellen und großen Profit interessiert sind und somit möglichst billig bauen, was als Konsequenz hat, dass in vielen Fällen die Wohnqualität impaktiert wird und ein dezentes Wohnen so gut wie unmöglich ist. Die produktivistische Logik ist demnach auch hier am Werk, und auch hier geht der Profit vor den Menschen, vor ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden. Insofern die Privatinvestoren die Aspekte der Qualität und der Ästhetik vernachlässigen, obliegt es dem Staat, ihnen Geltung zu verschaffen: Denn der Staat hat heute die nötige Macht, um über die Qualität der Wohnungen zu wachen. In Wahrheit kann heute nicht ohne den finanziellen Eingriff der öffentlichen Macht gebaut werden; man wird demnach nicht mehr den Konstrukteuren das Tempo vorwerfen können, mit dem gebaut wird, sowie die Entstellung des Landes, sondern den öffentlichen Autoritäten. Denn insofern das, was gemacht wird, nur dank ihrer gemacht wird, steht es ihnen zu, das Gesicht Frankreichs und das Leben der Franzosen zu verschönern. (Arcadie, 234)
Man denke hier etwa an historische Viertel, wo Neubauten sich in das Viertel integrieren müssen. HLM ist das Kürzel für habitation à loyer modéré, also Wohnung zu gemäßigtem Mietpreis. Man findet diese Wohnungen vor allem in den Vorstädten der französischen Großstädte. 149 150
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Dem Staat wird nicht nur die Aufgabe zugeschrieben, über die Sicherheit der Bauwerke zu wachen, indem er strikte Sicherheitsnormen erlässt, denen sich die Bauherren unterwerfen müssen, wenn sie eine Baugenehmigung erhalten wollen, sondern es wird ihm auch die Aufgabe zugeschrieben, für die Ästhetik zu sorgen.151 Das Leben der Franzosen soll verschönert werden, auch und vor allem ihr Alltagsleben. Der ästhetische Genuss sollte nicht denjenigen vorbehalten werden, die während ihren Ferien bestimmte Vorzeigeortschaften besuchen, in denen ganz strenge urbanistische Regeln gelten, sollte er sollte womöglich immer und überall erlebt werden können. Man wird das, was de Jouvenel hier schreibt, heute relativieren müssen. Wer sich heute als Bauherr betätigen will, kann Geld bei einer Privatbank leihen und ist somit nicht mehr finanziell auf den Staat angewiesen. Und es ist kaum davon auszugehen, dass Privatbanken den Bauherren ästhetische Bedingungen auferlegen werden, bevor sie ihnen Geld leihen. Die öffentliche Hand kontrolliert demnach die Bauherren nicht mehr finanziell, so dass das Auferlegen bestimmter Bedingungen nicht mehr an das Leihen einer bestimmten Geldsumme gekoppelt werden kann. Will die öffentliche Hand heute eine Kontrolle ausüben, so kann sie dies nur über den Weg der Baugenehmigung tun. Dieser muss aber das Erstellen eines Bebauungsplans mit entsprechenden urbanistischen Vorschriften vorausgehen, da sonst die Gefahr besteht, dass die für die Erstellung der Baugenehmigung zuständige Autorität willkürlich entscheidet. Es muss so klar wie möglich definiert werden, wer, wo, was und wie bauen darf. Der Staat hat heute nicht nur die Macht, sondern er beansprucht auch das Recht darüber zu entscheiden, wie die Menschen bauen und zum Teil auch wie sie ihre Wohnungen gestalten sollen.152 An einer Stelle macht de Jouvenel auch auf die Auswirkungen des Urbanismus auf die Demokratie aufmerksam. Je mehr der Autoverkehr sich der Straßen bemächtigt, umso weniger können die Menschen sich auf den Straßen versammeln, um dort gemeinsam zu diskutieren. Auf diese Weise verschwindet aber dann das Volk, jenes Kernelement einer jeden Demokratie (Arcadie, 72–73). Heute, ein gutes halbes Jahrhundert nachdem de Jouvenel diese Zeilen geschrieben hat, gehen zahlreiche Gemeinden auf den Weg der Schaffung von mehr oder weniger autofreien Zonen, in denen sich die Menschen versammeln können, um miteinander zu diskutieren oder sonstige gemeinsame Aktivitäten auszuüben. Der durch urbanistische Entscheidungen bedingten Individualisierung, soll eine ebenfalls durch urbanistische Entscheidungen geförderte Sozialisierung entgegen gesetzt werden. Heute kommen natürlich noch weitere Umweltnormen hinzu, etwa betreffend die thermische Isolierung. 152 Die Frage ist, wie weit der Staat bzw. die öffentliche Hand hier in die Privatsphäre der Individuen eingreifen darf. Darf den Individuen etwa verboten werden, bestimmte Farben für ihre Fassade zu benutzen? Dabei ist zu bedenken, dass bestimmte Vorschriften auch eine finanzielle Dimension haben können, wie wenn etwa der Staat eine doppelte Verglasung für die Fenstern vorschreibt. Hier kann der Staat aber mit der Aussicht auf eine finanzielle Hilfe auf die Entscheidungen einwirken. 151
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Die Suche nach dem ästhetischen Genuss ist dem Menschen als spiritueller Drang angeboren, und die Politik sollte diese Suche nicht ignorieren, um sich nur auf die rein materiellen oder biologischen Aspekte des menschlichen Lebens zu konzentrieren. Der Mensch will sicherlich, wie es Hobbes im Leviathan gezeigt hat, Sicherheit und Ordnung, und er will sicherlich auch, wie es die liberalen Autoren gezeigt haben, das Recht haben, frei über sein Privatleben zu entscheiden, aber er will mehr als das. Der Staat, so wie ihn Bertrand de Jouvenel sieht, soll dem Menschen auch die Möglichkeit garantieren, weiterhin in einer ästhetisch ansprechenden natürlichen und sozialen Umwelt zu leben. Wo die sich selbst überlassene Ökonomie das Ästhetische vernachlässigt, darf und muss der Staat entgegen steuern. In einem ‚Les jardiniers de la terre‘ überschriebenen Text aus dem Jahr 1967 schlägt de Jouvenel vor, die Schönheit als ein öffentliches Gut anzuerkennen und plädiert sogar für ein Recht, in einer dezenten Umwelt zu leben, sprich in einer Umwelt, die uns auch ästhetische oder, allgemeiner noch, spirituelle Freude bereitet. Die Natur sollte nicht eine bloße Ressource sein, die von den jetzt lebenden Generationen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgebeutet wird, ohne dass diese Generationen sich um die nach ihnen kommenden Generationen kümmern. Auch hier muss der Externalisierung – in diesem Fall der extragenerationellen Externalisierung – ein Ende bereitet werden. Die jetzt lebenden Menschen müssen sich als Teil einer ihnen vorausgehenden und über sie hinausweisenden Menschheit ansehen. Die natürliche und soziale Welt in welcher sie leben ist nicht ihr Eigentum, bezüglich dessen sie ein uneingeschränktes ius utendi et abutendi haben, sondern diese Welt wurde ihnen anvertraut, damit sie sie erhalten und vervollkommnen, und zwar so, dass der Mensch sich in allen seinen Dimensionen in ihr wiedererkennen kann. Wir sind die Gärtner der Erde, und wir sollten uns unserer Pflicht bewusst werden, diesen Garten so zu unterhalten, dass die Pflanze Mensch möglichst gut in ihm gedeihen kann. Bertrand de Jouvenel sähe es am liebsten, wenn jeder Mensch sich dessen bewusst wäre und sein Handeln dementsprechend ändern würde, so dass also ein Eingreifen des Staates sich erübrigen würde: Die Qualität unserer Umwelt kann nur erreicht, erhalten und verbessert werden, wenn sich die Menschen individuell der Tatsache bewusst werden, dass ein Verhalten, das ihr schadet, unpassend ist. Ein solches Bewusstsein ist im Augenblick nicht verbreitet (Arcadie, 388)
Insofern der Schaden, welcher der Umwelt zugefügt, direkt oder indirekt von unseren individuellen Handlungen abhängt, kann nur eine Verhaltensänderung diesem Schaden vorbeugen. Wenn die Flugzeugreisen mit Schuld am Klimawandel sind, dann sollte jeder der keinen zwingenden Grund hat, mit dem Flugzeug zu reisen, für den die
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Flugreise also nur in den Rahmen seiner Freizeitaktivitäten fällt, davon absehen, mit dem Flugzeug zu fliegen.153 Wie aus der eben zitierten Stelle hervorgeht, greift de Jouvenel auf ein Vokabular zurück, das einem demokratischen Zeitalter immer fremder wird, und zwar auf das Vokabular des Passenden/Unpassenden bzw. Dezenten/Indezenten. In seinem Buch The Honor Code hat Kwame Anthony Appiah nachgewiesen, wie bestimmte Praktiken – etwa das Duell – nicht so sehr durch drastische Gesetzgebungen, als durch einen Mentalitätswandel aufgegeben wurden: Was zunächst passend erschien, erschien mit der Zeit als unpassend, und was das Gesetz während Jahrhunderten nicht erreicht hatte, wurde durch einen langsamen, aber stetigen Wandel der Mentalitäten erreicht. Man tat bestimmte Dinge nicht mehr primär, weil sie gesetzlich verboten waren, sondern weil man sich vor der Unehre fürchtete, die neuerdings mit dem Ausüben dieser Tätigkeiten verbunden war. Bestimmte Gesellschaften verfügen über Motivationsquellen, die ein Eingreifen des Staates unnötig machen. Für Bertrand de Jouvenel wäre es wünschenswert, wenn dieses Phänomen sich auch hinsichtlich unseres umweltschädigenden Handelns bemerkbar machen würde. Anstatt, wie es heute noch oft geschieht, denjenigen zu beneiden, der sich eine Flugreise auf die Seychellen oder einen Ferrari leisten kann, würde man eine solche Reise oder den Kauf eines solchen Autos als indezent, als unpassend ansehen, so dass der Reisende oder der Fahrer sich wegen ihres Verhaltens schämen müssten. Der Schutz der Umwelt, so de Jouvenels These, fängt bei jedem Einzelnen an, und bevor man vom Staat verlangt, zu intervenieren, sollte man sich zunächst kritisch mit dem eigenen Verhalten auseinandersetzen und sich die Frage stellen, ob es nicht bestimmte Handlungen gibt, deren wir uns eigentlich schämen müssten. Diese These sollte heute vor allem die Reflexion von allen Jugendlichen nähren, die, dem Aufruf Greta Thunbergs folgend, auf der Straße gegen die Lethargie der Politiker in Sachen Klimawandel protestieren. Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Anliegen dieser Jugendlichen vollkommen berechtigt ist, aber wie viele von ihnen freuen sich darüber, im Sommer mit ihren Eltern oder mit Freunden ihren Urlaub auf Teneriffa, Mallorca, usw. zu verbringen?154 Wir sind uns heute alle der Tatsache bewusst, dass Bertrand de Jouvenel schreibt, dass derjenige, der im Rahmen seiner Freizeit mit einem lärmenden Motorboot über eine Wasserfläche fährt, schuldiger ist als der Industrielle, der das Wasser im Rahmen des Produktionsprozesses verschmutzt. Während nämlich der Industrielle eine Gegenleistung erbringt und den Reichtum vermehrt, ist dies nicht für den Motorbootfahrer der Fall (Arcadie, 388). Hier sieht man, dass das Ausmaß der Schuld nicht so sehr am Ausmaß der Wirkungen gemessen werden soll, sondern an der Notwendigkeit der Tätigkeit und an ihren sonstigen Konsequenzen. Man könnte natürlich argumentieren, dass der Motorbootfahrer, indem er Treibstoff verbraucht, auch positive Wirkungen auf die Ökonomie hat. 154 Im März 2019 fand in Luxemburg-Stadt – aber auch in vielen anderen europäischen Metropolen – eine große Klimademonstration statt, an der zwischen 9000 und 15000 – je nach den Quellen – Jugendliche teilnahmen. Bilanz: Eine nicht für ihre Klimafreundlichkeit bekannte Fastfood-Kette machte an diesem Tag riesige Geschäfte und die im Hygienedienst der Stadt Luxemburg tätigen Arbeiter mussten nach der Demonstration Berge von Müll, den die Jugendlichen einfach auf die Straße geworfen hatten, wegtragen. 153
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die Qualität unserer Umwelt sich dramatisch verschlechtert, aber, so würde Bertrand de Jouvenel sagen, wir sind uns nicht bewusst, dass wir uns eigentlich individuell schämen müssten, jedesmal wenn wir eine Handlung ausüben, die der Umwelt schadet und die nicht in den Bereich des Notwendigen fällt und oft sogar nicht einmal einen Beitrag zu unserer spirituellen Bereicherung leistet. Unter diesen Umständen muss das Fehlen einer auf dem Gefühl des Schämens bzw. der Ehre beruhende Moral durch den Eingriff des Staates kompensiert werden. Wir benötigen, so de Jouvenel, „öffentliche Politiken, damit alle Formen der Verschmutzung kontrolliert werden, mittels derer wir unsere Umwelt entwürdigen, und auch damit harmonische Städte geschaffen werden“ (Arcadie, 388).155 Die Verschmutzung der natürlichen Umwelt wird hier, sieht man sich den genauen Wortlaut der zitierten Stelle an, nicht nur im Rahmen eines anthropozentrischen Paradigmas gesehen, d. h. es gilt nicht nur, dieser Verschmutzung ein Ende zu setzen, weil sie das gute menschliche Leben oder sogar das menschliche Leben überhaupt bedroht, sondern die natürliche Umwelt wird als mit einem eigenen Wert bzw. einer eigenen Würde besehen gedacht, so dass die Umweltverschmutzung als ein Übel angesehen wird, das wir der Natur als solchen antun. Um es in den Begriffen Kants zu formulieren: Die natürliche Umwelt sollte von uns nicht nur als ein bloßes Mittel betrachtet werden, sondern immer auch als ein Zweck an sich selbst. Wir entwürdigen nicht nur uns, sondern auch unsere Umwelt. Damit steht de Jouvenel der Bewegung der deep ecology nahe, wie sie sich schon zu seiner Zeit, bestimmt vor allem durch die Schriften von Arne Naess, ausbreitet. In diesem Kontext erwägt Bertrand de Jouvenel sogar die Möglichkeit – ohne aber genauer auf sie einzugehen –, die Natur als ein eigenes Rechtssubjekt zu betrachten und etwa den Flüssen einen eigenen Rechtsstatus zu verleihen (Arcadie, 379). Genauso wie die Rechtspersönlichkeit dem Menschen einen besseren Schutz vor seinesgleichen gewährt, könnte auch die Anerkennung der natürlichen Umwelt als Rechtspersönlichkeit diese Umwelt besser vor der menschlichen Ausbeutung schützen.156 Frühere, sogenannte primitive Kulturen hatten, wie schon vorhin bemerkt wurde, eine ganz andere Einstellung zur Natur als wir. Für sie war die Natur zwar auch eine Lebensquelle derer sie sich bedienten, um ihr eigenes Überleben zu garantieren, aber sie hatten ihr gegenüber trotzdem eine Achtung, die der moderne Mensch ganz verloren hat, da er in der Natur nur noch eine Ressource sieht, die er gemäß seiner eigenen Meines Wissen hat sich keine der die Demonstration organisierenden Vereinigungen öffentlich entschuldigt, wie es passend gewesen wäre. 155 Im September 1971 notiert de Jouvenel in seinen ‚Journal de travail‘: „Ich glaube nicht sehr viel an die Zerstörung der Biosphäre durch die Verschmutzung, denn man wird notwendigerweise reagieren, aber ich denke, dass man vor dieser Reaktion alles zerstört haben wird, das dem Leben seinen Charme gibt. Die Bauernsöhne werden wie Sklaven leben, um die Mittel zu haben, am Wochenende aufs Land zu gehen. Ich denke, Rousseau hatte recht, die Urbanisierung ist das Übel“ (zitiert in Dard 2008, 370–371). 156 Die Ökologisierung der Verfassung oder des Rechtsstaats, wie man zu sagen pflegte, führte vor allem in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einer kaum übersichtlichen Flut von Publikationen (siehe etwa: Pernthaler/Weber/Wimmer 1992; Bosselmann 1992).
Der Staat und die ökologische Krise
Willkür ausbeuten kann. Bertrand de Jouvenel geht es also nicht darum, dem Menschen jeglichen Eingriff in die Natur zu verweigern. Problematisch für ihn ist nicht das menschliche Handeln als solches, sondern das diesem Handeln zu Grunde liegende Weltbild und die sich aus diesem Weltbild ergebene Handlungsmotivation. Eingriffe in die Natur sind gerechtfertigt, wo sie absolut notwendig sind. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Eingriffs, könnte man hinzufügen, bedingt zugleich eine Einsicht in unsere Angewiesenheit auf die Natur. Sollte die Natur, wie de Jouvenel es kurz erwägt, zu einer Rechtspersönlichkeit werden, so kann das nur über den Weg einer Verfassungsrevision geschehen und setzt demnach ein aktives Eingreifen des Staates voraus. Wo das individuelle Gefühl und die gesellschaftliche Moral nicht mehr genügen, um den Umgang des Menschen mit der Natur angemessen zu regeln, und wo auch die normalen Naturschutzgesetze ihre Aufgabe nicht mehr hinreichend erfüllen, müssen u. U. radikalere Maßnahmen ergriffen werden. Das setzt natürlich voraus, dass ein möglichst großer gesellschaftlicher Konsens besteht, da eine Verfassungsrevision einer qualifizierten Mehrheit bedarf. Bertrand de Jouvenel spricht sich nicht klar für eine solche Verfassungsrevision aus, sondern deutet nur an, dass sie (a) nicht absurd wäre und (b) nützlich sein könnte. Er fixiert sich auch nicht auf die These, dass die Natur tatsächlich ein Rechtssubjekt ist, so dass die Anerkennung einer Rechtspersönlichkeit eigentlich nur das Rechtssystem an die ontologischen Tatsachen anpasst. Ihm geht es in erster Linie darum, der grassierenden Umweltzerstörung ein Ende zu setzen bzw. nach angemessenen Mitteln Ausschau zu halten, durch die man die umweltzerstörenden Handlungen des Menschen eindämmen kann. Die Anerkennung einer Rechtspersönlichkeit wäre dabei in doppelter Hinsicht nützlich, denn erstens könnte durch sie den Rechten des Menschen ein gleich starkes Gegengewicht entgegen gestellt werden, und zweitens könnte sie in den Menschen ein neues Bewusstsein für den Wert der Natur schaffen. Dabei spielt de Jouvenel auch auf die Möglichkeit an, die Religion als Mittel für einen angemesseneren Schutz der natürlichen Umwelt zu mobilisieren. Der rechtliche Aspekt ist dementsprechend nur ein Element eines größeren Ganzen. Wichtig ist für de Jouvenel, dass der Mensch die Natur anders wahrnimmt, und auch wenn das Recht unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit mit konstituiert, so ist es doch nicht das einzige Element, das auf diese Wahrnehmung einwirkt. Im Rahmen der von de Jouvenel erwogenen Maßnahmen spielen auch die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle. Die Arbeit, so de Jouvenel, hat zwar enorm an Produktivität gewonnen, aber sie hat gleichzeitig an Soziabilität verloren (Arcadie, 84). Man arbeitet also sozusagen nicht mehr miteinander, sondern lediglich nebeneinander. Die Arbeit ist somit zu einem Ort der menschlichen Entfremdung geworden, und anstatt, wie es oft meistens geschieht, nach einer Reduzierung der Arbeitszeit zu plädieren, tritt Bertrand de Jouvenel für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein. Wenn die Menschen wieder Sinn in ihrer Arbeit finden – und das Miteinander kann zu dieser Sinnfindung beitragen –, werden sie bereit sein, länger zu arbeiten.
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Der Staat und die natürliche Umwelt
Wie man sieht, ist Bertrand de Jouvenel durchaus bereit, dem Staat eine bestimmte Rolle bei der Bewahrung einer dezenten Umwelt als Bedingung eines dezenten Lebens zu übertragen. Dabei betont er aber, dass eine vom Staat geführte Politik im Bereich der Ökologie so liberal wie möglich bleiben sollte. Die Frage ist natürlich, ob die Situation sich heute nicht schon derart verschlechtert hat, dass man der Umweltkrise nicht mehr mit einer rein liberalen Politik, die mehr den Weg der Anreize als der Verbote geht, entgegen steuern kann.
Schluss
While the ideological differences between fascism and liberalism seem almost irreconcilable when understood in their absolute sense, the gap narrows considerably if one takes a look at Jouvenel’s specific ideas during the early post war years (Knegt 2017, 256–7).
Das liberale Element in de Jouvenels Denken ist sein Misstrauen gegenüber der Staatsmacht, wie es sich vor allem in Du pouvoir ausdrückt. Das von Knegt als faschistisch identifizierte Element ist de Jouvenels Bewunderung für eine mutige aristokratische Elite die das heroische und risikoreiche Leben dem gemütlichen Leben des Bourgeois vorzieht (Knegt, 235). Olivier Dard zitiert einen Auszug aus den Cahiers, in dem de Jouvenel sich mit der Messe in der Kathedrale von Notre-Dame befasst, die für die Toten der französischen Niederlage von Dien Bien Phu gehalten wurde: Bei dieser Messe fehlte mir die männliche und gebundene Gruppe der Ritter, die virile Entscheidungen treffen. […] Ich weiß nicht warum, aber es bleibt wahr, dass der Mann mit dem Schwert dem Mann mit dem Werkzeug überlegen ist. Ich spüre es ganz stark, ich, der ich in allem was ich schreibe kein Kämpfer, sondern ein bauender Handwerker bin. Ich bin der Diener der Menschen meiner Zeit, die ein wohlgeordnetes materielles Leben wollen. Es wird nicht ihr Glück machen, oder es wird sie zumindest nicht adeln (zitiert in: Dard 2008, 311)
Ein Faschist würde diesem Lob des Kämpfers sicherlich zustimmen. Doch darf man nicht vergessen, dass de Jouvenel bei weitem nicht der einzige Liberale ist, der die männlichen Tugenden lobt. Man lese doch einmal Tocquevilles Schriften, der in der Demokratie mit dem Ende dieser Tugenden identifiziert und eine nicht versteckte Nostalgie für die aristokratische Gesellschaft zum Ausdruck bringt – aber eine Nostalgie die sich vollends bewusst ist, dass man das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen kann und dass man demnach die neuen Werte der Demokratie als allgemeinen Rahmen akzeptieren muss. Tocqueville hätte dem letzten Satz der eben zitierten Stelle durchaus zustimmen können. Für liberale Autoren wie Constant oder Tocqueville war ein bestimmter aristokratischer Geist notwendig für das Überleben und die Verteidigung der liberalen Gesell-
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Schluss
schaft. Der liberale Mensch musste zumindest in Krisensituation bereit sein, sich über seine rein materiellen Interessen und Bedürfnisse zu erheben und Opfer zu bringen, bis hin zum Opfer seines Lebens. Das hatte überhaupt nichts mit Faschismus zu tun, sondern einzig und allein damit, dass die liberale Freiheit sich nicht selbst verteidigen kann, sondern auf Menschen angewiesen ist, die sie verteidigen, und zwar auch dann noch verteidigen, wenn sie keine Verbindung zwischen dieser Verteidigung und der Befriedigung ihrer egoistischen Interessen sehen. Man sollte dementsprechend vorsichtig sein, bevor man jemanden des Faschismus bezichtigt, bloß weil er Tugenden preist, die auch im Faschismus gepriesen werden. Man sollte Bertrand de Jouvenel vielmehr als jemanden lesen der uns daran erinnert, dass man den Liberalismus nicht nur als eine Theorie des Rechts auf Freiheit, sondern dass Freiheit auch Pflichten impliziert und vor allem Verantwortung für den Gebrauch der Freiheit. Es ist diese Übernahme von Verantwortung, die den Menschen adelt. Man kennt den berühmten Spruch: noblesse oblige – der Adel verpflichtet. Man könnte es auch umkehren und sagen: obligation annoblit – die Verpflichtung adelt. Die Übernahme von Pflichten macht aus mir ein Wesen, das sich von seinem unmittelbaren empirischen Selbst mit seinen Begierden distanziert und gegebenenfalls sogar in Widerspruch zu ihm tritt. Es ist dies der Übergang vom bloßen Individuum zum Subjekt. Doch der Mensch will nicht Subjekt werden: Es ist erstaunenswürdiges Phänomen unseres Zeitalters, diese Flucht des Menschen vor den Bürden und Risiken der Freiheit. Um wie viel lieber versteckt er sich hinter Ungeheuer, anonyme Gesellschaften, Parteien, die für ihn handeln und die, wenn die schlechten Konsequenzen der Handlungen sich bemerkbar machen, sich in Dampf auflösen (Les passions en marche, 133)
Wo ist hier die Gemeinsamkeit mit dem Faschismus? Der faschistische Staat kommt eher der hier von de Jouvenel angeprangerten Flucht des Menschen vor den Bürden und Risiken der Freiheit entgegen, indem er ihm Ordnung verspricht. De Jouvenels politische Philosophie erinnert den Menschen daran, dass seine Würde nicht mit dem Genuss materieller Güter identifiziert werden kann, sondern mit seiner Fähigkeit, die Bürden und Risiken der Freiheit auf sich zu nehmen. De Jouvenel war sicherlich nicht immer sehr vorsichtig bei seinen Formulierungen und bei seinen politischen Stellungnahmen oder seinem politischen Engagement. Die aristokratischen bzw. ritterlichen Tugenden fand er in der 30er Jahren nur in den faschistischen Bewegungen wieder und er schloss sich ihnen deshalb an. Lernen wir aus de Jouvenels Fehler, aber reduzieren wir ihn nicht auf diese Fehler.
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Ein Jahrhundert nach Alexis de Tocqueville zeichnet sein Landsmann Bertrand de Jouvenel den Zuwachs der politischen Macht und den Nieder gang der menschlichen Freiheit nach. Zwei der Gründe für diesen Machtzu wachs sind die Komplexifizierung der modernen Welt und der Übergang zum totalen Krieg, wie de Jouvenel ihn miterlebt hat. Dem liberalen Geist verpflichtet, stellt er sich die Frage, wie dieser Machtzuwachs ausgebremst werden kann, so dass er den Menschen nicht vernichtet. Dabei ist er sich be wusst, dass ein starker Staat unter den Bedingungen der Moderne not wendig ist und steht somit vor
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dem Problem, staatliche Macht und menschliche Freiheit miteinander zu vereinbaren. Der Staat muss genug Macht haben, um die Freiheit des Ein zelnen und ein menschliches Leben zu garantieren, aber diese Macht darf nicht dazu eingesetzt werden, um den Menschen ganz in den Dienst des Staates und seiner Interessen zu stellen. Auch wenn er keine endgültige Lösung vorlegen kann, lädt de Jouvenel zu einer fruchtbaren Reflexion über die Problematik ein und lehrt uns, dass die Freiheit nie unabhängig von den Bedingungen ihrer Möglichkeit gedacht werden darf.
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