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German Pages [113] Year 2016
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Margot Fleischer
Menschliche Freiheit – ein vielfältiges Phänomen Perspektiven von Aristoteles, Augustin, Kant, Fichte, Sartre und Jonas
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860700
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Margot Fleischer Menschliche Freiheit – ein vielfältiges Phänomen
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Es werden sechs Perspektiven auf die menschliche Freiheit vor Augen geführt. Zu verdanken sind sie vier Philosophen der älteren Tradition (Aristoteles, Augustin, Kant, Fichte) und zwei Denkern des 20. Jahrhunderts (Sartre, Jonas). Die erste Perspektive eröffnet die Sicht auf das (sittlich) gute Handeln als eine Gestalt menschlichen Glücks. Die zweite Perspektive zeigt Freiheit als den Ursprung des Bösen auf. Die dritte Perspektive rückt das Verhältnis von Freiheit und moralischem Gesetz ins Blickfeld; das moralische Gesetz beantwortet die Frage »Was soll ich tun?«, und es gebietet Autonomie. Bei der vierten Perspektive geht es um Freiheitsbewußtsein und Vollzug der Freiheit am Ursprung unseres Seins für Andere und mit Anderen. Die fünfte Perspektive gibt Freiheit als Existenz zu bedenken. Der Mensch (jeder einzelne) ist und lebt seine Freiheit. Da sich sein Handeln immer in Situation vollzieht, ist das Verhältnis von Freiheit und Situation zu klären. In der sechsten Perspektive schließlich werden die eminenten Gefahren unseres Zeitalters der Hochtechnologie namhaft gemacht. Es ergibt sich für den Menschen als freies Wesen das moralische Gebot, dem zerstörerischen Lauf der Dinge entgegenzuwirken und eine entsprechende Verantwortung für die Zukunft der Menschheit zu übernehmen.
Über die Autorin: Margot Fleischer, Dr. phil., ist emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Siegen. Ihre Forschungsarbeiten sind in den Bereichen Geschichte der Philosophie und Philosophie des 20. Jahrhunderts angesiedelt, und zwar vor allem auf den systematischen Gebieten Anthropologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik. Zuletzt erschien von ihr bei Alber »Mensch und Unbedingtes im Denken Kants. Eine kritische Darlegung« (2009).
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Margot Fleischer
Menschliche Freiheit – ein vielfältiges Phänomen Perspektiven von Aristoteles, Augustin, Kant, Fichte, Sartre und Jonas
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48531-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86070-0
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Ethische Trefflichkeit – Freiwilligkeit und Entscheidung – Einsicht Aristoteles, Nikomachische Ethik
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2 Freiheit und der Ursprung des Bösen Augustin, Der Gottesstaat
. . . . . . . . . . . . . . .
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3 Freiheit und moralisches Gesetz Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . .
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4 Freiheit und das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Freiheit und Situation Sartre, Das Sein und das Nichts
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6 Verantwortung und die Pflicht zur Zukunft Jonas, Das Prinzip Verantwortung . . . . . . . . . . . .
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Anhang: Nachweise und Hinweise . . . . . . . . . . . . . . 109 5 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
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Vorwort
Dieses kleine Buch thematisiert sechs philosophische Perspektiven auf die menschliche Freiheit. Jede von ihnen gibt anderes als die übrigen zu bedenken, so daß unsere Freiheit als vielfältiges Phänomen begegnet. Zu verdanken sind die Perspektiven vier Philosophen der älteren Tradition (Aristoteles, Augustin, Kant, Fichte) und zwei Denkern des 20. Jahrhunderts (Sartre, Jonas). Einen ersten Blick auf die Vielfalt, die sich zeigen wird, erlaubt das Inhaltsverzeichnis. Freilich handelt es sich bei den sechs Perspektiven um eine Auswahl, und das heißt, daß sich die Freiheit des Menschen, aus philosophischer Perspektive betrachtet, sehr wohl noch vielfältiger darstellen kann. Gleichwohl: Wer über Freiheit nachdenken möchte, dürfte durch die folgenden Kapitel (und also dank der genannten Denker) positive Einsichten und wesentliche Denkanstöße gewinnen. – Auf den Anhang in diesem Buch sei an dieser Stelle besonders hingewiesen.
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1 Ethische Trefflichkeit – Freiwilligkeit und Entscheidung – Einsicht Aristoteles, Nikomachische Ethik
Das höchste Gute für den Menschen ist nach Aristoteles das Glück. Alle Menschen streben nach Glück; aber darüber, was das Glück sei, können sie sehr verschiedene Auffassungen haben. Um so wichtiger ist es, das Glück als das höchste Gute für den Menschen eindeutig und gegründet zu bestimmen. Aristoteles macht sich das in seiner Nikomachischen Ethik zur Aufgabe. Er arbeitet zwei Gestalten menschlichen Glücks heraus: die Weisheit (sophía) und das gute, treffliche Handeln (eupraxía). Unter Weisheit ist nach Aristoteles zu verstehen eine sehr genaue Wissenschaft von den Seins- und Wissensanfängen, die zu ersten Anfängen vordringt. Sie wird von mir hier nicht behandelt. Das Thema des Kapitels ist auf dem Feld des guten Handelns angesiedelt. Meine Durchführung schöpft aus folgenden Textpassagen der Nikomachischen Ethik: Buch II, Kapitel 1–6 und 9; Buch III, Kapitel 1–5; Buch IV, Kapitel 11; Buch VI, Kapitel 5 und 8; Buch X, Kapitel 10. (Dieser Hinweis besagt nicht, daß die genannten Kapitel von mir ›ausgeschöpft‹ würden. Auch wird gelegentlich ein Gedanke gestreift werden, der von Aristoteles in einem hier nicht aufgeführten Kapitel des Werkes geäußert worden ist.) – Gutes, treffliches Handeln (eupraxía) zu denken, das erfordert jedenfalls, Trefflichkeit (areté) zu denken. Aristoteles unterscheidet zwei Arten der dem Menschen eigentümlichen Trefflichkeiten: dianoetische (dem Denken eigene) Trefflichkeiten und ethische Trefflichkeiten. Die dianoetischen Trefflichkeiten 9 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
können – bis auf eine von ihnen, die sich als für das treffliche Handeln sehr wichtig erweisen wird – hier beiseite gelassen werden. Ethische Trefflichkeiten haben es mit den Regungen zu tun. Als Beispiele für Regungen nennt Aristoteles Begierde, Zorn, Furcht, Kühnheit, Neid, Freude, Zuneigung, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid (1105b21–23). Besonderes Gewicht kommt unter den Regungen der Lust und dem Schmerz bzw. der Unlust zu. Sie treten einerseits für sich auf, andererseits begleiten sie die anderen Regungen. Das Empfinden der Regungen ist ein Bewegtwerden. Uns fürchtend, Mitleid oder Freude empfindend, sind wir vielfältig bewegt. Eine Regung ergreift uns und verläßt uns wieder. Die eine Regung löst die andere ab. Die ethischen Trefflichkeiten, wie gesagt, haben es mit den Regungen zu tun. Aristoteles versteht sie als Haltungen. Die nähere Bestimmung der ethischen Trefflichkeit als Haltung lautet: Sie ist eine Mitte; sie setzt sich zum Ziel und trifft das Mittlere (1106b27 f.) beim Empfinden der Regungen. Regungen lassen ein Mehr und Weniger zu, so zum Beispiel die Furcht. Derselbe Mensch kann bei verschiedenen Anlässen sich das eine Mal sehr, das andere Mal nur wenig fürchten. In derselben Lage mag ein Mensch sich sehr fürchten, der andere weniger, ein dritter fast gar nicht. Ja, das Bewegtwerden im Empfinden einer einzelnen Furchtregung hat einen Verlauf, der durch ein Mehr und Weniger gekennzeichnet ist. Die ethischen Trefflichkeiten bringen in dieses Mehr und Weniger ein Maß. Sie lassen je im einzelnen Fall die Mitte treffen zwischen dem Zuviel (Übermaß) und dem Zuwenig (Mangel). Tapferkeit als Haltung macht, daß der Mensch in einer bestimmten Lage sich nicht zu sehr fürchtet und nicht zu wenig, daß er sich vielmehr zwischen dem Zuviel und Zuwenig in der Mitte hält. Auf die Frage, wie er sich fürchtet, müßte dann geantwortet werden: auf angemessene Weise. Die ethischen Trefflichkeiten lassen je im einzelnen Fall die Regungen sich in der Mitte halten zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Die einzelnen Fälle, die konkreten Situationen, 10 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
sind aber je verschieden. Deshalb liegt die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen je an anderer Stelle. Sie bleibt relativ. Sie ist eine Mitte in bezug auf uns. Sie hat leider nichts gemeinsam mit einer Mitte von der Art des arithmetischen Mittels, das für jedermann verbindlich in der Sache hinterlegt ist, errechnet werden kann und stets gleich ist (wie etwa 6 als das arithmetische Mittel zwischen 2 und 10). Sie ist anders und immer anders. Indessen bedeutet diese Relativität auf uns nicht Relativität auf die jeweiligen Eigenheiten eines Individuums; es gibt nicht je eine Mitte in der Furcht, im Mitleid, in der Freude, die mir angemessen wäre, weil ich so bin, wie ich bin, während anderen eine andere Mitte angemessen wäre, weil sie eben anders sind. Mitte in bezug auf uns meint: Mitte in bezug auf uns, insofern wir je in einer Situation sind. Sollten je zwei Menschen in genau derselben Situation sein, so wäre die Mitte, die ihre Regungen zu treffen hätten, auch gleich. Die Mitte, die die ethische Trefflichkeit ausmacht, ist nicht relativ im Sinne von subjektiv oder beliebig. Diese Mitte ist nichts Einfaches, sie hat verschiedene Momente. Sich nicht dem Zuviel oder Zuwenig der Regungen überlassen, sondern die Mitte treffen, das heißt: die Regungen empfinden zur rechten Zeit, in den rechten Lagen, gegenüber den rechten Menschen, in der rechten Absicht und auf die rechte Weise (1106b21 f.). Wie die Mitte fächert sich auch das Zuviel und Zuwenig auf. Wer sich fürchtet, wenn noch gar keine wirkliche Bedrohung besteht, fürchtet sich zu früh; wer sich erst fürchtet, wenn die Bedrohung schon wieder vorüber ist, fürchtet sich zu spät. Zuviel fürchtet sich auch, wer sich in einer Lage fürchtet, die gar nicht bedrohlich ist; zuwenig fürchtet sich, wer sich über die Bedrohlichkeit seiner Lage hinwegsetzt. Aristoteles würde sicher sagen, daß jemand zuviel Mitleid empfindet, wenn er Mitleid hat mit Menschen, die mutwillig ihr Unglück verschulden, und daß der zuwenig Mitleid empfindet, der diese Regung nicht aufbringt gegenüber Menschen, die unverschuldet in Not ge11 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
raten sind. Ein ›Zuviel‹ liegt auch dann vor, wenn wir Mitleid in uns aufkommen lassen um einer Lust an dieser Regung willen, nämlich um uns selbst in ihr zu genießen. Das Zuviel und Zuwenig bei der Weise des Empfindens meint einen der Lage oder den Personen nicht angemessenen Grad der Regung, Übermaß oder Mangel an Intensität. Ethische Trefflichkeit bedeutet, hier überall die Mitte erstreben und sie treffen. Sie ist die Haltung, die beständig auf diese Mitte aus ist und die sich in den jeweiligen Situationen als Vollzug des Treffens der Mitte bewährt und aktualisiert. Sollte sich herausstellen, daß die Regungen, um die Mitte treffen zu können, auf Vernunft angewiesen sind, so wiese ethische Trefflichkeit hier schon über sich hinaus. Gemäß der Vielfalt der Situationen und menschlichen Beziehungen sowie der Regungen, durch die der Mensch sie auf sich bezieht und sich von ihnen betreffen läßt, ist die ethische Trefflichkeit wirklich in einer Vielfalt einzelner ethischer Trefflichkeiten. Aristoteles gibt in Kapitel 7 des II. Buchs eine Art Tabelle der ethischen Trefflichkeiten; er behandelt sie ausführlich in Einzeluntersuchungen (III 9-V, dazu auch VII 1–11), die man mit Recht als phänomenologisch bezeichnet hat. Die ethische Trefflichkeit ist als die Haltung, die bei den Regungen die Mitte zu treffen strebt und jeweils trifft, erst einseitig bestimmt. Wer in der Furcht sich in der Mitte hält zwischen dem vielfältigen Zuviel und Zuwenig, ist noch nicht wirklich tapfer. Das ist er erst, wenn er handelt. Zur ethischen Trefflichkeit gehört das Handeln. Im Handeln gelangt sie erst zu ihrer vollen Wirklichkeit. Aristoteles hat deshalb auch in dem behandelten Text mehrfach neben die Regungen die Handlungen gestellt. Die ethische Trefflichkeit ist ebensosehr auf die Mitte beim Handeln wie auf die Mitte bei den Regungen aus. Die Mitte beim Handeln ist gleichfalls in jene Momente gegliedert. Indessen ist zu sehen: Wer sich zur rechten Zeit, in der rechten Lage, gegenüber den rechten Menschen, in der rechten Absicht und auf die rechte Weise fürchtet, braucht deshalb noch nicht zu wissen, was zu tun ist, um die Gefahr abzuwenden oder zu be12 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
stehen. Das muß er eigens eröffnen, angesichts von Lage und Personen. Er muß herausfinden, was wann wie zu tun ist, er muß das Mittlere für die Handlung entdecken. Dazu läßt das Einhalten der Mitte in der Furcht ihn frei. Würde er sich zuviel oder zuwenig fürchten, so müßte ihm die Mitte im Handeln verborgen bleiben, und so würde er auch handelnd an ihr vorbeitreffen (oder möglicherweise gar nicht handeln). Ethische Trefflichkeit, die erst im Handeln zu voller Wirklichkeit gelangt, ist zugleich die Haltung, die die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig im Handeln erstrebt. Und damit weist sie vollends und eindeutig über sich hinaus. Zum Treffen der Mitte im Handeln ist ein Überlegen der Mittel und Wege erfordert und eine Entscheidung, die die abgeschlossene Überlegung mit dem Streben verknüpft. Überlegung und Entscheidung aber sind Sache der Vernunft. Es wurde dargestellt: Ethische Trefflichkeit erstrebt und trifft die Mitte bei den Regungen und zielt auf das Treffen der Mitte im Handeln ab. Hierzu ist zu ergänzen: Nicht alle Regungen und nicht alle Handlungsweisen lassen ein Treffen der Mitte und damit Trefflichkeit zu; manche sind an sich selbst und jederzeit schlecht und nicht erst durch Übermaß oder Mangel. Aristoteles nennt als Beispiele die Regungen der Schadenfreude, der Schamlosigkeit und des Neides und auf der Seite der Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord. Hier findet der Begriff der Mitte keine Anwendung. – Ethische Trefflichkeit gelangt erst zu voller Wirklichkeit im Handeln. Das heißt bei Aristoteles: Sie gelangt erst zu voller Wirklichkeit aufgrund von Entscheidung. Und da gilt es zu sehen, daß die Entscheidung etwas Freiwilliges ist. Damit rückt der Bereich des Freiwilligen und Unfreiwilligen ins Blickfeld. Nur wenn es freiwilliges Handeln gibt, kann es ethische Trefflichkeit und deren Gegenteil geben. Nur freiwillig handelnden Wesen können ihre Handlungen nach den Hinsichten von gut und schlecht zugerechnet werden. Freiwilligkeit haben wir immer schon vorausgesetzt, wenn wir jemandem zu- oder abspre13 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
chen, trefflich gehandelt zu haben oder trefflich zu sein. Was ist sie? Aristoteles bestimmt zunächst das Unfreiwillige. Die Umkehr dieser Bestimmung ergibt dann die Bestimmung des Freiwilligen. Es gibt zwei Arten des Unfreiwilligen: Unfreiwillig ist einerseits das, was durch Gewalt erfolgt, und andererseits das, was aufgrund von Unwissenheit erfolgt (1109b35/1110al). Das Unfreiwillige, sofern es durch Gewalt erfolgt, ist dadurch charakterisiert, daß der Anfang der Handlung außerhalb des Handelnden (bzw. Leidenden) liegt und daß dieser auch nicht mitwirkt. Als Beispiel führt Aristoteles an, daß jemand durch einen Sturm oder durch die Gewalt von Menschen irgendwohin entführt wird. Zum freiwilligen Tun wäre dementsprechend also jedenfalls erfordert, daß sein Anfang im Handelnden selbst liegt. Nun gibt es aber Handlungen, bei denen man zunächst im Zweifel sein könnte, ob sie freiwillig oder unfreiwillig sind. Aristoteles bringt auch dafür Beispiele: Seeleute werfen bei starkem Sturm ihre Ladung über Bord, um sich und andere vor dem Untergang zu bewahren. Handeln sie unfreiwillig, durch äußere Gewalt gezwungen? Wie stünde das aber dazu, daß das Wegwerfen der Ladung doch ganz offenbar in ihnen seinen Anfang hat? Oder handeln sie freiwillig? Wer würde aber freiwillig Güter ins Meer werfen? Und wie steht es mit dem Mann, der ein Verbrechen begeht, das ein Tyrann ihm befiehlt mit der Drohung, seine Eltern und seine Kinder würden getötet, wenn er den Befehl nicht ausführt? Aristoteles antwortet: Handlungen dieser Art sind gemischt, gemischt aus Freiwilligem und Unfreiwilligem; das Freiwillige aber überwiegt in ihnen. An sich würde der Handelnde die Handlung nicht begehen; losgelöst von den besonderen Umständen wäre sie für ihn nicht wählenswert. Und doch wählt er sie zu dem Zeitpunkt, zu dem er sie tut. Insofern sie an sich für den Handelnden nicht wählenswert ist, ist sie, hier und jetzt getan, unfreiwillig; insofern sie ohne sein Tun überhaupt nicht zustande käme, ist sie freiwillig und sogar mehr freiwillig 14 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
als unfreiwillig. Wiewohl nun aber das Freiwillige in diesem Sinne überwiegt, trifft den Handelnden kein Vorwurf. Denn allein die Gewalt der Umstände hat etwas, das er sonst nicht gewählt hätte, zum Ziel für ihn gemacht, indem sie es unter ein höheres Ziel zwang. Die ethische Trefflichkeit eines Menschen erfährt durch Handlungen dieses Mischcharakters keine Einbuße; wer eine gemischte Handlung tut, kann mitunter sogar Lob beanspruchen, wenn die Handlung absolut betrachtet als schädlich erscheinen müßte. Das ist kein Freibrief. Es gibt Handlungen, die durch keine noch so große Gewalt der Umstände jemals zu einem erlaubten Ziel werden können. Neben das Unfreiwillige, das durch Gewalt erfolgt, tritt als zweite Art des Unfreiwilligen das, was aufgrund von Unwissenheit getan wird. Indessen ist hier zu differenzieren. Zwar ist alles, was aufgrund von Unwissenheit getan wird, nicht-freiwillig (der Handelnde weiß ja gar nicht, was er da eigentlich tut, und wählt es daher nicht frei), aber es ist deshalb nicht auch schon unfreiwillig. Dazu müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Der Handelnde muß seine Handlung bedauern, sobald die Unwissenheit dem Wissen gewichen ist. Und die Unwissenheit darf nicht selbst verschuldet sein. Selbst verschuldet ist sie etwa bei einem Betrunkenen oder bei einem Menschen, der sich hemmungslos dem Zorn überlassen hat, so daß ihm gewissermaßen Hören und Sehen vergangen sind. Selbst verschuldete Unwissenheit ist das Resultat fehlender ethischer Trefflichkeit, des Nichteinhaltens der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig einer Regung. Sie ist freiwillig. Und damit liegt die eigentliche Ursache für das, was der Handelnde unwissend und insofern nicht-freiwillig tut, in ihm selbst. Seine Handlung ist auch dann nicht unfreiwillig, wenn er sie nachträglich bedauert. Also: Unfreiwillig ist eine Handlung, die der Handelnde in unverschuldeter Unwissenheit begeht und die er bedauert, sobald er zum Wissen gelangt ist – sein Bedauern steht nämlich dafür ein, daß er die Handlung nicht vollzogen hätte, wäre er nicht in Unwissenheit befangen gewesen. 15 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Unwissenheit und Wissen beziehen sich auf jene Momente, die aus der Erörterung der Mitte im II. Buch schon bekannt sind, und zwar der Mitte, die es im Handeln zu treffen gilt. Aristoteles fügt hier, wo es um Unwissenheit und Wissen beim Handeln geht, noch zwei Momente hinzu: das, was man tut, und das, womit man es tut (etwa Werkzeuge). Die Unwissenheit eines geistig gesunden Menschen betrifft stets nur eines oder auch mehrere dieser Momente, niemals aber alle Momente zugleich. Wer auch nur über ein Moment zum Zeitpunkt der Handlung in Unwissenheit war, konnte die Mitte im Handeln nicht treffen. Er hat die Mitte im Handeln unfreiwillig verfehlt, wenn er seine Unwissenheit nicht selbst verschuldete und wenn er, wissend geworden, die Handlung bedauert. Seine ethische Trefflichkeit erleidet durch das unfreiwillige Verfehlen der Mitte im Handeln keinen Schaden. Es geht um die Bestimmung des Freiwilligen auf dem Weg über das Unfreiwillige. Unfreiwillig ist, was durch Gewalt erfolgt; der Anfang der Handlung liegt nicht im ›Handelnden‹, und dieser wirkt auch nicht mit. Unfreiwillig ist ferner alles Handeln, dessen beherrschender Anfang zwar im Handelnden liegt, das aber durch die unverschuldete Unwissenheit des Handelnden bezüglich eines oder mehrerer zur Handlung gehöriger Momente bestimmt ist und das vom Handelnden bedauert wird, sobald er wissend geworden ist. Freiwillig ist dementsprechend ein Handeln, dessen Anfang im Handelnden liegt und bei dem der Handelnde alle zur Handlung gehörigen Momente weiß. (Auf den Spezialfall der Handlungen mit Mischcharakter nimmt Aristoteles nun keine besondere Rücksicht mehr. Sie lassen sich diesem weiten Begriff des Freiwilligen subsumieren.) Von der Bestimmung des Freiwilligen geht Aristoteles weiter zur Bestimmung der Entscheidung. Die Entscheidung ist etwas Freiwilliges, aber nicht alles Freiwillige ist Entscheidung; zum Beispiel liegt dem, was man plötzlich tut, keine Entscheidung zugrunde, auch wenn es freiwillig getan wird. Das, wofür man sich entscheidet, ist das, was man vorher bei sich überlegt hat. 16 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Die Entscheidung ist die eigentlich menschliche Gestalt des Freiwilligen. Ohne Überlegen gibt es keine Entscheidungen. Worauf richtet sich aber unser Überlegen? Zunächst: In welchem Seinsbereich kommt es zum Vollzug? Jedenfalls nur im Bereich solcher Dinge, mit denen Menschen sich beschäftigen, die bei Verstand sind. Aus diesem Bereich scheiden für das Überlegen aus: das Ewige (Weltall, mathematische Sachverhalte); das, was zwar in Bewegung ist, aber nach unveränderlichen Gesetzen (Sonnenwenden, Aufgänge der Gestirne); das, was sich bald so, bald so verhält, ohne daß wir Einfluß darauf nehmen könnten (Dürren, Regenfälle); das, was sich zufällig trifft (Finden eines Schatzes); menschliche Angelegenheiten, die außerhalb unseres Wirkungskreises liegen (Verfassung eines entfernten Staates). Übrig bleibt als Gegenstand unserer Überlegung das, was in unserer Macht ist, was durch uns selbst zustande gebracht werden kann. Manches davon ist in Wissenschaften und bei den Handwerken schon durch andere – sei es auf dem Weg der Übereinkunft (Schriftzeichen), sei es als Ergebnis gemachter Erfahrungen – unter Regeln gebracht, die allgemein anerkannt werden. Auch in solchen Fällen überlegen wir nicht (es sei denn, wir hielten die Regeln für änderungsbedürftig). Wir überlegen bei solchem, das wir selbst handelnd bewirken können. Das Ziel der Handlung ist dem Überlegen vorgegeben. Das Überlegen gilt allein den Mitteln und Wegen zur Erreichung des Ziels. So überlegt ein Arzt nicht, ob er den Kranken heilen soll, sondern wodurch er ihn heilen kann. Sein Ziel ist schon damit gegeben, daß er Arzt ist. Wie vollzieht sich das Überlegen? Das Ziel steht schon fest. Bei ihm setzt das Überlegen an. Es sucht zuerst, was dem Ziel am nächsten ist und zuletzt getan werden muß. Ist das gefunden, so sucht es danach, wie das, was zuletzt zu tun ist, möglich gemacht werden kann, und weiterhin wie dies selbst ermöglicht werden kann und so fort, bis es beim Handelnden selbst und dem, was er zuerst zu tun hat, angekommen ist. In diesem 17 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Augenblick ist das Ziel als durch den Handelnden möglich aufgewiesen. Der Handelnde weiß, daß er das Ziel erreichen kann, weil er weiß, wie er es erreichen kann. Er nimmt die Verwirklichung in Angriff. – Das Überlegen wird unterwegs abgebrochen, wenn es auf eine Bedingung der Verwirklichung trifft, die vom Handelnden auf keine Weise erfüllt werden kann. Es zeigt dann etwas an sich zwar Mögliches als jetzt und hier durch den Handelnden nicht möglich auf. Die Verwirklichung des Ziels wird – jedenfalls vorerst – aufgegeben. – Wenn sich mehrere Wege zum Ziel als möglich erweisen, so sucht die Überlegung unter ihnen den besten. Entsprechendes gilt auch für Teilstrecken des Weges. – Nicht alles, was in die Überlegung eingeht, muß oder kann selbst überlegt werden. Das Überlegen vollzieht sich auf dem Grunde menschlichen Sichauskennens in der Welt. Es nimmt Bekanntes in Anspruch, so das Einzelne, von dem wir durch die Wahrnehmung Kenntnis haben. Dadurch bleibt das Überlegen davor bewahrt, sich ins Endlose zu verlieren. Das, was man überlegt, und das, wofür man sich entscheidet, ist dasselbe. Überlegung und Entscheidung sind aber zu unterscheiden. Ihr Verhältnis ist so zu denken: Die Überlegung kommt in ihrem Vollzug zu immer schärferer Abgrenzung dessen, was zu tun ist. Sie sondert schrittweise den besten Weg zum Ziel in allen seinen Teilstrecken aus. Dadurch hat, wenn sie abgeschlossen ist, eine Vorwahl stattgefunden. Andere Mittel und Wege zum Ziel, falls sie möglich sein sollten, kommen kaum noch in Betracht. Die Entscheidung greift hier zu. Sie bestimmt das Streben, das sich bisher abwartend verhalten hat, das Überlegte zu tun. Freilich muß gesehen werden, daß nicht jede Entscheidung das Streben zu trefflichem Handeln bestimmt. Wenn das vorgegebene Ziel nicht trefflich ist, dann auch nicht die Handlung, die es erwirkt, mag die Überlegung auch noch so folgerichtig und die Entscheidung für das Streben auch noch so bindend sein. Treffliches Handeln setzt treffliche Ziele und damit ethische 18 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Trefflichkeit voraus. Es setzt jeweils die ethische Trefflichkeit als Haltung voraus, die es selbst erst im Einzelfall zu voller Wirklichkeit bringt. Andererseits sind zum trefflichen Handeln Entscheidungen erfordert, die selbst trefflich sind. Da die Entscheidung und die ihr zugehörige Überlegung Sache der Vernunft sind, bedarf ethische Trefflichkeit einer Trefflichkeit der Vernunft. Aristoteles macht sie im VI. Buch der Nikomachischen Ethik unter dem Namen Einsicht (phrónesis) zum Thema. Die Einsicht ist eine dianoetische Trefflichkeit (und sie ist die einzige dianoetische Trefflichkeit, die es in diesem Kapitel zu thematisieren gilt). Sie vollzieht wahres Überlegen und ein das Streben entsprechend bestimmendes Entscheiden. Sie ist als Trefflichkeit der erwägenden Vernunft eine Haltung (wie andererseits die ethischen Trefflichkeiten Haltungen sind). Wer Einsicht hat, der hat sie dauerhaft und ist eben deshalb ein Einsichtiger. Das verdankt er aber nicht zuletzt einer ethischen Trefflichkeit, der Besonnenheit. Die Besonnenheit bewahrt die Einsicht. Die Besonnenheit ist diejenige Haltung, die das Streben im Verfolgen des Angenehmen und Meiden des Unangenehmen an sich halten und die Entscheidungen abwarten läßt und die gegenüber bestimmten Regungen der Lust und des Schmerzes die Mitte trifft. Da Lust und Schmerz in einem weiteren Sinne alle anderen Regungen begleiten, steht die Besonnenheit hier gewissermaßen stellvertretend für alle ethischen Trefflichkeiten. Es zeigt sich ein Wechselverhältnis zwischen Einsicht und ethischer Trefflichkeit. Nur dank der Einsicht gelangt ethische Trefflichkeit zu ihrer vollen Wirklichkeit – zur Verwirklichung dessen, worauf sie aus ist, in einem die Mitte treffenden Handeln. Nur dank der ethischen Trefflichkeit als der festen Verfassung der Seele, die in den Regungen die Mitte trifft und das Streben an sich halten und warten läßt, vermag sich Einsicht zu vollziehen. Einsicht und ethische Trefflichkeit bedingen sich wechselseitig. Ihre Vereinigung allein läßt treffliches Handeln entstehen. 19 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Das Dargestellte bedarf noch einer Ergänzung. Wenn gesagt wird, der treffliche Mensch halte seine Regungen in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig, er empfinde weder zuviel noch zuwenig Furcht, Freude oder Mitleid, so gilt es zu sehen: Diese Mitte muß von der Vernunft je im einzelnen Fall erblickt werden. Solches Erblicken ist verschieden von dem Überlegen und Entscheiden, das die Einsicht für die Handlung vollzieht. Es erblickt nicht Mittel und Wege zur Erreichung des Ziels, sondern das Maß für die Regung bezüglich der verschiedenen Momente der Mitte. – Ziel der Einsicht ist das gute Handeln (eupraxía). Ihr Überlegen und Entscheiden bezüglich der Mittel und Wege, dank derer im jeweiligen Fall die Mitte im Handeln getroffen werden kann, vollzieht sich im Umkreis dessen, was für den Menschen gut und schlecht ist (1140b5 f.). Sie blickt freilich auf einzelne treffliche Ziele, aber eben gerade auch auf das gute Leben im ganzen (1140a28). Heißt das nun aber nicht, daß über das bisher Dargestellte hinaus ein weiterer philosophischer Schritt – ein Schritt auf eine höhere Gedankenebene – zu tun ist? Die Fragen drängen sich auf: Muß nicht auch ein wahres Erfassen der trefflichen Ziele als solcher stattfinden? Muß nicht auch ›eingesehen‹ werden, daß gutes Handeln (eupraxía), also das Verwirklichen trefflicher Ziele, für den Menschen glückhaft und höchst erstrebenswert ist? Und: Bedarf es nicht auch hier einer entsprechenden Entscheidung des Individuums, die zur Haltung zu verfestigen ist und das Eingesehene für das Leben bestimmend macht? Diese Fragen sind mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Damit ist auf die höchste Gestalt der dem Menschen eigenen Freiwilligkeit gewiesen. Aristoteles läßt keinen Zweifel darüber, daß die von ihm als dianoetische Trefflichkeit bestimmte Einsicht selten ist. Viele Menschen haben sie nicht. Sind sie damit von ethischer Trefflichkeit abgeschnitten? Oder gibt es eine ethische Trefflichkeit von niedrigerem Rang, eine sozusagen durchschnittliche ethi20 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
sche Trefflichkeit, die sehr wohl auch etwas Gutes wäre und Glück gewährte? Es gibt sie nach Aristoteles. Es gibt sie als das Hinhören auf die Einsicht anderer, nämlich auf die Einsicht der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber hat – wenn er ein guter Gesetzgeber ist – als ein Einsichtiger für solches Hinhören das wahre Erfassen der Ziele und das Entscheiden darüber, daß diese Ziele zu verfolgen sind, übernommen und in den Gesetzen ausgesprochen. Die Gesetze sagen, was zu tun gut ist, und haben bindende Kraft; ihre Übertretung, die der Ausnahmefall sein muß, wird geahndet. So, wie beim einzelnen Individuum von Einsicht nur gesprochen werden kann, wenn das erfaßte oder überlegte Gute dank einer entsprechenden Entscheidung das Streben wirklich bestimmt, so kann von guter gesetzlicher Ordnung nicht gesprochen werden, wenn gute Gesetze zwar da sind, aber nicht befolgt werden. Die Gesetze beziehen sich auf die gesamte Lebensführung (1180a4). Das Erfassen und Entscheiden, das die Einsicht des Gesetzgebers vollzieht, betrifft die Ziele sowohl als auch die Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung, letzteres indem die Gesetze so konkret wie möglich werden. Da alles Handeln sich in Einzelfällen vollzieht, reicht jedoch auch die konkreteste Gesetzgebung nicht bis ans Handeln heran. Auch das konkreteste Gesetz bleibt noch ein Allgemeines. Es muß dem Bürger überlassen, was er im jeweiligen Einzelfall zu tun hat, um dem Gesetz gemäß zu handeln. Insofern bleibt auch hier für den Handelnden ein erheblicher Rest von Überlegung und Entscheidung, nämlich bezüglich der Erfüllung des Gesetzes in der jeweiligen besonderen Situation. Der Gesetzgeber kann nur bis zu einem bestimmten Grad der Konkretion seine Einsicht für diejenigen sprechen lassen, denen die Trefflichkeit der Einsicht nicht zukommt. Darin liegt für Aristoteles ein nicht aufzuhebender Mangel. Ohne Zweifel ist auch das Handeln gemäß den Gesetzen ethische Trefflichkeit (es sei denn, Furcht vor Strafe oder das Begehren einer Belohnung sei sein bestimmendes Motiv). Es verlangt
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das Aussein auf die Mitte in den Regungen und im Streben, es verlangt das Hinhören aufs Gesetz in jedem einzelnen Fall. Unlängst wurde hier gesprochen von einem wahren Erfassen der trefflichen Ziele als solcher durch die Vernunft und von einer Entscheidung eines Individuums für diese Ziele, für das gute Handeln. Solcher Entscheidung eines einsichtigen Individuums entspricht im Bereich des Handelns gemäß den Gesetzen eine bewußte Anerkennung der Gesetze. Diese nimmt ausdrücklich das in den Gesetzen Gesagte als Gutes an und ›entscheidet‹ sich für dieses Gute. Sie ist in der ethischen Trefflichkeit wirksam. Sie begründet ein freies, vernünftiges Verhältnis zu den Gesetzen. Insofern macht sich auch hier die Vernunft des einzelnen Individuums zum bestimmenden Grund der ethischen Trefflichkeit. Allerdings scheint für Aristoteles im Vordergrund zu stehen, daß für die ›Vielen‹ die Gesetze ein mehr oder minder stark empfundener Zwang bleiben. Menschen, denen selbst die Trefflichkeit der Einsicht nicht zukommt, können, indem sie als Bürger die Gesetze ihres Staates befolgen, sehr wohl ethische Trefflichkeit verwirklichen. Da sie dabei aber abhängig von den bestehenden Gesetzen sind, ist ihre ethische Trefflichkeit relativ auf diese Gesetze. Je besser die Gesetze sind, um so trefflicher ist – absolut gesehen – der Bürger, der ihnen gemäß handelt. Nur unter einer vollkommenen Gesetzgebung vollzieht der treffliche Bürger die gleichen Handlungen wie derjenige, der seiner eigenen Einsicht folgt. Unter einer schlechteren Gesetzgebung sind seine Handlungen schlechter, und das, obwohl er es von sich aus an ethischer Trefflichkeit nicht fehlen läßt. Die Abhängigkeit von der Einsicht eines anderen, eben des Gesetzgebers, hat diese Relativität ethischer Trefflichkeit zur Folge. Für sie ist der Bürger, der selber kein Einsichtiger ist, nicht verantwortlich zu machen, und doch entscheidet sie über das Maß des Glücks, das ihm erreichbar ist. Die kurze Betrachtung über die ethische Trefflichkeit des die Gesetze achtenden Bürgers hat eine andere Seite der Einsicht ins Licht gerückt. Während zuvor die Einsicht des Individuums im 22 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Blick stand, das über sein eigenes Leben und sein eigenes Handeln im Zusammenleben mit anderen entscheidet, hat sich jetzt die Einsicht gezeigt als diejenige Trefflichkeit der Vernunft, die anderen Menschen zur Verwirklichung ethischer Trefflichkeit und zum Glück verhilft. Diese Einsicht vollzieht der Mensch als Gesetzgeber (und im weiteren Sinn als Staatsmann, was hier nicht ausgeführt werden soll). – Aristoteles entfaltet in der Nikomachischen Ethik eindringlich ein sehr positives Konzept trefflichen Handelns bzw. von ethischer Trefflichkeit, Freiwilligkeit, Entscheidung, Einsicht. Aber er artikuliert auch, daß die Realität menschlichen Strebens, Einsehens und Handelns nicht selten dahinter zurückbleibt. Was dies betrifft, hatte sich im vorigen schon gezeigt: Nach Aristoteles ist die Einsicht als dianoetische Trefflichkeit eines Individuums eine Seltenheit. Ferner: Die ›Vielen‹ bringen eine Anerkennung des in den Gesetzen Festgelegten als des für sie selbst und für ihre Mitbürger Guten, also Erstrebenswerten, nicht auf; sie empfinden statt dessen die Gesetze mehr oder weniger stark als Zwang (was noch einmal aufzugreifen sein wird). Und: Die ethische Trefflichkeit der Bürger, wenn sie denn die Gesetze willig befolgen, ist relativ insoweit, als sie abhängig davon ist, ob die Gesetze gut sind. Weiteres aus Aristoteles’ Beschreibung und Einschätzung der besagten Realität ist nun namhaft zu machen. Zunächst: Es gibt bei der ethischen Trefflichkeit noch eine andere Abhängigkeit als die soeben erneut erwähnte, und zwar die Abhängigkeit von Erziehern im weitesten Sinn. Um das klarzumachen, ist kurz etwas darzustellen, das hier noch nicht erwähnt worden ist, nämlich Aristoteles’ Auffassung, daß ethische Trefflichkeit ihren zeitlichen Anfang (den Anfang ihrer Entstehung) in der Gewöhnung hat. Wie ist das zu verstehen? Klar ist aus vorangegangenem: Ein wesentlicher Vollzug der Einsicht ist das wahre Erfassen der trefflichen Ziele menschlichen Handelns und das Sich-entscheiden für diese Ziele. Durch diesen Vollzug der Einsicht macht sich ein Mensch im vollen 23 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
und eigentlichen Sinn zum Urheber seiner Trefflichkeit. Er gründet seine ethische Trefflichkeit auf seine eigene Vernunft. Analog dazu wurde für Menschen, in denen die Trefflichkeit der Einsicht nicht ausgebildet ist, gesagt, sie könnten ihr Verhältnis zu den Gesetzen zu einem freien und vernünftigen machen durch den ausdrücklichen Vollzug der Anerkennung der Gesetze als des Guten. Durch einen solchen Vollzug der Anerkennung wird ein Mensch – bei aller Abhängigkeit vom Gesetzgeber – doch auch zum Urheber seiner ethischen Trefflichkeit, freilich in einem modifizierten, sekundären Sinn. Und da gilt es nun zu sehen: In beiden Fällen muß nach Aristoteles Gewöhnung an treffliches Handeln vorangegangen sein. Sich selbst zum Anfang seiner ethischen Trefflichkeit zu machen in dem Sinn, daß die eigene Vernunft ihr bestimmender Grund wird, das ist, zeitlich und auf die Entwicklung des einzelnen Menschen gesehen, das zweite. Anfang im zeitlichen Sinn ist die Gewöhnung. Durch einen Vergleich führt Aristoteles an das damit Gemeinte heran. Baumeister wird man durchs Bauen, Kitharakünstler durch das Spielen der Kithara. Das dem Baumeister eigene Tun läßt in häufiger Wiederholung den Baumeister entstehen, und ebenso beim Kitharakünstler. Ganz entsprechend verhält es sich bei den ethischen Trefflichkeiten. Jemand wird tapfer, indem er immer wieder das tut, was ein Tapferer in der jeweiligen Lage tun würde; jemand wird gerecht, indem er immer wieder Gerechtes tut, und ebenso bei den anderen ethischen Trefflichkeiten. Das bedeutet hier Gewöhnung. Auf die gleiche Weise entsteht in dem Menschen auch das Gegenteil der Trefflichkeit. Wiederholtes feiges Verhalten macht jemanden zum Feigling, wiederholtes ungerechtes Verhalten macht einen Menschen zum Ungerechten. Die Bedeutung guter Erzieher für den jungen Menschen läßt sich schon abschätzen. Die Gewöhnung im erläuterten Sinn hat zum Ergebnis eine Haltung. Im günstigen Fall ist das Ergebnis ethische Trefflichkeit als die Haltung, beständig auf die Mitte im Empfinden der Regungen und im Handeln aus zu sein und die Verwirklichung 24 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
wahrhaft guter Ziele zu erstreben. Ein Individuum gewinnt diese Haltung, indem es sich in seinem Handeln leiten läßt von ethisch trefflichen Menschen, und das immer wieder über einen längeren Zeitraum. Während dieses Prozesses ist das Individuum abhängig – abhängig von Erziehern im weitesten Sinn. Nur wenn diese ethisch trefflich sind und es vermögen, zu trefflichen Einzelhandlungen anzuleiten, ja diese durchzusetzen, kann das Gewinnen der ethischen Trefflichkeit als Haltung auf dem hier im Blick stehenden Weg gelingen. Übrigens: Soweit sich die Gewöhnung an schlechtes Handeln nicht ebenfalls unter dem bestimmenden Einfluß anderer Menschen vollzieht, fehlt eben der Einfluß trefflicher Menschen und bleibt der Handelnde dem Zuviel und Zuwenig seiner Regungen und seines Strebens ohne Vernunftleitung überlassen. Aristoteles hält denn begreiflicherweise die Sorge um die Erziehung für eine wichtige Aufgabe der Gesetzgeber. Zweierlei darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden. Zum einen: Ein Individuum, das dank des bestimmenden Einflusses anderer (trefflicher) Menschen ethische Trefflichkeit als Haltung erlangt, wirkt in diesem Prozeß mit. Sein Mitwirken besteht in der von ihm eigens aufzubringenden Bereitschaft, auf die Einsicht jener anderen hinzuhören und entsprechend zu handeln. Dies Mitwirken kann versagt werden. Es ist freiwillig. Zum andern: Ethische Trefflichkeit, durch Gewöhnung entstanden, kann durch Gewöhnung auch wieder vergehen. Das Moment der Dauer in ihr schließt nicht aus, daß ein Mensch seine Trefflichkeit wieder verliert. Er verliert sie wieder, wenn er nachläßt in der Anspannung, die die ethische Trefflichkeit fordert, wenn er sich dem Zuviel und Zuwenig überläßt und wiederholt schlecht handelt. Er wird schlecht durch Gewöhnung, wie er durch Gewöhnung trefflich geworden war. – Zu erwähnen ist: Nach Aristoteles gibt es in Ausnahmefällen
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die Festlegung eines Menschen zum Schlechten hin durch die Natur dieses Menschen. – Der Blick sollte noch einmal auf die ›Vielen‹ gelenkt werden, für die die Gesetze Zwang sind. Aristoteles’ Einschätzung dieser Personen ist sehr herb: Sie streben nach Geld, Ehre, sinnlichen Genüssen als dem für sie Höchsten; sie überlassen sich ganz ihren Begierden, ihren Regungen (1168b16–21). Von ethischer Trefflichkeit sind sie weit entfernt. Ohne Furcht vor den Strafen, die sie bei Übertretung der Gesetze zu gewärtigen hätten, wären sie schlecht. Die Regung der Furcht bestimmt sie, ihre Ziele im Rahmen der Legalität zu verfolgen. – Nun gibt es ja aber auch treffliche Menschen – nach Aristoteles’ Überzeugung allerdings selten. Für diese Menschen – so sieht Aristoteles hier die Realität – besteht ein erhebliches Problem, nämlich das Problem eines Maßes für die jeweils zu treffende Mitte. Die die Ziele erfassende Einsicht vermag viel für das treffliche Handeln, aber eines vermag sie nicht: Sie vermag nicht, einen Maßstab an die Hand zu geben, an dem messend die auf Mittel und Wege gerichtete Einsicht im Einzelfall die Mitte bestimmen könnte; ihr Denken der Mitte bleibt, an den konkreten Einzelfall gehalten, formal. Und die Einsicht, die auf Mittel und Wege zur Verwirklichung trefflicher Ziele und also auf die jeweilige Mitte in allen ihren Momenten gerichtet ist, ist vielen Schwierigkeiten ausgesetzt. Das soll hier nicht ausgeführt werden. Erwähnt sei aber Aristoteles’ Auffassung: Weil es so überaus schwer ist, im Einzelfall die Mitte zu treffen, muß auch den Menschen noch Trefflichkeit zugesprochen werden, die nur um weniges von der Mitte abweichen. – Aristoteles hat der nicht immer erfreulichen Realität menschlichen Verhaltens und Handelns in seiner Untersuchung Raum gegeben; er hat Abhängigkeiten namhaft gemacht; er hat Schwierigkeiten thematisiert, die für um ethische Trefflichkeit bemühte Menschen bestehen. Das alles mindert nicht im geringsten die aufschließende Kraft und die Verbindlichkeit seiner positiven Ausführungen über das gute, treffliche Handeln und 26 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
damit über das hier dargestellte komplexe Ganze, in dem sich ethische Trefflichkeit, Freiwilligkeit, Entscheidung sowie Einsicht verbinden. Auch sollte nicht vergessen werden, daß Aristoteles das gute Handeln als eine Gestalt menschlichen Glücks zu verstehen gibt. Im Vollzug guten Handelns ist ein Mensch glücklich. Solches Handeln muß ihn freuen, denn er verwirklicht in ihm, was er als wahrhaft gutes Ziel vorrangig gewählt hat.
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2 Freiheit und der Ursprung des Bösen Augustin, Der Gottesstaat
In Buch XII, Kapitel 6 und 7 seines umfangreichen Werkes Der Gottesstaat hat Augustin auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen eine wichtige, wenn nicht gar die entscheidende Antwort gegeben. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen (d. h. des moralisch Schlechten) hat nur Sinn mit Bezug auf einen vernünftigen, freien, verantwortlichen Willen. Und sie zielt nicht auf die Ursache schlechter ›Werke‹ der mit einem solchen Willen ausgestatteten Wesen. Sie beruhigt sich also nicht dabei, einen bösen Willen als Ursache auszumachen, sondern es geht ihr radikal gerade um die Ursache des bösen Willens selbst. Wodurch gibt es überhaupt bösen Willen? Augustin fragt so: Was ist die bewirkende Ursache (causa efficiens) des bösen Willens? Und er gibt die provozierende Antwort: nichts. Die Begründung für diese These liefert er, indem er das platonische Verfahren der Dihairesis anwendet, und zwar in derjenigen Variante, in der eine Gattung vollständig in ihre Arten und Unterarten eingeteilt wird. (Die ›Vorzeichen‹ bei Platon und hier bei Augustin sind allerdings entgegengesetzt: Platon teilt ein und bestimmt Seiendes, Augustin schließt sämtliche zu erwägenden Möglichkeiten aus.) Gesucht ist die bewirkende Ursache des bösen Willens. Sie müßte jedenfalls eine Sache, ein sachhaltiges Etwas, ein Seiendes (res aliqua) sein. Hiervon als oberster Gattung hat die Einteilung auszugehen. Ich gebe zunächst ein Schema der Dihairesis und gehe sie dann schrittweise durch.
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ein Seiendes
mit Willen
mit gutem Willen
ohne Willen
mit bösem Willen
in keiner Natur
überlegen
gleich
unterlegen
in einer Natur
Ein Seiendes, das bewirkende Ursache des bösen Willens wäre, müßte entweder einen Willen haben oder keinen Willen haben. Hätte es einen Willen, so müßte dieser entweder gut oder böse sein. Ein Seiendes mit gutem Willen kann unmöglich einen Willen böse machen; es entfällt als mögliche bewirkende Ursache des bösen Willens. Der Wille eines Seienden, das einen Willen böse macht, müßte selbst böse sein. (Hier mag eine Zwischenbemerkung am Platze sein: Wer Zweifel hegt, ob die Einteilung des Seienden mit Willen in nur zwei ›Arten‹ vollständig ist, d. h. wer etwa auch an einen moralisch indifferenten (von ›gut‹ und ›böse‹ gar nicht tangierten) Willen denken möchte und/oder an einen Willen, dessen moralische Qualität irgendwo zwischen ›gut‹ und ›böse‹ angesiedelt wäre, müßte diese Einteilungsglieder ebenso ausschalten wie den guten Willen. Ein vernünftiger, freier, verantwortlicher Wille, der als bewirkende Ursache Ursprung eines bösen Willens wäre, müßte selbst auch böse sein.) Also noch einmal: Der Wille eines Seienden, das einen Willen böse macht, müßte selbst böse sein. Die Frage nach der bewirkenden Ursache des bösen Willens ist damit verlagert; sie stellt sich jetzt für den bösen Willen, der als Ursache beansprucht werden soll. Man gelangt zu einer (längeren oder kürzeren) 30 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Kausalreihe böser Willen. Für Augustin nimmt die Frage ganz selbstverständlich die Gestalt an: Was ist die bewirkende Ursache des ersten bösen Willens? Augustin setzt also – ohne Begründung – einen Anfang der Reihe. Das ist bei ihm leicht begreiflich. Denn ein regressus in infinitum kann für ihn schon deshalb nicht in Betracht kommen, weil er im Rahmen seiner Schöpfungslehre einen Anfang der Zeit denkt. Aber es bedarf nicht dieses Theorems, um den regressus in infinitum an dieser Stelle auszuschließen. Eine unendliche Kausalreihe böser Willen würde nämlich bedeuten, daß jedem Glied dieser Reihe das Bösewerden durch einen anderen Willen geschieht. Damit wäre Verantwortlichkeit schlechthin aufgehoben, und mit ihr das Böse. Die Frage nach der bewirkenden Ursache des ersten, eine Kausalreihe böser Willen beginnenden bösen Willens enthält nun aber als Frage schon einen Widerspruch; denn hätte der erste böse Wille eine bewirkende Ursache, dann wäre er eben nicht der erste. Man müßte also sagen: Der erste böse Wille ist durch kein Seiendes bewirkt, er war immer schon. Dann, so scheint es, war er immer schon entweder in keiner Natur (in keinem Seienden) oder in einer Natur (in einem Seienden). Die erste dieser beiden Vorstellungen ist absurd: Ein böser Wille, der in keiner Natur ist, ist überhaupt nicht. Also müßte der erste böse Wille – immer schon – in einer Natur gewesen sein. Das ist jedoch nicht möglich. ›Immer schon‹ kann der böse Wille nicht in einer Natur gewesen sein. Und also war er nicht immer schon; also muß er geworden sein und selbst eine Ursache haben; also ist er nicht Anfang einer Kausalreihe. Und da nun denn die ins Auge gefaßte Kausalreihe böser Willen weder nach rückwärts unendlich sein noch einen Anfang haben kann, gibt es sie nicht. Aber warum kann der böse Wille nicht immer schon in einer Natur gewesen sein? Ein böser Wille schadet, andernfalls ist er nicht böse. Ein böser Wille, der immer schon war, kann aber nicht erst dadurch böse sein, daß er einen in der Kausalreihe auf ihn folgenden bösen Willen bewirkt 31 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
und auf diese Weise schadet. Er müßte also der Natur, in der er ist (und indem er in ihr ist), schaden und sie verderben. Indessen: Verdirbt er sie, dann war sie vorher gut. Und also war er nicht immer schon in ihr. Fazit bis jetzt: Ein Seiendes mit Willen scheidet als bewirkende Ursache des bösen Willens aus. Es bleibt zu bedenken, ob ein Seiendes ohne Willen die gesuchte bewirkende Ursache ist. Hier kommt die Dihairesis zu drei Gliedern: Das Seiende ohne Willen, das einen Willen böse macht, müßte diesem (noch guten, aber veränderbaren) Willen entweder überlegen oder gleich oder unterlegen sein. Die beiden ersten dieser Einteilungsglieder entfallen sofort. Dem Willen vernünftiger, freier, verantwortlicher Wesen (und nur ein solcher Wille kann ja im Blick stehen, wo sinnvoll über das Böse nachgedacht wird) ist ein Seiendes ohne (solchen) Willen nicht überlegen und auch nicht gleich, wie trefflich es auf seine Weise auch sein mag. Für Augustin ist das klar angesichts der von ihm angenommenen ›natürlichen‹ Rangordnung der geschaffenen Wesen vom Leblosen bis hinauf zu den Engeln. Unter systematischem Aspekt ist es wichtig, ob man jener Einschätzung auch unabhängig vom augustinischen Kontext zustimmt. Und das entscheidet sich meines Erachtens an der bejahenden oder nicht bejahenden Einstellung zu Selbstbewußtsein, Vernunft, Freiheit. Eine diesbezügliche Bejahung (die Selbstbejahung des Menschen als eines vernünftigen und freien Wesens) kann niemandem andemonstriert werden, wie unerläßlich sie auch für Sittlichkeit sein dürfte. (Daß sie schwerfallen mag angesichts des Unheils, das Menschen anrichten, sei eingeräumt.) Zu prüfen ist noch, ob das Seiende ohne Willen, das einen Willen böse machen könnte, zu finden ist im Bereich von solchem, das dem Willen unterlegen ist. Hier zu einem Nein zu kommen, ist für Augustin leicht: Alles Geschaffene, auch das niedrigste, ist gut, da es vom Schöpfer Gestalt und Ordnung empfangen hat; kein derart Gutes aber kann bewirkende Ur32 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
sache eines bösen Willens sein. Losgelöst von Augustins Schöpfungsmetaphysik läßt sich dies letzte Glied der Dihairesis durch folgendes Argument ausschalten: Ein dem Willen ›unterlegenes‹ Seiendes, gedacht als bewirkende Ursache eines bösen Willens, führt zur Aufhebung des Begriffs des Bösen. Anders formuliert: Eine ›niedrigere Natur‹ – in einem mit einem Willen begabten Wesen oder außerhalb seiner –, die als bewirkende Ursache hinreicht, den Willen schlecht (verderblich, schädigend) zu machen, macht ihn nicht böse. Strikter Ausschluß des Willens von der Verursachung seiner Schlechtigkeit hebt die Zurechenbarkeit auf und damit die gerechtfertigte Rede vom Bösen. Gesamtfazit der Dihairesis: Weder Seiendes mit Willen noch Seiendes ohne Willen kann bewirkende Ursache des bösen Willens sein. Nichts ist bewirkende Ursache des bösen Willens – was zu beweisen war. Und doch gibt es Böses. Bleibt die Frage nach seinem Ursprung ein beirrendes Kuriosum und unlösbar? Oder läßt sich eine Antwort auf sie finden? Augustin bietet eine Antwort an, indem er eine neue Art von Ursache in die Untersuchung einführt. Dies zu tun, berechtigt ihn das Ergebnis der durchgeführten Dihairesis. Der Ursprung des Bösen ist als ›ermangelnde Ursache‹ (causa deficiens) zu denken. Das Verursachte einer solchen Ursache ist ein Mangel (defectio). Dieser aber ist gerade nicht ›bewirkt‹. Sondern das Verursachen selbst ist hier ein deficere – ein Fehlen, Erlahmen, Lassen und Ablassen. Die causa deficiens läßt einen Mangel entstehen, indem sie selbst es an etwas fehlen läßt, indem sie ein Lassen vollzieht. (Ich verwende den lateinischen Ausdruck »causa deficiens«, weil eine wirklich befriedigende Übersetzung für ihn meines Erachtens nicht anzubieten ist.) Die Frage nach dem Ursprung des Bösen, nach der ersten Ursache eines bösen Willens, führt auf den Willen als causa deficiens seines eigenen Böseseins. Genauer gesagt: Der böse Wille eines Individuums ist causa deficiens seiner selbst. Der Wille 33 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
wird vom guten zum bösen (des Guten ermangelnden) Willen durch sein eigenes, von ihm zu verantwortendes Ablassen von der Anstrengung guten Wirkens. Er läßt es fehlen am wirksamen Wollen des Guten, und diesem Vorgang stimmt er in Freiheit zu. Auf diese Weise kann in einem Individuum freilich so etwas wie ein zweite Natur entstehen – eine verschlechterte, ja böse Natur, die böse ›Werke‹ gleichsam naturwüchsig hervorbringt. Ihr Ursprung geht dann aber auf den Willen zurück. Sie ist Ergebnis seines freien Vollzugs eines Ablassens vom Guten. Es galt, mit aller Schärfe die Frage nach dem Ursprung des Bösen (als Frage nach dem Ursprung des bösen Willens) zu durchdenken. Das Ergebnis ist: Der Ursprung des Bösen ist der Wille selbst als causa deficiens. Zweierlei möchte ich dem Dargestellten noch hinzufügen. Zunächst: Es wurde ausgeführt: Böses als hinreichende bewirkende Ursache eines bösen Willens anzusetzen, hieße in Wahrheit, das Böse aufzuheben. Es muß klar sein, was damit gesagt und was damit nicht gesagt ist. Es ist nicht gesagt, daß Fälle ausgeschlossen sind, in denen der Wille eines Individuums durch eine schlechte Natur oder durch den beherrschenden Einfluß anderer Menschen bösen Willens schlecht geworden ist. Aber es gilt: Wenn der Wille eines solchen Individuums nicht – als causa deficiens – an dem Vorgang beteiligt gewesen ist, vielmehr gegenüber dem, was auf ihn gewirkt hat, chancenlos war, dann ist er nicht böse, wie schädigend er auch sein mag. Wo keine Freiheit, keine Verantwortlichkeit anzutreffen ist, da ist eben auch kein Böses. Ferner: Von der Ursache des bösen Willens eines Individuums war bisher die Rede. Das könnte suggerieren, daß dort, wo von Bösem zu Recht gesprochen werden kann, eine zwar entstandene, dann aber durchgängige Beschaffenheit des Willens gemeint sei, ein nunmehr sozusagen durch und durch böser Wille. Vielleicht ist die Auffassung nicht zu optimistisch, daß der Durchschnittsmensch nicht von dieser Art ist. Bewährt sich auch mit Blick auf ihn die causa deficiens als Ursprung des 34 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Bösen? Anders gefragt: Bewährt sie sich beim Entstehen einzelner Untugenden, ja auch im Einzelfall bösen Handelns? Da die oben, bei Einführung der causa deficiens, gegebene formale Bestimmung dieser Ursache hier anzuwenden ist (was jeder leicht durchführen kann), ist die Frage mit Ja beantwortet. Vorausgesetzt bleibt allerdings, daß das Individuum bezüglich des jeweiligen Guten keinem unverschuldeten Irrtum ausgesetzt ist; auch unverschuldeter Irrtum hebt das Böse auf (während er sehr wohl zu tragischer Schuld führen kann).
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3 Freiheit und moralisches Gesetz Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft
Der Mensch begegnet bei Kant als Naturwesen und Vernunftwesen zugleich. Er ist ein sinnliches, bedürftiges Wesen, zu dem das Streben nach Glückseligkeit, nach einer umfassenden und dauerhaften Befriedigung seiner Neigungen, wesentlich gehört. Seine Vernunft dient ihm als diesem Wesen. Aber darin geht sie keineswegs auf. Sie zeichnet den Menschen unter anderen Wesen in der Welt auch und besonders dadurch aus, daß sie ihn zu zweckfreier Erkenntnis der Erscheinungswelt sowie – und das kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – zur Sittlichkeit befähigt. Sittlichkeit und die Würde des Menschen gehören engstens zusammen. Sittlichkeit denken, das meint: Freiheit und moralisches Gesetz denken. Ohne Freiheit kein moralisches Gesetz. Ein moralisches Gesetz, das einem unfreien Wesen geböte, würde sich an seiner eigenen Sinnlosigkeit aufheben. Für Kant gilt aber auch (was an späterer Stelle zu verdeutlichen sein wird): Ohne moralisches Gesetz keine Freiheit. Dank seiner Vernunft, wie gesagt, ist der Mensch zur Sittlichkeit befähigt. Und er ist sittlich gut dann, wenn er das moralische Gesetz wirklich befolgt. Das moralische Gesetz gibt Antwort auf die Frage ›Was soll ich tun?‹ Was und wie gebietet es meinem Tun? Kant setzt in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit seinen diesbezüglichen Überlegungen beim guten Willen an. Dieser begegnet unverzüglich als das ohne Einschränkung Gute und die Bedingung des Gutseins von anderem, das wir so leicht 37 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
für an sich selbst gut halten. Kant legt das eindrücklich dar: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit, machen Mut und hiedurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt und hiemit auch das ganze Prinzip zu handeln, berichtige« (GMS; 18). Wie aber ist das Gutsein des menschlichen Willens genauer zu denken? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage führt auf den Begriff der Pflicht. Der Mensch ist – zufolge seiner sinnlichen, bedürftigen Natur – nicht in einer Lage, daß sein Wille ein »vollkommen guter Wille« sein könnte; dieser wäre ein heilig zu nennender Wille, der jedenfalls Gott zuzuschreiben ist und der, »nach seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann« (GMS; 42 f.). Der Mensch kann, ›nach seiner subjektiven Beschaffenheit‹, auch von anderen Vorstellungen als der des Guten zum Handeln bestimmt werden, und das kommt im Begriff der Pflicht zum Ausdruck, der nämlich »den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält« (GMS; 22). Pflicht tritt diesem Willen, dem sich oft genug Begierden und Neigungen als Hindernisse für das Gutsein in den Weg stellen, als nötigend gegenüber, d. h. sie setzt ihn einem Sollen aus. Das heißt für Kant: Der Mensch soll »nicht aus Nei38 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
gung, sondern aus Pflicht« handeln (GMS; 25). Die Pflicht selbst und für sich soll Beweggrund des Handelns sein, und nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, darf von einem guten Willen gesprochen werden. So heißt es denn von der Pflicht, daß ihr »jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Wert über alles geht« (GMS; 30). Und wann handelt der Mensch aus Pflicht? Er tut es dann, wenn er aus Achtung fürs Gesetz handelt. »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (GMS; 26 – bei Kant hervorgehoben). Diese Definition der Pflicht läßt das Nachdenken über das sittlich Gute zu »Gesetz« und »Achtung« weiterschreiten. Ein Gesetz drückt Notwendigkeit aus, und das, was durch das Gesetz bestimmt ist, was ihm gemäß ist, das ist notwendig. Hier nun, im Bereich der Pflicht, handelt es sich nicht um etwas, das notwendig so und nicht anders geschieht, sondern um das, was notwendig so und nicht anders geschehen bzw. getan werden soll. Eine diesem Gesetz gemäß vollzogene Handlung ist notwendig in dem Sinne, daß sie das Gesollte erfüllt. Wie aber kommt es dazu? Dadurch, daß der Wille das Gesetz achtet, d. h. sich ihm unterwirft, ihm Folge leistet, und sollte dabei auch allen Neigungen Abbruch geschehen. Der nächste Gedankenschritt muß der Frage gelten, wie das Gesetz, das dem Willen ein Sollen auferlegt und von ihm Achtung verlangt, genauer zu denken ist. Klar ist aus dem soeben Gesagten schon, daß (für Kant) ein Wille, der das Gesetz achtet, die Neigung »von deren Überschlage bei der Wahl ganz ausschließt« (GMS; 27). Mit der Neigung werden alle Gegenstände des Wollens vom ›Überschlage bei der Wahl ganz ausgeschlossen‹, denn sämtliche Inhalte (materialen Zwecke) menschlichen Wollens korrespondieren nach Kant den Neigungen, resultieren aus dem Verlangen nach Glückseligkeit. Also kann das Sittengesetz nur auf die Form der Willensbestimmung abzielen, und es muß abseits der Sinnlichkeit (und ohne daß etwa mit der Befolgung des Gesetzes sich einstellende Vorteile ins Spiel kämen) 39 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
den Willen bestimmen. So antwortet sich Kant denn auf die Frage, was das für ein Gesetz sein könne, »dessen Vorstellung […] den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne« (GMS; 28): »Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden« (GMS; ebd.). (Maximen – das sei an dieser Stelle angemerkt – sind subjektive Grundsätze des Handelns, die der Mensch als bedürftiges Wesen sich macht, um sein Wohlbefinden zu erwirken und Ungemach von sich abzuwenden.) Das Gesetz für mein sittliches Handeln begegnet also hier, und das heißt im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der Formulierung; »ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« Nun auch in der Form als Imperativ ausgedrückt, findet sich das Gesagte im zweiten Abschnitt der Schrift wieder in den Worten: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (GMS; 51 – bei Kant hervorgehoben). Kant verdeutlicht das Gemeinte durch ein Beispiel: »Die Frage sei z. B.: darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten?« (GMS; 29) Gefordert ist von mir, meine Maxime, »mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen«, als »ein allgemeines Gesetz« vorzustellen; tue ich das, dann »werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben« (GMS; 29 f.). 40 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Unmittelbar anschließend bekundet Kant seine Überzeugung: »Was ich also zu tun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, darzu brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit« (GMS; 30). Das heißt natürlich: Niemand braucht eine »weit ausholende Scharfsinnigkeit«, um zu wissen, was je und je zu tun gut ist. Der gemeine Menschenverstand, der jedem geistig gesunden Menschen eignet, reicht dazu völlig aus. Wie er denn auch das Gebot der Pflicht (das moralische Gesetz) »jederzeit vor Augen« hat (GMS; 29) – als von ihm anerkanntes Prinzip des Handelns. Das Prinzip anerkennen und es auch befolgen, ist allerdings durchaus noch zweierlei. Befolgen wir es nicht, so spricht das nicht dagegen, daß wir es als Gesetz anerkennen. Wir verstehen uns nach Kant dann so, daß wir uns die Freiheit nehmen, »eine Ausnahme zu machen«, und damit ›beweisen‹ wir gerade, »daß wir die Gültigkeit des kategorischen Imperativs wirklich anerkennen« (GMS; 55 und 55 f.). Das moralische Gesetz unterstellt uns einem Sollen – es ist ein Imperativ, und zwar ein kategorischer. Kategorisch heißt dieser Imperativ im Unterschied zu andersartigen Imperativen: den hypothetischen. Für alle Imperative, mit denen menschliches Wollen zu tun hat, gilt jedenfalls: »Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt […]. Sie sagen, daß etwas zu tun oder zu unterlassen gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu tun gut sei« (GMS; 42). Das Eigentümliche der hypothetischen Imperative besteht nun darin, daß sie sagen, was ich tun soll, um einen bestimmten Zweck, auf den ich schon aus bin, zu erreichen. Sie gebieten eine Handlung als Mittel zum gewollten Zweck; lasse ich von dem Zweck ab, bin ich das Sollen los. Insofern sind diese Imperative bedingt. Der kategorische Imperativ hingegen gebietet unbedingt, unangesehen aller materialen Zwecke ja eben, die ein Mensch haben kann. Nur er ist ein Gebot, ein Gesetz. »Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich, und Gebote sind Gesetze, de41 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
nen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muß« (GMS; 46). Der kategorische Imperativ, »durch keine Bedingung eingeschränkt«, ist »absolut- obgleich praktisch-notwendig« (GMS; ebd.). Das Sittengesetz gebietet mit absoluter Notwendigkeit. Der kategorische Imperativ ist einer. Gleichwohl darf von Imperativen der Pflicht im Plural gesprochen werden. Denn es können »aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden« (GMS; 51), beispielsweise der Imperativ der Pflicht: ›Gib kein unwahres Versprechen ab!‹ bzw. ›Sage, wenn du etwas versprichst, die Wahrheit!‹ Und: Der kategorische Imperativ ist einer, kann aber, wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten geschieht, in mehreren Formeln ausgedrückt werden. Genauer gesagt: Kant denkt in der Grundlage zur Metaphysik der Sitten drei Formeln des kategorischen Imperativs, von denen er zwei, nämlich die erste und dritte, jeweils in zwei Formulierungen vorführt. Bisher war nur die erste Formel im Blick. Kant formuliert sie auch so: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (GMS; 51 – bei Kant hervorgehoben). Von »Natur« wird hier (im Ausdruck »Naturgesetz«) freilich in weiter Bedeutung gesprochen – Kant schickt vorsorglich der Formulierung einen entsprechenden Hinweis voraus: Diese ist möglich, weil »die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (GMS; 51). Meine Maxime soll also zum allgemeinen Naturgesetz tauglich sein in dem Sinne, daß nach ihr als einem möglichen allgemeinen Gesetz menschliche Handlungen (Wirkungen des Willens) da sein könnten. Nun zur zweiten Formel. Materiale Zwecke menschlichen Wollens sind mannigfaltig und verschiedenartig; sie sind abhän42 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
gig von den Begierden, Neigungen, Bedürfnissen des jeweiligen Individuums (und wechseln möglicherweise selbst noch bei diesem in seinen Lebensphasen oder aufgrund gemachter Erfahrungen). Und gerade der allen gemeinsame materiale Zweck Glückseligkeit differenziert sich so vielfältig aus. Sollte es aber einen Zweck geben, der »durch bloße Vernunft gegeben wird«, dann muß dieser »für alle vernünftige Wesen gleich gelten« (GMS; 59). Und nur wenn es ihn gibt, kann es den kategorischen Imperativ geben! Das liest sich so: »Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen« (GMS; ebd.). Bei dem ›Gesetzt aber …‹ muß es nicht bleiben. Kant versichert: »Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden« (GMS; 59 f.). Mit diesen Worten ist die zweite Formel des kategorischen Imperativs dem Inhalt nach vorformuliert. Auf sie soll sogleich näher eingegangen werden. Zuvor aber mag akzentuiert werden, was schon jetzt über das Verhältnis der zweiten zur ersten Formel ans Licht getreten ist. Auf dem Weg zur ersten Formel zeigte sich, daß das Sittengesetz auf materiale Zwecke des wollenden Subjekts schlechterdings keine Rücksicht nimmt und die Form der Willensbestimmung gebietet. So soll ich denn wollen können, daß meine Maxime als allgemeines Gesetz tauglich wäre. Das würde aber offensichtlich keinen Sinn machen, wenn diesem unbedingt und absolut auf die Form gerichteten Gebot kein ebenso unbedingter und absoluter Zweck (›Inhalt‹) korrespondierte – als das, um was es bei diesem Gebot und seiner Erfüllung geht. Diesen Zweck gibt es, er existiert (und ist daher nicht in unser Wollen aufzunehmen als etwas, 43 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
das, wie die Gegenstände der Neigung, wirklich zu machen wäre). Er existiert in jedem vernünftigen Wesen als solchem bzw. als dieses. Was gibt es da dann aber zu gebieten und zu wollen? Die zweite Formel sagt es: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest!« (GMS; 61 – bei Kant hervorgehoben). Den Ausdruck Person (er kommt bei Kant in verschiedenen Bedeutungen vor) sollte man in diesem Zusammenhang nicht überinterpretieren. Worauf es ankommt, das ist die »Menschheit« – ›sowohl in dir als in jedem andern‹. Menschheit aber meint hier die ›vernünftige Natur‹ (Kant spricht an späterer Stelle von der »Würde der Menschheit, als vernünftiger Natur« – GMS; 73). Die Menschheit (die vernünftige Natur) in mir und in jedem anderen soll ich niemals bloß als Mittel brauchen, sondern jederzeit zugleich als Zweck (Zweck an sich selbst) behandeln bzw. achten. Sie ist die »oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen« (GMS; 63). Sie ist das, wie soeben schon erwähnt, nicht als ein Zweck, der von uns wirklich zu machen wäre. Es »wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck, mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß« (GMS; 71). Die zweite Formel des kategorischen Imperativs drückt also aus, daß jeder Mensch die Freiheit seiner Handlungen schlechterdings einschränken soll durch die Achtung der Menschheit in seiner eigenen Person sowie in allen Menschen aus dem Umkreis seines Handelns, derart, daß er ihr niemals zuwiderhandelt, sie nie zum bloßen Mittel seiner Absichten herabsetzt. Wann aber ist dieser Forderung Genüge getan? Im Verhältnis zu anderen Menschen dann, wenn der andere »in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten« kann (GMS; 62). Darauf komme ich zurück. (Für die Achtung der ›Menschheit‹ in der eigenen Per44 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
son bringt Kant das Verbot des Freitodes als Beispiel. Das soll hier nicht verfolgt werden.) Die dritte Formel des kategorischen Imperativs formuliert Kant nicht in der Form eines Imperativs, sondern als »Idee«, die als »Prinzip« zu gelten hat: Das »dritte praktische Prinzip des Willens« ist »die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens« (GMS; 63). Diese Formel ergibt sich für Kant im Zusammendenken der beiden anderen Formeln. Die erste Formel verlangt von mir, daß ich mir nur solche Maximen gestatte, die als allgemeines Gesetz bestehen könnten. Die zweite Formel verlangt von mir, daß ich bei jeder Handlung die Menschheit in mir und jedem anderen achte, nämlich die Freiheit, die die Auszeichnung eines Vernunftswesens ist. Die dritte Formel denkt diese Freiheit als Gesetzgeben, und zwar als Gesetzgeben eben gerade im Sinne der ersten Formel. Sie artikuliert das »Prinzip eines jeden menschlichen Willens, als eines durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Willens« (GMS; 64 f.). Mit dem menschlichen Willen, der durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebend ist, ist Autonomie gedacht. Diesem Willen darf Moralität attestiert werden – und Moralität »ist […] das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben« (GMS; 73 f.). So sagt Kant denn vom kategorischen Imperativ, daß er »nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete« (GMS; 75). Vom menschlichen Willen als einem durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Willen kann das Nachdenken übergehen zu dem Begriff »eines Reichs der Zwecke« (GMS; 66). Was ist damit gemeint? Ein »Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich selbst, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung« (GMS; ebd.). Dieses Reich ist »nach obigen Prinzipien möglich« (GMS; ebd.). Wirklich wäre es, wenn alle Vernunftwesen jederzeit durch alle Maximen ihres 45 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Willens tatsächlich allgemein gesetzgebend wären, wenn ebendamit kein Vernunftwesen jemals ein anderes bloß als Mittel gebrauchte, vielmehr jedes Vernunftwesen von jedem anderen Vernunftwesen, von dessen Handlungen es betroffen sein kann, in seiner Freiheit geachtet würde. Damit ist nicht zu rechnen, weshalb das Reich der Zwecke »nur ein Ideal« (GMS; ebd.) ist – aber eben doch ein Ideal, das mit dem unbedingt gebietenden Sittengesetz aufgestellt ist. Nachdem die Vorstellung eines Reichs der Zwecke (in der angegebenen Bedeutung) erarbeitet worden ist, kann eine zweite Formulierung der dritten Formel stattfinden: »Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten« (GMS; 67). Das Durchdenken der dritten Formel läßt noch deutlicher heraustreten, daß die von der zweiten Formel gebotene Achtung des anderen als eines Zwecks an sich selbst gleichbedeutend ist mit der Achtung eines anderen als eines selbstgesetzgebenden Vernunftwesens. Und wenn denn die zweite Formel verlangt, der andere müsse »in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen« können, er müsse »selbst den Zweck dieser Handlung enthalten« können (GMS; 62 – schon einmal zitiert), so ist mit der Selbstgesetzgebung (in einem möglichen Reich der Zwecke) dafür ein Maßstab gesetzt: Der andere kann demgemäß »in meine Art, gegen ihn zu verfahren« nicht einstimmen (er braucht nicht einzustimmen, ja sollte als Vernunftwesen nicht einstimmen), wenn meine Maxime als allgemeines Gesetz nicht taugen würde. Er kann (darf) aber andererseits seine Einstimmung, die Bejahung des Zwecks meiner Handlung (samt der ihm gegebenenfalls von mir zugemuteten Mitwirkung), auch nicht versagen, wenn seine dafür zugrunde gelegte Maxime als allgemeines Gesetz nicht taugen würde. Ich hänge also, was die moralische Zumutbarkeit meiner Handlung betrifft, nicht von seiner Lust und Laune, von seiner Neigung ab. Beide sind wir
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als Vernunftwesen gefordert; jeder von uns hat den anderen als ein gesetzgebendes Vernunftwesen zu achten. – Von den drei Formeln des kategorischen Imperativs hat die erste nach Kant für die ›sittliche Beurteilung‹ (und das heißt vor allem wohl auch: für die Entscheidung über das eigene Tun und Lassen) einen Vorzug. Es empfiehlt sich, daß »man in der sittlichen Beurteilung immer nach der strengen Methode verfährt, und die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt: handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann« (GMS; 70). Wer dem kategorischen Imperativ gemäß handelt, vollzieht eine sittlich gute Handlung, und da gilt es zu sehen: »das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle« (GMS, 45). Sittlicher Wert liegt »in den Gesinnungen, d. i. den Maximen des Willens, die sich […] in Handlungen zu offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte« (GMS; 68). Er liegt, anders gesagt, in der »Denkungsart« (GMS; 69). Die »sittlich gute Gesinnung« heißt auch »Tugend« (vgl. GMS; ebd.). Überall ist hier vom guten Willen die Rede. Kant selbst kommt auf ihn zurück, nachdem er die drei Formeln des kategorischen Imperativs entwickelt und in ihrem Verhältnis zueinander bedacht hat. Er schreibt: »Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im Anfange ausgingen, nämlich dem Begriffe des unbedingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann« (GMS; 70). Von ihm sagt Kant, wie schon zitiert, daß sein »Wert über alles geht« (GMS; 30). Dieser Wert zeigt sich, nachdem die Autonomie des Willens gedacht worden ist, als die »Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt« (GMS; 67). Und: Ein vernünftiges Wesen, dem »die Gründung eines guten Willens« gelingt, wird einer moralischen »Zufriedenheit« teilhaftig, durch die es für das möglicherweise her47 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
be Hintansetzen seiner Neigungen entschädigt wird (vgl. GMS; 22). Dem moralischen Gesetz verdanken wir viel und Unschätzbares. Das drückt Kant am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft nach harter Gedankenarbeit sehr hochgestimmt aus. »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz« (KpV; 300). Der ›bestirnte Himmel über mir‹ erfüllt mich als ein Glied der Sinnenwelt mit Bewunderung und Ehrfurcht. Das moralische Gesetz andererseits »stellt mich in einer Welt dar, die […] nur dem Verstande spürbar ist«, und ich erkenne mich »in allgemeiner und notwendiger Verknüpfung« mit der Verstandeswelt (KpV; ebd.). Dieser Anblick »erhebt […] meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart« (KpV; ebd.). – Es wurde weiter oben dargestellt, daß der kategorische Imperativ unbedingt gebietet (weshalb er eben kategorisch heißt), daß er ein Gesetz ist und als solches »den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich« führt, daß er »absolut- obgleich praktisch-notwendig« ist (vgl. nochmals GMS; 46). Auch hieß es schon, »daß wir die Gültigkeit des kategorischen Imperativs wirklich anerkennen«, auch dann, wenn wir ihn nicht befolgen (vgl. nochmals GMS; 55 f.). Und doch möchte man wohl fragen: Warum sollen wir denn tun, was wir tun sollen? Es ist dies die Frage nach der gegründeten Anerkennung des moralischen Gesetzes, nach dem Vernunftgrund seiner Gültigkeit und dem Vernunftgrund der Achtung für es. Kant macht 48 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
diese Frage im III. Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zum Thema. Im II. Abschnitt wurde sie von ihm formuliert als die Frage, »wie der Imperativ der Sittlichkeit möglich sei« (GMS; 49), und dort war zu lesen: »wie ein solches absolutes Gebot möglich sei, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird noch besondere und schwere Bemühung erfodern, die wir aber bis zum letzten [zum III. – M. F.] Abschnitte aussetzen« (GMS; 50); bis dahin bleibt »unausgemacht […], ob nicht überhaupt das, was man Pflicht nennt, ein leerer Begriff sei« (GMS; 51). Die »besondere und schwere Bemühung«, die Kant mit dem III. Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auf sich genommen hat, hat zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Der Gedankengang enthält viele gravierende Probleme. Kant selbst hat in der Folgezeit nicht an ihm festgehalten, ja er hat bezüglich des dort herausgearbeiteten Grundansatzes in der Kritik der praktischen Vernunft eine Kehrtwende vollzogen. Im III. Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verfolgt Kant, wie gesagt, die Absicht, die Verbindlichkeit des Sittlich-Unbedingten zu begründen. Dafür setzt er bei der Freiheit des Willens an und tut von hier aus den Schritt zum kategorischen Imperativ. Als für die praktische Philosophie hinreichender Beweis ergibt sich ihm: Der Mensch als vernünftiges Wesen hat einen freien Willen; also gilt für ihn der kategorische Imperativ. Was diese Position betrifft, bezeugt die Kritik der praktischen Vernunft eine Kehrtwende. Kant sagt nun, daß »das moralische Gesetz […] selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf« (KpV; 162). Das heißt er beseitigt die vordem so wichtige Frage, warum und woher mich das moralische Gesetz verpflichtet, warum ich es anzuerkennen habe. Das geschieht, indem er das moralische Gesetz zu einem über jeden Zweifel erhabenen Faktum der reinen Vernunft erklärt. (Mit reiner Vernunft ist die menschliche Vernunft gemeint, soweit sie nicht auf die Sinnlichkeit angewiesen bzw. von Empirischem abhängig ist.). Als Faktum der reinen 49 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Vernunft ist das moralische Gesetz der Frage nach seiner Verbindlichkeit und gegründeten Anerkennung immer schon zuvorgekommen. Die unbedingte Gültigkeit des moralischen Gesetzes ist nun schlechterdings fraglos. Das moralische Gesetz ist Faktum der reinen Vernunft, sagt Kant, denn »so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht« (KpV; 171). Man muß, »um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft ist« (KpV; 142). Kurz darauf fügt Kant hinzu: »Das vorher genannte Faktum ist unleugbar« (KpV; ebd.). Es ist unleugbar, und das heißt es ist schlechthin gewiß. Ihm, diesem unleugbaren, schlechthin gewissen Faktum, verdanken wir unser Freiheitsbewußtsein. »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen […] wechselsweise auf einander zurück« (KpV; 139). Gilt das unbedingte praktische Gesetz, dann ist Freiheit. Und andererseits: Ist Freiheit, dann gilt das unbedingte praktische Gesetz. Während die zweite Seite dieser Alternative die Begründungsproblematik in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beherrschte und die Gültigkeit des praktischen Gesetzes dort das eigentlich Problematische war, kommt in der Kritik der praktischen Vernunft die erste Seite der Alternative zum Zuge. Freiheit ist jetzt das Problem. Nur von dem in seiner Gültigkeit unbestreitbaren praktischen Gesetz aus kann gemäß dem neuen Ansatz das Erkennen zum Sein der Freiheit vordringen. Man liest dazu in der Kritik der praktischen Vernunft: Die Frage ist, »wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe, ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze. Von der Freiheit kann es nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung gibt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanism der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen. 50 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet, und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt« (KpV; 139). Pointierend heißt es kurz darauf, daß »Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke« (KpV; ebd.). Vom keiner rechtfertigenden Gründe bedürfenden moralischen Gesetz sagt Kant, daß es bezüglich der Freiheit »nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen« (KpV; 162). Alle Menschen erkennen das moralische Gesetz als für sie verbindend; sie haben (gemäß Kants Ansatz in der Kritik der praktischen Vernunft) gar keine Möglichkeit, dies nicht zu tun. Und also ist dank des moralischen Gesetzes menschliche Freiheit überhaupt als wirklich bewiesen. Genauer besehen heißt das, daß dem Begriff der Freiheit »hier objektive und obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität verschafft wird« (KpV; 164). Der Begriff der Freiheit hat also unbezweifelbare objektive Realität, aber nur praktische, will sagen: »objektive Realität […] nicht zum Behufe des theoretischen, sondern bloß praktischen Gebrauchs der Vernunft« (KpV; 171). Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi (der Erkenntnisgrund) der Freiheit; die Freiheit ist die ratio essendi (der Seinsgrund) des Gesetzes. Kant schreibt in einer Anmerkung zur Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft: »Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne, und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft 51 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein« (KpV; 108). Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich schon einmal formuliert: Ohne Freiheit kein moralisches Gesetz; ein moralisches Gesetz, das einem unfreien Wesen geböte, würde sich an seiner eigenen Sinnlosigkeit aufheben. Und ich hatte – als später zu verdeutlichen – hinzugefügt, für Kant gelte aber auch: Ohne moralisches Gesetz keine Freiheit. Und damit war auf die nunmehr dargestellte Position Kants in der Kritik der praktischen Vernunft hingedeutet. Ohne moralisches Gesetz kein Freiheitsbewußtsein – kein Bewußtsein der Unabhängigkeit unseres Wollens vom bestimmenden Einfluß der Sinnlichkeit (negativer Begriff der Freiheit) und damit auch kein Bewußtsein, die vom Gesetz gebotene Autonomie (positiver Begriff der Freiheit) vollziehen zu können. Wir können uns, so hieß es, der Freiheit nicht unmittelbar bewußt werden, denn ihr erster Begriff ist negativ – in ihm erkennen wir, daß wir von sinnlichen Antrieben nicht zum Handeln genötigt werden. Wir können, was wir sollen – diese Erkenntnis verdanken wir dem moralischen Gesetz als unleugbarem, gewissem, in seiner Sinnhaftigkeit nicht anzuzweifelndem Faktum unserer reinen Vernunft. Was sollen wir aber? Wir sollen autonom handeln, d. h. so, daß jede unserer Maximen ein allgemeines Gesetz werden könnte. Wie erinnerlich sein dürfte, sagt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vom kategorischen Imperativ, daß er »nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete« (vgl. nochmals GMS; 75). Und in der Kritik der praktischen Vernunft heißt es: »Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht«; »reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend« (KpV; 141). Und wenige Seiten später: »Jene Unabhän52 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
gigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit« (KpV; 144). Kant spricht von der »Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt« (vgl. nochmals GMS; 67). Hier stutzt man nun aber vielleicht. Gehorchen wir, wenn wir sittlich (autonom, selbstgesetzgebend) handeln, nicht doch einem Gesetz, das wir nicht selbst geben – eben dem moralischen Gesetz, das in der Kritik der praktischen Vernunft ja als Faktum der reinen praktischen Vernunft begegnet, und das heißt als in der reinen praktischen Vernunft »gegeben« (vgl. nochmals KpV; 142)? Dem unzweifelhaft gegebenen und in seiner Gültigkeit je schon anerkannten moralischen Gesetz verdanken wir unser Freiheitsbewußtsein; als ratio cognoscendi geht das Gesetz unserem Freiheitsbewußtsein (dem negativen Begriff der Freiheit) vorher und damit dem Vollzug unserer Freiheit im sittlichen Handeln (Autonomie). Nochmals gefragt: Gehorchen wir als vernünftige Wesen beim sittlichen Handeln einem Gesetz, das wir uns nicht selbst geben bzw. nicht je schon selbst gegeben haben? Im Sinne Kants ist diese Frage zu verneinen: Das moralische Gesetz ist, als Faktum der reinen Vernunft, von dieser selbst gegeben – von ihr in ihr. Das führt auf ein Verständnis von Autonomie, mit dem bezüglich der Autonomie eine neue, höhere Ebene betreten wird. Auf dieser neuen Ebene meint Autonomie, daß die reine Vernunft Ursprung des moralischen Gesetzes selbst ist. So heißt es von diesem Gesetz, daß »es […] unsere eigene Vernunft gibt« (KpV; 204) – und: »dieses moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines Willens [des Willens des Menschen – M. F.], als eines freien Willens« (KpV; 264). Mit diesem Gedanken vertieft sich, in Kants Sinne gesprochen, die Bedeutung der Aussage, die Freiheit sei ratio essendi des moralischen Gesetzes. 53 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Aber wie steht es hier tatsächlich mit der Freiheit? Kann die ›Autonomie‹ des Willens, auf die sich das Gesetz gründet, als frei verstanden werden, anders gefragt: liegt hier wirklich Autonomie, frei vollzogene Selbstgesetzgebung, vor? Ich hatte an früherer Stelle schon mitgeteilt: Das moralische Gesetz ist Faktum der reinen praktischen Vernunft, denn »so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht« (vgl. nochmals KpV; 171). Das moralische Gesetz verdankt sich einer unvermeidlichen Willensbestimmung – einer unvermeidlichen Autonomie! Die reine praktische Vernunft kann gar nicht anders, als sich dieses Gesetz zu geben – unausweichlich in jedem endlichen Vernunftwesen. Sie hat diesbezüglich keine Wahl und keine Entscheidung. Darin darf man sicherlich ein Freiheitsproblem sehen. Übrigens: Das von Kant angenommene unausweichliche Selbst-geben des Gesetzes selbst muß gedacht werden als in seinem Vollzug uneinholbar für das menschliche Freiheitsbewußtsein. Es bleibt bei Kant dabei, daß wir uns der Freiheit nicht »unmittelbar bewußt werden« können (vgl. nochmals KpV; 139). Nur vom (schon gegebenen) moralischen Gesetz aus können wir uns nach Auskunft der Kritik der praktischen Vernunft als frei verstehen. – Kant setzt sich in seiner Philosophie mit außerordentlichem Engagement dafür ein, den Menschen mit Unbedingtem zusammenzudenken und ihn so im Übersinnlichen anzusiedeln. Dazu kann nach seiner in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Überzeugung die theoretische Vernunft keinen positiven Beitrag leisten. Auf die praktische Vernunft des Menschen kommt es vielmehr für Kant hier grundlegend an. Unverzichtbar ist für ihn die Unbedingtheit der Moral. Zentrum ist das moralische Gesetz, das, wie schon mehrfach zitiert, als solches »den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich« führt, das »absolut- obgleich praktisch-notwendig« ist (GMS; 46). In der Kritik der prakti54 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
schen Vernunft ist das so verstandene moralische Gesetz Ausgangspunkt nicht nur für das Erkennen der Freiheit, sondern auch für weitere große, positiv verhandelte Themen: das höchste in der Welt mögliche Gut (die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit), die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als des gütigen und gerechten Welturhebers. Folgt man Kant auf diesem Weg, so wird man manches Problematische entdecken. Aber schon der Ausgangspunkt ist meines Erachtens davon nicht verschont. Das unbedingt gebietende moralische Gesetz könnte in Wahrheit doch nicht so fraglos sein, wie es bei Kant erscheint – was nämlich seinen Status eines unleugbaren, über jeden Zweifel erhabenen, apodiktisch gewissen Faktums der reinen Vernunft betrifft, dessen Gewißheit einschließt seine Anerkennung als eines keiner Rechtfertigung bedürfenden Gebotes. Diesbezügliche Probleme sollen hier nicht dargestellt werden. Wichtig ist mir aber, mit allem Nachdruck zu betonen: Sich von der (für Kant unverzichtbaren) Unbedingtheit der Moral zu trennen, das macht ein Denken, das sich weiterhin um eine Antwort auf die Frage ›Was soll ich tun?‹ bemüht, gerade frei dafür, vieles und gerade auch Grundlegendes aus Kants Ethik zu bewahren (und andererseits Härten zu verabschieden, die in Kants Ethik anzutreffen sind). Zu dem Grundlegenden, das Kant zu verdanken ist, gehört das moralische Gesetz in der doppelten Gestalt zweier Imperative (entsprechend der ersten und der zweiten Formel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Es bestimmt das sittlich Gute. Ein Wille, der es (dauerhaft) befolgt, ist ein guter Wille. Und es läßt auf das Ideal eines Reichs der Zwecke hinausblicken. (Viele dankenswerte ethische Einsichten enthält auch Kants Tugendlehre, der zweite Teil seines relativ späten Werks Die Metaphysik der Sitten; dort tut er einen wichtigen Schritt über das Formale des kategorischen Imperativs hinaus, indem er diesem nämlich Tugendpflichten – als inhaltlich bestimmte Zwecke der reinen Vernunft – ergänzend zur Seite stellt.) 55 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Kant denkt in der Kritik der praktischen Vernunft das moralische Gesetz als Faktum der reinen Vernunft und möchte es doch in die Autonomie des Willens zurückgründen. Das ist, wie unlängst dargestellt, als problematisch anzusehen. Löst man sich aber von der Unbedingtheit des moralischen Gesetzes, dann läßt dieses sich sehr wohl auf Autonomie gründen. Das geschieht in dem Gedanken, daß das moralische Gesetz aufgrund der Einsicht, daß es das sittlich Gute bestimmt, in freier Entscheidung eines Menschen in Kraft gesetzt und in Kraft gehalten wird. Sittliche Pflicht ist dann zu verstehen als frei gewählte Selbstverpflichtung, als selbst auferlegtes Sollen. Bei Kant ist das unleugbare Faktum des moralischen Gesetzes der Erkenntnisgrund der Freiheit; ihm verdanken wir unser Freiheitsbewußtsein. Gibt man das unleugbare Faktum als solches auf – wie steht es dann mit unserem Freiheitsbewußtsein? Wie gelangen wir zu ihm? Fichte weiß da Rat.
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4 Freiheit und das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre
Textgrundlage für das Kapitel sind die ersten Paragraphen der genannten Schrift Fichtes. Die Frage, ob Fichte die Thematik anderwärts abweichend von diesem Text behandelt haben mag, bleibt hier außer Betracht. Freiheit ist Thema als unser Freiheitsbewußtsein und als Vollzug der Freiheit. Und das ist sie im Rahmen von Fichtes Darstellung unseres Seins für Andere und mit Anderen. Jeder von uns ist wesentlich und im eigenen Sein dadurch bestimmt, für Andere und mit Anderen zu sein. Das setzt voraus, daß Andere existieren, woran niemand ernsthaft zweifelt. Philosophisch zu klären ist aber, wie und wodurch ich der Anderen gewiß bin. Und vom Philosophen zu beantworten ist die Frage nach Art und Bedeutung unserer Seinsbeziehung. Vielleicht ist es hilfreich vorauszuschicken, daß Fichte, wo der ›Sache‹ nach von mir und dem Anderen die Rede ist, statt »ich« Formulierungen wählt wie »das Subjekt«, »das Vernunftwesen«, und daß er zwar auch von dem Anderen (oder den Anderen) spricht, häufiger aber Ausdrücke gebraucht wie: das (oder die) Wesen außer dem Subjekt, das Vernunftwesen außer dem Subjekt, das andere vernünftige Wesen, das andere endliche Vernunftwesen, das andere Wesen. Fichte formuliert, um das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen, wie er es sieht, gegründet darlegen zu können, die »Aufgabe […], zu zeigen, wie das Selbstbewußtseyn möglich sey« (341). Es muß »dargethan werden« die »Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewußtseyns«, und an dieser Stelle fügt Fichte 57 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
hinzu: »Aber es ist kein Selbstbewußtseyn ohne Bewußtseyn der Individualität« (353). Fichte hat mit dem Selbstbewußtsein ein unbezweifelbares Faktum in der Hand. Daß Selbstbewußtsein ist, das trägt die Gewißheit dessen, was sich als Bedingung seiner Möglichkeit aufweisen läßt. Fichte betont bezüglich des Selbstbewußtseins die Vernunft und näherhin das Wollen. »Es wird behauptet, daß das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseyns sey; daß ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt, und sich nicht, und dem zufolge auch die Welt nicht wahrnehmen würde, mithin auch nicht einmal Intelligenz seyn würde, wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre. Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft […]. Das praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich, auf dieses wird erst alles andere aufgetragen und daran angeheftet« (332). Bei Fichte steht der Mensch als vernünftiges Wesen im Blickpunkt. Im Wollen ist dieses seiner selbst ursprünglich bewußt bzw. nimmt es sich selbst als ein Ich unmittelbar wahr. Nur aufgrund dessen, daß es sich als praktisches Ich unmittelbar wahrnimmt, nimmt es – nach dieser Äußerung Fichtes – auch Welt wahr und ist es Intelligenz, die Gegenstände vorstellt – »alles andere« wird auf das wollende Ich »aufgetragen«. Darin kann man eine Voraussetzung Fichtes erblicken, die hier allerdings nicht diskutiert zu werden braucht. Das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen wird von Fichte aufgeklärt, indem es als Bedingung der Möglichkeit des ursprünglichen Selbstbewußtseins erwiesen wird; dieses aber ist das sich in seinem Wollen unmittelbar wahrnehmende praktische Ich. Und Fichte charakterisiert die »Schlußart, die hier aufgestellt wird, als eine nothwendige, ursprünglich in dem Wesen der Vernunft gegründete, und ohne alles unser wissentliches Hinzuthun sicherlich erfolgende« (345). Philosophie, das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen thematisierend, hebt also nur deutlicher heraus, was jedes Individuum ›ohne alles wissentliche Hinzutun‹ notwendig immer schon geschlossen hat. 58 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Es wurde schon Fichtes ›Behauptung‹ zitiert, »daß das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseyns sey«. Sie findet sich innerhalb der Ausführungen zum ersten Lehrsatz, der lautet: »Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben« (329). Und das heißt (gemäß dem ersten Satz des zugehörigen ›Beweises‹): Es muß »sich eine Thätigkeit zuschreiben, deren letzter Grund schlechthin in ihm selbst liege« (ebd. – von Fichte hervorgehoben). Ursprüngliches Selbstbewußtsein ist Freiheitsbewußtsein, Bewußtsein der Selbstbestimmung. An späterer Stelle formuliert Fichte: »es ist der Charakter einer solchen Wirksamkeit [einer Wirksamkeit des Subjekts – M. F.], daß die Thätigkeit des Subjekts absolut frei sey, und sich selbst bestimme« (342). Der zweite Lehrsatz formuliert die zentrale These: »Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch andern zuzuschreiben, mithin, auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen« (340). Der Lehrsatz ist zu beweisen. Fichtes Beweis führt zunächst in eine Aporie. Im Zusammenhang mit dem ersten Lehrsatz hatte Fichte herausgestellt, daß ein vernünftiges Wesen »die Welt nicht wahrnehmen würde« und mithin »nicht einmal Intelligenz seyn würde, wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre« (332 – schon zitiert). Und in dortigem Zusammenhang heißt es auch, Wollen und Vorstellen seien »in steter nothwendiger Wechselwirkung«, keines von beiden sei »möglich, ohne daß das zweite zugleich sey« (333). Entsprechend und daran anknüpfend sagt Fichte jetzt: »Das vernünftige Wesen kann, nach dem §. 1. geführten Beweise, kein Objekt setzen (wahrnehmen, und begreifen), ohne zugleich, in derselben ungetheilten Synthesis, sich eine Wirksamkeit zuzuschreiben« (340 – Hervorhebung M. F.). Da zeigt sich nun aber ein Problem: Um sich eine Wirksamkeit zuschreiben zu können, muß das vernünftige Wesen »ein Objekt, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll«, schon gesetzt haben – »in einem vor59 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
hergehenden Zeitpunkt« (ebd.). Ohne das Setzen eines »Objekts, als eines durch sich selbst bestimmten, und insofern die freie Thätigkeit des vernünftigen Wesens hemmenden« (ebd.), begreift das vernünftige Wesen nicht, daß es wirksam werden kann. Es muß ein Objekt schon gesetzt haben, um sich als wirksam begreifen zu können – und es muß sich schon eine Wirksamkeit zuschreiben, um ein Objekt »setzen (wahrnehmen, und begreifen)« zu können. Das ist ein Zirkel, an dem die Erklärung, wie Selbstbewußtsein möglich sei, zu scheitern droht. Es ist hier ja »jeder mögliche Moment des Bewußtseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben, bedingt, und das Bewußtseyn wird in der Erklärung seiner Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt. Es läßt sich nur durch einen Cirkel erklären; es läßt sich sonach überhaupt nicht erklären, und erscheint als unmöglich« (ebd.). Diese Aporie ermöglicht in Wahrheit Fichtes genuinen Ansatz. Sie entläßt in die Frage: Läßt sich ein ›Objekt‹ denken, das die Tätigkeit des Vernunftwesens ›hemmt‹, so daß dieses sich dadurch in seinem Vermögen der Wirksamkeit begreifen kann, und das gleichwohl nicht ein Objekt von der Art ist, wie sie in der Sinnenwelt als durch vernünftiges Wirken zu bearbeitende gegeben sind? Danach ist Ausschau zu halten, wenn die Möglichkeit des Selbstbewußtseins geklärt werden soll. Fichtes Durchführung kommt rasch an ihr erstes Ziel. Zunächst das Problem noch einmal aufgreifend, führt er aus: »Der Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewußtseyn zu erklären, ohne es immer, als schon vorhanden, vorauszusetzen, lag darinn, daß um seine Wirksamkeit setzen zu können, das Subjekt des Selbstbewußtseyns schon vorher ein Objekt, blos als solches, gesezt haben mußte: und wir sonach immer aus dem Momente, in welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorherigen getrieben wurden, wo er schon angeknüpft seyn mußte. Dieser Grund muß gehoben werden. Er ist aber nur so zu heben, daß angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjekts sey mit dem Objekte in einem und eben demselben Momente synthe60 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
tisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sey selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seyn beide dasselbe. […] Nur unter dieser Bedingung ist das Selbstbewußtseyn möglich« (341 f.). Selbstbewußtsein ist. Es ist aber, so Fichte, nur unter einer einzigen Bedingung möglich, unter der Bedingung eben, daß das, was das Subjekt wahrnimmt und begreift als ›Objekt‹, nichts anderes ist als seine eigene Wirksamkeit. Der Inhalt des Begriffs ›Objekt‹ ist durch diesen Gedankenschritt, wie man sieht, verändert. Festgehalten ist aber an der formalen Bestimmung, daß ›Objekt‹ ein dem Subjekt Gegebenes, das Subjekt Bestimmendes und in diesem Sinne das Subjekt Hemmendes ist. Das bisherige Resultat, das ›Aufgestellte‹, mag noch ziemlich rätselhaft sein, klar ist aber schon nach Fichte: »So gewiß daher Selbstbewußtseyn statt finden soll, so gewiß müssen wir das aufgestellte annehmen. […] das beschriebene ist erhärtet, als absolute Bedingung des Selbstbewußtseyns« (342). In diesen Worten kommt schon der Absolutheitsanspruch zum Ausdruck, den Fichte für seine Darlegung des ursprünglichen Verhältnisses zum Anderen erhebt. Das ›Aufgestellte‹ ist streng bewiesen, und der Beweis ist auch schon »vollendet« (vgl. ebd.). »Wir haben sonach, von jezt an, das Erwiesene nur noch zu analysiren« (ebd.). Die Analyse soll das Rätsel des ›Aufgestellten‹ klären. Eine Synthesis war aufgestellt und als absolute Bedingung des Selbstbewußtseins apostrophiert worden – eben die ›synthetische Vereinigung‹ der ›Wirksamkeit des Subjekts mit dem Objekt in einem und demselben Moment‹. Jetzt geht es darum, die Bedeutung dieser Synthesis zu verstehen und die Frage zu beantworten, »wie das in ihr geforderte möglich seyn werde« (ebd.). Die Synthesis besagte, Wirksamkeit des Subjekts und Objekt sind dasselbe; seine eigene Wirksamkeit ist das vom Subjekt wahrgenommene und begriffene Objekt (Objekt nach wie vor 61 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
als Hemmendes verstanden). Man scheint hier eher vor einer Paradoxie, ja vor einem »vollkommnen Widerspruch« (ebd.) zu stehen, als auf einem Weg der Erklärung zu sein. Denn: »es ist der Charakter des Objekts, daß die freie Thätigkeit des Subjekts bey seiner Auffassung gesezt werde, als gehemmt. Dieses Objekt aber soll seyn eine Wirksamkeit des Subjekts; aber es ist der Charakter einer solchen Wirksamkeit, daß die Thätigkeit des Subjekts absolut frey sey, und sich selbst bestimme. Hier soll beides vereint seyn; beide Charaktere sollen erhalten werden, und keiner verloren gehen. Wie mag dies möglich seyn?« (ebd., teilweise schon zitiert). Die Aufhebung des vermeintlichen Widerspruchs und die Lösung des Rätsels läßt Fichte unverzüglich folgen: »Beide sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjekts zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen« (ebd.). Damit ist ein entscheidender Begriff des Fichteschen Konzepts gefallen: Aufforderung. Die Aufforderung gilt es zu durchdenken. Aufgefordert, findet das Subjekt sich dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen, sich zu entschließen, wirksam zu werden. »Es bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit […] als etwas, das im künftigen [Momente – M. F.] seyn soll« (342 f.). Es findet sich aufgefordert zum Handeln, und zwar »durch einen äussern Anstoß, der ihm […] seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muß« (343). Das ›Hemmende‹ des ›Objekts‹ für das Subjekt, das Fichte so wichtig ist, ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als Bestimmtsein des Subjekts zu völlig freier Selbstbestimmung – durch einen Anstoß von außen. Hier gibt es also keinerlei Nötigung des Subjekts. Das Subjekt findet sich weder genötigt, »auf diese oder jene bestimmte Weise zu handeln«, noch »auch nur überhaupt wirklich zu handeln«, sondern es findet sich »als etwas, das hier wirken könnte, […] aber es eben sowohl auch unterlassen kann« (ebd.). Ob das Subjekt aufgrund der Aufforderung wirklich handelt oder aber nicht handelt, in jedem Fall ›realisiert‹ es seine freie 62 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Wirksamkeit (vgl. ebd.); auch wenn es »sich des Handelns enthält, wählt es gleichfals frei zwischen Handeln, und Nichthandeln« (ebd.). Wenn aber das Subjekt, durch äußeren Anstoß zur freien Wirksamkeit aufgefordert, diese in jedem Fall – so oder so – realisiert, dann läßt sich Aufforderung auf den »Begriff […] einer freien Wechselwirksamkeit« bringen, dieser Begriff »in der höchsten Schärfe« genommen, nämlich so, daß »Wirkung und Gegenwirkung sich gar nicht abgesondert denken lassen« (344). Freie Wechselwirksamkeit in der höchsten Schärfe ist die »nothwendige Bedingung des Selbstbewußtseyns eines vernünftigen Wesens«, sie »muß vorkommen, laut unsers Beweißes« (ebd.). Und: »Das Subjekt kann und muß unter dieser Bedingung sich als freiwirkendes Wesen setzen« (ebd.). Fichte hatte Synthesis als Bedingung des Selbstbewußtseins bewiesen und war dann dazu übergegangen, »das Erwiesene […] zu analysiren«. Jetzt charakterisiert er noch einmal sein Vorgehen: »Unsere Analyse der aufgestellten Synthesis war bis jezt blos erläuternd; wir hatten uns nur deutlich zu machen, was wir in dem bloßen Begriffe derselben gedacht hätten. Die Analyse geht noch immer fort: aber sie wird von nun an folgernd, d. h. das Subjekt muß vielleicht als Folge der gesezten Einwirkung auf sich noch manches andere setzen« (ebd.). Was das Subjekt als »Folge der gesezten Einwirkung auf sich« setzen muß, ist, wie die Einwirkung selbst und wie das Selbstbewußtsein, »nothwendiges Faktum« (ebd.); es gehört unlöslich zur notwendigen Bedingung des Selbstbewußseins. Das Folgern führt nun unverzüglich auf den Anderen. Das Subjekt empfindet die besagte Einwirkung; und das heißt für Fichte: es empfindet sie als »eine Beschränkung des Ich« (ebd.). Es ist sich ihrer als einer Begrenzung bewußt – »aber keine Begrenzung ohne ein Begrenzendes« (ebd.). Also muß das Subjekt ein Begrenzendes setzen, und zwar »ausser sich« (344), denn die Einwirkung kommt ja von außen, ist in einer äußeren Empfindung gegeben. 63 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Das Subjekt setzt also außer sich einen Bestimmungsgrund der Einwirkung. Aber es setzt nicht irgendeinen, ganz unbestimmten Bestimmungsgrund, sondern den bestimmten Grund der ihm als bestimmt bewußten Einwirkung, eben der Aufforderung zu freier Wirksamkeit. Man erinnert sich auch, daß kurz zuvor Aufforderung als freie Wechselwirksamkeit im strengsten Sinne zu denken war, derart, daß Wirkung und Gegenwirkung schlechterdings nicht voneinander abgesondert werden können. Das Subjekt kann sein Aufgefordertsein zu freier Wirksamkeit nur auf ein Wirkendes zurückführen, das freie Wirksamkeit als Zweck vorzustellen vermag, das will und darauf hinwirkt, daß das Subjekt frei wirksam werde. Genauer gesagt: Das aufgeforderte Subjekt soll sich – dank der Aufforderung – selbst bestimmen, und ihm ist bewußt, daß es das nicht könnte, verstünde es die Aufforderung nicht. Also ist dem aufgeforderten Subjekt auch bewußt, daß die Ursache der Aufforderung bei ihm »wenigstens die Möglichkeit voraussetzen« muß, daß es die Aufforderung »verstehen und begreifen könne« (345). Andernfalls wäre das Auffordern ein zweckloses, ja absurdes Unternehmen. So gilt denn: »Die Zweckmäßigkeit derselben [der Aufforderung – M. F.] ist durch den Verstand, und das Freiseyn des Wesens, an welches sie ergeht, bedingt. Diese Ursache muß daher nothwendig den Begriff von Vernunft und Freiheit haben; also selbst ein der Begriffe fähiges Wesen, eine Intelligenz, und, da eben erwiesener Maasen dies nicht möglich ist, ohne Freiheit, auch ein freies, also überhaupt ein vernünftiges Wesen, seyn, und als solches gesezt werden« (ebd.). So gewiß Selbstbewußtsein ist, so gewiß ist ein Ich nicht allein. Kein Vernunftwesen, so Fichte, gelangt zum Selbstbewußtsein ohne ein anderes, außer ihm existierendes Vernunftwesen, durch das es zu freier Wirksamkeit aufgefordert wird. Fichte fügt, das Gesagte pointierend, hinzu: »Der Mensch […] wird nur unter Menschen ein Mensch; […] sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. […] Sobald man diesen Begriff [den Begriff des Menschen – M. F.] vollkom64 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
men bestimmt, wird man von dem Denken eines Einzelnen aus, getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung« (347). Bei Fichte wird der Mensch nur unter Menschen ein Mensch, weil er nur dank einer von außen an ihn ergehenden Aufforderung seiner selbst bewußt wird als das zu freier Wirksamkeit fähige Vernunftwesen. Der Aufforderung verdankt er, sein Wesen verwirklichen zu können. Hier ist für Fichte ein Ort, von Erziehung zu sprechen: »Die Aufforderung zur freien Selbst[t]thätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, ausserdem würden sie nicht Menschen« (ebd.; eckige Klammer im Text). Mit der Erziehung tritt insofern ein neuer Aspekt hervor, als bisher Aufforderung eher als einzelner, einmaliger Akt erschien, während Erziehung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und wiederholtes Auffordern zur freien Selbsttätigkeit umschließt. Wer die Einwirkung der Aufforderung an sich erfahren hat, der weiß, daß (mindestens) ein Anderer, und zwar als freies Vernunftwesen, existiert; und er weiß, daß der Auffordernde es mindestens für möglich gehalten hat, daß er, der Aufgeforderte, ein Vernunftwesen ist. Philosophisch konnte Aufforderung als ›freie Wechselwirksamkeit in der höchsten Schärfe‹ gefaßt werden. Fichtes Darlegung hat das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen damit aber noch keineswegs ausgeschöpft. Das ›Analysieren‹ und ›Folgern‹ läßt sich auf fruchtbare Weise fortsetzen. Im 3. Lehrsatz (349) kommt Fichte bei dem Rechtsverhältnis unter endlichen Vernunftwesen an (und spätestens hier wird klar, daß es ihm von Anfang an um das im Titel der Schrift genannte Thema ging). Die Überlegungen im Beweis zum 3. Lehrsatz führen von der Aufforderung weiter zur Anerkennung. Nur bis zu diesem wichtigen Begriff soll hier Fichtes Weg noch skizziert werden, während ein Eingehen auf den Rechtsbegriff den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. 65 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Fichte schreibt, an den Beweis zum 2. Lehrsatz anknüpfend: »Das Subjekt muß sich von dem Vernunftwesen, welches es zu Folge des vorigen Beweises, ausser sich angenommen hat, durch Gegensaz unterscheiden« (349, von Fichte hervorgehoben). Wie geschieht das aber? Zunächst scheint es so, als sei das Subjekt in einen Widerspruch verwickelt und als könne es sich keineswegs von dem Vernunftwesen, das es außer sich angenommen hat, ›durch Gegensatz unterscheiden‹ : »Das Subjekt hat sich jezt gesezt, als ein solches, das den lezten Grund von etwas, das in ihm ist, in sich selbst enthalte (dies war die Bedingung der Ichheit, der Vernünftigkeit überhaupt); aber es hat ein Wesen ausser sich gleichfals gesezt, als den lezten Grund dieses in ihm vorkommenden« (ebd.). Aber der Widerspruch ist nur scheinbar, und das Sichunterscheiden vom Anderen ist möglich. Mit dem, was ›in ihm ist‹, ist in der zitierten Stelle die Wirksamkeit des Subjekts (bzw. das Sichentschließen zum Handeln) gemeint. Und an diesem »gegebenen« kann das aufgeforderte Subjekt sehr wohl »unterscheiden […], inwiefern der Grund desselben in ihm, und inwiefern er ausser ihm liege« (ebd.). Der Grund liegt außer ihm, in dem anderen Vernunftwesen, zunächst einmal insofern, als von diesem der Anstoß für das Subjekt ausgeht, überhaupt zu handeln. Darüber hinaus aber hat das auffordernde Vernunftwesen dem Subjekt »die Sphäre seines Handelns überhaupt angewiesen« (ebd.). In diesem zweifachen Sinne liegt der Grund seiner Wirksamkeit außerhalb des Subjekts, im Anderen. Und doch wird die Freiheit des Subjekts davon nicht beeinträchtigt. Denn: »innerhalb dieser ihm angewiesenen Sphäre hat das Subjekt gewählt; die nächste Grenzbestimmung seines Handelns sich selbst absolut gegeben; von der lezten Bestimmung seiner Wirksamkeit allein, liegt ganz allein in ihm der Grund. Insofern allein kann es sich als absolut freies Wesen, als alleinigen Grund von etwas setzen; von dem freien Wesen ausser ihm sich ganz abtrennen, und seine Wirksamkeit nur sich zuschreiben« (ebd.). Innerhalb der ihm angewiesenen Sphäre liegen die 66 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Möglichkeiten des Subjekts. Unter diesen Möglichkeiten seines Wirkens wählt es; »aus diesen Möglichkeiten, und durch das Begreifen derselben, als Möglichkeiten, die alle es hätte wählen können, constituiret es sich seine Freiheit und Selbstständigkeit« (ebd.). Man kann in Fichtes Sinne auch sagen: Das Subjekt konstituiert sich so als Individuum. Vom Subjekt heißt es: »Das, was ausschließend in dieser Sphäre wählte, ist sein Ich, ist das Individuum, das durch Entgegensetzung mit einem andern vernünftigen Wesen bestimmte Vernunftwesen; und dasselbe ist charakterisiret durch eine bestimmte, ihm ausschließend zukommende Aeusserung der Freiheit« (350). Wenn davon gesprochen wird, daß dem aufgeforderten Subjekt von dem anderen vernünftigen Wesen eine Sphäre des Handelns angewiesen wird, in der das Subjekt frei wählen kann, ist das Positive in diesem elementaren Verhältnis noch nicht voll herausgestellt. Entscheidend ist zu sehen, daß einem Anderen eine Sphäre seines Handelns anweisen bedeutet: die eigene Sphäre des Handelns zugunsten des Anderen beschränken. Auf dem Weg zu dieser Hervorhebung macht Fichte zunächst noch klarer: Sich von einem anderen Vernunftwesen ›durch Gegensatz unterscheiden‹ (vgl. die entsprechende zitierte Stelle 349), das meint nicht nur Trennung, sondern auch Verbindung – oder, mit Fichtes Worten: »Es kann nicht entgegengesezt werden, wenn nicht in demselben ungetheilten Momente der Reflexion die entgegengesezten auch gleichgesezt, auf einander bezogen, mit einander verglichen werden« (350). Angewendet auf das in Rede stehende Verhältnis zum Anderen besagt das: »Das Subjekt bestimmt sich als Individuum, und als freies Individuum durch die Sphäre, in welcher es unter den, in ihr gegebenen möglichen Handlungen eine gewählt hat; und sezt ein anderes Individuum ausser sich, sich entgegen, bestimmt durch eine andere Sphäre, in welcher dieses gewählt hat. Es sezt sonach beide Sphären zugleich, und nur dadurch ist die geforderte Gegensetzung möglich« (ebd. – Hervorhebungen M. F.). Nun aber zur freien Selbstbeschränkung des anderen Indivi67 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
duums: »Das Wesen ausser ihm [dem aufgeforderten Subjekt – M. F.] ist gesezt, als frei, mithin als ein solches, welches die Sphäre, durch die es gegenwärtig bestimmt ist, auch überschreiten, so überschreiten gekonnt hätte, daß dem Subjekte die Möglichkeit eines freien Handelns nicht übrig geblieben wäre. Es hat mit Freiheit sie nicht überschritten; es hat also seine Freiheit […] durch sich selbst beschränkt« (ebd.). Wichtig ist auch, daß das aufgeforderte Subjekt das weiß – Fichte fährt an der zitierten Stelle fort: »und das wird im Gegensetzen durch das Subjekt nothwendig gesezt« (ebd.). Dank Aufforderung von außen zum Selbstbewußtsein, zum Bewußtsein der Freiheit und Individualität, gelangen, bedeutet für ein Subjekt nicht nur, ein anderes freies Vernunftwesen als existierend und auf das Subjekt einwirkend zu setzen, sondern diesem anderen freien Vernunftwesen auch zuzuschreiben, daß es seine eigene Handlungssphäre zugunsten des Aufgeforderten begrenzt hat. Das philosophische Durchdenken der Aufforderung, so weit vorangetrieben, ermöglicht, ja fordert geradezu, zur wechselseitigen Anerkennung der Individuen als einem bleibenden Verhältnis fortzuschreiten. Ein Mensch gelangt zum Selbstbewußtsein (zur Ichheit), zum Bewußtsein seiner Vernünftigkeit, Freiheit und Individualität, durch Aufforderung (und wohl auch wiederholte Aufforderung im Prozeß seiner Erziehung). Das würde ihm freilich gar nichts nützen, wenn es ihm anschließend nicht möglich bliebe, frei wirksam zu sein und seine Individualität zu verwirklichen. Dies aber bleibt ihm nur möglich, wenn weiterhin die Anderen, mit denen er in seinem Lebenskreis in Berührung kommt, die Sphäre ihrer Wirksamkeit zu seinen Gunsten beschränken, d. h. wenn sie von ihrer Freiheit nicht den Gebrauch machen, ihre Sphären ›so zu überschreiten‹, daß ihm ›die Möglichkeit eines freien Handelns nicht übrigbleibt‹. Das Individuum ist darauf angewiesen, daß die Anderen es dauerhaft als freies Vernunftwesen anerkennen, und zwar durch den Vollzug ihrer Selbstbeschränkung, des Einräumens und Wahrens einer dem Individuum eigenen Sphäre des Handelns. 68 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Dazu hätten die Anderen nun allerdings keine Veranlassung, würden nicht umgekehrt auch sie von dem Individuum in ihrer Freiheit anerkannt, d. h. würde das Individuum nicht seinerseits die Sphären der Anderen respektieren und sich enthalten, seine eigene Sphäre auf deren Kosten zu überschreiten. Nur wechselseitige Anerkennung freier Wesen als solcher ermöglicht die Existenz sich selbst bestimmender Individuen. Fichte formuliert so: »Das Verhältniß freier Wesen zu einander ist […] das Verhältniß einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln« (351). Es handelt sich beim Anerkennen um konkrete Vollzüge jeweils bestimmter Individuen. Und dabei gilt nach Fichte: Ein anderes Individuum anerkennt mich als vernünftiges Wesen nur dann, wenn »es mich, nach meinem und seinem Bewußtseyn, synthetisch in Eins vereinigt (nach einem uns gemeinschaftlichen Bewußtseyn), dafür anerkenne« (352). Anerkennung vereinigt uns in einem gemeinschaftlichen Bewußtsein. Das aber ist nur möglich durch Handeln. Wenn der Andere von mir nur denkt, ich sei ein vernünftiges Wesen, kommt unser gemeinschaftliches Bewußtsein von seiner Anerkennung meiner nicht zustande. Und das entsprechende gilt in der Blickrichtung von mir hin zum Anderen. Durch Aufforderung gelangen nach Fichte die Menschen zum Selbstbewußtsein, werden sie sich ihres Vermögens der Selbstbestimmung bewußt, indem sie es zugleich betätigen. Fortdauernde Anerkennung ermöglicht es ihnen, sich weiterhin als freie Individuen handelnd zu verwirklichen. Anerkennung aber ist ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit, ist »Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit«, wie eben noch zitiert. Wechselseitig beschränken die Individuen für einander ihre je eigene Sphäre. Und das tun sie frei – denn jedes Individuum könnte seine Sphäre auch zum Schaden anderer Individuen überschreiten. 69 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Dieser deutlich herausgearbeitete Begriff der Anerkennung wird nun allerdings von Fichte selbst mit der Realität gesellschaftlichen Zusammenlebens konfrontiert. In der Realität muß damit gerechnet werden, daß Menschen sich in ihrem Handeln dem Vollzug der Anerkennung ihrer Mitmenschen verweigern (womit sie freilich ihren Anspruch verspielen, selbst als freie Vernunftwesen anerkannt zu werden). Wer mir die Anerkennung verweigert, der »raubt mir durch sein Handeln die mir zukommende Freiheit, und behandelt mich insoferne als Objekt« (355). Fichte bietet dagegen das Recht auf, das durch den Begriff der Anerkennung grundgelegt ist. Fichtes Darstellung des ursprünglichen Verhältnisses zum Anderen tritt mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auf. Nur so und keineswegs (auch) anders soll dies Verhältnis zu denken sein. Hier ist eine Einschränkung unerläßlich. Das beeinträchtigt aber nicht den Erkenntnisgewinn, der bezüglich unseres Freiheitsbewußtseins und des Vollzugs der Freiheit Fichte zu verdanken ist. Und diesen Gewinn wird man sich auch nicht dadurch rauben lassen, daß Fichte von seiner fundamentalen Erörterung der Anerkennung übergeht zu einer Einschätzung der gesellschaftlichen Realität, in der freiwilliger Vollzug der Anerkennung der Anderen häufig nicht stattfindet (wogegen eben das Recht aufzubieten ist).
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5 Freiheit und Situation Sartre, Das Sein und das Nichts
Das Sein des Menschen denken, das heißt für Sartre in seinem ersten philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts: Freiheit denken. Der Mensch (jeder einzelne) ist seine Freiheit; Freiheit macht seine Existenz aus. Wie soll man das verstehen, und was bedeutet hier Freiheit? Ferner: Der Mensch ist und lebt seine Freiheit nicht im luftleeren Raum, sondern in der Welt. Sein Frei-sein ist jedenfalls In-der-Welt-sein. Das führt auf die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Situation. Textgrundlage für meine Darstellung dieser Thematik ist: Das Sein und das Nichts 4. Teil, 1. Kapitel, Abschnitte I bis III. Dazu sei vorab die Beschränkung eingeräumt: Die Komplexität und die Differenziertheit dieser umfangreichen Textpassage können hier nicht nachgezeichnet werden. Auch können nicht alle Detailprobleme, die Sartres Ausführungen enthalten mögen, zur Sprache gebracht werden. – Sartre sagt vom Menschen – oder, wie er sich ausdrückt, von der menschlichen Realität (réalité-humaine, EN 556): »für sie heißt dasein [être] handeln, und aufhören zu handeln heißt, aufhören zu sein« (604). Nicht ist der Mensch, und außerdem handelt er auch noch dann und wann. Sondern sobald er ist und solange er ist, handelt er. Sein und Handeln sind beim Menschen dasselbe. Und da gilt es zu sehen, »daß eine Tätigkeit grundsätzlich intentional ist« (552). Jede Tätigkeit ist auf etwas gerichtet, sie hat ein Ziel, sie beabsichtigt eine Veränderung. »Der ungeschickte Raucher, der aus Unachtsamkeit ein Pulvermagazin in die Luft fliegen ließ, war nicht tätig. Dagegen war der Arbeiter, 71 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
der in einem Steinbruch eine Sprengung ausführen sollte und den Auftrag ausführte, tätig, als er die vorgesehene Explosion herbeiführte: er wußte nämlich, was er machte, oder wenn man lieber will, er realisierte intentional ein bewußtes Vorhaben« (ebd.). Sartre fügt vorsorglich hinzu, daß das Realisieren eines bewußten Vorhabens nicht bedeutet, »daß man alle Folgen seines Tuns voraussehen müßte« (ebd.). Als Beispiel führt er an: Indem Kaiser Konstantin sich in Byzanz niederließ, realisierte er sehr wohl sein Vorhaben, »für die Kaiser eine neue Residenz im Orient zu schaffen« (ebd.); er sah aber die Folgen nicht voraus, die diese Handlung mit sich bringen würde (Schaffung einer »Stätte griechischer Kultur und Sprache«; »Schisma der christlichen Kirche«; »Schwächung des Römischen Reiches« – ebd.). Jede Tätigkeit, so wurde hier soeben gesagt, ist auf etwas gerichtet, sie hat ein Ziel, sie beabsichtigt eine Veränderung. Das bedeutet: Sie impliziert »als ihre Bedingung notwendigerweise die Anerkennung eines ›Desideratums‹ […], das heißt eines objektiven Mangels« (ebd.). Unsere gegenwärtige Situation läßt zu wünschen übrig. Sie erscheint uns als mangelhaft, und deshalb bestimmen wir uns dazu, sie handelnd zu überwinden. Wann erscheint uns aber eine Situation als mangelhaft? Sartres Antwort auf diese Frage ist von großem Gewicht für sein Freiheitsthema. Er sagt: Wir erfahren eine Situation als unzulänglich nur im Licht einer anderen, besseren Situation, die wir selbst entworfen haben. Keine gegebene Situation kann, als solche und für sich genommen, als unerträglich erscheinen. Man muß »die allgemeine Ansicht umkehren und sich darüber klarwerden, daß nicht die Härte einer Situation oder die von ihr auferlegten Leiden Anlässe dafür sind, daß man sich einen anderen Sachverhalt [eine andere Lage der Dinge – un autre état de choses] ausdenkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil: von dem Tage an, an welchem man sich einen anderen Sachverhalt ausdenken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden wir, daß sie unerträglich sind« (554). 72 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Sich in einer gegebenen Situation ›eine andere Lage der Dinge ausdenken‹, das besagt: eine ideale (nur erst in der Vorstellung bestehende) Lage als etwas setzen, das gegenwärtig nicht ist. Zum Tätigwerden gehört, von diesem ›gegenwärtigen Nichts‹ auf die gegebene Situation zurückzukommen und damit diese als ›Nichts‹ (als nichtig, mangelhaft) zu setzen. Wer tätig wird, um eine Situation zu verändern, muß »eine zweifache Nichtung ausgeführt haben […]: einerseits muß er nämlich einen idealen Sachverhalt als reines gegenwärtiges Nichts setzen, andererseits muß er die augenblickliche Situation in bezug auf jenen Sachverhalt als Nichts setzen« (ebd.). Diese zweifache Nichtung ist eine in sich gegenwendige Bewegung unseres Vorstellens. Hier eine zweifache Nichtung zu denken, das ist für Sartre eminent wichtig, nämlich um sicherzustellen, daß die Freiheit die unerläßliche Bedingung menschlichen Handelns ist. Unfreies Handeln besagt: Der Mensch wird durch anderes zum Handeln bestimmt; er entscheidet nicht, vielmehr unterliegt sein Handeln Gesetzmäßigkeiten, die er nicht selbst aufbringt. Wenn es so wäre, daß der Mensch durch anderes zum Handeln bestimmt würde, dann müßte dieses jedenfalls sein. Ein Nichts kann auf das Handeln nicht bestimmend einwirken. Wenn nun die entworfene Situation sowie – auf andere Weise – auch die im Licht der entworfenen Situation betrachtete gegenwärtige Situation sich als Nichts erweisen, dann ist das Tätigwerden des Menschen als frei zu denken. Die entworfene Situation ist gegenwärtig nicht real und kann daher nicht auf das Handeln einwirken. Die gegenwärtige Situation ist zwar real, aber daß wir tätig werden, um sie zu überwinden, das gründet nicht in ihrer Realität, sondern darin, daß wir sie an der von uns entworfenen Situation messen und dadurch als unzulänglich setzen. Sartre schreibt: »sobald die Nichtung einen integrierenden Bestandteil der Setzung eines Zieles bildet, muß man anerkennen, daß die unerläßliche und grundlegende Bedingung jeder Tätigkeit die Freiheit des handelnden Wesens ist« (555 f.). 73 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Das Dargestellte bedeutet nach Sartre keineswegs, daß die Bedeutung von Anlässen und Antrieben für das menschliche Handeln geleugnet werden darf. Aber sie muß richtig verstanden werden. Daß Anlässe und Antriebe das Handeln nicht determinieren, das schreibt Sartre den ›Deterministen‹ ins Stammbuch. Wie aber sind sie aufzufassen? Zunächst: Wie unterscheiden sie sich? Der Anlaß ist »objektiv: er ist der Zustand der mit uns gleichzeitigen Dinge, so wie er sich einem Bewußtsein enthüllt« (569). Der Antrieb »wird gewöhnlich als ein subjektives Faktum angesehen. Er ist das Insgesamt der Begierden, Gemütsbewegungen [émotions] und Affekte [passions], die mich drängen, einen bestimmten Akt auszuführen« (568). Ein entscheidender Gedanke Sartres ist es nun, daß Anlässe und Antriebe nur durch unsere Freiheit sind, was sie sind. Für die Anlässe erläutert Sartre das am Beispiel der Bekehrung Chlodwigs zum Katholizismus. »Wenn Chlodwig sich zum Katholizismus bekehrt, während so viele Barbarenkönige Arianer sind, so deshalb, weil er da eine Gelegenheit sieht, sich die Gewogenheit des in Gallien allmächtigen Episkopats zu verschaffen usw. Man kann bemerken, daß der Anlaß sich dadurch als eine objektive Einschätzung der Situation kennzeichnet. Der Anlaß für die Bekehrung […] Chlodwigs ist der politische und kirchliche Zustand Galliens« (567). Chlodwig schätzt die Lage Galliens objektiv ein und hält es für geraten, sich zum katholischen Christentum zu bekehren; die Lage wird für ihn zum Anlaß für diesen Schritt. Die Frage ist aber: Wie konnte die Lage Galliens für Chlodwig zum Anlaß der Bekehrung werden, wie konnte sie sich als Anlaß der Bekehrung ›enthüllen‹ ? Antwort: »Damit die Macht des Episkopats sich Chlodwig als Anlaß für eine Bekehrung enthüllt, das heißt, damit er die objektiven Folgen übersehen kann, die diese Bekehrung haben könnte, muß er zunächst die Eroberung Galliens als Ziel gesetzt haben. Wenn wir Chlodwig andere Ziele unterschieben, so kann er in der Situation des Episkopats Anlässe dafür finden, Arianer zu werden oder Heide zu bleiben. Er kann bei der Betrachtung des Zustands 74 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
der Kirche überhaupt keinen Anlaß finden, so oder so zu handeln: er wird nichts Diesbezügliches entdecken, er wird die Situation des Episkopats in ›nichtenthülltem‹ Zustand lassen, in völliger Dunkelheit« (567 f.). »Kurz gesagt, gibt die Welt nur Ratschläge, wenn man sie fragt, und man kann sie nur wegen eines ganz bestimmten Zieles fragen. Weit davon entfernt also, daß der Anlaß die Handlung bestimme, erscheint er vielmehr nur in dem und durch den Entwurf [projet] einer Handlung. In dem und durch den Plan [projet], seine Herrschaft über ganz Gallien auszudehnen, erscheint der Zustand der abendländischen Kirche dem Chlodwig objektiv als ein Anlaß, sich zu bekehren« (570). Im Gegensatz zum Anlaß ist der Antrieb subjektiv. Gemeint sind, wie schon erwähnt wurde, Begierden, Gemütsbewegungen, Affekte, die zur Ausführung einer bestimmten Handlung drängen. Wie für die Anlässe gilt nach Sartre, was ebenfalls schon gesagt wurde, auch für die Antriebe, daß sie nur durch unsere Freiheit sind, was sie sind. Ich beschränke meine diesbezügliche Darlegung auf die Affekte. Sie wird einen wichtigen Aspekt von Sartres Freiheitsverständnis zur Sprache bringen. Wir pflegen Affekthandlungen solchen Handlungen gegenüberzustellen, die aus einer Willensentscheidung hervorgehen. Wenn wir von einem Menschen sagen, er habe im Affekt gehandelt, meinen wir damit, daß er sich hat fortreißen lassen vom Zorn, von der Furcht, vom Neid oder auch von der Freude oder vom Mitleid. Zorn, Furcht, Neid, Freude, Mitleid kommen über uns her; wenn sie ein Übermaß erreichen, drohen sie, Überlegungen und eine klare Willensentscheidung unmöglich zu machen. Gibt es also doch Handlungen, die der Mensch nicht frei bestimmt? Ist die Freiheit also doch nicht die »unerläßliche und grundlegende Bedingung jeder Tätigkeit« des Menschen, was Sartre doch behauptet (556, schon zititert)? Die Frage geht bei genauerem Zusehen an Sartres Ansatz vorbei. Sie unterstellt, daß Freiheit ausschließlich dem Willen zukommt. Sartre kommt es aber gerade darauf an zu zeigen, daß der Begriff der 75 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Willensfreiheit an das Phänomen der menschlichen Freiheit nicht heranreicht. Er schreibt: »weit davon entfernt, daß der Wille die einzige oder wenigstens bevorzugte Bekundung der Freiheit ist, er setzt vielmehr […] die Grundlage einer ursprünglichen Freiheit voraus, um sich als Wille konstituieren zu können« (564). Über die ›ursprüngliche Freiheit‹ wird sehr bald eingehender zu handeln sein. An dieser Stelle sei nur soviel vermerkt: Die ursprüngliche Freiheit ist Entwerfen von Zielen. Der Wille, als eine Bekundung der Freiheit, ist eine Weise, wie sich der Mensch zu seinen in ursprünglicher Freiheit entworfenen Zielen verhält. Der Wille »ordnet an, daß die Verfolgung dieser Ziele reflektiert und überlegt sein muß« (ebd.). Zu den selben (entworfenen) Zielen kann sich der Mensch auch anders verhalten, nämlich rein affektiv und unüberlegt. Sartre erläutert das so: »Ich kann zum Beispiel vor einer Drohung in Todesangst aus Leibeskräften fliehen. Dieses Faktum ist affektiv, setzt aber nichtsdestoweniger implicite als oberstes Ziel den Wert des Lebens. Ein Anderer wird hingegen der Meinung sein, daß man an Ort und Stelle ausharren soll, auch wenn der Widerstand zunächst gefährlicher zu sein scheint als die Flucht; er ›hält durch‹. Aber sein Ziel ist, wenn auch besser begriffen und explicite gesetzt, das gleiche wie im Falle der gefühlsmäßigen Reaktion. Bloß die Mittel, es zu erreichen, werden klarer erfaßt […]. Der Unterschied erstreckt sich hier auf die Wahl der Mittel und auf [die] Stärke [et sur le degré] der Reflexion und der Explikation, nicht aber auf das Ziel« (ebd.). – Sartre denkt das Sein des Menschen als Handeln und das Handeln als Wählen. Handeln ist Wählen, und zwar allem zuvor Wählen meiner ›letzten Ziele‹. »[…] Also wird mein Sein [mon être] durch die Setzung meiner letzten Ziele gekennzeichnet und identifiziert sich mit dem ursprünglichen Hervorbrechen der Freiheit, die die meine ist« (ebd.). Mit der »Setzung meiner letzten Ziele« wähle ich mich. In einem ursprünglichen Hervorbrechen unserer Freiheit setzen wir, wählen wir, entwerfen wir unsere grundgebenden Ziele, 76 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
und zwar jeder einzelne für sich selbst. Dies Geschehen, das wir sind, ist ein ursprüngliches Hervorbrechen unserer Freiheit – das soll heißen: Es kann für unsere Freiheit nicht noch einmal ein Grund angegeben werden. Sie ist auf nichts zurückzuführen und aus nichts zu erklären. Es handelt sich bei ihr um ein »›irrationales‹ Faktum« (570). Das besagt nach Sartre nicht, daß das ursprüngliche Hervorbrechen der Freiheit sich jenseits des Bewußtseins, in einem wie immer gearteten Unbewußten, vollzieht. Es ist bewußtes Sich-entwerfen. Ich bin mir – unreflektiert – bewußt als der, der sich so und nicht anders entworfen hat, der diese und keine anderen Ziele als seine maßgeblichen gewählt hat. Aber für meinen Entwurf dieser und keiner anderen maßgeblichen Ziele gibt es, wie gesagt, keine Gründe, auf die er sich zurückführen ließe. Die »Setzung meiner letzten Ziele« in einem ursprünglichen Hervorbrechen meiner Freiheit ist der Vollzug des Grundentwurfs meiner Existenz. Sartre verdeutlicht, »daß der grundlegende Entwurf, der ich bin, ein Entwurf ist, der nicht meine Zusammenhänge mit diesem oder jenem besonderen Gegenstand der Welt betrifft, sondern mein In-der-Welt-Sein als Ganzheit« (608). Den Grundentwurf (projet fondamental, EN 549) nennt Sartre auch »ursprünglichen Entwurf« (589; projet originel, EN 542), ›grundlegende Wahl‹ (596; choix fondamental, EN 549), »anfängliche Wahl« (603; choix initial, EN 555) und ›anfänglichen Entwurf‹ (589; projet initial, EN 542). Mit der Bezeichnung ›anfänglich‹ ist kein zeitliches Vorangehen gemeint – wir wählen nicht ›zuerst‹ unsere letzten Ziele und gehen ›dann‹ über zur Wahl unserer übrigen Ziele. Vielmehr müssen wir ständig unseren Grundentwurf erneuern. Sartre schreibt: Der Entwurf muß, »um sein zu können, beständig erneuert werden. Ich erwähle mich fortwährend und kann nie in der Eigenschaft eines Gewählt-worden-Seins sein« (608 f.). Wenn aber der Grundentwurf beständig erneuert werden muß, dann kann er auch geändert werden. Sartre spricht dies77 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
bezüglich von »›Bekehrungen‹, die mich meinen ursprünglichen Entwurf vollkommen umgestalten lassen. Diese Bekehrungen, die von den Philosophen nicht untersucht wurden, haben dagegen oft die Schriftsteller beschäftigt« (603). Sartre lenkt hier den Blick u. a. auf den Augenblick, in dem »Raskolnikoff [in Dostojewskis Roman Schuld und Sühne – M. F.] beschließt, sich selbst anzuzeigen. Diese außergewöhnlichen und wunderbaren Augenblicke, wo der frühere Entwurf in die Vergangenheit zusammenstürzt im Lichte eines neuen Entwurfs, der sich auf dessen Trümmern erhebt und sich vorläufig nur in groben Linien abzeichnet, wo Erniedrigung, Angst, Freude, Hoffnung sich eng verschwistern, wo wir loslassen, um zu ergreifen, und wo wir ergreifen, um loszulassen, haben anscheinend oft das deutlichste und ergreifendste Bild unserer Freiheit gemalt, aber sie sind nur eine ihrer Bekundungen unter anderen« (ebd.). – Es wurde unlängst schon erwähnt: Ich bin mir – unreflektiert – bewußt als der, der sich (und das heißt: seine maßgebenden Ziele) so und nicht anders entworfen hat. Das soll hier noch einmal kurz aufgegriffen werden. Sartre sagt, unsere »grundlegende Wahl« sei »eins mit dem Bewußtsein, das wir von uns selbst haben« (586); »Wahl und Bewußtsein sind ein und dasselbe« (587). Aber es handelt sich dabei eben nicht um ein ›zergliederndes und differenziertes Bewußtsein‹ (vgl. ebd.). »Mein letzter und erster Entwurf – denn er ist diese beiden zugleich – ist immer, wie wir sehen werden, der Entwurf zu einer Lösung des Seinsproblems. Aber diese Lösung wird nicht erst konzipiert und dann realisiert: wir sind diese Lösung, wir lassen sie durch unseren Selbsteinsatz existieren, und wir können sie nur erfassen, indem wir sie erleben [oder: indem wir sie leben (vivre) – M. F.]. So sind wir immer ganz uns selbst gegenwärtig, aber gerade deshalb können wir nicht hoffen, ein zergliederndes und detailliertes Bewußtsein dessen zu haben, was wir sind. Dieses Bewußtsein kann übrigens nur nichtsetzend sein« (587 f.). (Auf die »Lösung des Seinsproblems«, die Sartre mit einem »wie wir sehen werden« für später in Aussicht stellt, kommt es an dieser 78 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Stelle nicht an; wichtig ist, was Sartre in der zitierten Äußerung über unseren Grundentwurf sagt.) Unser Grundentwurf ist das Wählen unserer ›letzten‹, grundgebenden Ziele; diesen Plural gilt es zu beachten: Unser Grundentwurf enthält sehr wohl grundgebende Teilentwürfe; er ist deren »gegliederte Ganzheit« (577). Ein weiterführender Gedanke betrifft das Verhältnis unserer jeweiligen Ziele zu dem so verstandenen Grundentwurf. Unser aktuelles Entwerfen bestimmter besonderer Ziele (in unserer jeweiligen Situation) vollzieht sich im Rahmen unseres Grundentwurfs. Der Grundentwurf determiniert aber das aktuelle Entwerfen nicht. Er läßt für das aktuelle Entwerfen einen Spielraum. Wäre das nicht so, dann könnte nicht gesagt werden, daß unser Sein Handeln ist und daß das Handeln Wählen ist. Sartre schreibt: »Unsere einzelnen Entwürfe, die die Verwirklichung eines einzelnen Zieles in der Welt betreffen, fügen sich in den umfassenden Entwurf ein, der wir sind. Aber« sie werden »nicht durch den umfassenden Entwurf determiniert: sie müssen selbst Erwählungen [choix] sein, und jedem von ihnen wird ein gewisser Spielraum an Kontingenz, Unberechenbarkeit [imprévisibilité] und Absurdität gelassen« (609). – An früherer Stelle war hier schon einmal von den Antrieben die Rede – von Begierden, Gemütsbewegungen, Affekten, die uns in einer konkreten Situation zu einer bestimmten Handlung drängen. Ich hatte mich in meiner Darstellung auf die Affekte bzw. auf Affekthandlungen beschränkt. Aber nicht nur für sie, sondern auch für Begierden und Gemütsbewegungen gilt ja nach Sartre, daß sie nur durch unsere Freiheit sind, was sie sind. Dazu kann jetzt ergänzt werden: Mit der Wahl unseres Grundentwurfs wählen wir auch die Art und Weise, wie wir uns jeweils zu unseren Zielen verhalten – ob durch Antriebe zum Handeln bestimmt oder durch überlegtes Entscheiden des Willens. Auch diesbezüglich wird man sagen dürfen, was soeben für die »einzelnen Entwürfe, die die Verwirklichung eines einzelnen
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Zieles in der Welt betreffen«, zum Ausdruck kam: Der Grundentwurf determiniert hier nicht; er läßt einen Spielraum. – Bezüglich der »einzelnen Entwürfe, die die Verwirklichung eines einzelnen Zieles in der Welt betreffen«, erklärt Sartre: »der Erfolg ist für die Freiheit in keiner Weise wichtig« (613). Das besagt: Daß es uns gelegentlich (oder etwa gar oft) nicht gelingt, ein Ziel, das wir entworfen haben, zu verwirklichen, das kann nicht zum Einwand erhoben werden gegen die These, daß unser Sein Handeln, Wählen, Freiheit ist. Der »wesentliche Unterschied zwischen der Wahlfreiheit und der Freiheit, etwas zu erreichen,« (ebd.) muß deutlich gesehen werden. – Sartre bringt seine These, daß unser Sein Handeln, Wählen, Freiheit ist, in einer vielleicht etwas provozierenden Formulierung auf den Punkt: ›Wir sind zur Freiheit verurteilt.‹ Es wurde hier unlängst ausgeführt: Wir wählen in einem ursprünglichen Hervorbrechen unserer Freiheit unsere grundgebenden Ziele, unseren Grundentwurf. Dieses Geschehen sind wir, und es ist nie abgeschlossen – der Grundentwurf ist ständig zu erneuern. Mit dem ›ursprünglichen Hervorbrechen unserer Freiheit‹ ist zum Ausdruck gebracht, daß unsere Freiheit selbst nicht noch einmal einen Grund hat. Das nun heißt bei Sartre auch: Sie ist selbst nicht gewählt. Wir sind das Geschehen des ursprünglichen Hervorbrechens unserer Freiheit, und diesbezüglich haben wir keine Wahl. Wir sind »eine Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind […] zur Freiheit verurteilt« (614). Wir haben »nicht die Freiheit […], aufzuhören, frei zu sein« (560). Wir müssen frei sein, immer und solange wir sind. Will Sartre damit behaupten, daß es bei uns Menschen keinerlei Unfreiheit gibt? Das behauptet er durchaus nicht. Vielmehr: Es ist für ihn kein unauflöslicher Widerspruch, daß jemand zugleich frei und unfrei ist – weil nämlich Unfreiheit gewählt ist, weil Freiheit selbst der Grund der Unfreiheit ist. Sartre hat in seinem Drama Die Fliegen Unfreiheit gestaltet als die Reue der Leute von Argos. Das Volk von Argos hat den Mord an Agamemnon wollüstig ahnend geschehen lassen. Es nimmt 80 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
ihn sodann reuevoll auf sich, und das in einem Ausmaß, daß das ganze Leben in der Stadt von dieser Reue bestimmt wird. Reue aber, so sieht es Sartre, ist rückwärtsgewandt und verhindert aktuelles Entwerfen von Zielen; sie ist ein Sichlossagen von der Tat, das gerade an die geschehene Tat bindet. Reue ist die Unfreiheit der Leute von Argos. Aber: Ihre Unfreiheit haben sie selbst gewählt und wählen sie ständig neu – dies jedoch so, daß sie ihre Freiheit über ihrer Unfreiheit vergessen haben. Orest ergreift als seine Aufgabe, die Leute von Argos von ihrer Reue zu befreien. Das kann aber nur heißen, sie zur Möglichkeit ihrer Selbstbefreiung zu ›befreien‹, will sagen: ihnen die Freiheit des Menschen durch eine Tat zu zeigen und ihnen damit ihre Freiheit bewußtzumachen, so daß sie ihre Freiheit wissend und entschlossen ergreifen können und ihre Wahl der Unfreiheit hinter sich zurücklassen können. – Es wurde zu Beginn dieses Kapitels schon einmal formuliert: Der Mensch ist und lebt seine Freiheit in der Welt, sein Frei-sein ist In-der-Welt-sein – und damit stellt sich die Aufgabe, das Verhältnis von Freiheit und Situation zu bedenken. Ausführungen Sartres zu diesem Komplex sollen im folgenden thematisiert werden. (Dabei mag im Blick bleiben, daß hier im voraufgegangenen an manchen Stellen dieses Thema schon berührt worden ist.) Sartre vertritt, wie dargestellt, die These, daß das Sein des Menschen Handeln, Wählen und in diesem Sinne Freiheit ist. Das schließt nach seiner Auffassung, wie soeben ausgeführt, nicht aus, daß Menschen unfrei sein können; aber wenn sie es sind, dann haben sie ihre Unfreiheit selbst gewählt und wählen sie fortgesetzt neu, auch wenn ihnen das nicht bewußt ist (so daß ihnen Freiheit gezeigt werden muß, damit sie sich selbst aus ihrer Unfreiheit befreien können). ›Der Mensch ist in seinem Sein Handeln, Wählen, Freiheit‹ – dagegen scheint es gewichtige Einwände zu geben. Sartre selbst sieht solche Einwände vorher und formuliert sie. Er schreibt: »kann ich wählen, groß zu sein, wenn ich klein bin, zwei Arme 81 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
zu haben, wenn ich einarmig bin usw.? Diese Vorhaltungen erstrecken sich […] auf die ›Grenzen‹, die von meiner faktischen Situation meinem freien Michselbstwählen gesetzt werden« (610). Und: Der gesunde Menschenverstand [le bon sens] läßt es sich angelegen sein, »uns an unsere Ohnmacht zu erinnern. Weit entfernt, daß wir unsere Situation willkürlich ändern können, so scheint es sogar, daß wir nicht einmal uns selbst ändern können« (ebd.). Sartre läßt den gesunden Menschenverstand hier u. a. verweisen auf das für mich unausweichliche Schicksal meiner Klasse, meines Landes [nation], meiner Familie (vgl. ebd.). »Ich komme als Arbeiter zur Welt, als Franzose, mit Erbsyphilis oder Tuberkulose« (ebd.). »Viel mehr als er ›sich zu machen‹ scheint, wird der Mensch scheinbar ›gemacht‹ vom Klima und der Erde, von der Rasse und der Klasse, der Sprache, der Geschichte des Kollektivs, dem er angehört, von der Erbmasse, den individuellen Umständen seiner Kindheit, den angenommenen Gewohnheiten, den großen und kleinen Ereignissen seines Lebens« (611). Auch wird ins Feld geführt: »Der Feindseligkeitskoeffizient der Dinge ist ein solcher, daß es Jahre der Geduld bedarf, um den geringsten Erfolg zu erreichen« (610). Ist also die These, das Sein des Menschen sei Handeln, Wählen, Freiheit höchst problematisch? Sartre stellt sich dem Problem und denkt zur Lösung desselben das Paradox (le paradoxe, EN 569): »es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch [die] Freiheit [par la liberté]. Die menschliche Realität [d. h. der Mensch – M. F.] trifft überall auf Widerstände und Hindernisse, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben nur Sinn in der und durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist« (619 f.). ›Es gibt Freiheit nur in Situation‹ – »man entweicht nicht aus einem Gefängnis, in dem man nicht eingesperrt war« (616). Andererseits aber – und für Sartres Position in der Freiheitsfrage noch wichtiger: ›Es gibt Situation nur durch die Freiheit‹. Einer objektiven Lage oder Gegebenheit wächst ihr Sinn bzw. ihre Be82 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
deutung zu durch die freie Wahl eines Zieles. Ein Beispiel macht das Gemeinte auf eine erste und eindrückliche Weise klar: »Jener Felsblock, der einen unermeßlichen Widerstand bekundet, wenn ich ihn fortbewegen will, ist dagegen eine wertvolle Hilfe«, wenn ich von seiner Höhe aus »die Landschaft betrachten will. An und für sich [en lui-même] – falls es überhaupt möglich ist, das ins Auge zu fassen, was er an und für sich sein kann – ist er neutral, das heißt, er wartet darauf, durch ein Ziel erhellt zu werden, um sich als Gegner oder Bundesgenosse bekunden zu können« (611). Sartre wählt wenig später den Felsen noch einmal als Beispiel: Ich stehe am Fuß eines Felsens, »der mir als ›nicht ersteigbar‹ erscheint«, und das eben gerade »im Lichte einer geplanten Ersteigung«, also im Lichte meines freien Entwurfs, ihn zu ersteigen; aber meine Freiheit kann »nicht darüber entscheiden, ob der ›zu ersteigende‹ Fels sich der Ersteigung darbietet oder nicht [sich für sie eignet oder nicht – M. F.]. Das ist Bestandteil des naturhaften Seins [de l’être brut] des Felsens« (618). Übrigens: »Für den einfachen Spaziergänger, der auf der Straße vorbeigeht«, und dessen freier Entwurf »ein rein ästhetisches Ordnen der Landschaft ist, enthüllt sich der Felsen weder als ersteigbar noch als unersteigbar; er offenbart sich nur als schön oder häßlich« (ebd.). Es hieß: Im Lichte meines freien Entwurfs, einen bestimmten Felsen zu ersteigen, erscheint dieser mir als nicht ersteigbar; nicht ersteigbar zu sein aber ist »Bestandteil« seines »naturhaften Seins«. Allgemeiner formuliert: »Das Gegebene als solches enthüllt sich als Widerstand oder als Hilfe nur im Lichte der pro-jektierenden Freiheit. Aber die pro-jektierende Freiheit schafft eine solche Beleuchtung, daß das An-sich […] entdeckt wird, wie es ist, das heißt widerständig oder günstig« (ebd.). Hier ist aber eine wichtige Ergänzung zur Kenntnis zu nehmen. Ein »Hindernis enthüllt seinen Feindseligkeitskoeffizienten […] in Abhängigkeit von dem Wert des von der Freiheit gesetzten Zieles. Dieser Felsen wird für mich kein Hindernis sein, wenn 83 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
ich, koste es, was es wolle, zum Gipfel des Berges gelangen will; dagegen entmutigt er mich, wenn ich meinem Wunsche, den geplanten Anstieg durchzuführen, freiwillige Grenzen gesetzt habe« (619). In Abhängigkeit von der Stärke meines Entwurfs enthüllt sich der Felsen als nicht ersteigbar oder schwer ersteigbar oder nicht allzu schwer ersteigbar. Eine weitere Relativität ergibt sich durch die unterschiedliche Verfaßtheit entwerfender Personen, d. h. aufgrund dessen, was sie ›mitbringen‹, um ihr Ziel zu verwirklichen: »Bei gleich großem Wunsch nach einer Kletterpartie ist der Felsen bequem zu ersteigen für einen athletischen Bergsteiger, schwierig für einen anderen, einen schlecht trainierten Anfänger schwächlichen Leibes« (ebd.). Wichtig bezüglich des Verhältnisses von Freiheit und Situation ist auch Sartres Hinweis: Es »ist das Auftauchen der Freiheit Festlegung eines Zieles durch ein Gegebenes hindurch (cristallisation d’une fin à travers un donné, EN 590) und Entdeckung eines Gegebenen im Lichte eines Zieles; diese beiden Strukturen sind gleichzeitig und untrennbar« (643 – letzte Hervorhebung M. F.). Sartre behandelt das Thema ›Freiheit und Situation‹ eingehend, indem er einzelne »Strukturen der Situation« (620) herausarbeitet. Dazu bemerkt er vorsorglich: »Aber man darf niemals aus den Augen verlieren, daß keine von ihnen allein gegeben ist« (ebd.). In fünf (jeweils mit entsprechender Überschrift versehenen) Unterabschnitten thematisiert er: meinen Platz, meine Vergangenheit, meine Umgebung, meinen Nächsten, meinen Tod. Es handelt sich dabei um »einige scharf umrissene Beispiele« (ebd.); Vollständigkeit ist also nicht intendiert. Ich werde den Tod als Strukturmoment der Situation beiseite lassen. Auf die vier anderen genannten Strukturen gehe ich kurz ein, wobei ich Sartres Reihenfolge an einer Stelle verändere. Mein Platz »wird durch die räumliche Ordnung und durch die besondere Eigentümlichkeit der ›dies-da‹ bestimmt, die sich 84 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
mir auf dem Hintergrunde der Welt enthüllen. Es ist natürlich der Ort, wo ich ›wohne‹ (mein ›Land‹ mit seinem Boden, seinem Klima […]), aber« mein Platz »ist auch ganz einfach die Anordnung und Geordnetheit der Gegenstände«, die mich gegenwärtig umgeben, etwa: »ein Tisch, an der anderen Seite des Tisches ein Fenster, links vom Fenster eine Truhe, rechts vom Fenster ein Stuhl, hinter dem Fenster die Straße und das Meer« (620). Was diese Gegenstände betrifft, habe ich selbst sie (teilweise zumindest) so geordnet. Ja, es kann der »aktuelle Platz mir von meiner Freiheit zugewiesen worden sein […], (ich bin hierher ›gekommen‹)« (ebd.). Das dann aber nur von einem vorhergehenden Platz aus, für den, sollte ich ihn selbst bestimmt haben, wieder dasselbe gilt – und so gegebenenfalls weiter zurück bis zu »dem Platz, den die Geburt mir anweist« (ebd.). »So heißt geboren werden, neben anderen Merkmalen, seinen Platz nehmen, oder vielmehr […] ihn erhalten. Und da dieser ursprüngliche Platz derjenige ist, von dem aus ich nach feststehenden Regeln neue Plätze einnehmen werde, so liegt hier anscheinend eine starke Beschränkung meiner Freiheit vor« (621). Der Platz ist Strukturmoment meiner Situation. »Es kann nicht sein, daß ich keinen Platz habe« (620). Und nur von meinem gegenwärtigen Platz aus kann ich einen anderen Platz wählen – Freiheit gibt es nur in Situation. Aber es soll ja auch gelten: Situation gibt es nur durch Freiheit. Was heißt das bezüglich des Platzes? Es heißt, daß ihm die Bedeutung, die er für mich hat, zukommt durch die freie Wahl eines Zieles. Mein jetziger Platz kann ein unüberwindliches Hindernis sein, dann nämlich, wenn die Entfernung zu dem Platz, der zu einem von mir entworfenen Ziel gehört, für mich unüberbrückbar ist. Mein jetziger Platz kann aber andererseits die Verwirklichung von mir entworfener Ziele begünstigen oder sie jedenfalls nicht beeinträchtigen. (Für Beispiele Sartres verweise ich auf Seite 624.) Meine Umgebung [mes entours] – das sind Dinge, die uns umgeben, und zwar solche, mit denen wir umgehen, indem wir sie gebrauchen – Gebrauchsgegenstände in diesem Sinne [choses 85 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
ustensiles]. Dazu können auch Dinge gehören, die meinen gegenwärtigen Platz konstituieren – etwa ein Tisch, eine Truhe, ein Stuhl aus dem für den Platz angeführten Beispiel – dann aber mit ganz anderem Aspekt. Umgebung und Platz dürfen nicht verwechselt werden (vgl. 638). Freilich kann eine Veränderung meines Platzes auch meine Umgebung verändern. Übrigens spricht Sartre in dem hier zu thematisierenden Abschnitt von Gebrauchsgegenständen [choses ustensiles] in einer weiten Bedeutung: Beispielsweise gehört zu ihnen nicht nur mein Fahrrad als Fortbewegungsmittel, sondern auch die Sonne, der ich bei meiner Fahrt mit dem Fahrrad ausgesetzt bin. Es handelt sich um Dinge, »die um mich herum, für und gegen mich ihre Wirkfähigkeiten entfalten; ich will so schnell wie möglich mit meinem Fahrrad in die nächste Stadt gelangen. Dieses Vorhaben beinhaltet meine persönlichen Zwecke, die Beurteilung meines Platzes und der Entfernung der Stadt bis zu meinem Platze sowie die freie Anpassung der Mittel (Kräfte) an den verfolgten Zweck. Aber ein Pneu platzt, die Sonne brennt zu heiß, der Wind bläst von vorn usw., lauter Phänomene, die ich nicht vorausgesehen hatte: das ist die Umgebung« (638). Natürlich kann es nicht nur widrige, sondern auch günstige derartige Phänomene geben: für einen Fahrradfahrer Rückenwind statt Gegenwind, angenehme statt lästige Sonnenwärme (vgl. ebd.). Jedenfalls aber kann dergleichen »nur innerhalb der Grenzen eines freien Sichentwerfens [projet] entdeckt werden, das heißt der Wahl der Ziele, die ich bin« (ebd.). Situation gibt es eben nur durch Freiheit. Allerdings: Das unvorhergesehene Platzen eines Reifens an seinem Fahrrad ändert die Situation des Fahrradfahrers ohne sein Zutun, und das radikal – was Sartre ausführlich durchspielt (vgl. 639). In dieser Passage liest man: »Vielleicht gebe ich meinen Versuch sogar gänzlich auf und muß ein vollständiges Scheitern meines Planes konstatieren? […] Ist diese ausdrückliche Anerkennung meiner Ohnmacht nicht das klarste Eingeständnis der Begrenztheit [des limites] meiner Freiheit?« (639) 86 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Diesem Bedenken tritt Sartre entgegen, indem er zurückverweist auf früher von ihm Ausgeführtes (und hier schon einmal Erwähntes), nämlich daß Wahlfreiheit und die Freiheit, etwas zu erreichen, wesentlich voneinander verschieden sind und daß der Erfolg »für die Freiheit in keiner Weise wichtig« ist (613). Meine Vergangenheit ist ein Strukturmoment der Situation von besonderem Gewicht. Sartre erklärt, daß »die Wichtigkeit der Vergangenheit gar nicht übertrieben werden« kann (628). Zwar gilt nach seiner Überzeugung, »daß die Vergangenheit nicht die Kraft hat, die Gegenwart zu konstituieren und die Zukunft vorauszuentwerfen« (627). Aber die Freiheit kann »sich nicht eine Vergangenheit nach Gutdünken zulegen, erst recht kann sie sich nicht ohne Vergangenheit hervorbringen. Sie hat ihre eigene Vergangenheit zu sein« (ebd.). Unser Vergangenes ist »so beschaffen, daß wir keinen neuen Entschluß fassen können, es sei denn von ihm aus« (ebd.). Selbst eine »Handlung, die dazu bestimmt ist, mich von meiner Vergangenheit loszureißen, muß zunächst von dieser Vergangenheit aus konzipiert werden« (628). Es hieß, ›daß die Vergangenheit nicht die Kraft hat, die Gegenwart zu konstituieren‹. Das bedeutet nicht, daß sie nicht »gegenwärtig« wäre: »Die Vergangenheit ist gegenwärtig und wird unmerklich in die Gegenwart eingeschmolzen: sie ist der Anzug, den ich vor sechs Monaten ausgewählt habe, das Haus, das ich bauen ließ, das Buch, das ich vorigen Winter in Angriff genommen habe, meine Frau, die Versprechungen, die ich ihr gemacht habe, meine Kinder« (ebd.). Auch mit Bezug auf die Vergangenheit gilt: Freiheit gibt es nur in Situation. Wie steht es aber bei der Vergangenheit damit, daß es ebensowohl Situation nur gibt durch Freiheit? Auf diese Frage findet man bei Sartre die Antwort: »wenn die Freiheit Wahl eines Zieles in Abhängigkeit von der Vergangenheit ist, ist umgekehrt die Vergangenheit nur das, was sie in bezug auf das gewählte Ziel ist. Es gibt in der Vergangenheit ein unveränderliches Element: ich habe mit fünf Jahren Keuchhusten ge87 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
habt – und ein hervorragend veränderliches: die Bedeutung der schlichten Tatsache [fait brut] in bezug auf die Ganzheit meines Seins« (629). Vielleicht ist der Keuchhusten kein sehr glückliches Beispiel, und jedenfalls läßt Sartre andere Beispiele folgen (vgl. 630 f.). Wichtig ist bei der anstehenden Frage die Bedeutung der Vergangenheit und worin sie gründet. Dazu heißt es: »Die Bedeutung der Vergangenheit ist also direkt abhängig von meinem gegenwärtigen Michentwerfen [projet]. Das bedeutet keineswegs, daß ich den Sinn meiner früheren Taten nach Belieben sich ändern lassen kann; sondern es bedeutet im Gegenteil, daß der Grundentwurf, der ich bin, absolut über die Bedeutung entscheidet, die für mich […] die Vergangenheit haben kann, die ich zu sein habe« (630). Und: »So ist meine ganze Vergangenheit da, treibend, gewichtig [urgent], gebieterisch, aber durch den Entwurf meines Zieles wähle ich ihren Sinn und die Befehle, die sie mir gibt. Ohne Zweifel lasten jene übernommenen Verpflichtungen auf mir, ohne Zweifel begrenzen die einstmals eingegangene eheliche Verbindung, das im vorigen Jahr gekaufte und ausgestattete Haus meine Möglichkeiten und schreiben mir mein Verhalten vor: aber das geschieht eben, weil meine Entwürfe so beschaffen sind, daß ich die eheliche Verbindung wiederum eingehe, das heißt, weil ich die Verwerfung der ehelichen Verbindung nicht ins Auge fasse, […] sondern weil meine Entwürfe im Gegenteil die Treue zu übernommenen Verpflichtungen oder den Entschluß beinhalten, das ›ehrenvolle Leben‹ eines Gatten und Vaters zu führen usw.« (631). Es wurden hinsichtlich der Vergangenheit unterschieden unveränderliche und veränderliche Elemente. Unveränderlich sind vergangene Taten und Fakten als solche; veränderlich ist die Bedeutung, die ihnen in Abhängigkeit von meinem gegenwärtigen Entwerfen zukommt. Ergänzend sei erwähnt, daß es unzählige (unveränderliche) vergangene Taten und Fakten meines Lebens gibt, die tote Vergangenheit sind, weil mein Entwerfen von Zielen ihnen keine Bedeutung gibt (oder keine Bedeutung mehr
88 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
gibt). In diesem Sinne sagt Sartre, daß »die Zukunft entscheidet, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist« (631). Freiheit (Handeln, Wählen) gibt es nur in Situation – das ist klar. Situation gibt es nur durch Freiheit – das heißt bei meinem Platz, meiner Umgebung und meiner Vergangenheit, wie ausgeführt: (meine) Situation gibt es nur durch meine Freiheit; in meinem Entwerfen gründet die Bedeutung, die mein Platz, meine Umgebung, meine Vergangenheit für mich haben. Mit meinem Nächsten kommt nun aber die Freiheit Anderer für meine Situation ins Spiel. Mein Nächster (der Andere) als Strukturmoment der Situation – diesem Thema wendet sich Sartre weit ausführlicher zu als dem Platz, der Umgebung und der doch so wichtigen Vergangenheit. Die Thematik wird von ihm breit gefächert behandelt; dabei sind seine Darlegungen gelegentlich problematisch. Den Unterabschnitt hier angemessen nachzuzeichnen, das würde den Rahmen meines Kapitels sprengen. Ich greife zwei Teilthemen heraus und beschränke mich bei dem zweiten aus einem später zu nennenden Grund noch einmal besonders. Zunächst soll es darum gehen, daß Dingen von den Anderen Bedeutungen gegeben worden sind. Sartre schreibt: »Ich, durch den die Bedeutungen den Dingen zu-kommen, befinde mich eingesetzt in eine schon mit Bedeutung versehene Welt, die Bedeutungen auf mich zurückstrahlt, die ich nicht dorthin gesetzt hatte. Man denke zum Beispiel an die unzählbare Menge von Bedeutungen, die von meiner Wahl unabhängig sind und die ich entdecke, wenn ich in einer Stadt wahrnehme: Straßen, Häuser, Läden, Straßenbahnen und Autobusse, Richtungsschilder, Warnsignale, Radiomusik usw.« (645). Die »Bedeutung des Gegenstandes, die mir dann enthüllt wird, stellt sich mir entgegen und bleibt von mir unabhängig« (ebd.). Es »entdeckt sich mir der Feindseligkeitskoeffizient der Dinge, bevor er von mir erfahren wird: Massen von Hinweisen warnen mich: ›Langsam fahren, gefährliche Kurve‹, ›Vorsicht, Schule‹, ›Lebensgefahr‹, ›Querrinne nach 100 m‹ usw.« (645 f.). Und da stellt sich die 89 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Frage: »Finde ich hier nicht enge Grenzen für meine Freiheit? Wenn ich nicht Punkt für Punkt den von den Anderen gegebenen Hinweisen folge, würde ich mich nicht mehr auskennen, würde ich mich in der Straße irren, meinen Zug verpassen usw.« (646). Das Freiheitsproblem, das hier aufgeworfen ist, läßt sich aber in Sartres Konzept lösen. Zwar bleiben die Bedeutungen, die Andere in die Welt gebracht haben, von mir unabhängig. Aber es liegt eben doch bei mir, ob ich sie akzeptiere oder nicht. Wenn es zu meinem Grundentwurf gehört, daß mir mein Leben lieb ist, werde ich mich von dem Hinweis »Lebensgefahr« warnen lassen; auch werde ich als Autofahrer in eine als gefährlich angezeigte Kurve nicht mit hoher Geschwindigkeit einbiegen. Und wenn es zu meinem Grundentwurf gehört, meinen Mitmenschen nicht zu schaden, werde ich auch deshalb dem Hinweis auf die Gefährlichkeit der Kurve Rechnung tragen, wie übrigens auch in anderer Lage dem Hinweis »Vorsicht, Schule«. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Fazit: Bedeutungen, die Andere auf die hier im Blick stehende Weise in die Welt gesetzt haben und die zu der Situation gehören, in der ich bin, können eingeholt werden in den Ansatz, daß es (meine) Situation nur gibt durch meine Freiheit. Soviel zu diesem Teilthema. Die Anderen geben nach Sartre Bedeutungen nun aber nicht nur den ›Dingen‹, sondern auch mir selbst. Sartre gerät bei seinen Ausführungen dazu in eine gravierende Schwierigkeit. Das mit allen seinen Wendungen, mit allem seinem Hin und Her auszubreiten, wäre wenig fruchtbar (und es würde auch verlangen, dabei auf einen voraufgegangenen wichtigen Abschnitt, der hier in Kürze genannt werden wird, mit einiger Ausführlichkeit einzugehen). Daher folgen hier nur eine knappe (dokumentierende) Skizzierung des Problems und die Andeutung eines möglichen Auswegs. Sartre schreibt: Es »setzt die Existenz des Anderen meiner Freiheit eine faktische Grenze. Denn durch das Auftauchen des Anderen werden tatsächlich gewisse Bestimmungsstücke [déter90 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
minations] sichtbar, die ich bin, ohne sie gewählt zu haben. Nun bin ich tatsächlich Jude oder Arier, schön oder häßlich, einarmig usw. Alles das bin ich für Andere [pour l’autre] und habe keine Hoffnung, jemals den Sinn zu erfassen, den ich draußen habe, erst recht nicht, ihn jemals zu verändern« (661). Dazu liest man kurz darauf, »daß es sich um objektive Merkmale handelt, die mich in meinem Sein für Andere bestimmen; sobald eine von der meinen verschiedene Freiheit mir gegenüber auftaucht, beginne ich in einer neuen Seinsdimension zu existieren, und diesmal handelt es sich für mich nicht darum, schlicht daseienden Dingen einen Sinn zu verleihen oder den Sinn, den Andere gewissen Gegenständen verliehen haben, auf meine Kappe zu nehmen: ich sehe mich selbst, wie mir ein Sinn verliehen wird, und ich habe nicht das Hilfsmittel, diesen Sinn, den ich nun habe, auf meine Kappe zu nehmen, denn er kann mir nicht gegeben sein, es sei denn als leeres Merkmal« (ebd.). Wenig später bringt Sartre das von ihm Gemeinte so auf den Punkt: »Hier begegne ich […] einer völligen Entfremdung meiner Person: ich bin etwas, was zu sein ich nicht gewählt habe« (ebd.) – und: »Wir sind, das muß anerkannt werden, auf eine reale Grenze für unsere Freiheit gestoßen, das heißt auf eine Seinsart, die sich uns auferlegt, ohne daß unsere Freiheit ihre Grundlage wäre« (661 f.). Das widerspricht nun freilich dem Freiheitsbegriff, den Sartre in dem hier zugrunde gelegten Kapitel seines Werkes entwickelt hat. Er vertritt ja, wie ausgeführt, die These, daß unser Sein Handeln, Wählen, Freiheit ist, und es kann an das Zitat erinnert werden: »Also wird mein Sein [mon être] durch die Setzung meiner letzten Ziele gekennzeichnet und identifiziert sich mit dem ursprünglichen Hervorbrechen der Freiheit, die die meine ist« (564 – Hervorhebungen M. F.). Die Frage drängt sich auf: Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Darauf ist zu antworten: Zwei radikale, in ihrer Radikalität einander ausschließende Positionen Sartres stoßen hier aufeinander: die Position, die er in einem früheren Abschnitt von Das Sein und das Nichts (3. Teil, 1. Kapitel, Abschnitt IV), 91 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
nämlich in dem Abschnitt »Der Blick«, bezüglich unseres ursprünglichen Verhältnisses zum Anderen eingenommen hat – und die hier dargelegte Position bezüglich der Freiheit (deren Radikalität bald noch einmal akzentuiert werden soll). Das Dilemma, in dem Sartre sich befindet, wird faßbar, wo es heißt: »So erfassen wir eine Wahrheit von großer Bedeutung: wir haben soeben, indem wir uns im Rahmen des Für-sich-Daseins bewegten, gesehen, daß nur meine Freiheit meine Freiheit begrenzen kann; wir sehen nunmehr, indem wir die Existenz des Anderen in unsere Überlegungen einbeziehen, daß auf dieser neuen Ebene meine Freiheit ihre Grenzen auch in der Existenz der fremden Freiheit findet. Demnach findet eine Freiheit, auf welchen Standpunkt wir uns auch stellen mögen, die einzigen Grenzen, denen sie begegnet, in der Freiheit« (662 f.). Der letzte Satz des Zitats kommt wie eine Problemlösung daher; tatsächlich aber ist er vor dem Hintergrund von Sartres Darlegungen zur Freiheit eher ein wenig fatal. Als Ausweg aus dem Dilemma bietet sich an, Sartres so bedeutenden Ausführungen zum Thema Freiheit dort nicht zu folgen, wo Sartre auf Unbedingtheit abzielt. (Ein entsprechendes Verfahren empfiehlt sich bei den ebenfalls so bedeutenden Darlegungen über unser ursprüngliches Verhältnis zum Anderen im Abschnitt »Der Blick«.) Dafür, Sartres Freiheitsbegriff in der genannten Hinsicht einzuschränken, würde ich auch dann plädieren, wenn es das soeben thematisierte Dilemma nicht gäbe. Daß es für Sartre bei der Freiheit um etwas Unbedingtes geht, tritt an einigen Textstellen besonders deutlich zutage. Etwa wenn er schreibt: »Wir erfassen uns immer nur als Wahl, die gerade geschieht. Und die Freiheit ist einfach die Tatsache, daß diese Wahl immer ohne Vorbedingungen ist« (607; que ce choix est toujours inconditionné, EN 558). Und in Abschnitt III des von mir zugrunde gelegten Kapitels (der die Überschrift hat »Freiheit und Verantwortlichkeit«) finden sich aufschlußreiche Äußerungen. So schon zu Beginn des Abschnitts (also rückblik92 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
kend auf die Abschnitte I und II): »Die wesentliche Folgerung aus unseren vorhergehenden Darlegungen ist, daß der Mensch, der verurteilt ist, frei zu sein, das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt: er ist […] verantwortlich für die Welt und für sich selbst. Wir nehmen das Wort ›Verantwortlichkeit‹ in dem banalen Sinne eines ›Bewußtseins, der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstandes (zu) sein‹«; der Mensch muß die »Situation samt ihrem gegebenenfalls unerträglichen Feindseligkeitskoeffizienten im ganzen übernehmen,« und er »wird sie mit dem stolzen Bewußtsein übernehmen, ihr Urheber zu sein, denn die schlimmsten Unannehmlichkeiten und die schlimmsten Drohungen, die meine Person möglicherweise erreichen, haben Sinn nur infolge meines Entwurfs; und sie erscheinen auf dem Hintergrund des Sicheinsetzens, das ich bin. Es ist also unsinnig, sich beklagen zu wollen, denn nichts Fremdes hat über das entschieden, was wir fühlen, was wir erleben oder was wir sind. Diese absolute Verantwortlichkeit […] ergibt sich einfach zwangsläufig aus den Folgen meiner Freiheit. Was mir zustößt, stößt mir durch mich zu« (696 f. – Hervorhebungen M. F.). Wenig später schließt Sartre aus, daß es im Leben Zufälle gibt, und es soll gelten: »ein gesellschaftlicher Vorgang, der sich plötzlich ereignet und mich in Mitleidenschaft zieht, kommt nicht von außen; wenn ich in einem Kriege einberufen werde, ist dieser Krieg mein Krieg«, und das deshalb, »weil ich jederzeit mich ihm hätte entziehen können, durch Selbstmord oder Fahnenflucht: diese äußersten Möglichkeiten sind diejenigen, die uns immer gegenwärtig sein müssen, wenn es darum geht, eine Situation ins Auge zu fassen. Da ich mich ihm nicht entzogen habe, habe ich ihn gewählt […]. Diese Wahl wird in der Folge ununterbrochen bis zum Ende des Krieges wiederholt […]. Wenn ich einmal den Krieg dem Tode oder der Unehre vorgezogen habe, verläuft alles so, als trüge ich die volle Verantwortung für diesen Krieg. Ohne Zweifel haben Andere ihn erklärt, und man könnte vielleicht versucht sein, mich als bloßen Mitschuldigen zu betrachten. Aber dieser Be93 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
griff der Mitschuld hat nur einen juristischen Sinn, hier hält er nicht stand; denn es hätte von mir abgehangen, daß dieser Krieg für mich und durch mich nicht existierte, und ich habe entschieden, daß er existiert« (697 f.). »Schließlich ist […] jede Person absolute Wahl ihrer selbst«; das ist sie von einer »Welt von Kenntnissen und Verfahren aus, die durch diese Wahl übernommen und gleichzeitig erhellt wird; jede Person ist ein Absolutes« (698). Wie schon einmal gesagt, plädiere ich dafür, Sartres Freiheitsbegriff dahingehend einzuschränken, daß man von der Unbedingtheit Abstand nimmt. Tut man das, dann (und eben gerade dann) tritt der große Gewinn deutlich zutage, der zum Thema Freiheit und Situation Sartre zu verdanken ist.
94 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
6 Verantwortung und die Pflicht zur Zukunft Jonas, Das Prinzip Verantwortung
Jonas’ Schrift Das Prinzip Verantwortung hat den Untertitel: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Es geht Jonas um eine Ethik für unser Zeitalter, auf das er mit außerordentlicher Sorge blickt. Die Hellsichtigkeit, mit der er in seinem 1979 erschienenen Werk die Gefahren der ›technologischen Zivilisation‹ vor Augen führt, hat seitdem (leider) nichts von ihrer aufschließenden Kraft verloren. In der genannten Schrift wird der in unserem Zeitalter der Hochtechnologie »endgültig entfesselte Prometheus« (7) konfrontiert mit der »Frage nach dem Wert, dem Der-Mühe-Wertsein des ganzen menschlichen Unternehmens« (52). Die Frage radikalisiert sich unter dem Aspekt, daß das ›ganze menschliche Unternehmen‹ auf Sinnzerstörung zusteuert, wenn wir ihm seinen Lauf lassen. Neue Dimensionen für Verantwortung tun sich auf. Sinnbewahrung für die Zukunft (ja schon für die Gegenwart) stellt sich als eine vorrangige moralische Aufgabe für den Menschen als freies Wesen. Jonas diagnostiziert, »daß wir in einer apokalyptischen Situation leben, das heißt im Bevorstand einer universalen Katastrophe, wenn wir den jetzigen Dingen ihren Lauf lassen« (251). Diese Feststellung bestätigt sich fortgesetzt (und dürfte doch, wo sie vernommen wird, häufig genug lediglich Verdrängungsmechanismen in Gang setzen). »Die Gefahr geht aus von der Überdimensionierung der naturwissenschaftlich-technisch-industriellen Zivilisation« (ebd.). Durch Wissenschaft und moderne Technik sind dem Menschen »nie gekannte Kräfte« (7) zuge95 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
wachsen, die ungeahnte, aus der Perspektive früherer Zeiten gesehen ans Utopische streifende Erfolge möglich gemacht haben. In ihrem Übermaß jedoch überfordern die Erfolge nunmehr den Menschen als Handelnden und die Natur als das Objekt seiner Unterwerfung. Die Ausbeutung der Natur hat eine unvermutete Verletzbarkeit der Natur, und zwar im Ausmaß der ganzen Biosphäre, ans Licht gebracht (26 f.). Die Natur ›straft‹ menschlichen Zugriff mit dem Treibhauseffekt und seinen zu erwartenden Folgen (333 f.), mit ihrer Reaktion auf die Verseuchung der Gewässer u. ä. (331). Die Folgen der Kernenergienutzung bleiben als Umweltbedrohung (vor allem durch Atommüll) wirksam (335). Katastrophengefahr geht aus nicht nur vom ökonomischen Erfolg (gesteigerter Wohlstand zunehmend vieler Nutznießer), sondern auch – und langfristig jenem entgegenwirkend – vom biologischen Erfolg, der Vermehrung der Bevölkerung (251 f.). »Die Bevölkerungsexplosion, als planetarisches Stoffwechselproblem gesehen, […] wird eine verarmende Menschheit um des nackten Überlebens willen […] zwingen […] zur immer rücksichtsloseren Plünderung des Planeten, bis dieser sein Machtwort spricht und sich der Überforderung versagt. Welches Massensterben und Massenmorden eine solche Situation des ›rette sich, wer kann‹ begleiten werden, spottet der Vorstellung«, desgleichen auch, wie »danach ein Menschheitsrest auf verödeter Erde neu beginnen mag« (252 f.). »Dies ist die apokalyptische Perspektive, die berechenbar in der Dynamik des gegenwärtigen Menschheitskurses angelegt ist« (253). In weniger weiter Zukunft schon glaubt Jonas die verwandte Gefahr zu erkennen, daß die Armut in den Mangelländern »in internationaler Gewalttätigkeit« explodieren könnte (321). Die Handlungen der technologischen Zivilisation sind neuartig nach ihrer Größenordnung, ihren Folgen, teils auch ihren Objekten (26). So ist der Mensch neuerdings technisch herstellend auch an sich selbst und seiner Natur tätig geworden (10), zur Lebensverlängerung (47 ff.), durch genetische Manipulation (52 f.), auf dem Feld der Verhaltenskontrolle (50 ff.). Durch die 96 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
neuen Möglichkeiten ist der homo faber vielfältig überfordert. Zur Anwendung der Technik auf ihn selbst wäre ein hohes Maß an Weisheit nötig, solche Weisheit aber fehlt, ja Weisheit ist überhaupt in Mißkredit geraten (s. u.). Allgemein ist für das neuartige Handeln zu konstatieren ein »Exzeß unserer Macht zu tun über unsere Macht vorherzusehen und über unsere Macht zu werten und zu urteilen« (55). Die Wirkungen unseres Tuns reichen weiter als unser Vorwissen (214). Das Tempo, mit dem die Folgen eintreten, läßt keine Zeit für Korrekturen (71). Und für unser Werten gilt, »daß der heilsame Abstand zwischen alltäglichen und letzten Anliegen […] stetig schrumpft« und wir »ständig mit Endperspektiven konfrontiert sind«, ohne ihnen gewachsen zu sein (54). – Von solchen Reflexionen ist die Realität weitgehend unberührt. Noch immer wohnt dem Prozeß wissenschaftlich-technischer ›Weltbeherrschung‹ eine gewaltige vorwärtstreibende Dynamik inne. Sie manifestiert sich als grenzenloser »Vorwärtsdrang der Gattung« (31). Das durch Technologie Geschaffene »erzwingt deren immer neuen erfinderischen Einsatz in seiner Erhaltung und weiteren Entwicklung und belohnt sie mit vermehrtem Erfolg – der wieder zu dem gebieterischen Anspruch beiträgt« (ebd.); »Stolz auf die Leistung« (32) vermehrt die Treibkraft. Hinzu kommt der Antrieb der Wirtschaft (7). Man sollte Jonas wegen des gezeichneten Szenarios nicht dem Vorwurf der Technikfeindlichkeit aussetzen. Er selbst spricht ja gerade auch von den Erfolgen der Technik. Und er sieht klar, daß angesichts der entstandenen weltweiten Probleme »jede konstruktive Lösung einen hohen Einsatz an Technologie verlangt (die bloßen Ziffern der heutigen Erdbevölkerung schließen eine Rückkehr zu älteren Zuständen aus), und die davon der Umwelt geschlagenen Wunden verlangen nach neuem technischen Fortschritt zu ihrer Heilung, also schon defensiv nach verbesserter Technologie« (323). Entscheidend ist aber, »Macht über die Macht« zu gewinnen, ist »die Überwindung der Ohnmacht gegenüber dem selbstgenährten Zwang der 97 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Macht zu ihrer progressiven Ausübung« (253 f.). Das ist um so schwerer, als es sich bei der Hochtechnologie um kollektive Praxis handelt (7) und der Täter hier ein kollektiver Täter ist (32). Wenn denn die moderne Technik die Natur menschlichen Handelns verändert hat (15), derart, daß eine ›neue‹ Ethik nötig geworden ist, so wird es nicht genug (wenn auch freilich unerläßlich) sein, daß diese von Individuen angeeignet und befolgt wird; den kollektiven Täter erreicht sie erst über die Politik (32). Das Unternehmen einer ›neuen‹ Ethik in der gegebenen Situation sieht sich auch folgenden, sie keineswegs begünstigenden Tatbeständen gegenüber: Im Bereich technologischer Zivilisation hat bei vielen eine Verarmung menschlicher Möglichkeiten stattgefunden und ein dementsprechend verkürztes Selbstverständnis Platz gegriffen. Mit Stolz erlebter Erfolg in Wissenschaft und Technik »nährt die wachsende Überlegenheit einer Seite der menschlichen Natur über alle anderen, und unvermeidlich auf ihre Kosten«; die Ausdehnung menschlicher Macht, »indem sie mehr und mehr die Kräfte des Menschen an ihr Geschäft bindet, [ist] begleitet von einer Schrumpfung seines Selbstbegriffs und Seins. In dem Bilde, das er von sich selbst unterhält […] ist der Mensch jetzt immer mehr der Hersteller dessen, was er hergestellt hat, und der Tuer dessen, was er tun kann – und am meisten der Vorbereiter dessen, was er demnächst zu tun imstande sein wird« (32). Demgemäß hält der zeitgenössische Mensch nichts von Weisheit, ja leugnet »die Existenz ihres Gegenstandes […], die Existenz nämlich absoluten Wertes und objektiver Wahrheit« (54 f.). Moderne Naturwissenschaft hat »die Grundlagen fortgespült, von denen Normen abgeleitet werden konnten, und hat die bloße Idee von Norm als solcher zerstört. Zwar zum Glück nicht das Gefühl für Norm und sogar für bestimmte Normen; aber dieses Gefühl wird seiner selbst unsicher, wenn das vermeintliche Wissen ihm widerspricht« (57). Zur Situation gehört ein Nihilismus, in dem »größte Macht sich mit größter Leere paart, größtes Können mit geringstem Wissen davon, wozu« (ebd.). Die vorherrschende 98 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
wissenschaftliche Auffassung der Natur hat diese »aller Würde von Zwecken entkleidet« (29). Die Situation mit ihrem apokalyptischen Zukunftspotential erlaubt nicht, daß ›wir den jetzigen Dingen ihren Lauf lassen‹. Eine durchgreifende moralische Besinnung ist dringlicher denn je. Jonas stellt sich in ihren Dienst mit seinem »Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation«. Er nennt diese Ethik auch »Ethik des Überlebens« und »Notstandsethik der bedrohten Zukunft« (250). Sie nimmt die gegenwärtige und die folgenden Generationen aufs herbste in die Pflicht. Zu ihrer Charakterisierung führt Jonas aus: In den vom Wohlstand begünstigten Weltregionen sind Wohlstandsverzichte gefordert (265), Einschränkung der Produktionskapazitäten und des Konsums (322). Es handelt sich um eine Ethik der »Selbstbescheidung der Menschheit« (266) und der freiwilligen Machtzügelung (7). Als solche ist sie anti-utopisch und das Gegenbild marxistisch geprägter Zukunftsethik (46), gegen die sie antritt (Jonas’ »Prinzip Verantwortung« versus Blochs »Prinzip Hoffnung«). Bedroht sind die Existenz der künftigen Menschheit, das Wesen des Menschen und eine menschenwürdige Welt als Stätte seines Aufenthalts; die Ethik der Ehrfurcht gebietet hier Bewahrung (8; 9). Sie ist eine »Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhütung und nicht des Fortschritts und der Vervollkommnung« (249). Sie rechnet auf selbstlose Furcht (289). Auch setzt sie (dies freilich in Übereinstimmung mit Denkern der Tradition) Freiheit als sittlichen Wert an sich (304). Allem zuvor tritt sie als Ethik der Verantwortung (388), der Fernverantwortung (63) und geschichtlichen Verantwortung (229) auf. Jonas sieht zwar klar, daß Verantwortung »kein neues Phänomen in der Sittlichkeit« ist, doch habe sie »noch nie ein derartiges Objekt gehabt, auch bisher die ethische Theorie wenig beschäftigt« (8). Jetzt zuerst hat verantwortliches Handeln »die entferntere Zukunft in die Voraussicht und gar den Erdkreis in das Bewußtsein der eigenen Kausalität einzubeziehen« (ebd.); »ein Gegenstand von gänzlich neuer Ordnung, nicht 99 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten [ist] dem hinzugefügt worden […], wofür wir verantwortlich sein müssen« (27). »Natur als eine menschliche Verantwortlichkeit ist […] ein Novum« (ebd.). Diese neue Verantwortlichkeit für Natur könnte in einer anthropozentrischen Ethik eine Stelle haben. Jonas zielt aber (auch) auf eine nicht-anthropozentrische ökologische Ethik ab. Er denkt für die »Biosphäre als Ganzes und in ihren Teilen […] so etwas wie einen moralischen Anspruch an uns […] um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht« (29). Das bedeutet, die »Anerkennung von ›Zwecken an sich selbst‹ über die Sphäre des Menschen hinaus auszudehnen«, und die Übernahme einer »Treuhänderrolle« (ebd.). Das Neue einer Ethik für die neue Situation des Menschen im Zeitalter der Hochtechnologie wird von Jonas zu Recht hervorgehoben. Allerdings ist zu vermerken, daß er die Leistungsfähigkeit bisheriger Ethik auch für die räumliche und zeitliche Fernsphäre unterschätzt, beispielsweise wenn er die »alten Vorschriften« der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in ihrer Gültigkeit einschränkt auf »die nächste, tägliche Sphäre menschlicher Wechselwirkung« und von ihrer »intimen Unmittelbarkeit« spricht (26). Die ins Zentrum der Ethik gerückte Verantwortung ist zu bestimmen. »Bedingung von Verantwortung ist kausale Macht« (172); Verantwortung ist nach Umfang und Art ein »Korrelat der Macht« (230). Ebenso konstitutiv wie Macht ist für Verantwortung Vernunft (248). Das Feld der Verantwortung ist das Veränderliche (226). Beim Veränderlichen setzt Jonas den Akzent der Vergänglichkeit; »von Verderbnis und Verfall Bedrohte[s]« ist Gegenstand von Verantwortung (ebd.; 242). »Die bindende Kraft geht vom Anspruch eines Gegenstandes aus« (166). Damit unterscheidet sich die in Rede stehende Verantwortung von einem Begriff von Verantwortung, der lediglich »die expost-facto Rechnung für das Getane« (174), das Einstehen für schon eingetretene Folgen des Handelns meint; dem Tun voraus anerkennt sie den Anspruch der Sache. »Der Begriff der Verant100 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
wortung impliziert den des Sollens, zuerst des Seinsollens von etwas, dann des Tunsollens von jemand in Respons zu jenem Seinsollen. Das innere Recht des Gegenstandes geht also voran« (234). ›Gegenstand‹ von Verantwortung sind primär Menschen (184). Das Verantwortungsverhältnis zwischen Mensch und Mensch ist nach Jonas’ Auffassung – zufolge des Ansatzes von kausaler Machtüberlegenheit auf der einen, Verletzbarkeit und Anspruch auf Bewahrung auf der anderen Seite – in jedem Einzelfall einseitig (was so strikt sicher nicht gilt), immerhin aber ist es »umkehrbar«; und »generisch ist die Gegenseitigkeit immer da, insofern ich, der für jemand Verantwortliche, unter Menschen lebend allemal auch jemandes Verantwortung bin. Dies folgt aus der Nicht-Autarkie des Menschen« (184). Gegenstand von Verantwortung sind auch die »Treueverhältnisse […], auf denen die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen beruht«, handelt es sich hier doch um ein »in seiner Existenz immer unverbürgte[s], ganz und gar von uns abhängige[s] Gut« (179). Den Gegenstandsbereich von Verantwortung begrenzt Jonas auf Lebendiges (185). Insofern die Zerstörung der Biosphäre Lebendigem die Existenzbedingungen rauben müßte, ist ›globale‹ Verantwortung – der anscheinenden Einschränkung zum Trotz – gerade auch gegeben. Verantwortung für die Bewahrung von Kunstwerken subsumiert Jonas unter die für Lebendiges mit dem schlichten Argument, die »Anwesenheit« des Kunstwerks gehöre »zum Bestand der [vom Menschen – M. F.] selbstgeschaffenen Welt, in der allein menschliches Leben seine Stätte haben kann« (188). – Immer schon war Verantwortung »eine Funktion von Macht und Wissen«; diese aber waren früher vergleichsweise begrenzt (222). In ihrer heutigen Entgrenzung gefährden sie die Zukunft (243), so daß der Verantwortung der Fortbestand der Menschheit als Gegenstand zugewachsen ist. – Für Verantwortung als ein zum Menschen wesentlich gehörendes Phänomen steht die (von Ausnahmen abgesehen) je schon wirklich übernommene Verantwortung von Eltern für ihre Kinder ein – der »Archetyp aller Verantwortung« und wohl 101 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
auch »genetisch der Ursprung aller Disposition für sie, gewiß ihre elementare Schule« (189). Ob allerdings die von ›jedem‹ in seiner Kindheit erfahrene elterliche Fürsorge zu Recht von Jonas ohne weiteres als Erfahrung von Verantwortung angesprochen und in das Konzept eingebracht werden kann (vgl. 185), dürfte fraglich sein. Konstitutiv für das Phänomen Verantwortung ist nach Jonas das Verantwortungsgefühl. Dieses ist »eine Tatsache der Erfahrung« (166). Ihm ist es »jeweils um eine als Gut und Pflicht erkannte Sache« zu tun (225). Es geht über die schon erwähnte Ehrfurcht hinaus, »denn solche Gefühlsbejahung der wahrgenommenen Würde des Gegenstandes […] kann doch ganz untätig bleiben. Erst das hinzutretende Gefühl der Verantwortung, welches dieses Subjekt an dieses Objekt bindet, wird uns seinethalben handeln machen« (170). »Das Heischen der Sache einerseits, in der Unverbürgtheit ihrer Existenz, und das Gewissen der Macht anderseits, in der Schuldigkeit ihrer Kausalität, vereinigen sich im bejahenden Verantwortungsgefühl des aktiven, immer schon in das Sein der Dinge übergreifenden Selbst« (175). – Unsere Zeitgenossen haben einen ›geschrumpften Selbstbegriff‹ (s. o.). Der volle Begriff des Menschen muß diesem geschrumpften Selbstbegriff entgegengestellt und gegen ihn neu zur Geltung gebracht werden. Mit der Explikation von Verantwortung ist ein wichtiger Schritt dahin schon getan. »Für irgendwen irgendwann irgendwelche Verantwortung de facto zu haben […] gehört so untrennbar zum Sein des Menschen, wie daß er der Verantwortung generell fähig ist« (185). Diese Fähigkeit schließt, wie sich zeigte, das Verantwortungsgefühl ein. Allgemeiner vielleicht spricht Jonas vom Pflichtgefühl, davon, daß wir »mindestens nach Anlage, empfänglich sind für den Ruf der Pflicht durch ein antwortendes Gefühl« (163). So gilt, »daß Menschen potentiell schon ›moralische Wesen‹ sind, weil sie diese Affizierbarkeit besitzen, und nur dadurch auch unmoralisch sein können« (164). Die grundlegendste anthropologische 102 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Bestimmung Jonas’ dürfte die »Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit« (74, Hervorhebung M. F.) sein. Diese Zulänglichkeit ist für Jonas »ein Unendliches« (das wir »bewahren«, aber auch »verlieren« können); sie ist »ein, bei aller physischen Herkünftigkeit, metaphysischer Tatbestand […], ein Absolutum« (ebd.). Physisch herkünftig ist sie, insofern der Mensch Ergebnis der Evolution ist (deren Wichtigkeit bei Jonas nicht überschätzt werden kann); ein Unendliches und Absolutes und insoweit metaphysisch ist sie nach Jonas’ Auffassung, weil sie den Menschen gegenüber allem übrigen Gewordenen und dessen unzweifelhaftem Selbstwert schlechthin auszeichnet. Freilich, das Sichten »der Aufführung der Menschheit auf Erden« ergibt einen »Katalog fortwährender Scheußlichkeiten«, und »die Erbärmlichkeit des Menschen hat mindestens das Maß seiner Größe«; aber: »der ontologische Befund hat mit solchen Wertrechnungen nichts zu tun« (186). Im Blick auf Größe und Erbärmlichkeit spricht Jonas von der vom Menschen »unzertrennlichen Zweideutigkeit« (382). Der ontologische Befund der Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit andererseits dürfte seiner (im Kontext der Utopie-Kritik geäußerten) These von der immer gegebenen Vollgültigkeit zugrunde liegen: »Seine [des Menschen – M. F.] Gegenwart […] ist jeweils vollgültig als die fragwürdige, die sie ist« (383). Moralisch gesehen, ist der Mensch »von Natur (›an sich‹) weder gut noch schlecht […]: er hat die Fähigkeit zum Gut- oder Schlechtsein, ja, zum einen mit dem andern« (385); aber eben diese Fähigkeit ist für Jonas ontologisch ein höchstes Gut. – Aus der Perspektive der Geschichtlichkeit ergibt sich zum einen, daß der Mensch ist, »was er in Jahrtausenden der Kulturbemühung aus sich gemacht hat« (250), zum andern, daß die Antwort auf die »Frage, was der Mensch sein soll« (im Sinne anzustrebender geschichtlich-konkreter Existenz), »wandelbar ist« (249). Da das Resultat jener langen Kulturbemühung nunmehr bedroht ist, ist die genannte Frage nach Jonas angesichts der dringlicheren Aufgabe von Bewahrung derzeit nicht zu stellen. – 103 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Eine Ethik der Bewahrung und Fernverantwortung ist im Zeitalter der ›technologischen Zivilisation‹ zur dringlichen Aufgabe geworden. Sie gründet sich nach Jonas auf einen kategorischen Imperativ: »der kategorische [Imperativ – M. F.] gebietet einfach, daß es Menschen gebe, mit der Betonung gleicherweise auf dem Daß und auf dem Was des Existierensollens«; Jonas fügt hinzu, für ihn sei »dieser Imperativ der einzige, auf den die Kantische Bestimmung des Kategorischen, das heißt Unbedingten, wirklich zutrifft« (91 f.). Der Imperativ artikuliert die »unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein« (80) – zum Dasein als Menschheit, gemäß dem Wesen des Menschen; er artikuliert damit die »Pflicht zur Zukunft« (84). Dies »ontologische Gebot« (187) hat als Gebot für unser Handeln die Form: »›Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‹« – oder auch: »›Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein‹« (36). Das verbietet nicht nur jedes »Mittel« kriegerischer Auseinandersetzung, »das die Menschheit vernichten kann«, sondern ebensosehr alle diejenigen Werke der Technologie, »die kumulativ eben diesen globalen Umfang und Tiefgang haben, nämlich entweder die ganze Existenz oder das ganze Wesen des Menschen in der Zukunft gefährden zu können« (80). Das Gebot des ›Daß des Existierensollens‹ künftiger Menschen beinhaltet die »Pflicht […] zur Fortpflanzung (wenn auch nicht notwendig die jedes Einzelnen)« (86). Das Gebot des »Was des Existierensollens« künftiger Menschen fordert von uns, zu »wachen« über ihre Pflicht »zu wirklichem Menschentum: also über ihre Fähigkeit zu dieser Pflicht, die Fähigkeit, sie sich überhaupt zuzusprechen« (89). Die Pflicht zu wirklichem Menschentum ist die eine und selbe für alle Menschen zu allen Zeiten; die Pflicht, über die Fähigkeit Künftiger zu dieser Pflicht zu wachen, ist neu. Die Fähigkeit ginge in dem Augenblick verloren, in dem (durch genetische Manipulation, ›Verhaltenskontrolle‹ oder wie immer) die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Frei104 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
heit unterminiert würde. ›Über das Recht künftiger Menschen auf Glück zu wachen‹ (bzw. über ihre »Glücksmöglichkeiten«), ist für Jonas eine nachgeordnete Pflicht; hier bringt er auch den »schwankenden Begriff des Glücks« ins Spiel (89; 90). Da der Imperativ, es solle Menschen geben, für Jonas der einzige ist, der als kategorischer auftritt, hat man für unser Verhalten zur Natur kein kategorisches Gebot zu erwarten. Jonas spricht hier von Pflichten bzw. Tugenden – von der ›wahlentzogenen‹ (d. h. gebotenen) »Solidarität mit dem Übrigen«, dem Nicht-menschlichen (248), sowie der Treue gegenüber der Natur: »Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem verwandten Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist« (246). Die Äußerung gibt zugleich, von der Natur aus, eine Verbindung zu verstehen zwischen anthropozentrischer (und anthropozentrisch-ökologischer) Ethik einerseits, rein ökologischer Ethik andererseits, die zunächst einmal durchaus zu unterscheiden sind: In der Pflicht zur Zukunft der Menschheit »ist die Zukunft der Natur als sine-qua-non offenkundig mitenthalten, ist aber auch unabhängig davon eine metaphysische Verantwortung an und für sich« (245). Der möglichen Gefährdung künftiger Menschheit durch moderne Technik, Produkte und Produktionsverfahren korrespondieren zwei Pflichten, mit denen verantwortliches Handeln in dieser Sphäre zu beginnen hat. Die eine ist die der ›Beschaffung der Vorstellung von den Fernwirkungen‹ (64). Das heißt zunächst, daß Tatsachenwissen von den Fernwirkungen gefordert ist (62). Dies Tatsachenwissen bleibt aber in der gegenwärtigen Situation auch bei größter Anstrengung hinter »dem kausalen Ausmaß unseres Handelns« zurück (28; vgl. 66). Deshalb ist hier »Anerkennung der Unwissenheit« (28) entscheidend, und die zu beschaffende Vorstellung von den Fernwirkungen muß über gesicherte Vorhersagen hinausgehen und alle Eventualitäten einbeziehen. Die andere Pflicht ist die ›Aufbietung des dem Vorgestellten angemessenen Gefühls‹ (65). Gemeint ist 105 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
die schon erwähnte selbstlose Furcht. Vorgestellter möglicher Bedrohung der künftigen Menschen durch technische Projekte ist angemessen eine Furcht eigener, »geistiger Art«, an deren Entstehen der Verantwortliche selbst mitzuwirken und die er zu einer »Haltung« zu verfestigen hat (65) – im Gegensatz zu einer den Menschen ohne sein Zutun überkommenden Furcht vor einer ihn selbst betreffenden Gefahr. »Die Einnahme dieser Haltung« ist die »Selbstbereitung zu der Bereitschaft, sich vom erst gedachten Heil und Unheil kommender Geschlechter affizieren zu lassen« (ebd.). Diese beiden Pflichten gründen in Jonas’ kategorischem Imperativ. Sie entlassen aus sich die »Vorschrift, […] daß der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung« (70). Hier resultieren das »Gebot der Bedächtigkeit« (71) und des Ausschlusses von Mutwillen und Leichtfertigkeit (77) sowie die Pflicht zur »Wachsamkeit über die Anfänge« (72). Die »konkreten neuen Pflichten« (und Tugenden) in ein System zu bringen, hält Jonas jedenfalls für verfrüht (390). Den soeben erwähnten stehen zur Seite: die ebenfalls schon genannte Ehrfurcht, ferner eine neue Demut. Die Ehrfurcht enthüllt »uns ein ›Heiliges‹, das heißt unter keinen Umständen zu Verletzendes« (393). Als »Gefühlsbejahung der wahrgenommenen Würde des Gegenstandes« wird sie – unter dem Aspekt der Motivation zum Handeln – vom Verantwortungsgefühl übertroffen (s. o.). Die neuartige Demut ist »eine Demut nicht wie frühere wegen der Kleinheit, sondern wegen der exzessiven Größe unserer Macht«, und sie verwirklicht sich als »verantwortliche Zurückhaltung« (55). Hier schließt sich der Kreis zu jenen Charakteristika der ›neuen‹ Ethik, die als freiwillige Machtzügelung, Selbstbescheidung und Forderung von Wohlstandsverzichten benannt worden sind. – Jonas legt seiner Ethik, wie gesagt, einen kategorischen, also unbedingt gebietenden Imperativ zugrunde. Dieser betrifft das Daß und das Was des Existierensollens des Menschen, und er führt auf die von Jonas dargestellten Pflichten. Die Frage ist er106 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
laubt, ob es Jonas gelingt, die Unbedingtheit dieses Ansatzes zu begründen. Er schreibt bereits im Vorwort seiner Schrift: »Die Begründung einer solchen Ethik, die nicht mehr an den unmittelbar mitmenschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebunden bleibt, muß in die Metaphysik reichen, aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen: warum also der unbedingte Imperativ gilt, ihre Existenz für die Zukunft zu sichern« (8). Die von Jonas dann durchgeführten Begründungsversuche haben viel Kritik hervorgerufen, und es ist auch meine Auffassung, daß sie problematisch sind (was hier nicht ausgeführt werden soll). Aber was bedeutet das? Es bedeutet lediglich, daß der Unbedingtheitsanspruch von Jonas’ Zukunftsethik zu verabschieden ist. Das Ergebnis ist für Mitdenkende demjenigen sehr ähnlich, das ich am Ende von Kapitel 3 bezüglich der für Kant unverzichtbaren Unbedingtheit der Moral formuliert habe. Dort hatte ich vorgeschlagen, daß wir uns von der Unbedingtheit des moralischen Gesetzes lösen, dieses Gesetz jedoch aufgrund der Einsicht, daß es das sittlich Gute bestimmt, in freier Entscheidung in Kraft setzen und in Kraft halten. Und ich hatte hinzugefügt, sittliche Pflicht sei dann zu verstehen als frei gewählte Selbstverpflichtung, als selbst auferlegtes Sollen. Diesen Vorschlag möchte ich auch für Jonas’ ›kategorischen‹ Imperativ und die Pflichten seiner Zukunftsethik machen. Zu ergänzen ist aber: Der Imperativ, »daß es Menschen gebe, mit der Betonung auf dem Daß und auf dem Was des Existierensollens« (s. o.), setzt voraus einen freien Akt der Selbstbejahung – den freien Akt, in dem ein Mensch seine »Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit« (s. o.) bejaht.
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Anhang Nachweise und Hinweise
Zu Kapitel 1 Dieses Kapitel gibt Ausführungen wieder, die sich im Aristoteles-Teil meines Buches Hermeneutische Anthropologie. Platon – Aristoteles (Berlin-New York 1976) finden, und zwar dort in den Kapiteln 16 bis 18; weniges wurde auch aus Kapitel 19 herangezogen. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil wurden Partien aus dem Buch wörtlich hierher übernommen (mit kleineren Auslassungen und unter Verzicht auf die griechischen Zitate). Das Thema wird im Aristoteles-Teil des Buches in einem größeren Zusammenhang erörtert, und dort sind auch Probleme von mir herausgestellt und diskutiert worden, die hier beiseite gelassen wurden. Gelegentliche Verweise auf Textstellen erfolgen – wie in der Aristoteles-Literatur üblich – nach der von Immanuel Bekker besorgten griechischen Werkausgabe (Berliner Akademie-Ausgabe von 1831, 2 Bände; unveränderter Nachdruck: Aristotelis Opera …, Darmstadt 1960). [Zur Erläuterung zwei Beispiele: Die Angabe 1110a1 bedeutet: Seite 1110, linke Spalte, Zeile 1. Die Angabe 1105b21 bedeutet: Seite 1105, rechte Spalte, Zeile 21.] Seitenzahl und Spalte (also z. B. 1110a) werden am Rand mitgeführt in der Übersetzung von Dirlmeier (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Ernst Grumach, Bd. 6: Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, 4. Auflage Darmstadt 1967).
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Zu Kapitel 2 Das Kapitel ist die Wiedergabe von Teil I meines Aufsatzes Der Ursprung des Bösen und wie wir ihn ›wissen‹ können. Eine systematische Erörterung in engem Anschluß an Augustin, Der Gottesstaat XII 6 und 7. Der Aufsatz ist erschienen in: Philosophisches Jahrbuch, 104. Jahrgang, 1997. Als Textausgabe wurde zugrunde gelegt: Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat – De civitate Dei (lateinisch/deutsch), übersetzt von Carl Johann Perl, Bd. I, Paderborn-München-WienZürich 1979 (Aurelius Augustinus’ Werke, hrsg. von Carl Johann Perl).
Zu Kapitel 3 Das Kapitel stimmt – zum Teil wörtlich – überein mit Ausführungen in meinem Buch Mensch und Unbedingtes im Denken Kants. Eine kritische Darlegung, Freiburg/München 2009. Das Thema des Kapitels wurde gegenüber dem Buch um einige (auch kritische) Gesichtspunkte verkürzt. Und: Es ist in dem Buch Teil eines sehr viel größeren Themenkomplexes. Kant wird zitiert nach: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1963. Auf diesen Band beziehen sich die bei Zitaten angegebenen (Seiten-) Zahlen. Das Sigel GMS steht für Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, das Sigel KpV für Kritik der praktischen Vernunft.
Zu Kapitel 4 Das Kapitel bietet den Fichte-Teil meines Aufsatzes Das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen bei Sartre (»Der Blick«) und die unverzichtbare Gegenposition Fichtes. Der Aufsatz ist 110 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
erschienen in: Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Manfred Baum und Klaus Hammacher, Amsterdam/Atlanta 2001 (Elementa Bd. 76). Der Haupttext des Fichte-Teils ist mit Auslassung einiger Stellen (vor allem solchen, in denen Bezüge zu Sartre hergestellt werden) wörtlich übernommen worden. Wie sich dem Titel des Festschrift-Aufsatzes entnehmen läßt, wurden dort zwei Positionen dargestellt, die sich wechselseitig einschränken und als eingeschränkte einander ergänzen. Fichtes Schrift Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre wird zitiert nach der Ausgabe: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob, Werke Bd. 3, Stuttgart-Bad Canstatt 1966. Auf diesen Band beziehen sich die bei Zitaten angegebenen (Seiten-) Zahlen.
Zu Kapitel 5 Der Text des Kapitels ist für dieses Buch verfaßt worden. Die Thematik wird in drei früher von mir veröffentlichten Aufsätzen berührt, die ich hier auch deshalb nenne, weil sie zur Ergänzung des Kapitels dienen können. Es handelt sich um die Publikationen: – Konkretisierte Existenzstrukturen in Sartres Tragödie »Die schmutzigen Hände«, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch, Bd. 7, 1981. – Die Verantwortlichkeit für den Anderen im Handeln. Zum Verhältnis von Existentialismus und Marxismus in Sartres früher Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 93. Jahrgang, 1986. – Das ursprüngliche Verhältnis zum Anderen bei Sartre (»Der 111 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .
Blick«) und die unverzichtbare Gegenposition Fichtes, in: Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Manfred Baum und Klaus Hammacher, Amsterdam/Atlanta 2001 (Elementa Bd. 76). (Der Fichte-Teil dieses Aufsatzes findet sich hier in Kapitel 4; vgl. im Anhang den Abschnitt »Zu Kapitel 4«.) Sartre wird zitiert nach der Ausgabe: Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1962. Der von mir zugrunde gelegte Teil des Werkes wurde in dieser Ausgabe übersetzt von Justus Streller. Auf diesen Band beziehen sich die bei deutschen Zitaten angegebenen (Seiten-) Zahlen. Rückgriffen auf das französische Original und Zitaten daraus liegt die folgende Ausgabe zugrunde: J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1948. Sigel: EN.
Zu Kapitel 6 Das Kapitel ist fast gänzlich die wörtliche Übernahme eines Teils meines Aufsatzes Verantwortung und Sinnbewahrung. Zur Zukunftsethik von Hans Jonas. Der Aufsatz ist erschienen in: Person und Sinnerfahrung. Philosophische Grundlagen und interdisziplinäre Perspektiven. Festschrift für Georg Scherer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carl Friedrich Gethmann und Peter L. Oesterreich, Darmstadt 1993. Jonas wird zitiert nach folgender Ausgabe: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, suhrkamp taschenbuch Frankfurt am Main 1984. Auf diese Ausgabe beziehen sich die bei Zitaten und auch bei referierten Textstellen angegebenen (Seiten-) Zahlen. 112 https://doi.org/10.5771/9783495860700 .