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German Pages 343 [345] Year 2017
Jürgen Nielsen-Sikora
HANS JONAS Für Freiheit und
Verantwortung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Mario Moths, Marl Einbandabbildung: Hans Jonas; Foto: Barbara Klemm Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-74319-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74320-9 eBook (epub): 978-3-534-74321-6
INHALT Einleitung 9
ERSTER TEIL: LEBEN 1 Familie, Krieg und Judentum 20 I Von Borken nach Mönchengladbach 20 II Der Erste Weltkrieg als prägendes Erlebnis 26 III „Ich gehöre einer Minderheit an“ 33 2 Studienzeit und Jahre der Emigration 44 I Wissenschaftliche Prägungen 44 II Gnosis-Studien 52 III „In alle Welt zerstreut“ 56 IV Soldat und Familienmensch 74 3 Amerika und die Philosophie des Lebens 84 I Von Jerusalem nach Ottawa 84 II Von Ottawa nach New York 98 III Das erste Jahrzehnt als Professor an der New School for Social Research 109 4 Blick zurück nach vorn. Restitution und Anerkennung 125 I Ein kleiner Trost für einen großen Verlust 125 II Mit Adorno gegen Heidegger 130 III Eine andere Art der Philosophie 137 IV Rastlose Zeiten. Die Jahre des Erfolgs 154 V Die letzten Lebensjahre 170
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION 5 Hans Jonas als öffentliche Person 182 I Zur Person 186 II Stimmen zur Philosophie und Ethik von Hans Jonas 196 III Der Nachruhm 201
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INHALT
6 Das Prinzip Verantwortung. Ein Kommentar 211 I Das veränderte Wesen menschlichen Handelns 213 II Grundlagen- und Methodenfragen 226 III Über Zwecke und ihre Stellung im Sein 232 IV Das Gute, das Sollen und das Sein: Theorie der Verantwortung 237 V Verantwortung heute. Gefährdete Zukunft und Fortschrittsgedanke 246 VI Kritik der Utopie und die Ethik der Verantwortung 255 7 Zur Aktualität von Hans Jonas 263 I Erziehung durch Katastrophen? 264 II Zukunftsforschung 271 III Rettung des unsichtbaren Reiches 277 IV Geltungsbereich des Prinzips Verantwortung 282 V Verteidigung der Offenheit des Menschen 287 VI Resümee 290 8 Mit Hans Jonas über ihn hinaus 293 I Hans Jonas in Deutschland. Vittorio Hösle und die Diskursethik 295 II Hans Jonas in Frankreich und Italien 306 III Der Jonas-Diskurs in den USA 312 Zeittafel 320 Dank 322 Literatur 324 Namenregister 339
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I am a Jew. Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? Fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same diseases, healed by the same means, warmed and cooled by the same winter and summer as a Christian is? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? (William Shakespeare, The Merchant of Venice) Lechzend klebe mir die Zunge An dem Gaumen, und es welke Meine rechte Hand, vergäß’ ich Jemals dein, Jerusalem – (Heinrich Heine, Jehuda ben Halevy) Es ist das Besondere und Schöpferische des jüdischen Optimismus, daß jeder Glaube hier als Verantwortlichkeit begriffen wird; der Gedanke von ihr ist als der jüdische Gedanke in die Welt getreten. (Leo Baeck, Das Wesen des Judentums) Ich frage euch also, sieht Jehova all das nicht? Döst er vor sich hin und bohrt in seiner Nase? Oder ist auch Jehova, gelobt sei sein Name in alle Ewigkeit, ein alter vertrottelter Onkel geworden, dem der Gedanke schmeichelt, daß die Menschen in seinem Namen sterben? Ich weiß es nicht, Brüder, ich kann euch darauf nicht antworten. Ich denke mir jedenfalls: Wenn Gott Fenster hätte, hätte man ihm schon längst die Scheiben eingeschlagen! (Angel Wagenstein, Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks) Each generation puts forth a prophet in its own image. (Elie Wiesel)
EINLEITUNG Wer wird nun „lichte Schneisen schlagen in das Dickicht unserer Tage?“, fragt sich Marion Gräfin Dönhoff wenige Tage nach dem Tod von Hans Jonas (1903-1993) in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Der jüdische Philosoph hatte über ein Jahrzehnt lang den Umweltdiskurs der Bundesrepublik durch seine philosophischen Einwürfe maßgeblich mitgeprägt. Sein Tod, so lassen sich die Worte der Gräfin deuten, hinterließ eine Leerstelle in der Diskussion über eine menschenwürdige Zukunft auf dem Planeten Erde. Heute zählt Hans Jonas zweifellos zu den bedeutenden Denkern des 20. Jahrhunderts.1 Beeinflusst von seinen Lehrern Edmund Husserl, Martin Heidegger und Rudolf Bultmann erlangte er als Begründer einer Ethik der Verantwortung für die technologische Zivilisation Weltruhm. Seine Ethik verbindet lebensweltliche Intuitionen mit normativen Gehalten religiöser Überlieferungen. Motive und Denkfiguren der philosophischen Traditionen aufgreifend, stellt sein Denken kritische Fragen an die technologischen Errungenschaften der Gegenwart. Der Begriff der Verantwortung wird in seiner Philosophie zum Synonym einer neu hervorgetretenen Pflicht im Antlitz der Drohungen der Moderne und ihrer kausalen Reichweite in die Zukunft.2 Den Ausgangspunkt seines Denkens bildet jedoch die Kritik der Gnosis. Gnosis ist die Sammelbezeichnung für eine religionsgeschichtliche 1 So auch David J. Levy: Hans Jonas. The Integrity of Thinking. Colombia, Missouri 2002. Zur Familienbiographie sieh die von Christian Wiese herausgegebenen Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2003; Günter Erckens: Juden in Mönchengladbach, 2 Bände plus Registerband. Mönchengladbach 1988-1990, insbes. Bd. 1, S. 246ff. sowie Bd. 2, S. 443ff.; Roman Seidel: „Biographie“. In: Ralf und Roman Seidel: Zeugen städtischer Vergangenheit. Hans Jonas. Hg. von der Gladbacher Bank. Mönchengladbach 1997, S. 6-53; Holger Hintzen: Paul Raphaelson und Hans Jonas. Ein jüdischer Kapo und ein bewaffneter Philosoph im Holocaust. Köln 2012. 2 Bereits der Abituraufsatz im Fach Deutsch vom 24. Januar 1921 zeichnet sein ethisches Verständnis vor, wenn er an Kant anknüpfend eine „Kultivierung der Persönlichkeit“ fordert und betont, eine urteilende („begutachtende“) Persönlichkeit habe eine „ungeheure Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit.“ Es gelte, diese Persönlichkeit „zu ihrem schweren und verantwortungsvollen Beruf“ auszubilden und zu erziehen. Zitiert nach Stadtarchiv Mönchengladbach, Sammlung Hans Jonas, 14/3490 Familiengeschichte resp. 17/607 Reifeprüfung.
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Bewegung im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus. Sie setzte sich aus einer Fülle mythischer Spekulationen und soteriologischer Kultpraxis zusammen. Die Gnostiker waren weltfremd. Hans Jonas deutet diese Weltfremdheit vor der Folie der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre. Seine Kritik an der lebensfeindlichen Einstellung der Gnostiker ist nicht zuletzt auch eine Kritik an seinem Lehrer Martin Heidegger, obwohl sich Jonas zunächst dessen Begrifflichkeiten bedient. Seine Kritik mündet in einer Philosophie des Lebens, die er als Antwort auf die weltabgewandte Haltung der Gnostiker formuliert. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens, in der Hochphase des Kalten Krieges, entwickelt sich daraus seine Ethik der Verantwortung. Philosophie ist bekanntlich „ihre Zeit in Gedanken gefaßt.“3 In diesem Sinn ist auch die Philosophie von Hans Jonas nur vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Entwicklungen zu lesen. Die Besonderheit der Zeit, in der sich seine Ideen entwickeln, lässt uns fragen: Welche konkreten gesellschaftlichen Einflüsse wirkten auf die Philosophie von Hans Jonas ein? Und umgekehrt: Welchen Einfluss hatte seine Philosophie auf die Zeit, in der sie entstanden ist? Mit der Originalität seiner Ideen geht des Weiteren die Frage einher, welche neuen Gedanken aus der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition entstanden sind. Schließlich drängt sich im Kontext der Lebensgeschichte des Autors die Frage auf, welche persönlichen Erfahrungen Eingang in den Kosmos seiner Reflexionen gefunden haben. In seinen Schriften gibt Hans Jonas so gut wie keine Hinweise auf gesellschaftliche und biografische Ereignisse. Erst am Ende seines Lebens erteilt er in mehreren Interviews bereitwillig Auskunft über seinen hochinteressanten und teils beschwerlichen Lebensweg. Dennoch ist der Charakter seiner Philosophie nur verständlich, wenn wir Aspekte des Lebens, der Zeit und des Werks miteinander in Beziehung setzen. Christian Wiese, der im Jahre 2003 zum 100. Geburtstag des Philosophen, nicht nur die Erinnerungen von Hans Jonas herausgegeben,
3 G eorg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, HW 7, S. 26. Frankfurt a.M. 1970. Zitate werden, wenn nicht anders vermerkt, in ihrer Rechtschreibung nicht verändert.
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sondern einen biografischen Essay mit bis dato unveröffentlichtem Material publiziert hat, bekannte damals: „Das Biographische kann lediglich als erhellender Kontext seiner Denkentwürfe herangezogen werden, und es kommt entscheidend darauf an, ob der Nachweis gelingt, daß existentielle Erfahrungen, die mit seinem jüdischen Schicksal zusammenhängen, entweder eine spezifische Sichtweise auf philosophische Fragestellungen zur Folge hatten oder aber jene Themen, die ihn zeitlebens beschäftigten, inspirierten und in eine erkennbare, wenn auch nicht immer explizite Beziehung dazu rückten.“4 Diese These soll im Folgenden auf den Prüfstand gestellt werden. Soll das Biografische tatsächlich nur als erhellender Kontext dienen können? Ist das Werk eines Philosophen nicht in erster Linie das Produkt einer Person, die ganz eigene Erfahrungen und Bekanntschaften gemacht und persönliche Lektüren vorgenommen hat? Einer Person, der subjektive Widerfahrnisse zuteil wurden, die unmittelbar Eingang in die eigene Philosophie finden? Wie sollte es möglich sein, das eigene Leben und Erleben von den Ideen, die jemand zu Papier bringt, zu abstrahieren? Eine solche Abstraktion müsste zwangsläufig in dem Satz münden: „Hans Jonas wurde geboren, arbeitete und starb.“ Christian Wiese widerspricht dem im Grunde selbst. Denn wenige Jahre zuvor hat er im Nachwort zu Hans Jonas’ Buch „Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes“ noch die These vertreten, die Erkenntnisse eines Forscherlebens erwüchsen „nicht unberührt vom Erleben der Zeit, von geistigen und persönlichen Umbrüchen, von der subjektiven Auseinandersetzung mit dem umgebenden Kosmos des Denkens, und man wird sie nur angemessen würdigen können, wenn diese Kontexte mitbedacht werden.“5 Es geht in diesem Zusammenhang nicht bloß um existenzielle Erfahrungen, schon gar nicht um das jüdische Schicksal allein, auch wenn dieses unzweifelhaft einen bestimmten Blick auf philosophische Fragestellungen aufwirft. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Es gilt zu fragen, warum bestimmte philosophische Fragen von einem ganz bestimmten Autor mit ganz individuellen Erfahrungen in einer ganz bestimmten Zeit überhaupt gestellt werden. Denn schließlich, so die Überzeugung der nachfolgenden 4 Christian Wiese: Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“. Frankfurt a.M. 2003, S. 18. 5 Hans Jonas: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. und übersetzt von Christian Wiese. Frankfurt a.M. und Leipzig 1999, S. 401f.
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Ausführungen, steht das Thema einer Philosophie stets in unmittelbarem Kontext zur Person, die sich mit ihm auseinandersetzt. „Jonas’ Biografie bildet die Epoche in ihrer Zerrissenheit ab“6, bemerkte Martin Meyer am 14. Mai 1993 in der Neuen Zürcher Zeitung. Diesem Verdacht will ich hier nachspüren und zugleich eine Forschungslücke schließen: Bis heute liegt keine umfassende Biografie zu Hans Jonas vor. Dazu verfolge ich drei Ziele. In einer multiperspektivischen Analyse werde ich (erstens) das Leben von Hans Jonas darstellen, es (zweitens) in zeithistorische Kontexte einbetten und (drittens) zu seinem Werk in Beziehung setzen. Die unzähligen, noch unveröffentlichten Briefe, aber auch die Edition der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) sowie die darin erstmals publizierten Vorlesungen von Hans Jonas, enthalten so viele bislang unbekannte Hinweise zum Leben und Bezüge zu anderen namhaften Wissenschaftlern, die eine biografische Aufarbeitung nötig erscheinen ließen. Der Schriftverkehr, den Jonas mit der akademischen Welt des 20. Jahrhunderts führte, bildet eine tragende Säule des gesamten Nachlasses und gibt Auskunft über die Beziehungen und Denk-Stationen, die Jonas im Laufe seines Lebens durchlief. Die Briefe und persönlichen Statements lassen nicht nur die historischen Kontexte, in denen Jonas seine philosophischen Texte schrieb, hervortreten, sie sind darüber hinaus eine unverzichtbare Quelle für das Verständnis seines Werks allgemein. Nicht zuletzt lässt sich am Lebensweg von Hans Jonas paradigmatisch das Schicksal der akademisch geprägten europäischen Juden ablesen. Bis heute ist die große Anzahl an Briefen und Korrespondenzen jedoch nicht kritisch gesichtet und aufbereitet worden, die Hans Jonas mit Geistesgrößen aus Deutschland, Europa, den USA und Israel gewechselt hat. Bei der geplanten Brief-Edition innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe wird naturgemäß die wissenschaftliche Werkpräsentation im Zentrum stehen, ein biografischer Zugriff erscheint lediglich als deren Hintergrund. Die biografische Annäherung arbeitet hingegen entlang von Briefverkehr, Werk und geschichtlichem Bezugsrahmen das Leben von Hans Jonas auf. Nach seiner Emigration zunächst nach Großbritannien, Palästina und Kanada, dann in die USA, war der Schriftverkehr für Jonas oft die einzige Möglichkeit, den Kontakt zur akademischen Welt in Europa aufrecht zu 6 Martin Meyer: Ein mögliches Vermächtnis. Hans Jonas’ philosophischer Ausblick. In: NZZ vom 14. Mai 1993, Fernausgabe Nr. 109, S. 39. Zitiert mit Auslassungen nach: Stadtarchiv Mönchengladbach, Sammlung Hans Jonas 14/3490.
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erhalten. Hans Jonas’ Dialogpartner gehören zum Who is who der Wissenschaft. Ihre Korrespondenzen berühren philosophische und naturwissenschaftliche, theologische und soziologische Fragen. Auf Grund des Umfangs und der Thematiken ist dieser Schriftverkehr von besonderer Forschungsrelevanz. Ohne die biografische und zeithistorische Zuordnung bleibt er jedoch weitestgehend unverständlich. Denn in den Korrespondenzen enthalten sind nicht zuletzt wichtige Zusatzinformationen zu seinen Forschungsideen. Sie werden im Folgenden zueinander in Beziehung gesetzt. Die unzähligen Briefe geben diesbezüglich erste Einblicke in die persönlichen Kontexte, in denen seine Forschungsfragen standen. Die interdisziplinäre Korrespondenz schlägt zudem eine Brücke zwischen den Fächern, in denen Jonas geforscht hat. Sie ist Zeugnis einer transatlantischen Freundschaft der Intellektuellen. Auch einige der zahlreichen Diskussionen und interviewförmigen Gespräche, in denen Jonas sein Werk vorgestellt, kommentiert und in größere Gesprächszusammenhänge gestellt hat, sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Einige dieser Gespräche wurden bereits publiziert, andere sind bis heute unveröffentlicht. In der Jonas-Forschung überwiegen ganz eindeutig fachphilosophische Auseinandersetzungen ohne tiefgehende Kontextbezüge. Teilweise gibt es divergierende biografische Angaben, die überprüft und, wo nötig, korrigiert wurden. So stimmen Daten in den publizierten Texten oftmals nicht mit Informationen überein, die sich aus dem umfangreichen Schriftverkehr gewinnen lassen. Das ist nicht nur in den „Erinnerungen“ der Fall, sondern auch in vielen anderen biografischen Skizzen, die vorliegen. Ein Beispiel: Der Konflikt mit Hannah Arendt wird nach ihrem dritten Artikel über Adolf Eichmann im New Yorker 1963 in nahezu allen publizierten Quellen übereinstimmend auf gut zwei Jahre datiert. Im Nachlass von Hans Jonas lassen sich für diese Behauptung klare Gegenbeweise finden. Es ist davon auszugehen, dass ihre Beziehung für maximal ein Dreivierteljahr ruhte. Die Briefe von Hans Jonas als wichtigste Quelle spielen in den meisten bereits vorliegenden Publikationen kaum eine Rolle und lassen somit zentrale und für sein Leben wichtige Daten vermissen. Einzige Ausnahme bildet die schon erwähnte, von Christian Wiese publizierte Schrift über Hans Jonas als Philosoph und Jude, die einige bis dato unbekannte Zeugnisse enthielt.7 Insbesondere Dokumente Gershom Scholem und Hannah Arendt betreffend, sind in diesem Band aufgeführt. 7 Christian Wiese: Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“, a.a.O.
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Obgleich sich Hans Jonas in einem Brief an Gershom Scholem vom 24. April 1950 als schlechten Briefschreiber bezeichnet und gegenüber Jacob Taubes am 24. Januar 1978 seine „Epistolophobie“ betont, spricht die Quellenlage eine völlig andere Sprache. Nicht nur in der Qualität, sondern auch in der Quantität zeigt sich Hans Jonas als außerordentlicher Briefpartner. Von den größtenteils im philosophischen Archiv der Universität Konstanz befindlichen Manuskripten und Materialien sind die Briefe bis dato bis auf wenige Ausnahmen unveröffentlicht. Geplant ist derzeit, eine größere Auswahl der Briefe in Band V der Kritischen Gesamtausgabe abzudrucken. Doch ohne die historischen Bezüge und persönlichen Lebensumstände ist auch das Werk nicht vollständig zu verstehen. Dies soll mit dem vorliegenden Portrait des jüdischen Gelehrten behoben werden. Der sich über Jahrzehnte erstreckende Schriftverkehr von Hans Jonas ist als Bestandteil einer biografischen Annäherung von Bedeutung, will man wissen, wie Jonas von seinen Dialogpartnern beeinflusst wurde und welche Gedankengänge im Austausch mit anderen Wissenschaftlern Niederschlag in seinem Werk gefunden haben. Ziel dieser Biografie ist es, die philosophisch und zum Teil auch politisch-ethisch und kulturell hochbedeutsamen Briefe und Gespräche so in das Zeitgeschehen und das philosophische Werk einzubeziehen, dass einem breiten akademischen Publikum Hans Jonas in seiner Person verständlich wird. Zudem soll die Philosophie von Hans Jonas in den Kontext der geistigen Auseinandersetzung mit anderen Denkern eingebettet und gezeigt werden, wie stark vernetzt der ethische Zukunfts-Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Eine Biografie über Hans Jonas ist insofern auch zu einem nicht unerheblichen Teil eine Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dennoch kann es nicht der Anspruch dieser Biografie sein, das 20. Jahrhundert als solches zu portraitieren. So wurden in erster Linie Lebensereignisse von primärer Relevanz für Hans Jonas’ Denken und seine Denkentwicklung, Selbstäußerungen sowie Äußerungen Dritter und Auseinandersetzungen in der Korrespondenz mit ihm berücksichtigt. Wo werkimmanente Erklärungen notwendig waren, sind diese allgemeinverständlich eingebracht worden. In zahlreichen Briefen an Kollegen und Freunde äußert sich Hans Jonas zu seinem Werk oder nimmt Stellung zu Texten anderer Philosophen. Insbesondere stehen hierbei seine Forschungen zur Gnosis im Zentrum der Korrespondenzen. Erläuternde sowie problematisierende Passagen wechseln ab mit der Darstellung der Genese einzelner Werke. Diese Quellen bie-
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ten durchaus erhellende Hintergrundinformationen über die Diskurse, die Jonas zeitlebens geführt hat. In einzelnen Briefen äußert er sich zu politischen und zeithistorischen Themen und diskutiert mit seinen Briefpartnern über aktuelle Entwicklungen des Weltgeschehens. Im Fokus stehen hierbei das Verhältnis Israels zur arabischen Welt sowie Umweltpolitik, Nachrüstung und Zukunftsängste der Menschen. Diese Einlassungen gehen bis hinein in die Frage der Nachlassverwaltung des Œuvres von Hannah Arendt. Aber auch zeithistorische Ereignisse im Kontext von Globalisierung und Kaltem Krieg spielen in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Darüber hinaus bezieht Jonas in vielen Briefen Stellung zur persönlichen Situation. Kriegserfahrungen, Freundschaften, universitäre Laufbahn, Schilderungen der Entwicklung der Kinder geben in diesem Zusammenhang Aufschluss über die biographische Entwicklung des Denkers Hans Jonas. Dominieren in den Briefen, die im Stadtarchiv Mönchengladbach aufbewahrt werden, die Kriegserfahrung und die Frage der „Wiedergutmachung“, so beinhaltet vor allem der Nachlass in Konstanz bedeutungsvolle Informationen zur familiären Lage in den einzelnen Lebensabschnitten, die nicht zuletzt für das Verständnis des Werks von ganz herausragender Bedeutung sind. Jonas’ Tochter Ayalah war so freundlich und hat mir zudem bereitwillig über das Familienleben im New Rochelle der frühen 1960er Jahre Auskunft erteilt. Aufschlussreich sind schließlich auch die verschiedenen Netzwerke, in denen Jonas sich zeitlebens bewegte. Die Briefpartnerschaften allein sagen hierzu bereits einiges aus. Die persönliche Ansprache gibt ganz konkrete Hinweise auf das Verhältnis zu einzelnen Kollegen. Die Inhalte, über die diskutiert wird, zeigen an, in welchem seiner Themen er bei welchen Kollegen Rat und Hilfe sucht. Neben Günther Anders, Hannah Arendt und Gershom Scholem sind auch Leo Strauss, Hans Blumenberg, Dolf Sternberger und Alexander Rüstow zu nennen. Insofern im Nachlass von Hans Jonas resp. dessen Briefpartnern Korrespondenzen enthalten sind, die über einen längeren Zeitraum, möglicherweise gar über Jahrzehnte gehen, treten die Entwicklungslinien in Leben und Werk besonders deutlich hervor. Solche Briefwechsel bilden geradezu einen Längsschnitt der großen Themen Gnosis, Anthropologie und Ethik. Zu nennen sind in diesem Komplex insbesondere der Briefwechsel mit Günther Anders und Gershom Scholem. Zudem hat Hans Jonas einzelne Briefe verfasst, die über seine eigene Entwicklung als Philosoph und jüdischer Denker umfassend Auskunft ge-
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ben. Zu erwähnen ist hier der bereits in Auszügen bekannte Brief an seinen Cousin Gerald Jonas aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch ein Brief an Leo Strauss von 1948 ist für das Verständnis seiner Philosophie einträglich – insofern virulent wird, wie sehr ihn bereits in dieser Phase biologische Aspekte der Philosophie berührt und geprägt haben. Aus dieser Zugriffsweise ist die nachfolgende biografische Studie erwachsen, die ganz bewusst Leben, Werk und Zeitgeschehen zueinander in Beziehung setzt. Der erste Teil konzentriert sich auf die Lebensstationen des Philosophen und ordnet seine Schriften dem historischen Bezugsrahmen zu. Der zweite Teil fokussiert Werk und Rezeptionsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf der Philosophie der Verantwortung. Ein eigenes Kapitel ist der Kommentierung des Hauptwerks „Das Prinzip Verantwortung“ gewidmet, um die Argumentation nachvollziehen zu können. Denn bis heute liegt keine Analyse vor, die die einzelnen Gedankenschritte allgemein verständlich rekonstruiert. Darüber hinaus sind mehrere hundert Presseberichte über Hans Jonas in dem Kapitel „Hans Jonas als öffentliche Person“ aufbereitet worden. Es geht insofern um das Zusammenspiel von Leben, Werk und Wirkung des Philosophen Hans Jonas. Das vorliegende Portrait entstand an dem im Jahre 2014 vom Rektor der Universität Siegen, Holger Burckhart, gegründeten Hans Jonas-Institut. Dieses hat sich unter anderem zur Aufgabe gesetzt, Leben und Werk von Hans Jonas zu erforschen, seine Ideen weiterzudenken und für die Lehre fruchtbar zu machen. Köln und Siegen, im Frühjahr 2017
ERSTER TEIL: LEBEN
1 FAMILIE, KRIEG UND JUDENTUM
I Von Borken nach Mönchengladbach
Die Familiengeschichte des Philosophen Hans Jonas lässt sich bis weit in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals wird im Anschluss an die napoleonischen Kriege die geo-politische Landschaft durch den Wiener Kongress der Jahre 1814/15 neu geordnet. Alte Grenzen verschieben sich, Staaten neuen Zuschnitts entstehen. Auch der Kreis Borken, 1811 in das französische Kaiserreich eingegliedert, muss sich nach dem Abzug der französischen Truppen und der Ratifikation der Wiener Kongressakte dem tiefgreifenden Wandel stellen: Der Ort wird ein Teil der preußischen Provinz Westfalen. Bereits ein Jahr später gehört der neu entstandene Landkreis Borken zum Regierungsbezirk Münster. In dieser Zeit des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs gründet der junge Jude Benjamin Jonas (1791-1884) in der kleinen Garnisonsstadt der westfälischen Bucht einen Textilbetrieb. Seit 1807 Buchhalter des Manufakturwarengeschäfts der Firma A.H. Löwenstein, wird Jonas bald darauf Geschäftsleiter der Firma und baut 1815 seinen eigenen Betrieb auf. Im gleichen Jahr heiratet Jonas Löwensteins älteste Tochter Julie. Gesellschaftspolitisch ist er ebenfalls aktiv: Mehr als 50 Jahre steht er der jüdischen Gemeinde in Borken vor.8 Die Bedingungen vor Ort erweisen sich privat und wirtschaftlich als äußerst günstig, zumal die damals kleine, orthodox ausgerichtete jüdische Gemeinschaft, bestehend aus rund 75 Personen, am Borkener Nonnenplatz9 nicht nur eine Synagoge, sondern auch eine jüdische Schule errichtet. Durch das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“10 werden die in Preußen lebenden Juden bereits 8 V gl. Frank Overhoff: Juden im Niederbergischen. Namen, Erinnerungen, Bibliografie. Online-Dokumentation 2010, S. 12. In: bgv-velbert.dvs.net/cms/daten/Juden-im-Niederbergischen-Zweite-erweiterte-Auflage-2012.pdf. Abruf am 26. August 2015. 9
Hier lebten einst Beginen im Kloster Marienbrink. Der Platz wurde später umbenannt.
10 Vgl. Marion Schulte: Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (1787-1812). Berlin 2014. Zur Assimilationsgeschichte und ihrer Problematiken sieh Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 2012, S. 248ff.
ERSTER TEIL: LEBEN
im März 1812 Staatsbürger – sofern sie sich bereit erklären, einen eigenen Familiennamen zu führen. Ferner sollen sie ihre Handelsbücher und Verträge in deutscher Sprache abfassen. Das Edikt bewirkt nicht weniger als den steten Zuzug von Juden ins Münsterland nach 1815. Waren sie bis dato bloß geduldet, so etablieren sie sich – wie Benjamin Jonas – in Preußen insbesondere als Selbstständige. Erst im Zuge der industriellen Umstrukturierungen im 19. Jahrhundert und der zunehmend antisemitischen Stimmung auf dem Land11 wird das inzwischen von Benjamins Sohn Herz Jonas (1828-1907) geführte Geschäft am 17. März 1896 an den Niederrhein verlegt. In dem gut 100 Kilometer entfernten München-Gladbach wird der Betrieb zu einer mechanischen Leinenweberei umgebaut. Die Webereifirma in Borken hat stets nach dem so genannten Verlagssystem gearbeitet: Sie vergab ihre Aufträge wie auch die Lieferung des Garns an Heimweber in den umliegenden kleineren Ortschaften. Diese lieferten fertige Stückware zum Vertrieb wieder an das Unternehmen. Durch die Mechanisierung und die Verlegung des Standortes hat sich dies geändert. Fortan ist die Ware direkt in der Firma erzeugt worden. Dazu war ein „Industriegebiet mit Lohnarbeiterbevölkerung“12, wie es Gladbach besaß, vonnöten. Ein weiterer Grund für die Verlagerung dürfte das wachsende, die Stadt gleichwohl einschnürende Eisenbahnnetz rund um Gladbach gewesen sein. Es ermöglichte schnelle Transportwege für den Vertrieb der Ware. So baute die Rheinische Eisenbahngesellschaft eine Strecke zwischen Krefeld und Rheydt in Konkurrenz zu der bereits bestehenden Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft. Darüber hinaus entstand 1879 die für die Textilindustrie bedeutende „Baumwollbahn“ von Gladbach über Roermond bis zum Seehafen von Antwerpen. 1899 folgte zudem der Streckenausbau nach Köln über Grevenbroich. Mit Eröffnung der Textilschule 1901 festigte Gladbach schließlich seinen Ruf als das „Rheinische Manchester“. Bereits im September 1883 wurde die Synagoge in der Karlstraße, einem gut situierten Viertel der Stadt, feierlich eröffnet.13 Dies war ein deutliches Zeichen für das gewachsene soziale Ansehen der überwiegend gemäßigt 11 Zur Geschichte der jüdischen Landgemeinde vgl. Stefan Rohrbacher: Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert. Göppingen 2000. 12 Philosophisches Archiv der Universität Konstanz NL Hans Jonas: HJ 11-2-2, Brief vom 2. November 1983. „HJ“ ist die offizielle Nomenklatur, die hier nicht verändert wurde. 13 Vgl. Wolfgang Löhr (Hg.): Loca desiderata. Mönchengladbacher Stadtgeschichte 3.1. Köln 2003, S. 19f.
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konservativen Juden in Gladbach. Gladbach ist damals aber auch eine Stadt der Gegensätze: Fachwerk- und Patrizierhäuser stehen gleich neben älteren und neu errichteten Fabriken. Wiesen, Wälder und Mühlen prägen die niederrheinische Landschaft ebenso wie die „neblige Stimmung“ und der „Rauch der Kartoffelfeuer.“14 Die kleine Stadt wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um etwa das Vierfache und hat im Jahr 1900 etwas mehr als 58.000 Einwohner.15 Unter ihnen leben auch gut 700 Juden – etwa sieben Mal so viel wie in der alten westfälischen Heimat von Benjamin Jonas16 – zumeist in den für die damalige Zeit typischen Dreifensterhäusern. Der Ort Gladbach gehört bis 1801 zum Herzogtum Jülich und anschließend zu Frankreich. 1815 fällt er ebenso wie Borken an den Staat Preußen. Im Jahr 1888 wird Gladbach kreisfreie Stadt und erhält nun auch offiziell den Namen München-Gladbach. Das neue, in der Hofstraße nahe der Bahnstrecke gelegene Geschäft der Familie Jonas hat damals ca. 60 Mitarbeiter,17 die Halbleinen, Handtücher und Ähnliches produzieren. Am 25. Oktober 1902 scheidet auch Herz Jonas altersbedingt aus dem Betrieb aus. Zwei seiner insgesamt elf Kinder, seine Söhne Gustav18 und Alfred Abraham, führen von nun an die mechanische Weberei. Bis zum Ersten Weltkrieg ist die Firma in gemieteten Fabrikräumen untergebracht. Erst nach dem Krieg errichtet die Familie einen eigenen Fabrikbau.19 Im August 1930 wird die Weberei in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt.20 Mit der abermaligen Umstrukturierung der Firma werden Gustavs Sohn Hans sowie Alfreds Sohn Gerald Jonas Kommanditisten, das heißt: Gesellschafter der Firma mit beschränkter Haftung. Die Cousins Hans und der 1909 geborene Gerald Jonas bleiben zeitlebens nicht nur ge14 Johannes Klein: Einleitung. In: Heinrich Lersch: Gedichte. Hg. und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Johannes Klein. Düsseldorf und Köln 1965, S. 17. 15 Löhr: Loca desiderata, a.a.O., S. 24. 16 Ebd., errechnet anhand der dort angegebenen Zahlen (58.000 Einwohner und 1,27% Juden). Vgl. Günther Erckens: Juden in Mönchengladbach. 2 Bände plus Registerband, Mönchengladbach 1988-1990, hier Bd. 1, S. 246ff. Hier sind es rund 600 Juden. 17 Erckens: Juden Bd. 1, S. 248. Zur Verlagerung sieh den Brief von Erckens an Jonas vom 15. Mai 1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1, sowie HJ 11-2-2, Brief vom 2. November 1983. 18 Gustav Jonas, 5. Januar 1864 in Borken geboren, stirbt am 7. Januar 1938 in München-Gladbach an Krebs. 19 HJ 11-2-2, a.a.O. 20 Brief von Erckens an Jonas vom 15. Mai 1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1.
ERSTER TEIL: LEBEN
schäftlich, sondern auch freundschaftlich miteinander verbunden. Anders jedoch als Hans Jonas arbeitet Gerald zeitweise selbst in der Firma mit. Der Umsatz der Firma ist über all die Gladbacher Jahre hindurch trotz immer wieder kehrender Probleme des Industriezweigs (Streiks, internationale Konkurrenz) sehr gut. Selbst nach Hitlers Machtübernahme geht das Geschäft bis etwa 1937 weiter. Ende 1938 ist es dann schlicht unmöglich, als Jude im Deutschen Reich noch unternehmerisch tätig zu sein. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird die Firma Jonas endgültig zerschlagen. Auch das Hausgrundstück der Familie geht im Mai 1939 für 29.000 Reichsmark an einen neuen Besitzer.21 Das unternehmerische Elternhaus prägt Hans Jonas stark. Die überdurchschnittlich hohe Leistungsmotivation wird im erzieherischen Alltag weitergegeben. Aber auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse,Erfahrung mit Verwaltungsaufgaben, ein Gespür für strategische Planung und liberal-konservative politische Einstellungen sind nicht nur typische Eigenschaften von Unternehmern; sie kommen auch bei der Familie Jonas zur Geltung.22 Freilich lässt sich ein Nachweis der übernommenen Ideale im Einzelfall nur schwer führen. Bei Hans Jonas fällt jedoch ins Auge, dass er trotz widrigster Umstände in seinem Leben nie den Mut verliert und immer nach vorn blickt. Der Wille, etwas bewegen zu wollen, ist zeitlebens ungebrochen. Er ist nicht nur in seinem Denken flexibel, auch sein Lebensweg zeugt davon, dass er sich situationsangemessen, Chancen und Risiken genau abwägend, verhält. Allerdings verwirft gerade seine Ethik, von der noch zu sprechen sein wird, das Diktum der Risikobereitschaft zugunsten einer von Demut und Vorsicht getragenen Haltung. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, bedenkt man, dass ein Unternehmer mit Weitblick keinesfalls so risikobereit ist, ein Projekt als Ganzes aufs Spiel zu setzen und damit schlicht alles zu gefährden. Das war auch nie das Credo der Familie Jonas. Sie gehört zum bürgerlich-liberalen Milieu München-Gladbachs. Der Familienname „Jonas“ war ursprünglich der Vorname eines Manufakturwarenhändlers aus Lan-
21 Vgl. HJ 17-25-23, Bericht vom 3. Januar 1955. 22 Sieh dazu exemplarisch: David N. Labantz/Bernard F. Lentz: Favorite Sons. Intergenerational Wealth Transfers among Politicians. Economic Inquiry. Volume 23/3. Oregan 1985, S. 395-414; Josef Brüderl/Peter Preisendörfer/Rolf Ziegler: Der Erfolg neugegründeter Betriebe. Eine empirische Studie zu den Chancen und Risiken von Unternehmensgründungen. Berlin 1998.
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genberg.23 Im Zuge des Judenedikts von 1812 macht Benjamin Jonas, einer der Söhne dieses Langenberger Händlers, den Namen des Vaters zu seinem Nachnamen. Sein Enkel Gustav wird im 20. Jahrhundert durch den Erfolg der mechanischen Leinenweberei zu einer gesellschaftlichen Größe in München-Gladbach sowie zu einer wichtigen Figur des jüdischen Lebens dort. Am 4. Dezember 1900 heiratet Gustav Jonas in Krefeld die elf Jahre jüngere Rosa Horowitz (1875-1942)24, Tochter von Jakob Horowitz, einem damals weithin bekannten Rabbiner, der 1837 in Krakau geboren wird und 1907 in Düsseldorf verstirbt. Am 27. Mai 1869 soll eben dieser Jakob Horowitz in Krefeld zum Oberrabiner ernannt werden. Die Stadt und die angeschlossenen Synagogengemeinden wählen ihn, den damaligen Rabbiner von Märkisch-Friedland,25 einstimmig. Die Düsseldorfer Regierung aber verweigert zunächst ihre obligatorische Zustimmung aus verfahrenstechnischen Gründen. Als Düsseldorf am 10. August 1869 dann doch noch die Genehmigung erteilt, wird ihm der Titel eines Oberrabbiners aber weiterhin verwehrt. Trotzdem hat er ihn in Krefeld getragen.26 Ein halbes Jahr nach seiner Krefelder Wahl heiratet Horowitz die damals neunzehnjährige Celestine Heymann.27 Aus der Ehe gehen insgesamt vier Kinder hervor: Leopold, Marcus und Kurt sowie Rosa Horowitz als einziges Mädchen. Mit Gustav 23 Erckens, Juden Bd. 2, S. 443. Erckens deutet die vielschichtigen Verwandtschaftsbeziehungen der Familien Jonas, Cohen, Benjamin an, vertieft dies aber im Einzelnen nicht. Im Brief Erckens an Jonas vom 8. November 1987 schließt er Langenberg im Kreis Mettmann als Abstammungsort aus, da Jonas der Ansicht ist, die Familie stamme „irgendwo aus dem westfälischen, nicht aus dem rheinischen Langenberg.“ Vgl. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Das westfälische Langenberg liegt allerdings rund 100 Kilometer von Borken entfernt, das rheinische nur 60 Kilometer. Overhoff, a.a.O., macht es wahrscheinlich, dass doch Langenberg bei Mettmann richtig ist, da er von Velbert-Langenfeld spricht. Zwischen beiden Orten liegen nur wenige Kilometer. Andererseits heiratet Benjamin Jonas’ Vater eine gewisse Hanna aus Einbeck. Einbeck liegt wiederum wesentlich näher an dem westfälischen Langenberg. Eine letzte Sicherheit, welcher Ort genau gemeint ist, scheint es nicht zu geben. 24 Die Stammtafel http://www.ics.uci.edu/~dan/genealogy/Krakow/Families/Horowitz. html nennt „München“ (Abruf am 10. Juni 2015), richtig ist jedoch Krefeld, so auch Ayalah Jonas in einer Mail an Verf. 25 Friedland kommt durch die preußische Verwaltungsreform zum Kreis Deutsch Krone im westpreußischen Regierungsbezirk Marienwerder. 26 StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Angaben stammen aus dem Band Antonius Beermann et alii: Juden in Krefeld. Quellen und Materialien zur Geschichte der Stadt Krefeld. Krefeld 1990. 27 Laut Stammtafel der Familie Horowitz, a.a.O.
Abb. 1: Die Mutter Rosa Horowitz und der Vater Gustav Jonas, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Jonas hat Rosa drei Kinder: Ludwig (1901-1916), Hans (1903-1993) und Georg Adalbert (1906-1994). Hans Jonas erblickt am 10. Mai 1903 als zweites Kind in München-Gladbach zwischen Weizenfeldern und Fabrikschloten das Licht der Welt. Vor allem zu seiner Mutter entwickelt er ein ganz besonderes Verhältnis. In seinen Erinnerungen spricht er ihr „überströmende Menschlichkeit“28 zu und charakterisiert sie mit den Worten: „Meine liebevolle Mutter litt am Leben, und zwar nicht an den Welträtseln, sondern daran, daß es so viel Leid auf der Welt gab, so viel Armut und Unglück. Sie nahm daran ungeheuren Anteil und versuchte zu lindern, wo sie konnte.“29 Hans Jonas selbst wird sich zeitlebens eher als einen Horowitz denn als einen Jonas betrachten.30 Er gehört wie auch Leo Baeck, Martin Buber und Franz Rosenzweig zu einer Generation der „postassimilatorischen“ Juden.31 Das Judentum ist für ihn nicht unbedingt eine religiöse Praxis. Vielmehr überwiegt sein Wunsch nach Bewahrung des Judentums und seiner Kultur allgemein. Wie Hans Jonas später einmal mit Hannah Arendt sagen wird, könne er sich eine Welt ohne Juden nicht vorstellen: „Es gibt ein Geheimnis, das uns alle über die zeitgebundenen, privaten, persönlichen Stellungnahmen hinaus, die wir geistig und bewußt vollziehen, bindet.“32 28 Hans Jonas: Erinnerungen. Frankfurt a.M. 2003, S. 31. 29 Ebd., S. 40. 30 Ebd., S. 43. 31 Christian Wiese: Hans Jonas. „Zusammen Philosoph und Jude“. Frankfurt a.M. 2003, S. 22; sowie Rachel Salamander: Die jüdische Welt von gestern. Text- und Bildzeugnisse aus Mitteleuropa 1860-1938. München 1990, S. 13. Vgl. auch Wolfgang Erich Müller: Hans Jonas. Philosoph der Verantwortung. Darmstadt 2008; Franz Josef Wetz: Hans Jonas zur Einführung. Hamburg 2000. 32 Jonas: Erinnerungen, S. 341.
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Im September 1910 zieht die Familie in eine „neue errichtete Elf-Zimmer-Villa“33 in der Mozartstraße 9 gegenüber der am 29. November 1903 eröffneten und im Jugendstil für Konzert und Theater erbauten Kaiser-Friedrich-Halle, benannt nach Friedrich III., dem 99-Tage-Kaiser (1888) der Hohenzollern. Von hier aus läuft er die rund 1000 Meter neun Jahre lang zum Stiftisch-Humanistischen Gymnasium, „keuchend und oft genug zu spät den Klassenraum erreichend.“34
II Der Erste Weltkrieg als prägendes Erlebnis
München-Gladbach ist zu dieser Zeit bereits eine wirtschaftlich aufstrebende Mittelstadt.35 Doch die niederrheinische Idylle währt nur kurz. Denn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ändert vieles. Hans Jonas wird den Krieg als prägendstes Ereignis seiner München-Gladbacher Jugendzeit beschreiben.36 Er berichtet: „Mein Bewußtsein der Weltereignisse setzte notwendigerweise am 1. August 1914 ein, als sich plötzlich das eigene Land im Krieg befand. Mit der dem Kinde eigenen Dummheit hatte ich das Gefühl, daß nun endlich etwas geschah. Bis dahin war ich unter bevorzugten Bedingungen aufgewachsen, in einem Land, das seit Jahrzehnten nur Frieden gekannt hatte, das wirtschaftlich blühte, als Kind eines Hauses, das gut gestellt war, wo der Vater ein geachteter Fabrikant und anerkanntes Mitglied der jüdischen Gemeinde war, wo man in den großen Ferien immer mit riesigen Koffern an die Nordsee fuhr und glaubte, das werde immer so weitergehen.“37 Doch es geht entgegen aller Erwartungen nicht immer so weiter: Bereits am Sonntag, den 28. Juni 1914, als die Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im gut 1200 Kilometer entfernten Sarajevo fallen, ändert sich die Lage in ganz Europa dramatisch. 33 Holger Hintzen: Paul Raphaelson und Hans Jonas, a.a.O., S. 35. Sieh auch: Philosophisches Archiv der Universität Konstanz NL Hans Jonas, HJ 17-1-3, wo der Name Raphaelson mit Adresse in einem Notizbuch ebenso auftaucht wie in HJ 20-1-103, Brief vom 9. Juli 1947. 34 Jonas: „Liebe Gladbacher!“ Der Philosoph besuchte seine ehemalige Schule am Abteiberg. Presseartikel vom 10. Oktober 1987 ohne nähere Angaben. In: StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. Die Halle wird heute als Tagungs- und Kongressgebäude genutzt. 35 So Wolfgang Löhr in einem Vortrag 2003 anlässlich des Hans-Jonas-Jahres in der VHS Mönchengladbach. 36 Vgl. Jonas: Erinnerungen, S. 25. 37 Ebd., S. 26f.
Abb. 2: Hans Jonas, erste Reihe ganz rechts, als Schüler 1913, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-23.
Die zwei mal acht Gramm Blei, die beiden Schüsse des bosnisch-serbischen Attentäters Gavrilo Princip aus der Browning FN 1910, läuten das 20. Jahrhundert, das „Zeitalter der Extreme“38 ein, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm treffend genannt hat. Der Erste Weltkrieg gilt als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, weil er als Ausgangspunkt aller weiteren Konflikte in Europa angesehen wird. Denn er bricht mit vielen Tabus und zerstört langfristig die Möglichkeit einer europäischen Diplomatie, die zur Festigung demokratischer Strukturen in den europäischen Nationalstaaten unerlässlich gewesen wäre. Das Leben von Hans Jonas und allen anderen zu dieser Zeit in Europa lebenden Menschen prägt der Krieg nachhaltig. Schon in den ersten Augusttagen des Schicksaljahres 1914 ruft auch die Jüdische Rundschau die deutschen Juden auf, ihr Vaterland zu verteidigen: „Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt.“39 Freudigen Herzens und freiwillig sollen die Juden ihren Fahneneid für das Deutsche Reich leisten. Unterzeichner sind der Reichsverein der Deutschen Juden, die Zionistische Vereinigung für Deutschland und das Präsidium des Kartells Jüdischer Verbindungen sowie der Ausschuss der Jüdischen Turnerschaft. Der Mitbegründer der jüdischen Jugendbewegung Blau-Weiß, der Jurist Adalbert Sachs, schreibt in einer Sonderausgabe der Blau-WeißBlätter im August 1914: „Wir erwarten von allen denen, die im Felde ste38 Eric Hobsbawm: The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991. London 1994. 39 Jüdische Rundschau XIX. Jg. Nr. 32, 7. August 1914, S. 343.
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hen, daß sie sich eines Blau-Weißen würdig halten und schlagen.“40 Die blau-weißen Ideale sollen im Kampf zwar nicht aufgegeben werden, fordert Sachs von der jüdischen Jugend. Doch der über allem stehende Patriotismus korrespondiert durchaus mit der Erwartung von Kaiser Wilhelm II., über Parteigrenzen und religiöse Unterschiede hinweg sein Vaterland im Krieg zu verteidigen. Wie in vielen deutschen Städten, so überwiegt auch in München-Gladbach das Gefühl der „Befreiung aus einer unendlichen Langeweile.“41 Im Hause Jonas teilt man mit vielen anderen Deutschen die anfängliche Kriegsbegeisterung.42 Bereits am 28. Juli versammeln sich Schüler der Gladbacher Gymnasien auf dem Kaiserplatz, singen „patriotische Lieder, stimmen ein Hoch auf den Kaiser an“43 und ziehen geschlossen durch die Straßen. Doch ihre Begeisterung hält nicht lange vor. Denn es folgen mehr als 1500 Kampftage. Jede Minute zwischen 1914 und 1918 sterben in Europa vier Menschen an den Folgen der Kriegshandlungen. Auf heutige Geldwerte umgerechnet verfeuern allein die Kanonenrohre mehr als 600 Milliarden Euro. Die Not und auch der Hunger werden stetig größer in der Stadt, wenngleich die Textilindustrie und mit ihr die Firma Jonas zunächst vom Krieg profitiert, da sie durch ihre Heereslieferungen in Form von Militärdecken, Zeltbahnen und Brotbeutelstoffen förmlich aufblüht. Je länger aber der Krieg dauert, desto schlechter wird auch ihre Lage. Der Sommer 1914 legt nicht nur das Schicksal der Gladbacher, sondern das von Nationen, Völkern und Millionen Menschen in die Hände einiger weniger mächtiger Individuen. Diese mächtigen Menschen (wie etwa Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs der k.u.k-Armee) werden zu den Architekten der „Urkatastrophe“. Ihre Ursachen sind in Europa äußerst vielschichtig. Dazu zählt nicht zuletzt die bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende, imperialistisch und kolonialistisch geprägte Vorgeschichte des Krieges. Als Katalysator des Vernichtungspotenzials manövriert der Weltkrieg die Gewalt schließlich aus den Kolonien in die Hauptstädte und Landstriche Europas. 40 Jehuda Reinharz: Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882-1933. Tübingen 1981, S. 155. 41 Karl Boland: Mönchengladbach, Rheydt und der Erste Weltkrieg. In: Ders./Hans Schürings (Hg.): Der Erste Weltkrieg und Mönchengladbach. Kriegserfahrung und Alltagsbewältigung. Essen 2014, S. 41. 42 Jonas: Erinnerungen, S. 31. Mit Sicherheit waren es aber nicht 99,9% der Bevölkerung, wie Jonas glaubt, die erfreut über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren. 43 Löhr: Loca desiderata, a.a.O., S. 150.
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Zur „Urkatastrophe“ wird der Erste Weltkrieg vor allem deshalb, weil mit ihm endgültig das aus dem 19. Jahrhundert stammende europäische Staatensystem, bis dato austariert zwischen der Pentarchie, zerbricht. Das Staatensystem war bereits mehrfach ins Wanken geraten, in seinen Grundzügen aber bis zum Ersten Weltkrieg bewahrt worden. Der Krieg markiert darum den Endpunkt einer fast hundertjährigen Entwicklung der alten Welt. Hans Jonas schreibt in seinen Erinnerungen: „Die Nachwirkungen des verlorenen Weltkrieges machten sich überall bemerkbar – die Verkehrsmittel funktionierten nicht immer, man ging ungeheure Wege zu Fuß, es war kalt, und die Straßenbeleuchtung war schlecht. Es war klar, daß um einen herum Hunger und Not herrschten, aber auch die Heftigkeit und Frische neuer politischer Konzeptionen und Experimente waren zu spüren.“44 Ein weiteres besonderes Merkmal des Ersten Weltkrieges war seine Totalisierung – nicht zuletzt in intellektueller Hinsicht. Denn der Krieg wird nicht nur um klar benennbare Ziele, territoriale Gewinne und verbesserte Machtpositionen geführt. Vielmehr wird er zum Prinzipienkrieg zwischen Gut und Böse erhoben, zum Endkampf zwischen deutscher Kultur und westlich-dekadenter Zivilisation, wie es mehrere hundert deutsche Professoren in einem Aufruf an die Kulturwelt sehen.45 Der Krieg wird anderswo zur Entscheidungsschlacht zwischen Zivilisation und teutonischer Barbarei stilisiert. In der Academie Française erklärt der Philosoph Henri Bergson in seiner Rede vom 8. August 1914, der Krieg gegen Deutschland sei der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Jeder, so seine Auffassung, fühle das.46 Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg noch keine Woche alt. Sicherlich ist dieser Krieg nicht nur und auch nicht in erster Linie der Durchlauferhitzer für Völkermord und Eskalation militärischer Gewalt im 20. Jahrhundert; er markiert aber zweifellos eine Zäsur in der Gewaltgeschichte der Moderne. Denn rund 40% der Kriegstoten sind Zivilisten. Etwas Derartiges hatte es in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gegeben: „Für alle Großmächte gilt gleichermaßen, dass der nicht 44 Jonas: Erinnerungen, S. 90. 45 An die Kulturwelt! In: Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1975, S. 47-49. 46 Vgl. Gerhard Schneider: Barbaren, Boches, Hunnen. Bild- und Textpropaganda im Ersten Weltkrieg. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.): Visualität und Geschichte. Berlin 2011, S. 135-196, hier S. 160. Sieh dazu auch: Jürgen Nielsen-Sikora: Das Ende der Barbarei. Essay über Europa. Stuttgart 2012.
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enden wollende Kampf die Vorstellungen davon veränderte, wie ein Krieg zu führen sei. Die Mobilisierung und Kontrolle der Bevölkerung nahm erheblich zu, aber eben auch die Kriegsmethoden wurden immer radikaler.“47 Die Maßstäbe von Recht und Unrecht verschieben sich. Zugleich zieht der Krieg auch die Heimat in immer stärkerem Maße in Mitleidenschaft, insbesondere durch Hunger und Unterversorgung. Man spricht erstmals von der „Heimatfront“. Der Erste Weltkrieg hinterlässt in den beteiligten Staaten, vor allem aber in Deutschland, eine zerrissene Nation. Sie leidet auch nach dem Krieg an Hunger und hoher Arbeitslosigkeit. Unzufriedenheit über die Folgen des Krieges macht sich rasch breit. Ein tief greifender Strukturwandel der Gesellschaft ist die Folge. Die Brutalisierung und Entgrenzung des Krieges prägt jedoch auch in vielen anderen Staaten das innenpolitische Geschehen der Zwischenkriegszeit sowie die Vorstellungen, wie Kriege zukünftig zu führen seien. In Deutschland verbreitet sich zudem in nationalistischen Kreisen die Interpretation, man habe den Krieg verloren, weil man ihn nicht radikal genug geführt habe. Die Totalisierung des Zweiten Weltkrieges ist insofern, neben der zunehmenden Ideologisierung in der Zwischenkriegszeit, maßgeblich auf die Erlebnisse und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zurückzuführen. Hans Jonas ist bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs elf Jahre alt. Auch wenn er in diesem Alter noch nicht die Folgen des Krieges abschätzen kann, so besitzt er doch ein Gespür für die Bedeutung dessen, was in Europa vor sich geht: „Es brach also der Weltkrieg aus, und natürlich stimmte ein elfjähriger Junge in den allgemeinen Jubel ein, und es wurden die großen Siege gefeiert ... Die ersten Zweifel stellten sich ... während der Schlacht bei Verdun heraus, diesem schrecklichen gegenseitigen Morden.“48 Die Schlacht um Verdun beginnt Anfang 1916 und dauert das ganze Jahr über. Der deutsche Angriff auf die französische Stadt fordert viele Tote, ohne dass sich der Frontverlauf in all den Monaten des Kampfes bedeutend verändert hat. Im Niemandsland zwischen den Fronten bricht 47 Sönke Neitzel: Der historische Ort des Ersten Weltkriegs in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: http://www.bpb.de/apuz/182560/der-historische-ort-des-ersten-weltkrieges-in-der-gewaltgeschichte-des-20-jahrhunderts?p=all (Aufruf 15. Januar 2015). 48 Hans Jonas: Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann. Göttingen 1991, S. 35.
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durch den massiven Einsatz von Granaten, Geschützen und Minen die Hölle auf Erden herein. Im ersten Kriegsjahr aber ist die Wahrnehmung der Kriegshandlungen bei der Familie Jonas anders gelagert. Auch die Sorgen kreisen weiterhin eher um ganz private Dinge. So stellt die Familie bereits 1912 auf Vorschlag des Gymnasialdirektors Prof. Wilhelm Schurz einen Privatlehrer für Hans Jonas’ älteren Bruder Ludwig ein, der an einer seltenen Knochenkrankheit leidet und nicht mehr am Schulunterricht teilnehmen kann. Es handelt sich bei diesem Privatlehrer um Rudi Vitus,49 der später, nicht zuletzt dank des finanziellen Engagements der Familie Jonas, katholischer Priester wird und der Mutter Rosa so nahe steht als wäre er ihr eigenes Kind.50 Die innige Freundschaft zwischen Hans Jonas und Rudi Vitus währt bis zu dessen Tod Mitte der 1980er Jahre. Und auch in den 1960er Jahren tritt der Katholik unter anderem als Zeuge im Wiedergutmachungsprozess von Hans Jonas gegen das Deutsche Reich auf. Ich komme hierauf zurück. Ludwig Jonas, geboren 1901, stirbt jedoch bereits 1916 nach einem Sturz als Folge seiner versteiften Knochen. Die Mutter Rosa versinkt in eine länger währende Depression. Hans’ jüngerer Bruder Georg Adalbert, der von Geburt an körperlich beeinträchtigt ist, leidet stark unter den melancholischen Phasen seiner Mutter. Hans Jonas selbst findet einen Weg, mit der Trauer umzugehen. Vielleicht hilft ihm dabei nicht zuletzt der Malunterricht, der im Todesjahr des Bruders bei Karl Cohnen beginnt. Er entdeckt damals seine Liebe zur bildenden Kunst und macht bei Cohnen auch die Bekanntschaft mit dem Mönchengladbacher Kesselschmied und autodidaktischen Arbeiterdichter Heinrich Lersch, der 1916 den angesehensten deutschen Literaturpreis, den Heinrich-Kleist-Preis, erhält.51 Der junge Hans Jonas scheint sich blendend mit dem rund 14 Jahre älteren Dichter (1889-1936) zu verstehen. Und noch der alte Hans Jonas wird gern auf die Zeit im Atelier und die Liebe zu den Gedichten Lerschs zurückblicken. So zeigt sich Hans Jonas in einem Brief an Lerschs Sohn Edgar, der ihm in den 1980er Jahren einen wiedergedruckten Gedichtband des Vaters zukommen lässt, insbesondere tief beeindruckt von dem 1915 entstandenen Gedicht „Brüder“, das mit den 49 Nomen est omen: Mönchengladbach gilt nicht zuletzt als „Vitusstadt“, benannt nach dem Hl. Vitus, der im 3. Jh. u.Z. in Italien lebte. Zur Einstellung sieh auch HJ 10-1-27, Erklärung von Vitus vom 28. Oktober 1963. 50 Vgl. HJ 12-1-143, Brief vom 22. Dezember 1953. 51 Jonas: Erinnerungen, S. 50. Vgl. auch StAMg, Sammlung Hans Jonas 14/3490, Brief von Hans Jonas an Heinrich Lerschs Sohn Edgar vom 27. Oktober 1987.
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Worten endet: „Es irrten meine Augen. – Mein Herz, du irrst dich nicht: / Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht.“52 Lersch, der „Sänger des deutschen Krieges“ (Julius Bab), ist eine hochinteressante Figur. Im Oktober 1933 legt er neben Gottfried Benn, Arnolt Bronnen und 85 anderen Kulturschaffenden das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler ab und wird 1935, ein Jahr vor seinem Tod infolge eines Unfalls und einer daran anschließenden Lungenentzündung, Mitglied der NSDAP (Nr. 3701750).53 Bereits 1934 dichtet der Katholik Lersch: „Wir sind die Soldaten der braunen Armee / Die Kolonnen der Eisernen Zeit / Unser Vormarsch ging durch Blut und durch Weh / Im bitteren Bruderstreit.“54 Lersch ist ein begnadeter Redner, oft kränklich, körperlich von schwerer Arbeit gezeichnet und klein gewachsen. Gesellschaftsgeschichtlich gehört er zu jenen Zeitgenossen, bei denen sich „ein proletarisches Bewußtsein ins Nationale und Soziale aufspaltete – ein Vorgang, der durch den ersten Weltkrieg geweckt und im Nationalsozialismus, wenn auch stark verändert, wiederholt wurde ... Was ... bei Lersch und seiner Generation den nationalen und sozialen Begriff Volk so stark verklammerte, war ein nicht zu unterschätzendes Staatsgefühl. Es mochte sich auf eine revolutionäre Neuordnung richten oder auf eine allgemeine Umschichtung durch den Krieg – immer drückte es die existenzielle Bedeutung des einzelnen an ein Ganzes aus.“55 Lersch, einst ein weit über Gladbach und Deutschland hinaus bekannter Dichter, ist schon nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig in Vergessenheit geraten. Hans Jonas liest ihn als Jugendlicher während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik. Neben Lersch sind vor allem Kant, Schiller, Zweig, Werfel, Heine und Goll zu nennen, die ihn begeistern. Auch die Lektüre von Martin Bubers Reden über das Judentum56 und die Reden der Propheten, vermittelt durch die religionsgeschichtliche 52 Vgl. StAMg, Sammlung Hans Jonas 14/3490, Brief an Edgar Lersch vom 27. Oktober 1987. 53 Vgl. zum Aufruf: Der Aufbau 2 (1946), Heft 9, S. 972. Zur Mitgliedschaft sieh: Hans Schürings: Krieg und Literatur bei Heinrich Lersch und Gottfried Kapp. In: Ders./Karl Boland (Hg.): Der Erste Weltkrieg und Mönchengladbach, a.a.O., S. 197. Hans Jonas wusste davon nichts. Lerschs NSDAP-Mitgliedschaft wurde erst Jahre nach Jonas’ Tod bekannt. 54 Heinrich Lersch: Mit brüderlicher Stimme. Stuttgart 1934, S. 179. 55 Johannes Klein: Einleitung. In: Heinrich Lersch: Gedichte, a.a.O., S. 5f. 56 Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a.M. 1916.
ERSTER TEIL: LEBEN
Schule, eine Bewegung innerhalb der evangelischen Theologie (Wellhausen, Gunkel, Gressmann),57 beeinflussen Jonas nachhaltig. Hierzu berichtet er: „Was aus den Propheten sprach, war für mich das Wort Gottes, aber als Menschenwort.“58
III „Ich gehöre einer Minderheit an“
Jonas wird es später als eine lebensprägende Erkenntnis charakterisieren, dass das Wort Gottes sich nur durch den Menschen offenbaren kann. Ihn persönlich erfüllt es mit Stolz, der Tradition der Propheten anzugehören und ihr verpflichtet zu sein.59 1922 schreibt er in einem Artikel für die Zeitschrift Jüdische Jugend: „So sehr auch die Details, mit denen die Propheten sich das göttliche Strafgericht ausmalten, die visionär erschauten Einzelscenen von der großen Katastrophe, bei den verschiedenen Propheten und in ihren verschiedenen Weissagungen variieren – wenn die dem Volk bevorstehende göttliche Strafe in ihrer ganzen Fürchterlichkeit in letzter Konzentrierung und Eindringlichkeit gekennzeichnet werden soll, so lautet sie: »Verbannung, Zerstreuung, Heimatlosigkeit«.“60 Jonas zitiert hier insbesondere das Bild, das die Propheten vom Zustand eines Volkes im Galuth61 malen und rekurriert sogleich auf die Idee der Wiedersammlung (Zionismus) eines Rests (Schear Jaschub): „Die Strafe der Exilierung und Zerstreuung wird von der Gottheit nicht negativ, nur als Strafe verhängt, sondern zugleich und vor allem mit der positiven Bestimmung, daß dieses unerhörte Schicksal das verirrte Volk zur inneren Einkehr und zur Umkehr veranlasse, daß es also die Ursache, durch die es notwendig wurde, und damit sich selbst aufhebe: alsdann konnte ein geläutertes, durch die Macht der Leiden zur echten Selbstbestimmung gebrachtes Volk aus der Nacht des Galuth in seine Heimat zurückkehren.“62 57 Jonas: Erinnerungen, S. 65. 58 Ebd., S. 66. 59 Ebd., S. 68. Zu diesen Propheten gehören unter anderem Hesekiel, Deuterojesaja, Jeremia, Amos und Hosea. 60 Hans Jonas: Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten. Zuerst in: Jüdische Jugend, hg. vom KJV Berlin. Berlin 1922. Zitiert nach KGA III/2, S. 3-17, hier S. 5. Der Aufsatz ist von Klaus Borchers Ende der 1980er Jahre in der Germania Judaica in Köln wiederentdeckt worden. Vgl. Philosophisches Archiv der Universität Konstanz NL Hans Jonas, HJ 16-5. 61 Galuth bezeichnet die Verbannung des jüdischen Volkes aus Jerusalem. 62 Hans Jonas: Die Idee, a.a.O., S. 12f.
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Was lässt sich zum Hintergrund dieser von Jonas vorgebrachten Worte sagen? Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v.u.Z. und der anschließend einsetzenden Deportation der administrativen und kulturellen jüdischen Elite unter dem Kommando des Babyloniers Nebusaradan, die das Ende des davidischen Königtums und ein lange währendes „babylonisches Exil“ für die Juden bedeutete, kam es im Jahre 70 u.Z. auch zur Brandschatzung des zweiten, Herodianischen Tempels.63 Diesmal stürmten und zerstörten römische Legionäre die wieder aufgebaute Heilige Stadt und zwangen viele der dort lebenden Juden zur Flucht. Der Jerusalemer Tempel, von dem heute nur noch die westliche Klagemauer übrig ist, war von nun an nicht länger Mittelpunkt der jüdischen Identität. Der Galuth begann. Eine Generation später wurde auch der von dem jüdischen Rebellen Simon bar Kochba gegen das Römische Reich unter Kaiser Hadrian geführte Aufstand niedergeschlagen. Jerusalem war nun endgültig eine römische Garnisonsstadt. Eine zweite große Auswanderungswelle war die Folge. Über Jahrhunderte hinweg blieb Jerusalem für die Juden ein utopischer Ort, die Tempelzerstörung wegweisend für das vertriebene Judentum. Die Diaspora (Verbannung) wurde fortan zum Charakteristikum der europäisch-jüdischen Geschichte. Zerstreut in alle Welt waren die Juden zur Wanderschaft gezwungen. Und nachdem im frühen 4. Jahrhundert durch die Wende der konstantinischen Religionspolitik der Weg zum allmählichen Aufstieg des Christentums geebnet wurde, etablierte sich auch ein zunehmend negatives Judenbild unter den Christen.64 Da die Katholische Kirche überzeugt war, das Heil sei von den Juden auf die Christen übergegangen, entwickelte sich als Teil der christlichen Theologie der Antijudaismus. Die Darstellung der Juden als Gottesmörder war ohnehin schon seit Langem präsent.65 Dieses Bild der Juden hatte seinen vorläufigen Höhepunkt im 11. Jahrhundert. Unter Papst Urban II. eskalierte der Hass auf die Juden. Das Ober63 Vgl. Barbara Schmitz: Geschichte Israels. Paderborn 2011; Hans Küng: Das Judentum. Wesen und Geschichte. München 2007; Haim Hillel Ben-Sasson (Hg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3 Bände. München 1980. 64 Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2008. Hingegen betont Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933. München 1989, sehr viel stärker die Schuld des Christentums am Judenhass. 65 Vgl. David Nirenberg: Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München 2015.
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haupt der Kirche rief zum Kreuzzug auf und behauptete, jede Zeile des Alten und Neuen Testamentes zeige, Jerusalem sei als Sitz aller Heiligtümer und Geheimnisse von der Befleckung anderer Religionen rein zu halten.66 Das richtete sich nicht nur gegen die Muslime, sondern gleichsam gegen die Juden, die in der Folge unter dem christlichen Mob zu leiden hatten. Antijüdische Exzesse, Beschimpfungen, Ghettoisierung, Stigmatisierung und Massenmorde nahmen überhand. Hinzu kam das rasche Bevölkerungswachstum im Westen, das die Juden erneut veranlasste, in den Osten Europas auszuwandern. Bald entstand so das christlich geprägte Bild vom ewig wandernden Juden „Ahasver“.67 Der Legende nach handelt es sich bei Ahasver um einen jüdischen Schuster aus Jerusalem. Als Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung vor dessen Haus ausruhen wollte, verjagte ihn der Jude, weshalb er seither als „ewiger Jude“ rastlos durch die Welt ziehen musste. Als die Pest ausbrach, fand man den Sündenbock wiederum im Juden, verfolgte und vertrieb ihn – so wie auch ein weiteres Mal nach dem Ende der Reconquista. In Kastilien, Aragon und Granada standen die Juden vor der Wahl, sich taufen zu lassen oder abermals eine Flucht ohne Ende auf sich zu nehmen: „Es gibt viele Hinweise“, schreibt der amerikanische Historiker David Nirenberg, „dass zahlreiche Akteure von 1391 die Vision einer von Juden befreiten christlichen Gesellschaft anstrebten. Die Rufe »lasst den Juden konvertieren oder sterben«, mit denen der Mob jüdische Wohnviertel angriff, und die langen (manchmal monatelangen) Belagerungen von Festungen, in denen Juden Zuflucht gefunden hatten, legen nahe, dass die Leidenschaft der Angreifer von Visionen einer Welt ohne Juden befeuert wurde.“68 Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich im Nachgang der französischen Aufklärung ein Reformjudentum. Es träumte von einem Ende des Ghettojudentums in den europäischen Staaten und Gesellschaften und lehnte nicht nur die jüdische Tradition ab, sondern verzichtete ebenso auf die jüdischen Rituale. Doch was blieb dann noch übrig vom Judentum? – Die Juden sollten Bürger der reformierten Nationalstaaten werden. Diese Möglichkeit hatten sie nicht nur – wie Benjamin Jonas – ab 1812 in Preußen, sondern ab 1867 auch in der k.u.k. Doppelmonarchie, die alle Juden 66 Aufruf zum 1. Kreuzzug beim Konzil von Clermont 1095. Sieh dazu allgemein: Nikolas Jaspert: Die Kreuzzüge. Darmstadt 2003. 67 Vgl. Avram Andrei Baleanu: Ahasver. Geschichte einer Legende. Berlin 2011; Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002. 68 Nirenberg: Anti-Judaismus, a.a.O., S. 227f.
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gleichstellte. Das Deutsche Reich zog 1871, unmittelbar nach seiner Gründung, nach. Auf Grund der justiziellen, wirtschaftlichen und militärischen Gleichstellung eröffneten sich den Juden neue Karrierewege; ein jüdischer Nationalpatriotismus keimte vorübergehend auf. Vor allem die assimilierten Westjuden wurden zu Schrittmachern der europäischen Moderne. Die Ostjuden hingegen hielten viel stärker an ihrer jüdischen Tradition fest. Mit dem sozialen Aufstieg der assimilierten Juden wuchs zugleich auch der Neid ihnen gegenüber. Bereits der Gründerkrach 1873 schürte neue Ressentiments, und Heinrich von Treitschke sah in den Juden während des Berliner Antisemitismusstreits gar ein Unglück für die deutsche Kultur. Ihre Emanzipation sei ein offenbares Unrecht, „ein Abfall von den guten Traditionen unseres Staates.“69 Aber auch die Ostjuden traf das Schicksal in diesen Jahren hart. Sie mussten aus Russland vor den antisemitischen Pogromen unter Zar Alexander III. fliehen. Die flüchtenden Ostjuden waren verarmt, strenggläubig und nirgends daheim. Viele von ihnen wanderten nach Palästina aus, das damals noch ein Teil des untergehenden osmanischen Reiches, und als einziges Land bereit war, Juden aufzunehmen. Es war die Zeit der Dreyfus-Affäre, die für den österreichischen Journalisten und Schriftsteller Theodor Herzl Anlass bot, über einen „Judenstaat“ nachzudenken. Herzl plädierte in seiner „visionären Schrift“ (Küng) am Ende des 19. Jahrhunderts dafür, auf den Berg Zion zurückzukehren und dort eine Heimstätte des jüdischen Volkes zu gründen.70 Die durchaus problematische Idee des Zionismus (Nathan Birnbaum), auf Basis einer homogenen Religionsgemeinschaft einen Staat zu gründen, stieß insbesondere bei den Ostjuden auf gewisse Sympathie und war seit dem 17. Jahrhundert virulent. Nun endlich sollte sie in Palästina, damals noch Teil des osmanischen Reichs, Wirklichkeit werden. Herzl zog auch Südamerika (Argentinien) als neue Heimat in Erwägung, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Denn nicht zuletzt hatte der Mäzen und Sammler Baron Edmund de Rothschild bereits damit begonnen, den Erwerb von Teilen des Heiligen Lan69 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher 44/1879, S. 575. Vgl. auch Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. München 2003. 70 Dazu Yvonne Meybohm: David Wolffsohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator: Eine biografische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897-1914). Göttingen 2013; Shlomo Avineri: Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates. Frankfurt a.M. 2016. Zur Geschichte Palästinas sieh Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel. München 2015.
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des zu finanzieren, während in Europa verschiedenste Rassentheorien von Wilhelm Marr bis Arthur de Gobineau die Juden als minderwertige Wesen diffamierten. Herzl allerdings hatte stets ein freies Stück Land im Blick; eine schrittweise Infiltration eines bereits besetzten Landes lehnte er ab. Auch sollte sein Judenstaat „kein hierokratischer Gottesstaat“ sein, „sondern ein moderner, freiheitlicher und sozial gerechter Staat ..., der Toleranz verpflichtet nach allen Seiten.“71 Mit der Gründung Tel Avivs, dem „Frühlingshügel“, im Jahre 1909 schien es zunächst tatsächlich so, als gäbe es eine Lösung der Judenfrage und die Hoffnung auf eine neue Heimat. Hingegen spitzte sich für die Westjuden die Lage nach dem Krieg dramatisch zu. Die von vielen verachtete erste deutsche Demokratie werde von Juden dominiert, hieß es. Sie seien schuld an der Schmach von Versailles. Es war diese Weimarer „Judenrepublik“72, in der nicht einmal 1% der Gesamtbevölkerung Juden waren. Der Judenhass wurde zum Mittel der Selbstidentifizierung aller Heimatlosen des Krieges. Antisemitismus war das Betäubungsmittel all derer, die sich vor dem Fortbestand des Status Quo fürchteten. Antisemitische Verschwörungstheorien waren die Folge.73 In diesen Jahren nach dem Ende des Krieges wird Hans Jonas Zionist in seinem inzwischen zur belgischen Besatzungszone gehörenden Geburtsort. Beflügelt hat ihn vor allem die Lektüre von Martin Bubers bereits erwähnten „Drei Reden über das Judentum.“74 Buber gründet Ende des 19. Jahrhunderts eine zionistische Ortsgruppe und nimmt als Delegierter an den zionistischen Kongressen teil. Er gilt seinerzeit als Vertreter eines auf Achad Ha’am zurückgehenden Kulturzionismus, dessen Ziel eine erneuerte hebräische Kultur als Zentrum der jüdischen Gesellschaft war. Rettung des Judentums statt Rettung der Juden, wie bei Theodor Herzl, wird zum Losungswort des Kulturzionismus. Zwecks der geistigen Erneuerung des Judentums begründet Buber im Jahr 1902 darüber hinaus den Jüdischen Verlag. Nach seiner Dissertation im Juli 1904 zieht er sich zunächst mehr und mehr aus der zionistischen Parteiarbeit 71 Küng, Judentum, a.a.O., S. 352. 72 Vgl. Ursula Büttner: Weimar – die überforderte Republik 1919-1933. Stuttgart 2010, S. 183ff. 73 Dazu Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1998. 74 Buber: Drei Reden, a.a.O.
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zurück. In der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wächst sein Interesse am Zionismus jedoch wieder. Auch seine drei Reden, gehalten zwischen 1909 und 1911, bringen dies ein wenig verblümt zum Ausdruck. Buber fragt, was es heißt, Jude zu sein, reflektiert die Vergangenheit und die Zukunft des Judentums und plädiert schließlich für eine Erneuerung des Judentums. In seiner ersten Rede fragt er: „Wo gibt es eine Gottesinbrunst von Juden, die sie hinausjagte aus dem Zweckgetriebe der Gesellschaft in ein wahrhaftes Leben, in ein Leben, das Gott bezeugt, ihn aus einer Wahrheit zu einer Wirklichkeit macht, weil es »in seinem Namen« gelebt wird?“75 Denn, so Buber weiter, das jüdische Volk habe seit Jahrhunderten seinen Ort verloren und bilde keine einheitliche Sprach- und Lebensgemeinschaft, sodass es sich stets die Frage nach der Berechtigung seines Daseins anhören müsse.76 In der zweiten Rede fordert er deshalb: „Wir sollten endlich Jude sein, wie die Propheten sie forderten, das heißt: unbedingte Menschen!“77 In der dritten Rede erläutert er dies: „Der geistige Prozeß des Judentums vollzieht sich in der Geschichte als das Streben nach einer immer vollkommeneren Verwirklichung dreier untereinander zusammenhängender Ideen: der Idee der Einheit, der Idee der Tat und der Idee der Zukunft.“78 Und er schließt: „Das jüdische Volk ... muß das absolute Leben, es muß das lebendige Judentum wiedergewinnen.“79 Hans Jonas selbst ist in einem zionistischen Zirkel in seiner Geburtsstadt aktiv – gegen den Willen des Vaters, der als Ortsgruppen-Vorsitzender des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (als auch später als Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde München-Gladbach, Januar 193080) vor allem Sorge vor neuer antisemitischer Hetze hat. Zionistische Aktivitäten und die Idee des Centralvereins, Judentum und Deutschtum miteinander zu vereinbaren, widersprachen sich in den Augen von Gustav Jonas, 75 Ebd., S. 13. 76 Ebd., S. 36. 77 Ebd., S. 65. 78 Ebd., S. 71. 79 Ebd., S. 96. 80 StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 II, Brief vom 21. Januar 1930 auf den Bögen der Firma B. Jonas / Mönchengladbach. Vgl. auch: Erinnerungen S. 70. Der 1893 in Berlin gegründete Centralverein setzt sich für die Beibehaltung der Gleichstellung von Juden im Deutschen Reich ein und kämpft ab 1933 vermehrt gegen antisemitische Hetze. Im Zuge der Reichspogromnacht wird der Verein aufgelöst. David Wolffsohn gehört in Köln der Ortsgruppe an, ab 1913 ist eine Doppelmitgliedschaft von CV und ZVfD nicht mehr möglich, vgl. Meybohm, a.a.O.
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der als entschlussfreudig und zielstrebig gilt, mitunter ein wenig herrisch ist, doch seinem Sohn grundsätzlich keine Steine in den Weg legen will.81 Die zionistische Bewegung schöpft am Ende des Ersten Weltkrieges neue Hoffnung. Grund ist die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917. Großbritannien in der Person des damaligen Außenministers Arthur James Earl of Balfour erklärt sich in dieser Deklaration gegenüber dem Präsidenten der English Zionist Federation, Lord Lionel Walter Rothschild, einverstanden damit, in Palästina eine nationale Heimstätte des jüdischen Volkes aufzubauen.82 Die Rechte der nicht-jüdischen Bevölkerung sollen allerdings unangetastet bleiben. In zionistischen Kreisen sieht man die Deklaration als Zugeständnis der zionistischen Ziele an, zumal die Deklaration in das Völkerbundmandat für Palästina aufgenommen wird. Dieses legt die Bedingungen fest, unter denen die vorläufige britische Verwaltung des Landes unter Wahrung der Rechte der jüdischen und arabischen Bevölkerung abgewickelt werden soll. Wenngleich die Deklaration mindestens bis zur Londoner Tagung des Völkerbundes 1922 nur ein Stück Papier bleiben sollte, lässt die Jüdische Rundschau bereits am 23. November 1917 verlautbaren, die Erklärung der englischen Regierung müsse in jüdischen Kreisen „wirkliche Befriedigung erwecken“. England habe sich „in so klarer und unzweideutiger Weise zur Anerkennung der jüdischen Ansprüche in Palästina entschlossen“ 83, dass kein Jude mehr berechtigt sei zu behaupten, der Zionismus sei politisch nicht ernst zu nehmen. In diesem Kontext ist zu bedenken, dass sich innerhalb des Judentums die Geister bezüglich des zionistischen Bestrebens schieden. So sprach sich etwa der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten für einen Verbleib in Deutschland aus, „während andere ihre Aufgabe darin sahen, eine möglichst rasche Auswanderung ihrer Glaubensgenossen zu erreichen.“ Die zionistischen Organisationen wurden zunächst auch von Nationalsozialisten unterstützt, „weil der Wille zur Auswanderung ihren – damaligen – eigenen Zielen sehr entgegenkam.“84 Insofern war der Zionismus tatsächlich ernst zu nehmen, konnte man sich zumindest eine Zeit lang sowohl des nationalsozialistischen als auch des britischen Supports gewiss sein. Auch wenn es im Laufe 81 Vgl. HJ 20-1-69, Brief Gerald an Hans vom 6. Dezember 1935. 82 Zur Politik vgl. Markus A. Weingardt: Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949. Frankfurt a.M./New York 2002. 83 Zitiert nach Reinharz: Dokumente, a.a.O., S. 203. 84 Juliane Wetzel: Auswanderung und jüdisches Selbstverständnis. In: Günter Stemberger (Hg.): Die Juden. Ein historisches Lesebuch. München 1990, S. 273.
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der Jahre immer wieder enttäuschte jüdische Stimmen über Englands tatsächliche Israel-Politik gegeben hat, so muss doch immerhin zugestanden werden, dass die Gründung Israels im Mai 1948 auf britischem Mandatsgebiet ohne die Balfour-Deklaration nicht denkbar gewesen wäre: „Wir waren“, so resümiert Hans Jonas, „natürlich pro-englisch, weil England uns die Tore Palästinas geöffnet hatte.“85 Zwar sind die Tore nach Palästina also offen, doch gerade deshalb gibt es aus zionistischer Sicht so viel dort zu tun. Ein Handlungsfeld von besonderer Bedeutung ist für den Zionisten Hans Jonas das Schulwesen in Palästina. Der jüdische Historiker Salo W. Baron betont diesbezüglich, der Bildungsgedanke stehe im Judentum an zentraler Stelle, denn Bildung sei eine Verpflichtung sowohl für die Familie als auch für die Gemeinschaft.86 Aus diesem Grunde setzt sich Hans Jonas 1922/23 (wie später auch Robert Weltsch und Martin Buber) in einem rund 50-seitigen Aufsatz historisch und systematisch mit dem Thema auseinander.87 Im geschichtlichen Teil datiert er die Anfänge des palästinensischen Schulwesens auf die 1850er Jahre. Wichtigstes Bildungsinstrument der damaligen Zeit seien die Missionsschulen gewesen. Ihnen folgten alsbald die Volksschulen aller in Palästina ansässigen Konfessionen. Dahinter stand nicht zuletzt ein politischer Gedanke, denn die Schulen galten als das Expansionsmittel par excellence. Mit der religiösen Interessenpolitik, die über die Schulen gesteuert wurde, gingen zudem auch nationale Interessen einher: Die Wahl der Unterrichtssprache und des Lehrplans machten deutlich, dass Schulpolitik in Palästina stets Machtpolitik war. 1917 übernahmen die Engländer die Verwaltung des palästinensischen Schulwerks. Darüber hinaus wurden Elementarschulen in allen Distrikten eröffnet und das Arabische zur Unterrichtssprache gemacht. 1919 entstand in Jerusalem zudem ein Lehrer- und Lehrerinnenseminar. In Bezug auf jüdische Schulen hebt Jonas hervor, dass lange Zeit nur welt- und lebens85 Jonas: Erinnerungen, S. 91. Sein Engagement in der britischen Armee rührt nicht zuletzt von diesen Erfahrungen her. 86 Salo W. Baron: From a Historian’s Notebook. European Jewry before and after Hitler. In: Albert H. Friedlander: Out of the Whirlwind. A Reader of Holocaust Literature. New York 1976, S. 142. 87 Hans Jonas: Das Schulwesen in Palästina. HJ 13-17-1. Er bezieht sich darin auf Entwicklungen von 1921 und spricht vom noch nicht eröffneten Technion in Haifa (etabl. 1924), sodass davon auszugehen ist, dass der Aufsatz 1922/23 entstanden ist. Ein Ausschnitt findet sich in: Gerhard Holdheim: Zionistisches Handbuch. Berlin 1923, S. 351-358. Der gesamte Abdruck nun in KGA III/2, S. 19-54.
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fremde Anstalten existierten (Chedarim, Jeschiboth, Talmud-Thoras). Doch auch heute noch, zu Beginn der 1920er Jahre, bestünden diese Schulen des alten Systems weiterhin. Ein modernes jüdisches Schulwesen habe mit starken Widerständen und Anfeindungen des orthodoxen Jischuw zu kämpfen. Dies verhindere, dass Schulen dem „national-kulturellen Eigencharakter der jüdischen Gemeinschaft angepasst“88 werden könnten. Es fehlten ein einheitlicher Lehrplan, fachlich abgesicherte Unterrichtsmethoden und ein klar erkennbares Bildungsziel. Doch der junge jüdische Nationalismus forciere die Gründung einer nationalen Einheitsschule. Dazu gehöre nicht zuletzt die „Anerkennung des Hebräischen als lebendiger Sprache“89 (1909 wird in Jerusalem ein hebräisches Gymnasium gegründet). Seit Beginn des neuen Jahrhunderts erfuhr das Hebräische tatsächlich verstärkt Anerkennung. Doch kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlief dieser Trend wieder gegenläufig. Es entbrannte ein regelrechter Kulturkampf um das Hebräische, und ein eigenes, stark vereinheitlichtes, sich rasch ausbreitendes Schulwerk der zionistischen Organisation in Palästina entstand. Hans Jonas merkt nun im systematischen Teil seines Aufsatzes an, dass zu Beginn der 1920er Jahre rund 17.000 jüdische Schüler in jüdischen Schulen unterrichtet werden. Abermals kritisiert er die noch existierenden Talmud-Thoras als „eine rückständige, mechanisch geistlose, pädagogische Methode.“90 Die Schüler müssten unter unhygienischen Bedingungen lernen. Der Unterricht beschränke sich allein auf die Vermittlung der Thora. Auf jedwede Erklärung ihres Sinns werde verzichtet. Ein Schreibunterricht werde kaum oder überhaupt nicht erteilt. Diese nur Jungen zugänglichen Schulen vermittelten, so sein Fazit, den Schülern nicht einmal „die elementarsten Kenntnisse und Grundlagen für das Leben.“91 Am Ende fordert er: „Bessere Resultate dürfen erwartet werden, wenn der organisierten Vertretung der palästinensischen Judenheit das Recht erteilt wird, von der jüdischen Bevölkerung Steuern zu erheben.“92 Im Zusammenhang mit seinem zionistischen Engagement spricht er in seinen Erinnerungen auch die Bedeutung des Ostjudentums für die zionis88 HJ 13-17-1, S. 5. 89 Ebd., S. 8. 90 Ebd., S. 21. 91 Ebd., S. 22. 92 Ebd., S. 50.
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tische Bewegung in West- und Mitteleuropa an, betont aber zugleich, über die Sorgen der arabischen Bevölkerung hätte sich in seinem zionistischen Kreis niemand ernsthaft Gedanken gemacht.93 Das stimmt freilich nicht ganz. Kein Geringerer als Theodor Herzl selbst ist zeitlebens dafür eingetreten, dass „im zukünftigen jüdischen Gemeinwesen die arabische Bevölkerung Palästinas vollkommen gleichberechtigt und am politischen Leben des Landes teilnehmen sollte.“94 Auch gibt es damals durchaus weitere zionistische Persönlichkeiten, die das Problem des Interessenkonflikts zwischen Juden und Arabern voraussehen. So etwa Georg Landauer, wie Hans Jonas ebenfalls Mitglied im zionistischen Wanderbund Blau-Weiß.95 Beide kommen in den 1920er Jahren in Köln zusammen. Die Stadt war vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Hochburg des Zionismus, da nicht nur der aus Litauen stammende Kaufmann David Wolffsohn, Mitarbeiter und Nachfolger Herzls in der Zionistischen Organisation, sondern auch der Rechtsanwalt Max Bodenheimer in Köln wirkten. 1893 gründeten beide den Kölner Verein zur Förderung von Ackerbau und Handwerk in Palästina. Auf Bodenheimers Initiative entstand zudem Ende des 19. Jahrhunderts in der Rheinmetropole die Zionistische Vereinigung für Deutschland.96 Der von Hans Jonas unterstützte zionistische Jugendbund Blau-Weiß, 1912/13 gegründet, griff die bekannte Meißnerformel auf, um seine Mitglieder zu jüdischer Gesinnung anzuhalten. Die Meißnerformel war so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner der Freideutschen Jugend, die nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten wollte.97 Im Leitfaden von 1913 heißt es, eine Umwälzung des jüdischen Gemütslebens sei das Ziel von Blau-Weiß.98 93 Jonas: Erinnerungen, S. 76. Die Bedeutung des Ostjudentums für den Aufbau eines jüdischen Staates war allgemein Konsens unter den westeuropäischen Zionisten. 94 Avineri: Theodor Herzl, a.a.O., S. 11. 95 Vgl. Suska Döpp: Jüdische Jugendbewegung in Köln 1906–1938. Münster 1997. Hans Jonas trat laut eigener Aussage 1924 in den Blau-Weiß ein. Vgl. Erinnerungen, S. 95. Wahrscheinlicher ist, dass er den Eintritt in seiner Berliner Zeit zwischen 1921-1923 vornahm. Denn er selbst siedelt sein Studium in Berlin im Jahr 1924 an. 96 Zu Wolffsohn und Bodenheimer sieh: Meybohm, a.a.O. 97 Dazu Christopher Beckmann/Jürgen Nielsen-Sikora: Bund Neudeutschland. Entstehung, Protagonisten, Netzwerke. In: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen. Göttingen 2015, S. 281-302. 98 Vgl. Reinharz: Dokumente, a.a.O., S. 115. Sieh auch: Yehuda Eloni: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987, S. 448ff.
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Stark angelehnt an den Wandervogel erhob der Blau-Weiß den Anspruch, die jüdische Wanderbewegung schlechthin zu sein. Noch entscheidender aber war, dass Landauer auch einer der Gründer der deutschen Sektion der Organisation HaPoel HaZair („Der junge Arbeiter“) war. Um 1906 entstanden, will diese jüdisch-sozialistische Arbeiterpartei ganz im Geiste des Programms der Zionistischen Organisation die Juden in der Hauptsache als Bauern in Palästina ansiedeln. Die Landarbeit soll die Juden geistig und moralisch erneuern. Der HaPoel HaZair bemühte sich schon früh (wie auch Martin Buber) um eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas und übte starken Einfluss auf die jüdischen Zionisten in Deutschland aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehört Landauer auch der Jewish Restitution Successor Organization an, die das Restitutionsverfahren organisiert, zu welchem Deutschland von den Behörden der Westmächte gesetzlich verpflichtet wurde. Dabei ging es um die Entschädigung des enteigneten Vermögens von jüdischen Privatpersonen sowie des Vermögens von jüdischen Institutionen und Organisationen in der Zeit des Nationalsozialismus. Ab 1951 vertritt dann die Jewish Claims Conference die Entschädigungsansprüche der überlebenden Juden. Kommen wir zunächst aber nochmals zurück auf die Zeit kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs: Neben seinen jugendpolitischen Interessen beschäftigt sich Hans Jonas damals mit allgemein-theologischen, philosophischen und kunstgeschichtlichen Fragen, während sein Vater wie viele andere Unternehmer in der Weimarer Republik mit länger währenden Streikphasen der Belegschaft zu kämpfen hat.99 Zum Studium geht Hans Jonas 1921 nach Freiburg, wo er die Seminare von Edmund Husserl (1859-1938) und Martin Heidegger (1889-1976) besucht. Zeitgleich wird er Mitglied in der Freiburger zionistischen Studentenverbindung IVRIA. Trotz der jüdischen Netzwerke, denen er angehört, wird er das Gefühl des Außenseitertums nicht los: „Ich gehöre einer Minderheit an, und man darf sich nichts gefallen lassen, wir gehören nicht ganz dazu. Dieser starke Abwehrstolz ist mir mein ganzes Leben geblieben.“100
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Löhr: Desiderata, a.a.O., S. 73.
100 Jonas: Erinnerungen, S. 59. Auch gegen Kollegen konnte er später gut austeilen. Gadamer war ihm der „kalte Fisch“, Mary McCarthy eine „certified bitch“, Quispel „gelehrsam, aber mittelmäßig“. Band V der KGA mit den Briefen und Gesprächen wird dies dokumentieren.
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I Wissenschaftliche Prägungen
Kurz nach dem Abitur in München-Gladbach macht Hans Jonas seine ersten wissenschaftlichen Erfahrungen im Sommer 1921. Er geht als Student an die Universität Freiburg, weil er den damals wichtigsten deutschen Philosophen, Edmund Husserl,101 hören möchte. Husserl hatte 1916 dort die Nachfolge des Neukantianers Heinrich Rickert angetreten und versuchte, die philosophische Phänomenologie als strenge Wissenschaft zu etablieren: „Phänomenologie bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.“102 Der mit 27 Jahren zum Christentum konvertierte Jude Husserl lockt viele Philosophie-Studenten nach Freiburg. Hans Jonas trifft dort ebenfalls das erste Mal auf Günther Anders. Für beide entwickelt sich daraus eine lebenslange, von vielen Missverständnissen und Krisen geschüttelte Freundschaft. Da das Studium der Judaistik in Freiburg jedoch nicht möglich ist, geht Jonas im Wintersemester 1921/22 nach Berlin, wo er seine Studien an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, einem liberalen Rabbinerseminar, sowie an der Friedrich-Wilhelms-Universität fortsetzt und bis zum Wintersemester 1922/23 bleibt. In Berlin trifft er erneut auf Günther Anders, mit dem er seine Freundschaft intensiviert. 101 Ein persönliches Verhältnis zwischen Jonas und Husserl scheint jedoch nicht bestanden zu haben. In Husserls Briefwechsel findet sich nur einmal der Name Jonas. Eduard Spranger erwähnt ihn in einem Brief an Husserl vom 8. November 1923 und legt ein gutes Wort für den jungen Studenten ein, der unbedingt an Husserls Seminar in Freiburg teilnehmen möchte. Jonas sei zwar noch kein Meister in Sachen Phänomenologie, doch ein durchaus begabter Philosophiestudent, der den elitären Zirkel Husserls gewiss nicht störe. Vgl. Husserliana III Briefwechsel, Band VI Philosophenbriefe, S. 421. 102 Husserliana IX, S. 277.
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Schon im ersten Berliner Semester entsteht eine ausführliche Mitschrift „über die Idealität der Zeit“,103 in der er sich kritisch mit Kants transzendentaler Ästhetik auseinandersetzt. Kants erkenntnistheoretischen Zugriff auf die menschliche Wahrnehmung greift Jonas mit dem Zweck an, darzulegen, „daß die Zeit, als eine Bestimmung des aktuellen Bewußtseins selber ... einen ganz anderen und gesteigerten Anspruch auf objektive Fakticität erhebt als der Raum, und daß sie daher eine durchaus andere Behandlungsweise erfordert als dieser, daß also der schematische Parallelismus, den Kant in der Erörterung dieser beiden angewandt hat, unmöglich dem fundamentalen Unterschied, der zwischen ihnen besteht, gerecht wird.“104 Der 20-jährige Jonas interpretiert in diesen ersten Versuchen wissenschaftlichen Arbeitens die Zeit als die „tatsächliche ... Form, in der sich mein Ich einzig aktualisiert, die faktische Vollzugsform meiner gesamten Innerlichkeit.“105 Ein wenig von sich selbst überrascht, stellt er am Ende fest, es sei gewiss ein „Unterfangen, sich mit Kant auseinanderzusetzen, und zumal für einen Anfänger in der Philosophie.“ Doch wolle er die Widerstände, die sich hinsichtlich Kants Gedankengängen bei ihm auftun, „zu klarer Formulierung“ erheben. Denn erst die Äußerung von Bedenken ermögliche eine fruchtbare Diskussion. Insofern sei seine kurze Abhandlung per se gerechtfertigt, „selbst wenn jene Auffassung eine irrtümliche sein sollte.“106 Jonas besucht in Berlin auch die Seminare des Pädagogen Eduard Spranger, hört den Rabbiner und Religionsphilosophen Julius Guttmann, den evangelischen Theologen Ernst Troeltsch, den Historiker Eduard Meyer, den Alttestamentler Ernst Sellin, den Dozenten für Bibelwissenschaft und Semitische Philologie Harry Torczyner, den Rabbiner Leo Baeck, den Talmudisten Eduard Baneth und den Althistoriker Eugen Täubler. Erstaunt stellt er in seinen Erinnerungen fest: „Berlin als Weltstadt war damals kolossal, wenn auch durch Unruhen, Konflikt und Not und die widerstreitendsten Bewegungen geschüttelt. Es war dort wirklich etwas los.“107 In der Tat ist Berlin in den 1920er Jahren kulturelles Zentrum in Deutschland und politisches Experimentierfeld, eine hektische, laute und verkehrsreiche Metropole, eine der größten Städte Europas mit Vergnügungsvierteln, 103 Vgl. HJ 1-17-2. 104 HJ 1-17-2, S. 6. 105 Ebd., S. 19. 106 Ebd., S. 24. Letzter Teilsatz im Original unterstrichen. 107 Jonas: Erinnerungen, S. 89.
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Abb. 3: Hans Jonas als Student, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Abb. 4: Hans Jonas als Student, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Sechstagerennen und Fußballspielen. Berlin zeigt sich damals als eine Stadt der Widersprüche: Es gibt die Armenviertel und die Haute Volée. Rechte und Linke, Intellektuelle und einfaches Volk, kommen hier zusammen. In Berlin kommt es im Jahre 1923 auch zur ersten Begegnung mit Gershom Scholem während einer Versammlung von jüdischen Studentenverbindungen. Die Versammlung läuft jedoch ohne direkten persönlichen Kontakt der beiden ab.108 Jonas beobachtet Scholem, ein vehementer Kritiker des Blau-Weiß,109 und hört seiner Rede zu ohne ihn anzusprechen. Im selben Jahr lässt er sein Studium ruhen und geht für die Monate März bis Oktober nach Wolfenbüttel. Über die Hachschara-Bewegung, die die Vorbereitung der Alija (Rückkehr) nach Israel mitorganisiert, bekommt er eine Lehrstelle in der Großgärtnerei von Richard Grabenhorst.110 Dort soll er für landwirtschaftliche Arbeiten in Palästina gemäß der Parole von HaPoel HaZair, jüdische Bauern für Palästina auszubilden, geschult werden. Jonas resümiert diese Zeit mit den Worten: „Mir wurde in Wolfenbüttel klar, daß es, was immer aus meinen Palästina-Absichten würde, doch eine gewisse Verschwendung wäre, wenn ich in die Landwirtschaft ginge, 108 In den Erinnerungen nennt Jonas das Jahr 1924. Das scheint angesichts des Studienverlaufs jedoch nicht korrekt. 109 Vgl. Gershom Scholem: Briefe Band 1, 1914-1947. München 1994, S. 216. 110 Vgl. Erinnerungen, S. 104. Richard Grabenhorst stammt aus Vahlberg, Landkreis Wolfenbüttel.
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und daß ich doch mit meinem Kopf etwas mehr leisten könnte als mit den Gliedern.“111 Deshalb widmet er sich im Wintersemester 1923/24 und im Sommersemester 1924 wieder intensiv seinem Philosophie- und Theologiestudium in Freiburg. Er vertieft die Freundschaft mit Günther Anders und diskutiert mit seinem Lehrer Julius Ebbinghaus, der später, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, Rektor der Universität Marburg werden sollte. In dessen Kant-Seminar112 streiten beide über die Möglichkeit analytischer Urteile geometrischer Begriffe. Da Jonas keineswegs die Ansicht seines Lehrers vertritt, dass solche Urteile möglich seien, macht er sich ausgiebig eigene Gedanken zum Thema. In einem rund 20 Seiten umfassenden Papier, einer Mitschrift von November 1923, die ihren Ausgang in Kants theoretischer Philosophie nimmt, wirft er dem 1921 bei Husserl mit einer Arbeit über die Grundlagen der Hegelschen Philosophie habilitierten Ebbinghaus vor, die Unterschiede zwischen analytischen und synthetischen Urteilen zu verwischen. Die Mitschrift ist um Wissenschaftlichkeit bemüht, doch noch von sprachlichem Schmuckwerk begleitet. Vergessen wir jedoch nicht: Jonas ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt, verfügt aber bereits über ein beachtliches Reflexionsvermögen und ein stark ausgeprägtes Abstraktionsdenken. Darüber hinaus vertraut er nicht blind Autoritäten, sondern versucht stets, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dass es sich bei Ebbinghaus um einen Kant-Experten mit exzellenten Kenntnissen der Mathematik handelt, scheint Jonas nur umso mehr zu bestärken, kritisch nachzufassen. Es zeugt zweifellos von enormem Selbstbewusstsein, ja von einer gewissen Chuzpe, wenn er seitenlang philosophisch-mathematische Beweise anführt, um sich am Ende gegenüber dem jungen Privatdozenten Ebbinghaus zu rechtfertigen. Dies scheint ihm insbesondere deshalb vonnöten, weil Ebbinghaus seines Erachtens die vorgebrachten Argumente in der sich an die Debatte anschließenden Zusammenfassung abermals verzerrt dargestellt habe.113 Nachdem er in einem an die Auseinandersetzung anschließenden Teil „von den Verhältnissen analytischer Urteile überhaupt“ handelt, fügt er deshalb in einem dritten Teil eine „Kritik des Diktats von Herrn Dr. Ebbinghaus“ an. Jonas sieht sich zu einer Richtigstellung der Seminardiskussion genötigt, weil Ebbinghaus den Verlauf der Debatte nicht korrekt wiedergegeben habe. Der 111 Jonas: Erinnerungen, S. 107. 112 Vgl. HJ 1-17-1. 113 Vgl. ebd.
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Student Jonas schließt seine Ausführungen mit den Worten, er habe genug Gründe für die Unhaltbarkeit der Thesen von Ebbinghaus geliefert. Somit sei seine Aufgabe nun erledigt. Die Unstimmigkeiten der beiden Denker im Wintersemester 1923 hat jedoch keine langfristigen Folgen, im Gegenteil: Zeitlebens bleiben beide freundschaftlich verbunden. Im Wintersemester 1924/25 folgt Jonas sodann seinem Lehrer Martin Heidegger nach Marburg. In Heidegger sieht er einen begnadeten Pädagogen und großen Denker, der eine völlig neue Philosophie formuliert hat. Andererseits neige Heidegger, so Jonas später, zu orakelhaften Äußerungen: „Heidegger war ein Hinterwäldler. Er fühlte sich eigentlich nur wohl in seiner Hütte im Schwarzwald, unter den Bäumen, unter den Bauern dort, in den Bergen.“114 Zunächst aber nimmt Heidegger die ordentliche Professur (auf einem außerordentlichen Lehrstuhl) in Marburg wahr und freundet sich rasch mit dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann an, der auch für Hans Jonas eine überaus wichtige Rolle spielen wird. Denn in Bultmanns Seminaren lernt Jonas Geschichte und Grundgedanken der christlichen Theologie kennen.115 Er und Hannah Arendt sind die einzigen Juden in Bultmanns Seminar. Diese Konstellation schweißt die beiden eng zusammen. Gemeinsam unternehmen sie viel in der hessischen Kleinstadt mit ihren insgesamt rund 500 Juden. Sie lernen ebenfalls den bereits promovierten Karl Löwith,116 Hans-Georg Gadamer, Leo Strauss und Walter Bröcker kennen. Mit Bröcker spielt Jonas regelmäßig Schach, ehe sie das Königsspiel zugunsten ihrer philosophisch-theologischen Studien aufgeben.117 Jonas lässt sich jedoch nicht davon abhalten, Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, der 1924 erschien, geradezu zu verschlingen. Auch Jahre später noch wird er von dieser Lektüre hellauf begeistert sein. So, 114 Jonas: Erkenntnis, a.a.O., S. 54. Die jüngere Heidegger-Forschung kommt nicht zuletzt nach der Publikation der »Schwarzen Hefte« zu einem völlig anderen Heidegger-Verständnis. Zum Thema sieh auch Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Frankfurt a.M. 2015; Holger Zaborowsky: Eine Frage von Irre und Schuld? Martin Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 2010. 115 HJ 18-2 enthält einige Mitschriften der Vorlesungen von Heidegger und Bultmann, die Jonas angefertigt hat. Es sind Notizhefte der Studienjahre 1924/24, 1925/26 sowie 1927/28. 116 Jonas berichtet in den Erinnerungen (S. 83), Löwith sei ihm weit voraus gewesen und promovierte bereits. Tatsächlich schloss er schon 1923 seine Promotion in München bei Moritz Geiger mit einer Arbeit über Nietzsche ab. Er war 1924, als er wieder bei Heidegger in Marburg war, also längst promoviert. 117 Vgl. Erinnerungen, S. 110.
Abb. 5: Rudolf Bultmann mit seiner Frau Helene, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
als am 15. August 1940 im Hause des soeben in die Vereinigten Staaten emigrierten jüdischen Verlegers Salman Schocken eine Geburtstagfeier für Gershom Scholem (*5.12.) abgehalten wird. Jonas liest dort aus einem ungedruckten Fragment zum Zauberberg, in dem es u.a. heißt: „In der Tat, eine fremdartigere Erscheinung war selten hier oben gesehen worden. Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, sodass sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstand trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben...“118 Das bezog sich natürlich auf Scholem selbst und muss für die Anwesenden ein großer Spaß gewesen sein. Gemeinsam mit seinem Freund Hans Jacob Polotsky 118 HJ 5-5-31, an Oskar K. Rabinowicz, Schreiben vom 15. Oktober 1965.
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hatte Jonas schon im August 1937 anlässlich „der zwanzigsten Wiederkehr des Tages, da er aus heeresamtlich angeordneter psychiatrischer Beobachtung als »unheilbar geisteskrank« und daher dienstuntauglich entlassen worden war“ ein Spottgedicht auf Scholem verfasst. Damals, im Jahr 1917 wurde Scholem zum Militärdienst eingezogen, spielte aber mit Erfolg einen Geisteskranken und wurde im August desselben Jahres wieder entlassen und im Januar 1918 dauerhaft freigestellt. Nun, zwanzig Jahre danach, witzeln Jonas und Polotsky in ihrem Sonett mit dem Titel „25. August 1917 – 1937“119 : Als Scholem zu den Irren ging, Manch Freundesherz im Stillen bangte, Ob’s zu dem irren Spiel auch langte, Das er zu spiel’n sich unterfing. Nicht bangte Scholem, der Beherzte. Sein ward der Sieg nach schweren Schlachten. Die zu entlarven ihn gedachten, Es irrten sich die Irrenaerzte. Was sie gelernt, das liess sie hier im Stiche. Er kannte ihre, sie nicht seine Schliche Im Fechterspiel der Scheinbarkeiten Und focht’s, bis dass der Preis zuteil war Dem Klaren: Aus dem Wahn der Zeiten Entlassen ward er als – unheilbar. Die Begeisterung für Poesie und stilvolle Prosa ist immer wieder spürbar und bleibt Jonas sein Leben lang erhalten. Voller Bewunderung wird er noch in seinen Erinnerungen in Bezug auf Thomas Mann formulieren: „Eine Seite Thomas Mann enthält tiefere Einsichten als ganze Abhandlungen über die Konstitution der Gegenstandswelt in intentionalen Akten des Bewußtseins.“120 Mit dieser Einschätzung, die sich vor allem auf den „Zauberberg“ bezieht, hat er nicht ganz Unrecht. Denn Manns Roman behandelt sehr 119 HJ 5-5-23. Die erste Strophe stammt von Polotsky, die anderen von Jonas. Das klassische Reimschema wird im letzten Terzett aufgebrochen. Bei Wiese, Zusammen Philosoph und Jude, a.a.O., S.68f., ist nur der Anfang des Gedichts gleichlautend. 120 Jonas: Erinnerungen, S. 101f.
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eindringlich philosophische und politische Themen. Im Zentrum stehen Krankheit und Tod in einem nahezu von der Außenwelt abgeschiedenen Ort. Angesiedelt ist die Geschichte zwischen den Jahren 1907 und 1914. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der die zunehmende Langeweile, Routine und innere Leere der Protagonisten durchbricht, endet der Roman. Das Schicksal der Hauptperson bleibt ungewiss. Ungewiss ist zunächst auch, wie sich in der Studienzeit die Beziehung zu Hannah Arendt weiterentwickeln würde. Es gibt zwischen ihnen wohl mehr als nur Sympathien, doch zu einer Liebesbeziehung kommt es nicht. Stattdessen beginnt Arendt, nach damaligem Recht noch minderjährig, Anfang 1925 ein Verhältnis mit dem gemeinsamen, seit 1917 mit Elfriede Petri verheiratetem, Lehrer Heidegger. Dieses Verhältnis gesteht sie Hans Jonas eines Tages und verhindert so, dass Jonas sich Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit Arendt macht. Ihre Beziehung zu Heidegger dauert allerdings nicht allzu lange.121 Nachdem sie zunächst nach Freiburg geht, folgt sie Hans Jonas bald nach Heidelberg. Heidegger wird 1928 der Nachfolger Husserls in Freiburg. Die Arendt-Biografin Elisabeth Young-Bruehl erzählt eine wundervolle Geschichte aus der Heidelberger Studienzeit: Hans Jonas war darum bemüht, den knapp 20 Jahre älteren, einflussreichen Verfechter des Zionismus in Deutschland, Kurt Blumenfeld, zu einem Vortrag nach Heidelberg einzuladen. Young-Bruehl schildert die Situation wie folgt: „Jonas hatte Blumenfeld eine schriftliche Einladung geschickt und dann in Berlin angerufen, um die Veranstaltung mündlich vorzubereiten. Jonas hatte immer schon Probleme mit dem Telefonieren gehabt, und seine Nervosität nahm mit der Entfernung und der Hochachtung vor der Person am anderen Ende der Leitung zu; ganze Sätze entgingen ihm, und Blumenfeld mußte darauf bestehen, die endgültigen telefonischen Vereinbarungen mit einem anderen Gesprächspartner zu treffen. Jonas verdonnerte seine Freundin Hannah Arendt zu der Aufgabe, und sie ging in der Rolle einer Adjutantin mit zu dem Vortrag ... Sie und Jonas luden Blumenfeld nach seiner Rede zum Abendessen ein, und als sie aßen, kräftig tranken und dann durch die Straßen Heidelbergs zu dem schönen Philosophenweg schlenderten, der sich über den Hügel gegenüber der Stadt zieht, verhielt sie sich sowohl kokett als auch töchterlich. Blumen121 Über die Dauer gibt es unterschiedlichste Angaben. Der Briefwechsel zwischen den beiden lässt darauf schließen, dass spätestens 1927 die Beziehung auslief. Vgl. Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975. Frankfurt a.M. 2002.
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feld und Arendt sangen – Arm in Arm – Lieder, rezitierten Gedichte und lachten ungestüm – während Jonas hinterhertrottete.“122 II Gnosis-Studien In Heidelberg macht Jonas im Sommersemester 1927 ebenfalls Bekanntschaft mit dem vier Jahre jüngeren Dolf Sternberger, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der herausragenden Politikwissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland werden sollte. Berühmt wurde Sternberger im gleichen Jahr wie Hans Jonas: 1979 prägte er anlässlich des 30. Jahrestags des Grundgesetzes den Begriff „Verfassungspatriotismus“.123 In einer politisch unruhigen Situation unmittelbar nach dem Deutschen Herbst fragt Sternberger, ob es den Verfassungsfeinden nicht etwas entgegenzuhalten gelte. Im Blick hat er die Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten der Verfassung und den demokratisch legitimierten Institutionen der Republik. Ihm geht es dabei in erster Linie um eine aktive Staatsbürgerrolle, getragen von einem stärkeren Sich-Einbringen in das politische Geschehen. Es gelte, so Sternberger, ein Interesse für politische Fragen herauszubilden, das über die bloße Beteiligung an Wahlen hinausgeht. Eine Möglichkeit sind Bürgerinitiativen, die in den 1970er Jahren auch regen Zulauf verbuchen.124 Sternberger geht wie Jonas 1927 nach Heidelberg und promoviert 1931 bei Paul Tillich mit einer Arbeit über Heideggers 1927 erschienene Schrift „Sein und Zeit“. Hans Jonas legt bereits am Mittwoch, den 29. Februar 1928, sein Rigorosum bei Heidegger125 ab. Die eisigen Temperaturen der vergangenen Wochen mit Werten bis zu -40 Grad Celsius sind vorüber, dennoch hat der Winter Deutschland fest im Griff, als sich Jonas bei Heidegger zur Prüfung einfindet und seine Thesen verteidigt. 122 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a.M. 2000, S. 120. Blumenfeld war ab 1909 eine Art „Parteisekretär“ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Vgl. Meybohm, a.a.O., S. 87. 123 Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus. Frankfurt a.M. 1990. 124 Zu den historischen Zuständen dieser Zeit vgl. das Kapitel über die Aktualität von Hans Jonas weiter unten. 125 In seinen Erinnerungen, S. 119, datiert Jonas die Einreichung der Dissertation auf den Herbst 1928. Das scheint nicht korrekt, vgl. Udo Lenzig: Das Wagnis der Freiheit. Der Freiheitsbegriff im Werk von Hans Jonas aus theologischer Perspektive. Stuttgart 2006, S. 64. Das Rigorosum ist in den Erinnerungen allerdings korrekt wiedergegeben, vgl. ebd. S. 120 sowie Rudolf Bultmann/Martin Heidegger: Briefwechsel 1925-1975, hg. von Andreas Großmann und Christof Landmesser. Frankfurt a.M./Tübingen 2009, S. 51.
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Die Dissertation beschäftigt sich mit dem Begriff der Gnosis. Der erste Teil seiner Schrift erscheint 1934 bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen. Von dem Buch werden bis Ende 1937 allerdings nur rund 150 Exemplare verkauft. Der Verlag ist der Ansicht, der Erfolg wäre größer gewesen, hätte auch der 2. Teil schon vorgelegen, da sich viele Bibliotheken schwer täten, nur einen Teilband zu bestellen ohne genau zu wissen, ob und wann der Folgeband erscheinen wird. Ruprecht bittet Jonas abschließend, den 2. Teilband deshalb nicht allzu lange hinauszuzögern und ihn diesbezüglich auf dem Laufenden zu halten.126 Worum geht es aber eigentlich in Jonas’ Buch? Der Begriff Gnosis bezeichnet eine neu formierte Bewegung im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus, die sich radikal von antikem und klassischem Denken unterschied. Die Gnosis gehört zu den spätantiken Wurzeln des Christentums. Sie bildete „den Titel und gleichsam das Stichwort für die ganze Fülle mythischer (auch quasi philosophischer) Spekulationen und soteriologischer Kultpraxis, in denen sich die von Osten her vordringende eschatologische Weltstimmung der Zeit aussprach.“127 Die Grundmotive der Gnostiker charakterisiert Jonas hierbei wie folgt: „Schroffer Dualismus Gott-Welt; d.h. streng transmundane Gottesidee – und Widergöttlichkeit der Welt als solcher. Der »Kosmos« als das Reich der Finsternis; feindliches Gegeneinander von »Licht« und »Finsternis« ... »Schöpfung« als Folge einer Depravation oder eines partiellen Falles ... des Göttlichen, oder das Werk der widergöttlichen Mächte oder beides zusammen. Anthropos-Spekulation: vorzeitiger Fall und Weltverknechtung des göttlichen »Urmenschen« ... Irdisches Dasein als Knechtschaft in der Fremde ... Erhebung des Einzelnen über diesen Weltzwang durch die »Gnosis«“128, die nichts anderes bedeutet als „Erkenntnis“. Jonas zeichnet den Weg von der mythologischen zur philosophisch-mystischen Gnosis im zweiten und dritten Jahrhundert nach. Entlang von Begriffsklärungen (Kosmos, Heimarmene, Pronoia, Psyche, Pneuma etc.) und der Darstellung einzelner Autoren dringt Jonas im ersten Teil bis zum (valentianischen) Evangelium der Wahrheit vor. Sein Ziel ist es, den Geist der Gnosis zu begreifen, der aus den vielen unterschiedlichen Stimmen spricht. 126 Vgl. HJ 20-1-284, Brief Hellmut Ruprecht an Hans Jonas vom 7. Januar 1938. 127 Zitiert nach Hans Jonas: Die mythologische Gnosis. Dritte Auflage. Göttingen 1964, S. 5. 128 Ebd.
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Bei dem „Evangelium“ handelt es sich der Form nach „um eine Homilie oder Meditation; ihr Stil besteht in einer andeutenden, oft schwer greifbaren mystischen Rhetorik mit einem ständig wechselnden Reichtum an Bildern.“129 Jonas berichtet in seinem Buch von gnostischen Sekten und der geistigen Krise der Zeit, die dieses Denken forciert hat. Ein Gefühl der Einsamkeit und Weltfremdheit durchzieht die Schriften der Gnostiker. Sie formulieren eine Art Erlösungsreligion, in der das Wissen von Gott ein Mittel der Erlösung darstellt. Gott zu erkennen bedeutet zugleich, von ihm erkannt zu werden. Durch Gotteserkenntnis können die Befreiung aus der Knechtschaft der Welt und eine Rückkehr ins Reich des Lichtes gelingen. Allerdings fehlt eine Tugendlehre im strengen Sinne. Jonas sieht in diesem Fehlen einen Zusammenhang „mit der antikosmischen Haltung, das heißt mit der Weigerung, den Dingen dieser Welt und entsprechend auch den Handlungen des Menschen irgendeinen Wert einzuräumen.“130 Nach dem Fund weiterer gnostischer Texte bei Nag Hammadi am Fuße des Gebel-al-Tarif Ende 1945 ändert sich die Quellenlage nochmals dramatisch. Hans Jonas bezeichnet den Fund in seiner populären Darstellung „The Gnostic Religion“ in der dritten Auflage von 1970 als einen Wendepunkt in der Erforschung der Gnosis, weil nun über einen großen Reichtum an gnostischen Schriften verfügt werden konnte.131 Man könnte die gnostische Welt mit ihrer Symbolik und ihrer Neigung, die Verschwörung zu denken, gut mit der politischen Situation der späten 1920er- und frühen 1930er Jahre vergleichen. In dieser Zeit entstand der erste Gnosis-Band, und eine vergleichende Lektüre brächte vermutlich einige Übereinstimmungen zutage. Jonas hat davon allerdings nicht direkt Gebrauch gemacht. Er bemüht sich vielmehr darum, die Gnosis als eine Gesamterscheinung begreifbar zu machen. Dennoch ist zu spüren, dass die Auseinandersetzung mit der Gnosis gerade in dieser Zeit nicht ganz zufällig geschieht. Im zweiten Teil, der trotz der Bitte Ruprechts auf Grund der politisch-gesellschaftlichen Umstände und Jonas’ eigenem schwierigen Lebensweg erst 1954 erscheinen wird, steht der areté-Begriff der Gnostiker im Zentrum der Untersuchung, ehe er sich speziell Philo von Alexandrien und Origines wid129 Hans Jonas: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, a.a.O., S. 365. 130 Ebd., S. 317. 131 Ebd., S. 20.
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met, um das »System« der Gnostik zu veranschaulichen, das von der Einheit ausgehe, von dort zur Vielheit voranschreite, um letztlich wieder zur Einheit zurückzukehren. Ziel der Arbeit ist es, diesen „natürlichen Verlauf jedes gnostischen Systems“132 nachzuzeichnen. Am 23. September 1934 bedankt sich Oswald Spengler für die Übersendung des ersten Bandes mit den Worten, die Gnosis sei der Schlüssel zum Gang der Weltgeschichte. Bis heute sei sie nicht verstanden worden: „Was ich darüber gesagt hatte, hat ausser Ihnen niemand verstanden.“133 Jonas belohnt sich nach der bestandenen Promotion und seinem Besuch auf dem 6. Deutschen Soziologentag in Zürich134 mit einem Kurzvortrag zu Karl Mannheim135 im Winter 1928/29 selbst mit einer Reise nach Paris, wo er in der Rue de la Sorbonne Nr. 10 unterkommt und dort mit Hans Yorck von Wartenburg136 zusammentrifft. Von Wartenburg ist der Bruder von Peter Graf Yorck von Wartenburg, der zum Kern des Widerstands vom 20. Juli 1944 gegen Hitler gehörte. Im Herbst 1929, zu einer Zeit, in der sich der jüdisch-palästinensische Konflikt in Jerusalem zuspitzt, trifft Jonas in Heidelberg erneut auf seine Freunde Arendt und Anders,137 die sich ebenfalls aus ihrer Marburger Zeit kennen und im selben Jahr heiraten. Jonas macht zudem Bekanntschaft mit Gertrud Fischer, seiner baldigen Geliebten. Ihre Beziehung hält bis zu seiner Emigration Anfang September 1933 nach London.138 Währenddessen bekommt Gershom Scholem die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern hautnah mit, da sich seine Wohnung nur einen Steinwurf weit von der Klagemauer befindet. Seiner Mutter berichtet er von strapaziösen und aufregenden Tagen, von Verwundeten, Toten und Pogromen. Er hoffe, es kämen bald bessere Zeiten.139 Doch diese Hoffnung wird arg enttäuscht werden. Hans Jonas bekommt von den Konflikten nur durch Hörensagen mit. Noch weilt er in Deutschland und ist auf seine Studien fokussiert. So ist er 132 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Zweite Auflage. Göttingen 1966, S. 204. 133 HJ 23-11-1. Brief von Spengler vom 23. September 1934. 134 Vgl. HJ 1-17-7 bis 1-17-14. 135 Sieh HJ 1-17-8 bis -9. 136 Vgl. Erinnerungen, S. 126. 137 Vgl. Erinnerungen, S. 167f. 138 Zu ihr sieh HJ 20-1-89, Brief vom 15. November 1934. 139 Betty Scholem/Gershom Scholem. Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946. München 1989, S. 198ff.
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im Winter 1932/33 unter anderem in Köln, um die Veröffentlichung seines Gnosis-Bandes vorzubereiten. Vermutlich kommt er bei seiner Tante Julie Seligmann unter, die in Köln-Kalk wohnt. Er berichtet, in Köln habe er vom Sieg Hitlers erfahren.140 Dabei kann es sich nur um die Reichstagswahl vom 6. November 1932 handeln. Die NSDAP muss bei dieser Wahl allerdings deutliche Verluste hinnehmen: 33,1% statt der 37,3% der Stimmen bei der Juli-Wahl. Und es scheint zunächst kein Sieg Hitlers zu sein, denn eine Regierungsbildung bleibt problematisch. Von Köln aus unternimmt Hans Jonas erneut Abstecher nach Heidelberg, Paris und Frankfurt. Am 30. Januar 1933 ist er zurück in seiner Heimatstadt. In der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach vis-à-vis des Elternhauses erfährt er, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt worden ist.141 Seine Reaktion schildert er später so: „Ich muß gestehen, daß ich zu denen gehört habe, die dafür waren, daß die Nazis einmal an die Macht kommen sollten. Meine Vorstellung war, dieses Fieber, diese Krankheit muß ausgeschwitzt werden. Einer Partei, die so groß geworden ist und mit solchen Ansprüchen auftritt, und eine solche Verführungsmacht besitzt über das ganze deutsche Volk, sollte Gelegenheit gegeben werden, abzuwirtschaften.“142 Das mag heute naiv klingen, da die Zeichen schon früh auf Krieg in Europa gestanden haben. Doch selbst als der Krieg bereits in vollem Gange war, berichtet Ruth Klüger, die in allen drei Lagern in Auschwitz inhaftiert war, über die gesamte Hitlerzeit hinweg habe sie keinen einzigen Juden „je den Gedanken aussprechen hören, Deutschland könne siegen. Das war eine Möglichkeit, die einer Unmöglichkeit gleichkam, ein Satz, der tabu war, ein Gedanke, den man nicht zu Ende dachte. Hoffnung war Pflicht.“143 Ähnlich denkt Jonas 1933, als der Alptraum begann. Seine Hoffnung, die Nationalsozialisten würden rasch abwirtschaften erfüllte sich hingegen nicht.
III „In alle Welt zerstreut“
Betrachten wir die damalige Situation einmal genauer, weil sie für das weitere Leben von Hans Jonas so einschneidend wie kaum eine zweite gewesen ist. 140 Vgl. Erinnerungen, S. 125. 141 Vgl. ebd., S. 129. 142 Jonas: Erkenntnis, S. 56. 143 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 160.
Abb. 6: Hans Jonas 1932, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-27.
Der wesentliche Faktor für den Aufstieg der Hitler-Partei war ohne Frage die wirtschaftliche Situation und die Inflation 1923. Sie sorgte für einen mangelnden Zusammenhalt der Bevölkerung. Dieses Problem korrespondierte aber lediglich mit der fehlenden Kooperationsbereitschaft der Parteien. Insgesamt bestimmte die innenpolitische Polarisierung und ein FreundFeind-Denken die politische Landschaft. 1932 war in Deutschland jeder Dritte ohne Arbeit. Dies führte gewissermaßen zu einer Nivellierung von Klassenunterschieden, die der NSDAP zugute kam. Der permanente Machtverlust des Reichstags schwächte die junge Demokratie ebenfalls. Die Reichspräsidenten hingegen bekamen mehr und mehr Macht und regierten durch die Notverordnung §48 der Verfassung. Man sprach schon vor 1933 von der „Diktaturgewalt“ des Reichspräsidenten und dem autoritären deutschen Staat. Die Ausweitung der Wirtschaftskrise nach 1929 spielte zudem den Kritikern der Republik in die Hände. Die Wirtschaftskrise weitete sich zusehends zur Staatskrise aus. Im März 1930 trat die Große Koalition zurück, da die SPD-Fraktion kritisch zur Kompromisspolitik des Reichskanzlers Heinrich Brüning stand. Von da an waren die Präsidialkabinette und Notverordnungen an der Tagesordnung. Es kam zu einer Politik der autoritären Wende und einem still geduldeten Verfassungswandel. Das Parlament, ursprünglich Zentrum der Demokratie, wurde nach den Wahlen zwischen September 1930 und März 1933 aufgelöst. In nur zweieinhalb Jahren wählte das Volk insgesamt vier Mal einen neuen Reichstag. Es kam zu einer immer stärkeren Fluktuation in der Wählerschaft, weil niemand mehr so recht an den Erfolg der Demokra-
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tie glauben mochte. Auch die Wahlbeteiligung ließ sich nicht einschätzen. All diese Faktoren führten dazu, dass die NSDAP statt der lediglich 2,6% der Stimmen 1928 schon fünf Jahre später bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 43,9% der Stimmen auf sich vereinen konnte. Der Weg in die Diktatur war geebnet. Parallel zu dieser Entwicklung war der politische Liberalismus (DDP 0,8%), zu dem sich auch die Familie Jonas hingezogen fühlte, schon seit 1930 durch interne Spaltungen im Niedergang begriffen. Die Deutsche Demokratische Partei, 1918 u.a. von Theodor Wolff, den Weber-Brüdern Alfred und Max sowie Hugo Preuß ins Leben gerufen, war in der Weimarer Republik bis dahin an fast allen Regierungsbildungen mitbeteiligt. Auch der langjährige Vertreter der Juden im Mönchengladbacher Rat, Jonas Benjamin Jonas (1838-1932), Sohn des Fabrikgründers Benjamin Jonas und ein Onkel von Hans Jonas’ Vater Gustav, gehörte in der Weimarer Republik der DDP an. Politisch wie religiös übt er großen Einfluss auf Hans Jonas aus. Anders als die Partei, der Jonas Benjamin Jonas sein Vertrauen aussprach, etablierte sich die NSDAP als Anti-Klassen-Partei und mobilisierte sehr stark die Neuwähler. Auch die Verluste bei der SPD trugen zur Stärkung der Nationalsozialisten bei. Die Regierung von Papen war zeitgleich auf einen neuen starken Partner angewiesen. 1932 trat Franz von Papen aus der Zentrumspartei aus, die NSDAP gewann zugleich Anhänger der DNVP, aber auch aus dem Zentrum und der SPD. Wer glaubte, die Katastrophe sei vorüber, sah sich alsbald getäuscht. Die Weimarer Republik war im Allgemeinen geprägt vom Krisenbewusstsein einerseits und Erlösungshoffnungen andererseits. Die Rede von einer „Demokratie ohne Demokraten“144 ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Diffamierung der Demokratie, die rechte wie linke Revolutionäre ohnehin nur als Übergangslösung betrachteten, sowie eine Entwicklung zum Extremismus waren die Folge. Nach der Machtübernahme Hitlers hält es Hans Jonas nicht mehr lange aus in Deutschland. Als am 1. April 1933 der von den Nazis als vermeintliche Abwehrmaßnahme gegen eine angeblich jüdische Kriegserklärung an Deutschland propagierte „Juden-Boykott“ vollzogen wird und somit jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien gemieden werden, fasst Jonas den Entschluss, Deutschland 144 Dazu Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Stuttgart 1955; sowie Hendrik Thoß: Demokratie ohne Demokraten. Die Innenpolitik der Weimarer Republik. Berlin 2008.
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zu verlassen. Im Zuge des Boykotts kam es zu Übergriffen und Plünderungen jüdischer Geschäfte. Mindestens so schlimm wog die Tatsache, dass es kaum Solidaritätsbekundungen mit den Juden seitens der nicht-jüdischen Bevölkerung gab. Beides zusammen trug zu der Einschätzung bei, für die Juden beginne eine neue Ära, die nicht nur wirtschaftliche und politische, sondern, so der Chefredakteur und Mitherausgeber der Jüdischen Rundschau, Robert Weltsch, auch moralische und psychologische Folgen habe.145 Obwohl der Boykott auf Grund des wirtschaftlichen Drucks aus dem Ausland bereits am 4. April endete, bildete er den Auftakt der organisierten Judenverfolgung. Der Anteil der zu einem großen Teil verarmten Juden an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches betrug inzwischen weniger als ein Prozent.146 Seinen Eltern schwört Jonas bei der Verabschiedung, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren, „es sei denn als Soldat einer erobernden Armee.“147 Im Mai ist er jedoch noch in Deutschland und muss an seinem 30. Geburtstag die von der Deutschen Studentenschaft inszenierte Bücherverbrennung miterleben, bei der Studenten, Professoren, Rektoren und Mitglieder nationalsozialistischer Parteiorgane unter anderem Werke von Thomas Mann, Erich Kästner, Sigmund Freud und Kurt Tucholsky ins Feuer werfen. Mitte Mai schreibt Rudi Vitus an Jonas, er hege die vage Hoffnung, dass die Fuldaer Bischofskonferenz, die Vorgängerin der Deutschen Bischofskonferenz, klar zu den jüngsten Ereignissen Stellung bezieht, da die Bischöfe die „letzten Repräsentanten des Christentums“ seien. Vitus rekurriert in seinem Schreiben nicht nur auf die Bücherverbrennung, sondern stillschweigend auch auf die Notverordnung vom 28. Februar und das jede politische Freiheit abschaffende Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Diese Gesetze entzogen der katholischen Kirche in Deutschland allen bisherigen Rechtsschutz. Ein Konkordat wurde somit unausweichlich. Allerdings sollte der Ausgang der Bischofskonferenz enttäuschend sein, da die katholische Kirche ihre ächtende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus zurücknahm. 145 Robert Weltsch: Wear the yellow badge with pride. In: Albert H. Friedlander: Out of the Whirlwind. A Reader of Holocaust Literature. New York 1976, S. 120. Erstveröffentlichung in der Jüdischen Rundschau 1933. 146 Vgl. Wolfgang Benz et alii: Enzyklopädie, a.a.O., S. 532. 147 Zitiert nach Die Welt vom 10. Mai 2003: „Er könnte die Antworten gehabt haben“. Die Welt vom 10. Mai 2003. StA MG, Sammlung Hans Jonas 14/3490.
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In den darauffolgenden Wochen ändert sich die politische Landschaft in Deutschland schlagartig. Für die Parteien, unter ihnen das katholisch geprägte Zentrum, sollte es keine Zukunft mehr geben. So wie die Gewerkschaften von den Nationalsozialisten bereits zerschlagen worden waren, war die Aufhebung der Parteien nur eine Frage der Zeit. Nachdem am 20. Juli 1933 in Rom das Reichskonkordat zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich unterzeichnet worden war, glaubten viele, der Heilige Stuhl habe „den politischen Katholizismus preisgegeben und die Hitler-Regierung international hoffähig gemacht.“148 Rudi Vitus schien es doch geahnt zu haben, als er Jonas gesteht: „Wir sind in eine chaotische Zeit hineingeboren.“149 Hans Jonas sieht die jüngsten Entwicklungen klar und sein Entschluss, seine Heimat zu verlassen, steht fest. Doch zu Heideggers Rektoratsrede am 27. Mai 1933 weilt er noch in Mönchengladbach. Heideggers Rede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“150 interpretiert das studentische Dasein als Wehrdienst. Karl Löwith schreibt im Jahre 1940 hierzu, am Ende der Rede hätte man nicht mehr gewusst, ob man nun die Vorsokratiker lesen oder direkt mit der SA marschieren sollte.151 Nur wenige Wochen später, im Sommer 1933 trifft sich Jonas noch einmal mit Bultmann, um sich von ihm zu verabschieden. Zu einer weiteren Begegnung mit Heidegger kommt es vorerst und für lange Zeit nicht mehr. Sein Cousin Gerald Jonas gibt ihm bei seiner Abreise einen Brief mit auf den Weg, den er erst „hinter Odenkirchen“ öffnen darf. Darin heißt es: „Wieviel Schönes, das wir gemeinsam erlebten. Ich glaube, wir sind gute Freunde geworden. Da du gehst, ist es mir, als ginge ein Bruder ... Es ist so grausam.“152 Der Brief trägt das Datum vom 2. September. Durch die Vorgabe, er möge den Brief erst hinter dem wenige Kilometer entfernt gelegenen Odenkirchen öffnen, ist davon auszugehen, dass Gerald ihm den Brief mit auf den Weg gegeben hat, weshalb Jonas nicht, wie manches Mal kolportiert, bereits im August nach London gegangen sein kann, sondern erst im 148 Markus Lingen: Katholische Kirche und Deutsches Reich unterzeichnen Reichskonkordat. In: www.kas.de/wf/de/191.5739/ (Abruf am 26. August 2015). 149 HJ 20-1-288, Brief vom 18. Mai 1933. 150 Vgl. Hermann Heidegger (Hg.): Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34. Frankfurt a.M. 1990. 151 Vgl. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart 1986, S. 33. 152 HJ 20-1-64, Brief vom 2. September 1933.
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September.153 Zuvor war er nur zu einem kurzen Besuch in der britischen Hauptstadt.154 In London kommt er in der Pension von Annie Rosenblüth geb. Lesser, unter. Er leidet an einer Nesselsucht,155 zeigt sich jedoch zufrieden mit den Umständen und beginnt intensiv, Englisch zu lernen.156 Annie Rosenblüth war die erste Frau von Felix Rosenblüth alias Pinchas Rosen, dem ersten Justizminister des Staates Israel (1949-1961) und einer der Mitbegründer des zionistischen Wanderbundes Blau-Weiß. Die Pension liegt in Golders Green, 2 Turner Drive N.W. 11, eine idyllische Sackgasse, gelegen im Norden der Stadt direkt am Fuße von Hampstead Heath und umgeben von einem halben Dutzend Kirchen. In seiner Londoner Zeit kommt es zur persönlichen Begegnung mit Gershom Scholem und abermals auch mit Leo Strauss. Beide sollen, wie wir noch sehen werden, nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle für Jonas’ akademische Laufbahn spielen. Im Winter 1933/34 reift in ihm dann der Plan, dauerhaft nach Palästina zu gehen. Er hat den Wunsch, an der Hebräischen Universität zu arbeiten und nimmt erneut Kontakt zu Gershom Scholem auf. Ihn und seinen Lehrer Bultmann bittet er um Gutachten zwecks einer Bewerbung in Jerusalem.157 Diesem Wunsch kommen beide nach. Doch die Gefälligkeit der Kollegen bleibt ohne Erfolg. In Jerusalem befürchtet man eine Themenkollision mit Buber, obwohl dieser noch gar nicht in Jerusalem ist und erst ab 1938 den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität wahrnehmen wird. Parallel zu seinen Kontaktversuchen nach Jerusalem erscheint 1934 der erste Teil zur Gnosis unter dem Titel „Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil: Die mythologische Gnosis“158 dank des Engagements Bultmanns und der finanziellen Unterstützung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissen-
153 Der August findet sich u.a. bei Wikipedia, in den Erinnerungen, im Begleitmaterial zu Margarete von Trottas Hannah Arendt-Film, sowie in einigen, nicht im Einzelnen aufgeführten Publikationen zu Hans Jonas. Im Gespräch mit Herlinde Koelbl, KGA II/2, S. 149, spricht Jonas allerdings selbst von September 1933. 154 Vgl. HJ 20-1-65, Brief vom 25. September 1933. 155 Vgl. 20-1-45, Brief von 1934 (Georg Jonas), ohne exaktes Datum. Da dort auch von Poincarés Aufbahrung die Rede ist, vermutlich Mitte/Ende Oktober 1934. 156 Vgl. HJ 20-1-65, a.a.O. 157 HJ 23-7-1, Brief vom 14. Dezember 1933 sowie vom 24. Januar 1934 an Gershom Scholem. 158 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, a.a.O.
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schaft159 in Göttingen. Seine Übersiedlung nach Palästina verschiebt er allerdings 1934 mehrmals. Stattdessen reist er in die Niederlande und abermals nach Paris, wo er sich mit Arendt und Anders trifft. Zudem reist er auch in die Schweiz, wo er mit seinen Eltern zusammenkommt.160 Aus Gladbach hört er nichts Gutes. Man fürchtet eine Verschlimmerung der politischen Lage und glaubt nicht mehr so recht an einen Sturz des Nazi-Regimes.161 Obwohl er sich geschworen hatte, erst wieder nach Deutschland zurückzukehren, wenn das Nazi-Regime besiegt ist, so deutet ein Brief von November 1934 doch daraufhin, dass er vor seiner Abreise nach Palästina 1935 nochmals zu Hause gewesen ist. Wohl nicht zuletzt aus Heimweh plant er einen Besuch. Ob es dazu tatsächlich gekommen ist, ist leider nicht übermittelt.162 An Pessach (April) 1935 geht er sodann über Marseille, Alexandria und Jaffa endgültig nach Jerusalem. Insgesamt kommen 1935 rund 62.000 Juden nach Palästina. Damals werden die deutschen Juden von den anderen Juden mit durchaus gemischten Gefühlen begrüßt. Wie Avi Primor in seiner Autobiografie berichtet, fragt man sie, ob sie aus Überzeugung oder aus Deutschland, mithin als Zionisten oder als Flüchtlinge nach Palästina kämen.163 Als Hans Jonas zunächst in Alexandria eintrifft, begegnet er seinem gleichaltrigen Freund Gerhard Nebel, mit dem er für einen Tag auch Kairo besucht.164 Nebel, ein stark durch Ernst Jünger beeinflusster Schriftsteller, war ein äußerst schwieriger Charakter, der mehrfach seine politischen Ansichten wechselte. Mit ihm überwirft sich Jonas 1959/60. Er war jedoch nicht der Einzige, der Nebel die Freundschaft kündigte. Viele von Nebels Freunden kamen mit dem wechselnden Temperament und den Umschwüngen seiner politischen Ansichten nicht klar. In einem undatierten Brief, vermutlich aus dem Jahr 1960, resümiert Hans Jonas seine Einschätzung Nebel gegenüber wie folgt: „Unsere eintägige Un159 HJ 13-40-26, Schreiben Bultmanns vom 22. Mai 1933. 160 Vgl. Jonas: Erinnerungen, S. 131f. Sieh auch: Young-Bruehl: Hannah Arendt, a.a.O., S. 175. 161 HJ 20-1-68, Brief seines Cousins Gerri vom 31. März 1934. 162 HJ 20-1-89, Brief vom 15. November 1934. 163 Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiografie. Köln 2015, S. 37. 164 Vgl. Erinnerungen, S. 139. In HJ 20-1-68 berichtet Jonas’ Cousin Gerri von Nebels schriftlichen Eskapaden: Einen Brief habe sein eigener Vater nicht an ihn weitergeleitet, weil er damit wohl Nebel selbst, seinerzeit in Prüm (Eifel), gefährdet hätte. Voller Herablassung hätte sich Nebel über die gesellschaftlichen Umstände bei Jonas beschwert.
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terhaltung nach 25 Jahren hat neben der Bestätigung des menschlich Verbindenden auch den trennenden Graben sichtbar gemacht, der sich zwischen uns aufgetan hat und den ich in langem Überdenken nicht überbrückbar fand ... Selbstgericht und Bekenntnis vermißte ich beim Gusto der Reminiszenzen aus jüngster deutscher Vergangenheit: So sehr überwog Stolz auf die Heldentaten in unrechter Sache die Scham darüber, daß es eine unrechte Sache war und das Heldentum durch Untaten befleckt, daß immer wieder genießend-rühmende Epitheta (»der Russentöter« etc.) ins Gespräch blitzten, wo nicht nur die natürliche Scheu des Heldentums vor Prahlerei und gar des blutigen vor der Verkündung seiner Resultate, nicht nur die Zurückhaltung gegenüber dem Gesprächspartner, für den dies Heldentum im Dienste der feigen Ermordung der Seinen stand, sondern vor allem die eigene Gewissensproblematik gerade dieser Periode deutschen Kriegsheroismus sich Schweigen zur besonderen Pflicht machen sollte.“165 Nach dem kurzen Aufenthalt in Alexandria und Kairo wird Jonas in Jerusalem von dem neun Jahre jüngeren George Lichtheim (1912-1973) erwartet. Den etwas schwermütigen Freund, ein deutsch-britischer Journalist und Schriftsteller, der später auch Scholem ins Englische übersetzen sollte, hat Jonas in London kennengelernt. „Im Frühling, wenn alles grünt, grün auch ich“, so der stark vom Marxismus geprägte Lichtheim über sich selbst.166 Von Freunden und Kollegen wird Lichtheim wegen seiner pessimistischen und melancholischen Grundhaltung auch „poor George“ genannt. Er, der seinem Leben selbst ein Ende setzte, stammt aus einer ostpreußischen, großbürgerlichen und assimilierten jüdischen Familie. Sein Vater Richard war ein zionistischer Politiker und Nationalökonom. Etwas mehr als ein halbes Jahr vor Jonas geht George Lichtheim nach Jerusalem,167 wo sich ihre in London begonnene Freundschaft fortsetzt. Lichtheim, zeitweise Sekretär des amerikanisch-jüdischen Zionisten Emanuel Neumann in Tel Aviv, ist von Jerusalem wenig angetan. Es sei eine „Beamtenstadt“, und von der Universität bekäme ein Außenstehender wenig 165 KGA Band V, Briefe. Brief an Nebel o.D. Die Edition der Briefe ist für 2019 geplant. Ich danke Dr. Christiane Böhler-Auras, die mir vorab einige Briefe aus dem Nachlass HJ, die dort publiziert werden sollen, zur Verfügung gestellt hat. Wo immer ich darauf zurückgegriffen habe, ist der Hinweis „KGA V“ mit aufgeführt. Sieh zu Jonas-Nebel auch: HJ 4-3-18. 166 HJ 20-1-135, Brief vom 28. September 1934. 167 Vgl. ebd. Der Vater Richard Lichtheim war erst im gleichen Jahr mit seiner Familie nach Palästina übergesiedelt.
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mit.168 Mit der ihm eigenen Portion Humor berichtet Lichtheim, Scholem wohne ganz in der Nähe und versammle nachmittags eine Schar junger Mädchen um sich, die er in die Schwarze Magie einweihe. „Sonst ist alles wüst und leer und der Geist Krähwinkels schwebt über den Wassern.“169 Lichtheim wünscht sich, Jonas bliebe nicht allzu lange, um seinen „schönen zionistischen Kinderglauben“170 nicht einzubüßen. Denn was, so Lichtheim weiter, sei der Mensch schon ohne seine Lieblingsillusion? Lichtheim fürchtet gar, Palästina schade Jonas mehr als dass er dem Land nützen werde. Geistige Tätigkeit, wie Jonas sie betreibe, sei ja ohnehin nur ein „Luxus der Natur, schon mit einem kleinen rötlichen Rand versehen“ wie ein faulender Fisch.171 Darauf lege hier niemand Wert, zumal die Realpolitik vor Ort ohnehin ganz andere Prioritäten setze, die langfristig keine atmosphärischen Besserungen erwarten lasse. Doch läse man von all dem nichts in den Zeitungen. Und schließlich fände sich in ganz Tel Aviv mit seinen rund 180.000 Einwohnern kein einziger, mit dem er sich wirklich unterhalten könne. Lichtheim schließt seinen 30-seitigen Brief mit dem Bedauern, dass er Jonas nichts Erfreuliches schreiben könne, doch läge das nur zum Teil an ihm. Der letzte Satz lautet: „Kommen Sie tot oder lebendig und bringen Sie Ihre gute Laune mit.“172 Lichtheims halb scherzhafte, halb ernstgemeinte Einlassungen halten Jonas nicht davon ab, wie geplant von der Insel ins Heilige Land überzusiedeln. Die noch junge Freundschaft mit Gershom Scholem kann er dort ebenfalls vertiefen. Zeitweise nimmt er auch Hebräisch-Unterricht bei Scholems zweiter Frau Fanja.173 Die innigste Beziehung aber hat er wohl zu dem Althistoriker Hans Lewy, ebenfalls Zionist und Schüler von Eduard Norden, Werner Jäger und Eduard Meyer sowie einer der Gründungsväter des Institute of Classical Studies an der Hebräischen Universität. Bei dem zwei Jahre älteren Lewy, den er wahrscheinlich in seiner Berliner Zeit in den Seminaren von Eduard Meyer kennengelernt hat, kommt Jonas zeitweilig unter.174 In der Jerusalemer Zeit gründen sie einen Debattierclub namens Pi168 Ebd. 169 Ebd. 170 HJ 20-1-135, Brief vom 3. Januar 1935. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Vgl. Jonas: Erinnerungen, S. 165. 174 Vgl. Erinnerungen, S. 144. Hans Lewy (1901-1945) war zeitweise am Institut für Altertumskunde der Friedrich-Wilhelms-Universität. Von 1926 bis 1927 war er Assistent
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legesch, zu dem auch Hans Jakob Polotsky, später noch George Lichtheim, Hans Sambursky und Gershom Scholem gehören.175 In seinem Nachlass findet sich eine wundervolle Beschreibung des Heiligen Landes, in das er nun endlich gekommen ist: „Das Land ist wunderbar, schwer und wunderbar, von einer herben, heroischen Schönheit, die die Bibel begreiflich macht ... Karg und zugleich ungeheuer intensiv ... Die Nächte von phantastischer, im Norden ungekannter Sternenpracht, funkelnd auf dem schwarzsamtenen Himmelsgrund, selbst mondlosen Nächten eine gewisse Helligkeit mitteilend. Der Vollmond aber ... von leuchtender Weisse, die er über die reglose Welt ergiesst ... Manchmal nächtelanges, gewaltig flammendes Wetterleuchten an den Horizonten. Die monatelange Wolkenlosigkeit, erst berauschend, hat dann etwas erschöpfendes an sich. Wolken aber sind hier niemals Nebelwolken, sondern geballte, trächtige Regen- und Gewitterwolken, die sich in ungeheuren Güssen entladen. Das ist wieder ein kosmisches Ereignis. So ist hier alles alternativ, unbedingt, es gibt keine Zwischendinge: Urlandschaft ... Jerusalem ... Vergegenständlichung jener geschilderten Urlandschaft.“176 In der „Urlandschaft“ von Jerusalem kommt er auch mit Hugo Bergman zusammen, der gerade seine Stelle als Leiter der Hebräischen Nationalbibliothek zugunsten einer Professur, verbunden mit der Präsidentschaft an der Hebräischen Universität, aufgegeben hat. Dass Jonas’ Versuch, dort zu reüssieren, zunächst scheitert, beunruhigt ihn anfangs nicht. Die Finanzierung seiner Studien und die Kosten für seinen Lebensunterhalt übernimmt weitestgehend das elterliche Haus. Sein Vater hatte ihm einen Freibrief für seine Interessen ausgestellt, da er selbst nie studieren konnte. Zudem betrug das Inlandsvermögen der Familie von von Hugo Gressmann am Institutum Iudaicum der Universität Berlin. Er habilitierte an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität für das neueingerichtete Lehrfach Oriens Christianus. Die Habilitationsschrift lautete: „Eine jüdisch-hellenistische Rede über den Propheten Jona in armenischer Überlieferung.“ Zitiert nach Albert I. Baumgarten: Elias Bickerman and Hans (Yohanan) Lewy : The Story of a Friendship. In: http://anabases.revues.org/1764#ftn1. (Abgerufen am 6. März 2015). In einem Brief vom 9. November 1929 äußert sich Lewy positiv wie kritisch zu Jonas’ Augustinusschrift. Zu dieser Zeit siezen sich beide noch, vgl. HJ 20-1-123. 175 Zunächst als Pil (Polotsky, Jonas, Lewy), hebräisch für Elefant, gegründet, dann Pilegesch, hebräisch für Konkubine. 176 HJ 13-40-43. Verfasser (vermutlich Jonas) und Datum sind nicht genau zu recherchieren. Rechtschreibung teilweise korrigiert.
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Gustav Jonas 1936 rund 219.000 Reichsmark.177 Eine beträchtliche Summe, mit der Gustav Jonas problemlos seinen Sohn unterstützen konnte. Ab April 1936 und dann nach den Plänen einer Dreiteilung Palästinas 1937 kommt es verstärkt zu arabischen Aufständen im palästinensischen Mandatsgebiet, insbesondere im von Arabern bewohnten Jaffa. Die Aufstände richten sich nicht zuletzt gegen das zionistische Siedlungsprogramm und den damit verbundenen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung um deutlich mehr als das Doppelte in den 1930er Jahren.178 Hans Jonas ist aktiv in die Auseinandersetzung involviert. Teilweise kommt es zu terroristischen und guerillaartigen Aktivitäten arabischer Rebellen, die im Mai 1938 ihren vorläufigen Höhepunkt haben. Die Gewalt richtet sich nicht allein gegen die jüdische Bevölkerung, sondern auch gegen die britische Mandatsmacht,179 die die Aufstände 1938 niederschlägt und die Altstadt Jerusalems im Oktober zurückerobert. Hans Jonas wird Zeuge dieser Unruhen. Nach der Niederschlagung kommt es bis ins Jahr 1939 hinein zu einzelnen weiteren Gewalttaten. Auch die Begegnung der Juden mit den Briten bleibt nicht ohne Auseinandersetzungen, da sich die britische Regierung von der Balfour-Deklaration distanziert hatte und der von ihr vorgeschlagenen Teilungslösung nun skeptisch gegenübersteht. Darüber hinaus geht sie gegen die illegale jüdische Einwanderung vor. Vor allem eine Gruppe namens Irgun Z’vai Le’umi, eine unter der Kommandantur des russischen Journalisten und revisionistischen Zionisten Vladimir Jabotinsky stehende militante Abspaltung der Hagana, gerät mit den Briten in Konflikt.180 Den Kern der Irgun bilden Juden aus Polen, die schon früher unter Jabotinsky in einer zionistischen Jugendorganisation (Betar) versammelt gewesen waren.181 Internationale Aufmerksamkeit aber erlangt vor allem der Konflikt zwischen Juden und Arabern, der immer wieder entflammt und bis heute politisch 177 Hintzen: Raphaelson, a.a.O., S. 68. 178 Die Beschränkungen der Zuwanderung bekommt auch die Familie Jonas zu spüren, für die es – auch auf Grund der hohen Einreisenummern, die sie erhalten haben – kaum möglich ist, Hans Jonas zu folgen. Vgl. HJ 20-1-70, Brief Gerri an Hans vom 15. März 1937. 179 Die Briten hatten auf Grund des Sykes-Picot-Systems die Kontrolle über Palästina. Vgl. David Fromkin: A Peace to end all Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation oft he Modern Middle East. New York 1990. 180 Vgl. Rolf Steininger (Hg.): Der Kampf um Palästina 1924-1939. München 2007, S. 21. Sieh auch Krämer: Geschichte Palästinas, a.a.O. 181 Sieh dazu auch: Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. München 2015, S. 82ff.
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ungelöst ist. Die Briten machen infolge der heftigen Auseinandersetzungen der 1930er Jahre einige Zugeständnisse an die arabische Bevölkerung. So heißt es, es sei nicht Aufgabe der Briten, aus Palästina einen jüdischen Staat zu machen.182 Hans Jonas, der 1938, an seinem 35. Geburtstag, die „palästinensische Staatsbürgerschaft“ annimmt und die deutsche verliert,183 ist (wie auch der spätere israelische Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Simon Peres) bis 1939 in der jüdischen Miliz Hagana aktiv. Die Hagana kämpft gegen die Aufständischen und für die Sicherung jüdischer Siedlungen. Daneben nimmt Jonas Lehraufträge an der Hebräischen Universität wahr. Doch das Hebräische kostet ihn trotz des Unterrichts bei Fanja Scholem und Moshe Elijahu Jernensky, Mitarbeiter der Encyclopedia Judaica,184 Kraft und Mühe. Die Vorbereitungen für die Vorlesungen auf Hebräisch dauern wesentlich länger als gewohnt. Zu Beginn der Unruhen in Jerusalem, an Pessach 1936, kommt es auch zum letzten Treffen mit den Eltern. Gustav und Rosa Jonas sind für rund drei Wochen zu Besuch. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sich die Familie in dieser Konstellation das letzte Mal sieht. Bald darauf verschlechtert sich der Gesundheitszustand des Vaters rapide,185 dennoch besucht Gustav Jonas weiterhin täglich seine Fabrik. Doch weder er noch Rosa lernen Jonas’ spätere Frau Lore Weiner186 kennen. Mit ihr macht Jonas Anfang 1937 die Bekanntschaft. Sie stammt gebürtig aus Karlsruhe und wuchs in Regensburg auf, ehe sie genau wie Hans Jonas 1933 kurz vor ihrem Abitur mit ihren Eltern nach Palästina flieht. Denn die Situation in Deutschland ist unerträglich geworden. Was Lore unauslöschlich im Gedächtnis bleibt, ist die Abkehr ihrer einstigen Freunde in dieser Zeit. Sie fühlt sich inzwischen geächtet. Menschen, mit denen sie zuvor sorglos kommuniziert hat, wechseln plötzlich die Straßenseite, um nicht grüßen zu müssen. Ihre beste Freundin versetzt sie. Dazu schreibt sie: „Was damals in mir vorging, hat für viele Jahre mein Verhältnis zu den Menschen bestimmt.“187 182 Vgl. Weingardt: Deutsche Nahostpolitik, a.a.O., S. 31. 183 HJ 13-9-6, Schreiben vom 28. Mai 1938. 184 Vgl. Arndt Engelhardt: Arsenale jüdischen Wissens. Zur Entstehungsgeschichte der »Encyclopaedia Judaica«. Göttingen 2014, S. 86 und 105. 185 Vgl. 20-1-107, Brief des Onkels Leo vom 2. April 1937. 186 Eigentlich: Eleonore Mirjam (1915-2012). In erster Ehe mit einem Herrn Krause verheiratet. Die Ehe wurde später annulliert. 187 Lore Jonas: Mein Vater Siegfried Weiner (1886-1963). Erinnerungen an einen jüdischen Rechtsanwalt aus Regensburg. In: Regensburger Almanach 1989, hg. von Ernst Emmerig. Regensburg 1988, S. 42-52, hier S. 48.
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Der Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter eine promovierte Ökonomin, doch beide können ihre Berufe in Palästina nicht ausüben. Für Lore ist die Bekanntschaft mit Hans Jonas ein Glücksfall: „Ich kann nur sagen“, erinnert sie sich später, „dass ich vom ersten Moment von ihm entzückt war, und dass das sehr lange angehalten hat, weil er erstens eine wunderbare Sprache hatte und weil mir schien, dass er auf gewisse Fragen, die ich als junges, verstörtes Mädchen hatte, Antworten haben könnte.“188 Diese Verzückung beruht nicht von Anfang an auf Gegenseitigkeit. Hans Jonas braucht eine Weile, ehe er sich auf Lore einlassen kann. Und schon im Herbst 1937 geht er für einige Zeit nach Rhodos (damals unter italienischer Herrschaft), um die Arbeit am zweiten Teil des Gnosis-Werkes fortzusetzen. Die Familie ist froh, dass er dem „Hexenkessel“ (Georg) Jerusalem eine Zeit lang entflohen ist. Die Mutter, Rosa, kümmert sich derweil aufopferungsvoll um den todkranken Vater189 und merkt zunächst nicht, dass ihr Herz unter den Strapazen arg leidet. Auf Rhodos entsteht das für sein Werk zentrale Origines-Kapitel. Doch mit Plotin kommt er nicht wirklich voran, auch wenn er Vorlesungen zu seiner Philosophie in Jerusalem hält.190 Im April 1937 lässt der Verlag anfragen, wie es denn nun mit dem zweiten Band stünde. 191 Noch scheint Jonas guter Dinge, das Buch bald fertigstellen zu können, wie er in einer undatierten Antwort versichert,192 doch die Niederschrift des Plotin-Kapitels wird er erst nach dem Krieg in Angriff nehmen können. Das Origines-Kapitel widmet Jonas seinem Mentor Gershom Scholem.193 In diese Zeit, Ende 1937, fällt auch ein für Hans Jonas’ Spätwerk ganz zentraler Eingriff von Scholem in das Denken des Gnosis-Forschers Jonas. Scholem bringt ihm den Kabbala-Begriff Zimzum nahe mit dem Hinweis auf den Sabbatianismus. Jonas wird sich daran in mehreren 188 „Er könnte die Antworten gehabt haben.“, a.a.O. 189 Vgl. HJ 20-1-48, Brief vom 9. Oktober 1937. 190 Vgl. den Brief an Vandenhoeck und Ruprecht HJ 13-40-21 o.D., vermutlich Ende April 1937. 191 HJ 13-40-22, Brief V&R an Jonas vom 17. April 1937. 192 HJ 13-40-21. 193 Das Kapitel erscheint zunächst in der Theologischen Zeitschrift im Jahr 1949. Hans Jonas: Origines’ Peri Archon – ein System patristischer Gnosis. In: Theologische Zeitschrift 5/49, S. 101-119, sowie Hans Jonas: Die origenistische Spekulation und die Mystik. In: Theologische Zeitschrift 5/49, S. 24-45.
Abb. 7: Hans und Lore Jonas, Ende der 1930er Jahre, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Schriften, zuletzt in seiner 1984 gehaltenen Rede über den Gottesbegriff nach Auschwitz wiedererinnern.194 Zunächst jedoch erfährt er im Januar 1938, noch auf Rhodos weilend, vom Tod des Vaters. Wenig später, als er bereits wieder in Jerusalem ist, stirbt auch sein Lehrer Edmund Husserl. Im Frühjahr 1938 hält er an der Universität Jerusalem auf Vorschlag von Hugo Bergman einen Radiovortrag anlässlich Husserls Tod.195 Der Titel seiner Ausführungen: „Husserl und die ontologische Frage.“196 Husserl, so Jonas, stelle aufs Neue die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein und reihe sich damit ein in die lange Tradition großer Philosophen, sein persönlicher ethischer Grund der Philosophie sei jedoch davon losgelöst: „die Idee der absoluten Selbstverantwortung.“197 Es komme darin „ein elementarer Impuls jüdisch-christlicher Herkunft“ zum Vorschein: „Daß sich jedes Leben im Absoluten zu verantworten habe, Rechenschaft von sich zu geben hat.“198 194 Zur jüdischen Rezeption von Auschwitz in Amerika sieh Michael L. Morgan: Beyond Auschwitz. Post-Holocaust Jewish Thought in America. Oxford 2001. 195 Sieh Hugo Bergman: Tagebücher und Briefe Band 1: 1901-1948. Hg. von Miriam Sambursky. Königstein/Ts. 1985, S. 471. 196 Vgl. KGA III/2, S. 183ff. Vgl. dazu auch den Aufsatz: „Husserl und Heidegger“ im selben Band S. 205-224. 197 Ebd., S. 189. 198 Ebd., S. 189f.
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Im Juni 1938 schreibt Jonas aus dem Kibbuz Mishmar haEmek (Das Tal) in der Jesreelebene, das die britische Armee auch als Ausbildungslager der Hagana genutzt hat, an Scholem: „Ich begann meine Vorbereitung, als Bergmann mir die Einladung zu einer Gedenkvorlesung über Husserl an der Universität mitteilte, damit, daß ich im Zeitraum von 10 Tagen noch einmal sämtliche Werke Husserls durchlas. Dann machte u. verwarf ich mehrere Entwürfe, tippte schließlich einen deutschen Text, der mit keinem von diesen etwas zu tun hatte u. schwitzte eine Woche lang mit Jernensky an der hebr. Ausarbeitung. (Der Radiovortrag, der wieder eine Sache für sich war, ging noch nebenher.) Das Resultat wurde dann über meine Erwartungen gut, soweit sich sowas am unmittelbaren Vortragserfolg ablesen läßt, u. hat mir anscheinend einige Steine im hiesigen Brettspiel verschafft, die ich gut gebrauchen kann. Weiteren Auswirkungen sehe ich entgegen, mit hinreichender Klarheit über die Grenzen des vernünftigerweise Erwartbaren.“199 Seine Hoffnungen aber werden enttäuscht. Außer den Lehraufträgen – wie etwa im Wintersemester 1938/39 zu Plotin200 – sind keine Perspektiven im Universitätsbetrieb zu erblicken: Die Steine im Jerusalemer Brettspiel scheinen unverrückbar. Statt des akademischen Angebots erreicht ihn im November 1938 vielmehr die Nachricht von der Festnahme seines Bruders Georg durch die Nazis. Er ist ein Opfer der Reichspogromnacht geworden und verbringt eine knappe Woche unter unwürdigen Zuständen im Mönchengladbacher Polizeigefängnis, wird dann ins Konzentrationslager Dachau deportiert und unter dem Vorbehalt, sofort aus Deutschland auszuwandern, am 15. Dezember wieder entlassen.201 Georg hat Glück im Unglück. Die Dezembertemperaturen sind extrem frostig. Gefangene haben ungeheure Leiden zu ertragen, müssen auf dem kalten Boden schlafen und im Freien arbeiten, zeitweise dürfen sie sich nicht einmal waschen. Viele erleiden Erfrierungen und dauerhaft körperliche Schäden. Um Georgs Auswanderung zu ermöglichen, überträgt ihm die Mutter ihr Visum für Palästina. Das Bemühen von Hans Jonas, für seine Mutter ein neues Visum zu besorgen, scheitert an der britischen Mandatsregierung in 199 HJ 23-7-1, sieh auch KGA V, Briefe. Brief vom 25. Juni 1938 an Gershom Scholem. Der gesamte Briefwechsel mit Scholem wurde aus der Nationalbibliothek Jerusalem in das Konstanzer Archiv übernommen und unter der Faszikel 23-7 dem Nachlass zugeordnet. Sieh dazu auch: HJ 5-5. 200 Vgl. HJ 10-22. 201 Hintzen: Raphaelson, S. 112. Zur Deportationsorganisation sieh Hans Safrian: Die Eichmann-Männer. Wien 1993.
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Palästina, die die Zuwanderung von Juden auf Grund der Araber-Unruhen begrenzen wollen, sodass sie am 26. Oktober 1941 nach Litzmannstadt (Lodz) und später nach Auschwitz deportiert wird,202 wo die Nazis sie 1942 schließlich ermorden. Rudi Vitus wird später berichten, dass auch er beinahe „ein Opfer der braunen Bestie geworden“ wäre, und sein Bruder Willi habe „drei Monate im KZ zugebracht, weil er an den Juden ein gutes Haar gelassen“203 habe. Im Jahre 1939 wird die Familie Jonas durch die äußeren Umstände während der nationalsozialistischen Diktatur gezwungen, ihre Villa in der Mozartstraße zu verkaufen. Am 12. August schreibt Rosa Jonas an ihren Sohn, sie rechne damit, dass ihr ca. 45.000 Mark übrig blieben.204 Die Auflösung der Firma bringt gerade einmal 80.000 Reichsmark ein. Den Hausrat und den Schmuck übergibt sie einer Spedition, die nach dem Krieg nicht mehr ausfindig zu machen ist. Ihr Hab und Gut geht verloren. Inzwischen ist auch der Garten verwüstet, die Bäume gefällt, Nüsse und Birnenernte fallen aus.205 In einem Brief wenige Tage nach dem Verkauf der Villa schildert sein Onkel Alfred die furchtbare Lage vor Ort, macht ihm jedoch persönlich Mut für den weiteren Weg: „Es freut mich sehr, ... daß du gut vorankommst, du wirst sicher einer gesicherten Zukunft entgegengehen.“206 Wenige Zeit später, genau zwei Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, berichtet Rosa Jonas ihrem Sohn Hans sodann, es sei ihr möglich, mit einem Billet für sechs Monate nach Palästina zu kommen, doch habe ihr der Reiseberater abgeraten, da das Ticket nicht verlängert werden kann und nach Ablauf der Frist verfalle. „Ebenso“ heißt es weiter, „sei es furchtbar schwer, wie man mir versichert, einen vorübergehenden Aufenthalt nach Belgien zu erlangen. Natürlich versuche ich alles ...“207 Noch im April 1940 spricht sein Bruder Georg die Hoffnung aus, dass sie alle bald wieder vereint sein mögen.208 Doch es hilft nicht. Sein Krefelder Onkel Leo (Horowitz), der 202 HJ 17-1-3 gibt zunächst Dachau als Sterbeort an. 203 HJ 12-1-142, Brief vom 15. September 1953. 204 Bei den Abschriften taucht auch die Summe 450.000 Mark auf. Dies dürfte aber ein Tippfehler sein. Hans Jonas selbst setzt den Betrag in einem Schreiben vom 6. September 1958 auf 45.000 Mark fest. Sieh Stadtarchiv Mönchengladbach, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 II, Brief vom 6. September 1958, Anlage 2. 205 StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 II, Brief vom 12. August 1939. 206 HJ 20-1-1, Brief vom 29. Mai 1939. 207 StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 II, Brief vom 12. August 1939, Brief vom 17. August 1939. 208 HJ 20-1-52, Brief von April 1940.
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nach Santiago de Chile gegangen ist, bringt es auf den Punkt, wenn er sich bei seinem Neffen beklagt: „Es ist ein Jammer, wie man so in alle Welt zerstreut ist.“209 Noch im Jahre 1959 beklagt Gerald Jonas nach einem Besuch von Hans, sie seien „die Ueberreste einer einstmals vielköpfigen Familie ..., die eng zusammengehalten hat.“210 Hans Jonas selbst will mithelfen, der Barbarei des Nationalsozialismus ein schnelles Ende zu bereiten. Schon kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, am 6. Oktober 1939, stellt er in Jerusalem seinen Aufruf „Unsere Teilnahme an diesem Krieg. Ein Wort an jüdische Männer“ vor. In der Wohnung von Gustav Krojanker211 sind u.a. Gershom Scholem, Georg Landauer und Robert Weltsch anwesend. Der Aufruf findet allgemeine Akzeptanz, bleibt jedoch ohne große Wirkung. In dem Papier heißt es: „Dies ist nicht der erste Krieg der Neuzeit, in dem Juden mitkämpfen. Aber es ist der erste, in dem das jüdische Volk als solches mitkämpft. Der Unterschied ist klar: Seit der Emancipation haben Söhne unseres Volkes auf allen Seiten gefochten. Noch nie aber in unserer Galuthgeschichte überhaupt hat das jüdische Volk in einem Kriege der Völker durch seine Söhne als Ganzes auf einer Seite und für seine eigenste Sache kämpfen können. Darum ist dies für uns ein »bellum Judaicum« in des Wortes tiefster Bedeutung ... ein Krieg unserer Rettung aus der jüdischen Katastrophe.“212 Jonas interpretiert den Krieg als neue Stufe des Ersten Weltkriegs.213 Die Tragik bestehe insbesondere in dem zu spät gekommenen Nationalismus Deutschlands. Eine Änderung der bestehenden Machtkonsolidierung sei
209 HJ 20-1-116, Brief vom 9. September 1940. 210 HJ 13-24-15, Brief vom 29. Mai 1959. Tatsächlich verlieren sich viele Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, auch die zwischen Hans Jonas und seinem Onkel Leo. Erst als es 1964 nach langen Jahren wieder zu einem Briefwechsel kommt, wird klar, dass Jonas den Onkel längst für tot hielt. Auch Hans und Georg Jonas sehen sich von 1949 bis mindestens 1964 nicht mehr. Vgl. HJ 24-3-44, Brief vom 20. März 1964. 211 Der Zionist Krojanker emigrierte 1932 nach Palästina, zuvor gehörte er dem Präsidium des Kartellverbands jüdischer Verbindungen (KJV) an, der aus dem Zusammenschluss des Bundes Jüdischer Cooperationen und dem Kartell Zionistischer Verbindungen im November 1914 hervorgegangen ist. Ziel war u.a. die einheitliche Organisation der nationaljüdisch gesinnten akademischen Jugend Deutschlands sowie die Erziehung zum Bewusstsein der nationalen Einheit der jüdischen Gemeinschaft. Vgl. Reinharz: Dokumente, a.a.O., S. 144. 212 Jonas: Erinnerungen, S. 193f. Sieh auch: HJ 13-40-42, On the Firing Line, zuerst in: The Hebrew Union College Monthly for January 1943. 213 Vgl. dazu: HJ 13-40-17.
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nur durch eine „Sprengung des ganzen europ. Systems“214 herbeizuführen. Sei es im 19. Jahrhundert noch um die koloniale Beherrschung dritter Gebiete gegangen, so habe sich dies im 20. Jahrhundert zur kolonialen Beherrschung Europas ausgeweitet, weshalb der Krieg zwangsläufig ein „totaler Krieg“215 sein müsse. Seine Antwort darauf: „Erneuerung der alten Werte.“216 Eine Erneuerung der alten Werte nähme nicht zuletzt auch Bezug auf die Propheten, für die Jahwe der einzige Gott und eben nicht ein Gott neben anderen ist. Diese Idee der Propheten verändert nämlich, so der Philosoph Michael Bongardt, die Geschichte des Krieges.217 Denn der Krieg wird zu einer Strafe für die Tatsache, dass Israel Jahwe nicht treu war. Gott straft Israel nun durch den Sieg anderer Völker über Israel. Ein Krieg gegen Israel kommt somit einer Erziehungsmaßnahme gleich. Gott nutzt Kriege, um sein Königreich durchzusetzen. Bongardt spricht von einem historischen Grundgesetz. Das entscheidende Moment hierbei: Es gibt keinen biblischen Pazifismus und Frieden ist nicht durch Kriegslosigkeit erreichbar. Auch für die Propheten besteht der Grund für Kriege in der menschlichen Bosheit. Jonas folgert aus diesen beiden Aspekten, der Mensch dürfe Kriege führen, um sich gegen Unrecht zu verteidigen. Die Notwendigkeit der Kriegslosigkeit ist nichtsdestoweniger im Antlitz einer so weit fortgeschrittenen (Kriegs-)Technologie exponentiell gewachsen.218 An den General Officer Commanding, H.M. Forces, schreibt er wenige Tage nach Kriegsausbruch, angesichts der Tatsache, dass das Empire sich nun im Krieg gegen Nazi-Deutschland befinde und gemäß der Worte des Premierministers so lange kämpfe bis Hitler besiegt sei, sei er selbst als Palästinenser und ehemaliger Deutscher geradezu begierig, zu den Waffen zu greifen und als Soldat an der Westfront gegen die Feinde seines Volkes zu kämpfen. Sodann möchte er noch wissen, bei wem er sich für militärisches Training anwerben lassen könne.219 Bereits nach dem Einmarsch der deut214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Michael Bongardt: Hans Jonas und der Krieg. Vortrag im Rahmen des Workshops „Zur Aktualität von Hans Jonas“ am 8./9. April 2016 (Universität Siegen), unveröffentlicht. 218 Vgl. hierzu Jonas’ Manuskript in HJ 1-7-16: Religious Implications of Warlessness. Jetzt in: KGA III/1, Metaphysische und religionsphilosophische Studien, hg. von Michael Bongardt, Udo Lenzig und Wolfgang Erich Müller, S. 427-444. 219 HJ 13-40-37, Brief vom 7. September 1939. Sieh auch: 13-40-41, Schreiben vom 15. Oktober 1939.
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schen Truppen in Frankreich im Mai 1940 wollte Jonas als Soldat der Hexagone dienen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Hintergrund seines Ansinnens war, dass zu Beginn des Jahres 1940 das britische Kabinett den Eintritt von Juden in die britische Armee gebilligt hatte und Jonas wohl davon ausging, dies gelte auch für die französische Armee.
IV Soldat und Familienmensch
Doch der Sommer 1940 gehört zunächst der Liebe. Hans Jonas und Lore Weiner werden ein Paar. Ihre Beziehung wird bis zum Tod des Philosophen 1993 halten. Aus ihrer 1943 geschlossenen Ehe220 gehen insgesamt drei Kinder hervor. Schon kurz nach Beginn ihrer Liaison zieht Jonas dann jedoch für die Briten in den Krieg. Dem jungen Paar bleibt somit nicht viel Zeit. Die Einheit, der Hans Jonas angehört, wird zunächst nach Zypern, dann nach Ägypten und schließlich nach Italien verlagert. Noch im Jahr 1940 lernt er auf Zypern Neugriechisch. Er ist nun Soldat der First Palestine Anti Aircraft Battery und unterzeichnet in dieser Rolle am 21. Juni 1940 im Alter von 37 Jahren sein Testament, als dessen Vollstrecker er Felix Rosenblüth und seinen Cousin Heinz Simon einsetzt. Für den Fall, dass einer der Vollstrecker ebenfalls nicht mehr leben sollte, setzt Jonas den jüdischen Juristen Siegfried Moses als Ersatz ein. Sein Bruder Georg als Erbe soll aus den Lebensversicherungen, den Konten und Hypotheken seinen Lebensunterhalt bestreiten. Auch seine Mutter soll über diese Geldmittel versorgt werden: „Wenn Mutter nach Palästina kommen sollte oder sonstwie die Gründe wegfallen, die zu Mutters Übergehung in diesem Testament geführt haben, so bitte ich Euch, praktisch nach Möglichkeit einen Zustand herzustellen, als ob Mutter Erbin wäre.“221 An Heinz Simon gewandt, schreibt Jonas: „Da Georg leider unfähig sowohl zur Gewinnung seines Lebensunterhalts wie zu kundiger Verwaltung von Kapitalien ist, wird es sich praktisch darum handeln ... durch möglichst sparsame Kapitalentnahmen das Vorhandene so lange wie möglich zu strecken. Ueber den Termin hinaus, wo der unvermeidliche Nullpunkt erreicht ist, erlischt auch meine Verantwortung. Es kommt nur darauf an, ihn solange wie möglich hinauszuschieben, weswe220 Vgl. Jonas: Erinnerungen, S. 179. Am 3. September 1943 macht Jonas den Heiratsantrag. Es ist Lores 28. Geburtstag. 221 HJ 24-3-1, Brief vom 8. August 1944 (Heinz Simon).
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gen ich Euch bitte, meinen Bruder zu grösster Sparsamkeit anzuhalten und seine Ausgaben unter dem Gesichtspunkt eines erträglichen Lebensminimums hierzulande zu kontrollieren.“222 Georg wird ebenfalls Soldat und macht ab 1941 „in einer Pionierkompanie den Feldzug in Egypten u. Libyen“223 mit. Nach dessen Ende wird er jedoch schon 1943 aus der Armee entlassen. Die Beziehung zum Bruder lohnt einen genaueren Blick. Georg wird, wie erwähnt, 1939 rasch wieder aus dem Mönchengladbacher Polizeigefängnis entlassen und siedelt nach Palästina über. Auf Initiative seines Bruders kommt Georg ein paar Monate später bei Hans Cohn, einem Bundesbruder von Hans Jonas, in der von deutschen Flüchtlingen gegründeten Stadt Neharija, nördlich von Haifa, am Mittelmeer unter.224 Georg trifft in der ersten Juniwoche dort ein.225 Doch bereits Mitte Juli beschwert sich Cohn bei Jonas über die Kosten und die Arbeitsweise seines Bruders.226 Im August kündigt er sodann das Ende der Aufnahmebereitschaft an.227 Hans Jonas zeigt Verständnis für den Missmut seines Bundesbruders.228 Aus Jerusalem schreibt er an Georg im September einen Brief, in dem er seinem eigenen Grimm freien Lauf lässt. Er erteilt Georg eine Rüge für sein Verhalten und erklärt, unter diesen Umständen sei er nicht bereit, seine Launen finanziell weiter zu unterstützen.229 An dieser Episode lässt sich paradigmatisch das innige, doch hin und wieder auch spannungsgeladene Verhältnis der beiden Brüder aufzeigen. Hans Jonas’ Tochter Ayalah berichtet,230 Georg sei eher ein Lebemann gewesen, belesen und ein Freund der klassischen Musik. Einem geregelten Job wird er nie nachgehen und auch nie heiraten. Hauptsächlich lebt er vom Geld der Familie. Zeitlebens wird sich der Ältere um den kränkelnden und körperlich angegriffenen Jüngeren kümmern und ihm finanziell immer wieder aushelfen 222 Ebd. 223 Hans Hoster: Brief von Hans Jonas an Lisel Haas. In: Rheydter Jahrbuch. Für Geschichte, Kunst und Heimatkunde, hg. von Eva Brües. Mönchengladbach 2002, S. 182. 224 HJ 20-1-15, Brief vom 30. Mai 1940. 225 HJ 20-1-15, Brief vom 9. Juni 1940. 226 HJ 20-1-16, Brief vom 11. Juli 1940. 227 HJ 20-1-17, Brief vom 14. August 1940. 228 HJ 20-1-18, Brief vom 3. September 1940. 229 HJ 20-1-56, Brief vom 1. September 1940. 230 Mail vom 21. Oktober 2015 an Verf.
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müssen, weil er zu selbstständiger Arbeit über einen längeren Zeitraum nicht fähig ist. Hin und wieder säubert Georg Treppenhäuser und fegt Höfe aus. Mit der Hitze in Israel kommt er überhaupt nicht zurecht. Als er 1966 an Tuberkulose erkrankt, übernimmt Hans Jonas die Kosten der Behandlung.231 Auch juristische und Verwaltungsangelegenheiten erledigt Hans für Georg. Trotz aller Belastungen, die dies mit sich bringt, kann sich Georg bis zuletzt auf seinen großen Bruder verlassen, wiewohl das Verhältnis hin und wieder arg strapaziert wird. Unterschwellig spielt der Tod der Mutter als auch ein wenig der Neid des Jüngeren auf den Erfolg des Älteren eine Rolle. Georg fragt dennoch in vielen seiner Briefe an den großen Bruder um Rat. Er will wissen, wie Hans zu dieser oder jener Sache steht. Oft wirkt er entscheidungsunfähig, zaudernd und endlos abwägend. Es bieten sich ihm stets zu viele Möglichkeiten; sie lähmen ihn, eine Entscheidung zu treffen. In seinen Themen, die er in den Briefen anschneidet, zeigt er sich sprunghaft. Die Schrift ist unstet, mal ausladend, mal gedrängt, hin und wieder fällt sie ab und wird schwer leserlich. Einmal, kurz nach dessen Tod, nennt er den Vater, eine innere Distanz zu ihm erkennen lassend, „unseren Erzeuger u. Ernährer.“232 In einem weiteren Brief nennt sich Georg jedoch glücklich; glücklich insbesondere darüber, dass es ihm gelungen sei, so schreibt er 1934 aus Paris nach London, durch Selbstbesinnung, „ein vernünftiges, geklärtes und freundschaftliches Verhältnis“ zu Hans herzustellen, frei von „brüderlicher Befangenheit.“233 Georg interessiert sich sehr für das aufregende Leben seines Bruders; ganz angetan ist er zudem von Hannah Arendt, die er 1934 in Paris trifft und nach der er sich auch später bei Hans erkunden wird. Dem Wort des Bruders legt er stets höchste Bedeutung bei. Auch, wenn Hans ihm nur eine Reiseempfehlung wie 1935 mit auf den Weg gibt. Georg fährt die Route genau so ab und durchquert ganz Italien: Pompeji, Palermo, Ravello, Neapel, Capri, Genua und schließlich Lugano in der Schweiz. Mehr und mehr gewinnt er der Musik Beethovens etwas ab, denn sein Werk offenbare „die tragische Seite unserer Existenz mit einer solchen erkennbaren Urgewalt, mit einer solchen plastischen Kraft, daß keine Shakespeare’sche Tragödie es darin übertrifft.“234 231 Vgl. HJ 10-11-16, Brief vom 26. August 1950 sowie HJ 10-1-1, Brief vom 10. Mai 1968. 232 HJ 20-1-50, Brief vom März 1938. 233 Vgl. HJ 20-1-45, Brief 1934 (Oktober, o.D.). 234 Vgl. HJ 20-1-48, Brief vom 9. Oktober 1937.
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Als Hans Jonas 1933 Deutschland verlässt, nötigt ihm die Mutter das Versprechen ab, sich um Georg zu kümmern, sollte sie einmal nicht mehr da sein. Diesem Versprechen kommt Hans Jonas bis zu seinem Tod nach. So besorgt er Georg unter anderem ein Ein-Zimmer-Appartement in Ramat Gan im Großraum Tel Aviv und einen kleinen Unterhalt. Georg lebt bescheiden und sparsam, zeigt sich aber großzügig, wenn familiäre Geburtstage oder jüdische Feste zu feiern sind. Als Georg 1994 im Sterben liegt, übernimmt Lore den Part ihres Ehemannes und eilt nach Tel Aviv, um am Bett des Schwagers zu sitzen. Sie liest, so berichtet Ayalah, Georg Goethe vor, was sehr berührend gewesen ist.235 Lore trifft die Begräbnisvorkehrungen und bestimmt auch die Worte auf dem Grabstein, die auch Rosa Jonas nochmals erwähnen. Ein unkomplizierteres Verhältnis als zu seinem Bruder Georg unterhält Hans Jonas zu seinem Cousin Gerald, mit dem er schon in Gladbach viel Zeit mit Schwimmen und Reiten verbrachte.236 Gerald lebt seit 1938 auf Hawaii und steht brieflich in Kontakt mit Jonas.237 An just dem Tag, an dem Jonas seinen „Aufruf“ kundtut, schreibt ihm Gerald aus Honolulu und bedankt sich für Jonas’ Bereitstellung der Sicherheit für seine Eltern, eine, wie er sagt, wirklich „grossherzige und uneigennützige Tat.“238 Jonas wiederum schildert seinem Cousin ausführlich und in englischer Sprache, warum er gegen Hitler-Deutschland kämpft. Obwohl sich das fast von selbst versteht, schreibt Jonas, er sehe in seinem Kampf gegen die Nazis eine moralische Verpflichtung, verspüre aber auch eine gewisse Lust am Kriegshandwerk und sei nun in der Lage, seine mathematisch-physikalischen Neigungen in der Praxis zu testen.239 Im Krieg arbeitet er ab 1944 an seiner Philosophie des Organischen. Es ist in erster Linie eine Abkehr von Heideggers Philosophie und eine Reaktion auf den Tod an der Front. Am Neujahrstag des Jahres 1944 schreibt er Lore abermals aus Zypern: „Die Welt, unendlich in ihrer Vielfalt, ganz da für den Menschen und »Welt« eigentlich nur durch den Menschen, verlangt 235 Ayalah Jonas, Mail vom 21. Oktober 2015 an Verf. 236 Vgl. HJ 20-1-67, Brief vom 15. Februar 1934. 237 Vgl. HJ 20-1-66, Brief vom 29. November 1940, sowie 20-1-71, Brief vom 16. Dezember 1938. 238 Vgl. HJ 20-1-72, Brief vom 6. Oktober 1939. 239 HJ 13-40-38. Der Brief ist auf Deutsch und gekürzt abgedruckt in den „Erinnerungen“, eine ungekürzte Fassung desa englischen Originals soll in der KGA Band V publiziert werden.
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von ihm, dass er wach für sie sei und sie wiederspiegele und ihr darin eine neue Existenz verleihe. Das ist der Tribut der dem anspruchsvollen Tatbestand des In-der-Weltseins zu entrichten ist.“240 Jonas rekurriert in seinen Überlegungen darüber hinaus auf den lebendigen und sterblichen Körper, „dessen äußere Form Organismus und Kausalität und dessen innere Form Selbstsein und Finalität ist – er ist das Memento der immer noch ungelösten Frage der Ontologie, was das Sein ist.“241 Parallel zu diesen Gedanken, die später in seinem so überaus bedeutenden Buch „Organismus und Freiheit“ münden sollen, wird im September 1944 die jüdische Brigade, zu der Hans Jonas gehören wird, aufgestellt. Sie bekommt eine eigene Flagge, ein blau-weißes Abzeichen und den Davidstern. Aus dieser Brigade wird einmal die israelische Armee hervorgehen. Wenige Monate bevor im November 1944 die Brigade in Tarent vollständig zusammengeführt wird, schreibt er als Soldat an Lore einen wundervollen Brief, der das Verhältnis der beiden wie kein zweiter wiedergibt. Er beginnt mit der Anrede: „Mein holdes Herz, mein neues Leben, meine gute Frau!“ Jonas fährt fort: „Auf ein halbes Jahr Ehe können wir heute zurückblicken ... Wir sind ein großes Stück Weges zusammen gegangen – ich glaube, in diesem halben Jahr sind wir beide im Miteinander weiter gekommen als in manchen Jahren vorher. Unsere Liebe hat ihre segnende Kraft gezeigt. Sie ist uns selbst im Schatten der Entbehrung eine Quelle des Glückes – u. ich meine: eines hohen u. ernsten, eines erhöhenden u. fördernden Glückes gewesen ... Ich glaube nicht, daß unser Leben leicht sein wird, aber es wird schön, gehaltvoll und gut sein. Oft hast Du gesagt »Ach, es ist gut mit Dir, – alles ist gut mit Dir« u. ich glaube, ich habe Dir dies Lob nie zurückgegeben. Heute will ich es Dir mit beiden Händen zurückgeben: Durch Dich ist alles für mich gut geworden, nur Gutes habe ich erfahren, seit ich mich Dir anvertraut habe. Ich wandle im Licht, seit ich zu Deinem Herzen fand.“ Jonas schreibt dies im Krieg und endet deshalb mit den Worten: „... niemand von uns weiß natürlich, wo der nächste größere Schlag dieses Krieges fallen wird. Möge das Schicksal unserem Privatglück noch einen Monat lang gnädig sein ... Ich küsse Deine Hände, Deine Augen, Deinen Mund. In dankbarem Glück ganz Dein Hans.“242 240 HJ 2-2-5, Auszüge aus Kriegsbriefen, 1. Januar 1944. 241 Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt a.M. 1997, S. 39. 242 HJ 24-19-5, Brief vom 6. April 1944.
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Über Fiuggi, südöstlich von Rom, dringt die Brigade, der Jonas angehört, 1944/45 weiter nach Norden vor: „In Fiuggi verging Woche um Woche. Und während die Männer auf den Marschbefehl warteten, verwandelte sich der italienische Bergkurort allmählich in eine jüdische Gemeinde. Jeden Morgen wurde auf dem Stadtplatz die blauweiße Fahne der Brigade mit dem Davidstern gehisst. An den Straßenkreuzungen brachte man hebräische Verkehrszeichen an.“243 Unter dem Befehlshaber der Alliierten Armeegruppe, Sir Harold Alexander, ist die jüdische Brigade zu Beginn des Jahres 1945 in der Schlacht am Senio, einem schmalen und schlammigen Fluss, verwickelt. Es ist das einzige größere Feuergefecht, an dem auch Hans Jonas beteiligt ist.244 Der Vorstoß über den Senio bedeutet eine enorme Gefahr für die Brigade, denn die deutsche Streitmacht war ihr zahlenmäßig überlegen. Am Ufer hatte die Wehrmacht „während des Winters Maschinengewehrnester eingerichtet, Kanonen und Mörser in Stellung gebracht und das Gebiet dicht vermint.“245 Doch das Manöver glückt, allerdings sind mehr als 50 Tote und rund 150 Verwundete zu beklagen. Am 14. April erhält „die Brigade den Befehl, vor Bologna stehen zu bleiben.“246 Am 29. April 1945 kapitulieren die deutschen Truppen in Italien, die Brigade zieht über Bologna in die alte Lazarettstadt Tarvisio und hilft in den nächsten Wochen jüdischen Flüchtlingen bei der (illegalen) Ausreise nach Palästina.247 „Am 29. Juli 1945 trat die Brigade mit 600 Fahrzeugen ihre lange Reise zu ihren neuen Stützpunkten in den Niederlanden und in Belgien an. Über den Brenner fuhren sie über Innsbruck Richtung Deutschland.“248 Jonas erreicht bei Garmisch-Partenkirchen deutschen Boden und fährt weiter Richtung Ulm, Karlsruhe, Pforzheim, Saarbrücken, Lille und Tournai.249 Schließlich wird die Einheit Ende August in dem Dorf Baarlo bei Venlo am linken Ufer der Maas, knapp 40 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, stationiert.250 Sofort begibt sich Jonas unter anderem auf die Suche nach seinem Cousin Hans Horowitz, nachdem ihm sein Onkel Leo bereits 243 Howard Blum: Ihr Leben in unserer Hand. Die Geschichte der jüdischen Brigade im Zweiten Weltkrieg. München 2002, S. 54. 244 Vgl. Erinnerungen, S. 211. 245 Blum: Ihr Leben, S. 73. 246 Ebd., S. 145. 247 Vgl. Hintzen: Raphaelson, S. 147. 248 Blum: Ihr Leben, S. 264. 249 Vgl. Erinnerungen, S. 215f. 250 Vgl. HJ 20-1-103, Brief vom 9. Juli 1947.
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im September 1940 aus Santiago de Chile schrieb, er halte sich in Rotterdam auf, doch einen Kontakt könne er nicht herstellen.251 Das Zentrale Registraturbüro für Juden in Amsterdam bedauert jedoch, Jonas mitteilen zu müssen, dass sein Cousin Hans nicht in ihren Listen auftaucht.252 Auch für andere Familien forscht Jonas nach Überlebenden des Krieges253 und überbringt freudige wie auch traurige Nachrichten. Wie auch im Fall Hans Horowitz bleibt so manche Suche ergebnislos. Von Tarvisio bis Venlo sind es rund 1700 Kilometer, die Jonas mit seiner Einheit in vier Wochen zurückgelegt haben muss. Auf einem Zettel in einem alten Notizheft254 tauchen des Weiteren und unter anderen auf der Route Tournai-Mönchengladbach die Orte Brüssel, Leopoldsburg und Roermond mit Kilometerangaben auf. Der Weg nach Hause führte ganz offenkundig über einige Umwege. Stimmen diese Angaben, dann kann Jonas nicht, wie in den Erinnerungen geschildert, schon Ende Juni 1945 seine Vaterstadt München-Gladbach besucht haben, sondern frühestens Ende August, Anfang September. Dafür spricht auch der Brief, den ihm die Frau seines Cousins Heinz Simon, Liesel, Ende Juli aus Haifa schreibt und betont, dass sie sich freue, Jonas bald wieder in der alten Heimat zu wissen.255 Auch ein Brief an seinen britischen Vorgesetzten legt diese Einschätzung nahe: „Ende Juli überquerten wir die Alpen.“256 In Gladbach kommt er mit vielen alten Bekannten zusammen und will wissen, wie sich einzelne Gladbacher Bürger in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten haben. Lobende Erwähnung findet unter anderem der Künstler Hans Lüneborg, von dem er seinem Cousin berichtet.257 Außerdem erfährt er durch die Gladbacher Bürgerin Flora Herzberger vom Tod der Mutter,258 deren Sterbedatum zunächst auf den Tag der Kapitulation, den 8. 251 HJ 20-1-116, Brief vom 9. September 1940. Sie auch: HJ 20-1-182, Brief vom 2. Oktober 1939. 252 HJ 20-1-23, Schreiben vom 29. August 1945. 253 Vgl. HJ 20-1-26, Brief vom 11. Oktober 1945; sowie 20-1-27, Brief vom 20. Januar 1946, und 20-1-29, Brief vom 3. November 1946, 20-1-30, Brief vom 29. Oktober 1945. 254 HJ 16-17-3. 255 HJ 20-1-224, Brief vom 31. Juli 1945. 256 HJ 11-1-4, Briefentwurf ohne exaktes Datum (1945). Aus dem Englischen übersetzt: Verf. 257 HJ 20-1-74, Brief Gerri an Hans vom 27. Oktober 1946. 258 StAMg Sammlung Hans Jonas 15/43/114 Bd. I, Schreiben vom 6. September 1958. Jonas nennt auch eine Frau Kadaun (evtl. auch Kardaun?), deren exakter Name aber nicht zu recherchieren war. Sieh auch HJ 17-1-3, wo die Namen mit Adressen auftauchen.
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Mai 1945, datiert wird: „Das ist eine dunkle Geschichte, der große Kummer meines Lebens. Diese Wunde hat sich nie geschlossen – das Schicksal meiner Mutter. Darüber bin ich nie hinweg gekommen.“259 An Rudi Vitus gerichtet heißt es in einem Brief Jahre später hierzu: „Man kommt nie ueber das Entsetzliche hinweg, und wenn es wieder heraufbeschworen wird, verliert man die Fassung. Aber ebenso unversieglich wie der Schmerz ist auch die Troestung der Freundschaft und der Liebe, die die Nacht des Unrechts durchleuchtet...“260 Im Sommer 1945 ist er mit der britischen Einheit in Deutschland. Dort begegnet er Jaspers und Sternberger in Heidelberg, Bultmann und Julius Ebbinghaus in Marburg, sowie im September dem Verleger Hellmut Ruprecht in Göttingen.261 Die Begegnung mit Ruprecht liegt ihm besonders am Herzen, und gegenüber Jaspers ist er mit Blick auf die Atomenergie beinahe euphorisch. Er könne sich, so sagt er, „das Entstehen einer großartigen Mußegesellschaft vorstellen, wenn man nun Energie in unbegrenzter Fülle, und vermutlich eben sehr billig, haben werde. In diesem Moment“, so berichtet er weiter, „schwebte mir ... eine Art naiver Blochscher Utopie vor.“262 In einer Sache aber ist er auch schon damals kein Utopist. So versucht er recht schnell nach Kriegsende über den Rechtsanwalt Isidor Fürst Rückforderungs- und Entschädigungsansprüche an Deutschland angesichts des materiellen und finanziellen Verlusts der Familie geltend zu machen.263 Ende 1945, nach überstandenem Hexenschuss,264 kehrt er ins Zivilleben zurück und hält zudem bald wieder Vorträge über Deutschland nach dem Krieg.265 Sein Fazit dieser Zeit: „Etwas, was mit einem so fürchterlichen Preise erkauft ist, wie die Tatsache, daß es jetzt wirklich eine demokratische Bun259 Jonas: Erinnerungen, S. 139. 260 HJ 10-1-27, Brief vom 8. November 1963. 261 Vgl. hierzu Hertha Luise Busemann: Deutsche und Juden in Göttingen im ersten Jahr nach dem Holocaust. In: Göttinger Jahrbuch 1992, S. 205ff. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. 262 Die Bereitschaft zur Furcht ist ein sittliches Gebot. Interview mit Alexander U. Martens anlässlich der Verleihung des Friedenspreises 1987. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. 263 Die Angelegenheit wird sich trotz einer Einigung in den 1960er Jahren bis weit in die 1980er Jahre hineinziehen. Vgl. StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 Band I und II. Ich komme hierauf zurück. 264 HJ 20-1-32, Brief vom 24. Oktober 1945. 265 HJ 13-40-13, „Deutschland – Herbst 1945“. Alternativ: „Deutschland 1945 – ein Augenzeugenbericht“, HJ 13-40-30.
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2 STUDIENZEIT UND JAHRE DER EMIGRATION
desrepublik gibt, das kann man eigentlich nicht zu den erfreulichen Überraschungen eines Jahrhunderts rechnen. Dazu waren der Opfer zu viele. Man kann nicht sagen: Es hat sich gelohnt.“266 Primo Levi, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat, schreibt in seinem autobiografischen Bericht im Oktober 1945, also zu der Zeit, in der Hans Jonas ebenfalls noch durch Deutschland reist: „Während ich durch Münchens trümmerübersäte Straßen irrte ... war mir, als bewege ich mich unter einer Schar zahlungsunfähiger Schuldner, als sei jeder einzelne mir etwas schuldig und weigere sich, es zu bezahlen. Ich war unter ihnen, im Lager des Agramante, unter dem Herrenvolk; aber es gab nur wenig Männer, viele von ihnen waren Krüppel, viele trugen Fetzen am Leibe wie wir. Mir war, als müsse jeder uns Fragen stellen, uns an den Gesichtern ablesen, wer wir waren, demütig unseren Bericht anhören. Aber niemand sah uns in die Augen, niemand nahm die Herausforderung an: sie waren taub, blind und stumm, eingeschlossen in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von Überheblichkeit und Schuld.“267 Deutschland – eine Festung gewollter Unwissenheit. Im November 1945 kehrt Hans Jonas aus dieser Festung nach Jerusalem zurück. Die Welt war nicht mehr dieselbe. Wie der erste Präsident Israels einmal sagen sollte, war sie in zwei Teile geteilt worden: „In einen, in dem Juden nicht leben können, und in einen, in den sie nicht gehen dürfen.“268 Auch in Palästina hält Jonas Vorträge über Deutschland, unter anderem in Haifa. Rabbi Robert Geis, der zu den Zuhörern zählt, bescheinigt ihm anschließend, Jonas’ Bemühen um ein gerechtes Urteil habe ihn persönlich tief bewegt: „Es ist für uns Juden ja so schwer, gerecht zu sein, nicht allein vom Hass beherrscht zu werden. Und dennoch scheint mir unsere geistig-religiöse Existenz davon abzuhängen, ob wir den Hass in uns abbauen können, anderenfalls wir Entronnenen noch nachträgliche Opfer Hitlers würden.“269 Hans und Lore Jonas wohnen bis zum Ausbruch des kommenden Krieges (1948) in Israel in Issawiya, außerhalb Jerusalems und machen unter anderem freundschaftliche Bekanntschaft mit dem Mathematiker Zeev 266 Jonas: Erkenntnis, S. 82. 267 Primo Levi: Ist das ein Mensch? Die Atempause. München 1988, S. 359f. 268 Blum: Ihr Leben, a.a.O., S. 225. 269 HJ 20-1-25, Brief vom 20. Januar 1946.
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Nehari, der 1915 als Willy Weisbach in Berlin geboren wurde und seit 1935 ebenfalls an der Hebräischen Universität in Jerusalem war, dort allerdings noch als Student. 1947 ging er aus Jerusalem weg, zunächst an die Harvard University, dann nach Washington und schließlich an die Carnegie-Mellon-University in Pittsburgh, wo er bis zu seinem Tod 1978 lehrte. In den USA werden sich die beiden Familien weiterhin besuchen und sich regelmäßig über das Leben und die Wissenschaft in ihrer neuen Heimat austauschen.270 Hans Jonas ist in den Jahren nach dem Krieg offensichtlich auch mehrfach in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. So existieren fotografische Belege etwa für das Jahr 1947.271 Auch der Briefwechsel mit dem Juristen Günther Erckens272 deutet darauf hin, dass Hans Jonas mehrmals in Gladbach weilte. Im September 1953 schreibt ihm etwa sein alter Freund Rudi Vitus: „Uns war Dein Besuch ... eine wirkliche Freude.“273 Lore bestätigt diesen Besuch in einem Brief. Sie schreibt im August 1953: „Kauf dir anständige Hemden, mein Schatz, und Schlafanzüge, dass Du wieder der Mozartstrasse Ehre machst, und ein Koffer und eine Aktentasche, und ein Morgenrock vielleicht, und Bücher.“274 Im November 1963 schließlich kündigt Hans Jonas ebenfalls einen Besuch bei Rudi Vitus für März/April 1964 an.275 Anlass seiner früheren Besuche in Mönchengladbach dürfte nicht zuletzt die Abwicklung der Entschädigungsansprüche rund um Haus und Firma gewesen sein. Doch nicht nur in den 1940er und 1950er Jahren, auch später, insbesondere in den frühen 1980er Jahren, noch ehe der offizielle Kontakt über die Stadtverwaltung ab 1987 aufgenommen wurde, kommt er nach Mönchengladbach.
270 Vgl. u.a. HJ 13-18-9, Brief vom 16. August 1953. 271 Vgl. Hans Hoster: Brief von Hans Jonas an Lisel Haas, a.a.O., S. 181-187. 272 StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. 273 HJ 12-1-142, Brief vom 15. September 1953. 274 HJ 13-18-9, Brief vom 16. August 1953. 275 HJ 10-1-27, Brief vom 8. November 1963.
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I Von Jerusalem nach Ottawa
1946/7 wird Hans Jonas zunächst Gastdozent in Jerusalem. Er unterrichtet Alte Geschichte an der nach Kriegsende gegründeten School of Higher Studies des British Council und Philosophie an der Hebräischen Universität. Unter anderem bietet er eine Vorlesung über „Das Problem des Lebens im Rahmen der Ontologie“ an, worin er neue Gedankengänge, „die Stellung des Organismus im System des Seins betreffend“276 entwickelt. Im Zentrum steht hierbei die (erkenntnistheoretische) Dualismusfrage, die ihn abermals in die Auseinandersetzung mit Kant treibt. Außerdem vertritt er im Wintersemester 1947/48 das Fortgeschrittenenseminar von Prof. Hugo Bergman und hält einen Vortrag anlässlich Martin Bubers 70. Geburtstag in Jerusalem auf einer Veranstaltung des Irgun Olej Merkas Europa,277 eine Organisation, gegründet, um die aus Deutschland und Europa kommenden jüdischen Immigranten zu unterstützen. Für die Organisation hat Jonas bereits 1946 mehrere Vorträge gehalten, die ihm Hans Tramer, von 1956 bis 1979 Vorsitzender des Leo-Baeck-Instituts, im Großraum von Tel Aviv, wo auch sein Bruder Georg lebt, vermittelt hat.278 An Jaspers gerichtet schreibt er, er sei „zu einer polyglotten Existenz genötigt.“279 Dazu gehört unter anderem auch, dass er für den Schocken-Verlag ein Regestenverzeichnis des Konzernverkaufs erstellt.280 Schon im Herbst 1947 hat Hans Jonas darüber hinaus versucht, die 1944 im Krieg entstandenen Lehrbriefe281 an seine Frau in der Zeitschrift „Die Wandlung“, deren Herausgeber sein Freund Dolf Sternberger ist, 276 Vgl. HJ 20-1-92, Brief an Jaspers vom 18. Juli 1947. 277 Vgl. Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Band III: 1938-1965. Heidelberg 1975, S. 173. 278 HJ 13-40-1. 279 Vgl. HJ 20-1-92, Brief an Jaspers vom 18. Juli 1947. 280 Vgl. HJ 20-1-206, Schreiben vom 25. April 1946. Regest nennt man die Zusammenfassung eines rechtsrelevanten Inhalts. 281 Erstmals veröffentlicht in den Erinnerungen, a.a.O., S. 348ff.
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unterzubringen.282 Dies gelingt jedoch auf Grund der Thematik nicht. Für Jonas ist klar, dass es für lange Zeit seine letzte Schrift auf Deutsch sein wird. Die Themen der Lehrbriefe kreisen um die philosophische Pflicht der Antwort, das Sich-Einlassen auf Ergebnisse der Naturwissenschaften und den Leib-Seele-Dualismus. Die Gnosis will er – zunächst – ad acta legen, verstärkt nimmt er Bezug auf Alfred North Whitehead und Henri Bergsons Lebensphilosophie, deren Leitmotiv der élan vital ist, ein Schöpfungsprinzip, das die organischen und geistigen Formen des Lebens als Einheit begreift.283 Die Entfaltung des Lebens zu immer höheren Formen impliziert bei Bergson die Idee der Freiheit. Bergson rezipierend schreibt Hans Jonas im Lehrbrief vom 31. März 1944 an Lore: „Im Begriff der Freiheit besitzen wir einen Leitbegriff für die Interpretation des Lebens ... also ein ontologischer Grundcharakter des Lebens als solchem; und auch ... das durchgehende Prinzip ... seines Fortschrittes zu höheren Stufen, in dem jedesmal Freiheit auf Freiheit sich baut, höhere auf niedere, reichere auf einfachere: In den Termini des Freiheitsbegriffes läßt sich das Entwicklungsganze überzeugend interpretieren.“284 Der Begriff der Freiheit beschäftigte ihn schon in seiner 1930 publizierten Schrift über „Augustin und das paulinische Freiheitsproblem“, deren Thesen und Inhalte er auch in den 1950er und 1960er Jahren wieder aufgreift.285 Jonas legt dar, „wie Augustinus, der das abendländische Denken sehr stark beeinflussen sollte, die paulinische Bestimmung des Freiheitsbegriffes verändert hat. Grundlage dieser Augustin-Studie ist ein Referat, das Jonas am 21. Januar 1928 unter dem Titel Das Freiheitsproblem bei Augustin“286 im Marburger Schelling-Seminar von Martin Heidegger gehalten hat. Freiheit verspürt er in diesen Tagen selbst wohl kaum. Noch immer hofft er auf eine universitäre Zukunft in Jerusalem. Doch wieder einmal spielt 282 HJ 20-1-247 bis 249. 283 Vgl. Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1921. Ders.: Zeit und Freiheit. Hamburg 2006. Zu Whitehead und Jonas sieh auch Regina Uhtes: Metaphysik des Organischen. Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft in Jonas‘ Philosophie des Lebens vor dem Hintergrund der organismischen Philosophie Whiteheads. Bochum/ Freiburg 2006. 284 Erinnerungen, S. 357. 285 Vgl. KGA Band III/1, Metaphysische und religionsphilosophische Studien. 286 Michael Bongardt et alii: Einleitender Kommentar KGA Band III/I, S. XXXVIII. Ders.: God in the World of Man: Hans Jonas‘ Philosophy of Religion. In: John-Stewart Gordon/Holger Burckhart (Hg.): Global Ethics and Moral Responsibility. Hans Jonas and his Critics. Ashgate 2014, S. 105-126.
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ihm das Schicksal einen Streich. Denn nach dem teilweisen Rückzug der Briten aus Palästina und der damit verbundenen Security Situation, bietet sich ihm keine Perspektive einer Daueranstellung mehr. Nun doch ein wenig verzweifelt fragt er Leo Strauss für das Wintersemester 1948/49 in New York an, ob dort eine Gastprofessur möglich sei. Der vier Jahre ältere Strauss aus dem hessischen Kirchhain ist ebenfalls Jude, politischer Philosoph und beschäftigt sich mit ähnlichen Themen wie Jonas. Seine Forschungsfelder sind Spinozas Religionskritik, die Offenbarung, die Propheten, die sokratische Frage, die jüdische Aufklärung im Mittelalter und vor allem: Thomas Hobbes. Zwischen Philosophie und Religion kreisend versucht Strauss wie auch Jonas den Streit zwischen antikem und modernem Denken zu überwinden „um die freiheitliche Gesellschaft gegen die durch Relativismus, radikalen Historizismus und Nihilismus verursachten Abweichungen zu verteidigen“, wie sein Biograf Daniel Tanguy schreibt.287 In den frühen 1920er Jahren ist Strauss noch ein hochpolitischer Mensch, der Herzls Idee des Zionismus gegen die Angriffe der Orthodoxen verteidigt. So geschehen in seinem Aufsatz mit dem scholastischen Titel „Ecclesia militans“288, der auf ironische wie polemische Art mit militärischen Metaphern spielt, um den Streit, aber auch die Überschneidungen zwischen Zionisten und Orthodoxen, zwischen Tradition und Vernunft zu karikieren. Ab Ende der 1920er Jahre tritt das Politische zugunsten der politischen Philosophie zusehends in den Hintergrund. Über Leo Strauss schreibt Hans Jonas in einem Brief an Rémi Brague im Februar 1985, er habe seinem Bundesbruder Strauss in seiner Marburger Zeit und bis zu seiner Emigration 1933 sehr nahe gestanden. Er sei damals „politisch so entschieden zionistisch wie religioes atheistisch“ gewesen. Außerdem habe er Buber gehasst. Und politisch rechts sei er von Anfang an gewesen. Mit dem deutsch-amerikanischen Philosophen Jacob Klein, einem Experten der antiken Philosophie und Mathematik, habe er einen „gewissen Mussolini-Kult“ betrieben und das japanische Militärethos bewundert. Obwohl Strauss ein Schüler Cassirers war, stand er dem Denken 287 Daniel Tanguy: Leo Strauss. An Intellectual Biography. Yale UP 2007, S. 193. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. Sieh auch Peter Graf Kielmansegg et alii (Hg.): Hannah Arendt and Leo Strauss. German Émigrés and American Political Though after World War II. Cambridge 1995. Zudem Heinrich Meier: Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss. Stuttgart 2003. 288 Leo Strauss: Ecclesia militans. In: Jüdische Rundschau 36 vom 8. Mai 1925, S. 334. Zitiert nach: HJ 16-8-3.
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Heideggers nahe. Jonas beschreibt ihn als unmusikalischen, schwierigen, sehr empfindlichen und misstrauischen Menschen, zu dem die Beziehung in den 1960er Jahren abgebrochen sei.289 Als Hans Jonas bei Strauss 1948 bezüglich einer universitären Anstellung anfragt, ist Lore bereits schwanger und er selbst 45 Jahre alt. Strauss bedauert zutiefst, ihm nicht weiterhelfen zu können, vermittelt ihm aber noch im selben Jahr ein Stipendium der Lady-Davis-Foundation über Elisabeth Staudinger, Ehefrau des Wirtschaftswissenschaftlers Hans Staudinger und Direktorin des American Council for Emigrés in the Professions. Sie sorgt sich in dieser Funktion um Emigranten der Wissenschaft wie Hans Jonas, damit sie in Amerika Fuß fassen können.290 Vor allem ihr ist Hans Jonas besonders dankbar, hätte er doch, so schreibt er, ohne ihre Hilfe von der Existenz der Stiftung überhaupt keine Kenntnis gehabt.291 Jonas’ Schwiegermutter Paula Weiner kennt Elisabeth Staudinger zudem aus ihrer Heidelberger Zeit in der Freien Studentenschaft. Hans Staudinger wiederum prägt als Dekan die Graduate Faculty of Political und Social Science in New York, an der Jonas ab 1955 ebenfalls wirken wird. Ich komme hierauf zu sprechen. Zunächst noch einmal zurück zur Situation in Palästina: Die Briten ziehen am 14. Mai 1948 ganz aus Palästina ab. Es folgt die Ausrufung des Staates Israel und der Krieg der Israelis gegen libanesische, syrische, irakische, ägyptische und jordanische Streitkräfte. Bereits nach der Verkündung des UN-Teilungsplans von Lake Success Ende November 1947 war es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Die Palästinenser sahen sich ungleich behandelt und protestierten vehement gegen die geplante Verteilung des Landes. Hans Jonas kämpft erneut. Dieses Mal in der israelischen Armee. Doch eigentlich will er nichts lieber als zur wissenschaftlichen Arbeit zurück. Die Wohnung in Issawiya muss er verlassen, nachdem sein arabischer Vermieter klarstellt, dass er Jonas’ Leben nur schützen könne, wenn er sein eigenes aufs Spiel setze. George Lichtheim spöttelt: „Deinen Entschluss zum Um289 HJ 16-8-2, Brief vom 14. Februar 1985. 290 Vgl. HJ 21-1-8, Schreiben vom 25. Oktober 1948. Hans Staudinger (1889-1980), SPD-Politiker und Sozialökonom, der 1934 im Rahmen der Johnson-Initiative an die New School of Social Research kam, richtete dort nach dem Zweiten Weltkrieg den Theodor Heuss-Lehrstuhl mit ein und fungierte mehrmals als Dekan. Ab 1959 war er Herausgeber der Fachzeitschrift Social Research, in der Hans Jonas viele Artikel platzierte. 291 HJ 21-1-7, Briefentwurf o.D. (vermutlich Frühjahr/Sommer 1948).
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Abb. 8: Hans Jonas als Soldat 1946, © Nachlass Hans Jonas, 8 HJ 13-41-13.
Abb. 9: Hans Jonas als Soldat in Jaffa 1948, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-13.
zug billige ich, wenn auch vielleicht vom nationalen Gesichtspunkt die Aussicht, zwischen dem Mufti und dem Mukhtar eine ewige Blutfehde zu stiften, Dich haette bewegen sollen, eine andere Haltung einzunehmen, sei es auch auf Kosten Deiner physischen Existenz.“292 Jonas’ Überleben sei zwar politisch bedenklich, doch menschlich durchaus erfreulich, so Lichtheim in seiner typisch freundlichen Boshaftigkeit.293 Hans und Lore finden zunächst im 1921 neu gegründeten Jerusalemer Stadtteil Rehavia, in der Abarbanel Street, eine Bleibe.294 Rehavia ist eine moderne Vorstadt, die vor allem die begüterten Juden beheimatet, Beamte und Universitätsangehörige. Die deutschen Juden stehen in der sozialen Hierarchie allerdings weit hinten. Dann, kurz nach Ausbruch des Krieges im Mai, fällt am 3. Juni 1948 sein Schwager Franz Joseph Weiner. Er wird nur 26 Jahre alt. Erst seit ein paar Monaten verheiratet, war er kurz davor, zum ersten Mal Vater zu werden. Seine Tochter Josepha kommt 1949 zur Welt. Für sie verfasst Hans Jonas seine Erinnerungen an Franz Joseph Weiner mit dem Titel „Yiscor“ im Juni 1949.295 Yiscor ist ein Gebet, um den Verstorbenen zu gedenken. Es ist üblich, erst ein Jahr nach dem Tod das Yiscor-Gebet zu sprechen. Der Trauer über 292 HJ 20-1-145, Brief vom 14. Februar 1948. Mukhtar ist der Vorsitzende einer Dorfgemeinde, Mufti ein islamischer Rechtsgelehrter. 293 Ebd. Zur historischen Situation sieh Krämer: Geschichte Palästinas, a.a.O. 294 Sieh HJ 20-1-42, Brief an Marvin Farber vom 21. Februar 1948. Vgl. Erinnerungen, S. 244f. 295 Sieh HJ 9-16-4 sowie Hans Jonas: Yiscor. In: KGA III/2, S. 81-96.
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den Verlust beigemischt ist die Freude über die Geburt der ersten Tochter Ayalah am 25. Oktober 1948, just an Simchat, dem jüdischen Thorafreudenfest. Doch auch diese Freude wird ein wenig überschattet von der Bombardierung Jerusalems. Martin Buber charakterisiert die Situation Israels in einem Brief an Rudolf Bultmann vom 9. Oktober 1948 als „apokalyptisch“.296 Bereits im Sommer des Jahres, nach dem Tod des Schwagers, hatte sich Jonas für ein paar Wochen aus Jerusalem verabschiedet, um Lore auf Grund der angespannten Situation in Jerusalem bei ihren Eltern in Tel Aviv unterzubringen und als Spezialist dem Stab der Artillerie zu dienen. Tel Aviv wird ohnehin nach der Staatsgründung Israels zum Zentrum der jüdischen Immigration. Mit fast 4 Millionen Menschen ist der Großraum Tel Aviv heute der größte Ballungsraum Israels. Anfangs waren dort auch die neu gegründeten Ministerien ansässig, ehe sie langsam, ab Anfang der 1950er Jahre, nach Jerusalem abgezogen wurden. In Tel Aviv ist Hans Jonas damals Lehrer an der Artillerie-Offiziers-Schule.297 Er selbst will von dort aus unter anderem zum X. Kongress für Philosophie in Amsterdam reisen. Eine adäquate Reiseverbindung lässt sich jedoch nicht finden und verhindert seine Teilnahme.298 Lore schildert ihren Verwandten: „Hans ist mal wieder sehr beschäftigt ... Er hat seine 5jährige ... Kriegserfahrung nun dem Aufbau unserer eigenen Armee zur Verfügung gestellt und ist nun for the duration Instruktor an unserer neu gegründeten Artillerieoffiziersschule. Ausserdem arbeitet er auch noch im Stabe der Artillerie.“299 An seinen Onkel Leo schreibt Jonas: „Lore und ich sind ungeschädigt durch alle Gefahren des letzten Jahres hindurchgekommen und sehen in etwa 3 Wochen der Geburt unseres ersten Kindes entgegen, mit allem Glück der Vorfreude! Wir haben die schweren Wochen und Monate der Belagerung Jerusalems mitgemacht, abgeschnitten vom übrigen kämpfenden Israel, bei Brot- und Wassermangel, ohne Licht und Brennstoff, während Tag und Nacht die Granaten in die Strassen und Häuser einschlugen, die Opfer fielen, aber die hartnäckige jüdische Verteidigung nicht einen Fussbreit Bodens aufgab.“ Zunächst lediglich mit den Waffen der alten Haganah ausgestattet, muss sich der junge Staat gegen mehrere etablierte 296 Buber: Briefwechsel, a.a.O., S. 182. 297 Die Lage schildert Lore in HJ 20-1-76, Brief vom 25. August 1948; sowie HJ 20-1-120, Brief vom 4. Oktober 1948. 298 Vgl. HJ 20-1-19, Brief vom 25. August 1948. Sieh auch HJ 20-1-92, Brief an Jaspers vom 18. Juli 1947. 299 HJ 20-1-76, Brief vom 25. August 1948.
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Abb. 10: Hans Jonas, Ottawa 1950, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-12.
Länder militärisch behaupten. Jonas schreibt: „Das scheinbar Unmögliche war nur möglich, und das grosse Wagnis des 14. Mai, bei dem der totale Einsatz unserer Existenz gewagt wurde, nur gerechtfertigt, durch das, was in Jahrzehnten zionistischer Aufbauarbeit vorher geschaffen worden war: der neue jüdisch[e] Mensch.“300 Für ihn entwickelt sich die Schlacht um Jerusalem zu einer zwischen Moral und Maschine, Herz gegen Eisen und Stahl. Die gefallenen jüdischen Soldaten vergleicht er in dem Brief an seinen Onkel mit der mythischen Figur des Arnold von Winkelried, der im Jahre 1386 bei der Schlacht von Sempach einige Lanzen der Ritter Habsburgs genommen und, sich selbst aufspießend, den Eidgenossen eine Bresche in die feindliche Armee geschlagen haben soll: „Diesen Arnold Winkelrieden verdanken wir alle unser Leben und unsern Staat.“301 Jonas spricht in diesem Zusammenhang – recht pathetisch – auch von einer militärischen „Sammlung der Galuthe“,302 die ihn persönlich sehr ergreife, da von überall her auf der Welt die Juden herbeieilen, um für ihre Sache zu kämpfen. „Ein Volk in Waffen“303 sei in Jerusalem zusammengekommen. Lore berichtet Ähnliches in einem Brief an ihre Freundin Tilde Friedrich und hebt hervor, wie nahe sich Tod und Alltag in diesen Monaten gegenüberstanden: 300 HJ 20-1-120, Brief vom 4. Oktober 1948. 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Ebd.
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„Todesnähe und Todesgefahr integrierten sich in einer Weise mit der normalen Routine von Wäschewaschen und Essenkochen, die nachträglich schwer zu fassen ist.“304 Parallel zu den Gefechten in und um Jerusalem erfährt Jonas im September von der Bewilligung des einjährigen Stipendiums der kanadischen Lady-Davis-Foundation für Montreal. Die offizielle Bekanntgabe erfolgt am 1. Dezember 1948 durch die Stiftung.305 Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, dass Hans Jonas ohne die großzügige Zuwendung seitens der Stiftung nicht das geworden wäre, was er geworden ist: Einer der bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Als Referenz für die Bewilligung der Zuwendung gibt er neben seinem Vorgesetzten der British Council School of Higher Studies, Robert Hellman, auch Hugo Bergman an, den er aber, aus Zeitgründen, wie er schreibt, erst im Anschluss daran selbst kontaktiert.306 Elisabeth Staudinger teilt Jonas kurz darauf mit, er habe sich bezüglich seiner Forschungen in Kanada allerdings eigenständig um eine wissenschaftliche Einrichtung zu kümmern.307 In diesem Zusammenhang war zunächst auch das St. John’s College in Annapolis, Maryland, im Gespräch, doch die Anstellung dort wäre mit weitaus mehr Hürden verbunden gewesen. So war unter anderem entscheidend, dass St. John’s amerikanisch, die Stiftung aber kanadisch ist, was es nicht unmöglich, doch problematisch gemacht hätte.308 Jonas wird also Jerusalem verlassen und an das Dawson College mit ca. 700 Studenten gehen. Das College gehört zur McGill University und liegt außerhalb Montreals. Seine neue Aufgabe ist es, Naturwissenschaftler in die Philosophie einzuführen. Im Sommer 1949 folgt die Übersiedlung nach Kanada. Schon vor Ausbruch des Krieges hatte ihm sein Cousin Gerald vorgeschwärmt: „Ich habe Dir nichts erzählt von all dem Herrlichen, was wir von der Welt gesehen haben, von Kanada, durch das wir 4 Tage und fünf Nächte ununterbrochen gefahren sind, von New-York selbst, wo wir drei Monate geblieben sind ... von den Staaten der Ostküste Nordamerikas, Maryland, Virginia, Nord- und Südcaroline, Georgia und Florida ... Du weißt nicht, wie 304 HJ 20-1-268, Brief o.D., vermutlich Anfang Oktober 1948. 305 HJ 12-3-7, Schreiben vom 28. September 1948 sowie HJ 12-3-1, Schreiben vom 1. Dezember 1948. 306 Vgl. HJ 20-1-6, Briefentwurf vom 14. September 1948. 307 HJ 21-1-6, Schreiben vom 28. September 1948. 308 Vgl. den Briefwechsel mit Else Staudinger insgesamt, HJ 21-1.
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Hilde und ich die Reise durch Kanada genossen haben, dieses Riesenland, das spärlich besiedelt ist, für viele Millionen Platz bietet, dazu Naturschönheiten hat wie die Rocky Mountains, die den Schweizer Alpen gleichstehen ...“309 Jetzt erwartet ihn Gerald, der mit seiner Familie inzwischen in Cincinnati ist, freudig: „Ich habe eine grosse Hoffnung, dass sich nach Deinem Eintreffen etwas mit den hiesigen zionistischen Organisationen oder dem Hebrew College arrangieren lässt betr. Vorträge oder ähnlichen Unternehmungen, die Dich + die Deinigen hierherbringen.“310 Als Hans Jonas wenige Monate nach dem Brief seines Cousins mit dem Schiff vorbei an der Statue of Liberty in New York anlegt und von dort aus weiter nach Kanada reist, ist seine Enttäuschung jedoch sehr groß: „Wir kamen inmitten der großen Ferien an. Niemand war da, und für viele Wochen war es mir völlig unmöglich, auch nur irgendeinen Kontakt herzustellen. Als es mir endlich gelang, wurde alsbald klar, dass das Department für Philosophie an der McGill Universität für Jahre keine weiteren Stellen wird bereitstellen können.“311 Dawson ist zwar ein akademisch uninteressanter Ort, doch immerhin ein Anfang.312 Entgegen den eigenen Erinnerungen aber ist die Stelle dort keineswegs sicher. Von vornherein ist klar, dass das Stipendium nur eine Brücke bietet, um in der amerikanischen Universitätslandschaft heimisch zu werden. Das College selber erhält Regierungszuschüsse, die Lehrbeanspruchung ist mäßig und es bleibt Zeit zu eigener Arbeit. Allerdings ist die Bibliothekausstattung des College schlecht und der Weg in andere Bibliotheken zu weit. Im Juli 1949 kehrt er für eine kurze Zeit gleich wieder nach Europa zurück. Die junge Familie hält sich in Paris auf und fährt in die Schweiz. Es ist der Beginn einer gut vierzig Jahre dauernden Pendelei zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Kontinent. In den Weihnachtsferien 1949/50 reist er sodann in die Vereinigten Staaten zum Kongress der American Philosophical Association, Worcester Massachusetts.313 In New York kommt es zu Jahresbeginn 1950 zu einem Treffen mit Karl Löwith und Jacob Taubes sowie zu einem ersten Wieder309 HJ 20-1-71, Brief vom 16. Dezember 1938. 310 HJ 20-1-81, Brief vom 9. Februar 1949. 311 Vgl. HJ 21-1-23, Brief an Else Staudinger vom 21. September 1949. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 312 Vgl. HJ 11-4-48, Brief an Martin Buber vom 21. Oktober 1949. 313 HJ 21-1-11, Brief an Else Staudinger vom 26. November 1949.
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sehen mit Günther Anders314 und Hannah Arendt. Jonas besucht zudem Chicago, wo er sich mit Leo Strauss trifft. Dann fährt er nach Cincinnatti, Ohio. Dort besucht er seinen Cousin und dessen Frau Hilda, eine begnadete Cembalistin.315 Im Hause des Cousins kommt es auch zur Begegnung mit Leo Baeck, Professor am dortigen Hebrew Union College316 und zu Lebzeiten der bedeutendste Repräsentant des liberalen Judentums in Deutschland. Alles scheint auf gutem Weg. Doch erneut ändert sich die Sachlage schnell und gravierend. Denn schon 1950 schließt das Dawson-College aus finanziellen Gründen, und eine Übernahme seiner Person an die McGill-University scheitert aus diesem Grund. Sein Versuch, an der University of Alberta in eine Position zu gelangen, misslingt ebenso wie seine Gesuche an den Universitäten von British Colombia, Vancouver und der Dalhouse University in Halifax, stellvertretend für viele weitere Initiativbewerbungen, die Jonas in dieser Zeit nicht zuletzt auf Anraten Werner Jägers,317 dennoch offensichtlich ein wenig verzweifelt, losschickt.318 In dem Anschreiben an verschiedene Universitäten heißt es, seine Lehrerfahrungen umfassten die alte und moderne Geschichte der Philosophie, Wissenschaftstheorie, Logik und zeitgenössische Philosophie. In den letzten Jahren sei sein Forschungsschwerpunkt weniger historisch orientiert als vielmehr der systematischen Philosophie verpflichtet, vor allem in ihrer Beziehung zu den Naturwissenschaften. Schon seit einigen Jahren lehre er nun auch in Englisch. Jonas schließt mit den Worten: „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meinem Anliegen ein wenig Aufmerksamkeit schenken könnten.“319 Doch einzig bei Aron Gurwitsch, Brandeis University, Waltham Massachusetts, scheint in Sachen einer Anstellung etwas 314 Der Kontakt zu Anders, der im Frühjahr 1950 nach Europa zurückkehrt, wird aber offenbar nicht gepflegt. Anders’ Schwester Eva Michaelis schreibt Jonas im August 1954, Günther bedaure, dass er nicht in Verbindung mit Jonas stehe. Vgl. HJ 12-1-87, Brief vom 14. August 1954. Jonas hegte zu Studienzeiten große Sympathien für Anders’ Schwester, vgl. Young-Bruehl: Hannah Arendt, a.a.O., S. 106. 315 Vgl. HJ 11-5-28, Zeitungsausschnitt o.N. vom 20. Juli 1958. 316 Sieh HJ 10-11-9, Brief von Leo Horowitz vom 21. Februar 1950. Sieh auch HJ 11-4-27, Brief von Leo Baeck vom 3. Februar 1950. Vgl. zudem: Erckens, Juden, a.a.O., Bd. 2, S. 452. 317 HJ 11-4-79, Brief Werner Jäger vom 24. März 1950. 318 HJ 11-4-3, Brief von Walter H. Johns vom 15. März 1950 sowie 11-4-4, Brief von N.A.M. MacKenzie vom 16. März 1950 sowie HJ 11-4-5, Brief Kerr vom 10. April 1950. 319 HJ 11-4. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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möglich zu sein, wenn auch zu anderen Bedingungen als von Jonas angedacht.320 Zu seinem Glück kann er aber bereits ab Mai 1950 als Visiting Professor am Carleton-College in Ottawa für zunächst ein Jahr unterrichten, weshalb er Gurwitsch für das laufende Jahr wieder absagt, sich aber eine Option für das kommende Jahr offenhält.321 Diese Option kommt aber nie mehr zur Sprache, da sich die Dinge anders entwickeln als gedacht. Erst ab 1959 werden Jonas und Gurwitsch zusammenkommen und gemeinsam am Philosophischen Institut der Graduate Faculty forschen und lehren. Den Hinweis auf das Carleton College verdankt Jonas dem Biologen Ludwig von Bertalanffy, mit dem er seit kurzem in Kontakt steht. „Ich glaube, die bauen dort aus“, schreibt Bertalanffy.322 Beim Carleton College, mit dem es in der ersten Aprilhälfte zu einer Vereinbarung kommt,323 handelt es sich um eine junge, im Aufbau befindliche Universität. Sie bietet ihm zudem die Perspektive, nach drei Jahren übernommen zu werden. Immerhin ist Jonas zu diesem Zeitpunkt bereits 47 Jahre alt und schon bald Vater von zwei Kindern. Am 1. Juni 1950 beziehen sie, kurz nach der Geburt des Sohnes Jonathan (John), eine Wohnung in Ottawa. Ab dem Herbst 1950 hält der zweifache Vater am Carleton-College Vorlesungen über die Philosophie der Antike sowie über die neuere Philosophie von Descartes bis Kant. Darüber hinaus lehrt er Religionsphilosophie. Obwohl er sich in Kanada wohlfühlt, führt er im selben Jahr mehrere Gespräche über eine mögliche Professur in Jerusalem mit seinem alten Wegbegleiter Scholem: „Ich möchte“, schreibt er ihm am 28. Juli 1950, „übrigens keine Unklarheit darüber aufkommen lassen, daß mein Ziel Jerusalem (und nicht Ottawa) ist.“324 In Ottawa herrschen zwar angenehme und unabhängige Arbeitsbedingungen vor, doch die Studenten dort empfindet Jonas als eher langweilig. Denn es handelt sich bei Carleton um ein „Undergraduate College“.325 Und wie schon am Dawson College gibt es keine 320 Vgl. HJ 11-4-42, Brief vom 29. März 1950. 321 HJ 11-4-42, Brief vom 7. April 1950 sowie HJ 21-1-9, Brief an Else Staudinger vom 14. April 1950, indem er berichtet, nicht als Assistant Professor nach Ottawa gehen zu wollen. Außer der Bezahlung ist er mit allem, was ihn dort zu erwarten scheint, zufrieden; sowie Brief an Gurwitsch HJ 11-4-42 vom 7. April 1950. 322 HJ 11-4-34, Brief vom 9. März 1950. 323 Vgl. HJ 11-4-87, Brief vom 14. April 1950 sowie HJ 11-4-95, Brief Stewart McKeown vom 5. April 1950. 324 HJ 23-7, Brief an Scholem vom 28. Juli 1950. 325 HJ 21-1-17, Brief an Else Staudinger vom 22. Dezember 1950.
Abb. 11: Hans Jonas, arbeitend um 1950, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-22.
nennenswerte Bibliothek. Als frühesten Termin einer möglichen Rückkehr nach Jerusalem nennt Jonas gegenüber Scholem jedoch den Herbst 1952. Zunächst soll ein wenig Ruhe in den familiären Alltag einkehren. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Ottawa macht er persönlich engere Bekanntschaft mit Ludwig von Bertalanffy. Rasch schließen die beiden Freundschaft.326 Schon vor Jonas’ Ankunft dort sind beide zum „Du“ übergegangen. Bertalanffy unterrichtet an der Katholischen Universität Ottawa, wohin er ebenfalls über die Lady-Davis-Foundation kam. Hans Jonas über ihn: „Er hatte die Theorie der offenen Systeme erfunden und war imstande, diese neuen Ideen auch mathematisch zu formulieren. Ein Beispiel für ein offenes System stellt etwa der lebende Organismus dar, weil er – durch den Stoffwechsel – im Austausch mit seiner Umgebung steht. Das war etwas, worüber ich selbst in meiner Philosophie des Organischen nachdachte, und er hatte sich dem von der biologisch-mathematischen Seite genähert.“327 Die Freundschaft mit Bertalanffy bestärkt Jonas in der Auseinandersetzung mit biologischen Aspekten des Lebens, die in seine Philosophie einfließen. Bertalanffy steht ihm mit Rat und Tat zur Seite und ermuntert ihn, eine Parallelgeschichte über die gnostische Zeit und ihre eigene zu schreiben, denn, so Bertalanffy mit ein wenig Ironie, der Jüngste Tag stehe vor der Tür: „Für die Gnostiker in Gestalt des Weltgerichtes – für die Heutigen ... als die Wasserstoffbombe – aber das Grundgefühl ist das Gleiche.“328 Bertalanffys Einschätzung korrespondiert mit Ideen Eric Voegelins, denen Jonas aber 326 Vgl. HJ 11-4-32 bis -36. 327 Jonas: Erinnerungen, S. 259. 328 HJ 11-4-36, Brief vom 1. April 1950.
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sehr distanziert gegenübersteht. So resümiert er noch 1987 anlässlich einer Gedenkveranstaltung des 200. Jahrestags der amerikanischen Verfassung in New York, Voegelin habe gnostisches Denken auf Lenin und Hitler übertragen. „The glove doesn’t fit“ ist sein Kommentar hierzu.329 Zu dieser Parallelgeschichte kommt es insofern nicht, aber noch 1950 entsteht der Aufsatz „Causality and Perception.“330 Darin beabsichtigt Jonas zu zeigen, dass sowohl Humes als auch Kants Konzepte der Wahrnehmung unzulänglich sind, weil sie davon ausgehen, dass es keine „direkte Kenntnis von Kraft, Transitivität und dynamischer Verbindung der Dinge gibt.“331 Mit Whitehead versucht Jonas anschließend zu zeigen, dass es eine „unabhängige und legitime Quelle kausalen Wissens“ gibt, „deren Darbietung von dem negativen Befund“ Humes und Kants „nicht berührt wird.“ Sie muss vielmehr „in Anspruch genommen werden sowohl für die Erklärung der Wahrnehmung selbst als auch für die Ergänzung ihrer Befunde.“332 Mit Whitehead propagiert Jonas auch einen graduellen und keinen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier. Jonas schätzt die intellektuelle Kraft sowie die philosophische Bedeutung Whiteheads333 insbesondere mit Bezug auf die von Whitehead ins Spiel gebrachte Universalität der Innerlichkeit, doch kommt ihm die Bedeutung des Todes wesentlich zu kurz. Den ersten biologisch-theoretischen Ausführungen über die menschliche Wahrnehmung und die Sinnesleistungen folgt ein Jahr später der Aufsatz „Materialism and the Theory of Organism“334 sowie der Artikel „Is God a Mathematician?“.335 An diesem Aufsatz muss Jonas allerdings mindestens seit 1946 gearbeitet haben, da ihm George Lichtheim im Juli 1946 in seiner ihm eigenen, ironischen Art schreibt, dass Gott kein Mathematiker sei, habe er schon seit Langem gewusst, doch höre ja niemand auf ihn. Aber vielleicht gelänge es ihnen beiden, die Welt wieder in Ordnung zu bringen.336 Im Artikel über die Theorie des Organismus skizziert Jonas im Groben bereits seine Idee einer Stufenfolge des Lebens und setzt sich kritisch mit 329 HJ 17-12-2, Bicentennial Conference New School, 24. April 1987. 330 The Journal of Philosophy 47/1950, S. 319-323. 331 Zitiert nach Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt a.M. 1997, S. 57. 332 Ebd., S. 58. 333 Ebd., S. 177. 334 In: University of Toronto Quaterly 21. 335 In: Measure 2. 336 HJ 20-1-141, Brief vom 22. Juli 1946.
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Darwins Evolutionstheorie und Descartes’ Dualismus-These auseinander. Im zweiten Aufsatz philosophiert er in erster Linie über den Sinn des Stoffwechsels (Metabolismus). Wieder arbeitet er sich kritisch an Descartes ab und lässt den Organismus „als eine Funktion des wechselnden Stoffes“337 erscheinen. Schon in der einfachsten Form des Organismus sei Freiheit als ontologischer Wesenscharakter des Lebens vorhanden. Mit dieser Freiheit gingen Zweckhaftigkeit, Selbstinteresse und Zukunftsbezogenheit einher. Sein Fazit: „Es gibt keinen Organismus ohne Teleologie; es gibt keine Teleologie ohne Innerlichkeit; und: Leben kann nur von Leben erkannt werden.“338 Diese Gedanken sind der Beginn der Aufsätze zu Organismus und Freiheit, Jonas’ ontologische Auslegung biologischer Phänomene, die 1966 unter dem Titel „The phenomenon of Life“ erscheinen und deren Arbeitstitel vorübergehend einmal „Through the Valley of Death“ lautete,339 eine Anspielung auf Psalm 23, in dem JHWH als der gute Hirte bezeichnet wird und an dessen Ende der Mensch für lange Zeit im Haus des Herrn wohnen darf. Der religiöse Bezug ist also auch hier offenkundig. Das Buch ist jedoch im Kern eine philosophisch-biologische Skizze der fortschreitenden Stufenleiter von Freiheit, Macht und Wissen. Ihre Methode ist zugleich biologische Beschreibung des Lebens und philosophische Spekulation über seinen Wert. Zentrale These der Aufsätze ist, dass das Organische das Geistige vorbilde, der Geist jedoch auch „in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen“340 bleibt. Es gibt in dieser Stufenfolge einen Zuwachs von Perzeption und Motilität. Die Stufen des Lebens sind voneinander abhängig, miteinander verbunden und gipfeln im Menschen. Schon der einfache Stoffwechsel zeigt Anzeichen von Freiheit und Zukunftsfähigkeit. Das meint der Satz: „Es gibt keinen Organismus ohne Teleologie.“ Jonas ergänzt an anderer Stelle: „Das fühlende Tier strebt danach, sich als fühlendes, nicht bloß metabolisierendes Wesen zu erhalten, 337 Hans Jonas: Prinzip Leben, a.a.O., S. 148. 338 Ebd., S. 169. 339 Brief an den Direktor des College of Arts and Science der Wesleyan University, Paul Horgan, vom 13. Mai 1965, HJ 19-9-15. Das kann jedoch nur ein Zwischenspiel gewesen sein. Als Jonas 1957 das Manuskript fertiggestellt hatte, sprach er von „Organism and Freedom“, vgl. HJ 10-13-2, Brief vom 8. April 1957. Ende 1965 lautet der Titel ebenso, vgl. HJ 23-2, Brief von Lucille Withers vom 12. November 1965. Vgl. auch die Vorlesungen in HJ 1-1-1. Abgedruckt nun in KGA II/2, Ontologische und wissenschaftliche Revolution. Ontological and Scientific Revolution. Hg. von Jens Peter Brune. Freiburg 2013. 340 Hans Jonas: Prinzip Leben, a.a.O., S. 15.
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d.h. es strebt danach, diese Aktivität des Fühlens als solche fortzusetzen.“341 Doch das „Privileg der Freiheit ist belastet mit der Bürde der Notdurft und bedeutet Dasein in Gefahr.“342
II Von Ottawa nach New York
In den Jahren 1944 bis 1951 nimmt Jonas’ Philosophie also eine faszinierende Wendung. Die Beschäftigung mit der Gnosis gerät zwar nicht zur Gänze in den Hintergrund, aber die Priorität liegt fortan in anthropologisch-biologischen Studien. Denn der Krieg hat andere, neue Prioritäten gesetzt. Seither steht der Organismus im Fokus seiner Philosophie. Man sollte allerdings nicht glauben, dass das Thema Gnosis jemals aus dem Denken von Hans Jonas verschwindet. Es bleibt bis zuletzt nachweisbar. Die Kritik an der Gnosis und dem gnostischen Denken beeinflusst sowohl seine Philosophie des Lebens als auch seine Ethik und seinen Gottesbegriff.343 Nach dem Krieg setzt Jonas seine Gedanken aus den Lehrbriefen in vielen Einzelstudien fort und diskutiert sie zumindest teilweise mit Bertalanffy. Dieser schreibt ihm Anfang 1950, er sei ganz seiner Auffassung bezüglich dessen, was Jonas über den Gegensatz des „organischen Weltbildes der Antike und des mechanischen der Neuzeit“344 sage. Doch er glaube nicht, schreibt er weiter, nachdem er Jonas’ Essay „Ist Gott ein Mathematiker?“ gelesen hat, dass er seiner Grundthese einen Dienst erweise, „wenn Sie in vitalistischer Weise einen Trennungsstrich zwischen unbelebter und belebter Natur ziehen. Als objektiv beobachtete Naturkoerper sind die Organismen mit ihrer Erhaltung im Wechsel ... im Prinzip genau so naturwissenschaftlicher, und damit letzthin mathematischer Beschreibung zugaenglich wie die toten Natursysteme. Waere dem nicht so, dann koennten wir alle biologischen Institute zusperren ... Kurz zusammengefasst: ich bin voellig einer Meinung mit Ihnen, dass das mathematische Weltbild nur einen Teil der Wirklichkeit erfasst ... und dass eine Vergoetterung eine – oder die – Gefahr unserer Zivilisation ist. Nicht stimme ich Ihnen zu, dass man die Grenzen dieses Weltbildes dadurch 341 Ebd., S. 169 und 193. 342 Ebd., S. 19. 343 Vgl. Fabio Fossa: Il concetto di Dio dopo Auschwitz. Pisa 2014. 344 HJ 11-4-33, Brief vom 6. Februar 1950.
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abstecken kann, wenn man einfach auf die phaenomenologischen Unterschiede zwischen Belebtem und Unbelebtem hinweist.“345 Als Jonas die ersten wissenschaftlichen Aufsätze zum Thema fertiggestellt hat, gibt die Universität Jerusalem ihm endlich eine bindende Erklärung ab für eine Professur ab Herbst 1952 – wie von ihm verlangt. Fast im selben Augenblick erhält er Anfang 1951 auch ein Angebot der New School als Visiting Professor der Summer Session.346 Jonas nimmt zunächst die Gelegenheit in New York wahr und wohnt für drei Monate zur Miete bei Karl Löwith. Sein Kurs trägt den Titel: „The Organism in the Theory of Being since Descartes“. Das ist exakt das Thema seiner philosophischen Biologie. In New York kann er zu seiner Freude die Freundschaft mit Hannah Arendt erneuern. Es wundert insofern nicht, dass er im Oktober 1951 der Hebräischen Universität eine Absage erteilt, nachdem Hugo Bergman ihn im Juni darüber informiert hatte, dass sein Ruf durch den Senat ist und nur noch die Verwaltung ihre Zustimmung geben muss.347 Gründe gibt es viele: Bereits am 22. Mai 1950 schreibt Miriam Sambursky ihm über die neue Situation des jungen Staates Israel und beklagt sich über die jemenitische Fraktion, die direkt aus dem 12. Jahrhundert per Flugzeug in die Neuzeit verfrachtet würde mit dem Resultat der völligen Isolation in dem politisch hochbrisanten Schmelztiegel Jerusalem.348 Die Schwierigkeiten mit dem Hebräischen, die Kinder, die Perspektiven in der neuen Heimat, spielen ebenso eine wichtige Rolle. An Scholem schreibt er am 10. Oktober: „Ich reise nicht mehr durchs Leben mit dem leichten Gepäck früherer Jahre.“349 Zudem fügt er die schlechte wirtschaftliche Versorgung in Jerusalem an. Er befürchtet, die Freundschaft mit Scholem erleide einen Bruch durch die Absage. Tatsächlich sind Scholem, Buber und Bergman „aufs schmerzlichste“350 überrascht und betrachten es nicht zuletzt als Verrat an den Idealen des Zionismus, den Jonas doch mit so viel Eifer über die Jahre verfochten hat. In einem Brief an den Rektor der Universität, Moshe Schwabe, vom 3. Oktober 1951 heißt es: „Als mich Professor Bergmann im Sommer 1950 fragte, ob ich einer Kandidatur für den Posten in der Philosophie zustimmen 345 Ebd. 346 HJ 13-40-4, Ankündigung von E.F. Sheffield, o.D. 347 Vgl. Brief Bergmans vom 7. Juni 1951, HJ 10-11, 520 sowie HJ 11-4-51, das eine Zusammenfassung der Korrespondenz zwischen Bergman und Jonas bietet. 348 HJ 10-11-19, Brief Miriam Sambursky vom 22. Mai 1950. 349 HJ 23-7-1, Brief vom 10. Oktober 1951. 350 HJ 23-7-1, Brief Scholem vom 18. Oktober 1951. Sieh ebenso HJ 10-11-4.
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würde, gab ich ohne Zögern eine positive Antwort, entsprechend meines aufrichtigen Wunsches. Mir war natürlich klar, dass eine Ernennung mit nicht wenigen Verzichten von Seiten aller Menschen verbunden sein würde, deren Schicksal an meiner Entscheidung hängt. Die Bedeutung der Sache rechtfertigte in meinen Augen einen solchen Preis, solange die Rechte anderer Menschen dadurch nicht allzu sehr eingeschränkt würden. Zu jener Zeit schien mir noch nicht, dass der Preis über diese Grenze hinausgehen würde. Meine Zusage zur Kandidatur wurde in dieser Einsicht ausgesprochen und jede Erklärung dieser Sorte erfolgte unter der Bedingung rebus sic stantibus. Ich brauche Ihnen die Verschlechterung der Lage in Israel seitdem nicht zu beschreiben. Und es ist überflüssig, jeden einzelnen Faktor aufzuzählen, der die Waagschale beschwert – angefangen vom Wohnungsproblem, dessen Lösung mir die Universität nicht garantieren kann ... Praktisch gesehen heißt das, dass ich auf keinen Fall im Herbst 1952 kommen kann. Ob dies schlussendlich meine Professur an der Hebräischen Universität nur verzögert oder annulliert, liegt nicht in meiner Entscheidungskraft. Ich hoffe, dass damit meine Beziehungen zur Universität nicht beendet sein werden, und noch mehr, dass meine Kollegen mich verstehen und nicht ärgerlich sind.“351 Sein alter Freund George Lichtheim, der sich Ende 1951 für mehrere Wochen in Jerusalem aufhält,352 wird Zeuge des akademischen Aufruhrs, der ob der Absage von Jonas an Moshe Schwabe dort herrscht. Lichtheim versucht zwar, für Jonas ein gutes Wort einzulegen, doch man zeigt vor Ort wenig Verständnis für dessen Verhalten und wirft ihm vor, seine Kandidatur aufrechterhalten zu haben, obwohl dies scheinbar nicht ernst gemeint gewesen war. Lichtheim erklärt: „Uebrigens laeuft das ganze darauf hinaus, dass man Dir die scheinbare Ueberbewertung der canadischen Fleischtöpfe uebel nimmt. Scholem verlautbarte noch, Dein offenbares Ressentiment sei nicht begruendet.“353 Jonas hingegen konzentriert sich nun ganz auf die philosophischen Zirkel in Amerika. Im Dezember 1951 nimmt er am Bryn Mawr Meeting der American Philosophical Association teil, wo auch Isaiah Berlin anwesend ist. Seine Vorlesung am Israeli Forum in Ottawa, eine nicht-politische zionistische Organisation, setzt er nach der Vorlesung über „Return from 351 HJ 21-1-32, Brief vom 3. Oktober 1951, im Original hebräisch. 352 HJ 12-1-69, Brief vom 6. Januar 1952. 353 Ebd.
Abb. 12: Hans Jonas mit Tochter Ayalah 1953, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Babylonian Exile“354 1950/1 im Jahr 1952 ebenfalls fort und doziert über „Jewish Hellenism. The First Venture in Assimilation“355 und „The Rise of Christianity in the Roman Empire“.356 Er bietet darüber hinaus mehreren Universitäten in Amerika an, eine Vorlesung über Gnosis und Nihilismus zu halten, wohl nicht zuletzt, um sein akademisches Netzwerk auszubauen.357 Einmal jedoch zweifelt er noch, ob Amerika wirklich sein Ziel ist. Denn im Februar 1952 schreibt er erneut an Scholem, er wolle im Augenblick noch nicht heimkehren, aber vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn seine Kinder größer sind. Jerusalem sei für ihn kein „abgeschlossenes Kapitel.“358 Doch das wird es allerdings bald schon sein. Aber zunächst konzentriert er sich auf Amerika und reist auch wieder nach Europa. Im August 1953 führt ihn seine Arbeit nach Brüssel, auf den internationalen Kongress für Philosophie, wo er einen Vortrag über „Motility and Emotion on the Animal’s Soul“359 hält. Dort lernt er unter anderem Hans Blumenberg, einen Schüler des Wiener Phänomenologen Ludwig Landgrebe,360 kennen. In Brüssel präsentiert sich Blumenberg thematisch nah bei 354 HJ 13-40-2. 355 HJ 4-6-6, Israeli Forum, Announcement vom 8. November 1951. 356 HJ 13-40-20, Israeli Forum, Announcement o.D. 357 Vgl. die Briefwechsel in HJ 21-1-28. 358 HJ 23-7-1, Brief vom 6. Februar 1952 an Scholem. Im Original englisch. 359 Proceedings of the XI. International Congress of Philosophy, Brussels 1953. Auf Deutsch in: Das Prinzip Leben, a.a.O. 360 Landgrebe war zugleich der letzte Assistent Husserls.
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Jonas. Er spricht über „Technik und Wahrheit“361 und rekurriert auf die antike Philosophie und den biblisch-christlichen Schöpfungsglauben. Blumenberg kommt in seinem Vortrag zu dem Schluss, auch der moderne Mensch sei „weithin geprägt durch die Naturierung des Technischen, durch das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit und Unvermeidlichkeit dessen, was doch von seiner eigenen Freiheit ausgegangen ist. Die Ontologie der Technik verwickelt sich in das Paradoxon einer »zweiten Natur«.“362 Doch nicht nur in seinem Brüsseler Vortrag ist die philosophische Nähe zwischen Blumenberg und Jonas greifbar. Schon in den Jahren zuvor hat sich der junge Philosoph durch einige Aufsätze zum Verhältnis von Natur und Technik hervorgetan, die auch für Hans Jonas zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Noch vor ihm und auch vor Günther Anders räsoniert er 1946, im Alter von nur 26 Jahren, über „Atommoral“ und das Umschlagen der theoretischen Physik in physikalische Machtausübung.363 Technische Produkte stellten von nun an den Menschen in ihren Dienst und gäben die entscheidenden Impulse zum Handeln. Die Politik sei jedoch nicht immun gegen die Versuchungen dieser Macht. Sie könnten „die volle Höhe menschlicher Verantwortung“ nicht verbürgen.364 Eine Moral der Atomtechnik müsse wohl, so Blumenberg abschließend, eine theologische Dimension haben. Denn „eine radikal neue Sicht des Verhältnisses von Natur und Technik, und damit die Freigabe eines ungleich erweiterten Spielraums der technischen Freiheit, wird sich folgerichtig nur aus einem Wandel des Seinsverstehens von Grund auf entfalten können.“365 Die Technik versteht Blumenberg in diesem Kontext als Kompensation menschlicher Mängel. Der junge Blumenberg und der alte Jonas weisen insofern erstaunliche Parallelen im Denken auf. Sie teilen das Interesse an antiken und neuzeitlichen Philosophien, an Geschichte und philosophischer Anthropologie, die den Menschen im Spannungsverhältnis von Natur und Technik verortet. Beide teilen eine neue Sicht des Verhältnisses von Natur und Technik, der ein Wandel des Seinsverstehens mit sich bringt. So schreibt Blumenberg 1960: „Schon die Tatsache, daß Werkzeugfunde und die Anzeichen für die Beherrschung des Feuers dem Paläontologen und An361 Hans Blumenberg: Technik und Wahrheit. Wiederabgedruckt in: Ders.: Schriften zur Technik. Hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Frankfurt a.M. 2015, S. 42-50. 362 Ebd., S. 50. 363 Hans Blumenberg: Atommoral – Ein Gegenstück zur Atomstrategie. Ebd., S. 7-16. 364 Ebd., S. 12. 365 Hans Blumenberg: Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem. Ebd., S. 17-29, hier S. 21.
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thropologen als eindeutige Bezeugungen des menschlichen Charakters fossiler Bestände gelten, enthält die Voraussetzung, daß der homo sapiens sich als homo faber dokumentiert. Die Technizität wurzelt in der Natur des Menschen und ist damit so alt wie der Mensch selbst.“366 Es nimmt insofern nicht wunder, dass sich Jonas und Blumenberg in Brüssel auf Anhieb gut verstehen. Blumenberg ist es auch, der mit Jonas ein erstes Vorgespräch führt, ob er auf Initiative seines ehemaligen Schachrivalen Walter Bröcker einen Ruf an die Universität Kiel annehmen würde.367 Vom Brüsseler Kongress unternimmt Jonas einen Abstecher nach Brügge. Auch nach München reist er und trifft sich mit seiner alten Liebe Gertrud Fischer, die inzwischen verheiratet ist. In Bezug auf seine universitäre Karriere überschlagen sich Anfang der 1950er Jahre die Ereignisse. Erst Jerusalem, dann Kiel. Zudem kommt es Anfang 1953 zu ersten Gesprächen mit der New School for Social Research, an der er ja bereits die Summer Session durchgeführt hatte. Im Dezember 1953 nimmt Howard B. White, seit 1951 dort Professor für Politische Philosophie, Kontakt zu Jonas auf, um ihm mitzuteilen, es bestünde eine gute Chance, ihn an die New School zu holen.368 Jonas schätzt die akademische Herausforderung, die damit verbunden wäre: „Betrachten Sie mich als einen ernstzunehmenden Kandidaten“369, schreibt er White zurück. Schon im Januar 1954 erhält er ein Angebot der Universität.370 Mit diesem Angebot soll auch seine akademische Odyssee ein Ende finden. Was ein wenig daran verwundert ist die Tatsache, dass die privaten Korrespondenzen zwischen einzelnen Wissenschaftlern, die verschiedene Lehrstühle vor jedem offiziellen Ausschreibungsverfahren, vor Eingang einer Bewerbung oder gar einem Bewerbungsvortrag unter der Hand zuteilen, zur Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland und Israel eine gängige Praxis gewesen zu sein scheint. Jedenfalls finden sich im Nachlass von Hans Jonas immer wieder Briefe, die akademische Positionen gewissermaßen auf Zuruf vergeben. Offensichtlich lässt Jonas zu diesem Zeitpunkt auch eine mögliche Rückkehr nach Deutschland 366 Hans Blumenberg: Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche. In: Ebd., S. 138-162, hier S. 138. 367 Sieh HJ 4-3-25. 368 Vgl. HJ 11-5-91, Brief vom 2. Dezember 1953. 369 HJ 11-5-91, Brief vom 10. Dezember 1953. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 370 Vgl. HJ 12-1-13, Brief vom 26. Januar 1954.
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zumindest Kollegen gegenüber offen. Mit Rudolf Bultmann steht er in regem Kontakt, der ihm gemeinsam mit Julius Ebbinghaus, Friedrich Müller und Hans-Georg Gadamer bescheinigt: „Zu den schweren Verlusten, die die deutsche Wissenschaft durch die Nazi-Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg erlitten hat, gehört es auch, dass Dr. Hans Jonas Deutschland verlassen musste. Die Bedeutung, die seine philosophischen und philosophiegeschichtlichen Arbeiten gewonnen haben, lässt es ausserordentlich wünschenswert erscheinen, dass ihm die Möglichkeit zu einem Besuch in Deutschland gegeben wird, damit er in persönlichen Austausch mit den deutschen Wissenschaftlern treten kann, die an den Fortschritten seiner Arbeit lebhaft interessiert sind.“371 Doch parallel laufen die Gespräche mit der New School sehr vielversprechend. Jonas selbst begreift seinen in Aussicht gestellten Wechsel nach New York als große Chance, hegt aber zunächst noch vorsichtige Zweifel. Sein Cousin Gerald bekräftigt diese, als er ihm schreibt, er könne ihn angesichts der Aussichten der Freiheit in diesem Lande „nicht mit gutem Gewissen ermutigen, Canada aufzugeben.“ In Amerika gäben „die engstirnigen und engherzigen Chauvinisten“372 den Ton an. Das spielt auf die McCarthy-Ära an. So hält Jonas mit dem Biochemiker David Nachmansohn Rücksprache. Nachmansohn forscht und lehrt schon seit 1942 in New York an der Columbia University. Jonas verspürt über Jahrzehnte hinweg eine geistige Nähe zu ihm. Doch Nachmansohn hält die Gefahr, die von den antikommunistischen und verschwörungstheoretischen Auftritten McCarthys ausgingen, für nicht mehr so groß.373 Nachdem sich Jonas zudem bei Hannah Arendt, die ab 1967 ebenfalls eine Lehrverpflichtung an der New School annimmt, und Carl Joachim Friedrich (Harvard)374 über die Qualität der Fakultät rückversichert, und die Familie nichts dagegen hat, geht er schließlich doch von Ottawa nach Manhattan, dem jüdischen Zentrum Amerikas. Denn die ersten Juden kamen bereits Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Flucht vor spanischen und portugiesischen Katholiken über Brasilien nach 371 HJ 11-5-6, Schreiben Bultmann et alii vom 9. Juni 1953. 372 HJ 12-1-33, Brief vom 18. Februar 1954. 373 HJ 11-2-8, Brief vom 8. Dezember 1983 an Edith Nachmansohn anlässlich des Todes von David. 374 HJ 12-1-13, Brief vom 26. Januar 1954. Zu Arendt vgl. Young-Bruehl, a.a.O., S. 521. Sowohl Arendt als auch Friedrich waren durch ihre Bücher über die Nachkriegszeit wissenschaftliche Autoritäten im Bereich der Politischen Theorie.
Abb. 13: Das Wohnzimmer des New Yorker Hauses, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
New York. Der American Immigration Act von 1924 begrenzte sodann den Zustrom insbesondere osteuropäischer Juden nach Amerika. Dennoch entstand in New York eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt. Viele Juden waren zunächst in der Bekleidungsindustrie tätig. Die Stadt wurde nicht zuletzt deshalb zu einem Modezentrum. In den 1930er Jahren drängten jüdische Arbeitnehmer sodann verstärkt in andere Berufszweige. Dies führte zunächst zu Konflikten mit den Iren, später auch mit der schwarzen Bevölkerung New Yorks. Ab den 1950er Jahren geriet die Modeindustrie bei den Juden allerdings zusehends in den Hintergrund. Nun war es vor allem der Schul- und Bildungsdienst, in dem Juden tätig waren.375 Als Hans Jonas mit seiner Familie in New York ankommt, geht es der Stadt wirtschaftlich außerordentlich gut. Ökonomische Probleme sollten erst ab Mitte der 1960er Jahre, verstärkt dann ab etwa 1970 spürbar und mit dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems 1971 teils existenziell werden, nachdem die frühen 1960er Jahre einige liberale Reformen auf den Weg gebracht hatten. Davon war nicht zuletzt auch die New School betroffen, die zudem nicht mehr dieselbe Freiheit genoss wie in den Anfangsjahren. Die Bürokratie hatte mittlerweile auch hier Einzug erhalten. 375 Vgl. Roger Waldinger: Gruppen im Konflikt. Iren, Juden, Schwarze und Koreaner. In: Hartmut Häußermann und Walter Siebel: New York. Strukturen einer Metropole. Frankfurt a.M. 1993, S. 108-184.
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Ab Mitte der 1960er Jahre gerät die Stadt New York sodann in arge finanzielle Engpässe, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst stetig und der Anteil der armen Bevölkerung (größtenteils Schwarze) steigt explosionsartig an. In diesen Jahren, dem „Düsenzeitalter“, wächst auch die Bürgerrechtsbewegung und dehnt sich zusehends gen Norden aus, der Wohnungsbau wird vorangetrieben, kommt jedoch Ende der 1960er Jahre nahezu zum Erliegen. Die Bekämpfung der Armut steht seinerzeit ganz oben auf der politischen Agenda, und die Bewohner New Yorks gehen dazu über, regelmäßig für ihre Rechte zu demonstrieren. Auch Polizei und Lehrer machen 1968 von diesem Recht Gebrauch. Vor allem der Lehrerstreik führt einmal mehr zu Spannungen zwischen Schwarzen (Eltern) und Juden (Lehrpersonal). Die finanzielle Bedrohungslage führt dazu, dass Bürgermeister John Lindsay eine städtische Einkommenssteuer erhebt. Doch auch er kann die Krise, die sich in den 1970er Jahren in der Stadt verschärft, nicht aufhalten. Im Gegenteil: In seiner Amtszeit zwischen 1966 und 1974 steigt die Zahl der Wohlfahrtsempfänger auf mehr als das Doppelte. 1975 droht der Stadt gar der Konkurs. Nur mit Hilfe aus Washington kann er gerade noch abgefangen werden. New York wird damals von der „fun city“ (Lindsay), die so stolz ist auf ihre gelebte Pluralität, zu einer Hauptstadt des bürgerlichen Protests. Dies bekommen nicht zuletzt auch die amerikanischen Universitäten zu spüren. Blicken wir in diesem Kontext zunächst einmal auf die Geschichte der Fakultät, in der Hans Jonas ab 1955 lehrt. Sie wurde 1933 auf Initiative von Alvin Johnson als University in Exile unter dem Dach der New School gegründet. Die New School existierte im Grunde bereits seit 1919 als Einrichtung der Erwachsenenbildung nach dem Vorbild deutscher Volkshochschulen. Thorstein Veblen und John Dewey, die damals zu den einflussreichsten Erziehungsphilosophen in den USA gehören, und einige andere hatten sie ins Leben gerufen.376 Dem war ein Streit einiger Wissenschaftler innerhalb der Colombia University vorausgegangen. Ab 1933, nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland, suchte Johnson gezielt nach deutschen Kollegen aus den Fächern der Sozial376 Vgl. Claus-Dieter Krohn: Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research. Frankfurt a.M./New York 1987, S. 70ff.; Peter M. Rutkoff/William B. Scott: New School. A History of The New School for Social Research. New York 1986.
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wissenschaften, die als Professoren an der New School infrage kamen. Zu Johnsons Favoriten gehörten unter anderem Adolph Lowe und Karl Mannheim. Doch Lowe ging zunächst als Rockefeller-Stipendiat nach Manchester, Mannheim zog es nach London. Auch Ernst Cassirer, Gustav Radbruch und Hermann Heller erteilten der New School eine Absage. Zu den ersten Professoren in New York gehörten hingegen viele Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler, unter ihnen Gerhard Colm, Emil Lederer und Frieda Wunderlich. Auch der Gestaltpsychologe Max Wertheimer fand an der New School ein neues wissenschaftliches Zuhause.377 Ab Oktober 1933 hieß die neu gegründete University in Exile dann offiziell „Graduate Faculty of Political and Social Science“.378 Jonas’ Förderer Leo Strauss ging schon 1938 an die Graduate Faculty ehe er 1948 nach Chicago wechselte. Zu dieser Zeit entwickelte sich die Fakultät zu einem „wichtigen Kommunikationszentrum der Emigration.“379 Nach den erfreulichen Gesprächen mit der New School arbeitet Jonas im Sommer 1953 in Europa weiter an seiner Biologie. Es entsteht der Aufsatz über „The Nobility of Sight“.380 Dabei handelt es sich um eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne. Im Zentrum seiner Überlegungen steht der Gedanke der Überwindung von Distanz durch Sinnestätigkeit. Er behandelt das Wissen auf Entfernung, mit dem ein Zuwachs an Freiheit durch Voraussicht einhergehe. Insbesondere das Sehen erlangt diesbezüglich eine herausragende Stellung: „Alles, was ich beim Sehen zu tun habe, ist, die Augen zu öffnen, und die Welt ist da, wie sie es fortwährend war ... Daher liefert allein das Sehen die sinnliche Basis, auf welcher der Geist den Gedanken des Ewigen, dessen, das sich niemals ändert und immer gegenwärtig ist, zuerst fassen konnte ... Wissen auf Entfernung ist gleichbedeutend mit Vorauswissen. Das noch unverpflichtete Hinausreichen in den Raum ist Zeitgewinn für anpassendes Verhalten: ich weiß frühzeitig genug, womit ich zu rechnen habe. Die Wahrnehmung ferner Objekte bedeutet daher einen unmittelbaren Zuwachs an Freiheit durch den schieren Zuwachs an zeitlichem Spielraum für etwaiges Handeln, den die Entfernung vom Gegenstand des Handelns erlaubt.“381 377 Vgl. Krohn: Wissenschaft, S. 77. 378 Ebd., S. 81. 379 Ebd., S. 91. 380 Philosophy and Phenomenological Research 14. 381 Zitiert nach Hans Jonas: Prinzip Leben, a.a.O., S. 248 et passim.
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Mit dem Angebot der New School im Januar 1954, eine Professur zu übernehmen, geht einher, dass er Senior des Faches mit freier Hand beim Neuaufbau des Departments werden und damit die Nachfolge von Karl Löwith antreten soll. Am 15. Februar 1954 fährt er erneut zu einer Besprechung nach New York und schließt mit der New School einen Vertrag ab. Hans Simon, Präsident der New School, zieht ihn schon im März 1954 in sein Vertrauen, da er Näheres über Hannah Arendts Mann Heinrich Blücher erfahren möchte, der seit 1950 Vorlesungen an der New School hält.382 Jonas, der Blücher seit 1951 kennt, antwortet mit einem Lobgesang und einer scharfen Kritik. Er bescheinigt Blücher nicht nur „intellektuelle Tatkraft und moralische Leidenschaft“, sondern ebenso „musische Empfindsamkeit.“ Er sei belesen in europäischer Literatur, Geschichte, politischer Theorie und Philosophie. Sein Ansatz sei „unorthodox, seine Auffassungsgabe ... originell, temperamentvoll, beinahe eigenwillig; alles bei ihm ist erfüllt von einem starken Gespür für die Bedeutung des menschlichen Subjekts und die Dringlichkeit der Probleme, die es hervorruft... Ich kann mir gut vorstellen, dass er ein inspirierender Lehrer ist“383, auch wenn er kein Mensch strenger wissenschaftlicher Methoden sei. Er sei deshalb auch mehr ein Suchender denn ein Forschender. Bei Blücher bestünde immerzu die Gefahr der Überbetonung bestimmter Dinge und der Einseitigkeit seiner Ansichten. Das Rückgrat philosophischen Unterrichts könne Blücher nicht sein, als Hefe im akademischen Teig eigne er sich jedoch blendend.384 Jonas ist soeben aus Göttingen zurückgekehrt, als er diese Zeilen an Simon schickt. In Deutschland war er bei seinem Verlag Vandenhoeck&Ruprecht und hat vereinbart, dass „Gnosis und spätantiker Geist“ neu und unverändert erscheint. Nur einige wenige kleine Änderungen fügt er dennoch ein, ehe er sich den Sommer über wieder an die Arbeit an der Philosophie des Organischen macht. Jonas ist bereits ab Ende 1954 regelmäßig in New York, die Familie zieht aber erst am 1. Oktober 1955 nach. Die Meadow Lane in New Rochelle, rund 20 Meilen nordöstlich von der New School gelegen, wird das neue Zuhause. Jonas erfreut vor allem, dass es in Amerika keine offiziellen akademischen Lehrmeinungen gibt, sondern nur die wirkliche Freiheit des Denkens. Ein idealer Raum, um neue Ideen zu entwickeln. In den USA strömten, so 382 HJ 12-1-123, Brief vom 23. März 1954. 383 HJ 12-1-123, Brief vom 28. März 1954. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 384 Vgl. ebd.
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sagt er, geistige Lehre, Standpunkte und Methoden zusammen: „Alles findet dort seinen Platz.“385 Dennoch gesteht er, dass er und seine Familie sich definitiv nie wohlfühlen werden in dieser riesigen Stadt.386
III Das erste Jahrzehnt als Professor an der New School for Social Research
Doch das Unbehagen in New York trifft wohl nur auf ihn selbst zu. Seine Kinder werden die Stadt mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Für sie wird New York zur Heimat. So berichtet die älteste Tochter Ayalah im November 2015 rückblickend über einen typischen Tag im Leben der Familie von Hans Jonas in den 1960er Jahren. Ihre Erinnerungen sagen viel über das Verhältnis von Hans Jonas zu seiner Familie aus. Aber auch der schmerzliche Bericht an die Kinder über die eigene Mutter, Rosa, kommt hier zur Sprache und zeigt, welche Wunden dies bei Jonas hinterlassen hat. Ayalah schreibt, ihr Vater sei unbestritten der Herr im Hause gewesen. Das habe sie als Kind schon früh akzeptiert. Doch zugleich sei da eine Art Mysterium gewesen, das ihr zu verstehen gab, dass ihre Familie anders als andere amerikanische Familien war: „Es stand nie infrage, dass Hans Jonas das Familienoberhaupt war. Seine Position wurde nicht hinterfragt. Das lag an seiner anteilnehmenden wie mitfühlenden und moralischen Gestalt. Mir, der ältesten Tochter, war dies von früh auf unmissverständlich klar. Meinen Vater umgab etwas, obwohl seine körperliche Statur nichts Außergewöhnliches besaß. Er lenkte die Familie und das Familienleben mit einer achtunggebietenden und liebenden Hand. Der familiäre Haushalt hingegen besaß seine eigenen Mysterien für uns Kinder. Unsere Eltern sprachen mit einem äußerst starken Akzent Englisch. Unsere Klassenkameraden ließen sich nicht selten darüber aus. Doch das überhörten wir geflissentlich. Was unserer Familie von Bedeutung war, unterschied sich ohnehin gravierend von dem unserer amerikanischen Zeitgenossen. Allein die Tatsache, dass sich meine Eltern auf Deutsch unterhielten, schien mir mysteriös, weil es eine Art Geheimsprache der Eltern zu sein schien. Hinzu kam das Rätsel um die Vergangenheit: Drei Jonas-Kinder, die alle in verschiedenen Ländern geboren wurden, symbolisierten die persönliche Odyssee meiner Eltern, geprägt vom 385 Jonas: Erkenntnis, S. 77. 386 HJ 6-24-1, Brief an Hans Blumenberg vom 10. August 1955.
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historischen und beruflichen Schicksal. Und dann gab es da natürlich den Holocaust. Als Kinder verstanden wir noch nicht so recht die Heimlichtuerei, mit der man uns begegnete. Wir wussten auch nicht, wie unmittelbar diese Landschaft der Zerstörung unsere eigene Familie heimsuchte. Wir sollten von diesen tragischen Geschichten so wenig wie möglich mitbekommen. Ganz im Gegenteil: Unseren Haushalt überzog merkwürdige Verschwiegenheit und historische Blässe je weiter die Jahre ins Land zogen. Dann jedoch kam dieser unauslöschliche Tag, der sich in unsere empfindsamen Herzen gebrannt hat. Wir saßen am Frühstückstisch, wie wir es immer taten, und unser Vater las einen Artikel in der New York Times, als plötzlich ein zerberstendes Weinen aus ihm herausbrach und er den Raum verließ. Es war unsere Mutter, die uns sodann die Geschichte seiner Mutter Rosa erzählte. Von diesem Tag besaßen wir nicht nur ein Verständnis für das Vermächtnis unserer Familie, sondern gleichwohl für die verbrannte Seele unseres Vaters, die stets unter der Oberfläche seiner Person zu spüren gewesen ist. Wir wurden zu Zeugen seiner Achillesferse, seiner ganz persönlichen Zerbrechlichkeit. Das erfüllte uns mit einer gewissen Furcht, doch nicht minder mit größerer Ehrfurcht und Ehrerbietung als wir ohnehin schon hatten. Selbstverständlich war er unser Vater, unser Familienoberhaupt, doch ebenso ein empfindsamer Mann, unabhängig von uns, jemand, der an persönlichen Ängsten und einem unfassbaren Verlust litt.“ Über den Arbeitsalltag ihres Vaters in New Rochelle und was er für die Familie bedeutete, berichtet Ayalah Jonas: „Unsere Tage daheim in New Rochelle, einem Vorort von New York City, drehten sich hauptsächlich um die Bedürfnisse unseres Vaters. Das Haus musste ruhig sein, damit er schreiben konnte. Uns wurde beigebracht, dass, wenn die Tür zu seinem Arbeitszimmer geschlossen war, er unter keinen Umständen gestört werden wollte. Wir wuchsen ganz selbstverständlich damit auf, Respekt für die Arbeit des Geistes zu zeigen.“ Und weiter heißt es: „Als Familie saßen wir, wie gesagt, beim Frühstück zusammen. Unserer Mutter fiel die Aufgabe zu, sich um das Essen zu kümmern und den Haushalt zu führen. Nach dem Frühstück ging mein Vater in sein Zimmer, machte das Bett und setzte sich an seinen Schreibtisch. Von diesem Zeitpunkt an durften wir ihn nicht weiter stören. Gegen Mittag tauchte er wieder auf, denn das Essen wartete auf ihn. Gewöhnlich bestand das Mittagsmahl aus einer kalten Platte, Brot und Tee. Er hatte eine Vorliebe für deutsche Delikatessen. Er war überglücklich, in der Hauptstraße unseres
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Viertels einen deutschen Metzger gefunden zu haben, der ihn mit Fleisch, Käse, Apfelkraut und Marzipan versorgen konnte. Nie verschwendete er einen Gedanken daran, wie viele Kalorien er zu sich genommen hatte, und die Familie wunderte sich oft, wie er es geschafft hat, so lange zu leben, ohne je auf cholesterinärmeres Essen und seinen Tabakkonsum geachtet zu haben. Rauchen, sagte er immer wieder, helfe ihm, seine Gedanken in Worte zu fassen. Er betrachtete es als einen wesentlichen Bestandteil seines Handwerks. Nach dem Mittagstisch nahm er sich sodann eine Pause und machte ein kleines Nickerchen, um sich für die Arbeit am Nachmittag zu stärken. Manchmal, wenn wir von der Schule nach Hause kamen und seine Nachmittagsstudien unterbrochen waren, fanden wir seine Tür offenstehen. Dann sahen wir ihn entweder Schweizer Schokolade essen oder er knackte ein paar Wallnüsse. Das war jener Moment, in dem wir Kinder in sein Zimmer huschen durften und uns ein wenig väterliche Zuneigung abholten. Er bot uns dann an, auch ein paar Nüsse zu knacken. Und wir wagten es nie, dies abzulehnen. Wir nutzten den Augenblick dazu, mit ihm über Dinge zu reden, die uns Kinder beschäftigten. Zu dieser Stunde nahm er nicht selten auch einen Schnaps zu sich, vor allem für Birnen- und Himbeerschnaps hatte er eine Schwäche. Das Abendessen folgte sodann gegen 19:30 Uhr. Von uns allen wurde verlangt, anwesend zu sein, um die kulturellen und politischen Themen des Tages zu diskutieren, wobei alle frei waren, sich eine eigene Meinung zu bilden. Aus meinem Blickwinkel des jungen, beeinflussbaren Mädchens war dies ein ganz zauberhaftes Leben.“387 In diesem zauberhaften Leben bittet die achtjährige Ayalah ihren Vater einmal in einem Brief, doch endlich nach Hause zu kommen und nicht ständig auf Reisen zu sein. Andererseits freut sie sich unglaublich auf die tollen Geschenke, die ihr der Vater von seinen, teils wochenlangen, Europareisen mitbringt. Mit Beginn seiner Lehrtätigkeit in New York wird Hans Jonas zum dritten Mal Vater. Die Tochter Gabrielle kommt Ende Januar 1955 zur Welt. Der Umzug 1948/9 korrespondierte mit der Geburt der ersten Tochter, die Geburt des Sohnes mit dem Wechsel nach Ottawa. Nun also New York, wo Hans und Lore Jonas schon bald mit Trude und Wilhelm Magnus, Mathematiker der New York University, enge Freundschaft schließen. Doch auch 387 Ayalah Jonas: A Day in the Life of the Hans Jonas Family. Unveröffentlichter Bericht vom 12. November 2015, per Mail an Verf., Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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Abb. 14: Hans Jonas mit Tochter Gabrielle Ende 1956, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Abb. 15: Hans und Lore Jonas, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
diese Freundschaft kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Familie sich getrieben fühlt: „Manchmal“, schreibt Lore später, „wenn ich an meine drei Kinder denke, die in drei verschiedenen Ländern geboren wurden, ... dann denke ich: Schade, sie hätten in einer Stadt aufwachsen sollen an einem Fluß, mit einer gotischen Kirche, einer Brücke und mit Häusern, die von der Vergangenheit sprechen. Dann hätten sie einen festen Punkt in ihren Vorstellungen, wie Dinge sein sollen, wo Landschaft, Kunst und Geschichte ein Ganzes bilden. Beglückend, manchmal aber auch traurig, weil verloren –.“388 Auch wenn Lore während ihrer Reisen nach Deutschland stets zu Besuch in Regensburg ist, ihr Traum, dass die Familie dort, in ihrer alten Heimat, hätte ansässig sein sollen, wird sich nie erfüllen. Im Raum steht Mitte der 1950er Jahre jedoch weiterhin das durch Hans Blumenberg übermittelte Kieler Angebot seines alten Freundes Bröcker. Im Juli 1955 rechnen Blumenberg und Bröcker mit dem baldigen Weggang von Landgrebe von Kiel nach Köln. Beide verfolgen mit Nachdruck das Ziel, Jonas als dessen Nachfolger in Kiel zu installieren. Blumenberg weiß zwar, insbesondere nach seiner Lektüre der zweiten Auflage der „Gnosis“ um die inneren Widerstände von Jonas, ist aber Ende Juli dennoch voller Hoffnung, dass er diese beseitigen kann. Jonas hatte in der zweiten Auflage beklagt, dass Rezensionen ausgeblieben sind und offen gelassen, ob dies daran gelegen hat, dass er als „jüdischer Autor“ 388 Lore Jonas: Mein Vater, a.a.O., hier S. 42.
Abb. 16: Hans und Lore Jonas, Issawiya 1948, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
wahrgenommen wird. Blumenberg fragt deshalb ganz direkt bei Jonas an, ob er sich zum jetzigen Zeitpunkt eine Rückkehr vorstellen könne.389 Im August 1955 ergeht die Absage an Blumenberg mit dem Hinweis auf seine moralischen Verpflichtungen gegenüber seiner neuen Wirkungsstätte.390 Der Brief, den Bröcker ihm sodann Ende des gleichen Jahres zuschickt, überrascht angesichts dessen, was Jonas im Vorfeld bereits Blumenberg kundgetan hat. Bröcker teilt Jonas in diesem Brief mit, die Kommission, der er angehöre, habe einstimmig vorgeschlagen, ihn zum Nachfolger Landgrebes (der zum Sommersemester 1956 nach Köln ging) zu machen. Jonas möge sich dazu äußern. Und er fügt hinzu: „Welch grossen Wert wir darauf legen, Sie hierher zu bekommen, sehen Sie daraus, dass wir nicht den üblichen Dreiervorschlag machen wollen. In der Tat ist es mit dem Nachwuchs so schlecht bestellt, dass wir keine wirklich befriedigende Lösung würden finden können, wenn Sie nicht kommen.“391 Bröcker interpretiert die Absage an Blumenberg vom August so, als sei Jonas im Moment nicht abkömmlich, erwägt aber die Möglichkeit, er könne zu einem späteren Zeitpunkt nach Kiel kommen. Jedenfalls würde er sich persönlich freuen, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Ernsthaft in Erwägung gezogen hat Jonas das Angebot wohl auch in den Brüsseler Vorgesprächen nicht. Für ihn kam eine Anstellung in Deutschland 389 HJ 11-5-11, Brief Blumenberg vom 23. Juli 1955. 390 HJ 11-5-11, Brief vom 10. August 1955. 391 HJ 16-14-2, Brief vom 10. Dezember 1955.
Abb. 17: Hans Jonas lesend, 1950er-Jahre, Fotografie von Lisl Haas, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-25. Abb. 18: Hans Jonas 1959, Fotografie von Lisl Haas, © Nachlass Hans Jonas, HJ 14-41-8.
nach all den Geschehnissen des Krieges nicht mehr infrage. So schreibt er Bröcker zurück, ihn habe das Angebot lange beschäftigt und er habe seine Entscheidung eindringlich geprüft: „Der Schluss, zu dem ich kam: dass, wenigstens für diese Generation, Unwiderrufliches geschehen und eine Dauer-Rückkehr (zu unterscheiden von Gastrollen) doch nicht möglich ist, bestätigt was ich immer gedacht und gefühlt habe. Nichtsdestoweniger, glauben Sie mir, ist das »Nein« mir ein erneuter Schmerz.“392 Daraufhin kommt es zwischen Blumenberg und Bröcker zu unterschiedlichen Auffassungen, wie mit der Absage umzugehen sei. Blumenberg hätte Jonas der Form halber dennoch gerne auf der Liste gesehen, was Bröcker aber für überflüssig hält. Die Kommission schließt sich dieser Meinung an, sodass offiziell gar kein Ruf an Jonas ergeht.393 Die Beziehung zwischen Bröcker und Blumenberg bekommt in Folge der Diskussionen über die Nachfolge Landgrebes deutliche Risse. Blumenberg selbst gesteht Jonas, ihre Beziehung sei „zerbrochen.“394 Jonas’ Absage ist sicher nicht in erster Linie dem Tagesbefehl für die Soldaten der jüdischen Brigade kurz nach ihrem Abmarsch im Juli 1945 in Rich392 HJ 16-4-3, Brief o.D. 393 HJ 16-14-4, Brief Landgrebes vom 18. Februar 1956. Dennoch verlautbaren einige Publikationen einen solchen Ruf. Das aber ist nicht korrekt. 394 HJ 16-14-5, Brief vom 13. April 1956. Bröcker hat offensichtlich die fristlose Entlassung Blumenbergs als Assistent am Philosophischen Seminar beantragt, was jedoch abgelehnt wurde.
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tung Deutschland zu schulden. In diesem Befehl wurde ihnen auferlegt, „die Gemeinsamkeit des Daches mit den Deutschen zu meiden“ und jegliche „Berührung mit ihnen zu vermeiden. Die Deutschen und ihre Kinder seien ebenso zu ächten wie ihr Hab und Gut; es herrsche ein ewiger Bann.“395 Jonas ist diesem, an ihn ergangenen Befehl in seiner Absolutheit nie gefolgt – aber eine gewisse Distanz hält er dennoch zeitlebens aufrecht. Entscheidend ist vielmehr ein anderer Aspekt: Die Arbeitsbedingungen in den Staaten sind inzwischen nahezu ideal. Davon abgesehen möchte er seiner Familie zuliebe unbedingt das Nomadentum beenden. Schließlich bringt er zu dieser Zeit neben der Philosophie des Lebens eine englische Übersetzung des Gnosis-Buches voran, die im Frühjahr zum Abschluss kommt. Er hält seine Lectures an der Fakultät ab, ist mittlerweile Vize-Dekan396 und findet 1958 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der New School Zeit, einen sehr dichten und enorm wichtigen philosophischen Vortrag mit dem Titel „The Practical Uses of Theory“ 397 zu halten. Darin vergleicht er zunächst die verschiedenen Wissensauffassungen von Thomas von Aquin und Francis Bacon. Während Thomas Wissen für ein menschliches Gut als solches hält, meint Bacon, es komme vielmehr auf die wahren Zwecke des Wissens an. Nur insofern diese dem Vorteil und Nutzen des Lebens dienen, kann Wissen als gut bezeichnet werden. Jonas stimmt mit Bacon insofern überein als dass er den Zweck aller Tätigkeit in der Erhaltung und Verbesserung des Lebens (preservation and betterment of life) sieht. Andererseits gesteht er auch Thomas (und Aristoteles) zu, dass die Beseitigung von Leid, wie Bacon es impliziert, letztlich dazu führt, das gute Leben als primäres Ziel allen Tuns zu denken: „Wenn, wie Bacon meint, das Wissen die Leiden der Menschheit beseitigen soll, dann hat das Streben nach Wissen das Glück der Menschheit zum Ziel. Wenn, wie Aristoteles meint, der Mensch als Mensch sein volles Sein durch Wissen oder vielmehr im Wissen erreicht, dann ist es das Glück des Erkennenden, das im Streben nach Erkenntnis verwirklicht wird.“398 395 Dan Diner: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. München 2015, S. 38. 396 Vgl. HJ 11-5-27, Brief Constance E. Ballou vom 24. September 1958. Ballou ist Leiterin der Zulassungsstelle des Radcliffe College. Jonas’ Nichte Susanne hatte sich dort mit Hilfe von Jonas um eine Zulassung bemüht. 397 Vgl. Hans Jonas: The Practical Uses of Theory. In: Social Research 1984, Vol. 51.1, S. 6590, hier S. 65. Reprint des Aufsatzes aus Vol. 26 Nr. 2 (1959). Deutsch: Vom praktischen Gebrauch der Theorie. In: Das Prinzip Leben. Frankfurt a.M. 1997, S. 311-341. 398 Jonas: Vom praktischen Gebrauch, a.a.O., S. 317.
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Abb. 19: Hans Jonas 1959, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Theorie ist in diesem, Aristoteles und Bacon zusammendenkenden, Verständnis nicht nur „intellektuelle Kommunion“, wie Jonas sagt, sondern Wissen haben und es nutzen sind ein und dasselbe.399 Kritik übt er an Bacon hierbei insofern dessen Wissensideal auf die Herrschaft des Geistes über die Natur ausgerichtet ist und der Natur der Dinge jegliche Würde damit abhandenkommt: „Alle Würde gehört dem Menschen: was keine Ehrfurcht gebietet, darüber kann geboten werden, und alle Dinge sind zum Gebrauch.“400 Freilich gesteht Jonas dem Baron Verulam zu, dass die Theorie auch unabhängig von ihrem Gebrauch etwas für sich ist.401 Gleichwohl hält er praktische Anwendung der Theorie für ein Wesensmerkmal der Theorie, anders ausgedrückt: Wissen ist eine Voraussetzung für die Ausführung einer Handlung. Jede Handlung, die nicht bloß intuitiv ist, erfordert eine theoretische Überlegung402: „Woraus folgt, daß der Gebrauch der Theorie keine Theorie von sich selbst verstattet: ist es erleuchteter Gebrauch, dann stammt sein Licht von der Überlegung, und keine Güte der Theorie garantiert den guten Sinn für das Besondere, dessen die Überlegung bedarf.“403 Somit gibt es zwar Theorie und ihren Gebrauch, aber eben keine Theorie vom Gebrauch der Theorie. Bacons Ideal, das Wissen möge dem Vorteil und Nutzen des Lebens dienen, bliebe insofern so lange leer wie nicht klar ist, was der Nutzen des Lebens sein kann. Allein die Katastrophen, die die Menschen vor Augen haben, abzuwenden, entschuldige möglicherweise, 399 Vgl. ebd. 400 Ebd., S. 318. 401 Ebd., S. 324. 402 Vgl. ebd., S. 325. 403 Ebd., S. 327.
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dass nicht länger nach Zwecken gesucht, also philosophiert werde. Aber dies hieße in der Konsequenz, die „Schlacht um den Menschen“404 aufzugeben. Andererseits setze eine Diagnose des Notstands bereits die Vorstellung davon voraus, „was kein Notstand wäre.“405 Die Suche danach sei vorrangige Aufgabe der Wissenschaft und ihres praktischen Gebrauchs. Die Textfassung erscheint 1959, in einem Jahr, das für Hans Jonas prägend sein soll. Im Juli trifft er mit der Familie in Bern ein,406 in Sils Maria kommt er mit Adorno und Günther Anders zusammen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Jonas dort auch Gershom Scholem sieht. Jedenfalls treffen sich Adorno, der in diesen Jahren regelmäßig ins Engadin fährt, und Scholem dort. So schreibt Adorno an Scholem im September 1959, er und seine Frau seien sehr froh gewesen, ihn in Sils Maria gesehen zu haben, und er freue sich auf das nächste Mal.407 Zwischen Jonas und Anders kommt es in der Schweiz zum Bruch ihrer Freundschaft. Anders sei, so Jonas an Hannah Arendt im August 1959, inzwischen „unerträglich, eitel, neidisch, rachsüchtig“, ein „gehässiger Zwerg“, „verblendet und urteilslos“.408 Der Zwist mit dem Freund geht ihm nahe. Es dauert bis in die frühen 1970er Jahre, ehe sich die beiden wieder einander annähern und ihre Freundschaft auffrischen, wenngleich sie nie mehr so sein wird wie in den 1920er Jahren. Kurze Zeit nach dem Streit mit Anders und dem Brief an Arendt geht er am 1. September 1959 für ein Jahr nach München. Das durch ein Gutachten Bultmanns erhaltene Rockefeller-Stipendium409 in Höhe von 5.000 US-Dollar410 und das seitens der New School gewährte Sabbatical ermöglichen dies. Die Förderthemen der Rockefeller Foundation passen ideal zu Jonas’ eigenen wissenschaftlichen Vorlieben: Stete justizielle und politische Probleme, 404 Ebd., S. 338. 405 Ebd., S. 339. 406 HJ 13-7-5, Berner Tagblatt vom 3. Juli 1959. 407 Theodor W. Adorno/Gershom Scholem: Briefwechsel. „Der liebe Gott wohnt im Detail“ 1939-1969. Hg. von Asaf Angermann. Frankfurt a.M. 2015, S. 177. 408 HJ 3-22-1, Brief vom 11. August 1959 an Hannah Arendt. Zur philosophischen Diskrepanz sieh Christophe David/Dirk Röpcke: Zweierlei Verantwortungsethik. Günther Anders und Hans Jonas und die Antinomien der heutigen politischen Ökologie. In: Handlung Kultur Interpretation 12/2003, S. 250-273. 409 HJ 13-5-4. Vgl. Andreas Großmann: „Und die Gnosis ruft mich immer noch...“. Hans Jonas’ Denkwege im Lichte seines Briefwechsels mit Rudolf Bultmann. In: Journal Phänomenologie 20/2003, S.27. 410 HJ 13-5-4, Brief der Rockefeller-Foundation vom 23. März 1959.
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Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit, Macht und Tugend, politische Ideengeschichte, der historische Hintergrund moderner politischer Theorie sowie die Idee der Gerechtigkeit und der Werte im altgriechischen Denken. In kaum einer anderen europäischen Stadt wird er so häufig verweilen wie in München, wo er seine Gnosis-Studien in englischer Sprache fortführen möchte. Später, nach der Eric-Voegelin-Professur 1982/83, reist er jährlich dorthin, nicht zuletzt, um alte Freunde aufzusuchen. Doch 1959 ist er zunächst einmal nur ein paar Tage dort. Schon am 20. September geht es weiter. Bis Anfang Oktober nimmt er an der Conference on Patristic Studies in Oxford teil und hält einen Vortrag über „Das Evangelium Veritatis und die valentinianische Spekulation“,411 der um die koptisch-gnostische Schrift aus dem Nag-Hammadi kreist. Der Valentinianismus war eine der am weitesten verbreiteten Bewegungen des Gnostizismus, Valentinus der wohl bedeutendste Gnostiker. In Ägypten geboren, wurde er in Alexandria ausgebildet und lehrte in der Mitte des zweiten Jahrhunderts in Rom. Seine Lehre, aber auch die Interpretationen seiner großen Schülerschar, vor allem in Bezug auf die Anfänge der Welt, sind notwendig spekulativ angelegt: „Das charakteristische Prinzip ... liegt in dem Versuch, den Ursprung der Finsternis ... in der Gottheit selbst anzusiedeln, um auf diese Weise die Tragödie des Göttlichen, die daraus entspringende Erlösungsbedürftigkeit sowie die Dynamik dieser Errettung selbst insgesamt als Aufeinanderfolge göttlicher Geschehnisse zu entfalten.“412 Nach der jahrelang dauernden Vernachlässigung der gnostischen Studien rückt das Thema bald schon erneut ganz oben auf die Agenda der Vorträge von Hans Jonas. Im Januar 1960 hält er unter anderem in Hamburg einen Vortrag über „Das Evangelium Veritatis“, um anschließend weiter nach Münster und Heidelberg zu reisen. In den folgenden Jahren stehen biologische und gnostische Studien gleichbedeutend nebeneinander. Zumindest bis Mitte der 1960er Jahre lässt sich dies belegen. Unmittelbar nach seinem Hamburger Vortrag über das Evangelium Veritatis möchte ihn der Soziologe Alexander Rüstow zurück nach Deutschland holen. Er schlägt allerdings eine Berufung in die „deutsche Schweiz“ vor.413 In einem Brief an Jonas merkt er des Weiteren an, dass nicht alle entscheidenden Kollegen hinter ihm stünden. Jonas antwortet prompt, dass er 411 Siehe dazu auch: HJ 3-9. 412 Jonas, Gnosis, a.a.O., S. 212. 413 Vgl. HJ 4-3-26. Brief vom 14. März 1960.
ERSTER TEIL: LEBEN
wegen der untilgbaren Vergangenheit nicht nach Deutschland zurück wolle.414 Auch Rudolf Bultmann bemüht sich um Hans Jonas und will ihn auf eine Professur für Philosophie zurück nach Marburg holen. Am 9. Juli 1960 schreibt Bultmann: „Vertraulich kann ich Ihnen heute Folgendes mitteilen ... daß Sie auf die Liste gesetzt werden, u. zwar in einer Weise, daß eindeutig klar wird: die philos. Fakultät wünscht Sie.“ Die beiden anderen Kandidaten seien Schein-Kandidaten. Und es bestünde kein Zweifel, dass die Liste der Kommission von der Fakultät akzeptiert werde. Jonas’ Berufung sei damit „so gut wie sicher.“ Jonas’ Nominierung sei jedoch in keiner Weise „durch den Gedanken der Wiedergutmachung begründet.“ Er mag im Ministerium, doch nicht in der Universität eine Rolle spielen. Bultmann ist der Ansicht, Jonas habe in Marburg „eine Aufgabe“, und er wünsche sich, dass „Sie sich dieser Aufgabe nicht versagen möchten“, sobald der Ruf an ihn ergehe.415 Anders als seinerzeit in Kiel ergeht der Marburger Ruf tatsächlich an ihn. Möglich, dass Jonas aus dem Zwist zwischen Blumenberg und Bröcker 1955/56 persönliche Konsequenzen gezogen hat und nun die Sache durchficht. Die Bedenken hinsichtlich der historischen Last bleiben jedoch – trotz des Wunsches seines Lehrers und Freundes,416 sodass er zunächst den im November 1960 offiziell erteilten Ruf nach Marburg abwartet, um ihn ebenso offiziell abzulehnen.417 Die Gründe sind die nämlichen wie 1955/56, und er wird 1964 ähnlich argumentieren, nachdem er einen Ruf an die Southern Methodist University in Dallas, Texas, erhält: Aus Rücksicht auf die Familie, die bereits mehrfach umziehen musste, sieht er von einem Wechsel an einen entfernt gelegenen Ort ab.418 Freilich fehlt bei dem Ruf aus Texas der Verweis auf die Vergangenheit. Jonas schlägt nach dem Marburger Angebot dem Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung, Ernst Schütte, allerdings eine Alternative vor: „die einer Halbprofessur, bestehend in regulärer Lehrtätigkeit fuer jeweils ein Semester jaehrlich (Sommersemester), wofuer ich durch Adjustierung der hiesigen Verpflichtungen ... Raum schaffen liesse.“419 Eine Antwort 414 HJ 16-14-25, Brief vom 14. März 1960 und Antwort von Jonas vom 20. März 1960. 415 HJ 4-6-3, Brief vom 9. Juli 1960. 416 Vgl. auch: Andreas Großmann: „Und die Gnosis ruft mich immer noch...“, a.a.O., S. 22. 417 Vgl. HJ 16-14-9, Schreiben vom 14. Oktober 1960 sowie 16-14-15, Schreiben vom 8. Dezember 1960. 418 HJ 16-14-26, Schreiben o.D., vermutlich Ende 1964, Anfang 1965. Für Deutschland kam freilich besagtes Problem hinzu, in das Land der Mörder seiner Mutter nicht dauerhaft zurückkehren zu können. 419 HJ 16-14-15, Schreiben vom 8. Dezember 1960.
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Abb. 20: Die Familie 1968, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
des Ministeriums ist nicht übermittelt, wohl wäre es auch gar nicht der Ort, um über einen solchen Vorschlag zu befinden. Kehren wir nochmals in das Frühjahr 1960 zurück: Drei Monate nach seinem Hamburger Gastspiel führt er mit Helmut Kuhn, Professor für Amerikanische Kulturgeschichte und Philosophie am Amerika-Institut der Universität München, in Heidelberg und Baden-Baden Gespräche über Parmenides und die Gnosis.420 An Ostern, Mitte April, kommt Besuch von den Schwiegereltern nach München. Lore Jonas’ Mutter Paula Odenheimer verstirbt während dieses Besuchs, und auch Lore selbst muss kurze Zeit später ins Krankenhaus. Erst im Mai des Jahres kann sich Jonas in München wieder der Arbeit an Gnosis II sowie „Plotin über Zeit und Ewigkeit. Interpretation von Enneaden III, 7“ widmen. Der Artikel über Plotin erscheint allerdings erst 1962 in der Festschrift für Eric Voegelin. Nach dem erneuten Wiedersehen mit Bultmann Mitte Juni421 unternimmt die fünfköpfige Familie im Juli dann eine einwöchige Italientour. Anfang August 1960 wieder in München, kommt es auch, wie bereits erwähnt, zum endgültigen Bruch mit seinem alten Freund, dem Schriftsteller und Essayisten Gerhard Nebel. Am 4. August 1960 geht es von München aus nach Paris. Am 5. August 1960 kehrt die Familie über Le Havre nach New York zurück. 420 HJ 4-3-26, Brief vom 14. März 1960 und Antwort von Jonas vom 20. März 1960. 421 HJ 23-11-2, Brief Bultmanns vom 9. Juni 1960 sowie von Jonas vom 5. Juni 1960.
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Die wieder aufgefrischte Beschäftigung mit der Gnosis hat möglicherweise auch Einfluss auf die 1961 an der School of Divinity der Harvard University gehaltene Ingersoll Lecture zum Thema Unsterblichkeit.422 Dort entwickelt Jonas erstmals die These vom Rückzug Gottes aus der Welt und stellt eine Verbindung zu Auschwitz her. Gleichwohl bemerkt er, auf einen Wahrheitsanspruch verzichten zu wollen. Vielmehr handele es sich um ein Stück spekulativer Philosophie: „Nicht die Handelnden, die stets vergehen, sondern ihre Handlungen gehen ein in die werdende Gottheit und formen unauslöschlich ihr nimmer entschiedenes Bild. Gottes eigenes Geschick steht auf dem Spiel in diesem All, an dessen wissenslosen Prozeß er seine Substanz überließ, und der Mensch ist zum vorzüglichen Verwahrer dieses höchsten und immer verratbaren Treugutes geworden. In gewissem Sinne ist das Schicksal der Gottheit in seiner Hand.“423 Spekulative Theologie und Philosophische Biologie laufen nun parallel. 1961/2 entsteht eines der wichtigsten Kapitel von „Organismus und Freiheit“. Es trägt den Titel: „Homo pictor and the Differentia of Man“.424 Darin greift er die im „Adel des Sehens“ formulierten Thesen über die Sinne und vor allem das Sehen wieder auf und entfaltet so deutlich wie sonst nirgends eine Philosophische Anthropologie, die den Übergang zu seiner später formulierten Ethik bildet. Die differentia specifica des Menschen erblickt er im Bildmachen als einem Erkenntnismittel, das Verstehen ermöglicht. Bildvermögen und Imagination des Menschen werden zur metaphysischen Kluft, die ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Die Fähigkeit der Imagination hat wiederum einen zeitlichen Bezug: Der Mensch kann sich ein Bild von der Zukunft machen. Und weil er es kann, ist er dazu aufgerufen, dies auch zu tun. In diese Zeit fällt nicht nur seine Gastprofessur (Visiting Lecturer) der Universität Princeton,425 sondern auch die Visiting Professur der Colombia University, New York, für das erste Halbjahr 1961 mit zusätzlicher, finanzieller Unterstützung.426 Nach Ablauf seiner Visiting Professur an der Colombia University wird Jonas für die Zeit vom 1. Juli 1961 bis zum 30. Juni 1964 dort zum „Associate in the University Seminar“, jedoch ohne zusätzliche Bezahlung.427 422 Sieh HJ 3-15. 423 Zitiert nach Hans Jonas: Unsterblichkeit und heutige Existenz. In: Das Prinzip Leben, S. 373-397, hier S. 389. 424 Social Research 29. Deutsch in: Das Prinzip Leben, a.a.O. 425 Sieh HJ 13-21-1. 426 Sieh HJ 13-21-3, Appointment vom 3. April 1961. 427 Sieh HJ 13-21-3, Appointment vom 5. Juli 1961.
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Auch das Hunter College in New York City tritt zu Beginn des Jahres 1962 an ihn heran und fragt nach seinem Interesse an einer im September frei werdenden Stelle als Full Professor.428 Jonas bekundet zwar anfangs sein Interesse. Statt der ordentlichen Professur geht er jedoch nur als Visiting Professor an das Hunter College. Und zu seinen akademischen Auszeichnungen zählt seit dem 10. Oktober 1962 nun auch das Ehrendoktorat des Jewish Institute of Religion/Hebrew Union College, Cincinnati, dem ältesten Rabbinerseminar der Vereinigten Staaten.429 Nur wenige Tage später beginnt die wohl gravierendste politische Krise des 20. Jahrhunderts: Die Kubakrise bringt die Welt an den Rand eines Atomkrieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die Konfrontation der beiden Supermächte entwickelte sich nach der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba. Der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy drohte der Sowjetunion daraufhin, im Zweifelsfall Atomwaffen einzusetzen, sollte sie sich nicht von dem Inselstaat in der Karibik zurückziehen. Nachdem die Krise durch diplomatisches Geschick im letzten Augenblick beigelegt werden konnte, wurde rasch deutlich, dass sich der Kalte Krieg in einem neuen Stadium befand. Es schien fortan durchaus realistisch, dass die Welt durch einen möglichen Atomkrieg dem Abgrund sehr nahe ist. Daraufhin wurden nicht zuletzt auch die internationalen Beziehungen neu durchbuchstabiert.430 Der politischen Krise folgt eine schwerwiegende private Krise bei Hans Jonas. Denn nach dem Bruch mit Anders 1959 und Nebel 1960 kommt es am 2. März 1963 auch zum vorläufigen Bruch mit Hannah Arendt. Zu diesem Zeitpunkt erscheint ihr dritter von insgesamt fünf Artikeln über den Chef-Organisator der Judendeportationen, Adolf Eichmann, im New Yorker. Hans Jonas hatte schon im Vorfeld des Prozesses beim New York Times Magazine interveniert. Ende Januar 1961 schreibt er dem Herausgeber, er könne der Argumentation des Magazins im Falle Eichmanns nicht folgen. Denn der Bericht, kein israelischer Anwalt sei bereit gewesen, Eichmann zu verteidigen, suggeriere, es habe eine Vorgeschichte von Versuchen gegeben, dies in die Wege zu leiten. Dem sei aber mitnichten so, da Eichmann unmittelbar einen deutschen Anwalt konsultiert habe. Auch die Kritik an Ben Gu428 Sieh HJ 4-6-2, Brief vom 26. Januar 1962. 429 Sieh HJ 13-1. 430 Sieh dazu ausführlich: Bernd Greiner: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010; Rolf Steininger: Die Kubakrise 1962. Dreizehn Tage am atomaren Abgrund. Reinbek 2011.
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rions Schuldigsprechung Eichmanns noch vor Prozessbeginn, kann Jonas nicht nachvollziehen. Die Zeitung scheine „zu verwechseln, was ein Richter sagen darf und was nicht.“431 Auch bei den Nürnberger Prozessen sei vor der Urteilsverkündung von Opfern, Mord etc. gesprochen worden. Für Ben Gurion im Fall Eichmanns einzufordern, seine Wortwahl zu überdenken, sei einfach nur grotesk. Denn eine strafrechtliche Verfolgung setze nun einmal eine Schuldannahme voraus. Der Prozess gegen Eichmann beginnt bereits wenige Wochen später, am 11. April 1961 und endet mit der Urteilsverkündung am 11. Dezember 1961. Die Berufungskammer bestätigt das Urteil am 29. Mai 1962. Hannah Arendt interpretiert in ihren Artikeln den Prozess gegen Eichmann als Schauprozess, behauptet, Eichmann sei kein fanatischer Judenhasser, aber unfähig gewesen, sich in einen Anderen hineinzuversetzen.432 Sie sieht in ihm kein Ungeheuer, aber einen auf Kadavergehorsam getrimmten »Hanswurst«. Diese Einschätzung verleitet sie zu der These von der »Banalität des Bösen«, die in der Person Eichmanns zum Ausdruck komme. Heftige Kritik schlug ihr für die These der Mitarbeit jüdischer Funktionäre an der Vernichtung des eigenen Volkes entgegen. Aber auch ihre Kritik an der Anklagestrategie des Gerichts und der Berufungskammer wurde nicht gern gehört. Schließlich widersprach sie auch der These, der »Holocaust« sei eine Folge des Antisemitismus.433 Hans Jonas geht gar nicht so sehr auf die Inhalte der Artikel ein als vielmehr auf einige formale Fehler. Dennoch wird man den Eindruck nicht ganz los, dass Jonas diese Herangehensweise wählt, um sich mit dem Eigentlichen nicht allzu sehr auseinandersetzen zu müssen. Auch dürfte ihn Arendts Kritik an dem 1955 verstorbenen Leo Baeck, der sich selbst ein freiwilliges Schweigegelübde über das Vernichtungslager Auschwitz auferlegte, nicht sonderlich erfreut haben.434 Im Januar 1964 erörtert Jonas in einem Brief an Hannah Arendt seinen Standpunkt in der Affäre Eichmann: „Liebe Hannah“, schreibt er, „daß ich diesen Brief schreibe, geht gegen alle Logik und Vernunft. Als die rechte Zeit dafür zu sein schien, tat ich es nicht; da sie vorbei ist, tue ich es. Als ich damals, mit Entsetzen, den dritten Artikel von »Eichmann in Jerusalem« 431 Sieh HJ 3-22-6, Brief vom 29. Januar 1961. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 432 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964. 433 Ihre eigene Sicht auf die Kontroverse schildert sie in: Persönliche Verantwortung in der Diktatur. In: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Berlin 1991, S. 7-38. 434 Vgl. Young-Bruehl: Hannah Arendt, a.a.O., S. 498ff.
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las, wollte ich Dich telegrafisch beschwören, wenigstens die deutsche Ausgabe zu unterlassen. (Die Nacht, in der alle Katzen grau sind, ist mir dort schon 1945 als die verschlagenste Ausrede entgegengetreten.) Aber dann, eingedenk der über die Jahre zunehmend gemachten Erfahrung, daß Du Gründen nicht zugänglich bist, auf niemanden hören und immer nur Recht behalten willst, sagte ich mir: Es hat doch gar keinen Zweck ... Es geht mir um die Enthüllung der Methode, nicht um die Berichtigung der Sachen, die von Vielen kompetent und gültig unternommen worden ist. Und ich wähle inhaltlich relativ harmlose Beispiele, die Lebende betreffen und sich leidenschaftslosbehandeln lassen, da die unverzeihlichen Sünden an den Toten Worte heraufbeschwören, die gesagt vielleicht wirklich unserer Freundschaft tödlich werden könnten.“435 Es folgen einige Beispiele von Ausdrucksweisen und Begriffen, mit denen Jonas überhaupt nicht einverstanden ist. Anschließend kommentiert und korrigiert er Arendts Halbsätze und schließt mit den Sätzen: „Wahrlich ein reicher Ertrag eines stilistischen Späßchens – eines der vielen, die sich Deine Spaßhaftigkeit in todernster Sache erlaubt.“ Er müsse sie, so Jonas am Ende des Briefes, „hier eines demagogischen Tricks zeihen, der nicht die bona fides der Zeugen, sondern Deine in Frage stellt.“436 Da der neunseitige Brief wohl, wie einem handschriftlichen Zusatz zu entnehmen ist, von Januar 1964 stammt, Arendts Artikel im März 1963 erschien und vom Frühjahr 1964 weitere Briefe der beiden existieren, kann das gegenseitige Beschweigen der Freunde maximal ein Dreivierteljahr (März bis Dezember 1963), und nicht, wie so oft behauptet, zwei Jahre gedauert haben.
435 HJ 3-22-5, Wort korrigiert. 436 HJ 3-22-5, Brief an Arendt ohne Datum, etwa Januar 1964 laut Jonas’ eigenem handschriftlichem Zusatz. 3-22-7 ist der Briefentwurf.
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I Ein kleiner Trost für einen großen Verlust
Im Jahr des Streits mit Hannah Arendt erreichen Hans Jonas aber auch erfreuliche Nachrichten, wenn auch in unerfreulicher Angelegenheit: Die Bundesrepublik Deutschland hatte mit dem Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus und dem Bundesrückerstattungsgesetz der Jahre 1956 und 1957 eine Grundlage geschaffen, um Schadensersatzansprüchen von Opfern des Hitler-Regimes zum Erfolg zu verhelfen. Dies betraf nicht zuletzt viele emigrierte Juden, unter anderem auch Hans Jonas. Das Gesetz ist ein Resultat der deutsch-israelischen Diplomatie nach 1945. Hierzu ist zu sagen, dass die deutsch-israelischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Kern von drei Faktoren bestimmt sind. Erstens vom Völkermord an den rund sechs Millionen Juden während des Krieges durch die Nationalsozialisten. Zweitens von den Wirtschaftsverflechtungen Deutschlands mit Israel als auch mit den arabischen Staaten. Drittens von den daraus resultierenden gesellschaftlichen Komplikationen und politischen Missverständnissen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lastete auf Deutschland ein allgegenwärtiger Bann (herem).437 Der Völkermord an den europäischen Juden war seit Gründung der beiden Staaten eine nicht zu schulternde Hypothek: Weder Wiedergutmachung (shilumim) noch Sühne (kapara) und Verzeihen waren nach der Barbarei möglich. Wie hätte ein solches Verbrechen auch je wieder gut gemacht werden können? Die Toten kamen nicht mehr zurück. Die Geschichte des Pardons, so der jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch, sei in Auschwitz zu Ende gegangen.438 In dieser politisch schwierigen Phase unmittelbar nach Ende des Krieges war es das große Verdienst des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, einen neuen Anfang gewagt zu haben. Kurz nach Gründung der Bundes437 Vgl. Diner: Rituelle Distanz, a.a.O. 438 Vladimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Essays zur Moral- und Kulturphilosophie. Frankfurt a.M. 2003.
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republik Deutschland 1949 kündigte er in einem Interview mit der „Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ an, dass sich die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches dem begangenen Unrecht stellen und zumindest eine Entschädigung leisten wolle. In seiner Regierungserklärung anlässlich des jüdischen Neujahrsfestes am 27. September 1951 bekräftigte Adenauer nochmals die moralische und materielle Notwendigkeit einer „Wiedergutmachung“. In einem diplomatischen Kraftakt, bei dem auf deutscher Seite insbesondere der CDU-Bundestagsabgeordnete und Ökonom Franz Böhm, auf israelischer Seite der Vorsitzende der Jewish Claims Conference, Nahum Goldmann, beteiligt waren, gelang es 1952 in Luxemburg tatsächlich, ein Abkommen zu schließen. Es sah Zahlungen Deutschlands an Israel in Millionenhöhe vor. Gezahlt wurde durch Warenlieferungen: Stahl, Eisen, chemische Stoffe und Agrarprodukte halfen Israel beim Aufbau des jungen Staates. In Deutschland wurden rasch kritische Stimmen laut, die meinten, Israel habe kein Recht auf Reparationen, da es während der NS-Herrschaft gar nicht existiert habe. Der CDU-Abgeordnete Walter Hallstein beharrte deshalb auf dem Hinweis, dass es sich um freiwillige Zahlungen handele. Erschwerend kam hinzu, dass bei vielen Deutschen bereits eine „Schlussstrich-Mentalität“ vorherrschte. David Ben Gurion hingegen hatte in Israel mit dem Vorwurf zu kämpfen, „Leichengeld vom Teufel“ anzunehmen. Zweifellos galt es für ihn, einerseits den jüdischen Bann nicht zu brechen, andererseits aus Staatsraison eine deutsche Restitution zu erwirken. Von den klassenkämpferischen, prosowjetischen und jüdisch-nationalen Wortmeldungen ließ sich Ben Gurion nicht beirren. Nachdem Deutschland die Möglichkeit privater Klagen der Hinterbliebenen der Opfer des NS-Terrors ermöglicht hatte, forderte er 1957 erstmals, diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Doch die Krisensituation im Nahen Osten und die Angst der Deutschen, die arabischen Staaten könnten den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik durch die Anerkennung der DDR beantworten, führte dazu, dass zunächst nur auf militärischem Gebiet eine Zusammenarbeit angestrebt wurde. Die Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und Simon Peres trafen in der Folge Absprachen über Rüstungslieferungen. Zwischen 1959 und 1967 kam es so zu einer gegenseitigen Lieferung militärischer Ausrüstungen und Waffen. Als 1959 ein Spiegel-Artikel mit dem Titel „Granaten aus Haifa“439 über israelische Exporte an Deutschland berichtete, kamen rasch Spekulationen der arabischen Staaten über die Lieferung 439 Der Spiegel 26/59: Granaten aus Haifa, 24. Juni 1959, S. 18-20.
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deutscher Rüstungsgüter nach Israel auf. Und in Israel fragte Menachem Begin, dessen Eltern und Geschwister von den Nazis ermordet wurden, provokativ, ob diejenigen, „die ihre Hände mit jüdischer Seife gewaschen haben, auch jüdische Waffen tragen“ sollen.440 Abseits dieser Kontroversen liefen die ersten zivilen Projekte an: 1958 die Aktion Sühnezeichen, die soziale Projekte förderte und Hilfe von deutschen Jugendlichen für NS-Opfer bereitstellte, sowie 1959 die von der Max-Planck-Gesellschaft ins Leben gerufene Minerva-Stiftung, die seither die deutsch-israelische Wissenschaftszusammenarbeit unterstützt. Bei dem sagenumwobenen Treffen zwischen Ben Gurion und Adenauer in New York 1960 kam es zwar zu einem konstruktiven Gespräch über weitere Wirtschaftshilfen und Rüstungslieferungen. Die so genannte „Aktion Geschäftsfreund“, zu deren nachdrücklichem Widersacher Außenminister Gerhard Schröder 1961 avancierte, verlor jedoch noch kein Wort über diplomatische Beziehungen. Das änderte sich bald. Der Prozess gegen Adolf Eichmann dokumentierte Anfang der 1960er Jahre nicht zuletzt die unzureichenden politischen Bemühungen um eine Aufarbeitung der Vergangenheit. In den folgenden Jahren wuchs zudem der moralische Druck der Evangelischen Kirche, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und verschiedener Medien auf die Politik zur Aufnahme von diplomatischen Beziehungen. Der Durchbruch gelang am 12. Mai 1965 unter maßgeblichem Anteil und politischem Geschick von Bundeskanzler Ludwig Erhard nach monatelangen schwierigen und zeitweise unterbrochenen Verhandlungen. Den Erfolg kommentierte Israels Ministerpräsident Levi Eshkol in der Knesset: „Am 7. März gab die Bundesregierung Deutschland ihren Beschluss bekannt, diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Am gleichen Tage übersandte Bundeskanzler Erhard einen Sonderbeauftragten nach Jerusalem, um mit uns einige zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland noch offenstehende Probleme zu beraten. Am 14. März beschloss die Regierung, das Angebot der Bundesrepublik Deutschland, alsbaldige diplomatische Beziehungen mit Israel herzustellen, anzunehmen.“441 Das bereits einige Jahre zuvor erlassene Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus sowie das Bundesrückerstattungs440 Zitiert nach Niels Hansen: Geheimvorhaben »Frank./Kol.«. Zur deutsch-israelischen Rüstungszusammenarbeit 1957-1965. In: Historisch-Politische Mitteilungen. Hg. von Hans-Otto Kleinmann u.a. Band 6, Heft 1/1999. Köln und Wien, S. 235. 441 Zitiert nach Europa-Archiv, Band 20, Ausgabe 2, S. 242.
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gesetz betrafen auch die Brüder Hans und Georg Jonas. Im Juni 1963 kommt ihre seit 1958 geführte Klage gegen die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs zu einem vorläufigen Abschluss. In einem Vergleich zur Abgeltung aller gegenseitigen Ansprüche „der ungerechtfertigten Entziehung von Wertpapieren, ... von Hausrat ... und Bankguthaben“442 wird ihnen ein Betrag in Höhe von rund 42.500,- Mark zuerkannt. Dazu beigetragen hat unter anderem die Aussage des einstigen Hauslehrers Rudi Vitus, der über die Familienverhältnisse vor dem Krieg als Zeuge berichtet. Im Bescheid vom 18. Dezember 1963 wird die Summe zunächst bestätigt und auf Grund des Beschlusses der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Krefeld am 20. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, dem 27. Januar 1965, auf knapp 54.000,- Mark korrigiert. Zu den Gründen heißt es: „Mit der ... genannten Entscheidung ist das Deutsche Reich verurteilt worden, an die Erben in ungeteilter Erbengemeinschaft nach der Witwe Rosa Jonas geb. Horowitz wegen der ungerechtfertigten Entziehung von Edelmetall- und Schmucksachen sowie eines Lifts mit Umzugsguts einen Schadensersatzbetrag ... zu zahlen.“443 Nachdem die Claims-Conference Wünsche vorgetragen hat, die eine Novellierung des Gesetzes erforderlich machten, und diese dann auch durchgesetzt worden war, beantragt der Anwalt der Brüder Jonas eine Altsparerentschädigung für die im Krieg eingezogenen Bankguthaben der Mutter. Die Oberfinanzdirektion Düsseldorf weist diesen Anspruch am 13. Dezember 1965 mit der Begründung zurück, man habe sich bereits im Juni 1963 gütlich geeinigt und einem Vergleich zugestimmt, sodass „keine weiteren rückerstattungsrechtlichen Ansprüche“444 mehr bestünden. Hans Jonas hatte im Februar 1965 erklärt, auf weitere Rechtsmittel gegen den Bescheid zu verzichten.445 Damit endet nach gut sieben Jahren das Verfahren, in dem Jonas auch im Namen seines Bruders versucht, eine Bestandsaufnahme der geraubten Wertsachen seiner Eltern zu ziehen. Allerdings hatte die ganze Angelegenheit einen jahrelangen Vorlauf, mindestens bis in das Jahr 1951 zurück, als sowohl Hans als auch sein Cousin Gerald Jonas über den Rechtsanwalt Fürst versuchten, eine Entschädigung für das einstige Hab 442 StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 Bd. I, Schreiben vom 6. Juni 1963. 443 Ebd., Schreiben vom 27. Januar 1965. 444 Ebd., Schreiben vom 13. Dezember 1965. 445 Ebd., Schreiben vom 12. Februar 1965 auf dem Briefkopf der Wesleyan University, Middletown/Connecticut, wo er 1964/65 Fellow ist.
ERSTER TEIL: LEBEN
und Gut der Familie Jonas zu erhalten.446 Hans Jonas hatte bereits 1945, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, eine Aufstellung der Verluste seiner und der Familie seines Cousins Gerald in Angriff genommen und in advokatische Hände gegeben. Zu Beginn ist das Bemühen um (finanzielle) Entschädigung jedoch von wenig Erfolg gekrönt, zumal der Anwalt erkrankt und am 16. März 1956 verstirbt.447 Rechtsanwalt Sensburg, ebenfalls Mönchengladbach, übernimmt fortan die Angelegenheit. Er hatte 1955/56 mit Fürst gemeinsam operiert und führt ab 1957 eine eigene Kanzlei.448 Auch die neu erlassenen Gesetze in der Bundesrepublik ändern die Sachlage zugunsten der Familie Jonas. Schon in den Jahren 1953/54 gelang es Jonas, durch Vergleiche mit dem neuen Besitzer des Familienhauses in der Mozartstraße eine Rückerstattung für den Verlust zu erzwingen. Das Haus wurde 1939 zwangsweise und zu einem äußerst niedrigen Preis veräußert.449 Der von Jonas geltend gemachte Rückerstattungsanspruch nach dem Krieg gibt als Grund die rassische Verfolgung der Familie nach seiner Auswanderung an, die ihn dazu veranlasst hätte, das Haus zu einem geringen Preis zu verkaufen.450 Im Krieg erlitt die Immobilie dann Schäden durch Fliegerbomben. Nach dem Krieg stand sie eine Zeit lang leer oder wurde seitens der Stadt Mönchengladbach genutzt.451 Ist der private Prozess also bereits 1954 abgeschlossen, so zieht sich das Wiedergutmachungsverfahren hinsichtlich der „Kriegsschädensansprüche“ bis in die 1960er Jahre. Im Januar 1961 zählt Jonas in einem Schreiben an seinen neuen Anwalt die Wertgegenstände auf: Halsketten aus Gold, Platin, Diamanten- und Perlenanhänger, Broschen, Ringe, Edelsteine, und ergänzt: „Im Laufe ihrer fast 40jährigen Ehe hat meine Mutter von meinem Vater zu zahlreichen Gelegenheiten Schmuck geschenkt erhalten, der durchweg von beträchtlichem Wert war.“452 Das Restvermögen seiner Mutter bezifferte er bereits 1958 auf 85.000,- Reichsmark und erwähnt zudem Sonderausgaben der Auswanderung, sowie die Verschleuderung der Einrichtung, und schließlich Hausrat und Wertpapiere. Mit der Deportation der Mutter ging 446 Vgl. HJ 10-11-15, Brief von Gerald Jonas vom 10. November 1951. 447 Vgl. HJ 17-25-25, Todesanzeige sowie HJ 11-5-60, Brief von Gerald Jonas vom 23. Mai 1955. 448 Vgl. die Schreiben in HJ 17-25. 449 Vgl. 17-25-23, Bericht vom 3. Januar 1955. 450 Vgl. HJ 17-25-110, Beschluss vom 7. Dezember 1951. 451 Vgl. HJ 17-25-106, Schreiben vom 5. April 1952. 452 StAMg, Sammlung Hans Jonas 15/43/114 Bd. I, Schreiben vom 21. Januar 1961.
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das gesamte Vermögen der Familie verloren.453 Insofern ist der 1963 gezogene Vergleich auch nur ein kleiner Trost auf einen großen Verlust. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hannah Arendt die Kinder von Hans und Eleonore Jonas in ihrem Testament mitbedacht. Die Zahlungen des deutschen Staates machten dies in den Augen von Arendt jedoch hinfällig.454
II Mit Adorno gegen Heidegger
Zweifellos eine nicht minder freudige Nachricht ist das gleichsam in diese Zeit fallende Angebot einer Professur der University of Chicago, wo auch Leo Strauss forscht und lehrt. Daraufhin verhandelt Jonas 1963 mit beiden Universitäten. Als die New School ihm schließlich das Erbe von Adolph Lowes Alvin-Johnson-Professur anbietet, entschließt sich Jonas, in New York zu bleiben. Die Professur ermöglicht es ihm, über die Altersgrenze hinaus bei vollen Bezügen an der Fakultät tätig zu sein. Bereits im Jahre 1960 geht Jonas auf Adolph Lowe zu, weil er sich über Möglichkeiten erkundigen möchte, über die übliche Altersgrenze hinaus, an der New School tätig zu sein. Lowe macht ihm jedoch zunächst wenig Hoffnung, nach Vollendung seines 68. Lebensjahres bei vollen Bezügen lehren und forschen zu dürfen.455 Jonas glaubte, bei seiner Einstellung mit der New School verhandelt zu haben, dass er bis zum 70. Lebensjahr seine Professur fortführen dürfe. Doch in den Unterlagen der Fakultät ist dazu nichts schriftlich fixiert.456 Angesichts der Tatsache, dass er spät Vater geworden ist und die Ausbildung seiner drei Kinder finanzieren muss, ist das nun gemachte Angebot der Alvin-Johnson-Professur für ihn zu reizvoll, um es ausschlagen zu können. Damit zieht er gewissermaßen auch einen Schlussstrich unter sein wissenschaftlich-bedingtes Nomadentum. Kein universitärer Jobwechsel mehr, wohingegen die akademische Reisetätigkeit nun eigentlich erst richtig losgeht. Zu einem der aufsehenerregendsten Vorträge außerhalb seiner eigenen Fakultät kommt es im Jahr 1964 während der Consultation on Hermeneutics in Madison, New Jersey.457 Jonas hatte bereits in den frühen 1950er Jahren 453 Ebd., Schreiben vom 6. September 1958. 454 Vgl. Young-Bruehl: Arendt, a.a.O., S. 534. 455 Vgl. HJ 13-5-3, Brief vom 21. Mai und 9. Juni 1960. 456 Vgl. ebd. sowie Jonas’ Anfrage bei Lowe, Brief vom 18. Mai 1960. 457 Erstmals wahrscheinlich vorgetragen im Seminar von Karl Jaspers im Wintersemester 1962/63, so lässt HJ 23-11-4, Brief von Jaspers vom 27. Februar 1963, vermuten.
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seinen Lehrer Heidegger gegenüber Kollegen als „the most sophisticated philosophical exponent of modern nihilism“458 tituliert. Auch einer Anfrage von Radio Bremen anlässlich Heideggers 70. Geburtstag 1959 steht er skeptisch gegenüber. Die ersten Worte, die er nach jahrelangem Schweigen zu Heidegger kundtun soll, sollen keine Worte der Schonung und Ehrung sein. Doch „Heidegger“ als Thema einer philosophischen Auseinandersetzung nimmt nicht zuletzt mit solchen Anfragen langsam Gestalt an.459 Nun also spricht er in New Jersey an der Drew University über „Heidegger und die Theologie“ und macht gewissermaßen Ernst mit seinen Vorwürfen Heidegger gegenüber, wobei denjenigen, die ihm nach dem Munde reden, ebenso eine Lektion erteilt wird. Die Tagung in New Jersey findet vom 9.-11. April statt und beginnt Donnerstagmorgen um 9 Uhr im Großen Saal, dessen Architektonik dem Saal der Christ Church an der Oxford University nachgebildet ist. Thema der Konferenz ist „The Problem of Non-objectifying Thinking and Speaking in Contemporary Theology.“ Heidegger hat ein 15 Seiten umfassendes Papier verfasst, das wegen Krankheit in seiner Abwesenheit vorgelesen wird.460 Es bildet den Auftakt der Konferenz. Heidegger fragt darin zunächst, „wie das Denken und Sprechen geartet sein muss, dass es dem Sinn und dem Anspruch des Glaubens entspricht“ und bemerkt dazu, die Theologie müsse sich endlich „über die Notwendigkeit ihrer Hauptaufgabe klar“ werden, die darin bestünde, „die Kategorien ihres Denkens und die Art ihrer Sprache nicht durch Anleihen bei der Philosophie ... zu beziehen.“461 Heidegger selbst scheint also eine Warnung an die versammelten Theologen auszusprechen, sich nicht allein auf die Begrifflichkeiten des Nachbarfachs zu verlassen, sondern eigene Wege zu beschreiten, den Glauben sprechen zu lassen. Dann betritt Jonas die Bühne. In seinem Vortrag fragt er nach dem Nutzen des späten Heideggers für die protestantische Theologie, da die Zuhörerschaft in der Hauptsache aus evangelischen Theologen besteht. In Auseinandersetzung mit der Habilitationsschrift und einem Aufsatz über Systematische Philosophie des jungen Heinrich Ott (1929-2013), der Heidegger für die Theologie fruchtbar zu machen versuchte,462 be458 HJ 21-1-28, Brief vom 12. Januar 1952. 459 Vgl. HJ 13-24-49, Brief vom 18. August 1959 und Briefentwurf vom 30. August 1959. 460 Vgl. 3-25 insgesamt, Programm unter 3-25-6/7. 461 HJ 3-25-8, Schreiben Heideggers vom 11. März 1964. 462 Vgl. Heinrich Ott: Der Weg Martin Heideggers und der Weg der Theologie. Zollikon 1959; Heinrich Ott: Was ist systematische Theologie? In: ZThKB 2/1961, S. 19-46. Vgl.
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tont Jonas zunächst die starke Anziehungskraft der Sprache Heideggers für die Theologie. Die Theologie berief sich in jener Zeit vor allem auf Heideggers Humanismusbrief als jenen Text, in dem noch am ehesten ethische Bezugspunkte zu suchen seien. Eine neue Generation von Theologen war damals darum bemüht, Heideggers Seinsphilosophie theologisch zu adaptieren: „Wie philosophisches Denken sich zum Sein verhält, so verhält sich glaubendes Denken zu Gott, wenn Gott offenbart ist in seinem Wort“463, heißt es bei Ott, der 1962 die Nachfolge Karl Barths auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie in Basel angetreten hatte. Durch ein Moment der Andacht in seiner Wortwahl, erwidert Jonas, schaffe es Heidegger tatsächlich, die Theologie auf fremden Boden zu locken. Seine Reden vom Hirten, von Offenbarung und vom Denken als Danksagung seien hierfür gute Beispiele. Jonas attestiert Heidegger, der selbst mit dem Studium der Theologie begann, ein judäo-christliches Vokabular stilvoll zu nutzen. Doch sei seine Philosophie im Kern zutiefst heidnisch, ein Denken ohne jegliche ethische Reflexion und ein geradezu nihilistischer Ansatz. Es gelte insofern, Heideggers Anleihen aus der Theologie zu prüfen. Jonas kommt am Schluss seines Vortrags unter Berufung auf Whitehead zu der Auffassung, Gott möge die Theologie „vor der Versuchung bewahren, zu beschwörender Sprache ihre Zuflucht zu nehmen.“464 Die Sprache Heideggers hält er zudem für „kitschig“ und nicht mehr beschwörend. Ihn schaudere bei dem Gedanken, „was passieren muß, wenn Leute anfangen zu beschließen, Dichter zu sein. Wichtiger als solche Fragen des Geschmacks ist das Gespenst der Willkür und Anarchie, das hier aufsteht. Da läßt sich nichts mehr beweisen ... aber man kann auch nichts mehr widerlegen, ja auch nur verwerfen ... Dem Gesprochenen bleibt als einziges Kriterium Eigentlichkeit oder Authentizität der Sprache. Aber von Eigentlichkeit, meine ich, sollte man nicht reden.“465 Mit dieser Einschätzung setzt Jonas nicht zuletzt die Kritik Karl Löwiths von 1940 fort, der schon damals Heideggers „gottlose Theologie“ anpran-
auch: HJ 21-3-1, Brief vom 31. Mai 1964 sowie KGA III/2 Protokoll des Gesprächs zwischen Ernst Fuchs und Hans Jonas, Marburg 1964, S. 399-411. 463 Zitiert nach: HJ 3-18-4: Kühlende Blitze fielen, Schwäbisches Tagblatt vom 23. Juli 1964. 464 Hans Jonas: Heidegger und die Theologie. In: KGA Bd. III/2. Herausforderungen und Profile. Jüdisch-deutscher Geist in der Zeit – gegen die Zeit, S. 225-258, hier S. 251. Im Text steht am Ende des Satzes ein Fragezeichen, das dort nicht hingehört, vgl. das englische Original in: Heidegger and Theology, Review of Metaphysics 18/2 (1964), S. 207-233, hier S. 227. 465 Ebd., S. 252.
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gerte.466 In einer Aussprache am letzten Tag des Symposiums hält Jonas gegenüber seinen Kollegen fest, das Treffen sei für ihn schicksalhaft gewesen, denn es habe ihm Gelegenheit geboten, einen schon lange währenden Kampf mit seinem philosophischen Lehrer auszutragen, den Zauberer von Todtnauberg467 und Quelle seines einflussreichsten philosophischen Unterrichts, aber auch die Quelle seiner größten Enttäuschung. Für ihn sei das Treffen in diesen Tagen ein großes Drama gewesen. Er habe aber auch den Eindruck, einigen seiner Kollegen gehe es ähnlich. Dann wendet er sich unmittelbar an Heinrich Ott: „Mir ist die Problematik ihrer Position hier wohl bewusst, und ich habe eine gewisse Sympathie hierfür. Denn einerseits mussten Sie hier mit den Sprachschwierigkeiten klar kommen, was jedoch noch mehr ins Gewicht fällt: jung, wie Sie sind – und Sie sind sehr jung ... musste der Kampf auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Dies war sehr hart für Sie ... Unser Disput aber handelte von Wichtigerem, sehr ernsten Dingen, wo die Gemütlichkeit aufhört. Die harte Auseinandersetzung zeigt nur, dass wir uns einig sind: es ging um äußerst bedeutsame Probleme, die für uns alle eine große Rolle spielen.“468 Davon zeugt, dass selbst die New York Times über den Bruch von Jonas mit Heidegger berichtet.469 Im Juni und Juli 1964 gastiert er nach einem Kurzaufenthalt in England470 mit diesem „Great Deal“, der auf ihn wie eine Befreiung von seinem Lehrer gewirkt hat, unter anderem in Heidelberg, Frankfurt, Göttingen und Tübingen,471 wo ihn Walter Schulz, seit 1955 dort ordentlicher Professor, dem inte-
466 Karl Löwith: Mein Leben, a.a.O., S. 30. 467 HJ 3-25-3. Drew Consultation, Concluding remarks. Jonas sagt: „sorcerer of Todtnauberg“. 468 Ebd. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 469 Vgl. HJ 21-3-1, Brief vom 31. Mai 1964. Der Artikel „Scholar breaks with Heidegger“ von Paul L. Montgomery erschien am 11. April. 470 Vgl. ebd. 471 Sieh dazu: HJ 21-3-1, Brief an Bultmann vom 31. Mai 1964. Auch eine Anfrage der Bonner Studentenschaft liegt Jonas vor. Er will dort am 15. Juli zu Heidegger vortragen. Ob es dazu wirklich kam, ist nicht ganz klar, vgl. HJ 21-3-2 bis -5. Vermutlich nicht, da sich die Reisepläne kurzfristig verschieben. An Bultmann schreibt er (Entwurf) mit Datum 6. Juni 1964, er könne vom 9.-14. Juli in Marburg sein, fahre dann weiter nach Heidelberg und Tübingen (20. Und 21.7.) sowie privat nach Regensburg, um Lores Vater beizusetzen. Dann ginge es weiter nach Italien (Florenz), so HJ 21-3-7, Brief an Bultmann vom 6. Juni 1964. Allerdings nennt HJ 21-3-43, Brief vom 14. Juni 1964 an Gerhard Ebeling, nun doch auch wieder Bonn. In dem Brief offeriert er auch, den Heidegger-Vortrag in Zürich zu halten (28. Juli). Da das Semester in Zürich aber am 17. Juli endet, sagt Ebeling ab (HJ 21-3-43, Brief vom 18. Juni 1964).
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ressierten Publikum vorstellt.472 In Tübingen begegnet er auch das erste und letzte Mal Ernst Bloch, „der im Auditorium saß“473 und mit dem er sich in den 1970er Jahren so intensiv auseinandersetzen soll. Sein Vortrag in Tübingen wird als „unerhört polemisch“ und „geistvoll“ zugleich wahrgenommen.474 Es sei der „aufregendste Vortrag im Sommersemester“475, bemerkt gar das Schwäbische Tagblatt. Bereits am 13. Juli 1964 kommt es in Marburg zu einer lebhaften Diskussion mit Ernst Fuchs, Professor für Neues Testament und Hermeneutik und ebenfalls Schüler von Bultmann, über Jonas’ Heidegger-Interpretation. Am Freitag, den 24. Juli, ist er durch Vermittlung von Siegfried Kracauer mit dem gleichen Thema zu Gast bei Adorno in Frankfurt.476 Adorno hatte versucht, ihn schon Ende der 1950er Jahre im Rahmen der von Horkheimer organisierten Loeb-Lectures nach Frankfurt zu holen. Die Loeb-Lectures waren als Vorlesungen konzipiert und behandelten zentrale Fragen des Judentums. Die Universität Frankfurt hatte 1956 einen Fonds in Höhe von 20.000,- DM für fünf Jahre zur Verfügung gestellt bekommen. Die Stifterin Eda Kuhn Loeb (1967-1951), Schwiegertochter des amerikanischen Bankiers Salomon Loeb, unterstützte „Universitäten, Bibliotheken und Krankenhäuser.“477 In Frankfurt ist auch ein Vertreter des Suhrkamp-Verlags bei dem Vortrag über Heidegger anwesend. Doch weil Jonas anscheinend „belagert“ war „von Leuten, denen der Suhrkamp-Verlag vor kurzem eine Absage erteilen musste“,478 meldet sich der Vertreter wenige Tage später brieflich bei Jonas, um ihm anzubieten, den Text zusammen mit anderen unveröffentlichten Arbeiten, „die sich dem Heidegger-Vortrag sinnvoll anfügen liessen“479 zu publizieren. Über eine Antwort von Jonas ist zwar nichts bekannt, doch scheint der Text über Heidegger singulär neben den gnostischen und biologischen Abhandlungen zu stehen, sodass Jonas eine Veröffentlichung in größerem Rahmen seinerzeit wohl kaum in Betracht gezogen haben dürfte. 472 Vgl. HJ 3-18-4. Rolf Vollmann: Anmaßungen des Denkens, Zeitungsartikel ohne Datums- und Ortsangabe. 473 Jonas: Erinnerungen, S. 308. 474 HJ 3-18-4, ebd. 475 HJ 3-18-4: Kühlende Blitze fielen, Schwäbisches Tagblatt vom 23. Juli 1964. 476 Vgl. Adorno/Scholem: Briefwechsel, a.a.O., S. 312. 477 Ebd., S. 147. 478 HJ 3-18-3, Schreiben vom 28. Juli 1964. 479 Ebd.
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Stattdessen reist er bald nach seinem Besuch in Frankfurt weiter nach Florenz und beginnt mit der Lektüre von Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“, ehe er in der zweiten Augustwoche mit Lore die Heimreise antritt.480 Adornos „Jargon“, ursprünglich ein Teil der als Rettung der Metaphysik angelegten „Negativen Dialektik“, fesselt Jonas. Wegen des Umfangs der Schrift bringt Adorno den „Jargon“ als eine eigenständige Veröffentlichung heraus.481 Das Buch erscheint zwar erst Ende des Jahres, doch Adorno hat Jonas vorab ein Leseexemplar zugeschickt. Ausschnitte erschienen bereits 1963 in der Neuen Rundschau.482 Jonas bemerkt die deutlichen Überschneidungen in der Sicht auf Heidegger, wenngleich Adorno einen völlig anderen Zugang wählt und ganz gewiss kein so exzellenter Kenner der Philosophie Heideggers ist. Doch das Buch ist unterhaltsam geschrieben und in der Sache durchaus ernst zu nehmen. Bereits am 24. Juni 1964 schreibt Adorno an Jonas, der Jargon sei „eine Arbeit, die von relativ pedestren sprachkritischen und sprachsoziologischen Reflexionen, auf eine ganz andere Weise, ins Zentrum der Heideggerschen Philosophie zielt, die ich ihres objektiven Gehalts wegen für unendlich gefährlich halte, keineswegs bloß in Deutschland.“483 Adornos Kritik richtet sich, wie Stefan Müller-Doohm schreibt, in erster Linie gegen die „Heideggerei“ jener Zeit, das heißt gegen den neuerdings erhobenen hohen Ton, „die pathetisch aufgeladene Sprache“484, die von der Masse Heidegger nachgeahmt wurde. Ungesagt bleibt, dass Adornos prosaisch-preziöser Stil selbst einen Dschungel aus Präpositionen, Reflexiv- und Demonstrativpronomen errichtet. Das, was Adorno an Heidegger kritisiert, ließe sich ohne Umschweife auf seine eigene Sprache beziehen. Jonas aber lässt Milde walten, wenn er am 6. August 1964 an Adorno zurückschreibt, er sei vom ersten Augenblick an gefesselt und zeige steigende „Bewunderung, Zustimmung“ und natürlich auch große „Befriedigung über den Grad der Konvergenz in unserm Denken.“485
480 So Jonas in HJ 21-3-10, Briefentwurf an Georg Jonas vom 7. Juni 1964. 481 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a.M. 1964. Zur Diskussion sieh auch: Adorno/Scholem: Briefwechsel, a.a.O. 482 Sieh: Neue Rundschau, Jg. 74, Heft 3, S. 371-385. 483 HJ 21-3-12, Brief Adorno an Jonas vom 24. Juni 1964. 484 Stefan Müller Doohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 2003, S. 655. 485 HJ 21-3-12, Brief Adorno an Jonas vom 24. Juni 1964.
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Das kann nur zum Teil ernst gemeint sein. Denn die Kritik an Karl Jaspers und auch an Franz Werfel, die Adornos Buch beinhaltet, kann Jonas nicht sonderlich gefallen haben. Doch das verschweigt er. Adorno kommt in seinem Buch zu der Ansicht, der „Jargon“ gewähre dem „fortschwelenden Unheil“ Asyl. Die emphatische Wortwahl, der liturgische Tonfall Heideggers, die pseudo- und quasireligiöse Aura der Begriffe ist ihm unerträglich. Als Jargon definiert er eine Wortwahl, die transzendent sei gegenüber der eigenen Bedeutung.486 Der Jargon, heißt es bei Adorno, wäre so etwas wie die „Wurlitzer Orgel des Geistes.“487 Er liefere den Menschen ein „Schnittmuster des Menschseins.“488 Sein Wesensmerkmal: autoritär, dogmatisch, manipulativ, militärisch. Diese Art der Philosophie werde mit der Peitsche gelehrt: „Unablässig blähen sich Ausdrücke und Situationen eines meist nicht mehr existenten Alltags auf, als wären sie ermächtigt und verbürgt von einem Absoluten, das Ehrfurcht verschweigt.“489 Die Sprache klinge geschwollen, und Heidegger dichte seinen Worten einen „synthetischen Ursinn“ an.490 Adornos für den „Jargon“ gewählter Untertitel „Zur deutschen Ideologie“ nimmt Anklang an Marxens Textsammlung „Die deutsche Ideologie“, in der Marx und Engels eine harsche Kritik insbesondere an der Philosophie Max Stirners üben. Adorno beginnt seine Sprachkritik beim so genannten Patmos-Kreis um Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy als dem Ursprung des Jargons der Eigentlichkeit. Daran schließt sich die Kritik an Jaspers, Bollnow und Heidegger an. Deren Jargon herrsche weiterhin in den deutschen Geisteswissenschaften vor und gebe sich „edel und anheimelnd.“491 Letzten Endes aber ist diese Philosophie nur Ideologie. Und die Ideologie sei die theoretische Fundierung der Herrschaft. In einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen, darin sind sich Jonas und Adorno einig, bedarf es einer anderen Philosophie.
486 Adorno: Jargon, S. 11 487 Ebd., S. 18. 488 Ebd. 489 Ebd., S. 13. 490 Ebd., S. 45. 491 Adorno: Jargon, S. 9.
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III Eine andere Art der Philosophie
Wie eine andere, aus dem Schatten Heideggers entschwundene Philosophie aussehen kann, demonstriert Jonas schon bald. Denn abseits seiner sprachkritischen Einlassungen rückt in diesen Tagen ein Thema zunehmend in den Vordergrund öffentlicher Diskussion, das mit der rasanten technologischen Entwicklung zusammenhängt. Die technologischen Neuerungen seiner Zeit, insbesondere im medizinischen Bereich, veranlassen Hans Jonas 1967, kurz nach Veröffentlichung seiner Aufsatzsammlung „The Phenomenon of Life“ einen Vortrag an der American Academy of Arts and Sciences in Boston zum Thema „Philosophische Reflexionen über Experimente mit menschlichen Subjekten“ als neue ethische Thematik zu halten.492 In diesem Vortrag, der öffentlich ebenfalls für einige Aufmerksamkeit sorgt, geht es um die Frage nach der Definition des Todes im Zeitalter der Transplantationstechnik. Jonas bezweifelt das Recht eines Menschen auf einen anderen menschlichen Körper durch die Organtransplantation. Es geht ihm nicht nur um die inhaltliche Diskussion mit ihrem Schwerpunkt auf der Frage, ob das Hirntod-Kriterium den Ausschlag bei ethischen Entscheidungsfindungen in der Medizin ausreichend sein kann. Denn nur kurze Zeit später sollte eine Kommission der „Harvard Medical School“ in Boston den Hirntod als neues Kriterium für den Tod des Menschen definieren, wogegen sich Hans Jonas in öffentlicher Auseinandersetzung mit den Medizinern verwehrt mit dem Argument, solange Atmung und Kreislauf noch intakt seien und der Mensch durch Maschinen künstlich am Leben gehalten werde, könne niemand ernsthaft vom Tod sprechen. Die Kritik mündet in dem Vorwurf, dass die neue Todesdefinition vor allem deshalb festgelegt worden sei, um leichter an Organe zu gelangen. Die Harvard-Kommission hingegen vertritt die Auffassung, bloß ein wissenschaftliches Kriterium geliefert zu haben, ab welchem Zeitpunkt bei einem Komapatienten die lebenserhaltende Behandlung abgebrochen werden dürfe. Es ginge insofern in erster Linie um eine rechtliche Absicherung medizinischer Maßnahmen, die das Leben Dritter retten könnten. Jonas hingegen geht es in diesem Zusammenhang nicht zuletzt um ein neues Verständnis der Rolle der Philosophie, die in moral-gesellschaftlichen Fragen Orientierung bieten soll. Im Kern verteidigt er die Idee, dass das Sein etwas über das Sollen aussagen kann wie es auch darüber Auskunft gibt, für was wir eigentlich wem gegenüber verantwortlich sind. Hier deuten sich 492 Vgl. Erinnerungen, S. 326. Vortrag auf Deutsch abgedruckt in Technik, Medizin, Ethik.
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erstmals die logischen Konsequenzen seiner Philosophischen Biologie an, welche im Begriff ist, in eine Ethik zu münden. Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, dass er bereits in einem Brief, der vermutlich von 1945/46 stammt, mit den Worten schließt: „[Es] bedarf der Philosophie, um ein wohl fundiertes Konzept des Lebensinhalts und den Platz des Menschen im Universum ausfindig zu machen, es bedarf einer Werteskala – kurz: einer Ethik im aristotelischen Sinn. Falls möglich, durch Bewusstseinsbildung.“493 Doch noch arbeitet Jonas gleichwohl intensiv an genuin theologischen Schriften. In diesem Zusammenhang ist sein Augustinus-Text, der 1965 in zweiter Auflage erscheint, zu nennen, als dass er auch im April 1966 an einem internationalen Kolloquium über die Ursprünge des Gnostizismus an der Universität in Messina, Italien, teilnimmt, wo unter anderen der sechs Jahre jüngere deutsch-jüdische Religionsphilosoph Hans-Joachim Schoeps anwesend ist.494 Veranstaltet wird das Kolloquium von der International Association for the History of Religions, einer 1950 in Amsterdam gegründeten Vereinigung, die sich wissenschaftlichen Studien zu religiösen Fragen widmet. Hans Jonas ist die Association offenbar nicht bekannt, da er, wie Notizen belegen, recherchieren muss, worum es sich bei dem Zusammenschluss tatsächlich handelt.495 An Hans Robert Jauß schreibt er anschließend, er habe die Genugtuung, dass seine vor über 30 Jahren vorgetragenen, seinerzeit recht unorthodoxen Gedanken inzwischen Allgemeinwissen über die Gnosis geworden zu sein scheinen.496 Auch an den Jahrestreffen der Conference on Jewish Philosophy jeweils im Frühjahr 1963, 1964 und 1965 nimmt er teil, 1965 als Chairman. Hier beschäftigt er sich ebenfalls mit der Gnosis. So lautet der Titel seines Vortrags 1965: „Imago Dei and the Tree of Knwoledge in Gnostic Thought.“497 Gnostisch sind nicht zuletzt auch jene Gedanken, die in den 1960er Jahren erneut den Tod Gottes zitieren, den Nietzsche bereits in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ heraufbeschworen hatte. Vor allem eine Bewegung in der US-amerikanischen Theologie wird unter dem Schlagwort 493 HJ 11-1-4, Brief ohne Datum (vermutlich 1945/46). Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 494 Vgl. HJ 3-13 und HJ 4-10-2 bis 4-10-7. 495 Vgl. HJ 3-13-18. 496 HJ 4-1-4, Brief an Jauß vom 2. Mai 1966. 497 Vgl. HJ 4-11.
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„Death of God“ Mitte der 1960er Jahre bekannt. Insbesondere der Theologe William Hamilton ist hier als Vertreter zu nennen. 1966 veranstaltet die Union of American Hebrew Congregations (UAHC) ein Symposium, das sich mit diesem Thema befasst. Jonas als Mitglied der Worship Commission, einer gemeinsamen Kommission der Hebrew Congregation und der Central Conference of American Rabbis, kommt seinerzeit mit rund einhundert Kollegen jüdischen und christlichen Glaubens zusammen, um die wieder aufflammende Diskussion über Nietzsches Diktum vom Tod Gottes zu diskutieren. Auch Hamilton wohnt der Debatte bei. Er möchte das Christentum ohne transzendenten Gottesbezug neu definieren. Ein Anliegen, das auch in Deutschland, etwa bei der Theologin Dorothee Sölle, auf fruchtbaren Boden stößt. Ist Gott für einige theologische Vertreter tatsächlich gestorben – etwa bei der Erschaffung der Welt oder in Auschwitz –, so glaubt Hamilton nicht länger an einen außerweltlichen Gott und rekurriert deshalb verstärkt auf Jesus als zentrale Figur des Glaubens. Hans Jonas bringt in seinem Symposiumsbeitrag den Widerspruch der These vom Tod Gottes auf den Punkt, indem er ausführt: „Entweder ist Gott ewig und kann nicht sterben, oder aber er hat nie gelebt. Von einem Gott zu sprechen, der einmal existierte und dann verstarb macht ganz einfach keinen Sinn.“498 Jonas hat vielleicht die Worte von Rudi Vitus noch im Ohr, der ihn 1954 fragte, was denn eigentlich gewonnen sei, wenn die Nicht-Existenz Gottes einmal bewiesen wäre499 und fügt dann ironisch hinzu, er verstehe nicht, warum nun Jesus zur zentralen Figur der Hoffnung werden solle, und nicht etwa Sokrates, „der viel eher die säkularisierte Menschheit repräsentiert und der nicht mit weiterem theologischen Putz belastet ist.“500 Und mit Blick auf die seinerzeit ebenfalls erhobene Kritik an biblischen Mythen kommt er zu dem Schluss, dass diese Mythen überhaupt kein Problem darstellen würden, „da nur wenige sie als wortgetreue Wahrheiten ansehen. Sie sollten jedoch als das begriffen werden, was sie sind: ein Mittel, mit dem das Überweltliche mit den menschlichen Ausdrucksformen in Einklang gebracht werden kann. Mythen fungieren in einem Grenzbereich, in dem der rationale Geist schwindet und das Symbolische beginnt. Sie helfen dem Menschen, ein umfassendes Verständnis des religiösen Bereichs zu erlangen.“501 498 HJ 4-1-22, S. 3. Übersetzung aus dem Englsichen: Verf. 499 Vgl. HJ 12-1-143, Brief vom 16. Januar 1954. 500 HJ 4-1-22, S. 3. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 501 HJ 4-1-22, S. 4. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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Rabbi Jack Bemporad springt Jonas gewissermaßen bei als er in einem Artikel eine Rückschau des Kolloquiums wagt und schreibt: „Der trotzige Ruf, Gott sei tot, kann nicht einfach für ungültig erklärt werden. Er ist aber auch keine nackte Tatsache, die eingeleitet worden ist. Oder eine Art Raum-Zeit-Energie-Matrix. Vielmehr bringt dieser Ruf zum Ausdruck, dass wer betrogen worden ist. Denn der Gott, der alles richten wird, egal was, dieser Gott ist tot.“502 Doch nicht nur mit Theologen der Hebrew Congregation oder der Society for the Study of Religion im April 1967, sondern auch mit Historikern kommt Hans Jonas zusammen, so als Chairman des Annual Meeting of the American Historical Association im Dezember 1966, bei dem er als Visiting Professor der Colombia University die Sektion über den Einfluss der hellenistischen Zivilisation auf die Pharisäer leitet.503 Wollte man diese Zeit, Mitte der 1960er Jahre zusammenfassen, so muss man sagen, dass Hans Jonas’ Wirken zusehends interdisziplinär wird: Er verknüpft philosophische, theologische, historische, biologische und soziologische Aspekte. Dabei handelt er, wie er selbst in einem Lebenslauf preisgibt, vor allem von den Problemen der heutigen Menschheit.504 Unermüdlich ist er mit seinen Themen im Land unterwegs.505 Zum 150. Geburtstag der Harvard Divinity School hält er im Oktober 1966 ein Kolloquium über Judentum und Christentum ab. An der American University in Washington D.C. geht es im Februar 1967 in einem Gastvortrag im Rahmen der Hurst Lectures um jüdische und christliche Elemente in der Tradition der westlichen Philosophie.506 Im gleichen Monat ist er erneut zu Gast am Hebrew Union College, wo es in einem dort stattfindenden Kolloquium um die Auswirkungen der wissenschaftlichen Revolution geht. Im darauffolgenden Monat ist er als Alumni Lecturer in Richmond, Virginia, sowie bei der Metaphysical Society of America in Lafayette, Indiana, wo es um das geht, was ihn die vergangenen Jahre so intensiv beschäftigt hat: Das Verhältnis von Philosophie und Biologie sowie um die Frage, wie eine philosophisch begründete Biologie möglich ist. Alle Reisen und Vorträge im Einzelnen zu benennen, ist kaum möglich. Allein die folgenden beiden Monate, als er in South Lee (Massachusetts), in 502 Jack Bemporad: The Ferment in contemporary Theology. Zitiert nach HJ 1-8-36. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 503 Vgl. HJ 4-4-19. 504 Sieh HJ 4-6-1. Im Original Englisch. 505 Zum Folgenden vgl. HJ 4-4-19. 506 Sieh HJ 4-1-17, Ankündigung vom 3. Februar 1967.
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East Orange (New Jersey), in New York City, Mount Vernon, Santa Barbara, Claremont, Berkeley, San Anselmo (Kalifornien) sowie an der Yale University weilt, sprechen für sich. Als er dann im März 1968 am Institute on Judaism zu Gast ist, verbindet er seine bisherigen Forschungsschwerpunkte verstärkt mit ethischen Fragen. „Science, Technology and Ethics. Reflections on a modern Dilemma from a Jewish Perspective“ lautet auch der Titel seines Gastvortrags in Milwaukee, Wisconsin,507 ehe er den kompletten Mai in stetem Austausch mit dem Rabbiner Jack Bemporad in Chicago, genauer gesagt im Windermere House, das in den 1920er Jahren eines der luxuriösesten und elegantesten Hotels gewesen ist, nahe der Universität verbringt. Denn für gute Hotels hat Hans Jonas Zeit seines Lebens eine nachvollziehbare Schwäche. In den Kontext seines Chicago-Aufenthalts und der schon erwähnten Diskussionen über ethische Fragen und ein neues Verständnis von Philosophie gehört nicht zuletzt der vertiefte Blick in die Vergangenheit des Menschen. Sein Interesse für Geschichte ist seit seiner Dissertation über die Gnosis noch größer geworden. Inzwischen rückt die Geschichte selbst, und nicht nur ihre Inhalte, ins Zentrum seiner philosophischen Überlegungen. Und so spricht er als „Geschichtsdenker“ (Nolte) im Anschluss eines Athen-Besuchs im Sommer 1969 am 1. September zur Eröffnung des 5. Internationalen Kongresses für Altertumswissenschaft in Bonn über „Wandel und Bestand“508, das heißt über die Möglichkeiten und Besonderheiten historischen Verstehens. Michael Bongardt hat zu Recht festgestellt, Jonas stehe somit „vor der Notwendigkeit, sich in einer polarisierten Debatte zu positionieren: Auf der einen Seite findet sich die – auf Empedokles zurückgehende – Auffassung, daß ein den Menschen aller Zeiten und Kulturen gemeinsames Wesen es ermöglicht, auch im Blick auf das Gewesene »Gleiches durch Gleiches« zu erkennen. Einem solchen Essentialismus steht der gleichermaßen extreme Existentialismus gegenüber. Er betont die Einzigartigkeit jedes Menschen, die die Fremdheit jedes anderen zur Folge hat und ein adäquates Verstehen ausschließt. Jonas macht deutlich, dass beide Positionen zu absurden Konsequenzen führen – der Essentialismus führt zu »Langerweile« des vorgeblich immer Gleichen. Der Existenzialismus in einen radikalen Solipsismus. 507 Vgl. HJ 4-1-7, Vortragsankündigung. 508 Sieh HJ 9-16-3 und 1-11 sowie das begeisterte Schreiben von Uvo Hölscher, der im Publikum saß, HJ 12-4-44, Brief Hölscher vom 9. September 1969. Zu Athen sieh den Brief Arendts vom 8. August 1969, HJ 1-11-1.
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Es steht also die Aufgabe im Raum, unter Berücksichtigung der Anliegen von Wandel (Existentialismus) und Bestand (Essentialismus) die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens im Allgemeinen und des historischen Verstehens im Besonderen aufzuzeigen.“509 Außer Frage steht für Jonas hierbei, dass der Mensch seine eigene Geschichte und die der Menschheit in toto zu verstehen suchen muss, um nicht blind in ihr davon zu treiben. Hannah Arendt, die den Aufsatz zur kritischen Lektüre von Jonas bekommen hat, schreibt ihm im August 1969 hierzu, es sei entscheidend, dass der Mensch die Bekanntschaft mit sich selbst „auf dem Umweg der Bekanntschaft mit anderen“ mache. Was ihr diesbezüglich jedoch fraglich erscheine, sei die Tatsache, dass es sich stets um eine „Bekanntschaft mit einer Innerlichkeit“ handele. Wir verstünden jedoch immer nur Ausdrucksphänomene. „Wenn das so ist, dann könnte man vielleicht sagen, wir verstehen weder Homer noch Achill noch Priamus, sondern wir verstehen die Geschichte, die story ... Wie es in Orest aussah, als er die Mutter erschlug, um den Vater zu rächen ..., von all dem wissen wir gar nichts. Aber die Geschichte, wie sie erzählt wird von der Opferung Iphigenies über den Mord an Agamemnon bis zu Orest und Elektra, die verstehen wir spontan, sonst könnten wir sie nicht einmal nacherzählen.“ In diesem Fall, so Arendt, verstehen wir nicht „jemanden“, sondern immer nur „etwas“.510 Das Problem des Verstehens hinge letztlich am Phänomen des Innenlebens, wie Jonas es auch in „Wandel und Bestand“ bereits thematisiert habe. „Wandel und Bestand“ könnte auch die Überschrift lauten für das Treffen, das Jonas im selben Jahr seiner Rede mit seinem alten Lehrer Martin Heidegger unternimmt. Ist Heidegger noch derselbe? Hat er sich geändert? Steht er zu seinen Verfehlungen während des Nationalsozialismus? Hans Jonas zeigt sich nach der Zusammenkunft enttäuscht, weil Heidegger seine Vergangenheit überhaupt nicht thematisiert.511 Heidegger wiederum schreibt an Arendt: „Das Gespräch mit Hans Jonas war sehr erfreulich. Er ist offenbar von der Theologie ganz abgekommen.“512 Das Treffen bleibt das einzige zwischen den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Som509 Einleitender Kommentar KGA III/I, a.a.O., S. LI. 510 HJ 1-11-1, Brief vom 8. August 1969. In dem Brief spricht sich Arendt zudem gegen eine Anstellung von Allan Bloom, Schüler von Leo Strauss, an der New School aus. Ihr Veto scheint erfolgreich gewesen zu sein. 511 Sieh dazu auch Jacques Derrida: Heideggers Schweigen. In: Günther Neske/Emil Kettering: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988. 512 Arendt/Heidegger: Briefe, a.a.O., S. 178.
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mer 1975 allerdings will Jonas Heidegger erneut aufsuchen, um ihm ein Verzeichnis der bei ihm befindlichen Nachschriften von Heideggers Vorlesungen aus der Marburger Zeit zu überbringen. Doch der Besuch platzt auf Grund einer Erkältung seines ehemaligen Lehrers.513 Das einzige Zusammentreffen geschieht mithin in genau jenem Jahr, in dem nicht nur in Deutschland die Studentenrevolte tobt und die Universitäten Mittelpunkt einer öffentlich-gesellschaftlichen Debatte werden. Hans Jonas ist in die hochschul-politischen und sozialen Wertediskussionen jedoch nicht über die Maßen involviert. Er wird zunächst Fellow am neu gegründeten Hastings Center, das sich mit bioethischen Fragen beschäftigt. Im Herbst 1970 widmet er sich in einer Vorlesung abermals intensiv der Philosophie von Alfred North Whitehead, der zunächst als Mathematiker lehrte und sich nach dem Ersten Weltkrieg naturphilosophischen Reflexionen und religiösen Themen zuwandte. Whiteheads Begriff der Natur ist gegen die damals moderne Auffassung einer Bifurkation gerichtet, die eine wahrnehmbare und eine nicht wahrnehmbare Natur postuliert. Es ist der anspruchsvolle Versuch, einen umfassenden Naturbegriff zu etablieren, der alle Gegenstände und Sinnesempfindungen erfasst. Im Vordergrund der Jonasschen Vorlesung steht allerdings Whiteheads spekulativ-monistische Philosophie,514 eine Philosophie des Organismus, die um das Problem des Leib-Seele-Dualismus und den Gottesbegriff kreist und seit den 1950er Jahren auf starkes Interesse in der amerikanischen Philosophie stieß, weil Whitehead nicht zuletzt erkenntnistheoretische, metaphysische und kosmologische Überlegungen zusammenführt und davon ausgeht, dass sich die Welt aus verschiedenen, einen einzigen großen Organismus bildenden, Prozessen und Relationen zusammensetzt. Mit dem Grundanliegen Whiteheads erklärt sich auch Jonas einverstanden, wenn er das moderne Naturverständnis mit den Worten kritisiert: „Wenn wir nichts über die Natur des Lebens wissen, haben wir auch keinen Begriff von Natur. Der Nachweis des Lebens ist mit Blick auf den Naturbegriff ausgeklammert worden. Ohne Verständnis, was Leben ist, konnte Natur selbst nicht mehr vollauf erklärt werden. Jeder Naturbegriff ohne Referenz zu (potentiellem) Leben bleibt mangelhaft und stellt im strengen 513 Vgl. HJ 16-16-45, Brief an Heidegger vom 8. Dezember 1975. 514 Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Cambridge 1929. Sieh dazu auch: KGA II/2.
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Sinn überhaupt keinen Naturbegriff dar. Dieser unzulängliche Naturbegriff mag der Physik zugute gekommen sein, doch ein umfassendes Verständnis des Lebens und der Natur wurde hierdurch unmöglich.“515 Als zu dieser Zeit, da Hans Jonas mit Whitehead Natur und Leben wieder zusammendenken möchte, der deutsche Soziologe Heinrich Popitz, Sohn des Widerstandskämpfers Johannes Popitz, von Freiburg nach New York kommt, um an der New School für zwei Semester den in den 1960er Jahren mit Unterstützung von Hans Staudinger und der Bundesregierung eingerichteten Theodor-Heuss-Lehrstuhl zu übernehmen, entwickelt sich zwischen dem 22 Jahre jüngeren Soziologen und dem Philosophen eine intensive Freundschaft. Ein erstes Treffen findet bei Hannah Arendt zu Hause statt. In den Jahren danach kommt es zu regelmäßigen Besuchen in Freiburg. Sympathie ist von vornherein vorhanden. Anfangs aber begegnet man sich noch höflich reserviert, spricht sich mit „Sie“ an, verwendet gleichwohl den Vornamen des Anderen. Schon 1973 verbringen Hans und Lore Jonas eine Zeit im Freiburger Haus der neuen Freunde – in deren Abwesenheit. Das Vertrauen ist groß und Jonas erblickt im Zusammensein mit Popitz „größte menschliche Schönheit.“516 Heinrich Popitz’ Frau Maria berichtet, ihr Mann und Jonas hätten oft ausgiebige Spaziergänge im Garten unternommen, wobei Hans Jonas in die Rolle des Erzählers, Heinrich Popitz in die Rolle des Zuhörers geschlüpft sei. In Popitz entdeckt Jonas einen kongenialen Zeitgenossen, mit dem er sich besser unterhalten konnte als mit vielen seiner Fachkollegen. Jüngere Freunde zu haben ist Hans Jonas besonders wichtig. Auch der Kontakt zum neuen Deutschland, den Popitz für ihn verkörperte. Die Tochter Gabrielle schickt er auch für ein halbes Jahr zu den Freunden, damit sie dort Deutsch lerne. Mit Heinrich Popitz teilt sie die Liebe zur Poesie, und beide verbringen viel Zeit mit der Rezitation deutscher Lyrik.517 Ein Grund unter anderen für die enge Verbindung der beiden: Popitz arbeitet in seiner New Yorker Zeit zu Fragen der Technik und Macht, Themen, die bei Jonas auf besonderes Interesse stoßen. Die moderne Welt begreift Popitz hierbei als ein System der Entfremdung.518 In Auseinandersetzung 515 HJ 1-17-18, 21. Oktober 1970. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 516 HP 14-4-2, Brief vom 21. August 1973. 517 Maria Popitz, Telefoninterview vom 18. April 2016. 518 Heinrich Popitz: Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx. Basel 1953. Sieh auch die Textexegesen von Popitz zu Jonas in: HP 10.7.1.
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mit Marx kommt er zu der Erkenntnis, der moderne Mensch habe sich von seiner Mitwelt, seiner Arbeit und Umwelt zusehends distanziert, die Kluft zwischen Mensch und natürlicher Umwelt sei im Verlauf der Menschheitsgeschichte stetig gewachsen. Das sieht Jonas mit Whitehead genauso. Man sagt Heinrich Popitz nach, er habe einen ähnlichen Vortragsstil wie Hannah Arendt und Hans Jonas. Damit ist er nicht unzufrieden. Thematisch und freundschaftlich verbunden widmet Popitz später auch zwei seiner Bücher Hans und Lore Jonas. Zunächst seine 1989 erschienene „Epochen der Technikgeschichte“, die wiederum Themen aufgreift, die auch Hans Jonas zuvor behandelt hat: Werkzeug, Städtebau und die Sinnesorgane. Popitz zeichnet in der Epochengeschichte die Entwicklung verschiedener Technologien nach. Ausgangspunkt der technischen Revolution des Menschen ist das Werkzeug, das einen Aufschub unmittelbarer Befriedigung vom Menschen verlange. Der Mensch müsse sich, weil das Werkzeug ein Mittel für spätere Effekte sei, eine zutreffende Vorstellung künftiger Effekte machen. Aber auch die Agrikultur, die Feuerbearbeitung und die Urbanisierung kennzeichneten die erste Phase technologischer Revolutionen. Die zweite Phase setze im späten 18. Jahrhundert mit der Maschinentechnologie, der Chemie und der Elektrizität ein und reiche bis zur Atomtechnologie und Mikroelektronik der Gegenwart. Interessant ist vor allem die Kritik an der These vom Menschen als Mängelwesen, das die Vorteile der Tierwelt durch Technologien kompensiere. Popitz ist demgegenüber der Auffassung, der Mensch habe Technologien gerade deshalb geschaffen, weil seine Organe besonders prädestiniert für die Herstellung und Handhabung dieser Technologien sind. Mit dieser Gegenthese ist er wiederum ganz nah bei Hans Jonas. Die 1995 publizierte Studie über den „Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft“ und die darin geschilderte Umgestaltung der Natur durch den Menschen ist ebenfalls dem Ehepaar Jonas gewidmet.519 Zuvor hatte Hans Jonas seine 1988 publizierte Schrift „Materie, Geist und Schöpfung“520 Heinrich Popitz und seiner Frau Maria zugedacht. Es sind Popitz’ soziologische Forschungsfelder, die auch bei Hans Jonas 1970/71, als beide in New York zusammenfinden, immer zentraler werden: Macht und Technikgeschichte. In den Folgejahren beeinflussen sich Jonas und Popitz mit ihren Untersuchungen gegenseitig. Und wann immer es 519 Heinrich Popitz: Epochen der Technikgeschichte. Tübingen 1989; Ders.: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik. Tübingen 1995. 520 Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Frankfurt a.M. 1988.
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Hans Jonas möglich ist, besucht er fortan während seiner Gastaufenthalte in Deutschland auch Heinrich Popitz im Breisgau. Um 1970 herum sind es also sowohl Popitz’ Gedanken über Macht und Technik als auch Whiteheads angesprochene platonische Ontologie521 sowie die Auseinandersetzung mit dessen zentralen Begriffen Wahrnehmung, Natur, Körper, Erfahrung und Gott, die Jonas seine Arbeit neu überdenken lassen. Schließlich kann er auf seine biologischen Studien des zurückliegenden Jahrzehnts zurückgreifen. Doch sie führen ihn mitten hinein in eine neue Schaffensphase: Die im April 1972 begonnene Arbeit am „Prinzip Verantwortung“, das zunächst den privaten Titel „Tractatus technologico-ethicus“ trägt. Privat gibt es in dieser Zeit ebenfalls Positives zu vermelden, da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfG 2 BvR 493/66 aus dem Jahr 1971/2 auch Auswirkungen auf seine Pensionsansprüche in Deutschland hat. Hannah Arendt hatte seinerzeit geklagt, dass auch nicht-habilitierte Juden, die jedoch kurz vor Abschluss einer Habilitation standen und auf Grund der nazistischen Politik diese in Deutschland nicht zu Ende bringen konnten, eine rückwirkende Wiedergutmachung in Form eines Pensionsanspruches erhalten. Die so genannte „Lex Arendt“ kann auch Hans Jonas für sich in Anspruch nehmen insofern seine Gnosisarbeit nachträglich als Habilitation anerkannt wird.522 Professor Erich Frank, der eigentlich Jonas’ Habilitationsreferent für die Marburger Philosophische Fakultät sein sollte, verstarb 1949, sodass Jonas Heidegger bittet, eine vorgefertigte Erklärung zu unterzeichnen. Im Februar 1972 wendet er sich an Heidegger: „Ich bedarf Ihrer Aussage im Beweisverfahren eines Wiedergutmachungsanspruches ... Im Falle Hannah Arendts diente als Hauptbeweisstueck eine schriftliche Erklaerung Karl Jaspers’, dass ihm 1933 ihre praktisch abgeschlossene Arbeit ueber Rahel Varnhagen vorlag.“ Ähnliches treffe auch auf ihn zu: „1933 lag die als Habilitationsschrift beabsichtigte Arbeit ueber die mythologische Gnosis fertig vor, war aber fuer den Zweck nicht mehr verwendbar ... Mein Anwalt ... hielte es nun fuer sehr wertvoll, wenn Sie als mein Lehrer und Doktorvater ... das Wort naehmen ... Bei vorrueckendem Alter und junger Familie bedeutet diese Sache fuer meine Altersversorgung sehr viel.“523 Heidegger reagiert unmittel521 Vgl. HJ 1-17-18. 522 Sieh dazu HJ 9-10-5, Brief an Heidegger vom 25. Februar 1972. 523 HJ 9-10-5, Brief vom 25. Februar 1972.
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bar und kommt dem Wunsche Jonas’ nach,524 sodass Jonas die Unterlagen mit Heideggers Erklärung an das hessische Kultusministerium verschicken kann. Es fällt kein Wort über die stets größer gewordene Kluft zwischen den beiden Denkern. Im Gegenteil, in der Erklärung Heideggers heißt es: „Hans Jonas, der bei mir 1928 summa cum laude promovierte, war einer der begabtesten Studenten der Universität.“ Es hätte für ihn kein Zweifel bestanden, dass seine Arbeit über die Gnosis, die er gelesen habe, „als Habilitationsschrift in hervorragendem Masse qualifiziert war. Hätte ich noch mit dieser Arbeit als Habilitationsschrift zu tun gehabt, so hätte ich sie ohne Einschränkung aufs wärmste empfohlen.“525 Der Antrag, der durch die Hartnäckigkeit Hannah Arendts erst möglich wurde, ist von Erfolg gekrönt. Für die Familie Jonas bedeutet der Pensionsanspruch eine zusätzliche finanzielle Sicherheit bei stets steigenden Lebenshaltungskosten im New Yorker Großraum. Den Sommer 1972 verbringt er sodann in Beit Jizchak, Israel. In der von Gertrud Feuerring, geb. Falck, gegründeten und für deutsche Juden aus dem Mittelstand vorgesehenen Genossenschaft nahe Netanya setzt er die Arbeit an seinem Buch fort526 und kommt, gemeinsam mit Lore, auch mit seinem Bruder Georg zusammen,527 der zu dieser Zeit schon sehr gezeichnet von seiner psychischen Erkrankung ist und wesentlich älter wirkt als der große, ihn immer wieder auch finanziell unterstützende Bruder.528 Schon Mitte Juni trifft sich Jonas mit Bergman, dem er seine ethischen Überlegungen erklärt:529 Die Philosophie des Organischen müsse in eine Ethik münden. Diese Ethik soll aber auf der Lehre des Organismus gründen. Es geht also nicht um einen von der Philosophie des Lebens losgelösten Entwurf, sondern um eine aus der philosophischen Biologie abgeleitete Handlungstheorie. 524 HJ 9-10-4, Briefentwurf Jonas vom 19. März 1972 sowie Brief Heideggers vom 1. März 1972. 525 HJ 9-10-5, Erklärung. 526 Arendt/Heidegger: Briefe, a.a.O., S. 328. 527 Sieh HJ 13-41-9. 528 Die Briefe Georgs als auch die Briefe Hans Cohns in HJ 20-1 und auch 10-11-14, Brief Georg an Jonas vom 10. November 1951, geben Hinweise hierauf. Sieh auch die Briefe in 11-5-41 bis 55 sowie 12-1-19 bis 26. 529 Vgl. Hugo Bergman: Tagebücher und Briefe 1948-1975. Hg. von Miriam Sambursky. Königstein/Ts., S. 665. Bergman spricht hier allerdings vom Tractatus technocraticus. Es ist allerdings das einzige Mal, dass Bergman Jonas einen Abschnitt seiner Reflexionen widmet.
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Abb. 21: Hans und Lore Jonas mit Georg, 1970er Jahre, © Nachlass Hans Jonas, HJ 13-41-9.
Das erste Kapitel verfasst er zunächst noch in englischer Sprache. Grundlage bildet ein Plenumsvortrag in Los Angeles 1972. Doch schon bald beginnt er damit, das Buch auf Deutsch zu schreiben, um Zeit zu sparen.530 Immerhin ist er in fortgeschrittenem Alter, und er weiß nicht, wie viel Lebenszeit noch bleiben wird. Im Sommer 1973 versucht er dann – mit Rückendeckung seiner Fakultät – vergeblich, seinen geschätzten Kollegen Paul Ricœur von Chicago an die New School zu holen.531 Hintergrund ist der Versuch, das philosophische Department der New School davor zu bewahren, dass es komplett geschlossen wird. Mit der Berufung Ricœurs hofft man, dies abwenden zu können.532 Zwar klappt die Berufung nicht, doch das Department bleibt dennoch erhalten. In diesen Monaten arbeitet er auch mehr oder weniger ununterbrochen an seinem ethischen Entwurf, auch im Sommer, den er mit Lore in Europa verbringt. Sie landen in Luxemburg, besuchen Rudi Vitus bei Aachen, fahren nach Marburg zu Bultmann, sind dann zunächst im Haus von Heinrich und Maria Popitz, danach in Obergurgl im oberen Ötztal, aber auch in Hamburg und Stockholm. Als Lore Anfang August von Luxemburg aus zurück in die 530 Vgl. KGA I/2. Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung, hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Hermann, Freiburg 2015, S. XX, Einleitender Kommentar. 531 Vgl. HJ 11-7-11, Briefe vom 20. August, 1. September und 24. September sowie 11-7-19, Brief vom 8. August 1973. 532 So auch Hannah Arendt an Hans Jonas, HJ 11-7-2, Brief vom 17. Oktober 1973.
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USA fliegt, bleibt Jonas allein in Europa zurück und zieht sich in die Einsamkeit des Schreibenden zurück.533 Er schafft es, die ersten beiden Kapitel fertigzustellen. Ihm selbst kommt es vor wie ein, „verrückter Versuch“, die Ethik auf die Ontologie zu gründen. Das ist gegen jeden Zeitgeist. Doch hält er es für einen Aberglauben dieses Geistes, dass sich vom Sein kein Sollen ableiten ließe. Er sei auch, so schreibt er im Oktober 1973, längst da, wo ihm der Zeitgeist den Buckel runterrutschen könne.534 Und an Hans Staudinger gerichtet fragt er fast ungläubig: „Denken Sie nicht auch, dass keine Ethik je zuvor mit den Eventualitäten einer völlig veränderten Menschheit gerechnet hat?“535 Zu diesem Zeitpunkt hält er sich in Bern auf und reist eine Woche später zurück in die Vereinigten Staaten, vermutlich, weil sich sein Sohn Jonathan, inzwischen 23 Jahre alt, als Freiwilliger im Jom-Kippur-Krieg melden möchte, was er zu verhindern sucht. Auch Bultmann ist besorgt angesichts der politischen Situation im Nahen Osten und kontaktiert Jonas, weil er nicht sicher ist, ob dieser nicht vielleicht selbst – „als früherer Offizier“536 – nach Israel gegangen ist, um sein Land zu verteidigen. Über sich selbst schreibt Bultmann, er sei alt und müde geworden „und zu produktiver Arbeit nicht mehr fähig.“537 Er bereite sich auf den „nicht mehr fernen Abschied“538 vor. Bultmann schließt mit der Frage, wie es Jonas wohl ergehe und bittet um Nachricht. Jonas selbst liegt zu dieser Zeit wohl nichts ferner als abermals nach Israel zu gehen und in den Krieg zu ziehen. Der Krieg beunruhigt ihn dennoch. Noch im Dezember äußert er sich sehr besorgt über die weltpolitische Lage und ist recht pessimistisch im Hinblick auf einen dauerhaften Frieden.539 An seine Freunde verschickt Jonas Ende 1973 eine Karte, auf der eine Bibelszene (Löwe mit Lamm) abgebildet ist, die dem Buch Jesaja entstammt. Er schreibt ergänzend zu dem Wunsch „Friede auf Erden“: „... dies ist, was wir am dringendsten brauchen und am wenigsten haben.“540 533 Vgl. Nachlass Heinrich Popitz, Sozialwissenschaftliches Archiv der Universität Konstanz, HP 14-4-2, Brief vom 19. August 1973. 534 HJ 21-4-2, Brief an Günther Anders vom 19. Oktober 1973. 535 HJ 23-3-2, Brief vom 21. Oktober 1973. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 536 HJ 9-10-2, Brief vom 29. November 1973. 537 Ebd. 538 Ebd. 539 HJ 6-24-1, Brief an Blumenberg vom 28. Dezember 1973. Sieh auch: KGA Bd. V. 540 HP 14-4-2, Karte vom Dezember 1973.
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Andererseits geht es ihm beruflich und privat nicht schlecht. Denn dank seiner 1963 ausgehandelten Alvin-Johnson-Professur ist er immer noch im Amt und durchaus glücklich darüber. Schon zehn Jahre zuvor, während der Verhandlungen mit der New School, hatte er die Situation als später Familienvater mit Kindern, die sich in einer kostspieligen Ausbildung befinden, im Blick. Die späte Familiengründung vieler Juden erläutert Jonas mit den Worten: „Im Emanzipationsjahrhundert541 heirateten jüdische Männer spät, weil sie erst eine gute Existenz für Familiengründung schaffen wollten, besonders aber älteste Söhne, weil sie – bei dem herrschenden starken Familiensinn und großer Geschwisterzahl – zuvor noch mithelfen mußten, den Brüdern eine gute Ausbildung, den Schwestern eine angemessene Mitgift zu verschaffen.“542 Er selbst sei durch den bewegten Zeitlauf des Emigrantentums noch später als andere zu Kindern gekommen. Seine Professur an der New School hindert ihn allerdings, sich intensiver seinem neuen Buchprojekt zu widmen. Aber er trifft sich erneut mit Hannah Arendt. Auch Mary McCarthy ist dabei, Hannah Arendts Vorgängerin im Vorstand der spanischen Flüchtlingshilfe, „einer von Nancy Macdonald geleiteten Organisation, die Arendt seit 1953 unterstützt hatte.“543 Sie führen Gespräche über Religion und Atheismus, bis McCarthy Jonas plötzlich fragt, ob er an Gott glaube. Nach kurzem Schweigen bejaht er ihre Frage. Hannah Arendt zeigt sich später erschüttert, dass er auf McCarthys indiskrete Frage überhaupt geantwortet hat. Dann, zum Jahresbeginn 1974, erfährt Jonas von der Tausendjahrfeier seiner Vaterstadt Mönchengladbach, die im Juni stattfinden soll. Er spielt mit dem Gedanken, daran teilzunehmen. Am 21. März schreibt er an den Oberbürgermeister der Stadt Mönchengladbach, Wilhelm Wachtendonk (CDU), er habe durch Zufall von der bevorstehenden Feier der Stadt erfahren. Er verspüre den Wunsch, dabei zu sein. Es folgt eine kurze biografische Skizze mit dem Hinweis: „Die Hauptsachen sind in Who is Who, Kuerschners Deutscher Gelehrten-Kalender und anderen Nachschlagewerken enthalten.“544 Jonas möchte Näheres über das Festprogramm erfahren und 541 Gemeint ist das 19. Jahrhundert. 542 Zitiert nach Erckens, Juden in Mönchengladbach, Bd. 1, a.a.O., S. 249. 543 Young-Bruehl: Hannah Arendt, a.a.O., S. 533. Nancy Gardiner Rodman (1910-1996) heiratete 1934 den Schriftsteller, Filmkritiker und Philosophen Dwight Macdonald. Mary McCarthy wird später Arendts literarische Nachlassverwalterin. 544 Stadtarchiv Mönchengladbach, Sammlung Hans Jonas 14/3490, Biographische Mappe I, Brief vom 21. März 1974.
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schreibt, er gehe davon aus, dass auch Rudi Vitus zu den Festgästen gehöre. Abschließend bittet er um wissenswertes Material über die Feier. Dieser Zusatz führt wohl zu dem folgenschweren Missverständnis, dass ein städtischer Bediensteter Jonas, in Unkenntnis seiner Person, nichts weiter als Informationsbroschüren zusendet. Ein wenig verstimmt legt Jonas daraufhin den Vorgang zu den Akten und verzichtet auf eine Reise in seine einstige Heimatstadt. Stattdessen unternimmt er, nach überstandenen gesundheitlichen Problemen zu Jahresbeginn, im Juli mit Lore eine Spanienrundreise. Sie sind beeindruckt von Land, Leuten und Architektur. Im August fahren sie dann ins obere Ötztal in Tirol, wo er die Arbeit am Prinzip Verantwortung wieder aufnimmt. Vom National Endowment for the Humanities (NEH) hatte er für das Wintersemester 1973/74 ein Stipendium für die Arbeit an seiner Ethik erhalten.545 Das NEH mit Sitz in Washington D.C. ist eine 1965 gegründete, staatliche Stiftung in den USA, die insbesondere die Geisteswissenschaften fördert. Sein Projekt trägt den Titel „Technology and the new Tasks of Ethics.“546 In seinem im August 1974 verfassten Bericht über die Fortschritte an seiner Arbeit heißt es, er habe im Förderungszeitraum zwei Kapitel weitestgehend fertigstellen können. Dabei handelt es sich in erster Linie um den erkenntnistheoretisch-fundierenden Teil des Buches. Er hat, seinen eigenen Worten zufolge, den ergrauten Stier der Moral bei den Hörnern gepackt und das Dilemma von Naturgesetzen versus Gesetzmäßigkeiten der Freiheit neu durchdacht.547 Auch der Anwendungsteil seiner Studien kommt gut voran. Das Kapitel über „Biological Engineering“548 habe er vollendet, schreibt er und deutet an, wie es weitergehen soll: „Nach der Unterbrechung durch die ausgesprochen große Beanspruchung im Frühjahrssemester und des unbedingt notwendigen Urlaubs im Juli, habe ich die Arbeit an meinem Projekt für den verbleibenden Sommer wieder aufgenommen. Ich sollte damit während meiner Beurlaubung und durch Zuwendung der Rockefeller Stiftung zu Semesterbeginn fortfahren können. Ohne unvorhersehbare Ablenkungen durch universitätsinterne Schwierigkeiten, hoffe ich, die Arbeit inner545 Vgl. HJ 12-4-84, Report. 546 Vgl. HJ 12-4-95, Description of Project, resp. 12-4-97, wo es heißt „An Essay on Ethics in the Age of Technology“, Schreiben vom 29. November 1972. 547 Ebd. 548 Ebd.
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Abb. 22: Hans und Lore Jonas in Venedig 1975, © Privatsammlung Hans und Lore Jonas.
halb dieser Zeit zu Ende bringen zu können.“549 Doch der Zeitplan sollte gründlich scheitern, zu komplex und umfangreich ist sein Unternehmen inzwischen geworden. Die Rockefeller Foundation hatte ihm zunächst für den gleichen Zeitraum wie das NEH ein Stipendium gewährt550 und fördert nun stattdessen die Anschlussarbeiten, sodass Jonas ein komplettes Jahr von seinen akademischen Verpflichtungen befreit werden kann. Die New School gestattet es ihm, die beiden Wintersemester für Forschungstätigkeiten zu nutzen.551 Nach dem Aufenthalt in Tirol sind Hans und Lore Jonas erneut zu Besuch in München. Ende September 1974 geht es dann von Europa nach Haifa. Jonas unterzieht sich tatsächlich einem tyrannischen Arbeitsprozess, arbeitet weiter am Hauptkapitel seiner Ethik. Die moderne Technologie, argumentiert er bei der Antragstellung für sein Stipendium, verändere die Natur menschlicher Handlungen wesentlich. Das Wesen des Menschen selbst werde neu gestaltet. Dies werfe vornehmlich die Frage nach einem möglichen Endzustand der menschlichen Natur auf552 und verlange grundlegende moralische Standards, nach denen dieses neuartige Handeln zu bewerten sei sowie ethische Prinzipien, an denen es sich auszurichten habe.553 Bis zum Sommer 1975 will er nun sowohl die Theorie als auch die Kasuistik der Verantwortung abgeschlossen haben. Dazu arbeitet er in Klausur und verweilt bis zum 25.12.1974 in Haifa. Dort findet vom 21.-25.12. am Technicon 549 Ebd. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 550 HJ 12-4-94, Schreiben vom 16. Juli 1973. 551 Vgl. ebd. 552 Vgl. HJ 12-4-95, Project Application. 553 Vgl. ebd.
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ein internationales Kolloquium über Ethik im Zeitalter allgegenwärtiger Technologie statt. Er hat den Eindruck, dass sein Thema inzwischen sehr populär ist. Doch vermisst er bei all den öffentlichen Diskussionen über Technologie und die Zukunft des Menschen eine starke philosophische Position. Seine eigene Arbeit aber kommt im Laufe des Jahres 1975 nicht wirklich voran. Und dann stirbt auch noch überraschend am 4. Dezember 1975 seine Freundin Hannah Arendt. Hans Jonas eilt sofort in Begleitung von Lore herbei. Der jüdische Historiker Salo Baron, ein alter Freund Arendts und an diesem Abend gemeinsam mit seiner Frau ihr Gast, ist noch dort. Sie alle bleiben über Nacht, bis das Beerdigungsinstitut Arendts Leiche abtransportiert.554 Am Montag, den 8. Dezember 1975 hält er eine Rede bei der öffentlichen Trauerfeier für Hannah Arendt: „Es ist schwer, sich für den Rest meiner Tage ein Leben ohne Hannah Arendt vorzustellen. Ihre Anwesenheit machte jenen Unterschied aus, den man immer wieder aufs Neue erfahren durfte. Ihr Tod ist ein schwerer Schlag, und auf Grund ihres Genies der Freundschaft gibt es viele unter uns, deren persönliche Leben sich nun unendlich ärmer anfühlen als zuvor. Ich war über 50 Jahre lang ihr Freund – seit sie 1924 als 18-Jährige in mein Leben trat, eine Erstsemester-Studentin der Philosophie, eine von vielen jungen Menschen, die damals aus ganz Deutschland nach Marburg strömten, angezogen von einem Magnet namens Martin Heidegger... Unter uns sind so viele, die ihre eigenen Lobhymnen singen und bezeugen könnten, dass alle ernst gemeinten Beziehungen ein ganzes Leben ausleuchten. Du warst das Vertrauen, du warst immer da. Von nun an sind wir ärmer ohne Dich. Die Welt ist kälter geworden ohne Deine Wärme. Du hast uns viel zu früh verlassen. Doch wir werden Dir die Treue halten.“555 Diese Rede in der Riverside Memorial Church geht fast über seine Kraft. Ob des großen Verlusts ist er am Boden zerstört. Wenige Tage danach übermittelt er Heidegger die Botschaft. Am 27. Dezember 1975 erreicht ihn sogleich Heideggers Antwortbrief. Arendt, so Heidegger, sei die „Mitte eines großen vielgestaltigen Kreises“ gewesen, dessen Radien nun ins Leere liefen. „Es sei denn – was wir alle erhofften, sie fülle sich neu durch die verwandelte Gegenwart der Abgeschiedenen. Daß dies in reichem Maße auf eine inständige Weise geschehen möge, ist mein einziger Wunsch.“556 554 HJ 16-16-45, Brief Jonas an Heidegger vom 12. Dezember 1975. 555 Hans Jonas: Hannah Arendt 1906-1975. In: Social Research Spring 1976, S. 3 et passim. Vgl. HJ 16-16-7, Typoskript der Rede in Kopie. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 556 Arendt/Heidegger: Briefe, a.a.O., S. 259.
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Am 23. April 1976 veranstaltet die Graduate Faculty ein Memorial zu Ehren Hannah Arendts. Neben Hans Jonas sprechen laut Ankündigung der Fakultät: Hans J. Morgenthau (New School), Judith Shklar (Harvard) und Sheldon Wolin (Princeton).557 Drei Tage später gibt es ein weiteres Memorial am Bard College, Annandale-on-Hudson, New York, wo auch Hannah Arendts Mann Heinrich Blücher zwischen 1952 und 1968 gelehrt hat. Glenn Gray (Colorado), David Kettler (Peterborough) und Leonard Krieger (Chicago) sind neben Hans Jonas die Teilnehmer des Kolloquiums.558 Im Oktober 1976 erscheint eine von Hans Jonas verfasste Erinnerung an Hannah Arendts philosophisches Werk in der Zeitschrift Merkur.559 Sie beginnt mit dem Satz: „Hannah Arendt war eine der großen Frauen dieses Jahrhunderts ... Erbin einer langen geistigen und ästhetischen Tradition, die zurückgeht bis auf die Griechen; Beobachter und Schilderer ihrer modernen Auflösung; ein Passagier auf dem Schiff des 20. Jahrhunderts, Zeugin und Opfer ihrer gewaltigen Erschütterungen, Freundin vieler Gefährten und Gezeichneten seiner Fahrt.“560
IV Rastlose Zeiten. Die Jahre des Erfolgs
Ein solcher Passagier ist auch Hans Jonas selbst. Sein Schiff segelt unaufhörlich durch gewaltige Stürme. Auch kurz nach Arendts Tod, im Frühjahr 1976, als er auf einer Vortragsreise in Colorado ist, kommt so ein Sturm auf: Bei seiner jüngsten Tochter wird eine Krebserkrankung vermutet. Glücklicherweise erhärtet sich dieser Verdacht nicht. Nur ein knappes halbes Jahr nach dem Tod von Hannah Arendt wäre dies die nächste Hiobsbotschaft gewesen. Der Tod Heideggers am 26. Mai ist für ihn gewiss keine solche Hiobsbotschaft, obwohl Heidegger „die große lehrende und philosophisch antreibende Kraft“561 in seinem Leben war.
557 HJ 16-16-26, Ankündigung. 558 HJ 16-16-30, Ankündigung. 559 Hans Jonas: Handeln, Erkennen, Denken. Zu Hannah Arendts philosophischem Werk. In: Merkur 341, 30. Jg., Oktober 1976, S. 921-935. Wiederabgedruckt in KGA III/2, S. 259-275. Sieh auch: HJ 16-16. 560 Ebd., S. 921. 561 So Jonas an Anders, 29. Mai 1976, HJ 16-16-59, vgl. KGA V. Ein „Kind“ Heideggers ist er gewiss nicht geblieben, wie Richard Wolin suggeriert: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas and Herbert Marcuse. Princeton University Press 2011.
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Am 4. Juni 1976 scheidet er selbst aus der aktiven Lehrtätigkeit aus und wird Ehrendoktor der New School for Social Research. Er fliegt wieder nach Europa, ist bei Popitz zu Besuch und fährt in die Schweiz. Doch die Todesnachrichten reißen nicht ab. Seinem für August 1976 geplanten Besuch bei Rudolf Bultmann, mit dem ihn eine „von der Denksache untrennbare Freundschaft“562 verbindet, kommt der Tod Bultmanns am 30. Juli 1976 zuvor. Daraufhin reist er erst im November 1976 durch Deutschland und hält öffentliche Vorlesungen in Marburg (wo der Fachbereich Evangelische Theologie ihn ebenfalls mit dem Ehrendoktorat würdigt) und Münster. Obwohl nun aus dem Amt geschieden, betreut er mehrere Doktoranden. Er ist gesund und arbeitskräftig, doch das Schreiben dauert länger als je zuvor. Darüber hinaus wird er 1976 zum Member of the American Academy of Arts and Sciences ernannt. Die Akademie mit Sitz in Cambridge, Massachusetts, ist eine der ältesten und angesehensten Ehrengesellschaften der Vereinigten Staaten. Nur Mitglieder können Personen vorschlagen, die als Mitglied aufgenommen werden sollen.563 Am 16. November 1976 findet die akademische Gedenkfeier für Rudolf Bultmann statt. Jonas berichtet in seiner Rede „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens“564 vom letzten Treffen mit Bultmann vor seiner eigenen Ausreise nach England. In der Zeitung hatte er damals gelesen, dass der deutsche Blindenverein seine jüdischen Mitglieder ausschließt. Er echauffiert sich vor Bultmann darüber und merkt dann beschämt, dass er dies ungerechterweise vor Bultmanns Augen tut, denn er weiß doch, „daß kein Unsinn der Zeit der Stetigkeit seines inneren Lichtes etwas anhaben kann.“565 Nach der Rede kehrt er in Begleitung von Bultmanns Tochter Antje in die USA zurück, wo er u.a. Gastprofessuren an der University of California (Riverside) und der Claremont Graduate School wahrnimmt,566 wohin er bereits 1974 zu Vorlesungen und Vorträgen kam.567
562 Brief an Anders, 8. April 1977. KGA V. 563 Vgl. HJ 21-4-4. 564 HJ 21-2-1. 565 Zitiert nach Hans Jonas: Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes. In: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen 1987, S. 47-75, hier S. 50. Erstmals Tübingen 1977, vgl. auch: HJ 23-16-7. 566 Vgl. HJ 6-2a. 567 Vgl. HJ 9-9.
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Jonas skizziert zudem in der Schriftfassung seines Vortags über Bultmann 1977 seinen Gottesbegriff, ohne dass dies auf Kritik oder große Resonanz in der Öffentlichkeit gestoßen wäre. In den erweiterten Ausführungen heißt es, der Gläubige müsse sich Gott gegenüber der Welt als abstinent vorstellen. Gott habe durch die Schaffung der Welt und des Menschen auf seine Allmacht verzichtet „und die Schöpfung im Ganzen sein lassen wollen, was sie selber aus sich machen würde.“ Mit Bultmann stimme er in dem Resultat überein, „daß die Eigengesetzlichkeit der Immanenz, für Gläubige wie Ungläubige, in ihrer Integrität gewahrt bleibt.“568 Er schließt mit einer sehr persönlichen Würdigung Bultmanns: „Für mein Leben gern würde ich dies vor so langer, langer Zeit begonnene Gespräch mit dem Lebenden fortführen und kann es nur mit dem teuren Schatten tun. Ein Mann von ergreifender Reinheit ist dahingegangen, ein vollendetes Leben, immer einig mit sich selbst. Er ist nicht zu beklagen, aber wieder einmal ist die Welt ärmer geworden um einen derer, an denen sie den immer bedrohten Glauben aufrichten kann, es sei »der Mühe wert, ein Mensch zu sein«.“569 Das Goethe-Zitat aus dem Faust noch im Ohr schreibt Jonas am 8. April 1977 an Günther Anders, Bultmann habe die Freundschaft mit Heidegger 1933 abgebrochen und nie wieder aufgenommen.570 Das ist zumindest interpretationsabhängig, denn der Briefwechsel zwischen Bultmann und Heidegger geht, wenn auch nicht in der Intensität wie vor 1933, weiter. Und Bultmann schreibt noch zu Heideggers Rektoratsrede, er bejahe dessen Grundabsicht und bringe selber nicht „den gleichen klaren Mut zur Gegenwart“571 auf wie Heidegger. Am 2. Mai 1933 erklärt Bultmann allerdings die Aufgabe der Theologie in der Gegenwart und fordert, den Diffamierungen gegen die Juden ein Ende zu bereiten.572 Ab 1935 ändert sich auch sein Ton gegenüber Heidegger in Sorge um die Zukunft der Universitäten, die dann ab 1938 vollständig gleichgeschaltet wurden. Die briefliche Anrede „Lieber Freund!“ bleibt jedoch bis zum letzten Brief aus dem Jahr 1975 unverändert. Hans Jonas zeichnet also gegenüber Günther Anders ein positiveres Bild Bultmanns als es sich aus den Briefen Bultmanns an und von Heidegger rekonstruieren lässt. 568 Zitiert nach Jonas: Im Kampf, S. 68. 569 Ebd., S. 75. 570 Brief vom 8. April 1977, KGA Bd. V. 571 Sieh Bultmann/Heidegger: Briewechsel, a.a.O., S. 194. 572 Ebd., S. 285.
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Zeitgleich mit dem Erscheinen der Druckfassung macht Jonas im Rahmen des 70. Geburtstages von Dolf Sternberger in Neu-Isenburg nahe Frankfurt die Bekanntschaft mit Siegfried Unseld. Es kommt zu einem ersten Gespräch über eine mögliche Zusammenarbeit.573 In Fachkreisen ist sein Name längst bekannt. So widmet sich zu dieser Zeit die Universität Delaware seinem Ansatz in einer eigenen Sektion. Selber Teilnehmer des Symposiums „Technology in the Philosophy of Hans Jonas“ erläutert er dort gemeinsam mit Stuart Spicker (Connecticut)574 und Don Ihde (Stony Brook) seine ethischen Ideen: „Ethical Problems in Engineering and Applied Sciences“.575 Doch es stehen auch noch private Termine an, die vorbereitet werden wollen. Im September 1977 heiratet sein Sohn, der Jurist bei der Bundesregierung in Washington ist, in Colombia, South Carolina. Sein im Oktober und November 1977 durchgeführtes auswärtiges Vortragsprogramm endet in einer Erschöpfung, von der er sich erst einmal erholen muss. Das dauert jedoch nicht allzu lange, denn noch im selben Monat übt er heftige Kritik an Günther Anders’ Beteiligung am Russell-Tribunal, dessen Gründung ursprünglich mit dem Ziel verbunden war, die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam nach 1954 zu untersuchen und zu dokumentieren. Bereits ab 1967 traf sich das Tribunal, um Informationen zu sammeln. Das dritte Russell-Tribunal von 1977-1979 war dann in erster Linie eine Kampagne gegen den Radikalenerlass und ein von ultralinken Aktivisten genutztes Forum der Kritik an der angeblich sozialen Repression der bundesdeutschen Politik. Dieser Umstand und die Beteiligung seines Freundes haben Hans Jonas äußerst verärgert. Er selber ist ab 1978 auch politisch aktiv und leistet finanzielle Unterstützung 573 Vgl. Erinnerungen, S. 328. Dort ist der Geburtstag von Sternberger allerdings in das Jahr 1978 verlegt. Das ist nicht korrekt. Auch ist angesichts des Briefwechsels zwischen Jonas und Unseld ausgeschlossen, dass Gespräche erst 1978 stattfanden. In einem Brief an Unseld vom 4. August 1978 beginnt er: „Sie werden sich unserer Begegnung auf der Dolf Sternberger-Feier vor einem Jahr erinnern und auch unserer kurzen Vorverständigung darüber, daß ich Ihnen über ein in Arbeit befindliches Buch mehr berichten solle...“, vgl. KGA Bd. V. 574 Spicker (1937-2013) machte seinen B.A. am Queens College, war Student der New School und erhielt u.a. den Alvin Johnson Prize Scholarship. Sein Forschungsschwerpunkt war Medizinethik, die meiste Zeit verbrachte er am University of Connecticut Health Center, zudem war er Visiting Professor in Paris, Oxford, Hannover, Buenos Aires und Boston, sieh: HJ 13-5-8. Don Ihde (*1934) ist ein amerikanischer Wissenschafts- und Technikphilosoph, der von der Phänomenologie beeinflusst ist und diese weiterentwickelt. Als 1979 Jonas’ Hauptwerk erscheint, veröffentlicht Ihde ebenfalls ein wichtiges Buch über die Philosophie der Technik: Don Ihde: Technics and Praxis. A Philosophy of Technology. Boston 1979. 575 Vgl. HJ 23-10-8.
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der Peace Now-Bewegung in Israel, der es um einen Dialog aller beteiligten Parteien, einschließlich der arabischen Bevölkerung, geht. Im Februar 1978 informiert ihn der amerikanische Philosoph Daniel Callahan darüber, dass ihm der Henry Knowles Beecher Award des Hastings Centers in Garrison, New York, zuerkannt worden sei.576 Mit dem Henry Knowles Beecher Award werden Einzelpersonen ausgezeichnet, die einen bedeutenden Beitrag in Ethik und Lebenswissenschaften sowie der damit verbundenen Forschung und Lehre geleistet haben. Der Preis ist nach dem ersten Preisträger, Henry Knowles Beecher, einem angesehenen Anästhesiologen, benannt. Am 23. Juni desselben Jahres hält Jonas den mit dem Preis einhergehenden Vortrag in Garrison. Der Titel des Vortrags lautet: „Some Philosophical and Ethical Aspects of Technology.“ Im Rahmen der Verleihung sprechen auch B.F. Skinner, Alasdair McIntyre und andere.577 Noch zuvor, im März 1978, beteiligt sich Jonas an der Yale Conference on Gnosticism,578 zu der auch der niederländische Theologe Gilles Quispel, mit dem er bereits 1964 gemeinsam über die Gnosis bei einem Treffen der Society of Biblical Literature doziert hatte,579 geladen ist. Die kurzfristige Absage von Scholem ist jedoch ein Schock für Jonas. Gershom Scholem schreibt über seine Beweggründe am 14. November 1977 an Jonas: „Für mich ist Gnosis eine sich immer wieder reproduzierende Struktur im religiösen Denken, für Sie ist es ein einmaliges geschichts-philosophisch bestimmtes Phänomen, dessen damit nicht übereinstimmende Strukturparallelen als Pseudomorphose aufgefasst werden … Die historische Forschung hat, so weit ich sie zu verstehen imstande bin, ganz andere Wege eingeschlagen und ich habe mit großem Respekt und noch größeren Bedenken Ihre zwei oder drei Versuche gelesen, sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Darüber eine öffentliche Diskussion mit Ihnen zu führen, würde bedeuten, sich einige Monate an dieses Problem zu setzen, wofür bei meiner Arbeitslage und deren Programmierung ich keine absehbare Zeit sehen kann.“580 576 Vgl. HJ 23-4-4. 577 Vgl. HJ 23-4-7. 578 Vgl. HJ 9-5 579 Vgl. HJ 2-17-55. 580 HJ 5-5-36, Brief Scholem vom 14. November 1977. Dieser Brief ist bereits veröffentlicht bei Gershom Scholem, Briefe III 1971-1982. Hg. von Itta Shedletzky. München 1999, S. 392f. sowie bei Christian Wiese: Hans Jonas. „Gemeinsam Philosoph und Jude“, a.a.O., S. 91f.
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Das sind klare Worte und zeigen die deutlich gewachsene Kluft zwischen den beiden. Jonas geht anschließend erneut in strikte Klausur. Er arbeitet an seiner Ethik in mönchischer Abgeschiedenheit. Erstmals lautet der Titel „Das Prinzip Verantwortung“, und der vorläufige Untertitel: „Versuch über Ethik im Zeitalter der Technik“. Er fühlt sich körperlich, seelisch und geistig gesund. Zudem freut er sich im Mai 1978 über gleich zwei Festschriften anlässlich seines 75. Geburtstags.581 Auch die Heirat seiner ältesten Tochter Ayalah im elterlichen Haus Anfang Juli 1978 sorgt für große Zufriedenheit. Darüber hinaus kann er Ende Oktober die letzten Federstriche am „Prinzip Verantwortung“ vornehmen. Im Dezember 1978 unterzeichnet er den Vertrag mit Suhrkamp. Doch immer wieder torpedieren schlechte Nachrichten die berufliche und private Zufriedenheit. Der Verdacht, Lore könne an einem Tumor erkrankt sein (der sich letztlich als gutartig herausstellt), trübt die Freude kurze Zeit. Zudem erkrankt Anfang November auch Ayalah. Jonas lässt daraufhin die Südamerikareise ausfallen, die für Januar/Februar geplant war. Im Juli 1979 trifft er sich mit Günther Anders in Bad Ischl und diagnostiziert bei ihm eine Diskrepanz zwischen Verstand und Urteilskraft. Anders nähme es übel, dass die Welt nicht so ist, wie er sie selber geschaffen hätte.582 Kurz darauf, im August 1979, bricht er selbst in Bern mit einem Kreislaufkollaps zusammen und fällt in tiefe Ohnmacht. Er drosselt den Tabakkonsum, zeitweise stellt er das Rauchen ganz ein. Nach all den familiären und gesundheitlichen Problemen der Jahre 1978/79 kann er ab 1979/80 wieder aufatmen. Sein Buch ist endlich, nach rund sieben Jahren harter Arbeit, erschienen und schlägt zur Zeit des zweiten Ölpreis-Schocks wie eine Bombe ein. Zudem hält er die Terry Lectures in Yale mit Vorträgen über Technologie, Utopie und Ethik. Dennoch merkt er im April 1980 an, er neige inzwischen zum Abwägen, habe Scheu vor Overstatement und sei bedächtig.583 Ende Mai hält sich Jonas dann in München und am Tegernsee auf. Dort nimmt er am ersten Civitas-Symposium der Gesellschaft zur Förderung von Wissenschaft und Kunst teil.584 Die private Gesellschaft wurde 1979 581 Barbara Aland: Gnosis. Göttingen 1978, sowie Stuart F. Spicker: Organism, Medicine and Metaphysics. Heidelberg u.a. 1978. 582 HJ 7-17-9, Brief an Sternberger vom 22. Juli 1979, vgl. KGA V. 583 HJ 6-8-40, Brief an Anders vom 19. April 1980. 584 Vgl. HJ 8-22.
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Abb. 23: Hans Jonas am Schreibtisch in New Rochelle, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
von Leo und Peter Kozlowski, Philipp Kreuzer, Hermann Krings, Reinhard Löw, Robert Spaemann und Wilhelm Vossenkuhl in München gegründet. Das Thema des Symposiums: „Fortschritt ohne Maß? Eine Ortsbestimmung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation.“585 Er stellt fest, dass er „über Nacht“ zur öffentlichen Person geworden ist: „Ich glaube, die Tatsache, daß sich so viele Menschen von dem Buch angesprochen fühlen, hängt mit gewissen Ängsten einer angesichts der eigenen Macht erschrockenen Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen.“586 Diese Ängste sind die gesamten 1980er Jahre über spürbar. Zeugnis hiervon legen nicht zuletzt die Ostermärsche, die Anti-Kriegs-Demonstrationen und die quer durch die Republik sich schlängelnden Menschenketten ab. Nicht zu vergessen: Every generation got its own disease. So begleitet die Krankheit AIDS die ohnehin schon zuhauf vorhandenen politischen Ängste. Folgerichtig boomt die Survival-Literatur, weil sie suggeriert, Auswege aus der Gefahrensituation zu kennen.587 Dass nicht zuletzt gar Wissenschaftler wie Hans Jonas öffentlichen Erfolg mit ihren Zeit-Diagnosen haben, passt zur allgemeinen Stimmung einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Und das, obwohl die 1980er Jahre eine ökonomische Dynamik inklusive eines Wohlstandsschubs 585 Reinhard Löw et alli (Hg): Fortschritt ohne Maß? Eine Ortsbestimmung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. München 1981. 586 Jonas: Erinnerungen, S. 327. 587 Dazu Philipp Schönthaler: Survival in den 80er Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation. Berlin 2016.
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freisetzen, den die krisenhaften 1970er Jahre so nicht gekannt hatten. Der Zeithistoriker Andreas Rödder spricht gar von der ökonomisch besten Zeit der alten Bundesrepublik.588 Gleichwohl tritt die Weltwirtschaft in eine neue Phase ein, in der erstmalig auch Unternehmen selbst zur Handelsware werden und die so genannte Dienstleistungsgesellschaft ihren Siegeszug antritt. Aber nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch philosophischer Erfolg, wie ihn Hans Jonas in dieser Zeit hatte, verpflichtet – vor allem in Deutschland. Im Herbst 1980 ist Jonas für vier Monate in Deutschland und Österreich. Er fährt zu Symposien, hat Rundfunk- und Fernsehauftritte. Im November 1980 fährt er zu einem Symposium über Ethik und Medizin nach Heidelberg. Es folgt anschließend eine Südostasienreise mit Stationen in Nepal, Burma, Thailand, Ceylon und Südindien. Im Juli und August 1981 ist er erneut in Europa, ab Mitte Juli bis Anfang August wieder in Bern. In Fuschl trifft er mit Jacob Taubes zusammen. Es folgen Vorträge erneut in Heidelberg und Freiburg im November 1981.589 In diesen Vorträgen geht es bereits um das Verhältnis von Ethik und Medizin, insbesondere um Rechtsfragen und die Praxis des Klonierens. Er ist zum Homo viator geworden, wenn er das nicht immer schon war: Ein Reisender durch die Welt in eigener Sache. Den Jahreswechsel aber feiert er zu Hause in New Rochelle. An Popitz schreibt er: „In der Sylvesternacht hatten wir volles Haus, alle New Rocheller Freunde.“ Man tanzt, trinkt Glühwein und Sekt, führt lange Gespräche über „Heidegger und ähnliche Kleinigkeiten.“ Lore ergänzt in Jonas’ Brief an Popitz: „Liebe Freunde, Hans schreibt so als ob wir nur von Begierde zu Genuss und von Genuss zu Begierde taumeln, ich möchte doch bemerken, dass wir von Zeit zu Zeit auch etwas arbeiten.“590 In der Tat: Lore Jonas ist seit fast einem Jahrzehnt als Kindergärtnerin tätig, und Hans Jonas selbst ist inzwischen einer der bekanntesten Philosophen in Deutschland mit entsprechend vielen Terminen. Als in den bald schon wieder hektischer werdenden Tagen des neuen Jahres am 21. Februar 1982 sein Freund und Mentor Gershom Scholem in Jerusalem stirbt, schreibt Jonas an Fanja: „In ihm konzentrierte sich für mich Jerusalem ... Wo er war, war das Zentrum.“591 Sein eigenes Leben hin588 Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München 2016. 589 Sieh HJ 7-17. 590 HP 14-4-2, Brief vom 5. Januar 1981. Das Datum ist jedoch nicht korrekt. Es müsste 1982 lauten. Mit der Umstellung der Jahreszahl hatte Jonas wie viele andere ganz offensichtlich seine Probleme. 591 HJ 5-5-29, Brief an Fanja Scholem vom 24. Februar 1982.
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gegen scheint kein wirkliches Zentrum mehr zu kennen. Er ist unermüdlich unterwegs, unter anderem im Juni 1982 auf zwei Tagungen in Deutschland: ein UNESCO-Kolloquium in Freiburg sowie eine Tagung der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg.592 Zudem hält er die Whidden Lectures im Oktober 1982 an der McMaster University in Hamilton (Ontario) über die Pflichten gegenüber der Nachwelt und das Verhältnis von Sein und Sollen.593 Auch die ihm im Wintersemester 1982/83 übertragene Eric-Voegelin-Gastprofessur in München, wo er auf Einladung des bayerischen Kultusministers über „Technik und Verantwortung“594 doziert, verbunden mit einem viermonatigen Aufenthalt ab Ende Oktober, lässt kaum Ruhe einkehren. Im März reist er nach Davos, wo er über „Ärztliche Kunst und menschliche Verantwortung“ redet, und im Mai ist er erneut in München und spricht auf der Tagung „Evolution und Freiheit“. In der Frankfurter Allgemeinen heißt es, Jonas stelle „als eine Art geisteswissenschaftlicher Reduktionist den Menschen an ebenden Platz, von dem ihn die Jünger Darwins vertrieben hatten, in die Mitte der Natur.“ Und er deute „die belebte Natur bewußt menschlich.“595 So groß sein wissenschaftlicher Erfolg in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre auch ist – die amerikanische Öffentlichkeit hat offensichtlich ein anderes Bild von ihm. Aus dem Gelehrtenkalender „Who’s Who in America“ hat man ihn scheinbar getilgt. Auf Nachfrage erklärt der Verwaltungschef von Marquis, man sei bestrebt, Profile amerikanischer Führungspersönlichkeiten anzulegen. Die Faktoren, die für eine Aufnahme in Who’s Who Bedingung sind, könnten in Jonas’ Biografie nicht nachgewiesen werden, denn „geeignete Kandidaten müssen von hohem nachweisbaren, nationalen Interesse oder aber Amtsinhaber sein, die einen ähnlich hohen Grad des öffentlichen Interesses“596 aufweisen. Die Herausgeber sahen dies bei Jonas offenbar nicht gegeben. Er möge sich aber doch bitte melden, sollten sich in seiner Biografie signifikante Veränderungen ergeben. Man mag sich ungefähr vorstellen, wie Hans Jonas diese Einschätzung aufgenommen haben wird: Das Schreiben dürfte er verärgert zu den Akten gelegt haben. 592 Vgl. HJ 6-15-1 sowie HJ 6-15-2 und HP 14-4-2, Brief vom 5. Januar 1981 (1982). 593 Vgl. HJ 21-7. 594 Vgl. HJ 3-4. 595 Konrad Adam: Biologie als Schicksal? In: FAZ vom 14. Mai 1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Es erstaunt zu lesen, Jonas sei eine Art Reduktionist, er, der sich doch ausdrücklich gegen jeglichen Reduktionismus ausgesprochen hat, vgl. HJ 4-17-10. 596 HJ 4-4-11, Brief vom 25. Mai 1982. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
ERSTER TEIL: LEBEN
Verärgerung ist auch privat schon bald wieder an der Tagesordnung. Denn es kommt erneut zum Zwist mit Günther Anders, der Jonas unterstellt, der amerikanischen Propaganda erlegen zu sein. Hintergrund dürfte der libanesische Bürgerkrieg und der Anschlag auf die US-Botschaft am 18. April 1983 in Beirut gewesen sein, bei dem mehr als 60 Menschen getötet wurden.597 Daraufhin verurteilten die Amerikaner den Anschlag als verabscheuungswürdig und kündigten an, ihre Präsenz im Libanon aufrecht zu erhalten. Die Meinungen von Jonas und Anders im „gefährlichsten Jahr des Kalten Krieges“598 lassen sich jedoch nicht exakt rekonstruieren. Inzwischen sind seine Themen jedoch ganz oben auf der politischen Agenda angelangt. Das bedeutendste Projekt dieser Zeit ist ein UN-Bericht über die Möglichkeit nachhaltiger Entwicklung. Zum Hintergrund: Die Vereinten Nationen gründen 1983 die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, kurz: WCED (World Commission on Environment and Development) mit Sitz in Genf. Die WCED wird beauftragt, einen Perspektivbericht auszuarbeiten, der eine langfristig tragfähige, umweltschonende globale Entwicklung für das auslaufende 20. Jahrhundert und das bevorstehende 21. Jahrhundert skizziert. Die so genannte Brundtland-Kommission legt 1987 ihren Bericht „Our common Future“ vor.599 Herzstück ist das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung. Der Bericht greift viele der von Jonas benannten Problematiken auf und gibt nach seiner Veröffentlichung Anlass zu einer weltweiten Diskussion über Zukunftsfragen. Den Vorsitz der Kommission hat die norwegische Politikerin Gro Harlem Brundtland inne. Als erste Frau ist sie seit 1981 (bis 1992) auch Vorsitzende der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Norwegens. Stellvertretende Vorsitzende in der UN-Kommission sind Mansour Khalid aus dem Sudan, Susanna Agnelli (Italien), Saleh A. Al-Athel (Saudi-Arabien), Bernard Chidzero 597 In HJ 4-3 findet sich ein Zeitungsartikel der FAZ über den Krieg. Auch Hans Jonas findet dort Erwähnung. Möglich, dass Anders ihn gelesen hat und ihn zum Anlass der Diskussion nahm. 598 Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges. Paderborn 2013. 599 UN World Commission on Environment and Development, A42/427: Our common Future, 4. August 1987. Sieh auch: Volker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven 1987. Sowie aus der Perspektive des Jahres 2010: Wilhelm Krull (Hg.): Research and Responsibility – Reflections on Our Common Future. Leipzig 2011; Klaus J. Bade/Bernhard Lorentz/Ludger Pries (Hg.): Migration and Integration – Reflections on Our Common. Leipzig 2011.
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(Zimbabwe), Lamine Mohammed Fadika (Elfenbeinküste) und der Deutsche Volker Hauff (SPD.) Hauff war von 1978 bis 1980 Bundesminister für Forschung und Technologie, von 1980 bis 1982 Bundesminister für Verkehr und wird später (1989 bis 1991) Oberbürgermeister in Frankfurt am Main. Die Kommission befragt über mehrere Jahre hinweg Regierungsvertreter, Wissenschaftler, Experten sowie die Zivilgesellschaft zu zukunftsrelevanten Themen und versucht sich an einer Definition nachhaltiger Entwicklung. So heißt es im Bericht: „Nachhaltige Entwicklung erfüllt die Bedürfnisse der Gegenwart ohne den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu nehmen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“600 Nachhaltig ist mithin eine Entwicklung zu nennen, die nicht nur den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, sondern die Möglichkeiten künftiger Generationen gleichsam nicht gefährdet, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil frei zu wählen. Der Bericht behandelt gemeinsame Probleme und Herausforderungen und zeigt auf, welche gemeinsamen Anstrengungen übernommen werden müssen, um Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Im Fokus steht insbesondere der Konsumverbrauch mit Blick auf einen möglichen Ressourcenzugriff zukünftiger Generationen. Zentrale Bedeutung wird den Grundbedürfnissen der Ärmsten der Welt beigemessen. Dementsprechend sollen Ziele sowohl wirtschaftlicher als auch sozialer Entwicklung im Hinblick auf die Permanenz des Lebens definiert werden. Hierbei setzt die Kommission voraus, dass die Menschen zu einer nachhaltigen Entwicklung und der Verantwortung für künftige Generationen fähig sind. Sowohl Armut als auch ein stetes Wachstum, so die Kommission, belasten die Umwelt und fördern einen Zuwachs an Naturkatastrophen und Krankheiten, an Dürren und Überschwemmungen. Auf dem Spiel stehe nicht zuletzt der Verlust der genetischen Vielfalt und des Ökosystems. Es bleibe wenig Zeit zur Korrektur. Doch noch immer seien viele ökonomische Probleme ungelöst, es herrsche eine unstabile Marktsituation vor und es gäbe weiterhin Handelskriege und Protektionismus. Die Kommission vermisst eine Verantwortung hinsichtlich einer international zukunftsfähigen Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Denn Nachhaltigkeit sei nur im Zusammenspiel von Wirtschaft, Sozialsystem und Ökologie möglich. Wirtschaftliches Wachstum müsse die Umweltbedingungen wahren und auf erneuerbare Energien setzen. Es gelte, weniger Ressourcen zu verschwenden, den Energie- und Materialverbrauch zu reduzieren und umwelteffizien600 WCED, a.a.O. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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tere Produkte zu entwickeln. Angesichts eines immer deutlicher werdenden Niedergangs multilateraler Kooperation sowie eines Abbruchs zielführender Dialoge könne jedoch eine gewisse Skepsis nicht verleugnet werden. Als der Bericht veröffentlicht wird, leben auf der Erde rund 5 Milliarden Menschen. Politik und Wissenschaft sind sich bewusst, dass von einer stetig wachsenden Weltbevölkerung auszugehen ist. Seit dem Jahr 1950 hat sich die Menschheit verdoppelt, die Güterproduktion ist um das 7-fache gestiegen. Diese Entwicklungen gehen auf Kosten natürlicher Ressourcen. Doch der Erhalt von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sei der entscheidende Faktor für Entwicklung und Wachstum in der Zukunft. Die Kommission diskutiert des Weiteren die Frage, ob die Atomenergie noch eine Zukunft hat. Sie stellt außerdem die Frage nach Alternativen wie der Solarenergie, plädiert ferner für grenzüberschreitende Produktionskontrollen und beruft sich hierbei auf die Verantwortung einzelner Nationen, die Gesundheit und das Wohlbefinden anderer nicht zu gefährden. Die Globalisierung habe gezeigt, so heißt es im Bericht, dass insbesondere die Verstädterung ein Problem darstelle: Sauberes Wasser, Sanitäranlagen, Schulen und der Transport in Großstädten vor allem der Dritten Welt (Nairobi, Lagos, Mexico City, Sao Paulo etc.) sind in diesem Kontext Themen der Gegenwart und Zukunft. Man ist sich einig, dass Umweltschäden globale Konflikte beschleunigen. Globale Konflikte seien das Ergebnis einer nicht-nachhaltigen Entwicklung. Nuklearkriege, Massenvernichtungswaffen und eine neu aufblühende Waffenkultur könnten die Folgen sein. In eben diesem Verstande diskutiert auch eines der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Bücher der 1980er Jahre, Ulrich Becks 1986 publizierte Schrift „Risikogesellschaft“ die Problemlage. Das Buch erschien nur kurz nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl (26. April 1986) nahe der ukrainischen Stadt Prypjat. Der Unfall führte zu einer extrem hohen radioaktiven Strahlenbelastung nicht nur im Umfeld des Reaktors. Über die Erdatmosphäre verteilten sich über ganz Europa radioaktive Stoffe. Die damaligen Warnungen an die deutsche Bevölkerung muten aus heutiger Sicht geradezu absurd an: Keine größeren Mengen Milch trinken, Gemüse sorgfältig waschen, keine Pilze essen, Kinder wenn möglich im Haus lassen und Kleidung in Windrichtung ausbürsten.601 Die Organisation „Internationale 601 Dazu Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung. München 1998.
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Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ mit Sitz in Somerville (Massachusetts), die 1985 den Friedensnobelpreis erhielt, legt 2016 einen Bericht zum Super-Gau von Tschernobyl vor. Darin ist von einem erschreckenden Anstieg unterschiedlicher Krebsarten in ganz Europa die Rede. Aber auch Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, der Lungen, der Blutzellen und der Schilddrüse sowie Diabetes und Hirnschädigungen hätten seither dramatisch zugenommen. Von den mehr als 800.000 Helfern damals sind inzwischen rund 120.000 infolge der Strahlung verstorben. Es gebe eine erhöhte Zahl an Totgeburten und Sterbefällen unmittelbar nach Geburt. Da Mädchen weit häufiger betroffen seien, habe sich das Geschlechterverhältnis in Europa insgesamt verändert.602 Ulrich Beck spricht angesichts des Super-Gaus von „gesellschaftlichen Metamorphosen der Gefahr.“603 Reichtumsproduktion und Risikoproduktion seien zwei Seiten derselben Medaille.604 Die Risikogesellschaft kontrastiert er mit der Klassengesellschaft605, die sie ablöst. In Klassenlagen habe das Sein das Bewusstsein bestimmt, in Risikolagen bestimmt „umgekehrt das Bewußtsein (Wissen) das Sein.“606 Die Menschheit verfolge inzwischen bloß noch eine „Politik der unbelebbar werdenden Erde.“607 Die Folgen: „Wegreisen hilft letztlich ebensowenig wie Müsli essen“, die Gift- und Schadstoffe sind immer schon da.608 Sie verändern das ganze System in einer Art „stillen Revolution“609 und schaffen Sachzwänge, die die Menschen „über mehrere Generationen hinweg“ festlegten, „also für Zeiträume, in denen noch nicht einmal die Bedeutungsgleichheit der Schlüsselworte gesichert ist.“610 602 IPPNW Deutschland: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima. Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl und Fukushima. Berlin 2016. 603 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986, S. 10. Es erstaunt, dass im Konstanzer Archiv keine Korrespondenzen mit Beck oder auch mit Habermas zu finden sind. Lediglich das Protokoll einer Podiumsdiskussion mit Beck (HJ 5-23-10) ist zu finden. Im Habermas-Vorlass in Frankfurt gibt es eine Handvoll Briefe, die aber recht belanglos bleiben. 604 Beck, Risikogesellschaft, S. 17. 605 Ebd., S. 48. 606 Ebd., S. 70, Hervorhebungen getilgt. 607 Ebd., S. 51. 608 Ebd., S. 97. 609 Ebd., S. 105. 610 Ebd., S. 294.
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Jede Kritik, jeder Protest wirkt wie ein „Nachruf auf längst getroffene Entscheidungen.“611 Es sei am Ende nicht auszuschließen, dass eine noch nicht bewältigte Vergangenheit zu einer möglichen Entwicklungsvariante der Zukunft werde.612 Den Erkenntnissen der Brundtland-Kommission als auch der Diagnose Becks, mit dem er anlässlich seines Bamberger Ehrendoktorats 1990 ausgiebig darüber diskutieren wird, kann Hans Jonas ohne weiteres zustimmen, hat er doch nicht zuletzt beiden einige wichtige Stichworte für den wissenschaftlichen und politischen Diskurs geliefert. Im Grunde haben Jonas und Beck gezeigt, dass Globalisierung nicht nur die weltweite Zirkulation von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen, sondern gleichwohl von Risiken, Krankheiten und Schadstoffen ist. Der öffentliche Dialog über diesen Sachverhalt nimmt großen Raum ein. So ist Jonas insbesondere im Orwell-Jahr unermüdlich unterwegs. Unter anderem begibt er sich im Mai 1984 auf Europatournee mit zahlreichen Vorträgen über die praktischen Auswirkungen seiner Ethik. Andererseits will er das Private auch nicht zu kurz kommen lassen: Am 31. Mai 1984 besucht er seine Geburtsstadt Mönchengladbach und trifft sich mit seinen alten Freunden Rudi Vitus und Mechthild Krings. Auch der Jurist Günther Erckens, der in diesen Tagen auf Betreiben der Stadt an seiner Chronik der Mönchengladbacher Juden arbeitet, ist bei dem Treffen anwesend.613 Dies scheint aber, wie bereits angedeutet, nicht der erste Besuch nach langer Zeit in Mönchengladbach gewesen zu sein, wie hin und wieder zu lesen ist. Denn offensichtlich hat Jonas bei Gelegenheit mehrere Male seinen Geburtsort aufgesucht. So schreibt unter anderem Günther Erckens an Jonas im Oktober 1983, wenn auch etwas vage, man habe ihm erzählt, dass er „mit Ehefrau und zwei Kindern vor Jahren in Gladbach“ zu Besuch war.614 Von Gladbach aus geht es sodann Anfang Juni 1984 weiter nach Düsseldorf, wo er ein Rundfunk-Interview gibt615 und einen Vortrag bei der 611 Ebd., S. 329, Hervorhebung getilgt. 612 Ebd., S. 364. 613 Brief Erckens an Jonas vom 29. April 1984, der das Datum 31. Mai als Treffen nennt. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Sieh dazu auch: HJ 5-1-4. 614 Brief Erckens an Jonas vom 07. Oktober 1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. 615 Brief Jonas an Erckens vom 23. April 1984. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1.
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Arbeitsgemeinschaft Sozialpädagogik und Gesellschaftsbildung hält.616 Auch in der Bayerischen Vertretung in Bonn ist er zu Gast und fragt: „Warum ist die heutige Technik ein Gegenstand für Ethik und Philosophie?“617 Den Höhepunkt im Orwell-Jahr bildet indes ohne Zweifel seine Rede über den Gottesbegriff nach Auschwitz, die er anlässlich des an Fritz Stern und ihn verliehenen Leopold Lucas-Preises der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hält und darin seine These eines nicht mehr allmächtigen Gottes vorstellt.618 Der Preis wird ihm auf Vorschlag des Philosophen Rüdiger Bubner zugesprochen. Er ist nach dem Rabbiner Leopold Lucas benannt, der, 1872 in Marburg geboren, 1943 in Theresienstadt ermordet wurde. 1940 kam er auf Initiative von Leo Baeck als Lehrer an die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo Hans Jonas in den 1920 Jahren studierte. 1942 wird Lucas deportiert. Der Preis wird auf Initiative des Sohnes, Franz D. Lucas, seit 1972 für hervorragende geisteswissenschaftliche Leistungen, Völkerverständigung und Toleranz verliehen. Bubner zeigt sich allerdings über Jonas’ These äußerst irritiert. Das wiederum verwundert, insofern die These zwar nicht in der Ausführlichkeit vorlag, aber gewiss auch nicht mehr neu war, vorausgesetzt man kannte seine Ingersoll Lectures, seine drei Studien aus dem Bändchen „Zwischen Nichts und Ewigkeit“ von 1963 oder zumindest seine Trauerrede auf Rudolf Bultmann oder den ebenfalls schon zitierten, US-amerikanischen Sammelband „Out of the Whirlwind“ aus den 1960er Jahren. Am 8. Juli spricht er auf dem 88. Deutschen Katholikentag in München und trägt dort in der Mollhalle in Sendling-Westpark vor über eintausend Zuhörern ebenfalls die These von der Ohnmacht Gottes in Auschwitz vor und fragt: „Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?“619 Im September 1984 ist er in Südtirol und Salzburg, wo er am 12. Salzburger Humanismusgespräch „Jenseits von Freiheit und Würde?“ teilnimmt und seine philosophisch-anthropologischen Überlegungen zu „Werkzeug, Bild und Grab“ präsentiert.620 Sein Fazit: „Das Werkzeug sagt uns, daß hier ein 616 Vgl. HJ 5-1-2. 617 Vgl. HJ 7-22 sowie HJ 8-10. 618 Vgl. HJ 8-18. 619 HJ 8-13-22 und HJ 8-13. Sieh dazu auch: Angst zehrt an der Seele. In: Rheinische Post vom 14. Juli 1984. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. 620 Sieh HJ 7-2a sowie 7-20-81.
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Wesen, von seiner Notdurft zum Umgang mit der Materie angehalten, dieser Notdurft in künstlich vermittelter, erfindungsbedingter und verbesserungsoffener Weise dient. Das Bild sagt uns, daß hier ein Wesen ... den Inhalt seiner Anschauung sich selbst darstellt, variiert und um neue Formen vermehrt ... Das Grab sagt uns, daß hier ein Wesen, der Sterblichkeit unterworfen, über Leben und Tod nachsinnt, dem Augenschein Trotz bietet und sein Denken ins Unsichtbare erhebt – Werkzeug und Bild in dessen Dienst stellend.“621 Paradigmatisch ist dieses genuin menschliche Kennzeichen in Sophokles’ Antigone verkörpert. Ihr Mut, gegen den Willen Kreons dem Bruder ein Grab anzulegen, zeigt, dass der besondere Umgang mit den Toten etwas spezifisch Menschliches, ja zutiefst Humanes ist. Das Begräbnis ist ein transanimalischer Akt par excellence, der den Menschen als Menschen auszeichnet. Denn kein Tier bestattet seine Artgenossen. Am 18. Oktober 1984 tritt Hans Jonas die Heimreise in die Staaten an. Doch schon ein halbes Jahr später, im April 1985, kommt er unter anderem nach Frankfurt und Heidelberg. Am Himmelfahrtstag fährt er zu einem Hearing über Gentechnologie zum ZDF, verbringt anschließend einige Tage in der Maingegend und reist dann wieder nach Mönchengladbach, wo er alte Freunde besucht. In einem Brief an Günther Erckens willigt er ein, auch einen Vortrag über „Wertfreie Wissenschaft und Verantwortung. Selbstzensur der Forschung?“ zu halten.622 Von Juli bis Oktober sind Lore und Hans Jonas in Europa.623 In Zürich nimmt Jonas an einem Symposium „Denken über die Zukunft“ teil,624 im Oktober geht es nach Wien und Bonn, wo er über das „Prinzip Verantwortung“ spricht.625
621 Hans Jonas: Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen. In: Ders.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a.M. 1994, S. 34-49, hier S. 48. Der Artikel erschien zunächst in: Scheidewege 15, 1985/86, S. 47-58. 622 Brief Jonas an Erckens vom 28. März 1985. StAMg Sammlung Jonas 15/42/342 Band 1. 623 Vgl. HJ 6-19: Dort ist der Aufenthalt von Juli bis September datiert. Da HJ 5-19-4 aber Bonn und Wien für den Oktober anführt, ist davon auszugehen, dass der Aufenthalt länger dauerte. 624 Vgl. HJ 5-19-4. 625 Vgl. HJ 5-20, insbes. 2 und 3. In Wien ist er auch im Oktober 1986 und spricht dort über das „Prinzip Verantwortung“ auf Einladung des Katholischen Akademikerverbandes. Vgl. HJ 6-16.
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V Die letzten Lebensjahre
Seine Präsenz in Deutschland wird immer größer, auch privat hält er sich immer öfter in Deutschland auf, wenngleich auch die privaten Reisen, wie im Juni und Sommer 1986 in Nordeuropa hin und wieder mit beruflichen Terminen, insbesondere mit Interview-Terminen, verquickt sind.626 Es ist die Zeit, in der in Deutschland der so genannte Historikerstreit die Öffentlichkeit in Atem hält. Die hitzige akademische Debatte im Feuilleton kreist um die Frage, ob die Shoah einen einmaligen Zivilisationsbruch darstelle. Ernst Noltes Thesen über eine Vergangenheit, die nicht vergehen wolle, lösten einen Sturm der Entrüstung aus. Denn Nolte wollte wissen, ob der Archipel GULag nicht ursprünglicher als Auschwitz und der Klassenmord der Bolschewiki nicht „das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ gewesen sei.627 Dies stieß auf den intellektuellen Widerstand von Jürgen Habermas, der darin einen revisionistischen Trend in der Geschichtswissenschaft aufscheinen sah. Selbstverständlich betraf diese Debatte sowohl das Leben als auch die Philosophie von Hans Jonas unmittelbar, auch wenn er sich in die öffentliche Diskussion nicht einmischte. Doch er blickt in dieser Zeit verstärkt auf sein eigenes Leben zurück. Einen seiner wohl bekanntesten Vorträge diesbezüglich hält er auf dem Höhepunkt des Historikerstreits am 15. Oktober 1986, anlässlich der 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Das Thema „Wissenschaft als persönliches Erlebnis“.628 Darin tauchen zahlreiche biografische Hinweise auf. Hans Jonas spricht über seine Werkgeschichte als auch über die Wiederaufnahme seiner Gedanken über das Verhältnis von Theorie und Praxis von 1958, nun jedoch stärker bezogen auf das Prinzip Verantwortung: „Die Theorie wird praktisch in ihrer Erarbeitung selbst, durch die ihr Imperativ sich Gehör verschaffen und in die Wirklichkeit eingreifen will. Über jeden Ruf wissenschaftlicher Neugier hinaus weist dieser Ruf der Sache dem For626 Vgl. HJ 6-20. 627 Ernst Nolte: Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. FAZ, 6. Juni 1986. Zitiert nach Ernst Reinhard Pieper (Hg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München/Zürich 1987, S. 45. Dazu Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. (Die Zeit, 11. Juli 1986) In: Ernst Reinhard Piper (Hg.): Historikerstreit, a.a.O., S. 62-68. 628 Vgl. Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen 1987, S. 7-31. Der gedruckte Text in diesem Band weicht vom Vortrag leicht ab. Sieh HJ 7-19.
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scher sein Amt zu: nämlich durch die Kontemplation zum Mitwirkenden an der darin erscheinenden Aufgabe zu werden.“629 Vor dem rechtspolitischen Kongress der SPD in Essen, an dem Jonas nach einer Anfrage von Herta Däubler-Gmelin vorträgt,630 empfiehlt er im Juni 1986 gesetzgeberische Maßnahmen, „um mögliche Manipulationen am menschlichen Erbgut zu verhindern.“631 Er spricht sich gegen das Geschäft der Leihmutterschaft aus und hält die künstliche Befruchtung mit Samenmischungen mehrerer Spender für unmoralisch. Die Praxis des Prinzip Verantwortung erprobt er in einer weiteren Publikation mit dem Titel: „Technik, Medizin und Ethik“.632 Für seinen Freund Dolf Sternberger reist Jonas im Juli 1987 nach Trier. Dort findet anlässlich des 80. Geburtstages des Politologen ein wissenschaftliches Kolloquium mit dem Titel „Der Begriff der Politik“ statt, an dem er teilnimmt.633 Kurz darauf, im Oktober 1987, erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Als erster Preisträger jedoch nicht in der Paulskirche, sondern im Schauspielhaus der Stadt, da die Paulskirche wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist.634 In der Verleihungsurkunde heißt es, Jonas nehme den denkenden und handelnden Menschen und seinen immer schwerer zu überschauenden Entscheidungsspielraum zugleich in den Blick. Nachdenken über das Leben und Überleben zeichne seine Philosophie aus: „In Sorge um das Menschenbild, um die Natur und um die Welt als Ganzes spürt er einer neuen Dimension des Begriffs Verantwortung nach.“635 Abermals nutzt er die Gelegenheit, um auch in seine Geburtsstadt Mönchengladbach zu fahren. Im November schreibt Günther Erckens ihm: „Die Resonanz über den Jonas-Besuch ist in Gladbach nachhaltig. Plötzlich sind Sie wieder »wer« in Gladbach!“636 Das sehen auch andere so. Denn Hans 629 Ebd., S. 27. 630 HJ 5-6-12. 631 HJ 5-16. Darin das Manuskript „Rechte, Recht und Ethik: Wie erwidern sie auf das Angebot neuer Fortpflanzungstechniken?“ Sieh auch: Ehrfurcht vor dem Menschen. In: Schwäbische Zeitung Leutkirch vom 06. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 632 Hans Jonas: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt 1985. 633 Vgl. HJ 6-23-26. 634 Die Macht zügeln. In: Westdeutsche Zeitung vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. Zum Preis vgl. HJ 8-4 und 8-6. 635 Zitiert nach Stadt Mönchengladbach: Mönchengladbacher Manuskripte 2, 12/87, S. 3. 636 Brief Erckens an Jonas vom 08. November 1987. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1.
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Jonas wird am 20. Januar 1988 mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband ausgezeichnet. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher überreicht es in der Deutschen Botschaft in Washington.637 Später sollte auch noch der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen folgen, der ihm von Johannes Rau in New York übergeben wird.638 Nach einem New Yorker „Global-Survival-Symposium“ mit John Herz, Robert Lifton und Maurice Strong639, auf dem Jonas (wie auch im April 1988 an der Boston University) seine Friedenspreisrede in Englisch vorträgt, ist er im Mai dann wieder in Deutschland. In Hannover spricht er auf dem von der Stiftung Niedersachsen veranstalteten Kongress „Geist und Natur“, wo auch der Friedenspreisträger Carl Friedrich von Weizsäcker, der österreichisch-amerikanische Chemiker Erwin Chargaff sowie die Nobelpreisträger Ilya Prigogine und John Carew Eccles und einige asiatische Kollegen anwesend sind und über ihre Sorge um die Zukunft der Menschheit debattieren.640 Auch im Sommer des Jahres 1988 weilt er in Europa und reist durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die Verleihung des Friedenspreises hat ihn zu einem allseits gefragten Philosophen insbesondere im deutschsprachigen Raum werden lassen, sodass er auch im November desselben Jahres in Deutschland (Frankfurt, Stuttgart, Baden-Baden) – aber auch in Israel unterwegs ist. Eine persönlich ganz wichtige Auszeichnung erfolgt sodann 1989. Der Rat der Stadt Mönchengladbach beschließt im September 1989, ihm das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Am 16. November, nur eine Woche nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wird ihm feierlich die Urkunde überreicht. Darin heißt es, Jonas habe sich in seinem philosophischen Werk „für eine Abkehr vom blinden technischen Fortschrittsglauben ausgesprochen und 637 Brief Kunert an die Deutsche Botschaft in Washington vom 29. Januar 1988. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. 638 Die Verleihung fand offensichtlich um die Jahreswende 1988/89 statt, die Übergabe erfolgte wesentlich später. HJ 21-12-13, Brief Rau an Jonas vom 16. Mai 1989, nennt als Datum der persönlichen Übergabe September 1989, was Zeitungsberichte bestätigen, vgl. HJ 21-12-12. Dagegen scheint das mir von der Staatskanzlei mitgeteilte Datum der Verleihung, der 1. Dezember 1987, verfrüht. 639 HJ 23-14-1. 640 HJ 6-10-1 sowie 7-20.Vgl. auch Rudolf Grimm: Auf den Spuren eines Bewußtseinswandels. In: Rheinische Post vom 27. Mai 1988. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Der Spiegel wertete den Kongress in 22/88, S. 216 als „New Age-Kongress“. Der Sender Freies Berlin berichtete am 18. August über den Kongress.
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sich bleibende Verdienste erworben mit seiner Begründung einer Ethik, die dem Einzelnen Verantwortung auch für das Entfernteste auferlegt.“641 Sein Beitrag zu einer deutsch-jüdischen Versöhnung wird lobend erwähnt. Nachdem ihm die Nationalsozialisten die Bürger- und Menschenrechte genommen hatten, beginnt er rund 50 Jahre später seine Rede mit einer Mark erschütternden Ansprache: „Liebe Mitbürger!“ Gesundheitlich ist er zu diesem Zeitpunkt aber schon angeschlagen. Sein Leiden an einem Lungenemphysem schreitet voran. Doch die Tour philosophischer Diskussionen und ehrender Veranstaltungen geht dessen ungeachtet weiter. Es lassen sich nicht alle Daten anführen. Erwähnt sei aber die Diskussion mit Karl-Otto Apel, Hans Küng und Reinhard Löw auf der Kieler Konferenz über „Ethik und Politik heute“ im Jahr 1990, sowie der Festvortrag „Von Kopernikus zu Newton“ in Bremerhaven im Oktober 1990 anlässlich des 40jährigen Bestehens der Philosophischen Gesellschaft Bremerhaven642 sowie die Ehrendoktorate der Universitäten Bamberg643 (10. Juli 1990) und Konstanz (2. Juli 1991). Auf der an die Überreichung der Ehrendoktorwürde anschließende Podiumsdiskussion in Bamberg über „Technologisches Zeitalter und Ethik“644 betont Hans Jonas, der Mensch handele nicht aus Übermut, Frevel oder weil er ethische Grundsätze verletzen wolle, sondern weil er das tue, was er immer getan habe: Seine ihm zur Verfügung stehenden Kräfte zu nutzen. Dies führe heute allerdings dazu, dass der Planet bald schon verwüstet sein könne angesichts der Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt die moderne Wissenschaft sei eine Art Angriff auf die Natur. Neben einer Diagnose der Lage sei jedoch auch zu berücksichtigen, dass der Mensch ein moralisches Wesen ist, weshalb man von der Analyse zur ethisch motovierten Besinnung übergehen müsse. Er selbst könne allerdings keine konkreten Vorschläge zur Problemlösung liefern. In diesem Sinne betont auch Ulrich Beck, dass die althergebrachte Risikokalkulation durch die ökologische Krise, die Atomkraft und die Gentechnologie längst außer Kraft gesetzt sei. Der Mensch, so nochmals Jonas, sei sich selbst zur Gefahr geworden. Angesichts der Bevölkerungsexplosion, die noch 641 Stadt Mönchengladbach: Mönchengladbacher Manuskripte 10, 04/90, S. 10. Sieh dazu auch HJ 17-24-11. 642 Vgl. HJ 5-17-15. 643 HJ 5-23 und 8-23. 644 HJ 5-23-10, Mitschrift der Diskussion zwischen Hans Jonas, Ulrich Beck und Walther Chr. Zimmerli. Die Mitschrift ist von Jonas handschriftlich redigiert worden.
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lange nicht ihren Zenit erreicht habe, aber auch in Anbetracht des immer stärker wachsenden Konsumverhaltens in den westlichen Industriestaaten, müsse ein rasches Umdenken stattfinden. Wohlstands- und Wachstumsziele hätten zugunsten zukunftsverantwortlicher Entscheidungen zurückzutreten. Ulrich Beck hält dem gegenüber, dass die Ethik möglicherweise für diese Aufgabe gar nicht gerüstet sei. Er nennt die Freilandexperimente, die Informationstechnologie sowie die Kerntechnologie und behauptet: „Alles das kann man erst dann erforschen, wenn man es umsetzt, d.h. die Laborsituation ist aufgehoben, die Welt oder die Gesellschaft ist selbst zum Labor geworden, und die Wissenschaftler sind hier sozusagen ihrer Autorität beraubt.“645 Beck betont, man müsse erst etwas herstellen, um es überhaupt überprüfen zu können. Es gehe deshalb nicht allein um forschungsethische Fragen, sondern um ein grundsätzlich neues Verständnis der Forschungslogik. Er will deshalb von Jonas wissen, wann Hypothesen eigentlich als bestätigt oder widerlegt gelten können; wer darüber entscheidet; wie viel Interdisziplinarität vonnöten sei, um Beurteilungen abgeben zu können; wer bei all diesen Entscheidungen welches Interesse verfolgt; und schließlich, wer die Rationalität von Urteilen verbürge. Auf Jonas’ Ethik bezogen fragt er sich, ob die Person als das weiterhin unterstellte Zentrum des Handelns denn noch der richtige Ansprechpartner sein kann, da sie kategorial nicht mit den Entwicklungen von heute übereinstimme: „Wie könnte eine Ethik aussehen, die nicht vor dem Problem steht, diese Entwicklungen in individuelles Handeln aufzulösen?“646 Das sind nicht von der Hand zu weisende schwerwiegende Einwürfe. Hans Jonas antwortet, eine Lösung sei, wie auch immer ein Problem für den Menschen aussehen mag, „nur auf dem Wege über die direkte Anrede und den direkten Austausch und die direkte Verständigung“ möglich. Nur über diesen Weg führe „überhaupt ein Weg zu irgendwelcher politischen Meinungsbildung.“647 Es gebe auf alle Fragen immer auch eine Antwort – in uns. Und man liest aus diesem Statement auch heraus: Sollten wir diesen Glauben aufgegeben haben, dann haben wir das Schicksal des Menschen gleichfalls aufgegeben. Dann sind wir nicht mehr zu retten. Etwa ein Jahr nach dieser intensiven Diskussion über Ethik im technischen Zeitalter folgt die Konstanzer Ehrendoktorwürde. In der Verleihungs645 Ebd., S. 28. 646 Ebd., S. 32. 647 Ebd.
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urkunde wird ihm der Titel „für seine überragenden Verdienste auf dem Gebiet der Philosophie“ verliehen. Dort habe er „existentialphilosophische Ansätze in eine Anthropologie“ weitergeführt, „die den Dualismus zwischen Materie und Geist überwinden und den Umgang des Menschen mit der Natur am Prinzip der Verantwortung orientieren“ wolle.648 Dann erleidet er im November 1991 einen Herzanfall. An Anders schreibt er: „Mit dem Kopf geht’s noch gut ... mit dem Herz mäßig, mit Lunge mühsam, mit Untergestell mies.“649 Man sollte in dieser Zeit vor allem die Rolle von Lore Jonas nicht unterschätzen. Sie ist längst nicht nur seine Ehefrau, sondern zugleich Beraterin, Begleiterin, Fürsprecherin und sein wichtigster Halt. Über die Jahre hat sie ihrem Mann den Rücken für seine Arbeit freigehalten, sich in klassisch zu nennender Rollenverteilung um die Kinder und das Haus gekümmert, Kontakte gepflegt und wann immer es möglich war, ganze Bibliotheken an Literatur verschlungen. Sie war eine unglaublich starke und charismatische Frau, die zeitlebens ein wenig darunter gelitten hat, dass sie selbst auf Grund der Vertreibung ihrer Familie aus Deutschland nicht die Ausbildung genießen durfte, die ihrem Intellekt und ihrem Verstande angemessen gewesen wäre: Als 17-Jährige muss sie Regensburg 1933 ohne Abitur verlassen. Ihr Vater Siegfried Weiner, der als Jurist Hans Jonas auch im Restitutionsverfahren unterstützt hat, kann seinen Beruf nicht mehr ausüben. Lore beschreibt ihren Vater als Menschenfreund und Sachwalter der Armen. Ein Mann, vorurteilsfrei und stolz, der wie Hans Jonas ein überzeugter Zionist gewesen ist.650 Früh erkennt er die Zeichen der Zeit und verlässt mit seiner Familie 1933 Deutschland. 1940 aberkennen die Nationalsozialisten Lores Mutter Paula Weiner (geb. Odenheimer) den Doktortitel in Nationalökonomie. Diesen hatte sie 1914 als 25-Jährige mit einer Arbeit über „Die Berufe der Juden in Bayern nach den Berufszählungen von 1882, 1895 und 1907“ erlangt.651 Nun, Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, unterstützt Lore Jonas ihren zwölf Jahre älteren und inzwischen ein wenig gebrechlicher gewor648 HJ 23-7-3. 649 Sieh KGA Band V, Brief vom 13. Februar 1992. Zitiert nach dem durch Christiane Auras bereitgestellten Manuskript. 650 Lore Jonas: Mein Vater, a.a.O. 651 UAM, M-II-38p, Promotionsakte Paula Odenheimer, 1914. In: www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de/monatsstueck/2014/dezember14/index.html (Abruf: 12. März 2016).
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denen Mann mit aller Kraft. Die 1992 erschienene Aufsatzsammlung „Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen“ ist Lore Jonas „in Dankbarkeit für ein halbes Jahrhundert täglich erneuten Glücks“ gewidmet.652 Bereits die Lehrbriefe aus den 1940er Jahren zeigen, dass Hans Jonas seine Frau immer als ebenbürtige Dialogpartnerin angesehen hat. Als solche ist sie nicht zuletzt für sein Werk von kaum zu überschätzender Bedeutung. In den „Erinnerungen“ erzählt Lore in ihrem Geleitwort eine kleine Anekdote, die aus den späten 1930er Jahren stammt, als sie Hans zum ersten Mal zum Essen einlud, er sich eine auf dem Tisch liegende Olive nimmt und anhand der Frucht ihr die Welt erklärt. Zu ihrem 80. Geburtstag, den Lore mit Freunden in Gstad in der Schweiz feiert, widmet ihr Heinrich Popitz ein Gedicht, das diese Begegnung wieder aufgreift. Darin heißt es unter anderem: Darf der Olive Lobpreis ich gedenken Mit dem der Hans das Mädchen einst gewann, Als er die grosse Welt aus kleinem Kern ersann, Aus dem sich alle Lebensgeister tränken? 653 Am 25. Mai 1992 sind beide, Hans und Lore, das letzte Mal in München. Hans Jonas hält dort im Prinzregententheater eine beeindruckende Rede zum Thema „Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts“.654 Die Philosophie, so Jonas, sei ohne Pauken und Trompeten in das 20. Jahrhundert eingetreten. Der Neukantianismus und Husserls Erkenntnistheorie, Nietzsche und Bergson seien nicht mit den Errungenschaften in der Physik, etwa Einsteins Relativitätstheorie, zu vergleichen. Das Erdbeben kam erst mit Heidegger. Doch dessen tiefsinnige existentialistische Deutung von Sein und Welt habe ihn nicht davor bewahrt, moralisch zu versagen. Der Zweite Weltkrieg und der Atombombenabwurf auf Hiroshima bilden für Jonas eine Zäsur auch für die philosophische Reflexion. Die moderne Technik, menschliches Handeln und gesellschaftliche Veränderungen rücken in den Fokus. Anders’ kritische Haltung zum technischen Fortschritt nennt er als paradigmatisches Beispiel für die veränderte Rolle der Philosophie. Er 652 Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a.M. 1992. 653 HP 14-3-3. 654 Vgl. HJ 8-26.
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schließt seine Rede mit der eigenen Philosophie, die die Zukunft des Menschen, der Natur und des Planeten Erde im Zeitalter der Katastrophen im Blick hat: „Was hat die Philosophie damit zu schaffen? Bisher hat sie Fragen nach dem guten Leben des Einzelnen, nach der guten Gesellschaft, nach dem guten Staat gefragt. Sie hat sich seit je mit dem menschlichen Handeln befaßt, soweit es Handeln von Mensch zu Mensch war, aber kaum je mit dem Menschen als einer handelnden Kraft in der Natur ... Und da sein Tun jetzt das Ganze bedroht, vermag er auch seine Verantwortung für den Fortbestand des Ganzen erkennen. Diese Erkenntnis zu pflegen und zu entwickeln wird zu einer Aufgabe der Philosophie.“655 Dieses Verständnis der neuen Rolle von Philosophie und der damit zusammenhängenden Bedeutung der vita activa bekräftigt er kurze Zeit später, im Juni 1992, noch einmal in Berlin, wo er am 11. Juni auf Initiative von Dietrich Böhler das Ehrendoktorat der Freien Universität Berlin empfängt. Jedoch überwirft er sich zugleich ein zweites Mal mit der Hebräischen Universität in Jerusalem bei der im Januar 1992 erstmalig stattfindenden Hans-Jonas-Konferenz. Das an der Hebrew University zu seiner Philosophie anberaumte Kolloquium hat Jonas als eine Geste der Versöhnung oder Wiedergutmachung interpretiert. Allerdings ist das Kolloquium nicht plakatiert und findet in einem abgelegenen Seminarraum statt, sodass die Referenten aus dem Ausland weitgehend unter sich waren. Daraufhin hat der einmal mehr vom Makkabäerzorn erfasste Hans Jonas die ganze Veranstaltung ins King David-Hotel umziehen lassen.656 Seine letzte Rede hält er dann am 60. Jahrestag der Machtübernahme Hitlers, am 30. Januar 1993 in Udine nahe Tarvisio, wo die jüdische Brigade, der er angehörte, im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang stationiert war. Der Titel seines faszinierenden Vortrags anlässlich der Entgegennahme des Premio Nonino: „Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung.“657 Seine Schlussworte klingen nach einem Vermächtnis: Angesichts all der Gefahren, die weiterhin virulent sind, wäre es eine Todsünde, fatalistisch zu sein. Es gilt 655 Hans Jonas: Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 36 et passim. 656 Angaben basierend auf einem Bericht von Walter Chr. Zimmerli, Auskunft per Mail vom 15. Juni 2015 an Vf. „Makkabäerzorn“ nutzt Jonas als Selbstbeschreibung in seinen Erinnerungen. 657 Hans Jonas: Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung. In: Dietrich Böhler (Hg.): Hans Jonas. Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend. Münster, S. 141-152.
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vielmehr, weiterhin wachsam zu sein und Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Nur wenige Tage später, kurz nach seiner Rückkehr nach New York, stirbt Hans Jonas. Es ist der 5. Februar 1993.658 „Ich habe“, hat er in seinen Erinnerungen gesagt, „ich habe zwar auf meinem Lebensweg Unglück erlitten, aber das hat mein Gesamtverhältnis zum Dasein als solchem, das im Grunde immer bejahend war, niemals verändert ... Diese Art freudiger Bejahung, die ich der Welt entgegenbringe und zu der ich mich einmal in einem Aufsatz über den »Adel des Sehens« ... bekannt habe, beruht auf der Überzeugung, daß sich das Sein – trotz des Schrecklichen und Gräßlichen, das zum Leben dazugehört – den Sinnen erschließt und Bewunderung und Erstaunen im Betrachter erregt, so daß er es letzten Endes mit einem Ja entgegennimmt.“ Und noch einmal gegen Heidegger gewendet: „Dieses Entfremdungsgefühl, wonach der Mensch ungefragt in diese Welt hineingeworfen ist und sich einem fremden, feindlichen oder sogar absurden Universum gegenübersieht, hat bei mir niemals richtig eingeschlagen.“659 Im Mai 1998 eröffnet die Universität Konstanz das Hans-Jonas-Archiv. Hans Jonas hat seinen Nachlass auf Anfrage des Kollegen Gereon Wolters an den Bodensee gegeben. Wolters schätzte insbesondere Jonas umfassende philosophiehistorische Gelehrsamkeit sowie seine Stellungnahmen zu Fragen über Leben und Tod. An Jonas gerichtet schreibt er im November 1988, es wäre für die Philosophie in Deutschland „ein großer Gewinn, wenn Sie verfügten, daß Ihr literarischer Nachlaß nach Ihrem Tod wieder in das Land zurückkehrt, in dem Ihr Leben und Ihr philosophisches Denken seinen Ausgang genommen hat, in das Land, in dem dieses Denken heute große und wichtige Wirkung ausübt, aber auch in das Land, dessen Bewohner Sie vor mehr als 50 Jahren vertrieben haben und Sie, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätten, ermordet hätten.“660 Solch klare Sätze schätzt Jonas und gibt sein Material an den Bodensee, nicht unbedingt zur Freude seiner Frau Lore, die sich jedoch mit der Zeit mit der Situation mehr als zufrieden zeigt und die Lage des Archivs am südlichen Rand Deutschlands nicht mehr so kritisch betrachtet wie zu Beginn. Die Stadt Mönchengladbach stellt am 3. Juni 1998, nur wenige Stunden nach dem tragischen ICE-Unglück von Eschede, ein Hans-Jonas-Denkmal 658 Todesanzeige in der FAZ vom 10. Februar 1993. 659 Jonas: Erinnerungen, S. 181f. 660 HJ 6-21-2, Brief vom 23. November 1988, Antwort Jonas am 31. Januar 1989.
ERSTER TEIL: LEBEN
auf. Bei der Übergabe der rund 100.000 DM teuren Darstellung des voranschreitenden Philosophen hält der damalige Bundespräsident Johannes Rau die Ansprache. Außerdem ehrt die Stadt Mönchengladbach Hans Jonas zu seinem 100. Geburtstag 2003 mit einem Hans-Jonas-Jahr. Dies alles geschieht noch zu Lebzeiten von Lore Jonas, die am 27. Januar 2012, dem 67. Jahrestag der Befreiung des „Konzentrationslagers“ Auschwitz, im Alter von 96 Jahren stirbt. Möglich, dass es, wie Hans Jonas einmal sagte, eine Art Chronik der Dinge gibt, in der nichts verlorengeht: „Ich glaube, die Seele ist die Seele dieses Leibes. Auch der Geist ist der Geist dieser leib-seelischen Einheit. So glaube ich also nicht, daß die individuelle Person mit dem Untergang, mit dem Sterben des Leibes irgendwo und irgendwie weiterleben kann. Was ich allerdings zu glauben geneigt bin ... ist, daß alles, was wir tun, unsere Taten, unsere Entscheidungen, unsere Schuld, in irgendeiner Form auch weiterlebt; daß das irgendwo registriert wird, daß es eine Art Chronik der Dinge gibt, in der nichts verlorengeht. Und das hat eine bestimmte sittliche Bedeutung ... Ich habe meine starken Gründe zu glauben, daß die Vergangenheit nicht ein pures Nicht-Sein ist. Eine Vergangenheit sammelt sich an, sättigt sich mit dem Geschehenen, insbesondere mit dem Gedächtnis unserer eigenen Taten. Und das ist ein Teil der Verantwortung.“661
661 Jonas: Erkenntnis, S. 144f.
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ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
5 HANS JONAS ALS ÖFFENTLICHE PERSON „Öffentlichk. nimmt dem einzelnen Dasein Urteilsbildung, Wertschätzung u. enthebt das einzelne Dasein der Aufgabe zu sein, Öff das Man übernimmt es...“662 Nicht allzu vielen Philosophen ist es vergönnt zu sehen, wie ihr Denken über den akademischen Elfenbeinturm hinaus öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Und nur wenige von ihnen haben eine solch große Resonanz in der Öffentlichkeit erfahren wie Hans Jonas. Das lag natürlich, doch nicht ausschließlich, an seinem Bestseller „Das Prinzip Verantwortung“, das der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt allen Bürgern zur Lektüre empfahl, und das 1979/80 „zu einem Ereignis der Medien“663 avancierte. „Sinn und Grenzen einer »neuen Moral« wurden von Rundfunkanstalten in Auftrag gegeben, in Zeitungen und Zeitschriften debattiert.“664 Ohne die vielen öffentlichen Auftritte des Philosophen Hans Jonas wäre es wohl wesentlich ruhiger um seine Person gewesen. Auch wenn sich erst mit dem 1981 erschienenen Buch „Die Frage Wozu“665 von Robert Spaemann und Reinhard Löw letztlich eine öffentliche Diskussion Bahn brach, „die sich Jonas als Wirkung seines eigenen Buches erhofft haben mag“666, so steht sein Verdienst, eine ethische Debatte über die Zukunft des Menschen befeuert zu haben, außer Frage. Dies lag nicht zuletzt an dem 1987 erhaltenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der den damals 84-Jährigen auch außerhalb der philosophischen Szene in ganz Deutschland bekannt gemacht hat. Die Verleihung des Preises an ihn sei auch ein „Indiz für das wachsende 662 HJ 18-2-2, Notizheft Hans Jonas zu Heideggers Prosa-Vorlesung 1925. 663 Frank Schirrmacher: Dürftige Hoffnung, daß die Menschen anderes wollten als ihren Untergang. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Preisverleihung 1987. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. Zu Helmut Schmidt sieh HJ 7-3-17. 664 Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. 665 Vgl. Robert Spaemann/Reinhard Löw: Die Frage Wozu, a.a.O. 666 Christian Geyer: Die Welt ist für mich niemals ein feindlicher Ort gewesen. In: FAZ vom 18. März 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
Bewußtsein von der Gefährdung des inneren Friedens.“667 Hans Jonas, der in der „Neuen Welt zu Ansehen und Größe emporgewachsen“668 sei, galt seither auch in seiner alten Heimat als bedeutender Philosoph. Die bundesweit erschienenen Artikel anlässlich seines Todes 1993 legen hiervon Zeugnis ab. In den öffentlichen Stellungnahmen geht es im Kern immer um die Frage: „Wie können wir unser Leben so gestalten, dass ein menschliches Leben auch in Zukunft möglich ist?“669 In den Vereinigten Staaten sah man in ihm gar den Wegbegründer der Grünen: „Seine Schriften trugen zur Entstehung der modernen Umweltbewegung bei und lieferten die philosophischen Grundlagen für die einflussreichste politische Erscheinungsform – die Partei der Grünen.“670 Das stimmt freilich nicht ganz, denn einerseits gab es die Umweltbewegung in Deutschland bereits vor der Veröffentlichung des „Prinzip Verantwortung“, andererseits gibt es im politischen Bereich ganz gewiss deutlich unterschiedliche Auffassungen zwischen Hans Jonas und den Grünen der frühen 1980er Jahre. Dennoch hat er auf die weitere öffentliche politische Diskussion einen nicht zu unterschätzenden Einfluss gehabt. Darüber hinaus wurde der „Lehrer des Friedens“ (Spaemann) durch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mönchengladbach zu einer niederrheinischen Autorität, die des Weiteren durch die Errichtung eines Denkmals in seiner Geburtsstadt gestärkt worden ist. Sein 100. Geburtstag und die Herausgabe einer Sonderbriefmarke durch die Deutsche Post 2003 bildeten in diesem Kontext einen vorläufigen Höhepunkt. In zahlreichen Fernseh- und Radiointerviews hat sich Hans Jonas vor allem in den 1980er Jahren immer wieder in öffentliche Debatten eingeschaltet und Stellung bezogen. Im Rahmen der Diskussion über technische Weiterentwicklung und medizinischen Fortschritt wollte er nicht zuletzt die Praxis des „Prinzip Verantwortung“ veranschaulichen. 667 Konrad Adam: „Natur als Einheit denken“ und „Die Pflicht zur freiwilligen Selbstbeschränkung“. In: FAZ vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 668 Karl-Jürgen Miesen: Ruf zur Bescheidenheit. In: Rheinische Post Mönchengladbach vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 669 Horst M. Becker im Gespräch mit Ralf Seidel: Jonas-Jahr zum 100. Geburtstag. In: Westdeutsche Zeitung vom 14.01. 2003. StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 670 HJ 21-13-3, David Nirenberg: Choosing Life. In: The New Republic, November 5, 2008, S. 39. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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Abb. 24: Hans Jonas in Mönchengladbach 1988 mit Oberbürgermeister Heinz Feldhege anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft, © Udo Dewies.
Das wohl bekannteste Interview mit ihm führte der damalige ZDF-Redakteur Ingo Hermann im Oktober 1980 in Bern.671 Es wurde am Tag des WM-Endspiels zwischen Italien und Deutschland, am Sonntag, den 11. Juli 1982, in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ unter dem Titel: „Philosoph und Soldat“ um 23 Uhr im Zweiten Deutschen Fernsehen erstmals ausgestrahlt.672 In dem sechzigminütigen Interview gibt Jonas insbesondere zahlreiche Hinweise auf seine eigene Biografie, die in das vorliegende Portrait bereits aufgenommen worden sind. Hier soll nun anhand einer Auswahl von Presse- und Zeitungsartikeln ein Bild von Hans Jonas nachgezeichnet werden, das die öffentliche Meinung sich im Laufe der Jahre von ihm gebildet hat. Dazu wurden insgesamt rund 750, teils mehrseitige Artikel und Berichte zwischen 1983 und 2015 gesichtet, die überwiegend dem Stadtarchiv Mönchengladbach, der Universitätsbibliothek Konstanz und dem Pressearchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung entnommen wurden. Den Schwerpunkt bilden die Jahre 1987 bis 2003, also die Zeit zwischen der Verleihung des Friedenspreises und dem „Hans Jonas-Jahr“, das die Stadt Mönchengladbach anlässlich des 100. Geburtstages initiiert hat. Prägnante, immer 671 Vgl. HJ 6-3. Allerdings nennt HJ 3-3 den September 1981. 672 Vgl. www.tvprogramme.net/80/1982/19820711.htm (Abruf am 10. Juni 2015). In HJ 4-617 wird im Lebenslauf allerdings der 5. Oktober 1987, ZDF 23 Uhr, genannt.
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wiederkehrende oder sehr einprägsame Urteile über Hans Jonas als Person als auch über sein Leben und seine Philosophie sind im Folgenden in einer Art wissenschaftlich gesicherter Textcollage zusammengefügt. Aus den vielen Stimmen ergibt sich so ein Gesamtbild des Philosophen und Menschen Hans Jonas, wie es die Öffentlichkeit geprägt hat. Zu dieser Öffentlichkeit zählen neben den unzähligen Journalisten auch einige Fachkollegen, die das Wort jenseits der scientific community ergriffen und ihren subjektiven Eindruck von Hans Jonas einem breiten Publikum dargelegt haben. Ausgeblendet bleiben hier ganz bewusst Artikel, die sich insbesondere mit seinem Werk aus wissenschaftlicher Perspektive auseinandersetzen. Sie sollen in Kapitel 8 zu Wort kommen.673 Liest man die Zeitungsartikel über Hans Jonas aufmerksam, so kristallisieren sich neben den thematischen Schwerpunkten drei Aspekte heraus, die ich im Folgenden aufgreifen möchte. Es handelt sich hierbei um Einschätzungen bezüglich seiner Person, um eine Würdigung seiner Philosophie/Ethik sowie um die Frage nach der Aktualität seines Denkens, die sich in der Öffentlichkeit zumeist in Gestalt der Ehrung und des Nachruhms äußert. Nicht immer lassen sich diese drei Punkte eindeutig voneinander abgrenzen. Die Einteilung erfolgt insofern mit einer nicht ganz zu vermeidenden Künstlichkeit, die sich darum bemüht, thematische Zusammenhänge gebündelt zu präsentieren. Wohlgemerkt behandelt nicht jeder Beitrag alle drei genannten Aspekte. Wo dies dennoch der Fall ist, wurde der Text seziert und einzelne Passagen dem jeweiligen Bereich zugeordnet. In der Regel aber werden vor allem aus den kürzeren Texten nur sehr knappe Aussagen zitiert und in einem neuen Zusammenhang mit ähnlich lautenden Einschätzungen präsentiert. Es versteht sich, dass die einzelnen Beiträge sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrer Qualität stark divergieren. Es finden sich gebildete, eloquente, auf sehr hohem Niveau geschriebene Portraits, etwa von Rachel Salamander, Christian Geyer, Martin Meyer oder Frank Schirrmacher, ebenso wie Artikel, die inhaltlich falsch, oder, im schlimmsten Fall, aus einer anderer Quelle ungeprüft und ohne Kenntnis der Sache übernommen worden sind. So geschehen bei der doch etwas mysteriös klingenden Umschreibung, Hans Jonas sei ein „pessimistischer Optimist“ gewesen, die sich in unzähligen Zeitungsberichten wiederfindet, ohne dass auch nur eine einzige Quelle zu sagen vermochte, was darunter eigentlich zu verstehen ist. Es geht mir al673 Sieh dazu die knappen Einlassungen in Kapitel 8.
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lerdings weniger darum, eine grundsätzliche Kritik des Wissenschafts-Journalismus am Beispiel von Hans Jonas zu betreiben. In der Regel werden unbrauchbare Quellen erst gar nicht zitiert. Zum Gesamteindruck der Texte lässt sich vorab folgendes Fazit ziehen: Findet die kritische Auseinandersetzung weitestgehend in akademischen Kreisen statt, so ist die öffentliche Meinung – als Summe der veröffentlichten Meinungen – durchweg positiv gestimmt gegenüber den Einschätzungen und Forderungen von Hans Jonas als „Mahner vor der Katastrophe“. „Vielleicht“, so heißt es bei seinem Tod 1993, „steht dem in Mönchengladbach geborenen ... Gelehrten die große Zeit noch bevor.“674 Und diese Zeit muss nicht zwangsläufig vom „Man“ regiert sein, wie es Heidegger in seiner eingangs zitierten Prosa-Vorlesung 1925 befürchtete.
I
Zur Person
In seiner Wissenschaftslehre von 1810 betont Johann Gottlieb Fichte: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt ... davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“675 Person und philosophische Überzeugung sind nicht voneinander zu trennen. Sie bilden eine Einheit. Der Mensch, der sich für eine Philosophie bewusst oder unbewusst entscheidet, wählt mithin jene, die zu ihm, zu seiner Persönlichkeit, am besten passt. Dass jemand ein wertorientierter Moralphilosoph, doch gleichzeitig ein Misanthrop sein kann, soll hier lieber verschwiegen werden. Denn auf Hans Jonas traf dieser innere Widerspruch keinesfalls zu. Der Satz Fichtes ist aber auch aus anderer Richtung zu verstehen: Jede Ethik ist nur als gelebte Philosophie glaubhaft. Dies wiederum galt für Hans Jonas in ganz besonderer Weise. Es ist daher – trotz der zunächst unvermuteten Nähe676 – nicht verwunderlich, dass Christian Geyer seinen Artikel 674 Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde. Wider die Tollheit des Nihilismus. In: FAZ vom 8. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 675 Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse 1810. Einleitung, §5. Frankfurt a.M. 1976. 676 Allerdings hat Vittorio Hösle auch für die von Karl-Otto Apel inaugurierte Transzendentalpragmatik, die nicht zuletzt eine Nähe zu Jonas aufweist, festgestellt, sie sei ein „Fichteanismus der Intersubjektivität“. Vittorio Hösle: Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 40, 1986, S. 235-252.
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über Hans Jonas (März 2003) mit dem Fichte-Zitat beginnen lässt. Leicht abgewandelt und allgemeinverständlich formuliert heißt es dort: „Welche Philosophie einer treibt, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist.“ Hans Jonas hat bekanntlich die Einheit von Leben und Werk bei Heidegger vermisst und moniert, die Kluft zwischen der Revolution der Philosophie, die Heidegger inauguriert, und die Person, die diese Philosophie betrieben habe, sei gravierend gewesen. Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus relativiere insofern die Errungenschaften seines philosophischen Denkens. Fichtes Satz von der Einheit von Person und Philosophie sowie Jonas’ Heidegger-Kritik ziehen notgedrungen die Frage nach sich, was für ein Mensch der Verantwortungsethiker Jonas selbst war. Geyer gibt eine simple, nicht näher erläuterte, dennoch tiefsinnige Antwort: „Jonas war ... ein guter Mensch.“ Mehr muss man über die Person Hans Jonas möglicherweise auch gar nicht sagen. Geyer fragt jedoch weiter: „Soll man sagen: Er hatte einen Zug ins Goldige? Zeitlebens bewahrte er sich einen kindlichen Blick, der ihn die Dinge immer wieder neu ansehen ließ.“ Es folgt ein Urteil, das nicht endgültig aufzuschlüsseln ist: „Und er hat ganz offensichtlich das Kunststück vollbracht, weniger als andere empfindende Geister von den eigenen Abgründen gefangengenommen zu werden, ohne daß diese ominöse Unversehrtheit seine Erfahrungsfähigkeit beeinträchtigt hätte.“ Zunächst: Was ist mit den eigenen Abgründen gemeint? Es bezieht sich offensichtlich auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Doch mit Sicherheit hat gerade diese Zeit ihn gefangengenommen und gar nicht so unversehrt zurückgelassen, wie Geyer vermutet. Aus diesem dunklen Abschnitt seines Lebens hat er allerdings seine philosophischen Thesen geformt und seine Philosophie weitergedacht. Bereits im Krieg, umgeben von Trauer, Tod und Elend, dachte er, wie gezeigt, über das Leben nach. Geyer spricht ihm deshalb einen „Respekt gebietenden Gestus des Überhellen“ zu, mit dem er „sein philosophisches Programm ausleuchtete.“677 Diese Einschätzung korrespondiert mit Rachel Salamanders Portrait, das sie auch den Erinnerungen von Hans Jonas in ihrem Vorwort voranstellt: „In Hans Jonas waren die großen Geister des gelehrten einstigen deutschen Judentums wieder präsent, die es in alle Erdrichtungen verschlagen hatte und uns hier fehlen.“678 Der »Exodus der Kultur« (Möller), das Fehlen der 677 Christian Geyer: Die Welt ist für mich niemals ein feindlicher Ort gewesen, a.a.O. 678 Rachel Salamander: „Donnerwetter, so?, so?“ In: Die Welt vom 12. April 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Text aus dem Vorwort der „Erinnerungen“.
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intellektuellen jüdischen Stimmen nach dem Zweiten Weltkrieg, hat zweifellos auch die deutsche Philosophie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. In der Person von Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas, Hans-Georg Gadamer, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch und anderen waren nicht zuletzt Stimmen zu vernehmen, die mit ihrer Philosophie eine Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus und den Völkermord an den europäischen Juden suchten und in Begriffe wie „Diskurs“, „Kommunikationsgemeinschaft“, „Wahrheit als Methode“, „Kritische Theorie“ und „Utopie“ kleideten. Auch Hans Jonas’ Begriff der Verantwortung ist als eine Antwort auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu lesen. Die Geschichte, so David Nirenberg, habe ihn gelehrt, dass die Verteidigung des Judentums aus diesem Grunde stets auch eine Verteidigung des Lebens schlechthin gewesen sei.679 Dass er „einer der letzten großen jüdischen Denker“680 gewesen sein sollte, wie Wolf Scheller glauben machen möchte, leuchtet hingegen nicht wirklich ein, da die jüdischen Stimmen trotz des Völkermords der Nationalsozialisten zum Glück nicht gänzlich verstummt sind. Aus diesem Grunde war er auch keineswegs „einer der letzten großen jüdischen Denker, die ihre Heimat in Deutschland hatten“681, wie es in einem anderen Artikel unbekannter Herkunft zu lesen ist. Denn es gab eine ganze Reihe jüdischer Intellektueller, die noch rechtzeitig emigrieren konnten. Darüber hinaus hätte Hans Jonas auch nicht von seiner „Heimat“ gesprochen. Deutschland war einst eine solche Heimat, aber nach 1933 lag seine Heimat woanders: In Jerusalem, in Kanada, in den USA, ja, aber nicht mehr in Deutschland. Treffender scheint es insofern, ihn als „eine der letzten großen Stimmen der Epoche“682 zu charakterisieren, oder aber festzustellen, sein „bewegtes Leben“ stehe „beispielhaft für das Schicksal vieler jüdischer Gelehrter dieses Jahrhunderts.“683 In welchem Verhältnis der Philosoph zu seiner Epoche stand, zeigt Martin Meyer, wenn er schreibt: „Jonas’ ... Biographie ... bildet die Epoche in ih679 HJ 21-13-3, David Nirenberg: Choosing Life. In: The New Republic, November 5, 2008, S. 43. Im Original Englisch. 680 Wolf Scheller: Fernethiker. In: Der Tagesspiegel vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 681 Würdigung erst im hohen Alter, StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490, ohne weitere Angaben. Bei Quellenangaben ohne Namensnennung fehlen diese auch im entsprechenden Artikel. 682 Wolf Scheller: Fernethiker, a.a.O. 683 Der Verantwortung stets verpflichtet. In: Hamburger Abendblatt vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490.
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rer Zerrissenheit ab.“ Zwei Weltkriege, Kalter Krieg, die goldenen 20er und 60er Jahre, ein Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie, Aufstieg und Fall politischer Systeme mit beinahe barocken Zügen: „Gnostisches Denken ... zwischen Entzweiung und Erlösung, Göttersturz und Hoffnung durchzieht das frühe 20. Jahrhundert, zumal in der Gegenbewegung wider den Positivismus der modernen, messenden und rechnenden Naturwissenschaft.“684 Tatsächlich ist die Auseinandersetzung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften auch ein Indiz für diese Zerrissenheit. Der beinahe verzweifelte Angriff zahlreicher Philosophien auf den Positivismus geht indes auch nach den Kriegen weiter, paradigmatisch abzulesen an Adornos Bildungstheorie,685 mit der sich Jonas in der Sache durchaus einverstanden erklärt, zumal er zeitlebens auch als „einer der berühmtesten philosophischen Kritiker der modernen Naturwissenschaft“686 galt. Ob zu Recht, sei dahingestellt, denn seine eigenen Studien weisen stets ein durchaus profundes Wissen naturwissenschaftlicher Forschungen auf, die er insbesondere für seine Aufsätze über das Phänomen des Lebens fruchtbar gemacht hat. Insofern fällt nicht zuletzt sein Resümee in Bezug auf die Naturwissenschaften anders, differenzierter aus als in Adornos Bildungstheorie. Auch lag Jonas die „prophetische Geste ... nicht“687, die doch bei Adorno hin und wieder aufblitzt. Als öffentlich stark diskutierter Philosoph scheint Jonas zeitlebens eine Ausnahmeerscheinung zu sein, die einige Kommentatoren dazu verleitet, den Ethiker als eine Art Fremdkörper in der Gesellschaft zu betrachten. So zieht die Bonner Rundschau wenige Tage nach Jonas’ Tod ein Fazit, das einer gewissen Komik nicht entbehrt. Darin heißt es, sein „Hirn [brüte] keine Patentrezepte aus. Dennoch hatte sich der Philosoph Hans Jonas ... an das Titanenwerk einer modernen Ethik gewagt.“688 Das klingt gerade so, wenn auch gut gemeint, als ob Ethiker gemeinhin bloß Patentrezepte ausbrüteten 684 Martin Meyer: Ein mögliches Vermächtnis. In: Neue Zürcher Zeitung vom 14. Mai 1993. Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde. Wider die Tollheit des Nihilismus. In: FAZ vom 8. Februar 1993. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 685 Theodor W. Adorno: Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung. In: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 10.2: Eingriffe. Frankfurt a.M. 2003. 686 Philosoph Hans Jonas starb in New York. In: Welt am Sonntag vom 7. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 687 Hartmut Wilmes: Menschen müssen Macht und Genuß zügeln. In: Bonner Rundschau vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 688 Ebd.
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und es schon titanischer Anstrengungen bedürfe, um Richtlinien moralischen Handelns in der Gesellschaft wirksam werden zu lassen. Tatsächlich schien die Beschäftigung mit wissenschaftlich fundierten ethischen Fragestellungen ausgerechnet in einer Phase moralisch wie politisch spannungsgeladener Debatten wie in den 1970er und 1980er Jahren nahezu ein Niemandsland in der Öffentlichkeit zu sein. So avanciert der „Philosoph vom Niederrhein“689 binnen Kurzem zum „Kundschafter im Niemandsland der Ethik“690 wie auch zu einem „bedeutende[n] Geist der Philosophiegeschichte.“691 Betont wird in diesem Zusammenhang immer wieder, dass Hans Jonas Züge des Pathetischen vermissen lässt. Seine Reden sind keine festlichen Vorträge, die sich bloß als rhetorische Geste verstehen. In einem vertraulichen Schreiben der Army School of education (C.M.F.) heißt es bereits 1945, Jonas sei ein geborener Lehrer mit einem exzellenten Verstand. Er kombiniere Expertenwissen mit der Fähigkeit, dieses an Andere weiterzugeben.692 Die Aura seiner Auftritte ist von ganz anderer Natur. So kommt Konrad Adam wenige Tage vor der Verleihung des Friedenspreises an Jonas zu der Einsicht: „Der deutsch-amerikanische Naturphilosoph“ gehe „weit über die gewohnte Panegyrik ... hinaus.“693 Das mag an seiner „bestechend klare[n] Sprache“694 liegen, von der nicht zuletzt Rachel Salamander im Vorwort der „Erinnerungen“ geschwärmt hat, als sie mit Hans Jonas über dessen Lebensweg sprach.695 Man liest darüber auch in David Levys Einführung in das Denken von Hans Jonas. Die Klarheit seiner Sprache, so Levy, korrespondiere der Rechtschaffenheit seiner Gedanken. Anders als etwa Voegelin 689 Philosoph vom Niederrhein. In: Aachener Nachrichten vom 7. Mai 2003. StAMg HansJonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 690 Hans Maier: Kundschafter im Niemandsland der Ethik. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Preisverleihung 1987. „Natur als Einheit denken“ und „Die Pflicht zur freiwilligen Selbstbeschränkung“. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490; KGA I/2, S. 257ff. 691 Angela Pontzen: Kardinal gab Auftrag zum Weiterdenken. In: Stadtspiegel vom 16. Juli 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 692 HJ 13-40-39, Schreiben ohne genaues Datum, vermutlich Herbst 1945. Im Original Englisch. 693 Konrad Adam: „Natur als Einheit denken“ und „Die Pflicht zur freiwilligen Selbstbeschränkung“. In: FAZ vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 694 Armin Kaumanns: Die Furcht der Zuversicht. In: Westdeutsche Zeitung vom 10. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 695 Rachel Salamander: Vorwort zu den Erinnerungen von Hans Jonas, a.a.O.
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oder Heidegger käme Jonas ohne Neologismen aus, die den Leser manches Mal ratlos und irritiert zurückließen. In seinen philosophischen Diskursen zeige sich Jonas nur insofern als Exzentriker als er jegliche Exzentrik strikt vermeide. Deshalb sei bei der Lektüre auch Geduld und intellektuelle Aufmerksamkeit gefragt: „In diesem Sinne ist er ein tiefgründig weltlicher Philosoph, dessen Füße fest auf dem Boden stehen wenn sein Blick auf die Sterne gerichtet ist.“696 Ähnlich urteilt auch die Rheinische Post. Hans Jonas, heißt es dort, sei ein „stiller, fester Mann“ gewesen, dem das Pathos und „die rhetorischen Bauteile“697 nicht lagen. Lore Jonas erklärt noch im Jahr 1998, ihr Mann sei „ein ganz gewöhnlicher Schüler“ gewesen. Und als sei dies ein Ausdruck der Gewöhnlichkeit, fügt sie hinzu: „Ursprünglich wollte er Maler werden.“698 Doch gerade das scheinbar Gewöhnliche, die Bescheidenheit bei öffentlichen Auftritten, verbunden mit einer nahezu druckreifen wörtlichen Rede in seinen Gesprächen, erzeugen eine ganz eigene, nicht minder faszinierende Rhetorik, die Jonas immer wieder einzusetzen versteht. Die Süddeutsche Zeitung bringt es in ihrem Nachruf auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Hans Jonas gehörte zu jenen Gelehrten, die ihre Zuhörer unfehlbar in Bann schlagen. Ihn umgab die Aura einer Weisheit, die mehr ist als Buchwissen.“699 Er selber jedoch ist der Meinung, er gehöre nicht zu den ganz Großen.700 Seine Heimatstadt Mönchengladbach hat hingegen erst spät erkannt, welche überregionale Bedeutung Hans Jonas hat. Als sich die Stadt intensiv mit Jonas auseinanderzusetzen beginnt, erhofft man sich, das öffentliche Bild von Hans Jonas könne nicht zuletzt der Stadt ein positives Image verleihen. Man würdigt ihn in Gladbach fortan nicht nur als „bedeutenden Wissenschaftler“, sondern vor allem als einen „großartigen“ Menschen, dessen „herzliche und freundliche Art“701 unübersehbar sei. Mönchengladbachs damaliger Oberbürgermeister Heinz Feldhege stimmt in diesen 696 David J. Levy: Hans Jonas. The Integrity of Thinking. Columbia/London 2002. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 697 Helmut Möller: Wer Verantwortung haben kann, der hat sie. In: Rheinische Post vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 698 Barbara Kaim-Grüneisen: Ein ganz gewöhnlicher Schüler. In: Rheinische Post vom 7. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 699 Stephan Wehowsky: Mut zur Verantwortung. In: SZ vom 8. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 700 Maria Popitz, Telefoninterview vom 18. April 2016. 701 Sohn der Stadt. In: FAZ vom 25. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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Lobgesang in seinem Nachruf auf den „berühmten Sohn der Stadt“ ein: „Hans Jonas war nicht nur ein bedeutender Wissenschaftler, sondern auch ein großartiger Mensch. Seine herzliche und freundschaftliche Art waren beeindruckend. Er war ein Freund der Stadt.“702 Zu Beginn der 1980er Jahre sah dies noch ganz anders aus. Damals schrieb die Journalistin Irene Meichsner über den „Philosoph von Weltgeltung“ und monierte mit Blick auf Gladbach: „Als Professor Hans Jonas vor knapp fünf Monaten sein 80. Lebensjahr vollendete, fand dies in der Stadt nirgendwo Erwähnung.“703 Erst mit dem Friedenspreis ändert sich dies grundlegend. Nun soll Hans Jonas’ Name der Stadt überregionale „Strahlkraft“ verleihen.704 Einen Beitrag hierzu leistet auch Karl Kardinal Lehmann, der Jonas in Mönchengladbach als „visionär“ adelt und konstatiert: „Dass er wieder die Hand gereicht hat zur Versöhnung, war eine große Lebensleistung“705 Walther Chr. Zimmerlis Beitrag 1993 zum Tod des Freundes zielt in eine ähnliche Richtung. Hans Jonas ist für Zimmerli „Gelehrter und Lehrer, Weiser und Seher“, aber auch „Mahner“. Zimmerli kommt mit Blick auf das Schicksal der Familie Jonas zu dem Schluss, das „deutsche Geistesleben“ habe sich „von der Emigration der jüdischen Intellektuellen nie wieder ganz erholt.“706 Wäre es bloß die Emigration in den 1930er Jahren, die das Geistesleben in Deutschland geschwächt hat. Es war jedoch insbesondere der Genozid an den europäischen Juden, der die deutsche Kunst und Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Denn in Philosophie, Geschichte, Religion und Literatur fehlte dem Geistesleben ein wesentliches Element. So ist zwar richtig, dass es allem voran jüdische Intellektuelle waren, die noch gerade rechtzeitig fliehen konnten, aber auch auf der Flucht und in den Konzentrations- und Arbeitslagern sind jüdische Intellektuelle zahlreich ums 702 „Er war ein großer Wissenschaftler und Freund der Stadt.“ In: Rheinische Post vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Sieh auch: Barbara Kaim-Grüneisen: Ein Freund der Stadt, StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Die Stadt überlegt 2003 zudem, einen Hans-Jonas-Preis auszuloben. Realisiert wird ein Schülerwettbewerb. 703 Irene Meichsner: Ein Philosoph von Weltgeltung. In: Westdeutsche Zeitung vom 28. September 1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. 704 Armin Kaumanns: Für strahlenden Philosophen Paket geschnürt. In: Westdeutsche Zeitung vom 22. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 705 Zitiert nach Sophia Willems: Beim ersten Schritt sind wir noch frei. In: Westdeutsche Zeitung vom 12. Juli 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 706 Walther Chr. Zimmerli: Wenn die Schöpfung scheitert. In: Die Welt vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490.
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Leben gekommen. Viele jüdische Emigranten sind verständlicherweise nie mehr nach Deutschland zurückgekehrt. Hans Jonas ist das immer bewusst geblieben. Das weiß auch der Mönchengladbacher Arzt und Vorsitzende (2016) der Hans-Jonas-Gesellschaft, Ralf Seidel. Er spricht von einem „empfindlichen Leben“, das durch die Kriegserfahrungen geprägt ist. Eine Empfindlichkeit, mit der Feinfühligkeit und Empfänglichkeit für die Dinge, die die Welt gestalten, gemeint sind. An dieser Stelle zeigt sich wiederum die von Fichte beschworene Einheit von Person und Philosophie. Denn seine Ethik, so Seidel, nehme vom Leben ihren Ausgang.707 Dieses Leben, das Jonas mit „sympathischer Offenheit“708 durchbuchstabiert, ist voller Zuversicht, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er bis ins höchste Alter hinein die Fähigkeit zu staunen sich bewahrt: „Über jeden Sonnenaufgang, über die Natur und ihre Schönheiten freute er sich. Wer ihn gekannt hat, der vermisst ihn“,709 bringt es Seidel in einem Gespräch kurz nach seinem Tod auf den Punkt. Jonas’ Denken sei „aus einem Guss“,710 bemerkt die Rheinische Post. Seine Person aber ist wandlungsfähig. So habe er sich in seinem Leben vom „kindlichen Patrioten“ zum „nachdenklichen Menschen“ entwickelt. Durch Heinrich Lerschs Gedicht „Verdun“, das „die Sinnlosigkeit und Brutalität des Krieges erkannte“711, sei der „Kommanditist einer mittelständischen Weberei“,712 nachhaltig beeinflusst worden. In dem Gedicht heißt es zu Beginn: „Von den rotblühenden Bäumen im Park die brennenden Blüten sinken. In Glut, Duft und Farbe der Augen lenzfrohe Stunden ertrinken; Von Sehnsucht eil sucht sich die Seele lichtweite Fernen, um einsamkeitstrunken die Welt wieder lieben zu lernen...“ 707 Ralf Seidel: Hans Jonas. Sein Prinzip hieß Verantwortung. In: Rheinische Post vom 31. Dezember 2002. StAMg: Hans Jonas-Jahr 2003, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 708 Haug von Kuenheim: Sorge muß das Handeln leiten. In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 709 „Staunen und das Leben lieben lernen“. Sophia Willems im Gespräch mit Ralf Seidel. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 710 Markus Vogt: Denken aus einem Guss. In: Rheinische Post vom 6. Juni 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 711 Hans-Jonas-Jahr. In: Mönchengladbach aktuell, Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 712 Horst M. Becker: Jonas-Jahr zum 100. Geburtstag. In: Westdeutsche Zeitung vom 14. Januar 2003. StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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Dann aber fragt einer der Fabrikarbeiter nach Verdun: „Verdun! – Mich würgte das Wort wie schnürender Haß – Verdun! – Verdun, – so röcheln Soldaten, die mit zerschossenen Lungen sterben. Verdun – Verdun – so trauern die Trommeln, die neue Kameraden werden...“ Und am Ende heißt es: „Mein Hirn träumt eine Flamme! – laßt mich! es ist Nacht! ich will ruhn.– Die Nacht murmelt und raunt wie aus dunklen Brunnen: »Verdun,– Verdun.«“713 Zur Zuversicht in Bezug auf das Leben kommt Nachdenklichkeit hinsichtlich des richtigen Umgangs mit dem durch Krieg, Technologie und Umweltzerstörung bedrohten Leben hinzu. Es mochten die Kriegserfahrungen von Hans Jonas gewesen sein, die in ihm zeitlebens einen gewissen Zweifel an den Überzeugungen und Zielen machtgesteuerter Politik wachhielten. Der Nachruf in der Hannoverschen Allgemeinen sieht in ihm denn auch einen „Zweifler in der Zwielichtzone des Politischen.“714 Doch auch als Kritiker der Politik und politischer Theoretiker ist Jonas niemals der „aufsässige Rebell“, allenthalben ein „unbequemer Mahner“,715 „Warner vor dem Fortschritt“716, „ein guter Philosoph“, dessen „abwägender wie ausholender Stil“717 über Fachkreise hinaus hohe Anerkennung genießt. Er gehört, so nochmals die Rheinische Post, zu den „bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.“718 Es gibt allerdings durchaus auch einige missglückte Vergleiche. Genannt seien nur ein paar Beispiele: So bilde Hans Jonas, gemeinsam mit Joachim 713 Heinrich Lersch: Gedichte, a.a.O., S. 127f. 714 Ein Zweifler in der Zwielichtzone des Politischen. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 715 Die Mahnung. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 12. Oktober 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. 716 Matthias Hoenig: Warner vor dem Fortschritt. In: Offenburger Tageblatt vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 717 Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde, a.a.O. Adams Lobgesang auf Jonas überrascht heute insofern als Adam 2013 zu einem der Sprecher/Parteivorsitzenden der europakritischen, rechtskonservativen Partei „Alternative für Deutschland“ wurde, deren Programm alles andere als zukunftsorientiert und verantwortungsvoll zu nennen ist. 718 Barbara Kaim-Grüneisen: Bürger feiern den Ehrenbürger. In: Rheinische Post vom 21. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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Ritter und Theodor W. Adorno, beide im gleichen Jahr wie Jonas geboren, ein „Dreigestirn des Geistes“; der „abtrünnige Heidegger-Schüler“ Jonas sei ein „Glückskind in der Mitte – zwischen Ritter und Adorno.“719 Wie Lersch, so unterzeichnete auch der Hamburger Philosoph Joachim Ritter ein Bekenntnis zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat.720 Nichts liegt allein aus diesem Grunde ferner als die jüdischen Philosophen Jonas und Adorno mit Ritter zu einem „Dreigestirn des Geistes“ zu erklären, nur weil sie im selben Jahr geboren wurden, so wie es wesentlich zu kurz gegriffen wäre, „Jonas ... lediglich als Anti-Bloch“721 oder, wie in Fachkreisen oft geschehen, lediglich als „Verantwortungs-Jonas“722 zu begreifen. Ebenso eigensinnig ist die bereits erwähnte Umschreibung, Jonas sei ein „optimistischer Pessimist“ gewesen, wie dies anlässlich der Verleihung des Friedenspreises kolportiert und bei jeder sich bietenden Gelegenheit rezitiert worden ist. All die Zeitungen, die sich dieses Oxymorons bedienen, sind gar nicht aufzuzählen. Genannt seien die Ruhr Nachrichten Dortmund, der Südkurier Konstanz, die Nürnberger Zeitung, die Mittelbayerische Zeitung Regensburg, der Fränkische Tag Bamberg, das Darmstädter Echo, die Cellesche Zeitung, die Wetzlarer Neue Zeitung, die Pirmasenser Zeitung, die Ludwigsburger Kreiszeitung, die Heilbronner Stimme, die Kehler Zeitung und das Main Echo – stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer.723 Auch die Aachener Zeitung überrascht die Leser, wenn sie 1993 schreibt, Hans Jonas sei „nach langer Emigration“724 verstorben. Nicht nur, dass dies schlicht falsch ist; es liest sich so, als wäre Emigration eine Krankheit, an der man sterben könne. Unklar bleibt auch, inwiefern Hans Jonas als „Al719 Stephan Sattler: Dreigestirn des Geistes. In: Focus vom 5. November 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 720 Dazu: Helmut Kuhn u.a. (Hg.): Die deutsche Universität im Dritten Reich. München 1966; Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a.M. 2005. 721 Julia Schröder: Als ob es eine Chance gäbe. In: Stuttgarter Zeitung vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 722 Marlis Haase: Kampf für das Leben in Würde. In: Welt am Sonntag vom 7. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 723 StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 724 Hans-Jonas-Jahr. In: Aachener Zeitung vom 24. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Gleichlautend in den Aachener Nachrichten, der Süddeutschen Zeitung und der Neuen Ruhrzeitung vom selben Tag. Und auch bei Hildegard Kremer: Das »Prinzip Verantwortung«. In: Der Weg vom 5. September 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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ter Meister“ gelten soll, bei dem die Gefahr bestünde, „dass sich seine Rezeption auf die Rolle des Mahners und Stichwortgebers für Sonntagsreden beschränkt.“725 Abseits dieser doch recht eigenwilligen Interpretationen und Vergleiche gilt, was Marion Gräfin Dönhoff über den Freund und sein Vermächtnis sagte: „Hans Jonas war in seinem Leben immer mit ganzem Herzen und allen Sinnen engagiert.“ Es folgt der eingangs bereits zitierte Satz: „Wer wird jetzt ... lichte Schneisen schlagen in das Dickicht unserer Tage?“726
II Stimmen zur Philosophie und Ethik von Hans Jonas
„Was für eine Philosophie man wähle, hängt ... davon ab, was man für ein Mensch ist.“ In dem Versuch, einige repräsentative Stimmen einzufangen, die den Menschen Hans Jonas portraitieren, ist bereits deutlich geworden, dass ein solches Portrait untrennbar mit seiner Philosophie verschmilzt. Doch nicht nur der Mensch und seine Ideen, sondern ebenso seine Umwelt und seine in ihr gemachten Erfahrungen formen diese Beziehung grundlegend. Das Schicksal hat Hans Jonas „übel mitgespielt, aber das hat ihn nicht gelähmt, nicht verhärtet. Der unverstellte Angriff auf das Leben während der Nazizeit ließ ihn das Leben und seine Würde neu sehen, die Kostbarkeit des integren Organismus neu und tief begreifen. Der Organismus – das ist nicht nur der des Individuums, sondern auch der der Welt. Alles gehört zusammen, ist, sich im Formenspiel durchhaltend, Eines.“727 Hans Jonas, der seit 1930 „mit düsteren Himmeln und gottfernen Welten vertraut“ sei, musste die „Verfinsterung der ureigenen Lebenswelt“ miterleben. Sein „Prinzip Verantwortung“ ist die Summe seiner Antworten auf diese Verfinsterung und nicht zuletzt ein „Aufstand gegen die »Machtergreifung der Technologie«.“728 Welche Konsequenzen dieses Denken nach sich zieht, erläutert Hans Maier mit den Worten: „Führen, wohin du nicht willst – so könnte man 725 Markus Vogt: Alter Meister – für die Gegenwart betrachtet. In: Rheinische Post vom 22. September 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 726 Marion Gräfin Dönhoff: Versuch einer neuen Ethik. In: Die Zeit vom 12. Februar 1993. Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde. Wider die Tollheit des Nihilismus. In: FAZ vom 8. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 727 Helmut Möller: Wer Verantwortung haben kann, a.a.O. 728 Andreas Rosenfelder: Zum Guten, a.a.O.
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über das Leben des Gelehrten Hans Jonas schreiben ... Hans Jonas ist heute davon überzeugt, daß es dunkel gefühlte Analogien waren, die ihn in das gnostische Labyrinth gelockt hatten“729, sowohl dem antiken als auch dem modernen Nihilismus wesensverwandt. In einem Interview mit Wolf Scheller Ende 1992 resümiert Jonas selbst, er habe „dazu beigetragen, ein Bewußtsein dafür zu wecken“, dass es das Problem der Weiterwohnlichkeit der Welt gibt und sich menschliches Verhalten „im großen Maßstab“ ändern müsse. „Die Philosophie eignet sich vortrefflich zur Prophylaxe“, denn sie biete „wissenschaftliche Erkenntnis mit den damit verbundenen Empfehlungen“ und schärfe ein „allgemeines Bewusstsein“, auch für Einsichten der Politik, die auch „gegen alle Widerstände“ bestimmte Erkenntnisse in die Praxis umsetzen müsse. „Ich bin mit dem, was ich auf diesem Gebiet geleistet habe zur Formung des Allgemeinbewußtseins ganz zufrieden. Aber gleichzeitig ist damit noch nicht das mindeste dazu getan, auch die Sache selbst in den Griff zu bekommen.“730 Hans Jonas hat keine einfachen Wahrheiten zu verkünden: „Ihr ruhiger Klang unterschied sich demonstrativ von der wilden Apokalyptik, in der manche Bußprediger der Moderne die Welt erlösen wollen. Letztlich ging es um den Versuch, den kategorischen Imperativ zeitgemäß umzudeuten, ihn nachträglich um eine Dimension zu erweitern, von der Kant noch nichts wissen konnte, weil sie erst durch die Eingriffsmöglichkeiten der modernen Technik sichtbar geworden war: die geschichtliche ... ein anspruchsvolles Programm; vorgetragen ... mit einer asketischen, gleichsam franziskanischen Geste, ... frei von Eitelkeit.“731 In diesem Verstande stelle Jonas „den Menschen unerbittliche Fragen.“732 Zugleich wirbt er für „eine neue Kultur der Askese“, so der Titel eines ausführlichen, mehrseitigen und großformatigen Interviews in der Zeitung Die Welt.733 Dieses Denken galt zumindest in den 1970er und 1980er
729 Hans Maier: Kundschafter, a.a.O. Zum Thema Weiterwohnlichkeit der Welt sieh auch Christian Wiese/Eric Jacobson (Hg.): Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas. Berlin 2003. 730 „Voraussetzung für Verantwortung ist die Freiheit der Tat.“ Hans Jonas im Gespräch mit Wolf Scheller. In: Der Tagesspiegel vom 7. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 731 Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde, a.a.O. 732 Dirk Richerdt: Die Zukunft ist noch nicht entschieden. In: Rheinische Post vom 20. September 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 733 StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342.
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Jahren noch als „unzeitgemäß“734, obwohl viele soziale Bewegungen, allen voran die Umweltbewegung, ähnliche Forderungen stellten. Unzeitgemäße Betrachtungen sind es auch, die ihn „in das Labyrinth jüdischer, griechischer, frühchristlicher, babylonischer, ägyptischer und persischer Überlieferungen locken.“ Er taucht „in die spät- und nachantiken Texte ein“735, um die Gegenwart besser verstehen und sie gestalten zu können. „Das Werk von Hans Jonas markiert“ insofern „den Umschwung des hochfahrenden, unschuldigen und gleichfalls »erbaulichen« Naturbeherrschungsraums der Neuzeit“, so Frank Schirrmacher, der sich des Weiteren nur wundert, dass Adorno kein einziges Mal im „Prinzip Verantwortung“ erwähnt wird, ohne kenntlich zu machen, warum dies für ihn notwendig scheint.736 Jonas braucht Adorno nicht. Das zeigt Micha Brumlik, wenn er schreibt, Hans Jonas „gab der ökologischen Umkehr der deutschen Politik Stichwort und Auftrag.“ Seine Ethik ist deshalb gerade als Gegenentwurf zu dem „verzweifelten Versuch Th. W. Adornos, gegen Entfremdung und Vernichtung anzudenken“, zu lesen. Jonas kann zeigen, „daß die Zentralisierung der Macht in großen Reichen im menschlichen Denken zu einem Zerbrechen des Bürgersinns und zu einem Auszug der Vernunft aus der Stadt und dem menschlichen Leben erst in den Kosmos und dann in ein als unzerbrechbar angesehenes, nur noch von den Sternen regiertes Gehäuse der Notwendigkeit führte.“ Provokativ fragt Brumlik in diesem Zusammenhang: „Weist nicht die Schlechtigkeit der Welt zurück auf die Schlechtigkeit des Schöpfers? Und ist Hoffnung nicht alleine von einem »ganz Anderen« zu erwarten?“ Brumlik werfen diese Fragen zurück auf die gnostischen Analysen von Hans Jonas. Er schreibt: „Man versteht nach dieser Lektüre besser, warum sich Jonas schließlich einer Philosophie der Biologie zuwandte, die endlich in eine Ethik der Verantwortung für die belebte Natur mündete. Es ist der letzte Versuch, in einer Welt, die zwischen der Erfahrung radikaler Sinnlosigkeit hier und dem Staunen über eine sich selbst genügende Natur dort schwankt, eine humane Orientierung zu entfalten und der Verzweiflung, im Aufruf zur Bewahrung der Schöpfung etwas entgegenzusetzen.“737 734 Stephan Wehowsky: Mut zur Verantwortung, a.a.O. 735 Uwe Justus Wenzel: Verantwortung – und Hoffnung. In: Neue Zürcher Zeitung vom 09. September 1993. Konrad Adam: Mit franziskanischer Gebärde, a.a.O. 736 Frank Schirrmacher: Dürftige Hoffnung, a.a.O. 737 Micha Brumlik: Schloß wird zu Schlüssel und Schlüssel zu Schloß. Hans Jonas und die Botschaft des fremden Gottes. In: Die Welt vom 24. Juli 1999. StAMg Nachrufe
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Jonas’ Ethik ist so betrachtet eine Philosophie des Antinihilismus, eine optimistische, anti-existentialistische Naturphilosophie, der Versuch, dem „entzauberten Kosmos doch noch die Seele zu lassen ... Jonas hielt es für geboten, im Stil einer philosophia negativa die Verlustrechnung nach dem Ende der platonischen Philosophie aufzumachen und im übrigen so nüchtern und luzide für eine in der Natur angelegte Zielgerichtetheit zu werben, daß die paradarwinistischen Aperçus eines Stephen Jay Gould vom »Zufall Mensch«738 auf einmal nur noch wie geistreicher Mummenschanz erscheinen. Jonas verstand es meisterhaft, das evolutionäre Paradigma allein durch dessen Darstellung zu desavouieren.“ Dennoch sei das „Prinzip Verantwortung“ im „Grundton des Prophetischen“739 geschrieben. Dieser Grundton ist es, den auch andere Kritiker zitieren. Sie sprechen von „schulphilosophisch-steifhütigen Erörterungen“ und einer gewissen „Naivität“740, oder aber von einem „lapidar anmutende[n] Denken“, das „schmerzt.“741 Das ist ohne Zweifel sehr zugespitzt und der Tatsache geschuldet, dass Jonas über Jahrzehnte hinweg nur Briefe, doch keinen wissenschaftlichen Text originär in Deutsch verfasst hat. Die Sprache, die er nutzt, wirkt aus diesem Grunde stellenweise überholt, gleichwohl entbehrt sie meines Erachtens nicht einer gewissen Eleganz. Nicht zuletzt aber mögen die vermeintlich „steifhütigen Erörterungen“ dazu beigetragen haben, seine Philosophie als einen „konservative[n] Ansatz“742 zu charakterisieren. Konservativ gilt sein Ansatz auch deshalb, weil er in einer Zeit des linken Aufbruchs metaphysische Gründe anführt, sich auf Aristoteles beruft, doch die so populären Thesen Adornos und der Frankfurter Schule – wie Frank Schirrmacher moniert – bei ihm überhaupt keine Rolle spielen. Trotz alledem wird er zu einer „verehrte[n] Vaterfigur vieler Ökologen“ und zu einem „ruhende[n] Pol inmitten emotional erhitzter Ethik-Debatten.“ Ihm gelingt es, „die Stimme des Gewissens, der er Gehör verschaffen wollte, zu verkörpern – als Pressespiegel 14/3490. Allerdings behauptet Brumlik, Jonas habe seine Dissertation bei Bultmann eingereicht. Dem ist bekanntlich nicht so. 738 Stephen Jay Gould: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur. München 2004. Gould kommt darin zu dem Schluss, dass eine nochmals von neuem beginnende Evolution keineswegs zu dem Ergebnis führte, dass sich der Mensch an die Spitze der Schöpfung setzen würde. 739 Christian Geyer: Die Welt ist für mich niemals ein feindlicher Ort gewesen. In: FAZ vom 18. März 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 740 So resümiert Frank Schirrmacher die Kritik. Sieh: Dürftige Hoffnung, a.a.O. 741 Helmut Möller: Wer Verantwortung haben kann, a.a.O. 742 Ein Zweifler in der Zwielichtzone des Politischen, a.a.O.
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behutsamer, zweifelnder, liebenswürdiger Weiser in bester philosophischer Tradition.“743 Tatsächlich hat Hans Jonas „die ökologische Bedrohung und ihre philosophische Bedeutung sehr früh erkannt.“744 Die Betonung liegt auf der philosophischen Bedeutung. Selbstverständlich ist das Thema seinerzeit in allen gesellschaftlichen Bereichen virulent, doch eine philosophische Grundlegung nachhaltiger Politik gibt es nicht und wird schmerzlich vermisst. Insofern verwundert es nicht, dass Jonas als „einer der Ersten“ bezeichnet wird, „der mit seiner Philosophie und seinem Denken Impulse setzte“745, obwohl dies schlicht nicht stimmt. Denn es gab in der langen Geschichte der Philosophie durchaus einige Philosophen, die auch politischen Einfluss ausübten: Platon ist daran noch gescheitert, Thomas Hobbes und Voltaire waren schon wesentlich erfolgreicher, und auch Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reiches“ (Gurian), ist als negatives Beispiel zu nennen. Den Impuls, den Jonas dem politischen Denken gibt, ist gleichwohl anders gelagert: „Die Möglichkeit einer durch Demiurgenhände verpfuschten Welt zieht sich als gespenstische Gefahr durchs Denken von Hans Jonas.“746 Das wird erst durch sein Hauptwerk auch der Politik bewusst. Jonas sagt selbst: „Ich denke stets von der radikalen Möglichkeit her, daß Gottes Experiment der Schöpfung auch scheitern könnte.“747 Es sind „aufrüttelnde Erkenntnisse zu einer zukunftsorientierten Ethik der Verantwortung“, die zudem „herausragende Bedeutung für die Philosophie“748 hat, weil es einen solch radikalen Versuch, in die Zukunft zu schauen, bis dato nicht gegeben hat. Nicht weniger neu ist die Tatsache, dass Jonas, anders als so viele seiner Kollegen, ein „prominenter Denker“ ist, „zu dessen Grundforderung die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Wirtschaft mit dem Überleben der Menschheit gehört.“749 743 Hans Jonas. In: Der Spiegel vom 08. Februar 1993. 744 Barbara Kaim-Grüneisen: Ein ganz gewöhnlicher Schüler, a.a.O. 745 Über den Umgang mit der Natur nachdenken. In: Rheinische Post vom 21. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 746 Andreas Rosenfelder: Zum Guten. In: FAZ vom 14. Juli 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 747 So Hans Jonas wörtlich, zitiert nach: Walther Chr. Zimmerli: Wenn die Schöpfung scheitert, a.a.O. 748 Dirk Richerdt: Dialoge zum Prinzip Zukunft. In: Rheinische Post vom 10. September 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 749 Hans-Jonas-Jahr. In: Aachener Zeitung vom 24. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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Seine Ethik gilt in der Öffentlichkeit als „plastische Philosophie“, die darüber hinaus „Beiträge zur Anwendung des Prinzips Verantwortung“750 liefere. Nachdenklich stimme allerdings, so die Hannoversche Allgemeine, dass die Adepten des Prinzips Verantwortung in seiner Philosophie nurmehr ein „wohlfeiles Etikett für die flugs kreierte »Wirtschaftsethik« oder eine nebulöse »Unternehmensphilosophie«“ sähen: „Um die geistigen Grundlagen von Jonas’ Lehre“ kümmerten sie sich „ebensowenig wie um seine praktische, einschneidende Konsequenz.“751 Eine problematische Konsequenz, die sich aus der Grundlegung seines Prinzips ergibt, erblickt die Süddeutsche Zeitung, indem sie, Kant implizit verteidigend und nicht ganz zu Unrecht feststellt, für ein wahrhaft verantwortliches Handeln bedürfe es letztlich des „guten Willen[s]“ derjenigen, die Jonas’ ethische Forderungen aufnähmen, um sie wirksam werden zu lassen.752 Hans Jonas hat dieses Problem möglicherweise vor Augen als er dem Magazin der Frankfurter Allgemeinen 1989 die Quintessenz von Herman Melvilles letztem Roman „Billy Budd“, auf den sich schon Hannah Arendt in ihrem Revolutionsbuch bezog, erläutert: „Dass das Gute in dieser Welt bestraft wird, ist das Thema.“753 Billy Budd, der den hinterlistigen Bootsmann John Claggart erschlug, wird am Ende gehängt, nachdem er allein des Gesetzes wegen vor ein Militärgericht gestellt worden war.
III Der Nachruhm
„Auf die Frage, welchen Denker der Gegenwart er für überschätzt halte, antwortete Hans Jonas ... in einem Nachrichtenmagazin: »Hans Jonas«.“754 Das Understatement ehrt ihn. Denn bis heute wirkt Hans Jonas in seinen Werken ebenso weiter wie in den aktuellen Diskussionen zwischen Philosophie, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Themen wie der Klimawandel, 750 Philipp Holstein: Was für morgen lebenswichtig ist. In: Niederrheinische Blätter vom 17. September 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 751 Ein Zweifler in der Zwielichtzone des Politischen, a.a.O. 752 Stephan Wehowsky: Das Menschliche in Zeiten der Krise. In: SZ vom 10. Oktober 1987. Frank Schirrmacher: Dürftige Hoffnung, a.a.O. 753 Jürgen Werner: Von der Macht des Guten: Der Philosoph Hans Jonas. In: FAZ Magazin 500 vom 29. September 1989. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution. München 2011, S. 104. 754 Ehrfurcht vor dem Menschen. In: Schwäbische Zeitung Leutkirch vom 6. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Der gefährlichste Philosoph sei im Übrigen: Peter Singer.
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die Sterbehilfe, Organtransplantation, der demografische Wandel und friedenspolitische Maßnahmen, zu denen Hans Jonas entscheidende Denkimpulse gegeben hat, sind nach wie vor virulent. Durch weltpolitische Entwicklungen wie Kriege bekäme seine Philosophie „ungeahnte Aktualität.“755 Blicken wir zunächst auf das Thema Organspende: Bis heute scheint eine wirkliche Aufklärung über die Praxis bei Organspenden nicht stattgefunden zu haben. So berichtet die Mutter eines Organspenders über ihr Entsetzen, als sie erfährt, dass die Organe ihres Sohnes über ganz Europa verteilt und ihm auch die Augen entnommen wurden.756 Wirklich tot sind die Spender allerdings nicht, denn seit 1968 gilt das irreversible Koma (coma depassé) als Todeskriterium. Neue Beatmungstechnologien und Transplantationstechniken haben dazu geführt, den Todeszeitpunkt zwecks Organentnahme vorzuverlegen. Den Kreislauf und die Atmung betrifft das Kriterium insofern nicht, unter Umständen sind auch nicht alle Hirnregionen völlig funktionslos. Schließlich wird der Aufrechterhaltung der Homöostase, die die Körpertemperatur regelt, Infektionen bekämpft, das Wachstum steuert und Wunden heilt, beim Hirntodkriterium keine Bedeutung mehr beigemessen.757 Apalliker etwa, die jahrelang im Koma liegen, ohne von Maschinen abhängig zu sein, stehen paradigmatisch für die Grenzfälle, die das Hirntodkriterium mit sich bringt.758 Das Einverständnis zur Organentnahme gilt insofern für Sterbende, nicht für Tote. Viele Freigaben zur Organentnahme wurden durch Angehörige freigegeben, die sich nicht immer aller Konsequenzen bewusst sind. Die Debatte hat seit 1968 deshalb nichts an Brisanz verloren, die öffentliche Auseinandersetzung im Jahr 2010 in Deutschland hat gezeigt, dass Hans Jonas’ Bedenken gegen das Hirntodkriterium nichts an Aktualität eingebüßt haben. Immer wieder werden seine Thesen gegen die Vorverlegung 755 Sabine Königs: Das Prinzip Erinnerung. In: Niederrheinische Blätter 2/2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Warum allerdings „ungeahnte“ Aktualität, bleibt unklar. 756 Freia Peters: Alles gegeben. In: Welt am Sonntag vom 13. Januar 2013. ACDP Pressearchiv. 757 Vgl. Stephan Sahm: Ist die Organspende noch zu retten? In: FAZ vom 14. September 2010. ACDP Pressearchiv. 758 Vgl. Alexandra Manzei: Welche Medizin wollen wir? In: Frankfurter Rundschau vom 27. Oktober 2010. ACDP Pressearchiv. Dazu: Wolfgang Kröll/Walter Schaupp (Hg.): Hirntod und Organtransplantation. Medizinische, ethische und rechtliche Betrachtungen. Baden-Baden 2015. Eine historische Aufarbeitung bieten Thomas Schlich und Claudia Wiesemann (Hg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung. Frankfurt a.M. 2001.
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des Todeszeitpunkts aufgegriffen, da er der Erste war, der die moralischen Konsequenzen der Organentnahme zu Ende gedacht hat. Ein zweites, nicht minder umstrittenes, Thema gegenwärtiger medizinethischer Debatten ist die Stammzellenforschung. Auch in diesem Kontext gilt Hans Jonas immer noch als Autorität. Virulent ist die Diskussion in Deutschland insbesondere nach dem 2002 verabschiedeten Gesetz über die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen, das die – etwas zugespitzte – Frage aufwarf, ob sich wohlhabende Menschen in naher Zukunft ein organisches Ersatzteillager einrichten werden.759 Das Gesetz war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Entscheidung des britischen Parlaments, „menschliche Embryonen in den ersten vierzehn Tagen für Zwecke des Klonens freizugeben.“760 Der Verbrauch menschlicher Embryonen sowie der mögliche Eingriff in die menschliche Keimbahn machte Hans Jonas abermals zum Wortführer der Kritiker, die das Recht auf eine offene Zukunft des Menschen in Gefahr sahen. So argumentiert Robert Spaemann, die Vorzüge des Menschen seien stets „das Resultat eines glücklichen Zusammenspiels von Veranlagung und geschichtlicher Situation. Da wir die einmaligen geschichtlichen Situationen nicht reproduzieren können, hat es keinen Sinn, genetische Identität zu produzieren.“761 Auch im therapeutischen Klonen erblickt er mit Jonas einen „Verstoß gegen die Menschenwürde“. Die Argumente gegen das reproduktive Klonen seien zwar bemerkenswert schwach, bringt es der Medizinethiker Dan W. Brock auf den Punkt, doch echte Argumente für das reproduktive Klonen gäbe es eben auch nicht.762 Ein starkes Argument aber ist zumindest die Frage, die Jeremy Rifkin in die Diskussion eingebracht hat: „Wie werden wir in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen ihren Genotyp klonen und schließlich nach Design-Spezifikationen und technischen Standards maßschneidern, jenes Kind ansehen, das nicht geklont oder maßgeschneidert ist?“763 Rifkin fürchtet, dass wir dann unsere Humanität verlieren. 759 Thomas Brose: Schrecklich unsterblich. In: Rheinischer Merkur vom 3. Januar 2008. ACDP Pressearchiv. 760 Robert Spaemann: Gezeugt, nicht gemacht. In: Die Zeit vom 18. Januar 2001. ACDP Pressearchiv. 761 Ebd. 762 Dan W. Brock: Auch ein Klon ist frei geboren. In: Die Zeit vom 19. August 2004. ACDP Pressearchiv. 763 Jeremy Rifkin: Der embryonale Marktplatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2001. ACDP Pressearchiv.
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Anders äußert sich der damalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, der den Verbrauch „überzähliger“ embryonaler Stammzellen als Vergleichsmaterial für die adulte Stammzellenforschung befürwortet.764 Auch er beruft sich hierbei auf Hans Jonas, der einmal gesagt habe, wir bräuchten die Bedrohung des Menschenbildes, „um uns im Erschrecken davor eines wahren Menschenbildes zu versichern.“ Dies führt Winnacker zu dem Fazit: „Die Empfehlungen der DFG sind Ausdruck einer Gesinnung, die sich im Jonasschen Sinne davon leiten lassen, dass jede Art von Wissenschaft, auch die Gentechnik, dem Menschen zu dienen hat und nicht umgekehrt.“765 Auch die Politikerin Herta Däubler-Gmelin lässt sich 2002 bei der Abstimmung zum Gesetz über den Import embryonaler Stammzellen von Hans Jonas leiten und erklärt, „daß gerade die Überlegungen der Verantwortungsethik gegen den Import von embryonalen Stammzellen sprechen.“766 Demgegenüber sieht der Philosoph und SPD-Politiker Richard Schröder in den Dammbruchargumenten der Kritiker ein „Trommelfeuer der Unheilsprophetien“767 heraufziehen. Zwar sei, so Schröder an Jonas erinnernd, Furcht vor Neuem ein durchaus legitimes Mittel, doch auch Furcht könne kopflos machen, „wenn ihr das diffuse Gefühl zu Grunde liegt, dass ohnehin alles im Argen liegt und immer schlimmer wird.“768 Die Fronten scheinen bis heute verhärtet. Immer neue Möglichkeiten wie zuletzt die Human Embryo Cryopreservation, also das Konservieren embryonaler Zellen auf Vorrat zur künstlichen Befruchtung, halten die kontrovers geführten Diskussionen am Leben. Auch Großbritanniens Erlaubnis, Genversuche an Embryonen durchzuführen, hat die Diskussion neu entfacht. Der Antrag der Genetikerin Kathy Niakan, vom Francis Crick Institute in London, ist im Jahr 2016 von der britischen Kontrollbehörde Human Fertilisation and Embryology genehmigt worden. So sieht heutzutage allein der von Botho Strauß zitierte Bioingenieur den ethischen Diskussionen gelassen entgegen, indem er feststellt: „Es gibt keine Proble764 Ernst-Ludwig Winnacker: Die Genforschung ist wie ein Schachspiel. In: Die Welt vom 6. Juli 2001. ACDP Pressearchiv. 765 Ebd. 766 „Der Mensch ist kein Produkt, sondern vorgegeben.“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20. Januar 2002. ACDP Pressearchiv. 767 Richard Schröder: Was Forschung darf. In: Der Tagesspiegel vom 4. August 2002. ACDP Pressearchiv. 768 Ebd.
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me mit dem Fortschritt. Es gibt nur Probleme mit zu vielen rückständigen Menschen.“769 Für viele mag Hans Jonas in diesem Sinne in der Tat ein „rückständiger Mensch“ gewesen sein. Für all jene, denen Verantwortung nicht nur als Floskel dient, sind seine Problemanalysen und Lösungsperspektiven von bleibender Aktualität. Er stehe in der Reihe der „ganz großen zeitkritischen Denker“770, der auch Jahre nach seinem Tode weiterwirke. Im Zuge des BSE-Skandals, der das neue Jahrtausend einleitete, der Diskussion über Energieverschwendung, der Genese von Artikel 20a der Verfassung oder auch im Kontext der Debatte über eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz: In keiner wichtigen öffentlichen Auseinandersetzung fehlte der Name Hans Jonas. Das ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass er, wie Dietrich Böhler zu Recht feststellt, den „Verpflichtungssinn der jüdischen und christlichen Ethik radikalisiert“771 hat. Interessant an Böhlers These ist, dass er nicht nur die jüdische Ethik, sondern gleichsam die christliche erwähnt. Doch ist dies nachvollziehbar, denn Hans Jonas transformiert die christliche Caritas, indem er auch die uns Fernsten zu unseren Nächsten erklärt. Hans Jonas hat sich nicht zuletzt „kritisch mit dem Scheitern deutscher, bürgerlicher Kultur vor und nach dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.“ Seine Philosophie sei eine Revolte wider Politikvergessenheit und Weltflucht, sein Blick gerichtet auf „Verwüstungen und Gefährdungen“, wobei „das schlechthin Antiutopische, ..., Auschwitz, ... zum Stachel seines späten Denkens“772 wurde. Die Stadt Mönchengladbach hat eben diesem Denken 1997 Rechnung getragen, als sie eine Umbenennung des Berggartens in Hans-Jonas-Park vornahm und dort eine von dem Künstler Hans Karl Burgeff geschaffene, 1 Meter 40 hohe Hans-Jonas-Skulptur am 3. Juni 1998 aufstellte. Burgeff, 1928 in Würzburg geboren, war Schüler von Ludwig Gies und seit 1973 Professor an der Fachhochschule Köln.773 Seine Skulptur sollte ein Zeichen 769 Botho Strauß: Wollt ihr das totale Engineering? In: Die Zeit vom 20. Dezember 2000. ACDP Pressearchiv. 770 Helmut Michels: Marke trägt Jonas’ Worte in die Welt. In: Rheinische Post vom 7. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 771 Dietrich Böhler: „Im Zweifel für unsere Verantwortungspflicht“. Interview in der Rheinischen Post vom 5. Februar 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 772 Micha Brumlik: Revolte wider die Weltflucht. In: Frankfurter Rundschau vom 8. Februar 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 773 StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Denkmal. Sieh auch: HJ 21-12.
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der Erinnerung, ein Andenken an die Person, aber auch Zeugnis der Popularität, sowie eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit Jonas’ Philosophie sein. Schließlich war die Skulptur eine späte Hommage an die Bedeutung des Judentums und nicht zuletzt die Erinnerung an die Vernichtung der deutschen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Mönchengladbach hat darüber hinaus anlässlich des 100. Geburtstages von Hans Jonas versucht, die „Marke Verantwortung“ populär zu machen. In einer Auflage von 25 Millionen Stück mit einem Frankaturwert von 220 Cent, der einzigen Marke dieses Wertes im Jahr 2003, gedachte man in Gladbach Hans Jonas durch die Herausgabe einer Sonderbriefmarke. „Der evangelische Pfarrer Eckehard Goldberg und der ehemalige Presseamtschef Ernst-Dieter Kunert sind die Initiatoren der Gedenkbriefmarke, die für einen Großbrief mit Auslandsbestimmung die passende Frankierung bietet ... Das Motiv hat der Wuppertaler Designer Lutz Menze[l] (sic!) entworfen.“ Die beiden zum Betrachter hin geöffneten Handflächen symbolisierten ein „Handeln in Verantwortung.“774 „Es waren die Repräsentanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft geladen zur feierlichen Enthüllung der Briefmarke, die dann der Gesandte des Finanzministeriums, Karl Kühn, der Designer Lutz Menze, die OB und Jonas’ Witwe Lore vornahmen.“775 Der Text der Sonderbriefmarke lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Laut eigener Aussage hat Lutz Menze den Textvorschlag selbst gemacht. Dass offensichtlich niemand das Zitat auf seine Richtigkeit hin überprüft hat, verwundert. Denn zum einen wurde das Originalzitat von 1979 der neuen Rechtschreibung angepasst: aus dem „daß“ wurde ein „dass“, zum anderen wurde aus dem Wort „Handlung“ der Plural „Handlungen“. Ein wenig mehr Quellenkritik wäre sicherlich angebracht gewesen. Doch auch zahlreiche Zeitungen haben das falsch wiedergegebene Zitat ungelesen übernommen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen ...“776 Die Gefahr solch ungenauer Erinnerungspraxis besteht 774 Der korrekte Nachname des Designers lautet: Menze. Vgl. Dirk Richerdt: Marke Verantwortung: Jonas für die große Sendung. In: Rheinische Post vom 7. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 775 Armin Kaumanns: Jonas für alle in der Welt. In: Westdeutsche Zeitung vom 7. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 776 Sabine Königs: Das Prinzip Erinnerung. In: Niederrheinische Blätter 2/2003, sowie Dirk Richerdt: Marke Verantwortung: Jonas für die große Sendung. In: Rheinische Post vom 7. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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in der Tat darin, dass Hans Jonas heute zum „Zitatenspender“777 werden könnte, dessen Texte zudem unkritisch verändert werden. Dennoch war es ein „bedeutender Tag für Mönchengladbach.“778 Die Oberbürgermeisterin der Stadt, Monika Bartsch, sagte, Hans Jonas habe „im Bereich der Geisteswissenschaften und Theologie weltweit Großes geleistet.“779 Der große „Rummel um ein kleines Stückchen gezackten Papiers“ verschaffte Mönchengladbach auch überregional Aufmerksamkeit. Schließlich wollte man die Persönlichkeit des Philosophen einer noch breiteren Öffentlichkeit bekannt machen.“780 Und so ging der Philosoph Hans Jonas „postum auf Sendung.“781 Neben der Sonderbriefmarke waren weitere Aktivitäten geplant, die jedoch nicht überall auf geteilte Meinung stießen. Das Programm anlässlich des 100. Geburtstages sei „mit heißer Nadel“ gestrickt, die Vorbereitungen der Aktivitäten lägen allein bei der Marketing Gesellschaft Mönchengladbach, Kulturschaffende würden nicht mit einbezogen.782 Die Kritik führte schließlich zu einem Umdenken: In enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Kultureinrichtungen, Schulen, der Hochschule Niederrhein, der Jüdischen Gemeinde und dem Theater, das die Philosophie der Antike und die Antigone aufgriff, kam es am 11. Juli im Haus Erholung zu einem Festakt. Die Festrede hielt Kardinal Karl Lehmann. Am 19. und 20. September folgte ein Symposium mit zahlreichen Wissenschaftlern aus aller Welt. Dass eine Stadt einen Philosophen ehre, käme selten vor, hieß es.783 Mancher Kommentator vermutete, die Aktionen seien eine „späte Wiedergutmachung“. Kritisch wurde dem hinzugefügt: „Das städtische Erinnerungsvermögen“ habe „erst 50 Jahre nach Jonas’ Emigration wieder funktioniert“, schon die Ehrenbürgerschaft sei dem Philosophen „erst 777 Andreas Rosenfelder: Zum Guten, a.a.O. 778 „Bedeutender Tag für Mönchengladbach“. In: Aachener Zeitung vom 07. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 779 Das Jahr des Philosophen Hans Jonas. In: Mönchengladbach aktuell, März 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 780 Helmut Michels: Marke trägt Jonas’ Worte in die Welt, a.a.O. 781 Ein Philosoph geht postum auf Sendung. In: Rheinische Post vom 07. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 782 Barbara Kaim-Grüneisen: Bitte kein Schnellschuss! StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 783 Christian Hoffmans: Kultur-Highlights. In: Welt am Sonntag vom 4. Mai 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
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verliehen worden, nachdem dieser mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden“784 war. Das Jubiläumsjahr brachte Hans Jonas neben Berichten in den großen, überregionalen Zeitungen wie der Zeit, der Welt, der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen, dem Hamburger Abendblatt, der Berliner Zeitung und der Tageszeitung auch Artikel in vielen kleinen, nur regional bekannten Zeitungen ein. So etwa in der Kirchenzeitung Aachen, der Dortmunder Nord-West-Zeitung, dem Südkurier Konstanz, der Recklinghäuser Zeitung, dem Fränkischen Tag Bamberg, der Heilbronner Stimme, der Westfalenpost Hagen, den Cuxhavener Nachrichten und vielen anderen. Mehr als je zuvor wurde Hans Jonas zu einer bedeutenden Person des öffentlichen Lebens. Die große Öffentlichkeit, die Hans Jonas in den 1980er Jahren in Deutschland erfahren hat, ist inzwischen abgeklungen. Dennoch haben die Themenschwerpunkte, die er gesetzt hat, eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Das liegt natürlich an den technischen und medizinischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte; es liegt aber nicht zuletzt auch daran, wie Hans Jonas diese Themen angegangen ist. Er hat gezeigt, dass Fortschritt und Ethik zwei Seiten derselben Medaille sind. Man wird deshalb in diesem Zusammenhang auch die indirekte Wirkung des Werkes von Hans Jonas auf den philosophisch-theologischen Diskurs in der Öffentlichkeit in Betracht ziehen müssen, um die ganze Tragweite seiner Ideen angemessen würdigen zu können. Nicht immer wird sein Name, so wie in den vielen vorangegangenen Beispielen, explizit genannt, wenn Philosophen, Theologen und Politiker über eine nachhaltige Entwicklung und die Verantwortung für zukünftige Genrationen sprechen. Dennoch ist sein Werk oftmals indirekt mitgemeint. So kommen nicht zuletzt in der Enzyklika Laudato Si’ von Papst Franziskus, die im Mai 2015 in Rom veröffentlicht worden ist,785 Themen zur Sprache, die durch Hans Jonas ins öffentliche Bewusstsein gehoben worden sind. Obwohl die Enzyklika vor der Folie der Naturrechtslehre der katholischen Kirche zu lesen ist, in der das Naturrecht als Maßstab und Korrektiv des positiven Rechts verstanden wird, ist diese Lesart dem Umstand geschuldet, dass die besondere Situation der hochtechnologischen Gefahrenzivilisation für Franziskus eine besondere Antwort verlangt. Franziskus 784 Sabine Königs: Das Prinzip Erinnerung. In: Niederrheinische Blätter 2/2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. 785 Franziskus: Laudato Si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Libreria Editrice Vaticana. Rom 2015.
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thematisiert in seiner Enzyklika die voranschreitende ökologische Krise auf Grund des unverantwortlichen Konsumverhaltens des Menschen im 21. Jahrhundert. „Wir vergessen“, schreibt er, „dass wir selber Erde sind.“786 Sein Schreiben wendet sich deshalb nicht ausschließlich an Katholiken, sondern an alle Menschen, die auf der Erde leben. Ihnen will er die Möglichkeit einer ökologischen Katastrophe vor Augen führen und Wege beschreiben, wie diese Katastrophe zu vermeiden ist. Hierzu bedürfe es der „Wahrung der moralischen Bedingungen einer glaubwürdigen Humanökologie.“787 Der Respekt vor der Umwelt verbiete einen völligen Verbrauch der Schöpfung, die mehr sei als bloße Natur, weil im Begriff der Schöpfung der Bezug zu Gott unmittelbar mitschwinge. In allem, was existiert, sei der Widerschein Gottes vorhanden, und in der Sorge um die Zukunft von Natur und Mensch seien alle vereint. Umweltverschmutzung, Atommüll, Wegwerfgesellschaft, Klimawandel, Artensterben, Armut, Zerstörung der verschiedenen Ökosysteme, Krieg und Flucht im Zuge einer immer weiter fortschreitenden Technisierung der Lebensumwelt sind die Themen, die der Papst konkret benennt. Sie seien ein Indiz für das schwindende Verantwortungsgefühl des Menschen. Dieses allein aber könne eine zivile und soziale Gesellschaft lebendig halten. Es gelte insofern, den Aufbau einer besseren Zukunft gemeinsam anzugehen.788 Insbesondere die Verantwortung der internationalen und lokalen Politik789 sei diesbezüglich entscheidend. Eine „Ethik der internationalen Beziehungen“, die der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“790 etwas entgegenhalte, sei zu diesem Zwecke vonnöten. Die Menschen müssten viel stärker als bisher sowohl die Bedürfnisse der gegenwärtigen als auch der zukünftigen Generationen in Betracht ziehen. Franziskus zeigt sich offen für den Dialog mit der Philosophie, die nicht minder die Auffassung vertrete, der moderne Mensch sei „nicht zum richtigen Gebrauch der Macht erzogen.“791 Der Mensch sei aber nun einmal der verantwortliche Sachwalter der Schöpfung, das sei seine anthropologische Bestimmung.792 786 Ebd., Absatz 2. 787 Ebd., Absatz 5. Hervorhebungen getilgt. 788 Ebd., Absätze 13 und 25. 789 Vgl. ebd., Absatz 16. 790 Vgl. ebd., Absätze 51f. 791 Ebd., Absatz 105, (Zitat von Roman Guardini: Das Ende der Neuzeit. Würzburg 1965, S. 87). 792 Ebd., Absatz 116.
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Die Schnittmengen zu Hans Jonas sind in diesem Beispiel unübersehbar. Dennoch gibt es gerade im Hinblick auf den Gottesbegriff Unterschiede. Der gravierendste: Bei Franziskus hat alles seinen Ursprung in Gott und die gesamte Natur bleibt stets jener Ort, an dem Gottes Gegenwart erfahrbar ist. Mit Blick auf eine Lösung kommen sich Jonas und Franziskus wiederum sehr nahe: Sie fordern beide eine Veränderung menschlichen Konsumverhaltens, eine Art Umwelterziehung, Demut und Askese. Man müsse, so Franziskus in Übereinstimmung mit Jonas, das, was der Welt widerfährt, als persönliches Schicksal auffassen. Es gelte, das Teilen wieder zu erlernen. Dies könne im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Ökologie und eines Dialogs über die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft geschehen, um eine neue universale Solidarität in die Wege zu leiten. Hans Jonas sprach man einst eine „franziskanische Gebärde“ zu. Der Heilige Franz von Assisi (1181-1226) mag für Jonas und Franziskus eine gemeinsame Quelle sein. Aber zugleich ist die „jonassche Gebärde“ bei Franziskus kaum zu übersehen.
6 DAS PRINZIP VERANTWORTUNG. EIN KOMMENTAR In den vorangegangenen Abschnitten sind die wichtigsten Lebensumstände von Hans Jonas zur Sprache gekommen: Die Mönchengladbacher Jugendzeit, die Kriegserfahrungen, sein Verhältnis zum Judentum sowie seine philosophischen und theologischen Arbeiten und die Reputation, die er erfahren hat. Auch sein Buch, mit dem er berühmt geworden ist, war bereits mehrfach Gegenstand dieser Ausführungen. Allerdings blieb der konkrete Inhalt bislang nur vage skizziert. Aus diesem Grunde erläutern die folgenden Ausführungen nun die einzelnen Kapitel des philosophischen Hauptwerkes von Hans Jonas. Der Kommentar orientiert sich an den Kapiteln des Buches, die er in den Überschriften aufgreift. Wo ergänzende Anmerkungen notwendig sind, führt er diese in den jeweiligen Abschnitten ein. Zugleich wird versucht, die Aussagen des Buches kurz und knapp zu bündeln, soweit dies möglich ist. Die Zitate sind den gleich lautenden Kapiteln entnommen. Gesonderte Quellenangaben werden deshalb nicht vorgenommen. Dort, wo auf andere Quellen Bezug genommen wird, werden diese jedoch wie gewohnt im Anmerkungsapparat angegeben. Das „Prinzip Verantwortung“ beginnt im Vorwort mit einem Vergleich. Der Mensch der Moderne sei wie Prometheus, so Hans Jonas. In der griechischen Mythologie wird der Titan Prometheus nicht nur als Freund der Menschen dargestellt, er ist zugleich auch Stifter der menschlichen Kultur und Überbringer des Feuers. Prometheus (Προμηθεύς) bedeutet „der Vorausdenkende“. Da er sich dem Willen des Göttervaters Zeus widersetzte, ließ dieser ihn an einen Felsen ketten. Jeden Tag kam fortan der riesige Adler Ethon, um von der Leber des Bestraften zu fressen. Das Schicksal des unsterblichen Prometheus wollte es jedoch, dass die Leber immer wieder nachwuchs. Nach langer Zeit wird er von Herakles erlöst und von den Ketten befreit. Doch musste er als Zeichen seiner Niederlage fortan einen steinernen Ring tragen. „Im Humanismus der Renaissance als »alter deus« (anderer Gott) wiederentdeckt, wurde die titanische Figur auf dem Wege von Bacon ... über
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Shaftesbury zu Goethe ... und Schelling das Symbol der Emanzipation des fanatischen Menschen von göttlicher Gewalt.“793 Auch die Romanautorin Mary Shelley hat ihrem 1818 erschienenen „Frankenstein“ den Untertitel: „Der moderne Prometheus“794 verliehen. An der Hohen Schule in Ingolstadt erschafft der junge Schweizer Wissenschaftler Victor Frankenstein einen künstlichen Menschen aus toter Materie und Leichenteilen. Mit Hilfe von Elektrizität erweckt er das Monster zum Leben. Im Zeitalter der galvanischen Experimente und der Idee eines menschlichen Schöpfers schien dies eine durchaus plausible Vorgehensweise. Vor dem Hintergrund dieser Geschichten interpretiert Jonas den Prometheus als einen „endgültig entfesselten“ Prototypen der Moderne. Die Wissenschaft habe ihm „nie gekannte Kräfte“ und die Wirtschaft einen „rastlosen Antrieb“ verliehen. Kurz: Der Mensch hat sich zum Maß aller Dinge gemacht. Die Möglichkeiten, die mit den wissenschaftlich-technischen Errungenschaften einhergingen, sprich: das von Günther Anders so genannte „prometheische Gefälle“795, riefen nach einer Ethik, die dem Umstand gerecht werde, dass mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre zahlreiche Bedrohungen für den Menschen aufgetreten sind. Die „Unterwerfung der Natur“ habe vor der Unterwerfung des Menschen durch den Menschen nicht Halt gemacht. Dies, so Jonas, sei eine Situation, die man bis dato nicht kannte. Insbesondere die Auswirkungen, die kollektive Taten nach sich ziehen, habe noch keine Theorie wirklich ausreichend durchdacht. Eine solche verlange nämlich, die möglichen Gefahren in den Blick zu nehmen und von diesem Standpunkt aus eine neue Ethik zu entwickeln, die der gegenwärtigen Situation des Menschen gerecht wird. Die drohenden Gefahren öffneten dem Menschen allererst das Auge, um erkennen zu können, „was auf dem Spiel steht“. Es geht Jonas aber nicht nur um das nackte Überleben der Menschheit, sondern immer auch um die Frage, was der Mensch ist resp. sein soll: Ethik und Philosophische Anthropologie gehen Hand in Hand. Der spekulative Blick in die Zukunft kommt für Jonas nicht ohne Metaphysik (μετάφύσις) aus. Die Frage, warum Menschen auch in Zukunft sein sollen, ließe sich anders nicht sinnvoll beantworten. Die Metaphysik, also 793 KGA I/2, a.a.O., S. 645, Anmerkungen der Herausgeber, Hervorhebungen getilgt. 794 Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. München 2013. 795 Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956.
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das, was nach der Physik folgt, fragt seit der Antike nach den ersten Gründen, den allgemeinen Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien sowie nach Sinn und Zweck allen Seins. Bei den letzten Fragen der Metaphysik geht es um Wandel und Bestand der Menschen, der Dinge und der Welt. Die Metaphysik versucht, Erkenntnisse jenseits der Grenzen sinnlicher Erfahrung zu liefern. Metaphysische Untersuchungen verzichten bewusst auf jegliche Empirie in ihren Begründungen. Aus solch einer metaphysischen Sicht heraus möchte Jonas der Frage nachgehen, welche Pflichten sich aus der neuen Situation im Zeitalter der Technologie und den unendlich großen Dimensionen von Wissen und Macht ergeben. Dazu will er die Folgen und Nebenwirkungen kollektiven Handelns genauer unter die Lupe nehmen. Vor allem dort, sagt er, wo Handlungen eine Unumkehrbarkeit der Ereignisse evozieren, trete die Verantwortung des Menschen auf den Plan. Das sei der Untersuchungsgegenstand seines „Tractatus technologico-ethicus“ – so der ursprüngliche Arbeitstitels des „Prinzip Verantwortung“.
I Das veränderte Wesen menschlichen Handelns
Das erste Kapitel ist vorphilosophisch angelegt. Es geht in erster Linie um eine Diagnose der Gegenwart, aus der Hans Jonas seine Ethik entwickelt. Sein Fokus ist hierbei auf das Wesen der modernen Technik und die Ansprüche einer Handlungstheorie gerichtet, die der mit der Technik gewachsenen Machtfülle des Menschen auf Augenhöhe begegnet. Zu Beginn hebt Jonas hervor, dass der Mensch mit Hilfe der modernen Technik erstmalig in seiner Geschichte in der Lage ist, in die eigene Natur einzugreifen und sie zu verändern. Dies erschwere die Definition des moralisch Guten und rücke eine Dimension von Verantwortung in den Vordergrund, die völlig neuartig ist. In der Konsequenz sei eine Änderung bisheriger Ethik vonnöten. Dazu fragt er, wie die Technik die Natur unseres Handelns beeinflusst und welche ethischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Das Beispiel der Antike Der Leser erfährt gleich am Anfang des Buches Jonas’ Nähe zur antiken Literatur und Philosophie. Denn erneut greift er im ersten Abschnitt des ersten Kapitels einen Mythos auf. Es ist das Chorlied aus der Antigone des
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Sophokles, auf das er Bezug nimmt und das sein Lehrer Martin Heidegger bereits in seiner 1935 erschienenen „Einführung in die Metaphysik“796 rezipiert hatte. Das Ungeheure, Unheimliche, interpretiert Heidegger dort als das „Un-heimische“. Jonas greift mit dem Vers den Prometheus-Mythos wieder auf: Der Mensch ist sich selbst unheimlich geworden durch das, was er zu tun imstande ist. Selbst einst unheilbare Krankheiten vermag er inzwischen zu heilen, auch wenn er niemals Unsterblichkeit erlangt. Sein massiver Eingriff in die Natur hat jedoch auch eine Schattenseite, denn Raubbau und künstliche Veränderung stören das Gleichgewicht und bedrohen nicht nur die Umwelt, sondern den Menschen und sein Fortbestehen auf der Erde selbst. Beschränkte sich die menschliche Verantwortung lange Zeit auf das größte erschaffene Kunstwerk, die Stadt, so ist nun die Natur in toto zum Gegenstand menschlicher Verantwortung geworden, weil das Handeln des Menschen weit über die Grenzen der Stadt hinausreicht. Je größer die Städte wurden, desto weiter reichten die Handlungsfolgen der innerhalb der Stadtmauern angesiedelten Bürger, bis sie schließlich im 20. Jahrhundert globale Ausmaße angenommen hatten. Der Rückgriff auf das Gebilde der Stadt entspringt ebenfalls seinen gnostischen Studien, in denen er über die geistige Welt der Antike spricht, in dem die griechische Kolonisation durch Alexander den Großen einem neuen Kosmopolitismus zum Durchbruch verhilft. Heinrich Popitz schreibt über die Erfindung der Stadt: „In der Technologie des Städtebaus gewinnt [der Mensch] so etwas wie technische Gestaltungsmacht über sich selbst. Er kann Entwürfe seiner sozialen Ordnung technisch festschreiben, festbauen. Es deutet sich die Fülle der Möglichkeiten an, die eigene Lebensform über die Konstruktion von Artefakten willkürlich zu definieren.“797 Nun, in den 1970er Jahren, in denen Hans Jonas’ ethische Thesen über das Verhältnis von Mensch und Natur entstehen, könnte man von einem Kosmopolitismus der Technik sprechen. Es herrscht in der (westlichen) Gesellschaft ein deutlich spürbar geschärftes Bewusstsein für das Zerstörungspotenzial technologischen Fortschritts vor. Grund sind vor allem die gravierenden Umweltkatastrophen wie das so genannte Sevesounglück, der Chemieunfall am 10. Juli 1976 in der Fabrik Icmesa im italienischen Meda, 20 Kilometer nördlich von Mailand. Auch eine stetig wachsende Kritik an der Nutzung von Kernenergien ist zu vernehmen. 796 Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Frankfurt a.M. 1983. 797 Popitz: Epochen, a.a.O., S. 24.
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Merkmale bisheriger Ethik Das erste Merkmal bisheriger Ethik ist für Jonas die Tatsache, dass sie die Reichweite menschlichen Handelns nicht berücksichtigen musste. Der Mensch gefährdete weder die natürliche Ordnung der Dinge, noch ging es ihm um technischen Fortschritt als solchen. Vielmehr standen die Notwendigkeiten, die er mittels Technik zu bewerkstelligen versuchte, im Mittelpunkt aller Ethik. Das zweite Merkmal ist der Fokus auf zwischenmenschliche Handlungen. Traditionelle Ethik kümmerte sich nicht um die Auswirkungen, die sich aus dem Miteinander der Menschen ergaben, erst recht nicht um die Folgen des Handelns in Bezug auf eine veränderte Natur. Das dritte Merkmal ist, dass klassische Ethiken von einer Konstanz der menschlichen Natur ausgehen konnten. So unterschiedlich die Philosophischen Anthropologien im Einzelnen gewesen sein mögen und so sehr unterschiedliche Schwerpunkte bei der Frage nach dem Wesen des Menschen gesetzt wurden, so unbestreitbar war, dass sich das Wesen des Menschen nicht grundsätzlich wandelte. Moderne Technologien aber lassen genau an diesem Glauben ernsthafte Zweifel aufkommen, weil sie in das Wesen des Menschen eingreifen und ihn, etwa sein Erbgut, verändern. Sigmund Freud gebrauchte bereits 1930 den Begriff „Prothesengott“, um die Verschränkung von Mensch und Technik in der modernen Kultur zu verdeutlichen.798 Hans Jonas’ Rückgriff auf den Prometheus-Mythos zielt in eine ähnliche Richtung. Das vierte Merkmal ist, dass alle bisherige Ethik sich mit der unmittelbaren Gegenwart auseinanderzusetzen hatte. Fernwirkungen bestimmter Handlungen öffentlicher oder privater Natur waren unbekannt. Ethische Gebote und Maximen, von den Zehn Geboten über Aristoteles’ Nikomachische Ethik799 bis hin zu Kants kategorischem Imperativ,800 erwuchsen aus diesen vier Merkmalen, die Jonas zwar nicht für grundsätzlich überholt, aber doch für unzureichend hält angesichts der Tragweite menschlichen Tuns in der von ihm so genannten technologischen Zivilisation. Selbstverständlich hatte ein Zuwiderhandeln auch stets Konsequenzen. Doch blieb der zeitli798 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Studienausgabe Bd. 9. Frankfurt a.M 1974, S.222. 799 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 1985. 800 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1999 (1785).
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che und räumliche Radius aller Interaktionen überschaubar. Betroffen waren lediglich Zeitgenossen und das nähere Umfeld. Auch die praktischen Konsequenzen aus den sittlichen Geboten verlangten allenthalben eine Kenntnis der gegenwärtigen Situation, in der eine Handlung begonnen und abgeschlossen wurde und über die kurzfristig beurteilt werden konnte: „Niemand“, so Jonas, „wurde verantwortlich gehalten für die unbeabsichtigten späteren Wirkungen seines gut-gewollten, wohl-überlegten und wohl-ausgeführten Akts.“ Von niemandem wurde ernsthaft verlangt, sich ein Wissen über mögliche zukünftige Zustände zu besorgen. Neue Dimensionen der Verantwortung Hans Jonas geht davon aus, dass die klassische Ethik von Aristoteles bis Kant auf die Größenordnung der Handlungen, die sich mittels moderner Technologien ergeben, nicht mehr angemessen reagieren kann. Es bedarf einer neuen Ethik, die dem gewachsen ist. Vor allen Dingen ist es das Problem kollektiver Handlungen, das die Gebote und Maximen bisheriger Ethiken nicht berücksichtigen konnten. Ein Beispiel kollektiven Handelns ist der enorme CO2-Ausstoß, der über Industrieanlagen, Verkehr und Haushaltsgeräte kollektiv zur Verschmutzung der Umwelt beiträgt. Jeder Einzelne ist für sich genommen kaum eine Gefahr, doch weil alle permanent dazu beitragen, dass sich der Anteil des Kohlenstoffdioxids in der Luft vermehrt, sorgt erst das Kollektiv für eine Gefahr, die nicht unmittelbar, wohl aber in (naher) Zukunft bemerkbar sein wird. Die Verletzlichkeit der Natur wird deshalb zum Gegenstand der Jonasschen Ethik, die gesamte Biosphäre zum Bereich, auf den sich die Verantwortung des Menschen fortan beziehen muss. Jonas macht in diesem Kontext auf zwei Aspekte aufmerksam. Erstens die Unumkehrbarkeit zahlreicher Handlungen: Zerstörte Umwelt ist nicht ohne Weiteres wieder zu „reparieren“. Einmal freigesetzte radioaktive Strahlung wirkt teils noch Jahrhunderte nach. Zweitens die Kumulation der Handlungsfolgen: Da etwa der CO2-Ausstoß über Jahre und Jahrzehnte enorm hoch ist, sind die Folgen umso gravierender, nicht zuletzt, weil sich die Ausgangslage völlig verändert hat. Maßnahmen in einer Umwelt, die bereits stark angegriffen ist, leben von anderen Voraussetzungen als Maßnahmen in einer nahezu intakten Umwelt. Es kann von nun an keinen Nullpunkt mehr geben, an dem uns alle Alternativen offenstehen. Jede neue Handlungssituation wird zum Präzedenzfall: „All dies müßte im Willen der Einzeltat mitgewollt sein, wenn diese sittlich verantwortlich sein soll.“
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Aus diesem Grunde werde, so Jonas, Wissen zur ersten Menschenpflicht. Ein Wissen, das dem Ausmaß der menschlichen Handlungen ebenbürtig ist. Dies allerdings hält er für unmöglich. Denn Möglichkeiten des Handelns und Wissen um die Folgen (in den Worten des Biologen Jakob von Uexkülls:801 Wirk- und Merkwelt) klaffen weit auseinander. Eine Tatsache, die selbst zu einem ethischen Problem werde und die Anerkennung eines gewissen Grades der Unwissenheit nach sich ziehen müsse. Denn wir können nicht alles voraussehen und müssen damit leben, dass blinde Flecken in unseren Vorstellungen und Berechnungen bleiben. Doch diese blinden Flecken so gering wie möglich zu halten, wird zu einer vordringlichen Aufgabe des Menschen. Dieses Wissen sollte nach Jonas die Grenzen menschlicher Interessen überschreiten und den moralischen Anspruch der Natur an den Menschen berücksichtigen, da Natur in der Obhut des Menschen ein eigenes Recht zugesprochen werden müsse. Dieses Recht stellt er zunächst nur als Hypothese auf und kommt später eindringlicher darauf zu sprechen. Wenn es aber ein solches Recht gäbe, so Jonas, dann zöge es weitreichende Implikationen der Moral nach sich: „Es würde bedeuten, nicht nur das menschliche Gut, sondern auch das Gut außermenschlicher Dinge zu suchen.“ Dies kann nach Jonas aber eben nur ein metaphysischer Zugriff auf Verantwortung leisten. Technologie als »Beruf« der Menschheit Jonas kommt nun abermals auf das Wesen der Technik zu sprechen. Er ist der Überzeugung, die Gegenwart habe den Fortschritt der Technik als höchstes Ziel der Menschheit ausgewiesen. Der »Beruf« des Menschen im Allgemeinen sei auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Damit ginge eine maximale Herrschaft des Menschen über die Dinge und die Natur einher. Der Vollzug dieser Herrschaft geschehe durch den Homo faber, den herstellenden Menschen, der aktiv in die Umwelt eingreift und sie somit verändert. Bereits Hannah Arendt unterschied den Homo faber vom arbeitenden und handelnden Menschen.802 Der Homo faber, so Arendt, produziere eine künstliche Welt von Dingen. Diese Dinge sind jedoch zugleich das Zuhause des Menschen geworden, indem sie eine zweite Natur geschaffen haben. Das Werk des Homo faber hat einen definierbaren Anfang und ein definitives Ende, da der Herstellungsprozess irgendwann abgeschlossen ist.
Der 801 Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909. 802 Zum Folgenden sieh Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2002.
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Markt ermöglicht, das Werk der Hände zur Schau zu stellen. Der Mensch erlangt dadurch Anerkennung des von ihm Gemachten. Allerdings isoliere sich der Homo faber im reinen Herstellungsprozess der Welt von seiner Mitwelt, so Arendt. Er behandle die Welt als ein Stück Stoff, das auseinandergeschnitten und wieder zusammengeflickt werden darf. Arbeit meint demgegenüber vorrangig das Sich-Kümmern um den biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die Lebensnotwendigkeiten. Arbeit behandelt die Welt des Verschleißes und des Gebrauchs. Kennzeichen der Arbeit ist, dass sie nie an ein Ende kommt. In philosophisch-anthropologischer Sicht ist der Mensch als arbeitendes Wesen das Animal laborans, das sich in engem Bezug zu der Welt des Verbrauchs und des Überflusses weiß. Arendt meint, das Animal laborans beherrsche die Öffentlichkeit, in der es statt Vielfalt nur um Vervielfältigung gehe. Das Handeln hingegen sei als einzige Tätigkeit auf Pluralität angewiesen. Es ist ein Vorrecht des Menschen, denn Tiere handeln nicht, sie verhalten sich allenfalls. So heißt Handeln vor allem Frei-sein von den Zwängen unserer Umwelt. Tragisches Kennzeichen unserer heutigen Welt aber ist gerade das uniforme und berechenbare Sich-Verhalten, das das Handeln außer Kraft gesetzt habe. In Form einer totalen Bürokratie herrschten das bloße Verwalten und die Steigerung der Arbeitsproduktivität über die Muße und das Miteinander-Handeln.
Das Handeln hat einen Anfang, ist aber endlos. Es läutet den Prozess des Verstehens ein und ist aktives In-Erscheinung-Treten. Handeln erschließt sich letztlich im Miteinandersprechen. Freilich schafft das Handeln nicht nur einen Erscheinungsraum für den Menschen, es ist zugleich von Machtbeziehungen zwischen den Menschen subvertiert. Aber erst diese Machtstrukturen vermögen es, eine Gruppe von Menschen auch zusammenzuhalten. Gleichzeitig begrenzt die Pluralität die totale Ausdehnung von Macht. Erst wenn an ihre Stelle Allmacht und Gewalt treten, ist es um den Menschen schlecht bestellt.
Hans Jonas greift diese Differenzierung Arendts auf und sieht im Homo faber jene anthropologische Konstante des Menschseins, die im Zeitalter der Technik herausragende Bedeutung gewönne. Somit wird auch die Technik eminent wichtig im Kontext ethischer Überlegungen zur gegenwärtigen Situation des Menschen. Denn die permanente Rückwirkung auf das, was die Technik selbst hervorgebracht hat, wird zum Paradigma einer neuen Zeit, in der der Mensch durch die Herstellung technischer Erzeugnisse besondere Macht erlangt.
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Brisant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Mensch all das auch herstellt, was er herzustellen in der Lage ist. Der Mensch ist durch die Technik zudem zum Kollektivtäter geworden, dessen Taten in eine unbestimmte Zukunft hineinreichen. Damit wird kollektives Handeln ethisch relevant. Die Politik, so Jonas, sei gefordert, auf diese neue Situation zu reagieren. Die alte Grenze zwischen Staat und Natur sei durch Kollektivhandlungen verwischt, das Künstliche verschlinge mehr und mehr das Natürliche. Daraus ergeben sich insbesondere völlig neuartige juristische Fragen nach Verantwortung, Haftung und Schuld, gerade mit Blick auf zukünftige Generationen, denen wir eine komplett andere, tiefgreifend veränderte Welt hinterlassen. Das Fortbestehen dieser Welt setzt Jonas hierbei als „spekulative Phantasie“ voraus. Als moralische Verpflichtung aber unterscheide sich diese Phantasie von allen „Imperativen der früheren Ethik der Gleichzeitigkeit“. Denn frühere Ethik habe den Fortbestand des Menschen gar nicht thematisieren müssen, weil die Nichtexistenz des Menschen jenseits ethischer Vorstellungskraft gelegen habe. Der menschliche Fortbestand wird nun jedoch selbst zu einer Frage der Ethik, wenn es darum geht, die Bedingungen für das künftige Dasein der Menschen in der Welt zu wahren. Alte und neue Imperative Im Folgenden bezieht sich Jonas abermals auf Kants kategorischen Imperativ. Er bemängelt, dass Kants Handlungsmaxime überhaupt nicht damit rechne, „daß das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird – so wenig, wie schließlich im Umgekehrten, daß die Existenz und das Glück späterer Generationen mit dem Unglück und teilweise sogar der Vertilgung gegenwärtiger erkauft wird.“ Das Gebot der Fortexistenz der Menschheit lasse sich aus Kants Maxime der Selbsteinstimmigkeit, in der die eigene Maxime allgemeines Gesetz werde, nicht ableiten und sei nur metaphysisch begründbar. Zu begründen sei insofern der folgende Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“803 Das Wollen des Selbsteinstimmigkeitsprinzips spielt in diesem Imperativ, der viel eher ein Axiom ist, keine 803 Es heißt in der Tat: „... die Wirkungen deiner Handlung ...“ und nicht etwa, wie so oft falsch zitiert (auch auf der Gedenkbriefmarke!): „Handlungen“.
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Rolle. Auch das Problem kollektiver Handlungen ist hier zumindest nicht namentlich erwähnt. Obwohl das eigentliche Problem die Akkumulation unvorsichtigen Verhaltens ist, geht es in Jonas’ Imperativ lediglich um die Wirkungen individueller Handlungen. Der Imperativ bezieht sich zudem nicht auf den Sprecher selbst, sondern nimmt die Anderen in den Blick, deren Leben wir weder jetzt noch in Zukunft gefährden dürften. Doch sei dieses Gebot, das den Zeithorizont traditioneller Ethik überschreite, schwer zu begründen, zumal das Gebot die Zukunft „als die unabgeschlossene Dimension unserer Verantwortlichkeit“ berücksichtigen will. Deshalb sei „ohne Religion“ vielleicht gar keine Begründung möglich. Und wenn es nur mit Hilfe der Religion geht, ist fraglich, ob es sich noch um verallgemeinerbare Gründe handelt. Wir werden sehen, dass Hans Jonas dieses Dilemma nicht wirklich aufzulösen vermag.804 Frühere Formen der »Zukunftsethik« Es geht Hans Jonas nicht darum, die Zukunft „als möglichen Ort absoluten Wertes“ über das Wohl und Weh der Gegenwart zu stellen. Die Gegenwart ist nicht nur eine Art Durchgangsstadium für die Zukunft. So interpretierten zwar die Kirche und der Marxismus in ihren Heilsversprechen die Gegenwart, doch liegt Jonas eine solche Sichtweise fern. Denn auch jene Ethiken, die sich scheinbar auf Zukünftiges berufen, seien strenggenommen doch Ethiken der Gleichzeitigkeit. So glichen etwa die Vorschriften der Kirche wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Ähnliches jenen Geboten, „die auch eine innerweltliche Ethik klassischen Stils vorschreiben würde oder könnte.“ Darüber hinaus ist für Jonas fraglich, inwiefern all die radikalen, asketischen und lebensverneinenden Vorschriften überhaupt in den Bereich der Ethik fallen. Denn zwischen „dem Endlichen und dem Unendlichen, dem Zeitlichen und dem Ewigen gibt es keine Kommensurabilität und daher auch keine sinnvolle Korrelation.“ Es ist zumindest bemerkenswert, dass Jonas einerseits meint, ohne Religion sei sein Prinzip Verantwortung kaum begründbar, er aber andererseits religiösen Vorstellungen eine so deutliche Absage erteilt. Es scheint, als changiere er selbst nicht ganz entschlossen zwischen ethischen und re804 Zum Thema sieh auch HJ 1-7-16, Religious Implications of Warlessness, sowie KGA III/1, S. 427-444, Rede am Connecticut State College, 21. Oktober 1964. Die Druckfassung weicht vom Typoskript ab.
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ligiösen Prämissen. Letztere würde er gerne aus seiner Ethik verbannen, doch so recht gelingen will es ihm offensichtlich dann doch nicht. Richtig ist allerdings, dass es insbesondere bei den Kirchengeboten an einer Kausalverbindung zwischen Handlung und Handlungsergebnis mangelt. Der Zusammenhang muss nur geglaubt, nicht begründet oder bewiesen werden. Seine eingangs dargestellte Gegenwartsdiagnose geht zumindest von Prämissen der realen und nicht der transzendenten Welt aus, aus denen sie das Sollen ableitet. Nach seiner Kritik an einer religiös inspirierten Zukunftsethik, deren Wert im zu erwartenden Seelenheil des Menschen liegt, greift Jonas zunächst auf die politische Zukunftsethik des „Staatsmannes“805 vormoderner Zeiten zurück. Auch dessen weise Voraussicht blieb stets gebunden an die unmittelbare Gegenwart, die nicht wirklich um der Zukunft willen da war, sondern sich allenthalben in einer „gleichartigen Zukunft“ bewährte. Der gegenwärtig gute Staat rechtfertigte sich in sich selbst und blieb im klassischen politischen Verständnis auch in Zukunft der beste Staat: Was aktuell gut war, so Jonas, war seit alters her im politischen Verständnis auch in Zukunft gut. Diese Sichtweise habe sich zwar durch die politischen Utopien der Neuzeit geändert, doch „der eigentliche Mensch“ sei immer schon da, weshalb es sich auch bei den politischen Utopien aller Couleur um eine Ethik der Gleichzeitigkeit handele. Jonas kritisiert an diesen Ethiken, dass das Anrennen gegen die dem Gottesreich entgegenstehenden Ordnungen der Welt „in der Erwartung eines Jericho-Wunders“ geschehe. Er nimmt hier Bezug auf die Heilung des blinden Bartimäus. Als Jesus durch Jericho ging, saß am Wegesrand der blinde Bettler Bartimäus. Überzeugt, Jesus sei der Messias und könne ihm helfen, rief er: „Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!“ Jesus öffnete daraufhin die Augen des Bartimäus. Dankbar und glücklich folgte dieser ihm nach. Das bedeutet: Man hofft schlichtweg auf das Wunder, die Welt möge sich zu einem Besseren wandeln. Konkrete und begründete Handlungsmaximen lieferten diese Ethiken jedoch nicht. Mit der modernen Technik und dem damit einhergehenden Fortschrittsglauben sei aber die Möglichkeit aufgetreten, die Vergangenheit als Vorstufe der Zukunft aufzufassen. In Verbindung mit einer säkularisierten 805 Allen Genderdiskursen zum Trotz ist das Buch in einer Zeit geschrieben, die sich um eine politisch korrekte Geschlechterbezeichnung noch nicht allzu viele Sorgen gemacht hat. Es sei Jonas deshalb dieser Terminus durchaus zugestanden.
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Eschatologie wurden einer utopischen Politik, die das Himmelreich auf Erden errichten möchte, die begrifflichen Voraussetzungen geschaffen. Bereits im ersten Kapitel also greift Jonas Blochs Philosophie an, ohne seinen Namen an dieser Stelle zu erwähnen: „Das Handeln geschieht um einer Zukunft willen, die weder Täter noch Opfer noch Mitlebende genießen werden; die Verpflichtung ans Jetzt geht von dort aus, nicht vom Wohl und Wehe seiner zeitgenössischen Welt; und die Normen des Handelns sind so vorläufig, ja so »uneigentlich« wie der Zustand, den es in den höheren aufheben soll.“ Der Mensch als Objekt der Technik Gegen all jene vorausgegangenen Ethiken der Gleichzeitigkeit möchte Hans Jonas nun eine Ethik entwerfen, die „die neuen Arten und Abmaße des Handelns“ berücksichtigt. Diese Ethik muss seines Erachtens eine „Ethik der Voraussicht und Verantwortung“ sein, die sich mit den neuen Herausforderungen, die dem Werk des Homo faber im Zeitalter der Technologie entspringen, vergleichen ließe. In diesem Zeitalter ist der Mensch in Jonas’ Augen selbst ein Objekt der Technik geworden. Die Fortschritte in Medizin und Biologie setzen die Altersgrenze hoch oder wirken zumindest lebensverlängernd. Ewiges Leben ist zwar nicht wirklich zu erwarten, aber die Lebenserwartungen sind doch enorm gestiegen. Jonas thematisiert in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, wer in den Genuss jener Maßnahmen kommen soll, die ein längeres Leben ermöglichen. Hierbei setzt er voraus, dass die medizinischen Fortschritte zu einem Kampf um Ressourcen führen, die in die Frage nach der Macht über die Zugänge zu diesen Ressourcen münden. Darüber hinaus greift er das Thema des demografischen Wandels auf. Dieses war seit Beginn der 1970er Jahre besonders virulent, da die Baby-Boomer-Phase der 1960er Jahre vorbei war und ab 1972 die Sterblichkeitsrate erstmals höher lag als die Geburtenrate. Dies führte zu einem regelrechten Hype der Prognosen für die kommenden Jahrzehnte. Man fürchtete in Deutschland, dass die Deutschen bald aussterben könnten, wenigstens aber machte man sich Gedanken über einen „Raum ohne Volk“.806 In geradezu apokalyptisch 806 Erstmals ist davon schon 1950 die Rede bei Johannes Jacobi: Raum ohne Volk. In: Die Zeit Nr. 12, 23. März 1950, S. 3. Der Artikel kehrt Hans Grimms 1926 erschienenen Roman „Volk ohne Raum“ um. Grimms Titel erhielt als Slogan seinerzeit Einzug in die Sprache der Nationalsozialisten und wurde zur Schullektüre erkoren.
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anmutenden Pinselstrichen malte man in jenen Tagen eine bedrohlich-düstere Zukunft: die Rede von entleerten Regionen, versteppten Gebieten, vom Untergang des Abendlandes und vom „Volkstod“ geisterte durch die Presse. Bei Hans Jonas klingt das weit weniger dramatisch. Nichtsdestoweniger greift er in diesem Abschnitt die Debatte auf und fragt, wie gut oder schlecht der demografische Wandel „für den allgemeinen Zustand des Menschen“ sei. Tod und Geburt gehören für ihn untrennbar zusammen: „Wenn wir den Tod abschaffen, müssen wir auch die Fortpflanzung abschaffen, denn die letztere ist des Lebens Antwort auf den ersteren.“ Abermals rekurriert Jonas auf Hannah Arendt, wenn er den Wert eines steten Neubeginnens betont. Neubeginn impliziert Wahlfreiheit. Anders als bei Kant, für den der Wille weder geistige Fähigkeit noch liberum arbitrium, sondern praktische Vernunft ist, wird der Mensch qua Wahlvermögen und dem Vermögen neu anzufangen selber zu einem Neuanfang. Initium ut esset creatus est homo, heißt es bei Augustinus: Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen. Für diesen Neuanfang antizipiert der Wille Zukünftiges, er ist das „Organ der Zukunft“807 – so wie andererseits das Gedächtnis das „Organ der Vergangenheit“ ist. Der Wille will etwas, was noch nicht ist; er bezieht sich somit nicht auf konkrete Objekte, sondern auf Unsicheres, auf Projekte, an die er bestimmte Erwartungen heranträgt (und die von Hoffnung oder Furcht begleitet werden). Diese Erwartungshaltung des Willens ist eine, wie Arendt behauptet, neue Errungenschaft des philosophischen Denkens. So gab es in der griechischen Literatur keinen äquivalenten Begriff für das, was wir als „Wille“ bezeichnen. Erst mit Kant und dessen Rede vom „guten Willen“808 kommt es zu einer Gleichsetzung von Wollen und Sein. Damit habe sich, so Arendt, dem Menschen die Zukunft eröffnet. Von nun an sei es geradezu fatalistisch und töricht gewesen, dem eigenen Willen nichts zuzutrauen, ihn einschläfern zu lassen, weil man sich dadurch auch seiner eigenen Handlungsoptionen beraubte. Der Wille als Motor des Handelns trägt jedoch sein eigenes Ende in sich. Denn dort, wo eine Handlung vollzogen wird, so Arendt, erlösche der Wille automatisch, weil er nur prospektiv orientiert sei und dementsprechend agiere. Damit aber nichte er gewissermaßen die Gegenwart. 807 Vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken/Das Wollen. München 1998. 808 Kant: Grundlegung, a.a.O.
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Die Stimmung des wollenden Ichs sei vornehmlich Ungeduld, Unruhe und Sorge. So setze nämlich der Plan des Willens ein „Ich kann“ voraus, das keinesfalls gesichert sei. Unruhe sei mithin der Grund allen Seins; der Wille lebe in steter Anspannung. Das Heilmittel dieser Anspannung heißt bei Arendt: Versprechen. Denn ich kann die Sorge und Unruhe durch meine Macht, ein Versprechen zu geben, lindern, indem ich sie in Absehbares resp. Voraussagbares verwandle. Hier zeigt sich umso deutlicher, dass der Wille Zukunftsbezug hat. Mein Versprechen verhindert, dass meine private Welt zur Hölle wird. Hans Jonas denkt diese Ausführungen Arendts in diesem Abschnitt seines Werkes mit, wenn er betont, dass uns das Staunen als der Beginn allen Philosophierens abhandenkäme, wenn es nur noch Alter, aber keine Jugend mehr gäbe. Dann nämlich werde die private Welt in der Tat zur Hölle: „Dies immer-wieder-Anfangen, das nur um den Preis des immer-wieder-Endens zu haben ist, kann sehr wohl die Hoffnung der Menschheit sein, ihr Schutz davor, in Langeweile und Routine zu versinken, ihre Chance, die Spontaneität des Lebens zu bewahren.“ Daran schließt er Fragen an, die um medizinische Kontrolle und Eingriffe sowie die Möglichkeit kreisen, die Natur des Menschen zu manipulieren. Insbesondere die Frage, wer die Entscheidungsträger des medizinisch-technischen Fortschritts sind, interessiert ihn. Aber auch „die Frage nach dem moralischen Recht, mit künftigen menschlichen Wesen zu experimentieren, stellt sich hier.“ Die »utopische« Dynamik des technischen Fortschritts und das Übermaß der Verantwortung Die Abschnitte VIII und IX sind die beiden letzten des ersten Kapitels. Sie sind eine Art Zusammenfassung des bis hierhin Erörterten und geben zugleich einen Ausblick auf das, was folgen wird. Zunächst hebt Jonas nochmals den Schneeball-Effekt hervor, den verschiedenste Technologien nach sich ziehen und die gewissermaßen Dinge und Ereignisse, die einstmals als Utopie galten, Realität werden ließen. Dabei seien die Fernwirkungen dieser Effekte oft unbekannt und könnten unter Umständen auch nicht unbedingt auf ein bestimmtes Ereignis zurückgeführt werden. Wir seien inzwischen, so Jonas, permanent mit Endperspektiven konfrontiert. Dieser Zustand und die unglaubliche Machtfülle, die der Mensch innehabe, verlange nach einer neuen Art von Demut. An-
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gesichts unseres Unwissens bestimmter Prozessabläufe und ihrer Fernwirkungen sei aber auch Zurückhaltung bei der Durchführung geboten. Dies gelte umso mehr, da die derzeit existierende repräsentative Demokratie die Zukunft der Menschen überhaupt nicht in den Blick nähme. In politischen Entscheidungen habe das Nichtexistente keine Lobby „und die Ungeborenen sind machtlos.“ Es sei dies die Zeit der politischen Philosophie, die jenem Umstand Rechnung trage. Das ethische Vakuum Ähnlich beschwört er im letzten Abschnitt des ersten Kapitels sein Anliegen. Noch immer ist sein Buch in erster Linie Zeitdiagnose und Skizze dessen, was er vorhat. Gravierendes Problem ist seines Erachtens die Tatsache, dass die Grundlagen, von denen Handlungsnormen bis dato abgeleitet wurden, nicht mehr vorhanden seien. Alles ist im Fluss und nichts scheint mehr wirklich verbindlich zu sein. Auch der Mainstream der Philosophie ist von diesem Virus ergriffen: Normen sind per se verdächtig geworden und die Menschheit zittere in der „Nacktheit eines Nihilismus“. Er nennt hier keine konkrete Philosophie, aber angesichts des Einflusses von Heidegger auf die französische Philosophie jener Tage ist offenkundig, wer gemeint ist. Schreibt die Philosophie dieser Tage also nur noch einen Kommentar zur gesellschaftlichen Realität, so gehen für Jonas gewachsene Macht und Leere der Werte Hand in Hand. Die Menschen besäßen mittlerweile unheimliche Kompetenzen, doch nur ein äußerst geringes Wissen über das, was die Folgen ihres Tuns bewirkten. Eine Ethik, die dieser Situation gerecht wird, sei, streng genommen, auf Religion angewiesen, da es eine Angst vor fernen Zuständen nicht gäbe. Doch auf die Religion, die ohnehin im Verschwinden begriffen ist, könne man sich bei der Begründung einer Ethik der Verantwortung nicht wirklich berufen. Es heißt insofern, möglicherweise aus einer Haltung des Kompromisses heraus, die Frage zu klären, was wir auf jeden Fall schützen wollen und müssen, da scheinbar harmlose Entwicklungen zu Bedrohungen und Katastrophen anwachsen. Sein Fazit: Das kollektive Handeln im Zeitalter der Technologie ist ethisch nicht mehr neutral. Es ist die Aufgabe der praktischen Philosophie, nach einer Antwort auf diese Situation zu suchen.
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II Grundlagen- und Methodenfragen
Idealwissen und Realwissen in der »Zukunftsethik« Das zweite Kapitel nimmt sich der theoretischen, d.i. philosophischen Aufgaben an. Es gilt nun, eine Prinzipienlehre der Moral als angemessene Antwort auf die aufgeworfenen Probleme zu entwerfen. Darüber hinaus will Jonas eine Lehre der Anwendung, d.i. eine Theorie der Politik beisteuern. In dieser geht es in erster Linie darum, Willkürhandlungen zu vermeiden und (politische) Entscheidungen so zu fundieren, dass sie der (öffentlichen) Kritik standhalten, das heißt, politische Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen in der Zukunft moralisch zu rechtfertigen. Plausibilitäten allein reichen nicht aus, um eine verpflichtende Ethik zu begründen, die eine angemessene Reaktion auf das eingangs Beschriebene bereithält. Es geht Hans Jonas hierbei nicht bloß um eine irgendwie geartete Zukunft des Menschen, sondern um eine besondere, nämlich lebenswerte Zukunft, deren Details jeder kritischen Nachfrage, und ist sie noch so provokativ und mutet absurd an, standhält. Um sich Vorstellungen von dieser Zukunft machen zu können, schlägt Jonas eine so genannte „Heuristik der Furcht“ vor. Die mögliche Gefahr, dass keine Menschen mehr in Zukunft sein könnten, lehrt uns das Fürchten (Φόβος). Wo keine Gefahr, da auch nichts, was geschützt werden müsste. Wo aber Gefahr lauert, da heißt es, Vorkehrungen zu treffen. Erst wenn das Los des Menschen auf dem Spiel stehe, wüsste er auch um die Bedrohung seiner selbst. Diese Bedrohung sei durch die technologischen Möglichkeiten virulent. Das Böse ist leicht zu erkennen, so Jonas, viel leichter als das Gute. Und so gelte es, dies Böse zu verhindern, um das Gute zu tun. Wir erkennen das Gute erst im Antlitz des Bösen, denn wir wüssten nichts von Gesundheit, wenn es die Krankheit nicht gäbe, und nichts vom Frieden ohne den Krieg. So wüssten wir auch viel besser, was wir auf keinen Fall wollen als was wir tatsächlich wollen: „Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen.“ Damit sei zumindest ein Anfang gemacht bei der Suche nach dem wahren Guten. Für Jonas wird die Suche nach dem Übel zur ersten Pflicht des Menschen. Die Suche muss, um nicht in wilder Spekulation zu münden, durch wissenschaftliche Prognosen und Analysen, deren Geltungsanspruch immer wieder neu geprüft werden muss, fundiert sein – schließlich liegt das
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Übel jenseits der Erfahrung in der Zukunft. Wir müssten jedoch schon in der Gegenwart so tun als ob wir dieses Übel am eigenen Leibe erfahren. Nur so ließen sich künftige Katastrophen vermeiden. Doch sich vor etwas fürchten zu lernen, was man nicht selbst erfahren hat, ist schwierig. Die Furcht kommt nicht von allein; sie muss eingeübt werden. Es handelt sich aus diesem Grund und in den Worten von Hans Jonas um „eine Furcht geistiger Art“. Die Einnahme dieser, durch wissenschaftliche Untersuchungen gestützten, wohlinformierten Geisteshaltung in Form von „Denkexperimenten“ wird in seiner Ethik ebenfalls zur Pflicht des Menschen. Vorstellungen über die Inhalte des zukünftigen Übels können keinen Wahrheitsanspruch erheben. Es geht schlichtweg um Hypothesen, die allenthalben als wahrscheinlich angenommen werden dürfen. Um einen Wahrheitsanspruch bestimmter Vorstellungen geht es Jonas aber auch nicht. Er möchte mit den Denkexperimenten (der imaginativen Kasuistik) bloß mögliche Szenarien veranschaulichen, um bislang unbekannte Möglichkeiten von Risiken und Nebenwirkungen kollektiven Handelns aufzuspüren. Als Beispiel einer solchen Kasuistik führt er Huxleys „Brave New World“809 an. Wie aber und nach welchen Kriterien soll man, vor allem im Bereich politischer Entscheidungen, zwischen verschiedenen und unter Umständen konkurrierenden Prognosen wählen? Vorrang der schlechten vor der guten Prognose Jonas ist der Auffassung, das oberste Gebot bei konkurrierenden Prognosen sei es, der schlechten Prognose in jedem Fall den Vorrang vor der guten zu geben. Man solle in diesem Zusammenhang die Ungewissheit in die ethische Theorie mit einbeziehen und sie zum Anlass eines neuen ethischen Grundsatzes machen. Dieser Grundsatz lautet: Die Unheilsprophezeiung soll größeres Gewicht haben als die Heilsprophezeiung, da irreversible Irrtümer fatal wären und das Leben auf der Erde in Gänze bedrohten. Er spricht vom „Gebot der Bedächtigkeit“ angesichts der Verselbstständigung technologischer Entwicklungen: „Das einmal Begonnene nimmt uns das Gesetz des Handelns aus der Hand, und die vollendeten Tatsachen, die das Beginnen schuf, werden kumulativ zum Gesetz seiner Fortsetzung.“ Freie Entscheidungen zögen teils unfreiwillige Folgen nach sich. Für dieses Phä809 Aldous Huxley: Brave New World. New York 1998 (1932).
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nomen eine gewisse Wachsamkeit zu entwickeln, ist ein entscheidendes Moment für das Gelingen einer menschenwürdigen Zukunft. Die Abwägung zwischen guten und schlechten Prognosen überrascht. Denn es geht scheinbar nicht konkret um das vernünftige Abwägen und ein tiefer gehendes Argumentieren hinsichtlich konkurrierender Prognosen, sondern zuvorderst um den Vorrang des schlechten Szenarios vor dem guten. Setzt Jonas hier nicht den eingangs geforderten wissenschaftlichen Grundcharakter der Zukunftsprognose wieder außer Kraft? Abermals lautet seine Antwort, dass es einen metaphysischen Tatbestand gäbe, „ein Absolutum, das als höchstes und verletzliches Treugut uns die höchste Pflicht der Bewahrung auferlegt.“ Die Sache scheint also entschieden ohne eine nähere Diskussion über die Gewichtung von guten und schlechten Prognosen. Es geht Jonas nicht um die Abwägung endlicher Gewinn- und Verlustchancen, „sondern um die keinem Wägen mehr unterwerfbare Gefahr unendlichen Verlustes gegen die Chance endlicher Gewinne.“ Deshalb sei die schlechte Prognose maßgeblich, die Heilsprognose zu vernachlässigen. Das Element der Wette im Handeln Jonas geht nun daran, sein ethisches Prinzip zu entfalten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Ungewissheit der Fernwirkungen ein Prinzip verlangt, welches selbst keine Ungewissheiten mehr zulässt. Dazu rekurriert er „auf das Element des Glückspiels oder der Wette.“ Konkret fragt er, wie hoch aus ethischer Perspektive der Einsatz der Wette sein darf. Zunächst betont er, man dürfe um nichts wetten, was einem nicht gehöre. Doch das lässt sich freilich nicht durchhalten, da, wie er gezeigt hat, menschliche Handlungen stets die Angelegenheiten anderer betreffen und beeinflussen. Dies führt ihn zu der Ansicht, dass wir qua Handelnde immer auch ein gewisses Maß an Schuld bei allem, was wir tun, zu tragen haben. Und dieses Schuldeingeständnis gelte auch für geplante Handlungen. Es stelle sich somit die Frage, „wie weit wir in der bewußten Verletzung oder auch nur Gefährdung ... fremder Interessen in unseren Projekten gehen dürfen.“ Herauszufinden, wie groß der Wetteinsatz sein darf, sei Aufgabe einer Kasuistik der Verantwortung. Mutwillig, leichtsinnig und gewissenlos dürften die Handlungen nicht sein. Dies verbiete die Einbeziehung der Anderen in die „Wette“. Der Wetteinsatz selber dürfe „nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen“ beinhalten, „vor allem nicht ihr Leben.“
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Die Rangfolge der Kasuistik ist auch hier die nämliche: Es gilt stets, das Übel abzuwenden. Ein Übel in Kauf zu nehmen kann allerdings notwendig sein, um ein noch größeres Übel abzuwenden. Man kann, so Jonas, zwar ohne ein höchstes Gut, aber niemals mit dem größten Übel leben. Da manch ein Wagnis im technologischen Fortschritt aber bloß der vermeintlichen Verbesserung des Gegenwärtigen diene, in Wahrheit aber nicht selten eine Katastrophe nach sich ziehe, also das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen wiederum aufs Spiel setze, verbiete es sich, jedes technologische Projekt um seiner selbst willen auch durchführen zu wollen. Das bedeutet, die unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es gibt kein „Recht der Menschheit auf Selbstmord.“ Es ist genau dieses ethische Prinzip, das bestimmte technologische Experimente verbietet. Jonas bezeichnet es als eine Umkehrung von Descartes’ Dubio-Prinzip. Descartes behandelte in seiner Philosophie alles irgendwie Bezweifelbare als etwas Falsches. Alles könnte ein Traum sein. Doch dann müsse es jemanden geben, der träumt (und denkt): Das Ich.810 Jonas hingegen meint, alles, was zwar zweifelhaft, doch möglich ist, „für Zwecke der Entscheidung wie Gewißheit zu behandeln.“ Der Zusatz ist jedoch entscheidend, denn er lautet: „wenn es von einer bestimmten Art ist.“ Diese „bestimmte Art“ bezieht sich auf die Unheilsprognose. Wo also mögliches Unheil drohe, ist die Möglichkeit als Faktum zu betrachten. Handlungsentscheidungen sollten sich daran orientieren, welche potenziellen Wirkungen, die die Menschheit als Ganze bedrohten, aus ihr resultieren könnten. Das neue ethische Prinzip, geboren aus einem Gedankenexperiment, wie es seit alters her in der Philosophie verwendet wird (denken wir nur an Platons Höhlengleichnis), verbietet somit in erster Linie, in einem Va-banque-Spiel das Nichts zu riskieren. Das Sein ist dem Nichtsein vorzuziehen. Dieses unbedingte Gebot verpflichte den Menschen zu Behutsamkeit als dem eigentlichen Kern moralischen Tuns. Die Pflicht zur Zukunft Der Kern moralischen Tuns desavouiert in Jonas’ Augen zugleich die herkömmliche Idee der Reziprozität, das heißt, die gegenseitige Inanspruch810 René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie. Stuttgart 1986.
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nahme von Rechten und Pflichten verschiedener Handlungsparteien. Da zukünftige Generationen in der Gegenwart keine Ansprüche stellen können, haben sie strenggenommen auch keine Rechte. Dennoch gibt es eine Pflicht gegenüber den Nachkommen, so Jonas. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den „Fall elementarer nicht-reziproker Verantwortung und Pflicht“ gegenüber den eigenen Kindern. Es handele sich um eine Art bedingungslose Verantwortung, wenngleich man im Alter erwarten mag, für die Erziehung eine Gegenleistung in Form der Pflege zu erfahren. Im archetypischen Verhältnis der Eltern zum Kind sei der Ursprung der Idee der Verantwortung zu suchen. Allerdings sei die Verantwortung der Eltern für das Kind nicht gleichzusetzen mit der Verantwortung des Einzelnen für künftige Generationen. Aber es gebe, so Jonas, eine grundsätzliche Pflicht zum Dasein einer künftigen Menschheit, die der Elternverantwortung zumindest vergleichbar ist: „Da spätere Menschen auf jeden Fall da sein werden, gibt ihnen, wenn es soweit ist, ihr unerbetenes Dasein das Recht, uns Frühere als Urheber ihres Unglücks zu verklagen.“ Zwei Aspekte fallen hierbei ins Auge: Zum einen die hypothetisch angenommene Voraussetzung, dass spätere Menschen „auf jeden Fall da sein werden“, sowie zweitens das nun doch zugestandene, ebenso hypothetische Recht der Klage späterer Generationen gegen die Vorfahren als Urheber von Unglück. Daraus leitet Jonas eine Pflicht der Urheber ab, für Zustände zu sorgen, die ein solches Unglück vermeiden. Darin zeige sich die Verantwortung der heutigen Generation. Die oberste Pflicht besteht nach Jonas darin, künftigen Rechtssubjekten ihr Sollen nicht zu vereiteln. Die Technologie berge die Gefahr in sich, dieses Sollen in der Tat unmöglich zu machen, indem sie eine grundsätzliche Gefahr des Fortbestands der Menschheit in sich birgt. Dies liefe der Pflicht entgegen, dafür Sorge zu tragen, dass auch weiterhin eine Menschheit da sein werde. Die Verantwortung des Menschen bezieht sich somit zuvorderst auf die ontologische Idee des Menschen.811 Diese Idee sei zugleich kategorisch. Bezog sich Kants kategorischer Imperativ noch auf eine Idee des Tuns, so bezieht sich hingegen Jonas’ Imperativ auf eine Idee des Seins. Sein Prinzip gründet insofern nicht selbst in der Ethik, sondern in der Lehre vom Sein, der Metaphysik. Ganz bewusst stellt er sich hierbei der Auffassung entgegen, vom Sein auf das Sollen zu schließen, sei 811 Sieh dazu auch Torben Pfau: Die Idee des Menschen: Eine kritische Analyse des normativen Menschenbildes in Hans Jonas’ Zukunfts- und Bioethik. Marburg 2014.
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ein naturalistischer Fehlschluss und wäre unbedingt zu vermeiden. Das letzte Wort über die Wahrheit metaphysischer Philosophie sei überhaupt noch nicht gesprochen, behauptet Jonas, zumal alle Ethiken einen Rest Metaphysik beinhalteten. Erneut folgt hier der Rekurs auf die Religion, die Antworten bereit halte, die die Philosophie erst suchen müsse, ohne zu wissen, ob diese Suche auch von Erfolg gekrönt sei: „Der Glaube kann also sehr wohl der Ethik die Grundlage liefern.“ Im Gegensatz zur Metaphysik sei der Glaube jedoch nicht unbedingt auf Anforderung da. Es heißt insofern, das Prinzip Verantwortung aus metaphysischen Überlegungen heraus zu rechtfertigen. Sein und Sollen In Abwandlung der Überlegungen des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, fragt Jonas nun, warum etwas sein soll – und eben nicht nichts.812 Hierbei geht es nicht um Einzelschicksale, sondern um Sein als solches und damit verknüpft um die Frage nach dem Seinsollen des Menschen, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln bereits angeklungen ist. Jonas diskutiert in diesem Kontext Leibniz’ Frage mit Blick auf den Horizont der Zukunft. Diese Zuspitzung hin auf das Seinsollen der Welt will ohne die bei Leibniz mitklingende These der Urheberschaft der Welt auskommen, weil die Frage nach dem Woher für das Sein als Ganzes keinen Sinn ergibt. Denn wer fragt, warum etwas ist, muss auf die Anfänge des Seins, auf Gott, zurückgehen, und dann stellt sich wiederum die Frage, warum Gott die Welt geschaffen hat. Dies führe zu keinem befriedigenden Ergebnis. Deshalb soll die Metaphysik der Verantwortung nun auch ohne Rückgriff auf die Religion auskommen. Für das Verständnis „im Sinne rechtfertigender Norm“, mithin die Frage, warum etwas wert ist zu sein, sei Leibniz’ Frage aber durchaus sinnvoll. Der Sinn der Frage, warum überhaupt etwas und nicht nichts ist, sei also letztlich in der Frage zu suchen, warum etwas „im Vorrang zum Nichts sein soll, was immer die Ursache sei, daß es wird.“ Erst das Soll in der Frage nach dem Sein verleihe der Frage einen Sinn. Die Frage nach dem Soll impliziert die Frage nach der Möglichkeit von Werten: „Alles spitzt sich damit auf die Frage zu, ob es denn so etwas wie »Wert« überhaupt gibt.“ Jonas geht es hierbei nicht um subjektive Wert812 Vgl. dazu: Daniel Schubbe et alii (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage. Hamburg 2013.
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haltungen, die sich, und seien sie noch so oberflächlich, kaum widerlegen ließen. Es geht an dieser Stelle vielmehr um das Problem eines objektiv begründbaren Seinsollens und damit um die Pflicht, dieses Sein zu bewahren und zu schützen. Es geht um die notwendige Explikation einer Werttheorie, die er im dritten Kapitel unternimmt.
III Über Zwecke und ihre Stellung im Sein
Um das Verhältnis von und die Unterschiede zwischen Werten und Zwecken zu bestimmen, führt Jonas einige Beispiele an. Die Exemplifikation dieser Dinge und Tätigkeiten dient dazu, in seine Theorie der Verantwortung überzuleiten. Er möchte in diesem Kapitel von der Zweck- zur Wertfrage vorstoßen. Wie sonst nirgends in seinem Buch treten in diesem Kapitel ungenannt seine philosophischen Lehrer als Stichwortgeber auf: Die immanente Teleologie des Aristoteles, die Existenzphilosophie Heideggers und die phänomenologische Methode Husserls. Alle drei Philosophien verbindet er wiederum mit biologischen Analysen und kombiniert diese hier zu einer eigenwilligen Vorstudie seiner Verantwortungsphilosophie. Zunächst ist nicht ganz klar, warum er auf Dinge wie Hammer und Verdauungsorgan rekurriert. Erst in Korrespondenz zum folgenden Kapitel wird dies deutlich, wenn er nämlich seine philosophischen Lehrer hinter sich lässt und sie weiterdenkt. Dann geht es nicht mehr nur um Zwecke, sondern um das Gute, das Sollen und das Sein, das sich aus der Vorstudie über die menschlichen Phänomene ergibt. Der Hammer In Anlehnung an Heidegger definiert er den Zweck des Hammers als „Mitihm-hämmern-Können“: Der Hammer wurde geschaffen, damit jemand mit ihm hämmert. Dieser Zweck des Hammers ist ein Teil des Begriffs des Hammers. Der Zweck ist nicht unabhängig vom geschaffenen Ding, geht diesem aber voraus. Denn der Hammer ist entstanden, um zu hämmern. Die Idee des Hämmerns war gewissermaßen die Ursache für den Bau des Hammers. „Der Begriff liegt dem Gegenstand zugrunde“, sagt Jonas. Allerdings kann die Existenz des Hammers auch unabhängig von seinem Zweck sein. Dann handelt es sich bloß um ein Ding mit einem ganz bestimmten Aussehen. Auch trägt der Hammer nicht selbst den Zweck des Hämmerns in sich, sondern den Zweck kann nur derjenige erkennen, der den Hammer
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
zum Hämmern benutzt: „Dies ist so bei allen leblosen Geräten: der ihnen als Kunstprodukt wesentliche Zweck ist doch nicht der ihre.“ Der Gerichtshof Wie auch der Hammer ist der Gerichtshof als eine vom Menschen geschaffene Institution ein Kunstprodukt. Auch er wurde wie der Hammer geschaffen, um einen bestimmten Zweck zu verwirklichen. In diesem Fall: die Rechtsprechung. Die Rechtsidee manifestiert sich in den verschiedenen Arrangements eines Gerichts: Der Kleidung der Richter, der Anklagebank, den Strafverteidigern etc. Anders aber als beim Hammer „geht der Zweck hier in die Sache selbst ein“, weil ein Seinsunterschied von Hersteller und Hergestelltem nicht zu erkennen ist. Der Gerichtshof selbst ist ein Zwecke setzendes Gebilde, „und die Abweichung vom ursprünglichen Zweck ... wird Anlaß zur Kritik“, denn die Richter als Recht sprechender Teil des Gerichtshofes, die sich den ursprünglichen Zweck der Institution selbst zu eigen gemacht haben, sind schuldig, „wenn der Gerichtshof versagt.“ Sowohl Hammer als auch Gerichtshof sind um eines menschlichen Zweckes willen geschaffen worden. Anders jedoch als beim Hammer kann es einen Gerichtshof ohne den Zweck der Rechtsprechung nicht geben, er wäre völlig sinnlos. Das Gehen Nun kommt Jonas auf natürliche Dinge und ihre Zwecke zu sprechen. Zunächst analysiert er hierbei das Gehen: „Man geht, um irgendwohin zu gelangen.“ Der Zweck des Gehens ist das Ans-Ziel-Gelangen. Das Gehen geschieht freiwillig und willkürlich. Man geht in der Regel nicht einfach, sondern kontrolliert die Richtung und seine Beine während des Gangs wie man beim Hämmern den Hammer kontrolliert. Mit Aristoteles definiert Jonas nun den menschlichen Körper als Organismus (Σώμα οργανικών), d.i. ein Werkzeug und somit ein Zweckgebilde, wobei noch nichts darüber ausgesagt sei, ob der Zweck dieses natürlichen Werkzeugs „außer in der Verwendung schon in seinem Ursprung und Dasein“ liege. Diese Frage, die auch den Subjektivitätscharakter von Zwecken berührt, hat Jonas ausführlich in dem Kapitel „Macht und Ohnmacht der Subjektivität“ behandelt. Der Verleger Siegfried Unseld hatte Bedenken hinsichtlich der Verständlichkeit für ein breites Publikum und bat Jonas, das
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Kapitel aus dem Buch wieder zu streichen. Es erschien sodann als eigenständige Publikation.813 Die Probleme subjektiver Willensbildung sind im „Prinzip Verantwortung“ insofern nur kursorisch abgehandelt. In diesem Abschnitt versucht Jonas Unterschiede zwischen menschlichem Willen und tierischem Instinkt aufzuzeigen. Im Kern zeigt er, dass der Mensch einen klaren Begriff von Zielen hat und bereits vorausschauend Mittel einsetzt, um seine Ziele und Zwecke zu erreichen. Anders als das Tier handelt der Mensch und verhält sich nicht bloß. Dies gilt auch für das Gehen. Es ist eingebettet in einen Handlungskontext und geschieht nicht wie beim Tier aus einem nahezu ungeplanten, allein in der Gegenwart verorteten Tun heraus. Tiere erledigen Dinge, so Jonas, aus einem Antrieb heraus, der auf einen „eigenmächtigen Impuls des Gefühls“ zurückgeht. So beschaffen sie sich Nahrung, weil sie Hunger haben. Appetit und Sättigung kennt nur der Mensch. Bei der Lektüre dieses Abschnitts spürt man am deutlichsten, dass Jonas diesem Problemhorizont ein weiteres Kapitel gewidmet hatte. Es tauchen Stellen auf, an denen er explizit auf noch folgende Erörterungen hierzu verweist. So bleibt auf Grund der Streichung der Abhandlungen über das Leib-Seele-Problem eine Lücke im „Prinzip Verantwortung“. In seinem Fazit skizziert er zumindest sein Ergebnis: „Das im weiteren unterstellte Ergebnis ist, kurz gesagt, die Wiederbeglaubigung des ursprünglichen Selbstzeugnisses der Subjektivität, das heißt ihrer vom Materialismus bestrittenen und zum »Epiphänomen« herabgesetzten Eigenwirklichkeit.“ Der Materialismus als Erkenntnistheorie interpretiert Vorgänge und Phänomene der Welt als Gesetzmäßigkeiten von Materie. Auch das Bewusstsein, Gedanken und Gefühle seien Erscheinungsformen von Materie. Das Hauptargument besteht darin zu sagen, es gäbe zwar Materie ohne Geist, doch kein Geist ohne Materie. Körperloser Geist existiert nicht. Jonas versucht, die erkenntnistheoretische Position dieses Laplaceschen Dämons zu widerlegen, weil anders keine Verantwortung, keine menschliche Freiheit, kein Wille denkbar sind. Der Hinweis auf diesen notwendigen Versuch soll an dieser Stelle genügen. Denn er setzt diese philosophisch-biologischen Überlegungen im nächsten Abschnitt weiter fort.
813 Hans Jonas: Macht und Ohnmacht der Subjektivität. Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a.M. 1987.
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Das Verdauungsorgan Der Zweck eines jeden Organismus ist das Leben. Jedes einzelne Organ erfüllt in diesem Sinne einen Teilzweck, so Jonas zu Beginn des vierten Abschnitts über die Stellung der Zwecke im Sein. Dass das Bewusstsein bestimmte Zwecke erfüllt, wenn Handlungen willkürlich ausgeführt werden, hat Jonas im Rahmen seiner Verteidigung der Subjektivität im vorangegangenen Kapitel ausgeführt. Nun will er darüber hinaus nachweisen, dass auch dort, wo Prozesse des Organismus unwillkürlich ablaufen, Zwecke im Spiel sind. Dazu bezieht er sich auf die Beschreibung des Verdauungsorgans als Beispiel für alle unbewussten Vorgänge im Organismus. In Auseinandersetzung mit der zentralen These der emergent evolution, die der englische Zoologe Conwy Lloyd Morgan 1933 in „The Emergence of Novelity“814 entwickelt hat, will Jonas schließlich nachweisen, dass Zweckrationalität auch in der vorbewussten Natur vorhanden ist. Morgan behauptete hingegen, neue Zwecksetzungen kämen in erster Linie durch Sprünge in der Evolution (Emergenzen) zustande, deren Herkunft immanent, das heißt, nicht aus anderen Entwicklungsstufen hervorgegangen wären. So sei auch das Auftreten der Subjektivität ein evolutionärer Sprung. Bestimmte Zwecke seien auf bestimmten höheren Entwicklungsstufen vorhanden, auf niedrigeren Stufen aber eben nicht. Dies schließe die Möglichkeit einer teleologischen Interpretation des Seins aus. Jonas hält dem entgegen, eine neue Entwicklungsstufe wie das Vorhandensein von Subjektivität bestimme die niedrigeren Stufen mit, wirke auf sie zurück und tue ihr so gewissermaßen Gewalt an. Dies widerspreche der These, das Neue komme zu dem Vorigen bloß hinzu und sei nicht aus diesem entstanden. Eine kausale Unschuld neuer Stufen sei insofern zweifelhaft. Morgans Theorie könne zwar neue Wirkungsstrukturen erklären, die Wirkungen selber jedoch nicht. Denn dann müsste sie zeigen, dass die Zweckhaftigkeit des Bewusstseins nur auf einer bestimmten Stufe vorzufinden sei. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Vielmehr seien die Entwicklungsstufen durch Kontinuität gekennzeichnet. Es gibt fließende Übergänge. In Anlehnung an seine Philosophische Anthropologie aus „Organismus und Freiheit“815 stellt er fest, die höchste Stufe verweise auf die unterste, in der niedrigsten Entwicklungsstufe sei die höchste bereits 814 Lloyd Morgan: The emergence of novelity. London 1933. 815 Jonas: Organismus und Freiheit, a.a.O.
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angelegt: „Das Sein, oder die Natur, ist eines und legt Zeugnis von sich ab in dem, was es aus sich hervorgehen läßt.“ Zwecke sind, so deutet es Jonas schlussendlich, in der gesamten Breite der Natur, wenngleich in unendlicher Schattierung, vorhanden. Damit nimmt er eine strikte Trennung von Zweckhaftigkeit und Subjektivität vor. Denn Zwecke sind auch dort auszumachen, wo von Subjektivität nicht unbedingt gesprochen werden kann: In den elementaren Lebensprozessen der Natur. Mithin ist ein Zweck vor allen anderen offensichtlich, wiewohl Jonas sich hütet, ihn als den Zweck schlechthin zu charakterisieren: das Leben. Naturwirklichkeit und Gültigkeit: Von der Zweckfrage zur Wertfrage Im letzten Abschnitt des dritten Kapitels stellt Jonas zu Beginn die Frage, ob sich ein Sollen aus dem so beschriebenen Sein überhaupt ableiten lässt. Eine Idee, die in der langen Tradition der Philosophie überwiegend bestritten wird mit dem Hinweis auf einen „naturalistischen Fehlschluss“. Mit dieser erneut gestellten Frage, die den vermeintlichen Fehlschluss abermals überprüfen möchte, leitet er den Übergang von der Zweck- zur Wertfrage ein. Aristoteles paraphrasierend behauptet Jonas in diesem Zusammenhang, dass die Menschen von Natur aus nach Glück strebten. Als Wesensmerkmal festgestellt beinhaltet dies Streben zugleich die Pflicht, das Recht auf ein solches Streben in Anderen zu respektieren, da Streben zum naturbedingten Charakter des Menschseins gehört. Immer vorausgesetzt es gibt dieses Streben und mit ihm Rechte und Pflichten tatsächlich, dann, so Jonas weiter, habe das „Votum der Natur“ für die Bestimmung dieser Rechte und Pflichten entscheidenden Einfluss. Denn private Wünsche und private Meinung als partikulare Elemente des Seins seien angesichts des Ganzen der Natur, Flüchtigkeit sei angesichts von Dauerhaftigkeit, Kleinigkeit sei angesichts der Gewaltigkeit der Schöpfung hintanzustellen. Damit dies aber nicht bloß eine unbegründete Voraussetzung bleibt, eine nicht bewiesene Hypothese, ist es notwendig, die Differenz zwischen objektivem und subjektivem Status von Wert, „zwischen Wert an sich und Wertung durch jemand“ zu untersuchen. Dies geschieht über den Begriff des Guten. Die Untersuchung des Verhältnisses von Sein und Gutem, von esse und bonum, soll eine Begründung des Guten im Sein liefern. Diese Untersuchung heißt bei Jonas: Theorie der Verantwortung. Sie ist Thema des vierten Kapitels.
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IV Das Gute, das Sollen und das Sein: Theorie der Verantwortung
Sein und Sollen Die festgestellte Zweckhaftigkeit der Natur impliziert auch Werte. Denn Zwecke resp. Ziele zu erreichen ist ein Gut, sie zu verfehlen ein Übel. Es geht allerdings weniger um Erfolg oder Misserfolg beim Erreichen bestimmter Ziele als vielmehr um die Frage, ob das Ziel selbst ein Gut ist. „In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-ansich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.“ Die Zweckhaftigkeit des Seins spricht für eine Selbstbejahung des Seins. Im Zweck des Seins erklärt sich dieses gegen das Nichtsein. Eine Verneinung des Seins würde selbst einen Zweck und ein bestimmtes Interesse voraussetzen und wäre insofern selbstwidersprüchlich. Die Selbstbejahung des Seins wird damit zum Grundwert aller Werte. Und je größer der Reichtum der Zwecke desto stärker die Selbstbejahung des Seins als Differenz zum Nichtsein. Dem Ja zu sich selbst korrespondiert ein Nein zum Nichtsein. Dieses Nein einer Nichtexistenz ist in der Natur des Seins grundsätzlich angelegt. Im Leben als solchem findet es seinen Ausdruck. Der Mensch ist nun – als Teil der Natur – dazu aufgerufen, dieses Ja des Seins zu sich selbst in sein Wollen zu übernehmen „und das Nein zum Nichtsein seinem Können“ aufzuerlegen. Der Übergang vom Wollen zum Sollen bedarf jedoch einer gesonderten Begründung, in der das unabhängig Gute als eigener Zweck ausgewiesen wird: „Es kann den freien Willen nicht zwingen, es zu seinem Zweck zu machen, aber es kann ihm die Anerkennung abnötigen, daß dies seine Pflicht wäre. Wenn nicht im Gehorchen, zeigt sich die Anerkennung im Gefühl der Schuld: Wir sind dem Guten das Seine schuldig geblieben.“ Um für ein Ansich-Gutes erreichbar zu sein, bedarf es eines Gefühls: „Es ist das Gefühl der Verantwortlichkeit.“ Denn sittliches Handeln, so Jonas abermals gegen Kant, werde nicht durch das Sittengesetz motiviert, sondern jener Gehör verlangende Appell eines An-sich-Guten sei hierzu Ausschlag gebend. Neben dem rein rationalen Grund einer Verpflichtung, Gutes zu tun, tritt bei Jonas also ein psychologischer Grund: Die Fähigkeit des Menschen, „den Willen zu bewegen.“ Seine Ethik hat somit nicht bloß eine objektive, sondern gleichsam eine subjektive Seite. Vernunft und Gefühl kommen komplementär in der Verantwortung des Menschen für das Sein zusammen. Es bedarf sowohl
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einer Rechtfertigung der Verantwortlichkeit als auch des Nachweises, für verantwortliches Handeln empfänglich zu sein. Ein „Du sollst“, das kein Gehör findet, ist sinnlos. Doch der Mensch hat sich in seiner Geschichte als jemand gezeigt, der über ein solches Gehör verfügt. Die Philosophie hat auf diesen Tatbestand unterschiedlich reagiert: Von der jüdischen „Gottesfurcht“ bis zur christlichen „Nächstenliebe“, von Platons „Eros“ bis hin zu Kants „Ehrfurcht vor dem Sittengesetz“ reicht das Spektrum der Gefühle für Moralität. Das „Verantwortungsgefühl“, so Jonas, fehle jedoch in dieser langen Liste moralischer Gefühle. Das Verantwortungsgefühl, das zeige die Erfahrung, ist jedoch real. Auch Kants „Ehrfurcht“ bezeuge ja, dass ein Gefühl im Spiel sein muss, um das Sittengesetz Realität werden zu lassen. Bei Kants Sittengesetz sieht Jonas aber einen Widerspruch aufscheinen. Die Kantische Formel laufe auf eine „Selbstbeschränkung der Freiheit aus Ehrfurcht vor der Idee der Selbstbeschränkung der Freiheit“ hinaus, denn die Verallgemeinerung eines partikularen Wollens („Handle so, dass dein Wille...“) gründe auf der „Ehrfurcht vor der Idee der Allgemeinheit“. Prinzipien aber könnten Gefühle nur durch ihren Inhalt affizieren, nicht „durch den Grad ihrer Allgemeinheit.“ Diese Stelle, an der er den Widerspruch in Kants Ethik herausarbeitet, ist vielleicht eine der originellsten des ganzen Buches. Die Stoßrichtung der Jonasschen Ethik ist insoweit eine andere: War seit jeher das Ewige der Gegenstand, auf den die Ethik zielte und den Menschen dazu aufforderte, durch sein Handeln an diesem teilzuhaben, so ist der Gegenstand der Verantwortung umgekehrt das Vergängliche, um das sich alles dreht und das es zu bewahren gilt: Der bedrohte Gegenstand (die Natur, das Sein) stellt den Anspruch an den Menschen, die Selbstbejahung des Seins nicht zu verunmöglichen. Der Mensch ist als verantwortungsfähiges Wesen dazu aufgerufen, diesem Anspruch Genüge zu leisten. Sein vorläufiges Fazit: „Worauf es ankommt, sind primär die Sachen und nicht die Zustände meines Willens. Indem sie den Willen engagieren, werden die Sachen zu Zwecken für mich.“ Nicht ein Sittengesetz sei Gegenstand von Ehrfurcht, sondern das Sein als solches. Theorie der Verantwortung: Erste Unterscheidungen Die erste Unterscheidung, die Jonas vornimmt, ist die zwischen Schuld und Verantwortung. Man kann für etwas verantwortlich sein, ohne dass einen Schuld trifft. Ich kann zum Beispiel einen Unfall verursachen, der durch einen technischen Defekt meines Neuwagens bedingt ist. Für den Unfall bin
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ich als Fahrer verantwortlich. Schuld trifft mich aber kaum, da die Ursache beim Fahrzeug liegt und allenfalls der Hersteller schuldig gesprochen werden kann. Verantwortung ist eine moralische, Schuld eine rechtliche Komponente des Handelns. Die zweite Unterscheidung ist die zwischen tatsächlich begangener resp. begonnener Tat und dem puren „Ersinnen gräßlichster Untaten“. Für meine Tat werde ich zur Verantwortung gezogen, für meine Gedanken nicht. Verantwortung ist selbst nicht zwecksetzend, sie ist vielmehr die „ganz formale Auflage auf alles kausale Handeln unter Menschen, daß dafür Rechenschaft verlangt werden kann.“ Verantwortung ist insoweit anders als Kants „Ehrfurcht“ nicht das affektive Prinzip ethischer Theorie. Es gilt nicht, ein Verantwortungsgefühl für ein abstraktes Handlungsprinzip zu entwickeln. Menschliche Verantwortung ist die Antwort auf den Seinsanspruch der Bewahrung und des Schutzes. Dieser Begriff von Verantwortung bezieht sich nicht auf vergangene Taten, sondern auf Zu-Tuendes, das im Bereich meiner Macht und meiner Möglichkeiten liegt. Affiziert wird das Gefühl, verantwortlich zu sein, allein durch „das Seinsollen des Objekts“, sprich: den Fortbestand des Seins/der Natur. Der Mensch wird durch die Macht seiner Handlungsmöglichkeiten zum Sachwalter dieses Seinsollens. Ein solches Gefühl nennt Jonas „Zukunftsverantwortung“. Elterliche Verantwortung für die Kinder ist in diesem Sinne – anders als die Verantwortung auf Grund eines frei gewählten Amtes – unwiderruflich und unkündbar. Die Vernachlässigung elterlicher Pflichten ist unverantwortlich. Unverantwortlich bedeutet die Gefährdung eines wahren Gutes, eines Gutes unabhängiger Gültigkeit. Aber auch die selbstgewählte und insofern künstliche Verantwortung des Politikers in seinem Streben nach Einflussnahme und Macht zielt in eine ähnliche Richtung wie das elterliche Naturverhältnis der Verantwortung. Und obwohl niemand verpflichtet ist, sich um ein politisches Amt zu bewerben, steht doch derjenige, der es innehat, unter dem Anspruch der Verantwortung: „Indem er sie sich aneignet, gehört er ihr und nicht mehr sich selbst.“ Theorie der Verantwortung: Eltern und Staatsmann als eminente Paradigmen Jonas’ Theorie der Verantwortung knüpft an seine vorangegangenen Ausführungen an, wenn er feststellt, alles Lebendige sei sein eigener Zweck. Eine besondere Rolle im Sein fällt dem Menschen zu. Denn der Mensch hat für alles Lebendige Verantwortung. Archetypisch ist die Verantwortung
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des Menschen für den Menschen, wobei die elterliche Fürsorge eine Art Ur-Verantwortung darstellt, genauer gesagt: Die Fürsorge für Lebendiges „in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit.“ Verantwortung zu tragen gehört also für Jonas genuin zum Menschsein dazu. Sorge zu tragen, dass Verantwortung auch in Zukunft möglich ist, ist die erste, die „allem vorausliegende Verantwortung.“ Der Mensch als verantwortungsfähiges Wesen ist insofern immer auch ein moralisches Wesen, das heißt: zu moralischem Handeln fähig – wenn auch nicht immer schon de facto moralisch handelnd: „Die Erbärmlichkeit des Menschen hat mindestens das Maß seiner Größe.“ Die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, wie erbärmlich der Mensch und auch seine Situation in Zukunft sein können. Deshalb muss erstmals in der Geschichte der Menschheit das Gebot ausdrücklich formuliert werden, dass auch zukünftig eine Menschheit sein soll, wie zufällig auch immer sie in der Evolution entstanden sein mag. Aber nicht nur Lebendiges kann zum Gegenstand der menschlichen Verantwortung werden. Hans Jonas nennt das Beispiel der Verantwortung des Künstlers für sein Werk, ohne das die von Menschen bewohnte Welt weniger lebenswert wäre. Grundsätzlich aber sei Lebendiges das primäre Bezugsobjekt der Verantwortung. Das Wesen der Verantwortung zeige sich am besten bei den genannten Paradigmen Eltern und Staatsmann. Die wichtigste Eigenschaft dieser Paradigmen bestimmt Jonas als Totalität der Verantwortung: Die Verantwortung umspannt das „Totale Sein ihrer Objekte“. Das Kind ist als Ganzes Gegenstand elterlicher Verantwortung. In Bezug auf den Staat greift Jonas abermals auf Aristoteles zurück. Die ratio essendi, also der Seinsgrund des Staates sei der nämliche. Der Staat sei geschaffen worden, damit (gutes) Menschenleben möglich ist. Und so sei der Staat in seiner Gesamtheit Gegenstand der Verantwortung des wahren Staatsmannes. Den Sozialisations- und Erziehungsprozess zum Bürger definiert Jonas hierbei als Pendant der Fürsorge des Staates für die Erziehung der Kinder: Die Eltern erzögen ihre Kinder für den Staat, der Staat übernähme Mit-Verantwortung für diese Erziehung, da er nicht nur fertige Bürger übernehmen möchte, sondern durch Schul-, Bildungs-, Wohnungs- und Familienpolitik aktiv in diesen Prozess eingreift und unter Umständen auch gegen die Eltern, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen, für den Schutz der Kinder sorgt. Der Staatsmann jedoch ist selber ein „Geschöpf der Gemeinschaft.“ Er sei mithin dem verpflichtet, „was ihn gemacht hat.“ Darunter zählt Jonas nicht nur die Ahnen, sondern auch die Zeitgenossen. Und da das Erbe auch
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in die Zukunft wirke, sei auch die Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen greifbar. Aus der Totalität der Verantwortung dieser beiden Paradigmen ergibt sich des Weiteren die Kontinuität der Verantwortung, da die Ausübung einer totalen Verantwortung nicht aussetzen darf. Nur temporär übernommene Verantwortung wie die des Flugkapitäns für den Flug und die Sicherheit der Passagiere ist nicht kontinuierlich, sondern nur für einen bestimmten Zeitraum virulent. Anders aber die elterliche und staatsmännische Verantwortung. Sie kann sich keine „Ferien erlauben“, wie Jonas zu Recht konstatiert. Aus der Totalität der Verantwortung erwächst schließlich auch die Zukunft der Verantwortung. Denn eine Verantwortung bloß für den Augenblick ist überhaupt keine Verantwortung. Mit Blick auf die totale Verantwortung der beiden Paradigmen aber gewinnt diese banale Feststellung eine neue Dimension: „Da wird die Zukunft der ganzen Existenz, jenseits der direkten Einwirkung des Verantwortlichen und damit jenseits der konkreten Berechenbarkeit, zum Mitgegenstand aller Einzelakte der Verantwortung, die jeweils immer gerade das Nächste besorgen.“ Jonas bezeichnet, und hier ist abermals die Stimme seines Lehrers Heidegger zu hören, die menschliche Verantwortung als ein „moralisches Komplement zur ontologischen Verfassung unseres Zeitlichseins.“ Theorie der Verantwortung: Der Horizont der Zukunft Die Erziehung der Kinder ist zielgerichtet: Am Ende des Erziehungsprozesses steht der erwachsene Mensch, Bürger eines Staates, der nun selber Verantwortung zu übernehmen imstande sein sollte. Der Zielgerichtetheit einer jeden Biografie steht die Ziellosigkeit der Geschichte (des Staates) gegenüber: Eine organische Entwicklung des Staates, der den eigentlichen Menschen erst erschaffen muss, gibt es nicht. Damit deutet Jonas bereits an dieser Stelle sein Unbehagen bezüglich politisch-utopischen Geschichtseschatologien wie etwa Blochs philosophischem Marxismus und hinsichtlich einer Politik des blinden Fortschrittsglaubens an, ohne es an dieser Stelle weiter zu vertiefen. Nur so viel: „Von der Menschheit läßt sich ... nie sagen, was sie »noch nicht« ist, nur rückblickend, was sie zu dieser oder jener Zeit noch nicht war.“ Trotzdem gibt es für Jonas einen Zusammenhang unterschiedlicher Epochen der Geschichte. Es geht jedoch nicht darum, den Propheten zu spielen und zu versuchen, die weit entfernten Entwicklungen schon in der Gegenwart zu „sehen“. Anhand des Beispiels von Philipp von Makedo-
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nien,816 der die politisch-militärische Gelegenheit ergriff, Makedonien zur Vormacht in Griechenland zu machen, zeigt Jonas auf, dass Philipp eine „Erkenntnis des Augenblicks“ leitete. Er war der Vorkämpfer für die Ausdehnung des Reiches unter seinem Sohn Alexander dem Großen und legte den Grundstein für den Aufstieg Makedoniens, weil er ein Gespür für den richtigen Augenblick besaß, das nichts mit weiser Voraussicht zu tun hatte, zumal die Antike auch keine „Theorie der politisch-gesellschaftlichen Zukunft kannte.“ Aber auch das moderne Beispiel, Lenin, obwohl umfassend von einer Theorie geprägt, wurde in den Augen von Hans Jonas von einem Gespür geleitet: Von dem Blick für den richtigen, kritischen Moment im Jahr 1917, der viel entscheidender gewesen ist als seine umfassende spekulative Geschichtstheorie. Eine Theorie ist indes wichtig für den Blick über den Tellerrand der Gegenwart hinaus. Doch die Komplexität der modernen Welt und ihre schier unendlich anwachsende Zahl der Unbekannten in jeder Gleichung macht es nahezu unmöglich, der gesellschaftlichen Dynamik ein entsprechendes Wissen jenseits bloßer Vergangenheitsanalogien oder selbst erfüllender Prophezeiungen beiseite zu stellen. Ohne ein entsprechendes Wissen über die groben Züge der gesellschaftlichen Entwicklungen und Dynamiken aber scheint politische Verantwortung kaum tragbar. Die Frage, die Jonas aus diesem Grunde neu aufwirft, ist die nach der Reichweite politischer Verantwortung in die Zukunft. Lässt sich hiervon überhaupt sprechen? Wie weit reicht politische Verantwortung in die Zukunft? Wiederum ist es ein Negativum, das Jonas in diesem Kontext zitiert. Mit Blick auf den Staatsmann und die politische Freiheit aller Staatskunst gelte es, „nichts zu tun, was das weitere Auftreten“ anderer „Staatsmänner“817 verhindere. Die Verantwortung aller Staatskunst bestehe somit in der Gewährleistung zukünftiger Staatskunst. Gleichwohl hat politische Verantwortung es in erster Linie „mit dem Nächsten zu tun“. Es gilt, akute Not zu beseitigen, günstige Gelegenheiten zu ergreifen, auf spontane Entwicklungen politisch angemessen zu reagieren. Ein Weitblick ist geboten, wo zuerst für 816 Gemeint ist Philipp II. von Makedonien (382-336 v. Chr.), Vater von Alexander dem Großen. 817 Nochmals: Heute würde man eher von „Staats- und Regierungschefs“ sprechen. Damals tat man dies nicht, und so sollte dies auch aus dem zeitlichen Kontext heraus betrachtet werden.
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das unmittelbare Umfeld Sorge getragen wird. Staatskunst heißt, unmittelbare Wirkungen und mögliche Fernwirkungen gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Zu beachten ist, dass bereits unmittelbare Wirkungen heute eine völlig andere Dynamik aufweisen als dies noch zu früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Paradox ist die Situation für Jonas insofern wir heute zugleich weniger als eben auch wesentlich mehr über die Zukunft wissen. Wir können Prozesse und Entwicklungen nicht nur genauer berechnen und insgesamt mehr Möglichkeiten analysieren, sondern wir können uns auch viel mehr vorstellen und Szenarien imaginieren, die zeigen, dass immer mehr möglich ist als wir tatsächlich wissen. Wusste Sokrates noch, dass er nicht weiß (οἶδα οὐκ εἰδώς), so wissen wir inzwischen, dass wir niemals alles wissen können. Wir wissen scheinbar nicht einmal das, was notwendig ist, um die Gefahren des Nicht-Wissens gering zu halten. So wissen wir zwar, dass die Dinge sich ändern, aber nicht mehr wie und wohin. Unter Einbeziehung aller bekannten Größen und unter Nichtberücksichtigung nicht-antizipierbarer Entwicklungen sind aber hypothetische, stets falsifizierbare Vorhersagen zum Beispiel über Bevölkerungsentwicklungen, Energieversorgungsprobleme, Klimaveränderungen usw. möglich. Vorhersagen solcher Art haben direkten Einfluss auf die Politik, „nämlich in dem Sinne, daß das von der Vorhersage eingegebene Handeln ihr Eintreffen befördern oder verhindern soll.“ So dienen etwa Unheilsprophezeiungen der Verhinderung von Katastrophen. Vorausschauende Politik, um die es Jonas vornehmlich geht, hat insbesondere das Gemeinwohl im Blick. Hierfür gibt es kein Rezept außer der Zurückstellung persönlicher Machtinteressen und der Verfolgung kratischer Klugheit in einem freien und fairen Prozess der staatlichen Willensbildung unter Einbeziehung aller Interessengruppen. Dies bedeutet, konsensfähige Spielregeln für Interessenskonflikte festzulegen. Dies gilt in besonderer Weise für eine Zeit, in der die Inhalte politischer Planung so weitreichende Konsequenzen haben und sich die Natur menschlichen Handelns so radikal gewandelt hat. Warum »Verantwortung« bisher nicht im Zentrum ethischer Theorie stand Das Verantwortungsgefühl stand in der Tradition sittlicher Willensbildung bislang nicht im Zentrum, weil die Konsequenzen des Handelns in der Geschichte des Menschen stets überschaubar gewesen sind. Darauf hatte Jonas gleich zu Beginn seines Werkes aufmerksam gemacht. Verantwor-
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tung als Antwort auf gestiegenes (Nicht-)Wissen und größere Macht wird erst mit Heraufkunft langfristiger Bedrohungen globalen Ausmaßes virulent. Beschränkte Macht, beschränktes Wissen verlangten allenthalben nach beschränkter Verantwortung. Die Machtfülle der Wissensgesellschaft steht hingegen vor ganz anderen Aufgaben, die ohne verantwortliches Handeln absolut unlösbar blieben, weil sie rasch im Chaos, wenn nicht in der Katastrophe enden würden. In alten Zeiten aber war Verantwortung keine Tugend, weil die Gegenwart keine langen Schatten in die Zukunft warf. Techniken, deren Wirkkreise, Kriege, die regional begrenzt sind, bedürfen einer solchen Tugend schlichtweg nicht. Eine Gesellschaft, deren innere Dynamiken überschaubar bleiben, weiß nichts von Fernwirkungen. Der Blick in die Zukunft war insofern den Wahrsagern und Propheten anheimgestellt, und tugendhaftes Handeln bezog sich, wie bei Platon, auf ewige, vollkommene Wahrheiten. Natürlich hatten schon der Dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert als auch der Erste Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitreichende politische und gesellschaftliche Konsequenzen, ein Zerstörungspotenzial globalen Ausmaßes hat jedoch erst der Abwurf der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima gezeitigt. Die universale Katastrophe war von nun an durch die exponentielle technologische Beschleunigung möglich, ein Kontrollverlust des Menschen über Menschengemachtes vorstellbar und schließlich das Misstrauen gegenüber der Vernunft der Geschichte gewachsen. Jonas dreht aus dieser Zeitdiagnose heraus Kants Diktum »Du kannst, denn du sollst« um. Für ihn erzeugen erst die Taten der Macht den Inhalt des Sollens. Das Sollen wird zur Antwort auf das, was gemacht werden kann: „Primär ist nicht mehr, was der Mensch sein und tun soll ... und dann entweder kann oder nicht kann, sondern das Primäre ist, was er de facto schon tut, weil er es kann, und die Pflicht folgt aus dem Tun.“ An kaum einer anderen Stelle tritt das grundlegende Problem der Verantwortungstheorie so deutlich hervor wie hier. Ulrich Beck hatte, wie oben geschildert, schon 1990 darauf hingewiesen: Jonas’ Kritik an klassischen Ethiken ist einerseits nachvollziehbar, andererseits bringt ihn sein Versuch, eine personale Grundlegung moralischen Handelns unbedingt zu vermeiden, immer wieder in begründungstheoretische Schwierigkeiten: Der moderne Mensch kann bestimmte Dinge, er vollbringt sie unter Umständen auch, und dieser Tatbestand führt bei Jonas genau genommen zu der Forderung des Nicht-Sollens, eines Unterlassens nämlich bestimmter Handlungen, die aber möglich wären, doch zu großem Schaden für die Menschen werden könnten. Das Können des Menschen ist zugleich sein Schicksal, mehr noch:
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unter gegebenen Umständen das der gesamten Menschheit. Deshalb soll er nicht alles, was er will und kann, auch tatsächlich durchführen. Verantwortung wird zu einem Mechanismus der Selbstkontrolle seiner immens großen Macht: „Das also, was Wollen und Sollen überhaupt verknüpft, die Macht, ist ebendasselbe, was Verantwortung ins Zentrum der Moral rückt.“ Die Qualität und der kriteriologische Maßstab der Selbstkontrolle bleiben an dieser Stelle jedoch lediglich gebunden an den nebulösen Ruf des Seins, Leben nicht zu gefährden. Begründungsmoment ist die reflektierende Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Sein. Zwar zeigt Jonas in diesem Kontext die Notwendigkeit einer weitsichtigen Handlungsstrategie auf, über das konkrete Procedere weitreichender Entscheidungen, die das Schicksal der Menschheit berühren resp. berühren könnten, schweigt er sich allerdings aus. Das heißt, eine Antwort auf die Fragen, wer im Einzelfall und unter welchen Bedingungen entscheidungsbefugt ist und nach welchen Handlungsnormen Entscheidungen grundsätzlich legitimiert sind, bleibt offen. Ebenso unklar ist, von welcher Qualität angeführte Argumente und Gründe sein müssen, um überhaupt zu einer nachhaltigen Entscheidung zu kommen. Woher weiß ich also, nach welchem Prinzip ich zu handeln habe, nachdem ich das Prinzip Verantwortung als notwendigen Baustein eines lebensbejahenden Seins verstanden habe? Ein gewisses Maß verantwortungsethischer Abstraktheit ist nicht zu leugnen. Das Kind – Urgegenstand der Verantwortung Jonas weiß um das begründungstheoretische Problem seines Ansatzes. Deshalb greift er erneut auf das Urbild der Verantwortung zurück, die elterliche Sorge um den Nachwuchs, die seines Erachtens auch in erkenntnistheoretischer Sicht eine Antwort auf die Frage geben kann. Es gibt, so Jonas, auf die Frage nach dem Wie, Wer und Warum eine „unmittelbare Evidenz“. Verantwortung impliziere ein Sollen, allem voran das Seinsollen von etwas, sodann das Tunsollen einer handelnden Person, wobei das „innere Recht des Gegenstandes“ immer vorausgeht. Es handelt sich um ein qualitatives Seinsollen, denn es geht nicht einfach nur um die Existenz der Welt, die schon da ist, und deren irgendwie gearteter Fortbestand uns als Menschen insofern kaum berührt. Die Qualität des Fortbestands aber tangiert den Menschen, das heißt, die Frage, auf welche Weise die Welt fortbestehen soll. Dieses Sollen ist, wie wir gesehen haben, bei Hans Jonas ontologisch grundgelegt. Aus diesem Grunde sei ein „ontisches“, d.i. ein unabhängig
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vom Bewusstsein existierendes, „seinsgemäßes“ Paradigma vonnöten, das eben Sein und Sollen zusammendenkt. Auf die Frage, ob es so etwas gibt, antwortet Jonas: „Ja ..., das, was der Anfang von jedem von uns war, als wir es nicht wissen konnten, aber immer wieder dem Anblick sich darbietet, wenn wir blicken und wissen können.“ Hierbei weist er auf das Neugeborene hin, „dessen bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt.“ Unwidersprechlich sei der Anspruch als solcher, de facto könne ihm freilich widersprochen werden. Das genaue Hinschauen, der „Gebrauch des Sehvermögens“, wird insofern zum kriteriologischen Maßstab verantwortlichen Handelns. Die Abstraktheit der Verantwortungsübernahme jedoch bleibt. Denn Jonas ist der Meinung, wir schuldeten der anonymen Zukunft „immer nur das Allgemeine, nicht das Besondere.“ Das heißt, es geht um eine formale Möglichkeit, nicht doch um „die bestimmte inhaltliche Wirklichkeit“ in allen Zukunftsfragen. Ein konkretes praktisches Soll „von schlechthin zwingender Unmittelbarkeit“ könne es nicht geben. Zwingend ist nur das Seinsollen, das Tunsollen bleibt hingegen unbestimmt. Einmal mehr kommt dies zum Ausdruck in dem Resümee, das Jonas zieht, wenn er sagt: „Verantwortung im ursprünglichsten und massivsten Sinn folgt aus der Urheberschaft des Seins, an der über die aktuellen Erzeuger hinaus alle beteiligt sind, die der Fortpflanzung durch Nichtwiderruf ihres Fiat im eigenen Fall beipflichten, also alle, die sich selber das Leben erlauben – kurz, die jeweils seiende Menschenfamilie als solche.“ Anders formuliert: Weil wir leben, sind wir verantwortlich für das Leben. Negativ ausgedrückt: Wir dürfen das Leben nicht gefährden. Wie wir diese Forderung umsetzen können, das heißt, welche ganz konkreten Handlungsprinzipien uns hierbei leiten sollen, ist noch nicht endgültig geklärt. Hans Jonas versucht nun, dies anhand praktisch-theoretischer Diskurse, die vor der Folie des politischen Zeitgeschehens zu lesen sind, näher zu bestimmen.
V Verantwortung heute. Gefährdete Zukunft und Fortschrittsgedanke
Zukunft der Menschheit und Zukunft der Natur Hans Jonas wehrt sich immer wieder gegen ein anthropozentrisches Weltbild, in dem der Mensch den Mittelpunkt der Schöpfung bildet. Dagegen stellt er seine Idee einer unlösbaren Verquickung des Menschen mit der übrigen Na-
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tur. Dennoch ist gerade seine Rede von der Pflicht der Erhaltung des Lebens und der damit verbundenen „Pflicht zum Menschen“ eine, wenn auch stark abgeschwächte, Spielart des moralischen Anthropozentrismus, in dem Jonas die Gefahr einer „Entmenschung des Menschen“ aufscheinen sieht, wenn der Mensch als von der Natur verschieden betrachtet und somit in seinem Wesen nur rudimentär erfasst werde. Um den graduellen Unterschied des Anthropozentrismus von seiner eigenen philosophisch-anthropologischen Interpretation deutlich zu machen, spricht er der Natur eine „Eigenwürde“ zu, die der menschlichen Willkür entgegenstünde: „Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem verwandten Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist.“ Die Würde des Menschen aber sei insgesamt höher einzuschätzen, und dort, wo es Konflikte gäbe, stehe der Mensch an erster Stelle. Allerdings ist die Natur eine conditio sine qua non der menschlichen Fortexistenz. Mensch und Natur bilden jedoch eine Schicksalsgemeinschaft. Denn die potenziell denkbare Zerstörung der Natur bedeutet in der Konsequenz immer auch die Zerstörung der Menschheit. Das mag zu allen Zeiten so gewesen sein, heute aber sei durch die akut gefährdete Bedrohungslage der Natur diese Schicksalsgemeinschaft zu einer ganz besonderen, einer symbiotischen Gemeinschaft eigener Qualität geworden. Die Fähigkeit zu denken und die daraus resultierende Macht des Menschen haben ihn in die Lage versetzt, über alle anderen Geschöpfe und die Natur zu herrschen. Über Aristoteles hinausgehend sieht Jonas nicht vornehmlich die theoretische Vernunft des Menschen, sondern seinen praktischen Intellekt als den Sand im Getriebe des Naturgeschehens. Der Mensch sei das Moment der Natur, in der sie sich selbst gestört habe. Seine „moralische Begabung“ stelle aber einen, wenn auch unsicheren, Ausgleich für diese Störung dar. Beunruhigend ist für ihn allerdings die Tatsache, dass von dieser Begabung inzwischen alles abhängt. Die moralische Begabung, nämlich die der Verantwortung, wird angesichts der Bedrohungslage zur Pflicht. Erst auf Grund der akuten Gefahr ist sie überhaupt zu einer Pflicht avanciert. Die ihr zugrundeliegende Crux heißt Bewahrung und nicht länger Vervollkommnung, wie in alten Zeiten. Doch dieses bescheidene Ziel einer „Ethik des Überlebens“ impliziert nahezu blaublütige und opferbereite Gebote, im Zeitalter der (vorgestellten) Apokalypse insbesondere den Verzicht, alles umzusetzen, was menschenmöglich scheint. Es geht insgeheim nicht darum, ein wie auch immer geartetes Menschenbild zu verteidigen, sondern vielmehr darum, Zustände
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herzustellen, die auch zukünftig die Option offen lassen, zu definieren, was der Mensch ist resp. sein soll. Es geht also um eine Grundvoraussetzung der Philosophischen Anthropologie, ohne die die Suche nach dem Wesen des Menschen sinnlos wäre. Die Unheilsdrohung des Baconischen Ideals An diesem Punkt kritisiert Jonas, die Thesen seines Aufsatzes „The Practical Uses of Theory“818 von 1959 aufgreifend, vor allem Francis Bacons Ideal der Wissensaneignung durch Herrschaft über die Natur im Interesse des menschlichen Fortschritts. Für den Baron Verulam ist zu diesem Zweck vor allem ein naturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse vonnöten, das zunächst verlange, sich der Natur zu unterwerfen, um über sie zu herrschen: natura parendo vincitur.819 Jonas bestimmt die Folgen dieses Ideals als maßlos angesichts der ökologischen und ökonomischen Unvorhersehbarkeiten im Falle des wissenschaftlich-technischen Erfolgs im 20. Jahrhundert. Sein Veto mündet in einer vorsichtig formulierten Kapitalismuskritik: Der in diesem Sinne „enorm gesteigerte Stoffwechsel“ durch Bevölkerungswachstum sowie durch gesteigerten Konsum und Warenproduktion bringe den „sozialen Gesamtkörper“ ins Ungleichgewicht. Denn eine wahrscheinliche Folge werde die „Plünderung des Planeten“ sein, der wir in naher Zukunft entgegenzublicken hätten. Es drohe sodann ein „Rette sich, wer kann“. Somit habe Bacons Ideal einen Kontrollverlust des Menschen über sich selbst zur Folge gehabt. Die Macht des Menschen hat sich in seine eigene Ohnmacht verwandelt. Jonas will deshalb prüfen, wie wieder Macht über die Macht zu gewinnen sei und fragt vor der Folie des Zeitgeistes der 1970er Jahre, ob nun eher der Marxismus oder der Kapitalismus der Gefahr angemessen begegnen kann. Die marxistische Ethik will er hierbei – zunächst – nur unter dem Diktum einer „Rettung vor dem Unheil“ und nicht unter dem der „Erfüllung eines Menschheitstraumes“ betrachten. Kann der Marxismus oder der Kapitalismus der Gefahr besser begegnen? Die Frage scheint aus heutiger Sicht mehr als überholt. Um zu verstehen, dass das „Prinzip Verantwortung“ aber nicht zuletzt seine Überzeugungs818 The Practical Uses of Theory, a.a.O. 819 Francis Bacon: Neues Organon/Novum Organon. Hamburg 1990.
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kraft gerade aus dem Hiat dieser beiden seinerzeit vorherrschenden politisch-wirtschaftlichen Ideale zieht, soll die Argumentation zumindest in groben Zügen hier nachgezeichnet werden. Zunächst definiert Jonas den Marxismus als Vollstrecker des Baconschen Ideals. Sein Erscheinen im Zeitalter der Maschinentechnik sei kein Zufall, liege sein Grund doch im vorangeschrittenen Kapitalismus und dessen Krisentheorie im 19. Jahrhundert. Der Marxismus habe Bacons Idee der Naturbeherrschung mit der Idee der Umgestaltung der Gesellschaft zusammengedacht. Als dessen Ideal stehe der endgültige Mensch, den Jonas als Quelle einer neuen Ethik verwirft. Denn dem Marxismus gehe es ausschließlich um den zukünftigen Menschen, der „der Gegenwart ihre Normen auferlegt.“ Die mit dieser Eschatologie einhergehende Idee einer „Erhöhung der ganzen Menschenart“ sei jedoch der absolut falsche Zugriff. Paradigmatisch zugespitzt sieht Jonas das falsche Ideal in Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“,820 in den Wunschträumen, dem Wärmestrom, dem Vorschein und dem Hunger nach Möglichkeit. Den Marxismus definiert Bloch, „der Adept der Kabbala“821, in seinem Buch als „vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung“822 und in Vorbereitung eines Grundrisses der „besseren Welt.“823 Zwar trage der Marxismus – in der Theorie – asketische Züge, ein Maß an Bescheidenheit, die Fähigkeit zur Begeisterung und einen ausgesprochenen Moralismus in sich, doch die Praxis sieht freilich anders aus: Korruption, Heuchelei, Ungleichheit, Unterdrückung und Standesprivilegien, die sozialistischen Systeme eigen sind, scheinen zur Vermeidung der Katastrophe nicht wirklich tauglich, so das Fazit von Hans Jonas. Dennoch sieht er das Prinzip der Gleichheit nirgendwo sonst so konsequent durchdacht wie im Marxismus, wenngleich er diesen in seiner Gestalt innerlich entkernt. Überraschend ist in diesem Zusammenhang auch sein Urteil über die Demokratie, die er insbesondere in seiner kapitalistischen Ausprägung im 20. Jahrhundert und in „der kommenden Härte einer Politik verantwortlicher Entsagung“ für zumindest zeitweise „untauglich“ hält, den Anforderungen an eine zukunftsverantwortliche Gestaltung der Gesellschaft gerecht zu werden. Im Hinblick auf eine Zeit der Entbehrungen habe der 820 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1985. 821 Frank Schirrmacher: Dürftige Hoffnung, a.a.O. 822 Bloch: Prinzip Hoffnung, S. 331. 823 Ebd., Viertes Kapitel.
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Sozialismus – rein instrumental betrachtet – unter der Voraussetzung, dass die politische Praxis sich ändere und die Führung der kommunistischen Staaten eine Kurskorrektur durchführte, „einen Vorsprung“. Dieser speise sich, so Jonas, insbesondere aus der Tatsache, dass gesellschaftliche Bedürfnisse – wie immer sie auch konkret aussehen mögen – über den kapitalistischen Profitgedanken gestellt würden. Doch können im kommunistischen Nationalstaat Profitmotive wirklich ganz außen vor gelassen werden? Immerhin hatte Jonas bereits in einem Brief aus dem Jahr 1945 in die Zukunft blickend betont: „Internationaler Sozialismus wird zur Notwendigkeit, technologisch betrachtet noch mehr als wirtschaftlich gesehen, und, im Antlitz der Alternative menschlicher Selbstzerstörung, wird Sozialismus schon beinahe automatisch vonnöten. Zur gleichen Zeit, da notwendiger und attraktiver, wird er auch viel wahrscheinlicher auf Grund des enormen Reichtums, den er der Menschheit durch die vorteilhafte Nutzung der Atomenergie gewährleisten kann.“824 Konkrete Überprüfung der abstrakten Chancen Jonas hat in dem vorangegangenen Kapitel zu zeigen versucht, inwieweit der Marxismus bessere Chancen hat, mit der Zukunft fertig zu werden als andere politische Systeme. Gleichzeitig hat er aber auch gezeigt, dass der Marxismus in seiner bestehenden Form alles andere als geeignet ist, auf die durch die wissenschaftlich-technische Revolution angezeigten Gefahren, angemessen reagieren zu können. Zu groß ist die Kluft zwischen marxistischer Theorie und Praxis des Marxismus. Was Jonas nun in diesem Kapitel vorhat, ist aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts nicht wirklich einfach zu rekonstruieren. Denn indem er behauptet, trotz aller kritischen Einwände, der Marxismus besitze die besseren Chancen, die Aufgaben der Zukunft zu meistern, muss er zeigen, wie dies geschehen kann. Das bedeutet, er muss fragen, ob er seine Chancen auch tatsächlich wird wahrnehmen können. Eine Rekonstruktion der Jonasschen Argumentation ist insofern nicht leicht, weil die Geschichte längst eine Antwort darauf gegeben hat. Aus damaliger Sicht aber war dies keineswegs ausgemacht. Schauen wir uns deshalb seine Argumentation einmal genauer an. Jonas stellt zunächst fest, dass privates Profitstreben im kommunistischen Nationalstaat in der Tat wegfällt, weil sich hierzu durch das politische 824 HJ 11-1-4 (1945). Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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System keine Gelegenheit mehr böte. Zugleich fragt er, ob dies zu bedeuten hat, dass auch ein kollektives Profitstreben prolongiert werden müsse. Seine Antwort lautet Nein: „Solange die Gesamtrichtung ... auf fortgehendes ökonomisches Wachstum [geht] ... können im Prinzip alle Unterteile relativ befriedigt werden ... Unter solchen Umständen kann ein Bund von Sowjetrepubliken auch bei großen Ungleichheiten bestehen. Das heißt, erfolgreicher ... Weltsozialismus ist an wirtschaftliche Expansion gebunden, ohne welche eine Behebung der Not ganzer Weltteile nicht möglich ist.“ In diesem Kontext betont er zugleich, dass die Teilung der Welt in Arm und Reich auch der Sozialismus nicht werde ändern können. Denn das wäre das Erbe, dem sich eine kommunistische Herrschaft gegenüber sähe, und das im Falle eines Weltkommunismus von einem äußeren nur zu einem innerkommunistischen Problem würde. Hinzu kommt die Technikverehrung kommunistischer Staaten, eine nahezu religiöse Hingabe an die „Allmacht der Technik“, durch die die noch bestehenden gesellschaftlichen Probleme gelöst werden sollen. Zu Recht weist Jonas hier auf die anthropozentrische, ideologisch-utopische Verklärung von Elektrizität, Eisenbahn, Beton, Traktoren, Städtebau und Industriearchitektur hin. Allesamt bilden sie Elemente einer Vorgeschichte dessen, was noch kommen soll: Der eigentliche Mensch. Die Utopie vom erst kommenden »eigentlichen Menschen« Es mag erstaunen, dass Jonas im Folgenden zunächst auf Nietzsches „Übermensch“ rekurriert. Sein Argument: Dort, wo der Marxismus über den kommenden Menschen sich ausschweigt, unkonkret bleibt, zeigt Nietzsche deutlich auf, wie dieser Mensch aussehen könnte, ohne hierbei utopisches Denken, das er selber verachtete, zugrunde zu legen. Das grundlegende genealogische Moment seiner Philosophie ist der »Wille zur Macht«. Es heißt nicht, dass der Wille Macht will. Macht ist vielmehr das, was im Willen will, also eine Art differentielles Element und schöpferischer Trieb im Willen.825 Paradigmatisch ist dieser Trieb im Übermenschen ausgebildet, dem Typus des Menschenmöglichen in der jeweiligen Gegenwart. Jonas ist der Auffassung, Härte und Tapferkeit seien die einzigen bei Nietzsche namentlich genannten Tugenden. Dies aber hieße, aus der Not 825 Vgl. zum Folgenden Jürgen Sikora: Die Praxis des Weisen. In: Ders./Holger Burckhart (Hg.): Praktische Philosophie, philosophische Praxis. Darmstadt 2005, S. 65-76.
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eine Tugend zu machen: „Kurz, »der Übermensch« war immer schon da, wie auch »der Mensch«, und der zukünftige wird zwar anders sein als jeder vorher, aber das war der bisherige jeweils auch. Was schließlich für die Herbeiführung des höheren Menschen ... konkret getan werden kann, darüber findet sich bei Nietzsche kein Wort.“ An dieser Stelle missversteht Jonas Nietzsches Konzept des Übermenschen, weil er ihm nun doch eine utopische Sicht unterstellt. Es geht Nietzsche aber bloß um die Freilegung des Potenzials seiner Zeitgenossen und somit um eine Form der (Selbst-)Bildung, wozu er in seinen Schriften mit bildungsphilosophischem Duktus durchaus eine Menge zu sagen hat. Aber ein Exkurs über Nietzsches Bildungsphilosophie würde uns an dieser Stelle zu weit vom Thema wegführen. In Bezug auf die Herbeiführung des wahren, höheren Menschen könne der Marxismus immerhin auf die Revolution mit dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft verweisen. Das heißt, es gilt, die Umstände zu verändern, um den Menschen zu verändern. Die Gefahr lauere darin, dass das Versprechen materiellen Wohlergehens zu einer Art „gebieterischer Voraussetzung“ wird: „Also wird die Verfolgung der Fülle mit Hilfe der Technik ... zur höheren Pflicht der Diener der Utopie. Und hierzu ist nun zweierlei zu sagen: ... Erstens, daß wir uns die Utopie mit dieser Bedingung heute nicht leisten können, zweitens, daß sie auch an und für sich ein falsches Ideal ist.“ Diesem falschen Ideal wendet Jonas sich nun zu. Utopie und Fortschrittsgedanke Eine Steigerung des Wohlstandes könnten wir uns kaum noch leisten, so Jonas, seine vorangegangenen Ausführungen resümierend. In der Konsequenz bedeute dies, dass gerade die entwickelten Länder Verzicht üben müssten: Kontraktion statt Wachstum sei das Gebot der Stunde. Lässt sich dies aber politisch wirklich steuern? Und lauert in einer solchen Strategie nicht eine gewisse Gefahr? Entspringt die Idee einer Kontraktion resp. eines Minus-Wachstums gar einer gewissen ökonomischen Naivität der 1970er Jahre? Gerade gegen die Forderung der Kontraktion haben sich jüngst einige prominente Wirtschaftswissenschaftler gewendet. Vor allem Thomas Piketty hat in einem viel diskutierten, einflussreichen Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert gezeigt, inwiefern die Rückkehr des Kapital-Einkommens-Verhältnisses zu einem strukturell höheren Niveau in
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erster Linie auf ein schwaches Wachstum zurückzuführen sei.826 Der Rückgang auf etwa 1% Wachstum bei einer gleichzeitig hohen Sparquote werde die Gesellschaft permanent tiefgreifend verändern und erneuern, aber nicht unbedingt zum Besten, denn dann kontrollierten die Kapitalbesitzer einen größeren Teil des Vermögens. So wie in den reichen Ländern der Erde. Dorthin sei das Kapital resp. ein patrimonialer Kapitalismus seit den 1970er Jahren – also seit den Tagen, in denen Jonas an seiner Verantwortungsphilosophie schrieb – auf breiter Front zurückgekehrt. Es habe eine Verlagerung von Staatsvermögen hin zu Privatvermögen stattgefunden. Der Trend eines schwindelerregenden Anstiegs der Spitzengehälter habe seit den 1980er Jahren dramatische Züge angenommen. Fundamentale Triebkraft dieser Divergenz seien die Ungleichverteilung ererbten Kapitals, die Kapitalrenditen und die extreme Lohnungleichheit. In the long run führe dies dazu, dass Kapitalquoten zu- und Lohnquoten weiter abnehmen werden. Der Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit und Kapitalismus ist in den 1970er Jahren freilich vor völlig anderen Vorzeichen geführt worden. Wir können die Einschätzungen von Hans Jonas nicht vor der Folie der ökonomischen Bedingungen der Gegenwart lesen. Die einstigen Alternativen Kommunismus und Kapitalismus sind passé. Seit der Finanzkrise 2008 und dem medialen Erfolg der Occupy-Bewegung 2011 steht die Diskussion über soziale Ungleichheiten, über die Schere zwischen Arm und Reich, über Spekulationsgeschäfte, Freihandelsabkommen und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik im Vordergrund. Der immer wieder erhobene Vorwurf lautet: Es gibt eine unverhältnismäßige Konzentration des Kapitals in den Händen weniger Menschen. Der Oxfam-Bericht 2016 hat dies eindrucksvoll bestätigt. Demnach haben ein paar Dutzend der reichsten Menschen der Welt so viel Kapital wie die 3,5 Milliarden ärmsten Menschen. Das sagt viel über die heutige Gesellschaft aus! Reichtum und Armut bedingten sich wechselseitig, getreu Brechts Anklage des armen Mannes: »Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Auch Piketty schildert, dass den an Vermögen ärmsten 50% stets weniger als 10%, mitunter gar weniger als 5% des Nationalvermögens gehörten. Weltweit zirkulierende Wertpapiere, Aktien, Anleihen, Derivate und Guthaben spielen hierbei eine wichtige Rolle für das Wohl und Weh der Gesellschaft. Das Kapital wächst im 21. Jahrhundert dank Renditen, Mieteinnahmen und Zinsen. Eine Reinvestition des Kapitals käme der Volkswirtschaft insgesamt 826 Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014.
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zugute, doch inzwischen wird mit Kapital verstärkt an den Finanzmärkten spekuliert. Die Folgen: Ein nahezu völliger Verfall von Arbeit und sozialer Sicherheit. Labor ipse voluptas ist das Ideal längst vergangener Tage. Denn der Staat kann seine Doppelaufgabe als Rechts- und Sozialstaat gar nicht mehr garantieren. Doch diese Garantie ist die Grundvoraussetzung zur demokratischen Regulierung einer Gesellschaft von Individuen. Kehren wir aber wieder zu Hans Jonas zurück. Wiewohl seine ökonomischen Gedanken noch von anderen Voraussetzungen ausgehen (müssen), so sieht er doch eine Gefahr heraufscheinen, die auch in den gegenwärtigen Analysen der Gesellschaft nichts an Kraft eingebüßt hat. Im Gegenteil haben sich die von Jonas aufgeworfenen Probleme noch verschärft. Das betrifft nicht nur die Sphäre der Ökonomie, sondern auch den von ihm diagnostizierten Hiat zwischen moralischem und wissenschaftlich-technischem Fortschritt: „Kein Zweifel ist, daß es Fortschritt in der »Zivilisation« gibt ... Nur ist, wie man heute genugsam weiß, ein Preis dafür zu zahlen, mit jedem Gewinn geht auch Wertvolles verloren, und daß die ... Kosten ... noch steigen, darüber braucht kaum noch etwas gesagt zu werden.“ Der Preis für wissenschaftlich-technischen Fortschritt sei die Spezialisierung. Wachstum des Wissens insgesamt bei gleichzeitiger Zunahme von Wissenslücken beim Einzelnen sind die Folgen. Dennoch sei das „Vorantreiben des Wagnisses der Erkenntnis“ wünschenswert. Anders sehe es hingegen beim technischen Fortschritt aus. Hier könne Fortschritt durchaus auch unerwünscht sein. So sei die Atombombe technisch betrachtet zweifellos ein Fortschritt, ob sie tatsächlich wünschenswert ist, stehe auf einem völlig anderen Blatt. Beide, Wissenschaft und Technik, haben zugleich einen direkten Bezug zur „Sittlichkeit“ in der Frage, ob sie zu ihr etwas beitragen. Dies könne, so Jonas, die Wissenschaft ohne weiteres und auch ohne großen Schaden für die Allgemeinheit. Die Technik aber berühre die Allgemeinheit auf eine ganz andere Art und Weise, nämlich in allem, was wir als Fortschritt deklarieren. Die Produkte der Technik können sowohl „versittlichend“ als auch „entsittlichend“ wirken. Ohne eine Bilanz diesbezüglich ziehen zu wollen, stellt Jonas fest, dass diese Ambivalenz des technischen Fortschritts unzweifelhaft sei. Was schließlich gesellschaftliche Einrichtungen betrifft, bei denen eine Einschätzung hinsichtlich ihrer Sittlichkeit weitaus schwieriger ist, betont Jonas zunächst, dass es offensichtlich bessere und schlechtere Staats-, Wirtschafts- und Sozialordnungen gibt: Despotische Regime und ökonomische Ausbeutung haben unbestritten negative Folgen für die Gesellschaft und
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wirken in den Worten von Jonas „demoralisierend“. Schwieriger ist es, die positiven, versittlichenden Elemente gesellschaftlicher Einrichtungen zu markieren. Und selbst, wenn diese Elemente gefunden sind, bedeutet dies, dass der »gute« Staat auch »gute« Menschen hervorbringen wird? Erinnern wir uns daran, dass Jonas den Seinsgrund des Staates wie folgt definiert: Der Staat sei geschaffen worden, damit (gutes) Menschenleben möglich ist. Jonas argumentiert in Anknüpfung an diese von ihm zuvor dargelegte Auffassung, ein freiheitliches System und der Rechtsstaat seien nachweislich besser als ein auf Unterdrückung und Repressionen beruhendes Staatensystem. Erst ein politisches System, das die Freiheit seiner Bürger garantiere, ermöglicht auch innerhalb einer Gesellschaft sittlichen Fortschritt, wobei die Gefahr bestehe, dass jedes freiheitliche System in sein Gegenteil umschlagen könne. Permanenz sei nicht verbürgt, zumal einige Güter eines freien Systems nur auf Kosten anderer zu bekommen sind. Sie beruhen auf Kompromissen, die keine Stabilität garantieren können. Dagegen setze die marxistische Utopie einen Zustand, den es herbeizuführen gelte, und in dem die klassenlose Gesellschaft unter stabilen Bedingungen gelebt werden könne. Der Kritik dieser Utopie widmet er sich im Folgenden, um daran seine Ethik der Verantwortung an- und sein Buch abzuschließen.
VI Kritik der Utopie und die Ethik der Verantwortung
Die säkularisierte Eschatologie des Marxismus, so beginnt Jonas das letzte Kapitel, ziele auf eine „messianische Verwandlung des Menschen“. Der Widerspruch, den Jonas im Marxismus entdeckt, ist offensichtlich: Der neue Gott ist die Vergesellschaftung der Produktion, die durch die Revolution herbeigeführt werden soll. Nicht das Sein also, sondern ein relativ unbestimmter Begriff zukünftiger Gesellschaft bildet den Kern marxistischer Heilserwartungen. Jonas versteht den Marxismus insofern als das Erbe einer Religion, die lediglich die Götter ausgetauscht hat. Da in jener aber allein der Glaube regiert, muss sich die neue Religion der Weltrevolution und der klassenlosen Gesellschaft als Menschenwerk auch an menschlichen Maßstäben messen lassen. Deshalb will Jonas abschließend prüfen, ob die durch den Marxismus avisierten Verhältnisse tatsächlich die besten sind, ob der Mensch in diesen Verhältnissen gut sein wird und ob er es zuvor denn nicht war, weil die Verhältnisse eben nicht gut waren. Mit diesem Vorhaben gelangt das Buch gewissermaßen an seinen Höhepunkt. Erinnern wir uns, dass Jonas davon sprach, dass die Begründung
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eines Verantwortungsgefühls für das Sein und nachfolgende Generationen wohl kaum ohne Religion auskommen könne. Auch dem Marxismus unterstellt er nun, religiöse Anleihen zu haben. Er muss also zeigen, dass Metaphysik statt Marxismus die bessere Alternative ist, um – salopp formuliert – die Welt zu retten. Die Verdammten dieser Erde und die Weltrevolution Der Titel des ersten Abschnitts bezieht sich auf die Internationale, das sozialistische Kampflied der Arbeiterbewegung. Einstmals Nationalhymne der Sowjetunion, heißt es in der deutschen Version zu Beginn: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde / die stets man noch zum Hungern zwingt! / Das Recht wie Glut im Kraterherde / nun mit Macht zum Durchbruch dringt.“ Später folgt der allgemein bekannte Refrain: „Völker, hört die Signale! / Auf zum letzten Gefecht! / Die Internationale / erkämpft das Menschenrecht.“ In einer der folgenden Strophen heißt es zudem: „Es rettet uns kein höh’res Wesen / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!“ Der Titel des Kapitels erinnert aber nicht zuletzt auch an Frantz Fanon, den Vordenker der Dekolonisation. Sein Buch über „Die Verdammten dieser Erde“827 schildert die koloniale Gewalt und Gegengewalt der Unterdrückten in den kolonisierten Ländern. Fanon beschreibt in dem Buch die Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten. Dekolonisation ist für ihn ein Prozess, der aus dem kolonisierten „Ding“ wieder einen Menschen macht, der sich mithin selber von seiner eigenen Entfremdung und Unterjochung befreit. Aber bleiben wir bei den Unterdrückten, die der Marxismus im Auge hat. Für diese galt seit je, so Jonas, dass sie in ihrer Hoffnung auf Erlösung gewiss nicht auf den neuen Menschen hofften, der sie aus ihrer Situation befreit, denn: „Die Erlösung als solche ist des Leidens Traum.“ Ihn zu verwirklichen sei Ansporn genug für die Revolution. Der marxistische Appell an die Notwendigkeit der Revolution schieße insofern weit über das eigentliche Ziel hinaus. Die bloße Situation der Unterdrückung genüge, um das Verlangen nach Besserung im Menschen zu wecken. Dies gelte auch heute noch für die Menschen in den Ländern der „Dritten Welt“. Allerdings sei die Ausgangslage hier anders, denn es handele sich nicht mehr um unterdrückte 827 Frantz Fanon: Les damnés de la terre. Paris 1961.
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Klassen, sondern um verarmte Völker. In den erfolgreichen Fortschrittsländern aber gäbe es so etwas wie ein „wehrlos der Marktwildnis“ ausgeliefertes Arbeiterproletariat längst nicht mehr: „Der Lebensstandard des Arbeiters im heutigen kapitalistischen Westen ... übertrifft den der meisten Bürger und Bauern der Vergangenheit ... Mangels unterdrückter Klasse findet die Revolution nicht statt.“ Jonas wirft somit zu Recht die Frage auf, auf wen sich die Rede von der Notwendigkeit der Revolution tatsächlich beziehe. Denn die eigentliche Utopie sei doch inzwischen nur noch Sache einer „Splitter-Elite radikaler Idealisten aus den privilegierten Schichten“, der die Bedürfnisse ihrer „Adoptivklasse“ überhaupt nicht mehr am Herzen liege. Die Transformation hin zum Sozialstaat habe gezeigt, dass es auch ohne Revolution gehe. Selbstverständlich sei auch der Sozialstaat weit davon entfernt, ideal zu sein. Das könne er aber ohnehin nur in utopischen Entwürfen, nicht aber in der Realität. Anders sähe die Situation in den Entwicklungsländern aus, für die der Westen nicht unbedingt Schuld trage, denn auch die „Ungunst der Natur“ und kulturelle Eigenarten der betroffenen Länder hätten zu der prekären Lage beigetragen. Der Kampf gegen die Weltarmut verpflichte jedoch auch den Westen, mehr zu investieren als bislang geschehen. Wenn schon von der Notwendigkeit einer Weltrevolution gesprochen werden muss, dann am ehesten angesichts der Lage der Entwicklungsländer, die so etwas wie eine industrielle Revolution tatsächlich nötig hätten. Dazu aber sei wiederum Technologie vonnöten. Eine solch expansive Ausweitung technologischer Mittel aber werde, so Jonas, die Erde kaum aushalten: „Wo die Grenze liegt, läßt sich nicht sagen, aber man sollte sie nicht erst versuchen.“ Eine Lösung des Problems böte sich nur, wenn gleichzeitig die Konsumkapazitäten der Fortschrittsländer drastisch reduziert würden. Wie auch immer eine Lösung aussieht, ohne neue, verbesserte Technologien scheint sie nicht möglich. Neue Technologien bergen in seinen Augen jedoch wieder alte Gefahren, die man beseitigen will. Diese Dialektik des Fortschritts trifft den Kern seiner Ethik der Zukunftsverantwortung: „Im Augenblick ist nur zu sagen, daß ... Behutsamkeit und nicht Überschwang die Losung sein muß und der Zauber der Utopie ... das Letzte ist, was die hier erforderte Klaräugigkeit trüben darf.“ Kritik des marxistischen Utopismus Der Marxismus treibe, so Jonas weiter, in dieser historisch heiklen Situation ein Va-banque-Spiel. Die Realisierung des wahren Menschen werde
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zu einem „absolut verpflichtenden Ziel“, das es erlaube, „auch das äußerste Wagnis der Technologie“ zu versuchen, „um entweder höchsten Segen oder höchste Katastrophe zu ernten.“ Verwilderung der Menschheit und Verwüstung des Planeten werden in den Augen von Hans Jonas in der marxistischen Utopie nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Denn das „erste Erfordernis der Utopie“ sei „materielle Fülle“, das zweite „Leichtigkeit der Aneignung dieser Fülle“. Dies könne jedoch nur mittels weiterer Technologien erreicht werden, die den kompletten Umbau des Planeten Erde nach sich zögen. Was demgegenüber wirklich erforderlich sei, wäre eine interdisziplinär angelegte, globale „Umweltwissenschaft“, die die dringendsten Probleme wie Nahrungsmittel- und Rohstoffknappheit, den schwindelerregenden Verbrauch von Energien, die Herausforderungen der Kernenergie oder den Treibhauseffekt im Sinne globaler Verantwortung in den Blick nähme. Der Marxismus jedoch halte das Bestehende bloß für „verpfuscht“. Das, was jetzt ist, werde zur Wiege alles Kommenden und Besseren herabgewürdigt. Die Herbeiführung der Utopie scheue sich nicht, über Leichen zu gehen, und die ohnehin „bejahte Diktatur“ verleite dazu, extreme Mittel hierzu einzusetzen. Dabei hätten die Marxisten durchaus ein gutes Gewissen, denn es geschehe doch alles nur um des Heiles willen: „Kurz, der Utopieglaube ... verleitet zum Fanatismus mit all seinem Hang zur Erbarmungslosigkeit.“ Diese These exemplifiziert Jonas nun entlang der Philosophien von Karl Marx und Ernst Bloch. Auf sie soll in gebotener Kürze eingegangen werden. Gegen die „Hexenmeister“ der bürgerlichen Revolution des Jahres 1789 setzten der Autor des Kapitals und sein Kollege Friedrich Engels (18201895), für den die Politik Napoleons die wahre Religion der modernen Bourgeoisie war, auf die proletarische Revolution und damit auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Für Marx und Engels aber war 1789 der Prolog für den Aufstand des Proletariats zur Klärung der sozialen Frage, bei der mit dem Kapital, dem „Henker vor der Türe“ (Engels), abgerechnet werden sollte. Nichtsdestoweniger konstatierte Marx bereits im Manifest der kommunistischen Partei,828 mit Heraufkunft der Bourgeoisie seien die Gegensätze der Völker nahezu verschwunden, woran die Handelsfreiheit, der Weltmarkt und die industrielle Produktion wesentlichen Anteil gehabt hätten. Freilich könne erst die Herrschaft des Proletariats diese Entwicklung 828 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 2014 (1848).
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zu einem Ende führen, sowie die Ausbeutung der Individuen und damit letztlich der Nationen stoppen, denn in dem Maße, wie die Ausbeutung des Einen durch den Anderen aufgehoben werde, werde auch die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. So steht es im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. „Das Kapital“829, das zum Jahresende 1867 erschien, diskutiert die Entstehung, die Organisation und die Gesetze der Ökonomie des 19. Jahrhunderts. Es zeichnet den Weg vom Handwerk zur Fabrik nach und stellt den Menschen auf Grund des Verkaufs seiner Arbeitskraft als Ware dar. Arbeitskraft und Arbeiter werden bei Marx zur elendesten Ware. Der Arbeiter bleibt in seinem Tun stets der Knecht des Kapitals. Das Kapital andererseits ist für ihn die Regierungsgewalt über die Arbeit und ihre Produkte. Dem Arbeiter bleibt die Arbeit stets äußerlich. In ihr verneint er seine eigene Existenz, sodass er letztlich in und durch seine Arbeit an seiner eigenen Existenz leidet, wohingegen der Kapitalist, der müßige Gott, der nie für den Bedarf, sondern immer nur für den Profit Waren produziert, am Gewinn seines „toten Mammons“ leidet. Marx unternimmt eine kritische Anatomie der Bourgeoisie, deren Wesen er in der politischen Ökonomie sucht. Die politische Ökonomie ist zugleich das Skelett der bürgerlichen Gesellschaft, ohne dass sie zusammenbrechen würde. Die Bourgeoisie hat grundsätzlich neue Bedingungen der Unterdrückung geschaffen, indem sie Kapital akkumuliert und durch diese Akkumulation eine Akkumulation des Elends auf Seiten der Arbeiter in Kauf genommen hat. Deshalb wachse nicht nur die Widerwärtigkeit der Arbeit, sondern im selben Atemzug nehme auch noch der Lohn ab. Je mehr das produktive Kapital wachse, desto mehr Arbeitsteilung gebe es. Dies führe zu einer schärferen Konkurrenz unter den Arbeitern, sodass sich der Lohn letzten Endes zusammenziehe. Marxens Forderung ist deshalb die Abschaffung des Privateigentums. Die Stelle, auf die Jonas sich nun bezieht, spinnt diesen Gedanken weiter. Bei Marx heißt es nämlich: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und 829 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Band 23, S. 11-802. Berlin 1962.
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zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.“830 Jonas vermisst bei Marx vor allem die Auseinandersetzung, was mit diesem verkürzten Arbeitstag anzufangen sei und findet erst bei Ernst Bloch eine Antwort: Die tätige Muße. Er unterzieht sie einer gnadenlosen Kritik. Zunächst zitiert Jonas die entscheidende Stelle bei Bloch. Im Prinzip Hoffnung heißt es: „Erst tätige Muße auf allen Gebieten bringt einer aufgeschlossenen, einer nicht nur sub specie des Betriebes abgebildeten Natur näher; menschliche Freiheit und Natur als ihre konkrete Umgebung (Heimat) bedingen sich wechselseitig.“831 Es folgt der Kommentar von Hans Jonas: „Von Anfang an war es eine marxistische These, von Marx selbst geprägt, daß der Mensch durch seine Arbeit die Natur »humanisiert«: das sollte die bisherige Zweckarbeit der Menschheit an der Natur, organischer wie inorganischer, insbesondere natürlich die Bodenkultur bezeichnen. Die endgültige »Humanisierung« dann, wie sie erst der verwirklichte Marxismus erreicht, macht den Menschen zuletzt von eben der Arbeit frei, die es mit der Natur dahin gebracht hat, wird also auch den Menschen selbst erst ganz humanisieren. Offenbar bedeutet hier »humanisieren« für sein jeweiliges Objekt Entgegengesetztes: für den Menschen, daß er der Natur nicht mehr dienstbar ist und damit erst ganz er selbst sein kann; für die Natur, daß sie ganz dem Menschen dienstbar geworden, also nicht mehr sie selbst ist. Also wür830 Hier zitiert nach Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1988, S. 828. 831 Bloch: Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 1080.
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de die Natur im selben Sinne »humanisiert«, wie etwa der dem Feudaladel hörige Leibeigene »nobilitiert« worden war, oder die wie der Herrenrasse unterworfenen Unterrassen »arisiert« worden wären, wenn es nach jener gegangen wäre. Mit diesem brutalen Zwecksinn ist daher »Humanisierung der Natur« eine hypokritische Schönrederei für totale Unterwerfung unter den Menschen zwecks totaler Ausbeutung für seine Bedürfnisse.“ Von der Kritik der Utopie zur Ethik der Verantwortung Jonas hat den Marxismus nicht bloß als theoretische Fingerübung einer ausgiebigen Kritik unterzogen, sondern weil die Utopien von Marx bis Bloch seines Erachtens eine radikalisierte und extreme Variante dessen darstellen, wohin der technologische Fortschritt bereits unterwegs ist. Seine Kritik am Marxismus war insofern Kritik am technologischen Fortschritt. Damit einher geht eine Kritik an einem im Marxismus angelegten deterministischen Weltbild der Geschichte, die letztlich zum utopischen Ideal hinführen müsse. Zugleich bedeutet die Absage an den Determinismus die Möglichkeit von Freiheit und somit von Verantwortung. Denn was nicht notwendig ist und insofern nur auf die Herbeiführung zum richtigen Zeitpunkt warte, steht zur Verhandlung und ist damit in die Obhut verantwortlichen Handelns gelegt. Dies entscheide sich dann, wenn bestimmte Entwicklungen entweder vorangetrieben oder verhindert resp. gebremst würden. In Bezug auf die konkrete Umsetzung dieser Verantwortung hält sich Jonas aber zurück, da die technologische Praxis „gerade erst sichtbar zu werden beginnt.“ Vorrangige Handlungsprinzipien bleiben Furcht und Behutsamkeit als Korrelate des Verantwortungsprinzips. Insbesondere unter Berücksichtigung der Dialektik des Fortschritts, also der Tatsache, dass neue Technologien notwendig sind, um Gefahren zu beseitigen, doch stets neue Gefahren in sich bergen, ist die Heuristik der Furcht das oberste Gebot. Zwar sei die von Ernst Bloch in die Diskussion eingebrachte Hoffnung „eine Bedingung jeden Handelns“, doch sie alleine genüge nicht, um die Zukunft menschlich zu gestalten. Hierzu sei vielmehr „Mut zur Verantwortung“ vonnöten: „Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur »Besorgnis« wird.“ Diese Art der Sorge fragt danach, was passieren kann, wenn ich mich bestimmten Aufgaben nicht annehme, bestimmten Dingen nicht zuwende. Je unklarer ist, was passieren kann, desto größere Behutsamkeit sei erfordert. Von einer begründeten „Hellsicht der Einbildungskraft“ spricht Jonas hier.
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Erst mit dem Übel wird das Gut, das es zu retten gilt, sichtbar. Die Irrwege der Macht sind zu vermeiden. Eine Ehrfurcht „für das, was der Mensch war und ist, aus dem Zurückschaudern vor dem, was er werden könnte“, gilt es einzuüben. Nur die Ehrfurcht allein, „indem sie uns ein »Heiliges«, das heißt unter keinen Umständen zu Verletzendes enthüllt“, sei in der Lage, den Menschen vor sich selbst zu schützen. Ein schwieriges, aber bei weitem kein utopisches Unterfangen!
7 ZUR AKTUALITÄT VON HANS JONAS Die biografischen Schilderungen und die Analyse der öffentlichen Meinung haben gezeigt, dass der deutsch-jüdische Philosoph Hans Jonas zu den außergewöhnlichen Denkern des vergangenen Jahrhunderts zu rechnen ist. Der Begriff der Verantwortung wird in seiner Philosophie zum Synonym einer neu hervorgetretenen Pflicht im Antlitz der Drohungen der Moderne und ihrer kausalen Reichweite in die Zukunft.832 Sein Hauptwerk ist in den vorangegangenen Kapiteln mit seinen persönlichen Lebenserfahrungen in Beziehung gesetzt und im Einzelnen skizziert worden. Im Folgenden wird nun seine Philosophie in den Kontext der gesellschaftspolitischen Diskussionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt und gefragt, ob und inwiefern seine moralphilosophisch begründete Forderung, so zu handeln, dass die Wirkungen des Handelns zukünftiges Leben nicht gefährden, in Bezug auf die Begründungskraft als auch mit Blick auf die gesellschaftspolitische Situation der Gegenwart noch aktuell ist. Zentrale Aspekte seines Denkens werden hierbei in Beziehung zum geistesgeschichtlichen Kontext gesetzt. Zu diesem Zweck wird zunächst Hans Jonas’ Glaube an die Erziehung durch Katastrophen in die Debatte über die Aufarbeitung der Vergangenheit nach 1950 eingebettet (I). Parallel zu diesem Diskurs entwickelte sich die so genannte Futurologie als wissenschaftliche Disziplin. Jonas’ Zukunftsethik ist mit diesem Phänomen ebenfalls zu kontrastieren, weil es in der Sache große, in der Methode jedoch kaum Überschneidungspunkte gibt. Es soll gezeigt werden, dass das Prinzip Verantwortung nur vor der Folie dieser beiden Debatten angemessen zu würdigen ist (II). 832 Vgl. den bereits zu Beginn zitierten der Abituraufsatz im Fach Deutsch vom 24. Januar 1921. StAMg 14/3490 Familiengeschichte resp. 17/607 Reifeprüfung. „Kultivierung der Persönlichkeit“ meint Bildung. Gebildete Menschen tragen nach Jonas insofern eine besondere Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Interessant ist auch, dass Jonas die Urteilskraft hierbei in den Fokus nimmt. Damit knüpft er nicht nur an Kant an, sondern zeigt auch große Überschneidungen zu dem, was Hannah Arendt später in ihren Ausführungen über das „Leben des Geistes“ schreibt.
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Anschließend folgt eine an die Analyse des Prinzip Verantwortung anknüpfende, ein wenig tiefer schürfende Auseinandersetzung mit seiner Idee der „Rettung des unsichtbaren Reichs“, um zu zeigen, inwiefern sein Gottesbegriff den Verantwortungsbegriff präfiguriert. Der Gottesbegriff wiederum steht in der Tradition der kabbalistischen Mystik, grenzt sich gleichwohl entscheidend von ihr ab (III). Viertens wird nach dem Geltungsbereich der Ethik von Hans Jonas gefragt. Wie er selbst erläutert, ist seine Ethik als Ergänzungsprinzip bisheriger Ethik angelegt (IV). Fünftens wird abermals die Kritik an Ernst Bloch aufgegriffen, dieses Mal vor der Folie des Ost-West-Gegensatzes. Im Zentrum steht die Frage, ob man eventuell auch von einem Kalten Krieg zwischen Jonas und Bloch sprechen kann (V). Das Fazit kommt zu dem Schluss, dass Jonas’ Verantwortungsbegriff, obwohl er Begründungsprobleme mit sich bringt und von zeithistorischen Diskussionen stark beeinflusst ist, immer noch hochaktuell ist (VI). Warum, zeigt die folgende Erörterung, die sich – anders als die ersten Kapitel – ein wenig systematischer mit der Philosophie von Hans Jonas beschäftigt. Grund für die Einschätzung, Jonas’ Ethik sei weiterhin aktuell, ist die Tatsache, dass der von Jonas thematisierte Problemhorizont auch in Zukunft virulent bleiben wird, ganz gleich, welche Antworten die Praktische Philosophie konkret auf die Krisen ihrer Zeit geben wird: Verantwortung als Themenfeld menschlichen Handelns und diskursiver Praxis ist und bleibt ein konstitutives Moment philosophischer Reflexion.
I Erziehung durch Katastrophen?
Bereits die 1960er Jahre, in denen Jonas’ moralphilosophische Gedanken allmählich Gestalt annahmen, waren nicht nur in Europa, sondern gleichsam in seiner neuen Heimat Amerika unruhige und von politischen Dissonanzen geprägte Zeiten. Seit ein paar Jahren hatte man ein Bild der Erde vom Weltraum aus. Dieses Bild schärfte das Bewusstsein, auf einem zerbrechlichen Planeten zu leben. Hinzu kamen zahlreiche Konfliktherde und politisch heikle Situationen. Insbesondere der so genannte „Sputnik-Schock“ 1957, die Kuba-Krise 1962, die die Welt an den Rand des Abgrunds brachte, der Vietnam-Krieg ab März 1965 („Rolling Thunder“) sowie die Rassenunruhen trugen zur gesellschaftlich spannungsgeladenen Atmosphäre in Amerika und weiten Teilen
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der übrigen Welt bei. Teilweise übertrugen sich auch die politischen Debatten und Proteste auf Europa. In Deutschland kam die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hinzu. Die Arendt-Biografin Elisabeth Young-Bruehl schreibt über diese Zeit: „In den sechziger Jahren machten es nicht nur die unabweisbaren Forderungen des täglichen Lebens, sondern auch die »beispiellosen« Ereignisse der Jahrhundertmitte schwierig, die Weltlage klar einzuschätzen. Die Ereignisse, die einst beispiellos waren, wurden auf verschiedene Weisen und in unterschiedlichem Maße als Gegebenheiten anerkannt. Als das Klima des Kalten Krieges der fünfziger Jahre schwand, wurden die Nazi-Zeit und das Stalin-Regime erneut kritisch durchleuchtet und auf Analogien zu den zeitgenössischen Ereignissen hin untersucht. Amerika lebte »zwischen Vergangenheit und Zukunft«.“833 Aber auch Israel und der gesamte Nahe Osten waren insbesondere nach dem Sechstagekrieg 1967 von Unsicherheiten und Sorgen um die Zukunft des Friedens zwischen Ost und West geprägt. Zudem waren, als Hans Jonas im April 1972 seine Arbeit am Prinzip Verantwortung beginnt, Wissenschaft und Technik gerade in eine neue Phase des Fortschritts eingetreten, der nicht unbedingt nur Gutes verhieß. Die folgenden Stichworte rufen einige politische und technische Entwicklungen in Erinnerung: In Deutschland erhält das Kernkraftwerk in Stade die Genehmigung für die nukleare Inbetriebsetzung und geht im Januar 1972 ans Netz. Im gleichen Monat kommt es in der Bundesrepublik zum politisch hochbrisanten so genannten „Radikalenerlass“, der Verfassungstreue als Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst nennt. Erste Bilder vom Mars werden von der Raumsonde Mariner 9 auf die Erde gesendet, und in der Oslo-Konvention einigen sich die europäischen Atlantik-Anrainerstaaten auf Maßnahmen, die die weitere Meeresverschmutzung eindämmen soll. Auch das „Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen“ kann seit April 1972 unterzeichnet werden. Schon im März startet die Raumsonde Pioneer 10, die wissenschaftliche Erkenntnisse über den Planeten Jupiter und den Asteroidengürtel liefert. Während die USA ihr Space-Shuttle-Programm vorantreiben, erschüttert ein Anschlag auf das Hamburger Springer-Haus die Republik. 833 Young-Bruehl: Hannah Arendt, a.a.O., S. 526. Sieh dazu auch ausführlicher: James T. Patterson: Grand Expectations. The United States 1945-1974. Oxford University Press 1996.
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Kurz nachdem Hans Jonas die ersten Entwürfe seines „Prinzip Verantwortung“ skizziert hat, beginnt in den Vereinigten Staaten die Watergate-Affäre um Präsident Nixon. Im Herbst kommt es in München zum Attentat auf die Olympischen Spiele, bei dem bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ israelische Sportler als Geisel nahmen. Elf israelische Olympioniken und sechs weitere Personen sterben. Die Zeit, so lässt sich resümieren, in der Jonas die Arbeit an seiner Ethik beginnt, ist eine politisch und wissenschaftlich-technisch aufwühlende und äußerst sensible Zeit. Hinzu kommt zu Beginn der 1970er Jahre das Bewusstsein, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals möglich zu sein scheint, das gesamte Leben auf der Erde durch Waffentechnologie und fortschreitende Umweltzerstörung auszulöschen. Darauf hatte schon das apostolische Schreiben Octogesima adveniens vom 14. Mai 1971 des Papstes Paul VI. aufmerksam gemacht: Wir können selbst Opfer unserer eigenen Zerstörungswut werden. Im Dezember 1983 schreibt der Schweizer Chemiker Albert Hofmann, Entdecker des LSD, an Hans Jonas und fügt seinem Brief einige Zeilen über „Pflanzenkundliche Ueberlegungen zum Waldsterben“ bei. Er legt darin, Jonas beipflichtend, dar, inwiefern vor allem die zunehmende Luftverschmutzung ein gravierendes Umweltproblem darstellt. Hofmann erklärt, Pflanzen seien gegenüber Giftstoffen in der Luft besonders empfänglich, denn sie beziehen aus der Luft den Hauptbestandteil ihrer Nahrung: Kohlenstoff, den sie in Form von Kohlensäure der Luft entnehmen. Da die Luft jedoch nur 0,035% Kohlensäure enthalte, „muss die Pflanze, um ihren grossen Kohlensäure-Bedarf zu decken, mit einer unvergleichlich grösseren Menge Luft in Kontakt kommen als der Mensch einatmen muss ... Zu diesem Zweck sind die grünen Gewebe der Pflanze, die Blätter und Nadeln, in denen der Assimilationsprozess der Kohlensäure stattfindet, mit einem hochentwickelten Durchlüftungssystem ausgestattet, das erlaubt, die Kohlensäure aus der grossen Verdünnung in der Luft herauszufiltern.“ Da diese Art der Durchlüftung aber auch dafür sorgt, dass in der Luft enthaltene Schadstoffe viel stärker aufgenommen werden als bei Tieren und Menschen, zeigten sich Auswirkungen vergifteter Luft „zuerst in der Pflanzenwelt.“ Das Waldsterben sei insofern nur ein erstes Anzeichen dessen, was folgen mag. Es bringe zu Bewusstsein, dass „die Grundlage allen Lebens auf unserem Planeten in akute Gefahr zu geraten beginnt.“ Maßnahmen gegen diesen Trend könnten und dürften insofern nicht länger hinausgezögert
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werden, um eine drohende Katastrophe noch abwenden zu können. Alles andere sei verantwortungslos, ja ein „Verbrechen.“834 Das Thema Umwelt ist seit Jahren ein hochpolitisches: In Deutschland hatte sich bereits 1973 der „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ gegründet. Ab 1975 versucht die Bundesregierung über den so genannten „Bürgerdialog Kernenergie“ ins Gespräch mit Kernkraftgegnern zu kommen, um die allmählich heraufziehende No-Future-Mentalität zu entkräften. Umweltpolitik ist dennoch nur ein Puzzleteil einer insgesamt politisch äußerst sensiblen Gesellschaft: Willy Brandts Neue Ostpolitik und die Idee einer Neugründung der Gesellschaft gehen seinerzeit Hand in Hand. Parallel hierzu radikalisiert sich der politische Protest und verwandelt sich teilweise in Terror. Aber auch, wo dies nicht der Fall ist, wird mit harten Bandagen gekämpft. Vom Frankfurter Häuserkampf im Westend 1973, der Debatte über den §218 bis hin zum Deutschen Herbst 1977: Wertewandel, Pluralisierung von Lebensstilen und die Zunahme des medialen Einflusses begleiten verschiedene Bedrohungsszenarien. Dazu gehören weltweit nicht zuletzt die Iranische Revolution 1979 und der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Ende desselben Jahres. Mit Blick auf Deutschland spricht Kurt Sontheimer 1979 von der „verunsicherten Republik“.835 Einen Beitrag zu dieser allgemeinen Verunsicherung leistet auch die amerikanische TV-Serie „Holocaust“, die die ARD im Januar 1979 ausstrahlt und erstmals die Gräueltaten des Nationalsozialismus einem breiten Publikum vor Augen führt. Einen gewichtigen Anteil an der neuen Lage der Nation hat auch das immer weiter voranschreitende globale Handeln nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems. Hans Jonas sucht seit dem Frühjahr 1972 eine philosophische Antwort auf die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen.836 Die Skizze seines Hauptwerks hat indes gezeigt: An zentraler Stelle des „Prinzip Verantwortung“837 misst er vor der Folie aktueller gesellschaftspo-
834 HJ 11-2-4. Albert Hofmann: Pflanzenkundliche Ueberlegungen zum Waldsterben. Dezember 1983. 835 Kurt Sontheimer: Die verunsicherte Republik. München 1982 (1979). Zur allgemeinen Stimmung dieser Zeit sieh auch François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010. 836 Sieh dazu auch Hans Jonas: Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Frankfurt a.M. 1993, S. 24ff. Vgl. dazu auch den einleitenden Kommentar von Dietrich Böhler und Bernadette Hermann in: KGA I/2. 837 PV S. 70ff.
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litischer Entwicklungen der Unheilsprophezeiung ein besonderes ethisches Gewicht bei. In dubio pro malo lautet die prägnanteste Formel seines Imperativs, der auf das Wohl künftiger Generationen abzielt.838 In einer Zeit, in der viele, einmal begonnene, technische Prozesse irreversibel sind, sollten mögliche negative Folgen mitberücksichtigt werden. Denn qualitativ neue Unsicherheiten, Ungewissheiten und Gefahren bedrohten, so Jonas, das Erbe der Evolution.839 Jonas möchte, wie bereits geschildert, in seinem Werk die Ethik nicht im Ganzen erneuern. Ein solcher Anspruch lag ihm stets fern. Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stellt er nie zur Disposition. In der Podiumsdiskussion mit Beck und Zimmerli 1990 sagt er, er überschreite zwar viele Begriffe früherer Ethik, sie seien aber nicht außer Kraft gesetzt im mitmenschlichen Umgang. „Ich hoffe, daß zwischen Walther Zimmerli und mir weiter die Regeln gelten, die den anständigen Verkehr von Menschen regeln –, aber darüber hinaus hat sich eine gemeinsame Pflicht aufgetan, die gar nichts mehr mit bloßem Anstand zu tun hat, sondern mit etwas Metaphysischem: mit der Bestimmung des Menschen auf Erden.“840 Aus diesem Grunde setzt er auf ein neues Verhältnis von Naturwissenschaft und Ethik, das „das Naturwissen in unsere ethischen Überlegungen“841 einbezieht. Allein dieser Gedanke revolutioniert sein eigenes Fach. Denn Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften spielten für die Ethik lange Zeit kaum eine Rolle. Diese Zeit ist laut Jonas jedoch unwiderruflich vorüber, weil jede naturwissenschaftlich-technische Innovation weitreichende gesamtgesellschaftliche Konsequenzen hat. Diese können positiver Natur sein, wie etwa die Entdeckung von Arzneimitteln gegen bis dahin tödliche Krankheiten. Sie können aber auch negativer Art sein, so etwa bei der Verschmutzung der Umwelt und der modernen Kriegsführung. Schon die europäischen Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten es offenbart: Im Angesicht des Zerstörungspotentials moderner Waffen galt es, über die Pflege von Feindseligkeiten neu nachzudenken. Die Einbeziehung moderner Technologien und der Naturwissenschaften in ethische Überlegungen ist nicht zuletzt eine Reaktion auf drohende Gefahren, die durch wissenschaftliche Forschung in der Zukunft möglich sind. 838 Hans Jonas: Technik Medizin und Ethik, a.a.O., S. 67. Im Folgenden TME. 839 Vgl. PV, S. 72. 840 HJ 5-23-10, S. 23. Das Gespräch ist jetzt abgedruckt in: KGA I/2, S. 423ff. 841 PV, S. 35.
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Über allem schwebte die Sorge, eine ganze Zivilisation könne vernichtet werden. Der innovative Charakter der Jonasschen Gedanken tritt hervor, betrachtet man die lange Liste der politischen Reaktionen auf reale Krisen, Kriege und Katastrophen: Von der Antike bis in die Neuzeit lautete das oberste politische Gebot im öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit: μη μνησικακείν.842 Das Schlechte und Böse sollte nicht erinnert werden, um Vergeltungen zu vermeiden. Man wollte gemeinsam und unbelastet gegenwärtige wie künftige Aufgaben angehen. Rache und harte Strafen, so die Auffassung, standen diesen Aufgaben mehr im Wege als dass sie nutzen konnten. Das Gebot schnellen Vergessens setzte sich in Mittelalter und Neuzeit in der damnatio memoriae fort. Der Althistoriker Christian Meier betont, dass diesem Gebot drei Prinzipien zugrunde lagen: abolitio, oblivio und remissio.843 Die Amnestie, das Vergessen und die Vergebung bzw. das Verzeihen besaßen deshalb oberste Priorität, weil man glaubte, anders ließe sich eine bessere Zukunft nicht gestalten. Mit dem Friedensschluss war jegliches Ansinnen auf Vergeltung zunichte gemacht: „Nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen ist in der Geschichte bis 1918 und zum Teil darüber hinaus ... regelmäßig beschlossen worden, das Geschehene zu vergessen“ resümiert Meier, gibt jedoch zu bedenken: „Während die Straflosigkeit in der Regel durchgesetzt werden konnte, verhielt es sich mit dem Vergessen schwieriger.“844 Denn Vergessen lässt sich nicht verordnen. Alte Feindschaften und Kalamitäten gediehen unter dem Diktum des Vergessens umso besser. Die deutsch-französische Fehde zum Beispiel hielt die gesamte Neuzeit über an und schlug sich in mehreren Kriegen nieder. Die damnatio memoriae erlangte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen unrühmlichen Stellenwert. Denn die Tabuisierung der Kriegsverbrechen und das Schweigen über Fragen der Mitschuld zogen sich über viele Jahre und begleiteten implizit den Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft, die ihre Vergangenheit nur unzureichend erinnerte, um wirklich offen in die Zukunft blicken zu können. Erst ab Ende der 1950er Jahre entwickelte sich eine öffentliche Debatte, unter anderem forciert von Hermann Heimpel und Theodor W. Adorno, 842 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010, S. 18. 843 Ebd., S. 40. 844 Ebd., S. 44.
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über die Aufarbeitung der Vergangenheit: „Man will“, so Adorno in seinem Vortrag aus dem Jahr 1959, „von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“845 Das allzu lebendige Weiterwirken des „Monströsen“ erschwerte zweifellos eine angemessene Aufarbeitung der Vergangenheit. Aufarbeitung meinte in erster Linie das Bemühen, auf Gewissensfragen nach Mitschuld und Mitverantwortung nicht nur politische, sondern auch moralphilosophische Antworten zu finden. So vertrat beispielsweise Hannah Arendt die Auffassung, Ethik nach Auschwitz sei nur durch Erinnerungsarbeit möglich. Ohne Reflexion auf schlimme Vergangenheit lasse sich, so Arendt, keine Zukunft menschlich gestalten.846 Freilich bedeutete dies gerade angesichts von Barbarei und Diktatur eine hermeneutische Herkulesaufgabe. Arendt hat das bei ihrer Interpretation von Adolf Eichmann am eigenen Leibe deutlich zu spüren bekommen.847 Doch wie konnte Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt möglich sein? Abseits von strafrechtlichen Prozessen und politischer Aussöhnung begann die wissenschaftliche Erforschung und Aufarbeitung der Jahre zwischen 1933 und 1945 recht spät. Nach dem epochalen Einschnitt des Jahres 1968 intensivierte sich diese Auseinandersetzung jedoch. Hans Jonas selbst reflektiert nicht bloß diese Vergangenheit, er behandelt die historische Katastrophe als Menetekel und weist eindrucksvoll nach, dass im Zuge der fortschreitenden Technisierung vergleichbare Katastrophen möglich sind. Sein Fazit: „Ich habe eine gewisse Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Solche Ereignisse werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame Wirkung haben.“848 845 Hermann Heimpel: „Gegenwartsaufgaben der Geschichtswissenschaft“. In: Ders.: Kapitulation vor der Geschichte? Göttingen 1960, S. 45-67; Theodor W. Adorno: „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 10.2. Frankfurt a.M. 1977, S. 555-572, hier S. 555. 846 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2006. 847 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. München 2014. 848 Jonas: Dem bösen Ende näher, a.a.O., S. 14.
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An diesem Punkt setzt seine Ethik mit der Forderung nach einer die Interessen zukünftiger Generationen berücksichtigenden Kollektivverantwortung als Antwort auf vergangene Katastrophen als auch auf die neue gesellschaftspolitische Situation an. Erinnern wir uns daran, dass der Diplomat und Historiker George Kennan den Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe“ nannte,849 die viel weiteres Unheil nach sich zog, dann muss man heute freilich fragen, wie vieler Katastrophen es noch bedarf, damit sie erzieherisch tatsächlich wirksam sind. Eine Antwort auf diese Frage bleibt Jonas schuldig. Seine diesbezügliche Einschätzung ist auch mehr als zweifelhaft, setzt sie doch nicht zuletzt einen kollektiven Weitblick voraus, der allein durch die Wahrnehmung des Unheils nicht zu erwarten ist. Da das Leben jedes Einzelnen begrenzt ist und frühere Katastrophen für die Zeitgenossen in ihrer, im Gegensatz zu heute arg begrenzten, Weltsicht kaum weniger empfindsam aufgenommen worden sind (Rom 64, Magdeburg 1631, Lissabon 1755 etc.), hätte eine Erziehung durch Katastrophen gewiss längst einsetzen müssen. Ob allein die Möglichkeit eines globalen Unheils ein Umdenken bewirken mag, ist ebenso fraglich. Denn auch hier wäre die Vorstellungskraft eines Kollektivs gefragt, das es erst zu sensibilisieren gilt. Blickt man allerdings auf die tatsächliche Wahrnehmung von Verantwortung in der Geschichte des Menschen, so wird andererseits die von Jonas eingeführte neue verantwortungsethische Dimension virulent. Denn traditionell spielte Verantwortung allein im engen Kreis der Familie und der Stadt eine tragende Rolle. Der Staat hingegen blieb lange außen vor, ehe sich im Nachgang der Französischen Revolution die politische Idee durchsetzte, Staat und Nation als organische Einheit zu betrachten; eine Einheit, in der sowohl das Individuum als auch die Politik füreinander Verantwortung übernehmen sollten.850 Dieses Verständnis der Verschränkung von individueller und kollektiver Verantwortung ist bis heute ungebrochen und die Sensibilität für mögliche Fehlentwicklungen weitaus größer als je zuvor.
II Zukunftsforschung
Hans Jonas zeigt in seiner Ethik, dass Handlungen eines Kollektivs des Bezugspunktes zu dem tatsächlichen Ausmaß ihrer Wirksamkeit bedür849 George F. Kennan: The Decline of Bismarcks European Order. Franco-Russian Relations 1875-1890. Princeton 1979, S. 3. 850 Eine Ausnahme bildete freilich das jüdische Volk, weil den Juden bis zur Gründung Israels 1948 kein eigener Staat zur Verfügung stand.
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fen.851 Er plädiert, wie wir gesehen haben, für eine vergleichende Futurologie: Das vorgestellte Übel solle wie ein echtes Übel behandelt werden. Die damit einhergehende Pflicht sei die Beschaffung ausreichender Informationen über mögliche Fernwirkungen. Das ist gemeint, wenn er von der Erziehung durch Katastrophen spricht. Mit Eva Horn ließe sich nun behaupten, die künftige Katastrophe zu entziffern heißt, eine Geschichte zu Ende zu erzählen, die sich erst noch ereignet: „Die Katastrophe ist ein Ende, ein Abschluss, etwas, das gekommen sein wird. Dabei muss das nicht notwendig ... ein schlechtes Ende sein, sondern vor allem eine Auflösung ... jener Verworrenheit, die eine Dramenhandlung ebenso kennzeichnet wie eine komplizierte Situation, solange sie gegenwärtig ist. Erst vom Ende her überschaut man sie.“852 An anderem Ort heißt es bei Jonas hierzu, das sachhaltige Wissen der Futurologie „müsse das rechte Gefühl in uns wachrufen, um uns zum Handeln im Sinne der Verantwortung zu bewegen.“853 Jonas bewegt sich mit seinen Gedanken über die Zukunft zweifellos in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist. Dieser war in erster Linie geprägt von dem, was Michael Rutschky „Erfahrungshunger“ getauft hatte – ein psychosozialer Trend, der sich gegen „eine ideologisch ausgelaugte, kalt geronnene Intellektualität“ richtete und persönliche Erfahrungen beanspruchte. Der Erfahrungshunger bezog Stellung gegen den „zunehmenden Informationsdruck, ... gegen ein unbeteiligtes Nachrichten-Wissen“ und plädierte schlichtweg für „Teilnahme“. Denn, so Rutschky: „Die zuerst hirnfeuchte, dann immer trockener werdende Utopie der Allgemeinbegriffe funktionierte nicht mehr. Ihre Väter waren gestorben oder hatten sich abgewendet.“ Erfahrungshunger war insoweit die Reaktion der Menschen auf den Verlust der einstigen Ideale.854 Parallel zu diesen von Rutschky eindrucksvoll nachgezeichneten psychosozialen Trends entwickelte sich seit den 1960er und 1970er Jahren in rasantem Tempo eine akademische Disziplin, die ihre Ursprünge in den letzten Kriegsjahren hatte und Zukunftsfragen der Menschheit diskutierte. 851 Vgl. PV, S. 37. 852 Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a.M. 2014, S. 15. 853 Hans Jonas: Zur ontologischen Grundlegung der Zukunftsethik. In: Ders.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a.M. 1994, S. 128146, hier S. 141. 854 Michael Rutschky: Erfahrungshunger – ein Essay über die siebziger Jahre. Köln 1980. Zitate aus: Paul Konrad Kurz: Die Welt ist Eins. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt 41 vom 09. Oktober 1987. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342.
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Diese als Futurologie bekannt gewordene neue Forschungsrichtung war verbunden mit Namen wie Hermann Kahn und Ossip K. Flechtheim. Daneben sind John Herz, Robert Jungk und Daniel Bell als Vertreter der Futurologie zu nennen.855 Während Flechtheim, wie später auch der Club of Rome, ein eher düsteres Bild der Zukunft des Planeten malten, gaben sich insbesondere Kahn und sein Mitstreiter John B. Phelps vom Hudson-Institut als Zweckoptimisten und stellten vor allem die Chancen des gesellschaftlichen Wandels heraus. Gemeinsam war allen die systematische und kritische Diskussion von Zukunftsfragen, die sich am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften orientierte.856 Die Diskussion kreiste damals um Fragen über Zukunftstechnologien wie die Nutzung der Atomenergie, die elektronische Informationsverarbeitung, den Strukturwandel der Gesellschaft und die Raumfahrt. Letztere befeuerte vor allem Juri Gagarin als erster Astronaut im Weltall. Aber schon Norbert Wieners in den späten 1940er Jahren entwickelte Theorie der Kybernetik,857 die auf die Schnittstellen verschiedener Einzeldisziplinen abhob und Themen wie menschliches Verhalten, Nachrichtenübertragung, Spieltheorie und Mechanik zueinander in Beziehung setzte, wirkte in dieser Zeit nach. So institutionalisierte sich in den 1970er Jahren die Zukunftsforschung, blieb aber dennoch stark umstritten, zumal Kahn Prognosen für die kommenden 200 Jahre abgab. Kein Datenmaterial der Welt schien einen solch weitreichenden Fernblick zu rechtfertigen, zumal sich nicht einmal die historischen Ereignisse vor 200 Jahren exakt rekonstruieren lassen. Kahn arbeitete vielmehr mit Narrativen, die eher an das Orakel von Delphi als an strenge wissenschaftliche Forschung erinnerten. Wie auch immer: Im Zentrum der interdisziplinär angelegten Zukunftsforschung stand das Triple-P: Prognostik, Planung und Philosophie. Georg 855 Sieh beispielhaft Hermann Kahn: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000. Wien/München/Zürich 1968; Interfutures: Facing the Future. Mastering the Probable and Managing the Impredictable. Paris OECD 1979; Prognos Euro-Report. Basel 1979; Annual Report on the Economics and Demographic Trends in the Industrial Countries of Western Europe and USA up to 1990; Wassily Leontief: Zukunft der Weltwirtschaft. UNO-Studie. Stuttgart 1977; Paul Ehrlich: The Population Bomb. New York 1968; Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Stuttgart 1952; Daniel Bell: The coming of post-industrial Society. A venture in Social Forecasting. London 1974. 856 Die Futurologie muss dennoch von solch religiös-apokalyptischen Prophezeiungen wie die eines Hal Lindsey, die seinerzeit ebenso populär waren, unterschieden werden. 857 Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1952.
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Picht brachte es 1969 auf den Punkt, als er schrieb, der Prozess der wissenschaftlichen Zivilisation versetze die Menschheit in die Zwangslage, „in einem qualitativen Sprung ihres Bewusstseins die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte zu übernehmen.“858 Zukunftsforschung galt in erster Linie als Friedensforschung. Ein Meilenstein war die Gründung des Münchner Max-Planck-Instituts für Zukunftsforschung 1970 durch Carl Friedrich von Weizsäcker, das auf die Gründung des Berliner Zentrums für Zukunftsforschung 1968 folgte. Angesiedelt war der Forschungszweig zwischen Industrie, Wissenschaft und Gewerkschaft. Die Erforschung der Zukunft galt als Bedingung der Möglichkeit geregelter und vernünftiger gesellschaftlicher Weiterentwicklung im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolutionen. Insgesamt zeichneten ihre Vertreter ein erschreckend düsteres Bild. Eva Horn bemerkt dazu kritisch, dass im Atomzeitalter die Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe „als Option menschlichen Handelns greif- und machbar“ wurde: „Das Ende ist nicht mehr von außen hereinbrechende Dunkelheit, sondern ein Schicksal, das die Menschheit sich selbst bereitet. Es ist nicht mehr fernes Zeitende, sondern Naherwartung; nicht mehr erhabene Fiktion, sondern »reale Möglichkeit«; nicht mehr kosmisches Ereignis, sondern menschliche Entscheidung.“859 In den 1960er und 1970er Jahren erhielt mithin nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern gleichzeitig der Blick in die Zukunft eine gesellschaftspolitische Bedeutung ungekannten Ausmaßes. Einerseits galt es, die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs zu erinnern, um eine humane Zukunft gewährleisten zu können. Andererseits blickten Futurologen bis ins Jahr 2030 und darüber hinaus, um der Politik die Möglichkeit zu geben, in der Gegenwart jene Weichen zu stellen, die in Zukunft Relevanz haben sollten. Paradigmatisch für diese Haltung war der 1972 erschienene Bericht „The Limits to Growth“860, in welchem dem bedingungslosen Glauben an Fortschritt und Technik selbst ein weltzerstörerisches Potenzial unterstellt wurde. Letztlich war dieser viel diskutierte Bericht nur der Auftakt eines allmählich wachsenden kritischen bis skeptischen Bewusstseins über die zusehends bedenkliche weltpolitische Entwicklung, die unter dem Dach des Kalten Krieges voranschritt. 858 Georg Picht: „Was fordert die Zukunft von uns?“ In: Merkur 1, Januar 1969, S. 1-19, hier S. 1. 859 Horn: Zukunft, a.a.O., S. 81. 860 Dennis Meadows et alii: The Limits to Growth. Universe Books 1972.
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Die Gegenwart schien zwischen Erinnerungskultur und Prognose, Aufarbeitung und Demoskopie so breit und aufgebläht wie nie zuvor.861 Hierbei lassen sich – bei allen Unterschieden im Detail – doch durchaus zahlreiche Parallelen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten feststellen. Daniel T. Rodgers etwa stellt fest, dass die USA im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, insbesondere, wenn man den Geist Amerikas unter die Lupe nimmt, eine Ära des Zerfalls (Great age of fracture)862 durchleben: „Im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts zerbrachen in immer mehr Bereichen des sozialen Denkens und Argumentierens jene Begriffe, die das intellektuelle Leben nach dem Zweiten Weltkrieg dominiert hatten. Man hörte weniger über Gemeinschaft, Geschichte und Macht, sondern mehr über Individuen, Kontingenz und Wahlfreiheit. Die Bedeutung ökonomischer Institutionen wich dem Glauben an flexible und permanent handelnde Märkte. Es hieß, auch die Geschichte beschleunige sich und wandle sich in eine Vielzahl von quasi unmittelbar zugänglichen Möglichkeiten. Identitäten lösten sich auf und wurden frei wählbar.“863 Die ökonomische Krise, die allmähliche Auflösung bis dato stabiler Identitäten und Gewissheiten sowie immer größer werdende Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft waren laut Rodgers die treibenden Faktoren für die „Fraktur“ der letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts. Fragen nach Verantwortung, Schicksal, Gerechtigkeit, Moral und Gesellschaft traten an die Seite des Rufs nach Freiheit. Deshalb stieß vor allem John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit Anfang der 1970er Jahre in Amerika auf so fruchtbaren Boden. Kaum ein anderes Buch wurde seinerzeit so breit und öffentlich diskutiert. Rodgers schreibt hierzu: „Die Idee der Gerechtigkeit, wie sie in der Arbeit demokratischer Gemeinschaften wurzelte, entsprang dem linken Gedankengut der 1960er Jahre. Es nahm Gestalt an durch die Idee der direkten politischen Gemeinschaftsaktion, wie sie durch die afro-amerikanischen Aktivisten während des Busboykotts von Montgomery, die Sit-ins von Greensboro und Nashville und dem Kreuzzug für das Wahlrecht in Mississippi geprägt worden sind. Doch auch aus dem Ringen der Genossenschaften, der Ausschüsse und Interessenverbände, der kommunalen Projekte und der Informations861 Dazu auch Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt a.M. 2010. 862 Daniel T. Rodgers: Age of fracture. Cambridge und London 2011. 863 Ebd., S. 5. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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treffen, die die Durchschlagskraft der Neuen Linken befeuerten, erwuchs die Hoffnung auf eine neue, partizipatorische Demokratie.“864 John Rawls konnte daran anknüpfen, indem er eine sozial-politische gesellschaftliche Grundordnung entwarf, die auf der Gleichheit ihrer Mitglieder beruht. Gegen die utilitaristische Annahme, man dürfe den Einzelnen zum Zwecke des Gemeinwohls benachteiligen, setzte Rawls auf einen hypothetischen Urzustand, in dem alle Beteiligten, von einem Schleier des Nichtwissens umgeben, über jene Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden, die der realen Gesellschaftsordnung zugrunde liegen sollen. In diesem Zustand aber weiß niemand, welchen Platz er in dieser neuen Ordnung einnehmen wird. So soll sichergestellt werden, dass die Prinzipien fair verhandelt werden.865 Es geht Rawls also darum, ein Verfahren für eine Gesellschaftsordnung zu entwerfen, das so fair ist, dass am Ende jeder, der eine ihm vorab unbekannte Position in dieser neuen Gesellschaft einnimmt, seiner ihm zugedachten Rolle wird zustimmen können. Rawls’ Theorie wurde nicht zuletzt deshalb so stark rezipiert, weil die Sensibilitäten in Amerika nach 1975 sich so dramatisch veränderten und viele Amerikaner ein eher pessimistisches Bild ihrer Zeit hatten: Sie lebten, gerade nach der Watergate-Affäre und dem Ölpreisschock, in einem Jahrzehnt der Alpträume,866 in dem es nur allzu berechtigt schien, nach gerechten Prinzipien des Miteinanders Ausschau zu halten. In der amerikanischen Populärkultur werfen zur selben Zeit ganz ähnliche Fragen zahlreiche Science Fiction-Filme auf. Man kann von einem regelrechten Boom dieses Genres sprechen. So thematisieren die Ökodystopien Soylent Green von Richard Fleischer und Silent Running von Douglas Trumbull den sozialen Zerfall und die Zerstörung der Umwelt. Logan’s Run von Michael Anderson spielt mit dem Gedanken, dass jeder, der das 30. Lebensjahr erreicht hat, zum Erhalt einer jugendlichen Kultur umgebracht wird. Politisches Chaos und die Möglichkeit einer amerikanischen Diktatur sind in Allen Drurys Roman Come Nineveh, Come Tyre das Thema einer bald bevorstehenden Zukunft. Hans Jonas, zu dieser Zeit noch an der New School for Social Research in New York tätig, ist von den Debatten der damaligen Zeit in den USA und Europa durchaus inspiriert. Die öffentlichen Diskussionen hält er allerdings 864 Ebd., S. 191. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 865 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1979. 866 So Philip Jenkins: Decade of Nightmares. Oxford 2006.
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für sehr populär. Ihm fehlt in diesem Zusammenhang eine starke Philosophie, die diese Debatten begleitet und fundiert. Seine These, dass die neuen Arten und Formen des technologischen und wirtschaftlichen Handelns einer kommensurablen Ethik der Voraussicht und Verantwortung bedürften, welche so neu ist wie die Eventualitäten, mit denen sie zu tun habe, ist nicht zuletzt die moralphilosophische Reaktion auf die veränderten Bedingungen des Handelns globalen Ausmaßes – abseits jeder populärkulturellen Bearbeitungen des Themas.867 Einmal mehr agiert er against the stream.
III Rettung des unsichtbaren Reiches
Die heutige Welt, so schreibt Jonas, verlange sowohl Wiedergutmachung als auch „Rettung des Friedens des unsichtbaren Reiches.“868 Von den heute Lebenden sei eine große Anstrengung verlangt, „den Schatten von unserer Stirn zu lüften und denen, die nach uns kommen, eine neue Möglichkeit der Seelenheiterkeit dadurch zu verschaffen, dass wir sie, die Gemordeten, der unsichtbaren Welt zurückgeben. Und wir tun dies, wenn wir im Angesicht der Bombe und all dessen, was sie symbolisiert, das göttliche Abenteuer auf Erden nicht im Stich lassen.“869 So verklammert Hans Jonas Erinnerung und Zukunftsgestaltung aufs Engste miteinander. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft. Ohne Geschichte bleibt die Gegenwart leer, der Blick in die Zukunft blind. Und ohne Sorge um die Zukunft des Menschen wären Geschichte und Gegenwart ohne Sinn. Dabei verschweigt er nicht, was der Sinn theologischer Natur ist: Das „göttliche Abenteuer“. Die Umschreibung suggeriert, Gott selber habe sich in ein Abenteuer mit auch für ihn unbekanntem Ausgang begeben. In diesem Verständnis beginnt Jonas bereits sein Buch „Zwischen Nichts und Ewigkeit“. Gleich zu Beginn des Buches heißt es: „Die Suche nach dem 867 Vgl. PV, S. 47 sowie S. 62ff. In seinem 1976 publizierten Artikel „Responsibility Today: The Ethics of Endangered Future“ (Social Research 43.1, Cambden 1976, S. 77-97) bezieht er sich explizit auf seinen Kollegen Robert Heilbroner: An Inquiry into the Human Prospect. Norton 1974. Die wesentlichen Aspekte seines Verantwortungsbegriffs sind in diesem Aufsatz abgehandelt und setzen die Überlegungen aus „Technology and Responsibility: Reflections on the new tasks of Ethics“ (Social Research 40.1, Cambden 1973, S. 31-54) fort. 868 Vgl. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1987: Hans Jonas: Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Laudatio Robert Spaemann. Frankfurt a.M., S. 7. 869 Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen. Göttingen 1987, S. 61.
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Menschen muß ihren Weg über die Begegnungen des Menschen mit dem Sein nehmen. In solchen Begegnungen kommt dies Wesen nicht nur zum Vorschein, sondern überhaupt zustande, indem es sich jeweils darin entscheidet. Das Vermögen zur Begegnung selber aber ist das Grundwesen des Menschen: dieses also ist die Freiheit, und ihr Ort ist die Geschichte, die ihrerseits nur durch jenes transhistorische Grundwesen des Subjekts möglich ist. Jedes aus geschichtlicher Begegnung entstehende Bild der Wirklichkeit schließt ein Bild des Ich ein, und diesem gemäß existiert der Mensch, solange das Bild seine Wahrheit ist. Die im Menschen gelegene Bedingung der Möglichkeit von Geschichte aber – eben seine Freiheit – ist selber nicht geschichtlich, sondern ontologisch; und sie wird selber, wenn entdeckt, zum zentralen Faktum in der Evidenz, aus der jede Seinslehre schöpfen muss.“870 Die letzten Seiten des dritten Aufsatzes aus diesem Bändchen sind seiner Mutter Rosa Horowitz gewidmet.871 Auch steckt ein ganz zentraler Aspekt seiner Philosophie in den Aussagen des Buches. Denn wenn Jonas von der Rettung des unsichtbaren Reiches spricht, geht es ihm um nichts weniger als die Bewahrung der Schöpfung und die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen. Wir müssen uns nach Jonas wieder bewusst werden, was wir auf keinen Fall zerstören möchten. Wir müssen uns darüber verständigen, was uns so heilig ist, dass wir es unter keinen Umständen anrühren dürfen, um letztlich unsere Freiheit nicht komplett aufzugeben. „Das göttliche Abenteuer“ spielt in der Philosophie von Hans Jonas also eine ganz besondere Rolle, sowohl in seinen Studien zur Gnosis als auch in den drei Aufsätzen zur Lehre des Menschen von 1963872 sowie in dem nicht weniger populär gewordenen Vortrag über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“.873 Thema dieser von Jonas so genannten spekulativen Theologie ist die Irritation des Menschen angesichts eines auch in Auschwitz stumm gebliebenen Gottes. Für die Juden war Gott seit jeher der Herr der Geschichte. Da stelle Auschwitz „selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage.“874 Wer Gott nicht ganz aufgeben möchte, müsse den Gottesbegriff zumindest neu überdenken und fragen, welcher Gott Auschwitz geschehen lassen konnte. 870 Ebd., S. 3. 871 Vgl. HJ 10-1-27, Brief vom 8. November 1963. 872 Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit, S 3. 873 Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt a.M. 1984. 874 Ebd., S. 14.
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Jonas greift zur Veranschaulichung eines neuen Gottesverständnisses, wie bereits erwähnt, auf einen Grundbegriff der jüdischen Kabbala zurück: Der Zimzum, den er in seinem Vortrag anfangs noch „Mythos“ nennt. Gott habe sich seiner Gottheit entkleidet, um das Werden der Welt, um Leben und Tod zu ermöglichen. Mit dem Menschen entstanden sodann Wissen und Freiheit, Gut und Böse und die Aufgabe, sich der Verantwortung für die Schöpfung zu stellen.875 Schauen wir uns diesen Begriff nun ein wenig genauer an: Jonas rekurriert hier auf die Zusammenziehung Gottes vor Erschaffung der Welt, seinen Rückzug und seine Selbstbeschränkung zwecks Schöpfung der Welt, wie sie im Zimzum seit Isaak Luria im 16. Jahrhundert zunächst als jüdische Geheimlehre überliefert wurde. Hierzu bemerkt Christoph Schulte: „Der vor der Schöpfung allgegenwärtige und unendliche Gott muss sich im Zimzum von sich selbst in sich selbst zurückziehen und begrenzen, um allererst für die Erschaffung der Welt in seiner eigenen Mitte Platz zu machen … Dabei schränkt Gott im Zimzum auch seine Allmacht ein, sodass überhaupt Endliches entstehen kann. Ohne Zimzum keine Schöpfung.“876 Isaak Luria (1534-1572), in Kairo geboren, lehrte in Safed im heutigen Israel. Seine theosophische Lehre von der Selbstverbannung Gottes ist eine kabbalistische Ursprungsmetapher, die zu einer Zeit entstand, in der die Juden selbst ins Exil getrieben wurden. Die Kabbalisten in der Nachfolge Lurias standen vor dem Problem, wie aus etwas Unveränderlichem, Ewigem (En-sof), etwas Endliches hervorgehen kann bzw. wie etwas aus Nichts entstehen kann.877 Die Formel vom Ursprung aus dem Nichts entspringt laut Gershom Scholem genuin der jüdischen Theologie und Philosophie.878 Das Paradoxon, das nicht nur in der jüdischen Theologie, sondern in erkenntnistheoretischen Abhandlungen grundsätzlich eine Herausforderung darstellt, wird in der Kabbala darauf zurückgeführt, dass die menschliche Sprache begrenzt ist. Sie kann den numinosen Vorgang nicht anders beschreiben als auf die Metapher von der Selbstbegrenzung Gottes zurückzugreifen. Durch die Selbstbegrenzung Gottes sei ein leerer, von Gott ge875 Vgl. ebd., S. 22. 876 Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung. Frankfurt a.M. 2014, S. 9. Sieh auch: Harold Bloom: »Zimzum« – Gottes Geburtstrauma. In: Peter Sloterdijk/Thomas Macho: Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis. Zürich 1993, S. 790-796. 877 Vgl. Schulte: Zimzum, S. 44. 878 Gershom Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a.M. 1970, S. 55.
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träumter Raum entstanden. Über diesen leeren Raum existierten auch in der Kabbala unterschiedliche Auffassungen. Einige Interpreten konstatierten, dieser Ur-Raum befinde sich immer noch in Gott selbst, denn der Raum sei immerfort und von allen Seiten von göttlichem Licht umgeben.879 Gegen die Emanationsthese stand offensichtlich der Glaube, die leere Mitte sei der einzige freie Ort überhaupt, denn nur dort, wo Gott abwesend und nicht herrschend ist, sei Freiheit allererst möglich. Allen Interpretationen jedoch gilt der Rückzug Gottes als Bedingung der Möglichkeit der Entstehung von etwas, das nicht Gott ist und dem sich folglich Gott offenbaren muss. Ohne Zimzum keine Offenbarung, weil Gott sich nicht sich selbst offenbaren muss.880 Laut den Kabbalisten handelt es sich beim Zimzum nicht um einen einmaligen Akt. Vielmehr sei der Zimzum eine permanente Handlung Gottes.881 Solange es also außer Gott noch etwas anderes geben soll, solange ist der Zimzum Gottes unabdingbare Voraussetzung. Wie hätten die frühen Kabbalisten wohl auf die Erkenntnis eines permanent expandierenden Weltalls reagiert? Weil Gott sich zusammenzieht, zurückzieht und einen leeren Raum (Pleroma) hinterlässt, entsteht etwas Anderes, eine Differenz, eine Vielfalt (Nicht-Gott), die das Eine und Unendliche zwar nicht verändere, wohl aber seine Effekte und Folgen. Das irdische Verhalten, so die Kabbalisten weiter, übe Einfluss auf die göttlichen Kräfte aus. Weil Gott sein Antlitz in diesem leeren Raum aber verbirgt (Hester Panim), entstehen auch Leid und Katastrophen.882 In den leeren Raum dringen allenthalben göttliche Lichtstrahlen, die auch jene Gefäße zerbrechen, die ursprünglich dazu dienen sollten, die Lichtfluten aufzunehmen. Nach dem Bruch der Gefäße883 ist nichts mehr an seinem Ort: „Alles steht irgendwo anders. Ein Sein aber, das nicht an seinem Orte ist, ist im Exil. Und so ist denn alles Sein von jenem Urakt an ein Sein im Exil und bedarf der Rückführung und Erlösung.“884 Denn alles ist zerbrochen und bleibt notwendig unvollendet. Im 20. Jahrhundert wird die jüdische Mystik und die lurianische Kabbala, die in ihrer Lehre vom Zimzum Gemeinsamkeiten mit der Gnosis 879 Schulte: Zimzum, a.a.O., S. 68. 880 Ebd., S. 72. 881 Ebd., S. 74. 882 Ebd., S. 269. 883 Sieh dazu: Giora S. Shoham: Das Zerbrechen der Gefäße. In: Sloterdijk/Macho: Weltrevolution, a.a.O., S. 802-814. 884 Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Darmstadt 1965, S. 151.
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aufweist, wiederentdeckt. Neben Franz Rosenzweig und Martin Buber ist es insbesondere Gershom Scholem, der den Zimzum in seinen Schriften thematisiert. Er ist es, wie bereits angedeutet, der Hans Jonas auf den sich in sich selbst zurückziehenden Gott aufmerksam macht.885 Bei Scholem wird der vorgeschichtliche Zimzum allerdings zu einem innergeschichtlichen Zimzum: Gott zieht sich ein zweites Mal zurück. Nicht nur begrenzt er sich selbst vor Erschaffung der Welt, um etwas anderes möglich zu machen; er zieht sich abermals in der bereits geschaffenen Welt zurück. Dieser erneute Rückzug ist das die Moderne prägende Phänomen.886 Hans Jonas greift die Interpretation Scholems Anfang der 1960er Jahre und dann in seinem Vortrag von 1984 auf. Bei ihm ist der innerweltliche Rückzug Gottes noch radikaler und absolut. Gott hat die Herrschaft über die Geschichte endgültig preisgegeben. Gott leidet durch den Schöpfungsakt an dem, was durch ihn entstanden ist. Jonas interpretiert ihn durch dieses Leiden als werdenden, sich verändernden, aber auch sorgenden Gott. Doch dieser sorgende Gott ist kein Zauberer. Seine Sorge bedeutet keineswegs, dass er fähig ist, die Welt positiv zu gestalten.887 Die Welt, unvollkommen und unvollendet, gehorcht fortan eigenen Gesetzen. Gott hat als der Eine im Hinblick auf den Gegenstand der Sorge etwas Anderem „einen Spielraum und eine Mitbestimmung überlassen.“888 Gottes Allmacht gibt es nicht mehr. Der Schöpfungsakt hat diese Allmacht zunichte gemacht. In Auschwitz schwieg Gott, so Jonas, nicht etwa deshalb, weil er nicht eingreifen wollte, sondern weil er auf Grund seiner eingeschränkten Macht nicht eingreifen konnte. „Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht göttlicher Macht.“889 Gottes Machtverzicht ist zugleich Machtgewinn und damit Verantwortungspflicht des Menschen. Ohne Zweifel stellt dieser Machtgewinn des Menschen hohe Ansprüche an eine zeitgemäße Ethik. Denn sie muss des Weiteren auf die Tatsache reagieren, dass das Wesen des Menschen selbst im Wandel begriffen ist und einen Wandel des Politischen nach sich zieht; sie muss ferner eine Antwort finden auf die Tatsache, dass das menschlich Gute nicht länger klar definierbar ist; und sie muss eine Lösung für die Tatsache finden, dass die 885 Vgl. Schulte: Zimzum, S. 16. 886 Ebd., S. 388. Vgl. auch Gershom Scholem: Zur Kabbala, a.a.O. Scholem nutzt dieses Bild bei seiner Trauerrede auf Franz Rosenzweig 1929. 887 Vgl. Jonas: Gottesbegriff, a.a.O., S. 31. 888 Ebd., S. 32. 889 Ebd., S. 43.
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Reichweite menschlichen Handelns nicht eindeutig umgrenzt ist. Nichtsdestoweniger stellt Jonas zugleich klar, das Prinzip Verantwortung sei eine Ergänzung bisheriger Ethik. In der Tat bleibt sein Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“890 auf ganz bestimmte Handlungen beschränkt, solche nämlich, die die Permanenz des Lebens bedrohen. Das Prinzip Verantwortung ist insofern als Ethik angelegt, die jenes Handeln verurteilt, das schlimme Folgen nach sich zieht. Es bedeutet in der Konsequenz, dass zu prüfen ist, welche Handlungen überhaupt für die Permanenz des Lebens relevant sind.
IV Geltungsbereich des Prinzips Verantwortung
Nicht alle unsere Handlungen sind für das Überleben der Menschheit und die Bewahrung der Schöpfung entscheidend. Nicht alle Handlungen haben langfristige Folgen, die es zu bedenken gilt, obwohl wir Verantwortung für sie tragen, solange wir sie ausführen.891 Jonas’ Handlungsmaxime zielt insofern nicht auf den alltäglichen Gebrauch wie Kants kategorischer Imperativ. Denn die wenigsten Dinge, die ich täglich vollrichte, sind für die Bewahrung der Schöpfung von Bedeutung. Jonas versteht seinen Imperativ deshalb als Ergänzungsprinzip zur traditionellen Ethik. Das hat bereits die Skizze seines Hauptwerks gezeigt. Allerdings beansprucht er, dass diese Ergänzung von fundamentaler Bedeutung ist und von der bisherigen Ethik nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es bedarf dieser Ergänzung auch nur, weil sich die Welt und die menschlichen Möglichkeiten so grundlegend gewandelt haben und alle gebräuchlichen Maximen unzureichend auf diesen Sachverhalt anwendbar sind. Doch in genau diesem Geltungsbereich ist das Prinzip Verantwortung von einer moralphilosophischen Radikalität geprägt: Bedingungslose Bewahrung der Schöpfung und Fortbestand menschlichen Lebens auf der Erde. Es ist jedoch ein offensichtlicher Widerspruch, wenn Jonas von einem „kategorischen“ Imperativ des Handlungsprinzips spricht, dieses aber nur auf ganz bestimmte Handlungen angewendet wissen will, von denen nicht einmal genau klar ist, welche Handlungen überhaupt darunter fallen. Doch deutet er eine Lösung an, indem er von der Kasuistik der Verantwortung 890 PV, S. 36. 891 Vgl. Jonas, TME, a.a.O.
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spricht. Es gilt, den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. Das heißt zu entscheiden, ob sie das Wohl und Weh der Menschheit als Ganze betrifft. Nie ganz zu klären bleibt aber, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierenden Handlungen tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen. Darüber hinaus ist bei diesem Verfahren ebenso offen, wer im Zweifel über den ethischen Gehalt einer konkreten Entscheidung bestimmt. Jonas übergibt die Lösung dieses Problems gewissermaßen in die Hände all derer, die qua Amt Verantwortung tragen. Das ist, wie wir gesehen haben, auf der einen Seite der „Staatsmann“, sagen wir: der (demokratisch legitimierte) Regierungsapparat in Bezug auf die Belange der Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind das die Eltern, die Verantwortung für ihre Kinder haben.892 Somit greift er einerseits die klassische Wahrnehmung von Verantwortung auf, wie sie in der Geschichte des Menschen lange vorherrschend war, nämlich die Mikrosphäre der Familie. Andererseits dehnt er dieses Urbild der Verantwortung auf die Makrosphäre des Politischen aus. Der quantitative Zuwachs an Verantwortlichkeiten darf jedoch nicht zu einer qualitativen Abschwächung gesellschaftlicher Verantwortung führen. In beiden Bereichen gilt: „Für irgendwen irgendwann irgendwelche Verantwortung de facto zu haben (nicht darum auch, sie zu erfüllen, selbst nur zu fühlen) gehört so untrennbar zum Sein des Menschen, wie daß er der Verantwortung generell fähig ist.“893 Das Innehaben von Verantwortung stellt somit zugleich das moralische Komplement unseres Zeitlichseins dar. Verantwortung wird mithin virulent, wenn es darum geht, zwischen dem Diktat der Wirtschaft, welches mit dem Globalisierungsprozess einhergeht und die Gefahren hochtechnologischer wie auch hochtechnokratischer Zivilisationen in sich birgt, und der damit ebenso wachsenden Notwendigkeit einer auf den Ideen der Aufklärung – nämlich Freiheit, Reziprozität und Solidarität – beruhenden Bildung mittels einer Politik der Vernunft zu vermitteln. Dies schließt dann notwendigerweise ein, Zustände herzustellen, die das reziproke Tragen von Verantwortung überhaupt erst ermöglichen und deren Permanenz zu bewahren, sowie umgekehrt Zustände, die dies nicht ermöglichen, zu kritisieren und zu verändern. Im positiven Fall sind dies Zustände gegenseitigen Respekts der Andersartigkeit und Individualität, Transparenz der Motive, gegenseitige Solidarität zur Überwindung von 892 Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 1970, S. 42, sowie PV, S. 191. 893 PV, S. 185.
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Nachteilen – basierend auf gegenseitiger, strikt reziproker Rechtfertigung und Ernsthaftigkeit. Verantwortung zu übernehmen bedeutet dann, dass ich für eine Person, Sache, Situation etc. Verantwortung in der Form dreistelliger reziproker, intersubjektiver Mitverantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trage. Politik und Bildung resp. Erziehung sind insofern die beiden Bereiche, für die Jonas Entscheidungskompetenzen reklamiert. Politiker und Eltern resp. Pädagogen tragen deshalb auch Verantwortung dafür, sich entsprechendes Wissen über die Wirkungen und die Folgen ihres Tuns zu besorgen. Bloß wie? In diesem Zusammenhang greift Jonas auf ein anthropologisches Moment zurück, das er bereits in seinen philosophisch-biologischen Studien skizziert hat.894 Es ist die Idee des Homo pictor, der sich seiner Fähigkeiten und der Freiheit seiner Imagination bewusst werden muss. So heißt es, wie wir gesehen haben, im Prinzip Verantwortung: „Sieh hin und du weißt!“895 Das Sehen, die Imagination, wird zum idealen Fernsinn und somit auch zur Bedingung der Möglichkeit der Verantwortungsübernahme. Denn der Mensch kann sich ein Bild machen über die möglichen Folgen seiner Handlung. Er kann sich vorstellen, was passiert, wenn diese oder jene Handlung durchgeführt wird. Der Mensch kann Zustände antizipieren,896 die noch nicht eingetreten sind und sich die Folgen solcher Zustände bewusst machen: Was bedeutet es, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen? Welche Folgen wird dieses Gesetz nach sich ziehen? Wie lassen sich gesellschaftliche Zustände durch politische Einwirkung verbessern? Das sind Fragen, die den Alltag eines politisch handelnden Menschen unweigerlich begleiten. Welche Wirkung hat mein pädagogisches Handeln? Welche Vorbildfunktion habe ich als Erwachsener gegenüber Kindern? Wie schütze ich meine Kinder vor schlechten Einflüssen? Das sind Fragen, die sich Eltern und all jene, die in Bildungseinrichtungen arbeiten, immer wieder stellen müssen. Wissenschaftstheoretisch geht es Jonas darum, die biologischen Phänomene des gesamten Lebens ontologisch auszulegen und so die anthropologischen Schranken idealistischer und existentialistischer Philosophie zu durchbrechen. Dazu entwickelt er eine Stufenfolge des Lebens, in der Erfindungs- und Einfallsgabe, Repräsentationsvermögen und Glaube zu den 894 Hans Jonas: Organismus und Freiheit, a.a.O. Sieh auch: Jürgen Sikora: Zukunftsverantwortliche Bildung. Bausteine einer sinnkritisch-dialogischen Pädagogik. Würzburg 2003. 895 PV, S. 234. 896 Zum Akt des Fingierens und der Imagination sieh auch Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993.
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Grundmomenten einer wachsenden Freiheit des Menschen werden. Ziel seiner philosophischen Biologie ist es, die durch die cartesische Philosophie zerschlagene, psychophysische Einheit des Lebens zu rehabilitieren. Sein Kerngedanke, dass bereits in der primitivsten Form des Lebens durch den Stoffwechselprozess keimhaft Freiheit, Autonomie, Beziehungsfähigkeit, Sterblichkeit etc. angelegt seien, schlägt sich in der Praxis politischen und pädagogischen Handelns nieder. Denn wer über so zahlreiche Kompetenzen wie der Mensch verfügt, muss bedachtsam mit seinen Möglichkeiten umgehen. Die Distinktion des einfachen Organismus gipfelt also im menschlichen Denken, und damit letztlich in Wissen und Macht. Jonas’ aristotelisch inspirierte Stufenfolge des Lebens ist insofern Philosophie des Organismus und des Geistes; sie ist Politische Theorie und Pädagogik zugleich. Eine politische Theorie, die allerdings weit weniger konkret durchbuchstabiert wird als dies bei anderen modernen politischen Theorien der Fall ist. Jonas’ Verständnis von Politik speist sich vielmehr aus seiner Kenntnis der Polis und der Theoria denn aus sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalysen. In diesem Verständnis präfiguriert bei ihm das Organische schon auf der niedrigsten Entwicklungsstufe das Geistige und somit die Freiheit. Andererseits bleibt auch in der höchsten Form der Geist stets Teil des Organischen. Kurzum: Politik und Pädagogik haben Auswirkungen nicht nur auf das Denken, sondern gleichwohl auf den Körper des Menschen. Dabei hebt Jonas die Weltoffenheit des Menschen hervor: Durch die Schaffung von Werkzeug, Bild und Grab übersteigt menschliches Handeln alles Tierische und macht ihn zugleich offen für Gut und Böse, für politische Unterdrückung und schwarze Pädagogik. Jonas’Lehre der Zukunftsverantwortung, vorgezeichnet in seiner Anthropologie, verlangt dementsprechend von uns Menschen einen vernünftigen, humanen Umgang miteinander. Angesichts der durch Umweltverschmutzung und Biomedizin hervorgerufenen Probleme, aber auch angesichts des Machtraumes, in dem der Mensch mittels neuer Technologien handelnd die Welt verändert, ist zudem eine neue Form der Demut – insbesondere gegenüber der Natur – und ethische Regulierung seiner Macht gefordert.897 Für Hans Jonas gilt, uns das Fürchten vor der Gefahr der hochtechnologischen Zivilisation und das Fürchten vor der immensen Produktion von 897 Vgl. hierzu: Gerald Hartung/Kristian Köchy/Jan C. Schmidt/Georg Hofmeister (Hg.): Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik: Zur Aktualität von Hans Jonas. Freiburg 2013; Jan C. Schmidt: Defending Hans Jonas’ Environmental Ethics: On the Relation between Philosophy of Natur and Ethics. In: Environmental Ethics 35/4. Denton 2013, S. 461-479.
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Risiken zu lehren. Furcht erwächst aus dem Wissen über das Schicksal des Lebens als Ganzes. Sie ist positiv zu bewerten, weil es dem Menschen durch sie allererst möglich wird, bewusst und verantwortungsvoll mit dem umzugehen, was ihm widerfährt. Die Furcht vor Gefahr und Risiko tritt hierbei an den Ort erfahrener Gefahren und bereits produzierter Risiken. Das Lernen aus Erfahrung im Hinblick auf die Zukunft präferiert die Unheilsprophezeiung und gesteht der Heilsprophezeiung nur sekundäre Bedeutung zu. Logische Konsequenz dessen ist der Ausdruck des schon mehrfach angeklungenen Dubio, und zwar contra projectum, wenn ernsthafte Zweifel an der Werthaftigkeit des Handelns bestehen. Der Zweifel umschreibt jene imaginative Kasuistik, die eine angemessene Reaktion auf die gesellschaftliche Situation darstellen soll. Jonas verwendet dazu das anticartesianische Argument, mögliche Krisen wie Krisen zu behandeln, die real sind.898 Somit ist angesichts der Möglichkeiten unserer Handlungen Vorsicht geboten. Wir müssen von nun an Sorge für unser Tun tragen. Das Phänomen der Sorge zeigt sich nach Jonas wiederum archetypisch ausgeprägt in der Verantwortung gegenüber den (eigenen) Nachkommen: „Da spätere Menschen auf jeden Fall da sein werden, gibt ihnen, wenn es so weit ist, ihr unerbetenes Dasein das Recht, uns Frühere als Urheber ihres Unglückes zu verklagen ... Also besteht für uns Heutige aus dem Recht des zwar noch nicht vorhandenen, aber zu antizipierenden Daseins Späterer eine antwortende Pflicht der Urheber, kraft deren wir ihnen mit solchen unseren Taten, die in die Dimension solcher Wirkungen hineinreichen, verantwortlich sind.“899 Dabei sieht Jonas, wie der Kommentar zum Prinzip Verantwortung gezeigt hat, die mögliche Vereitelung eines künftigen Sollens als das eigentlich moralische Übel an. Sein ontologisch grundgelegter Imperativ lautet ja, dass eine Menschheit auch in Zukunft sein soll. Seine Idee des Menschen ist eingebettet in seine metaphysische Lehre des Seins: Da der Mensch ein zur Verwaltung der Dinge »berufenes« Subjekt ist, trägt er grundsätzlich die Verantwortung für sein Handeln. Durch weitsichtiges und wohlüberlegtes, die Gefahren durchdenkendes und abwägendes Handeln angesichts des Fernhorizonts moderner Menschenmacht wird er der Aufgabe einer Zukunftsverantwortung gerecht. Jonas greift also, so das Fazit, die Ängste, Bedenken und Themen seiner Zeit auf, versucht aber gleichwohl, ihnen einen philosophischen Boden zu 898 Vgl. PV, S. 81. 899 Ebd., S. 87.
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bereiten. Ihm geht es darum, ein zunächst diffuses Gefühl, das sich in der Sorge um die Zukunft äußert, moralphilosophisch einzufangen und zu zeigen, dass sowohl aus den äußeren Umständen als auch aus dem unguten Gefühl angesichts dieser Umstände eine ethische Verpflichtung erwächst: Die Verantwortung.
V Verteidigung der Offenheit des Menschen
Resümieren wir: Hans Jonas legt mit seinem Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation in erster Linie eine mit pädagogischen Implikationen verbundene politische Theorie vor. Dabei geht er von einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Mensch und Natur aus. In dieser Gemeinschaft gibt es keine Freiheit ohne Notwendigkeit. Diese Freiheit impliziert, dass das Sein zweckbezogen und wertvoll ist: Es existieren moralische Grenzen der menschlichen Schöpferrolle. Und es gibt Grenzen von Forschung und Wissenschaft. Gleichwohl betont er die Pflicht, sich Wissen anzueignen. Dieses Wissen müsse aber zuvorderst der Einübung in Demut, Bedächtigkeit und Behutsamkeit dienen. Methodisch wird diese Forderung begleitet von der imaginativen Kasuistik, der Einbeziehung des Anderen und der Rechenschaftspflicht des Handelnden. Aber auch die Herausbildung von Furcht und das Schuldbewusstsein bilden wichtige erzieherische Momente seiner Philosophie. Das Prinzip Verantwortung will eine „Ethik ohne Engel“ sein, so Jonas im Vorwort seines Klassikers. Es verzichtet auf gesinnungsethische Predigten und argumentiert systematisch und mit starken Gründen. Zudem übt es scharfe Kritik an einer allzu abstrakten Prinzipienethik. Jonas nimmt den Weg über eine realistisch-pragmatische Interpretation des Sittengesetzes. Er leitet es aus ontologischen Prämissen ab: Stets ist es der Anspruch und der Anruf von Seiendem, der uns einsichtig werden lassen soll. Das Fundament seiner Verantwortung bildet die zweistellige Dimension von Verantwortungsgegenstand und des von diesem Gegenstand Affizierten. Jonas reduziert Verantwortung schließlich auf ein strukturell hierarchisches, zwischenmenschliches Machtgefüge. Er beschließt seinen Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation mit einer ausführlichen Kritik des marxistischen Utopismus. Diese Kritik ist im Kommentar ebenfalls angeklungen und soll hier noch einmal mit besonderem Blick auf Blochs Prinzip Hoffnung aufgegriffen werden. Keine Frage: Jonas zeigt sich in dieser Kritik als Kind seiner Zeit. Zunächst argumentiert er selbst aus der Logik des Marxismus heraus, dessen
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eigener Anspruch darin bestünde, die Bedürfnisse Aller zu befriedigen. Dies, so interpretiert Jonas den Blickwinkel marxistischer Ideologie, kann nur mittels Technik und enormer Maschinenhilfe gelingen. Ziel marxistischer Ideologie sei die Lenkung der Richtung technischen Fortschritts und die gerechte Verteilung der Güter mit Hilfe von Maschinen. Aber auch im Kapitalismus werden mittels Maschinentechnik Devisenmärkte gesteuert, Börsengange koordiniert und Zinseszinsen berechnet. Deshalb lautet Jonas’ eigene Frage an den Anspruch, mehr Maschinen zum Wohl der Menschheit einzusetzen, was die Natur überhaupt noch zu ertragen imstande ist.900 Hierbei fokussiert er den demografischen Wandel ebenso wie den Einsatz chemischer Mittel zwecks Ernährung der Weltbevölkerung. Er spricht von „agrarischen Maximierungstechniken“901, die bereits Wirkungen zeigen: Bodenversalzung, Erosion, Klimawandel, Entwaldung etc. Das utopische Ideal des Marxismus verkennt in seiner politischen Lesart die gewaltigen Probleme, die mit der Befriedigung der Bedürfnisse Aller einhergehen. Allem voran nennt Jonas das Rohstoff- und Energieproblem und die planetarisch-biosphärischen Folgen ihrer Verwendung. Sein Hauptkritikpunkt ist weniger der politische Anspruch des Marxismus als vielmehr die Blindheit, mit der er diesen Anspruch umzusetzen gedenkt. Lange bevor weltweit die Diskussion über Ressourcenknappheit, Klimawandel und Treibhauseffekt richtig beginnt, diskutiert Jonas entlang seiner Marxismuskritik Vor- und Nachteile von Sonnen- und Kernenergie in beinahe schon visionärer Eindringlichkeit. Keinesfalls will er als Mahner vor jeglichem technischen Fortschritt gelten. Zugleich betont er jedoch, dass für die Gläubigen der Utopie „auch das Äußerste erwägbar werden“ könnte, und das hieße zum Wohle des Kommenden, Besseren das Bestehende zu opfern, „umso mehr, als die für das Herbeiführen der Utopie ohnehin vorgesehene und bejahte Diktatur von sich her zu extremen Mitteln verleitet.“902 Der Utopieglaube impliziere, so Jonas scharfsinnig, Fanatismus und Erbarmungslosigkeit, ohne dass er den „Greuelkatalog der Geschichte“903 zitieren möchte. Es nimmt allerdings nicht wunder, dass Hans Jonas in der Hochphase des Kalten Krieges die geistige Auseinandersetzung mit dem Marxismus sucht. In 900 Vgl. PV, S. 327ff. 901 PV, S. 331. 902 PV, S. 340. 903 Ebd.
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Ernst Bloch erblickt er einen prominenten, theoretischen Vertreter des Marxismus, der ihm auch philosophisch gewachsen ist, zumal Bloch mit der Veröffentlichung seines „Prinzip Hoffnung“904 in den 1950er Jahren im Ostblock und später auch in der linken Studentenschaft für Träume von einem besseren Leben gesorgt hatte. Um einschätzen zu können, ob das Prinzip Verantwortung wirklich noch aktuell ist, sollten wir uns die Kontroverse noch einmal etwas genauer ansehen: Jonas’ Kritik an Blochs Idee der tätigen Muße, die, wie gezeigt, im „Prinzip Hoffnung“ als „Steckenpferd“ aufscheint, ist nicht zuletzt eine Kritik an den Träumen eines solch besseren Lebens. In seiner sehr lesenswerten Analyse, in der er die Widersprüchlichkeiten in Blochs Philosophie deutlich macht, stellt er in der Konsequenz einen Verlust der Spontaneität und Freiheit fest. Jonas geht auch deshalb so hart ins Gericht mit Blochs marxistischer Utopie, weil sich niemand darüber hinwegtäuschen solle, dass sich „die Gespenstischkeit der Irrealität“ über „das ganze Als-Ob-Getue“ senke, „und mit ihr ein unvorstellbares taedium vitae, deren erstes Opfer die Freude sogar am erwähnten Steckenpferd ist. Kein Ernsthafter kann im steten und so leicht durchschauten Scheine glücklich sein. Auf die kommt es dann vielleicht nicht mehr an, wenn nur die Meisten, in Selbstachtung weniger Anspruchsvollen dabei zufrieden sind. Aber demoralisierend muss das Fiktive der Existenz auf alle wirken, denn mit der Wirklichkeit nimmt es dem Menschen auch seine Würde weg und die Zufriedenheit wäre so die der Würdelosigkeit. Wem heute an der Würde des Menschen liegt, sollte den Künftigen solche Zufriedenheit nicht wünschen, sondern sie ihrethalben befürchten.“905 Blochs Utopie der tätigen Muße sowie seiner Lehre vom Noch-nicht des eigentlichen Menschen setzt Jonas den Eigenwert der Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaft und sorgende Liebe entgegen. Kritisch fragt er zum Schluss in diesem Zusammenhang, ob in der Geschichte tatsächlich der Mensch „noch nicht“ erschienen ist und insofern alle Geschichte ebenso „noch nicht“ vollendet ist. Weiter fragt er, wie es sein kann, dass jemand der Auffassung ist, der Mensch müsse erst noch kommen. Denn für die marxistische Utopie habe es ihn bislang nur als Traum gegeben,906 so auch in Blochs Ontologie des Noch-Nicht-Seins im „Prinzip Hoffnung“. 904 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1985. 905 PV, S. 363. 906 PV, S. 376.
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Bloch impliziert mit dem „Noch-nicht“ keinesfalls Veränderung und Aktualisierung menschlicher Potenzialität. Er entwirft auch keine Teleologie oder eine regulative Idee des Menschen. Auch geht es ihm nicht um den Daseinsanspruch zukünftiger Generationen. Es geht Bloch, so Jonas, allein um den „Vor-Schein des Rechten“.907 Dieses Ziel aber trete „erst in der Rückschau der klassenlosen Zukunft“908 hervor. Alles Vergangene wird in die Rolle eines solchen Vor-Scheins gepresst und seines Eigenwertes und seiner wahren Bestimmung beraubt. Jonas hält dem entgegen, der Mensch „in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld“909 sei nicht nur schon immer da gewesen, sondern sein inneres Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Verantwortung und Schuld werde auch weiterhin Bestand haben. Blochs Ideal vom Menschen aber, nämlich der „eindeutig gewordene, utopische Mensch kann nur der schmählich zum Wohlverhalten und Wohlbefinden konditionierte, bis ins Innerste auf Regelechtheit abgerichtete Homunculus sozialtechnischer Futurologie sein.“910 Es gelte stattdessen, so Jonas, von der Vergangenheit zu lernen, was der Mensch ist und was er sein kann: „Alles ist Übergang im Lichte des Nachher, manches Erfüllung im Lichte des Vorher, manches auch Vereitelung, aber nicht bloßer Vor-Schein des Eigentlichen, das erst kommt.“911 Deshalb lautet das Fazit von Hans Jonas: Offenheit für die Zukunft statt „Vor-Schein des Eigentlichen.“
VI Resümee
Mit der Veröffentlichung seines „Prinzip Verantwortung“ trifft Hans Jonas Ende der 1970er Jahre den Nerv der Zeit. Die Menschen sehen sich in der Hochphase des Kalten Krieges vielen, teils nicht näher zu bestimmenden Gefahren ausgesetzt. Phasenweise herrscht zu dieser Zeit eine regelrecht apokalyptische Stimmung vor. Die Ost-West-Konfrontation prägt das politische Bewusstsein, die technischen Entwicklungen und das Gefährdungspotenzial der atomaren Aufrüstung tragen erheblich dazu bei, dass 907 PV, S. 378. 908 PV, S. 379. 909 PV, S. 382. 910 Ebd. 911 PV, S. 387.
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sich eine generationenübergreifende Verunsicherung breit macht. Niemand weiß genau, was die Zukunft bringen wird. Untergangsszenarien sind an der Tagesordnung, der Störfall wirkt als heuristisches Moment zukünftiger Technologien. Der die Fiktion einer Katastrophe konstituierende Kalte Krieg mit seinem Paradigma des Gleichgewichts des Schreckens ist omnipräsent. Das nahe bevorstehende neue Millenium wirkt wie ein Fanal der immer bedrohlicher werdenden Zukunft. Atomzeitalter und Risikogesellschaft werden zu Schlagworten der gesellschaftspolitischen Situation. Hans Jonas’ Philosophie spiegelt nicht zuletzt die Zukunftsängste der Menschen. Zugleich zeichnet er einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma von Fortschritt und Bedrohung vor: Wenn die Menschheit auch in Zukunft weiter unter menschenwürdigen Bedingungen existieren soll, dann müssen alle umdenken. Politik und Erziehung müssen global denken und auf die neuen realen Parameter des Zusammenlebens reagieren. Sie müssen Maßnahmen ergreifen, die verhindern, dass sich die Menschheit als Ganze in Gefahr bringt. Seine Antwort auf die veränderte gesellschaftliche Situation scheint äußerst einfach: Es gilt, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die Rechtfertigung seines Prinzips erweist sich jedoch als höchst komplex. In sie fließen sowohl zeithistorische Debatten wie religionsphilosophische und biologische Überlegungen mit ein. Keineswegs muss man all diese Prämissen im Einzelnen teilen, um zu erkennen, wie bedeutsam das Thema Verantwortung auch für die Gegenwart menschlichen Handelns ist. So stehen wir gegenwärtig weltweit vor weiteren gravierenden Problemen: Wachsende Armut, Arbeitslosigkeit, Alterung und Klimawandel. Wir kennen die Schneeballeffekte des technologischen Fortschritts und wissen, dass der Mensch immer neue Präzedenzfälle schafft. Nicht erst seit Tschernobyl und Fukushima kennen wir darüber hinaus die Folgeprobleme atomarer Energie. Wir wissen um die Seuchen, die jede Generation heimsucht, Krankheitserreger und elektronische Viren. Ganz zu schweigen von den Naturkatastrophen der Gegenwart, den wieder erstarkten Feinden der Demokratie und den neuartigen Kriegen, die nicht mehr nur von Staaten aus geführt werden, sondern auch über kleine Terroreinheiten und Drohneneinsätze.912 Hans Jonas hat vor knapp vier Jahrzehnten gefordert, dass die neuen Arten und Abmaße des Handelns einer kommensurablen Ethik der Voraussicht und Verantwortung bedürften, eine Ethik, die so neu wäre wie 912 Sieh etwa Armin Krishnan:
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Die Individualisierung des Krieges. Berlin 2014.
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die Eventualitäten, mit denen sie zu tun hat. Hierbei fand seine Ethik ihre Grundstruktur vor der Folie der kommenden Katastrophe, in der die zahllosen Zukünfte kulminierten. Ohne in Fatalismus zu verfallen,913 ist die Jonassche Philosophie geprägt von einem prinzipiell besorgten Unterton, den heute anzuschlagen trotz der vielen (bildungs-)politischen Herausforderungen nicht mehr ganz angebracht scheint. Dennoch verlangen immer wieder neue Eventualitäten von uns, dass wir einen permanenten Diskurs darüber führen, wie wir in Zukunft leben wollen. Wir sind stets angehalten, Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen zu geben, gefordert, Rechenschaft über unser Handeln und die ihm zugrunde gelegten Entscheidungen abzulegen. Kurz, wir haben nicht weniger als Ende der 1970er Jahre unser Tun vor Anderen zu verantworten. Auf diese Anderen als unsere Dialogpartner über eine gemeinsame Zukunft sind wir unweigerlich angewiesen. Es gilt, Verschiedenheit zu artikulieren, um überleben zu können und menschenwürdige, friedliche Zustände zu gewährleisten. Vonnöten ist hierzu das, was Kant „Vorsehungsvermögen“ genannt hat: Ein Rückblick auf das Vergangene, „um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen: indem wir im Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen oder worauf gefaßt zu sein.“914 Dies bleibt bei allen Schwierigkeiten der realistischen Prognose über Trends und Permanenzen die Bedingung aller möglichen Praxis: „Der Mensch als weltoffenes Wesen, genötigt, sein Leben zu führen, bleibt auf Zukunftssicht verwiesen, um existieren zu können. Die empirische Unerfahrenheit seiner Zukunft muß er, um handeln zu können, einplanen. Er muß sie, ob zutreffend oder nicht, voraussehen.“915 Die vermeintlichen Ansprüche zukünftiger Generationen in diesem Diskurs sind nach wie vor virulent. Wir werden sie jetzt und in Zukunft zu diskutieren und somit zu berücksichtigen haben.
913 Vgl. Dietrich Böhler: Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend. Münster 2005. Sieh dazu auch die Beiträge in Holger Burckhart/Horst Gronke: Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg 2002. 914 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht, Teil 1 §32. In: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 490. 915 Reinhart Koselleck: „Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose“. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2003, S. 203-224, hier S. 205.
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Jenseits der weiter oben dargestellten Referenzen, in denen Hans Jonas als Person des öffentlichen Lebens markiert wurde, hat sich insbesondere in den 1980er Jahren und dann verstärkt nach seinem Tod 1993 ein wissenschaftlicher Diskurs herauskristallisiert, der die Idee der Verantwortung als zentrale ethische Kategorie aufgreift und versucht, sie mit Hans Jonas über ihn hinaus weiterzuentwickeln. „Mit seiner radikalen Kritik an der technologischen Gesellschaft ohne ethische Regeln hat der deutsche Philosoph Hans Jonas (1903-1993) maßgeblich dazu beigetragen, neue geistige Strömungen zu begründen, die man heute als politische Ökologie bezeichnet“, heißt es im Vorwort von François Walters Buch „Katastrophen“.917 Man darf hierbei allerdings nicht vergessen, dass sich Hans Jonas als Philosoph weit abseits der Hauptströmungen des Faches bewegt. Die Anerkennung, die er in der Öffentlichkeit erfahren hat, ist ihm in diesem Ausmaß innerhalb seiner Disziplin nicht zuteil geworden.918 Metaphysik und Ethik sind in den wenigen verbliebenen philosophischen Nischen der akademischen Welt nicht unbedingt en vogue. Und dennoch ist die wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte nicht zu unterschätzen. Es ist hier allerdings nicht der Ort, auf sämtliche Ansätze zu rekurrieren, die Jonas’ Idee der Zukunftsverantwortung aufgreifen resp. weiterdenken. Ich will jedoch zumindest einige Stimmen aus der Philosophie exemplarisch zu Wort kommen lassen und mich hierbei insbesondere auf jene Philosophen berufen, die in ihren Begründungen eines Verantwortungsprinzips sehr nah an Jonas’ eigenem philosophischen Ansatz ihre Ethik konzipiert und in gewisser Weise das geistige Erbe von Hans Jonas (vor allem in Deutschland) angetreten haben. 916 Leicht überarbeitete Fassung meines Artikels: Hans Jonas revisited. Zur Jonas-Rezeption in Deutschland, Franreich, Italien und den USA. In: Ders./John-Stewart Gordon (Hg.): Zur Aktualität von Hans Jonas. Berlin 2017. 917 François Walter: Katastrophen, a.a.O., S. 9. 918 Zur wissenschaftlichen Rezeption sieh auch Jan C. Schmidt: Verantwortung für die wissenschaftlich-technische Zivilisation. Ein Plädoyer für Hans Jonas’ Zugangs-Zukunfts-Ethik. In: Jürgen Boomgaarden/Martin Leiner (Hg.): Kein Mensch, der der Verantwortung entgehen könnte. Verantwortungsethik in theologischer, philosophischer und religionswissenschaftlicher Perspektive. Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 167-193. Sieh ebenso Frieder Vogelmann: Im Bann der Verantwortung. Frankfurt a.M./New York 2014.
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In dieser bewusst in Kauf genommenen Verkürzung der Rezeptionsgeschichte liegt der Vorteil der Fokussierung auf einige wenige philosophische Denker, die Hans Jonas’ Ethik beim Wort genommen und sie einer kritischen Prüfung unterzogen haben, um mit Hans Jonas über ihn hinaus das „Prinzip Verantwortung“ als handlungsleitende Maxime in der globalisierten Welt fortzuschreiben. Ein Blick auf diese Fortschreibung der Ethik von Hans Jonas zeigt insofern, wie seine Gedanken nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch – mit Abstrichen – die Fachwelt beeinflusst haben. Ohne andere Philosophien in Gänze zu rekonstruieren und ihre philosophiegeschichtlichen Prämissen offenzulegen, sollen im Folgenden exemplarisch einige Textstellen herausgegriffen werden, die verdeutlichen, inwiefern Hans Jonas vor allem auf Vittorio Hösle und die Diskursethik (I) eingewirkt hat. Auch in Bezug auf die fremdsprachige Literatur gilt, dass nur ein Bruchteil der Rezeptionsgeschichte aufgearbeitet werden kann; es ist kaum möglich, einen Gesamtüberblick darüber zu geben, wo Hans Jonas wie gewirkt hat. Seine Philosophie findet inzwischen weltweit Resonanz, wenn auch, wie gesagt, eher in kleinen Zirkeln der akademischen Welt. Von Nord- und Südamerika über Europa bis hin nach Japan reichen die Stimmen, die sich auf ihn berufen. In der französischsprachigen und italienischen Literatur genießt er allerdings seit einigen Jahren besondere Aufmerksamkeit. Ich möchte mich deshalb – nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen – in einem weiteren Schritt auf diese beiden konzentrieren und einen kleinen Überblick über die Jonas-Forschung in den Nachbarländern geben (II). Denn auch die Rezeptionsgeschichte eines Philosophen ist Teil seiner Biografie. Hans Jonas hat lange Zeit in den USA gelebt. Hier aber wird erstaunlicherweise kaum ein ernstzunehmender philosophischer Diskurs über ihn geführt. Dennoch sollen die wenigen Stimmen, die sich dort mit ihm beschäftigen, abschließend Beachtung finden. Hervorzuheben ist wohl in diesem Kontext Theresa Morris mit ihrem Buch über Hans Jonas aus dem Jahre 2013, das dafür sorgen könnte, dass sich die Situation in Sachen Jonas-Rezeption alsbald ändert (III). Die folgenden Überlegungen stehen nicht zuletzt in einem thematischen Zusammenhang mit dem Kapitel über Hans Jonas als öffentliche Person, beziehen sich aber hier ausschließlich auf die interne Dimension – die des Fachkollegiums. Es geht mir also, um das nochmals zu betonen, weniger um aktuelle Debatten innerhalb der Praktischen Philosophie als vielmehr um die Adaption der Ethik von Hans Jonas durch Philosophien, die mit sei-
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nem Ansatz eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Ich beschränke mich insofern auf die klassische Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts, ohne mich dem Blick auf die Gegenwart ganz verschließen zu wollen. Der Fokus liegt jedoch eindeutig auf der Rezeptionsgeschichte und nicht in einem neuerlichen Begründungsdiskurs. Denn dies ginge über den Anspruch, den Philosophen Hans Jonas portraitieren zu wollen, allzu weit hinaus.
I Hans Jonas in Deutschland. Vittorio Hösle und die Diskursethik
Vittorio Hösle bemerkt in seiner Würdigung des Werkes von Hans Jonas zunächst,919 zum Erfolg seiner Philosophie habe die Tatsache beigetragen, dass er Jude war: „Indem man ihn las ... konnte man glauben, zur Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen an den Juden beizutragen.“920 Darüber hinaus aber sei es vor allem der Sachgehalt seines Werkes, der ihn zu einem der berühmtesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts habe werden lassen.921 Schließlich habe die Konfrontation mit Ernst Bloch den Erfolg des „Prinzip Verantwortung“ beschleunigt. Interessant scheint mir ferner Hösles Bemerkung, dass sowohl Konservative (wegen der Bloch-Kritik) als auch Linke (wegen des ökologischen Ansatzes) ihr eigenes Denken und ihre Sorgen bei Hans Jonas bestätigt fanden. Die von Hans Jonas formulierte Ideologiekritik am Marxismus bezeichnet Hösle als eine grandiose „Mischung von Platonismus und Machiavellismus“, die „zu den abgründigsten Texten der politischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts“ gehöre.922 Hösle hebt zudem positiv den metaphysischen Anspruch der Jonasschen Philosophie hervor, die ihn von anderen Denkern der Verantwortung unterscheide. Die einzigartige Stellung seiner Philosophie in der deutschen Geistesgeschichte bestehe darin, „daß er Heideggers Anregungen an die Weltphilosophie fruchtbar zu machen gewußt hat und gleichzeitig aus der Sackgasse ausgebrochen ist, in die dessen Denken die Philosophie geführt
919 Vittorio Hösle, 1960 in Mailand geboren, deutscher Philosoph, lehrt zurzeit an der University of Notre Dame, Indiana (USA). 920 Vittorio Hösle: Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie. In: Christian Wiese und Eric Jacobson (Hg.): Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas. Frankfurt a.M. 2003, S. 34-52, hier S. 35. 921 Ebd. 922 Ebd., S. 36.
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hatte.“923 Als Sackgasse bezeichnet er nämlich die Tatsache, dass Heideggers geistreiche Reflexionen vollkommen ohne jeden ethischen Gehalt auskommen. Doch atme auch Jonas’ Theorie der Verantwortung, und zwar durch den Rückgriff auf Begriffe der Zeitlichkeit, noch den Geist Heideggers.924 Zentrale Leistung seiner Ethik bleibe allerdings, dass Jonas die „Objektivität moralischer Verpflichtungen“ sowie „ihre Irreduzibilität auf das wohlverstandene Eigeninteresse hervorgehoben“ habe.925 Tatsächlich sei Jonas ein durchaus zeitgemäßer Autor, weil er das entscheidende Problem des 21. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht habe.926 Vor allem habe Jonas erkannt, dass die Demokratie der Gegenwart „keine Repräsentation kommender Generationen kennt.“927 Allerdings konstatiert Hösle auch einen gravierenden Mangel des Buches, der darin bestünde, dass ökonomische und staatsphilosophische Betrachtungen fehlten.928 Hösle kommt zu dem Schluss: „Daß mit Jonas ein Schüler Heideggers, ohne es wirklich zu wollen, zu der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und zur Ethik Kants zurückgekehrt war, bewies, daß die zentralen Ideen der klassischen deutschen Philosophie auch nach knapp zwei Jahrhunderten philosophischer Entwicklung zeitgemäß weitergedacht werden konnten. Daß Jonas freilich als US-Amerikaner in New Rochelle starb, deutete darauf hin, daß das bedeutsamste deutschsprachige Denken der Zeit nicht mehr in Deutschland erfolgte. Wer nach Gerechtigkeit in der Geschichte sucht, kann darin eine Strafe für die weitgehende Auslöschung des europäischen Judentums sehen, das seit Mendelssohn zum Aufstieg der deutschen Kultur einen so wesentlichen Beitrag geleistet hatte.“929 Da Hans Jonas, wie Hösle betont, keine Moralphilosophie der Politik mehr vorlegen konnte, versucht er selbst, dieses Desiderat anzugehen. In den 1990er Jahren transformiert er Jonas’ Perspektive zunächst zu einer 923 Ebd., S. 37f. Sieh auch: Vittorio Hösle: Ontologie und Ethik bei Hans Jonas. In: Dietrich Böhler (Hg.): Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas. München 1994, S. 105125. Sieh ebenso Ralf Seidel/Meiken Endruweit (Hg.): Prinzip Zukunft. Im Dialog mit Hans Jonas. Paderborn 2007. 924 Hösle, ebd., S. 44. 925 Ebd., S. 49. 926 Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist. München 2013, S. 301. 927 Ebd., S. 304. 928 Hösle arbeitet eine moralische Politik dann selbst in: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997, umfassend aus. 929 Hösle, Eine kurze Geschichte, S. 305.
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„Philosophie der ökologischen Krise“, wie er seine Moskauer Vorträge betitelt.930 Auch für Hösle geht es in der Ethik um das Ganze des Seins und die Sonderstellung des Menschen, der als einziges Wesen die Stimme des Sittengesetzes zu vernehmen mag.931 Die Würde des Menschen sieht Hösle in der Tatsache gegeben, dass er „Träger von etwas ist, das ihn transzendiert.“ Deshalb sei ein kollektiver Selbstmord eine Angelegenheit, die nicht nur den Einzelnen, sondern alle Menschen beträfe. Es wäre „Frevel am Absoluten in einem Maße, das alles bisher Geschehene ... in den Schatten stellte.“932 Hans Jonas habe gesehen, dass eine rein theoretizistische Sicht das Problem nicht lösen könne. Über Heidegger hinaus habe er den praktischen Teil einer Philosophie der ökologischen Krise betont. Das sei sein bleibendes Verdienst. Jonas habe darüber hinaus gezeigt, dass es der Notwendigkeit eines neuen Kategoriensystems bedürfe. Mit einer solchen Notwendigkeit wachse aber auch das Bedürfnis nach Kommunikation, so Hösle: „Dort, wo es nicht gelingt, einen neuen Konsens zu erarbeiten, muß ein Paradigmenwechsel zur Gewalt – zur Revolution, häufig auch zur Konterrevolution – führen.“933 Mit Blick auf den Lebensstandard des Westens stellt er fest, dieser sei nicht universalisierbar – und deswegen nicht moralisch. Das Paradigma der Wirtschaft des Westens möchte er aus diesem Grunde durch das Paradigma der Ökologie abgelöst sehen.934 Die Politik des 21. Jahrhunderts werde sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie eine Politik ist, die die natürlichen Lebensgrundlagen global sichert.935 Das 21. Jahrhundert werde das „Jahrhundert der Umwelt.“936 Allerdings stehe einem solchen Jahrhundert zurzeit die Verkümmerung des sittlichen Verantwortungsgefühls sowie das Missverhältnis von Zweck- und Wertrationalität gegenüber.937 Zudem neige die moderne Naturwissenschaft dazu, die Natur ihrer Teleologie und Subjektivität zu entkleiden.938 Es gelte, diesen Tendenzen politisch-pädagogisch entgegenzuwirken: „Denn da der Mensch, als Leibwesen, auch Natur ist, 930 Vittorio Hösle: Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge. München 1991. 931 Ebd., S. 15. Vgl. auch: Sebastian Poliwoda: Versorgung von Sein. Die philosophischen Grundlagen der Bioethik bei Hans Jonas. Hildesheim 2005. 932 Hösle, ebd. 933 Ebd., S. 23. 934 Ebd., S. 33. 935 Ebd., S. 34. Vgl. auch: Vittorio Hösle: Moral und Politik, a.a.O. 936 Philosophie der ökologischen Krise, S. 42. 937 Ebd., S. 44. 938 Ebd., S. 58.
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heißt Herrschaft über die Natur notwendig auch Herrschaft über den Menschen, zunächst über den anderen, aber dann auch über sich selbst.“939 Hösle sieht den Menschen an einem Wendepunkt seiner selbst. Die Philosophie sei gefordert, neue Werte zu erarbeiten und sie „an die Gesellschaft und die Führungskräfte der Wirtschaft weiterzugeben.“940 Mit Hans Jonas ist er der Ansicht, dass das Sein Sollensanforderungen nicht indifferent gegenüber ist. Es sei vielmehr „so strukturiert, daß sich in ihm Werte realisieren können.“941 Mit der Realisierung von Werten ist für Hösle auch eine Umwandlung der Wissenschaft verbunden. Dies bedeute aber nicht unbedingt „die Rückkehr zu einer aristotelisierenden Ontologie, wie sie sich ... bei Hans Jonas findet.“942 Vielmehr müsse man von der Annahme ausgehen, „daß das Sittengesetz die empirische Welt prinzipiiert ... Das Sittengesetz ... ist ... nichts ontologisch radikal Anderes gegenüber der natürlichen Welt, weil es vielmehr ihr Grund ist. In der Entwicklung der Natur, die in der Erzeugung des Geistes gipfelt, ist die ideale Welt präsent; insofern die Natur an ihren Strukturen partizipiert, ist sie selbst etwas Werthaftes.“943 Die Natur ist also Objekt sittlicher Pflicht und partizipiert an idealen Strukturen, verwirklicht Werte, die nicht ohne Not zerstört werden dürfen.944 Es gebe zu respektierende Grenzen des Machbaren sowie es wieder asketischer Ideale bedürfe, diese Grenzen einzuhalten.945 Es geht Hösle letztlich um die Herausbildung einer umweltgerechten Gesellschaft. Das grundlegende Axiom ist das gleiche wie bei Hans Jonas: Die Zerstörung einer Welt, in der alles einen Zweck hat bzw. nach Zwecken strebt, wäre ein moralisches Verbrechen. Für die pädagogische Praxis bedeutet dies vor allem: Unterricht in den Fächern Biologie, Chemie, Ökologie, um aus einem fundierten naturwissenschaftlichen Wissen heraus moralisches, d.i. umweltverträgliches und nachhaltiges Handeln in die Wege zu leiten, an dessen Ende eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, ein „Marshall-Plan zur Rettung der Umwelt“ stehe.946 939 Ebd., S. 59. 940 Ebd., S. 68. 941 Hösle: Moral und Politik, S. 205. 942 Philosophie der ökologischen Krise, S. 71. 943 Ebd. 944 Ebd., S. 72f. 945 Ebd., S. 79. 946 Ebd., S. 102 und 141.
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Wie auch Hans Jonas, so schreibt Vittorio Hösle der Erziehung hierbei eine besondere Rolle zu. Denn wer als Kind nicht „die richtigen moralischen Gefühle vermittelt“ bekommen habe, könne „nicht vollkommen moralisch gut werden, auch wenn er später die richtigen Normen und Werte intellektuell begreift.“947 Ganz anders aber als Jonas präsentiert sich Hösle als Determinist, der die Auffassung vertritt, dass alles, was in der Welt geschieht, „unwiderruflich vorherbestimmt“ sei.948 Daraus folge jedoch nicht, dass wir wissen, wie das menschliche Abenteuer auf Erden ausgehen werde. Vielmehr hätten wir „die absolute Pflicht, alles zu tun, was in unserer Macht steht“, um eine mögliche Zerstörung des Planeten zu verhindern,949 weil wir gerade nicht wissen, wie das prädestinierte Ende aussieht. Die größte Sünde wäre nämlich, „sein zu wollen wie Gott.“950 Die Rolle Gottes sieht Hösle in der Philosophie jenseits einer bloßen Notbremsenfunktion: „Wenn Gott für die Philosophie ein unentbehrlicher Begriff ist, dann muß seine Stelle im System etwas exponierter sein; wenn man ihm diese Stelle nicht zugestehen will, dann sollte man lieber ganz auf ihn verzichten.“951 Hösles an Jonas und am Christentum orientierte Ethik hingegen versteht Gott als das Absolute, als „den Inbegriff der apriorischen Wahrheiten ... Gott ist hier nicht ein Jenseitiges, sondern vielmehr das Innerste, das Zentrum des Denkens, das jedem Seienden Zugrundeliegende und in jedem Denkakt Präsupponierte.“952 Auch die von Karl-Otto Apel und anfangs auch von Jürgen Habermas grundgelegte und dann zunächst durch Dietrich Böhler und Wolfgang Kuhlmann953 weiterentwickelte Philosophie der Diskursethik bezieht sich – eben947 Vittorio Hösle: Praktische Philosophie in der veränderten Welt. München 1992, S. 36. 948 Ebd., S. 42. 949 Ebd., S. 43. 950 Vittorio Hösle: Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus. München 1996, S. 148. Grundgelegt hat er seinen objektiven Idealismus der Intersubjektivität in: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg 1988. 951 Hösle: Praktische Philosophie, S. 197. 952 Vittorio Hösle: Begründungsfragen des objektiven Idealismus. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Philosophie und Begründung. Frankfurt a.M., S. 212-267, hier S. 262. 953 Karl-Otto Apel (1922–2017) gehört mit Jürgen Habermas, geboren 1929, zu den Begründern der so genannten Diskursethik, die den philosophischen Diskurs im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts maßgeblich in Deutschland geprägt hat. Wolfgang Kuhlmann, geboren 1939 in Kiel, gehört neben Dietrich Böhler, dem Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe, geboren 1942 in Berlin, zur ersten Schüler-Generation der Diskursethik.
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so wie Vittorio Hösle – nach dem Erscheinen des „Prinzip Verantwortung“ explizit auf die Ethik von Hans Jonas: „Die Diskursethik rechtfertigt den Gehalt einer Moral der gleichen Achtung und solidarischen Verantwortung für jedermann.“954 Jedoch verzichtet die Diskursethik gänzlich auf einen wie auch immer gearteten Gottesnachweis. Apel und Böhler betonen, dass eine ethische Legitimation verantwortlichen Handelns ohne den Rückgriff auf Gott auskommen müsse. Diesen Schritt ist, wie wir weiter oben gesehen haben, Hans Jonas nicht konsequent zu Ende gegangen. Mit Hans Jonas hebt die Diskursethik allerdings hervor, dass „die geforderte Grundorientierung nicht einfach auf der Grundlage der traditionellen religiös-ethischen Normensysteme der verschiedenen Kulturen gewonnen werden kann.“ Dies erhelle bereits „aus dem Umstand, daß diese Systeme ... allenfalls durch gesinnungsethische Verallgemeinerungen ... eine kosmopolitische Dimension gewannen.“955 Aus dieser kritischen Haltung gegenüber der philosophisch-theologischen Tradition heraus hat Apel bereits 1973, noch einige Jahre vor Erscheinen des „Prinzip Verantwortung“ in seiner zweibändigen Aufsatzsammlung mit dem Titel „Transformation der Philosophie“956 nachzuweisen versucht, dass die von ihm so genannte „Argumentationsgemeinschaft“ sowohl den Kern als auch die Voraussetzung eines transzendentalhermeneutischen Selbstverständnisses der Philosophie darstellt. Damit sind die Bedingungen der Möglichkeit intersubjektiv gültiger Argumentationen angesprochen. Apel hebt hierbei auf das sprachvermittelte Denken insgesamt sowie die nicht hintergehbare, wohl aber rekonstruierbare Umgangssprache ab. In seinem Transformationsbuch skizziert er das jeder Aussage und allem praktischen Engagement vorausliegende „Apriori der Argumentation“ als begründungstheoretische Basis einer intersubjektiv gültigen Ethik. Diese fokussiert ein nicht sinnvoll bestreitbares Wissen als ethisches Grundprinzip. Jeder 954 Jürgen Habermas: Diskursethik. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band II: Disziplinen und Themen. Paderborn 2015, S. 74-79, hier S. 74. 955 Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988, S. 23. Vgl. auch Eva Buddeberg: Verantwortung im Diskurs. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lévinas. Berlin 2011; Micha H. Werner: Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung. Würzburg 2003. 956 Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1973.
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Diskurs, so Apel, sei an bestimmte Diskurs-Präsuppositionen gebunden. Die wichtigste dieser Präsuppositionen ist die Anerkennung aller realen und potenziellen Diskurspartner als gleichberechtigt Argumentierende. Aus dieser unhintergehbaren Anerkennung der möglichen Sinnverständigung über Wahrheitsansprüche erwachsen gleichsam ethische Handlungsnormen. Apel gründet die Ethik also auf Logik und Argumentation. Hösle schreibt hierzu: „Nach Apel ergibt sich die ethische Grundnorm, wenn man Argumentation als intersubjektiven, in Sprechakten erfolgenden Prozeß begreife: Damit setze Argumentation sowohl eine reale als auch eine ideale Kommunikationsgemeinschaft voraus, und das erzeuge die beiden Grundpflichten, das Überleben der menschlichen Gattung sicherzustellen und in ihr die ideale Kommunikationsgemeinschaft herzustellen.“957 Die praktische Relevanz dieser Normen hat Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: „Man muß die Regel kennen, wenn man feststellen will, ob jemand von der Regel abweicht.“958 Eine Regel könne allerdings nicht bloß auf empirisch messbaren Regelmäßigkeiten beruhen, sie hinge vielmehr von „intersubjektiver Geltung“ ab, nämlich von dem Umstand, „daß a) Subjekte, die ihr Verhalten an Regeln orientieren, von diesen abweichen und b) ihr abweichendes Verhalten als Regelverstoß kritisieren können.“959 Regelverstöße diskutiert auch Apel in der erstmals 1988 erschienenen Aufsatzsammlung „Diskurs und Verantwortung“.960 Dort rücken neben die erkenntnistheoretischen Überlegungen solche der praktischen Philosophie mit ganz konkreten, gegenwärtigen Problemen. Zu ihnen gehören die Zerstörung der Ökosphäre, die Umweltverschmutzung und der Verbrauch der Energievorräte.961 Die Diskursethik mit ihrer strengen Reflexion auf die eigenen Geltungsansprüche wird nun auch als Verantwortungsethik verstanden, wobei Apel eine „postkantische Prinzipienethik der Moralität gegen eine – etwa spekulativ-metaphysische – Ethik der substantiellen Sittlichkeit“962 ver957 Hösle, Eine kurze Geschichte, a.a.O., S. 292f. 958 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1981, S. 33. Sieh auch: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983; Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. 1991. 959 Habermas, Theorie, a.a.O., S. 33. 960 Apel: Diskurs und Verantwortung, a.a.O. 961 Ebd., S. 19. 962 Ebd., S. 109f.
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teidigen möchte: Selbst im einsamen Denken stellen wir als sprachbegabte Wesen intersubjektive Sinngeltungsansprüche, die eine prinzipielle Gleichberechtigung der Dialogpartner impliziert. Diese Gleichberechtigung bringt ferner eine „Verpflichtung zur Mitverantwortung für die argumentative ... Auflösung der in der Lebenswelt auftretenden moralisch relevanten Probleme“963 mit sich. Damit ist ein Verfahrensprinzip praktischer Diskurse benannt, „in denen inhaltliche Normen situationsbezogen zu begründen sind.“964 Mit dieser Verpflichtung verfolgt die Verantwortungsethik Apels zwei Ziele: Einerseits das Überleben der Menschheit als einer realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen, und andererseits in realen Diskursen sich an idealen, d.i. vernunftgeleiteten, störungs- und herrschaftsfreien Diskursen zu orientieren, auch wenn dieses Ideal nie wirklich eingelöst werden können sollte. Die Differenz zu Jonas deutet Apel wie folgt an: „Während Jonas das Verantwortungsprinzip als Bewahrungsprinzip auffaßt und in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Bloch gegen das Emanzipationsprinzip ausspielt, sind in meiner Formulierung beide Prinzipien von vornherein in ihrer wechselseitigen Bedingtheit erfaßt.“965 Gleichwohl billigt Apel Jonas’ Bewahrungsprinzip eine gewisse Notwendigkeit zu, wenn er feststellt, Jonas orientiere sich nicht nur „an der Erhaltung der menschlichen Spezies“, sondern ebenso „an der Erhaltung solcher Konventionen und Institutionen der menschlichen Kulturtradition, die, gemessen am idealen Maßstab der Diskursethik, als vorerst nicht ersetzbare Errungenschaften anzusehen sind.“966 Eine ökologische Ethik ist für die diskursethische Transformation des „Prinzip Verantwortung“ also nur innerhalb der Grenzen argumentativer Vernunft möglich. Dietrich Böhler spricht in diesem Zusammenhang von Dialogizität als dem „geltungslogisch anthropozentrischen Bezugsrahmen“967 des Diskurses. Berufen sich sowohl Jonas als auch – aus christlicher Perspektive – Vittorio Hösle auf Gott als letzte, entscheidende Instanz, so tritt nun der Diskurs gewissermaßen an diese Stelle. Dies wiederum hat für den Begriff der Verantwortung eine fundamentale Bedeutungsverschiebung. 963 Ebd., S. 116. 964 Ebd., S. 119. 965 Ebd., S. 142. 966 Ebd., S. 149. 967 Dietrich Böhler: In dubio contra projectum. Mensch und Natur im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren und Verantworten. In: Ders. (Hg.): Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas. München 1993, S. 244-276, hier S. 258.
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Böhler schreibt hierzu: „Gegenüber einer Fixierung des Verantwortungsbegriffes auf den Gegenstand von Verantwortung, etwa Natur ... ist es wichtig, das dialogisch auf mögliche Geltung bezogene Verhältnis des sich vor anderen Verantwortens zu berücksichtigen.“968 Man sei, so Böhler weiter, nicht nur allein für etwas verantwortlich, sondern man ist für etwas vor anderen verantwortlich. Es geht darum, Rede und Antwort zu stehen und sich vor anderen zu rechtfertigen. Wolfgang Kuhlmann hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass Jonas’ Verantwortungsphilosophie und die Diskursethik in ihrer Konzeption insofern doch recht verschiedene Formen praktischer Philosophie seien, denn die Diskursethik liefere eine grundsätzliche Besinnung darauf, „ob überhaupt philosophische Ethik ... möglich ist.“969 Es geht hierbei stärker um die Frage nach der Möglichkeit einer Normenbegründung im Allgemeinen. Dahingegen widme sich die Verantwortungsethik von Jonas viel eher einem konkreten praktischen Problem und seiner Bewältigung. Sie erarbeite gar keine „Normen auf Vorrat.“970 Beide Arten zu philosophieren hält Kuhlmann für unerlässlich und sieht durchaus Möglichkeiten, beide miteinander ins Gespräch zu bringen, wiewohl er die zentralen Aspekte der Philosophie von Hans Jonas mit Ausnahme der vortheoretischen moralischen Intuitionen, die das „Prinzip Verantwortung“ stark macht, durch die Diskursethik als abgedeckt betrachtet. Holger Burckhart971 hebt diesbezüglich hervor, dass „Verantwortung“ in Kontexten individuell zuschreibbaren wie kausal herbeigeführten menschlichen Handelns gründe. Autonomes Handeln setze voraus, dass jemand für sein Handeln sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber allen denkbaren anderen Rechenschaft ablegen und Gründe seines Handelns angeben kann: „Diese Erwartung wird gespeist aus der uns selbst zugeschriebenen Freiheit zum Handeln, welche wir uns – zumindest seit Kant – als 968 Ebd., S. 260. Hervorhebungen getilgt. Vgl. auch KGA I/2, Einleitender Kommentar, S. XLVIIIff. 969 Wolfgang Kuhlmann: »Prinzip Verantwortung« versus Diskursethik. In: Dietrich Böhler: Im Diskurs, a.a.O., S. 277-302, hier S. 278. Vgl. Ders.: Reflexive Letztbegründung. Freiburg 1985 sowie zuletzt: Ders.: Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 2010. 970 Ebd. 971 Holger Burckhart, geboren 1956 in Torshälla, ist ebenfalls Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe und ein Schüler Dietrich Böhlers. Er liest die Diskursethik vor allem aus philosophisch-anthropologischer Sicht. Sieh Holger Burckhart: Diskursethik Diskursanthropologie Diskurspädagogik. Würzburg 1999.
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Vernunftsubjekte gegenseitig unterstellen. Ohne eine solche Unterstellung wäre die Rede von Verantwortung zumindest in moralischem Sinne sinnlos und beschränkte sich allenthalben auf moralneutrale Kausalität.“972 Verantwortung erwerben wir insofern nicht durch schlichtes Heranwachsen und Aufwachsen in einer Gemeinschaft; sie ist vielmehr ein Moment unserer moralischen Kompetenz, von der wir erwarten dürfen, dass wir unser Handeln und Denken zu rechtfertigen in der Lage sind. Handlungs- und Begründungsfreiheit sind somit die zentralen Momente der Verantwortung. Bereits eine einfache Behauptung, eine schlichte Aussage, verlangen im Zweifelsfall nach Begründung. Der Zweifelsfall ist dann gegeben, wenn nach möglichen Alternativen gefragt wird: „Insofern versteht sich »Verantwortung« primär als persönlich-individuell zurechenbare Entscheidungs- und daraus abgeleitete, zumindest bedingte Folgenverantwortung.“973 Sich zu verantworten begreift Burckhart deshalb als „unverzichtbares und unhintergehbares Moment eines sinn- und geltungshaften Vollzuges des Menschseins.“974 Die Fähigkeit, auf Andere und sich selbst Bezug zu nehmen und diese Bezugnahme auch zu reflektieren, zeichne den Menschen als Vernunftwesen aus, welches dann auch fähig ist, sich zu verantworten. Mit Hans Jonas geht Burckhart ferner davon aus, dass die qualitativ neue Situation des Menschen im 20. Jahrhundert die Perspektive auf Verantwortung verändert habe: „Hans Jonas bindet Verantwortung an unsere Macht (Kompetenz) zu handeln. Er versteht darunter auch unsere Macht, mit Handlung Verantwortung zu übernehmen, d.i. sich für die Folgen der Handlung verantwortlich zu fühlen und zu zeigen (im Sinne von Rechtfertigen). Dies wiederum dergestalt, dass wir uns für die Konsequenzen, die sich aus der Bewertung der Handlung und ihrer Folgen ergeben, verantwortlich zeigen.“975 972 Holger Burckhart: Verantwortungsethik. Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus. In: Michael Quante (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Hamburg 2016. Die folgenden Einlassungen paraphrasieren den Essay in längeren Passagen. Ich danke Holger Burckhart für die Bereitstellung seines Textes vor Veröffentlichung. Sieh dazu auch: Ders.: Warum moralisch sein? Von der Unhintergehbarkeit und Unverzichtbarkeit der Moral in der Anthropologie des Menschen als Intersubjekt. In: Ders. (Hg.): Horizonte philosophischer Anthropologie. Markt Schwaben 1999, S. 207-234; Ders.: Hans Jonas: Ethik am Ende – am Ende die Ethik? In: Hans-Joachim Martin (Hg.): Am Ende (–) die Ethik? Begründungsund Vermittlungsfragen zeitgemäßer Ethik. Münster 2002, S. 58-83. 973 Vgl. Burckhart: Verantwortungsethik, a.a.O., sowie ders: Erfahrung des Moralischen. Hamburg 2000. 974 Holger Burckhart: Verantwortungsethik, a.a.O. 975 Ebd.
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Kritisch sieht Burckhart, dass bei Jonas metaphysische Teleologie und Entelechie des Menschen ebenso erhalten bleiben „wie ein reduktionistischer und personalisierter Verantwortungsbegriff. Letzteres wird in Jonas’ Auszeichnung der Eltern-Kind-Beziehung sowie der Politiker-Bürger-Situation als archetypische Verantwortungsbeziehungen deutlich.“976 Hinsichtlich einer begründungsreflexiven Legitimationsprüfung der Verbindlichkeit des Verantwortungsprinzips entdeckt Burckhart ein Defizit, zu dem die diskursethische Begründung von Apel und Böhler „die einzig sinnvolle Alternative“977 darstelle: „Hätte Jonas statt eines ontologisch-metaphysisch fundierten Natur-Mensch-Begriffs mit einer spezifischen Teleologie und Anthropologie (Heuristik der Furcht und Verantwortung), sowie eines solipsistischen Verantwortungsbegriffs einen moralethisch-reflexiven Begründungsansatz ... entwickelt, dann wären die Verfahrensprobleme, die das Prinzip Verantwortung birgt, sicherlich begründungstheoretisch adäquater zu lösen und in der Praxis wirkungsvoller.“978 Die Reflexion auf den Menschen als kommunikatives Wesen macht den Dialog zum Kernstück des menschlichen Handlungsvollzugs. Dialogizität wird zum ausgezeichneten Merkmal seiner Vernunft. Der Mensch trägt Verantwortung, weil er sich sonst der Sinnbasis seines Selbst beraubt. Dies bedeutet, die Interessen aller zu berücksichtigen und für die gegenwärtige wie zukünftige sozial-ökologische, ökonomische Mitwelt Mitverantwortung zu tragen: „Die Interessen jener, die ihre Interessen selbst nicht hervorbringen können, müssen advokatorisch vertreten werden. Jene Folgen, die nicht absehbar kalkulierbar sind, stehen, wie alle empirische Erkenntnis unter Fallibilismusvorbehalt (Irrtumsvorbehalt: in dubio pro malo) und alle Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit sind selbst reziprok-universal zu begründen.“979 Aus diesem Zugriff auf das Thema Verantwortung ergibt sich ein übergreifendes Handlungsprinzip: Bewahre und ermögliche den argumentativen Dialog, das heißt: Etabliere eine Beratungs- und Rechtfertigungspraxis, die die Ansprüche aller Betroffenen und Beteiligten mitberücksichtigt. Jürgen Habermas stellt an dieses Handlungsprinzip vier Bedingungen: „(a) niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, darf von der Teil976 Ebd. 977 Ebd. 978 Ebd. 979 Ebd.
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nahme ausgeschlossen werden; (b) allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten; (c) die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; (d) die Kommunikation muss derart von äußeren und inneren Zwängen frei sein, dass die Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motiviert sind.“980 Sorge somit, so ließe sich resümierend festhalten, für die Möglichkeit der Permanenz des Lebens selbst.
II Hans Jonas in Frankreich und Italien
Anders als die deutsche hat die französischsprachige Rezeption mit einigen Jahren der Verspätung begonnen. Das liegt daran, dass das „Prinzip Verantwortung“ erst im Jahre 1990 durch Jean Greisch ins Französische übersetzt worden ist. Französische Übersetzungen seiner Texte gab es jedoch bereits zuvor, etwa durch Rémi Brague in den 1980er Jahren.981 Seit den späten 1990er Jahren ist eine breite wissenschaftliche Diskussion in Frankreich und im französisch sprechenden Teil Belgiens zu verzeichnen, die bis in die Gegenwart nichts an Kraft eingebüßt hat. Im Gegenteil: Die französische Ausgabe des „Prinzip Verantwortung“ hat unter anderem dazu geführt, dass Hans Jonas selbst im Kongo gelesen wird, wie der von dort stammende Franziskaner und Jonas-Forscher Marie Pascal Rushura in einem persönlichen Gespräch berichtet. Interessiert sich Rushura als Christ insbesondere für Jonas’ Gottesverständnis, so hat die lange Tradition der Lebensphilosophie und Phänomenologie in Frankreich bewirkt, dass Hans Jonas dort vor allem aus dieser Perspektive gelesen wird. In Belgien erscheinen im Jahre 2001 die Études Phénoménologiques982 mit einem Sonderheft zu Hans Jonas. Im Zentrum stehen die Phänomenologie der Sinne, das Bildermachen, die Heidegger-Lektüre sowie die Sein-versus-Sollen-Kontroverse. Eine erste umfassende Arbeit über den Philosophen hat Nathalie Frogneux (Université catholique de Louvain) im selben Jahr vorgelegt. Sie trägt den Titel „Hans Jonas oder das Leben in der Welt“.983 Frogneux geht hierbei auf die Gnosis, die Kritik an Existenzialismus und Nihilismus, die Kritik am Cartesianismus sowie auf die Themen Inner980 Habermas: Diskursethik, a.a.O., S. 77. 981 Vgl. HJ 16-8-1. 982 Études Phénoménologiques No. 33-34/2001. Brüssel 2001. 983 Nathalie Frogneux: Hans Jonas ou la vie dans le monde. Brüssel 2001.
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lichkeit, Transanimalismus, Freiheit und Moral ein. Die Arbeit hat vor allem den Anspruch, in das Denken von Hans Jonas grundsätzlich einzuführen. Den besonderen Stellenwert seines Denkens heben Danielle Lories und Olivier Depré erstmals 2003 hervor. Sie sparen jedoch auch nicht mit Kritik. Gleich zu Beginn heißt es, Hans Jonas’ Werk sei einzigartig, die Fundamente seiner Philosophie nicht immer gesichert. Die teilweise eklektisch zusammengestellten Quellen, die sein Werk auszeichnen, seien nur schwer rekonstruierbar. Sie erstrecken sich über mehrere Perioden der Philosophie, und Jonas selbst vermag kaum zu sagen, was genau sie gemeinsam haben.984 Es stimmt, wenn Lories und Depré konstatieren, dass die Quellen, die Jonas nutzt, auch für den philosophisch geschulten Leser kaum nachzuvollziehen sind. Aufschluss darüber geben allenthalben die Vorlesungsmanuskripte, die im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe ediert worden sind. Einige Hinweise finden sich selbstverständlich auch in den Erinnerungen, doch ist in diesem Zusammenhang die Zuordnung ein nahezu unmögliches Unterfangen. Olivier Depré hat zeitgleich zu dem Gemeinschaftsband auch eine Einführung in das Denken von Hans Jonas vorgelegt, in der er die Begriffe Macht, Herrschaft, Verantwortung und Hoffnung ins Zentrum seiner Untersuchung rückt.985 Auch hier wird Jonas stark durch die phänomenologische Brille gelesen. So intensiv wie Éric Pommier hat sich in Frankreich niemand sonst mit Hans Jonas beschäftigt. Seine Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt von Hans Jonas legt den Schwerpunkt auf das Prinzip Verantwortung und die praktischen Konsequenzen – insbesondere der Medizinethik.986 In seinem Buch „Ontologie des Lebens und Verantwortungsethik nach Hans Jonas“ stellt Pommier zudem fest, Hans Jonas komme auch heute noch ein marginaler Platz im Zentrum der Philosophie zu. Wahrscheinlich sei ihm der Platz, der ihm mit Fug und Recht zustehe, schlichtweg noch nicht zugebilligt worden.“987 Das Buch ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil Pommier weit über einführende Worte hinausgreift. Er stellt zwar noch die Ontologie des Lebens in den Vordergrund, doch mit Rekurs auf gegenläufige philosophische Theorien wie den Konstruktivismus. Zudem setzt er Jonas in Bezie984 Danielle Lories/Olivier Depré: Vie et liberté. Phénoménologie, nature et éthique chez Hans Jonas. Paris 2003, S. 7. 985 Olivier Depré: Hans Jonas. Paris 2003. 986 Éric Pommier: Hans Jonas et le Principe Responsabilité. Paris 2012. 987 Éric Pommier: Ontologie de la vie et étihique de la responsibilité selon Hans Jonas. Paris 2013, S. 7.
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hung zu Uexküll, Heidegger, Spinoza und Varela. Die Verantwortungsethik kontrastiert er mit Husserl und Heidegger einerseits, mit Ricœur, Levinas, Sloterdijk und Habermas auf der anderen Seite. Die Philosophie von Hans Jonas wird mithin wesentlich stärker in andere philosophische Kontexte eingebettet. Auch sein schlicht „Jonas“ betiteltes Buch aus dem Jahre 2013 verdient es, erwähnt zu werden. Ins Zentrum stellt er hier die von ihm so genannte Ontologie des Todes, die Phänomenologie des Lebens, sowie die Verantwortung gegenüber dem Leben. Die Aktualität von Hans Jonas beantwortet er mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit der Demut des Menschen. Indem sich der Mensch dem Gebot/der Botschaft Gottes öffne, sei er bereit zur Demut.988 Und Demut wiederum ebne den Weg zu Gott. In dem von Catherine Larrère und Éric Pommier herausgegebenen Band „Die Ethik des Lebens bei Hans Jonas“989 liest der brasilianische Philosoph Regenaldo Rodrigues de Costa Hans Jonas’ Verantwortungsethik vor der Folie der Diskursphilosophie von Karl-Otto Apel und rezipiert diese Philosophien angesichts der ökologischen Krise des 21. Jahrhunderts. Der italienische Philosoph Roberto Franzini Tibaldeo rekonstruiert Jonas’ Denken der Gnosis und interpretiert seine Ontologie als Fundament der Ethik. Der kanadische Philosoph Frédérick Bruneault widmet sich insbesondere den Methoden- und Grundsatzfragen des „Prinzip Verantwortung“ und fragt nach der Gültigkeit der Prinzipienlehre der Moral als angemessene Antwort auf die Probleme der Gegenwart. Der philosophischen Argumentationsstruktur von Jonas geht auch Etienne Bimbenet nach und hinterfragt Jonas’ anti-reduktionistische Haltung insbesondere mit Blick auf das Buch „Macht und Ohnmacht der Subjektivität.“ Einen Filmtitel Jean-Paul Jauds aufgreifend beleuchtet Hicham-Stéphane Afeissa den bei Jonas angesprochenen Generationenkonflikt und konstatiert: „Unsere Kinder werden uns anklagen.“ Hoffnung und Versprechen bei Jonas und Arendt ist das Thema von Sylvie Courtine-Denamy. Schließlich fragt der Herausgeber Éric Pommier, in welchem Sinne das Prinzip Verantwortung ein Humanismus ist. Er kommt zu dem Schluss, dass ein nicht-anthropozentrischer und nicht-biozentrischer Humanismus, wie Jonas ihn grundgelegt hat, tatsächlich möglich sei. 988 Éric Pommier: Jonas. Paris 2013, S. 192. Eine spannend klingende Auseinandersetzung mit Hans Jonas legt auch Alfred Fidjestøl: Hans Jonas. Oslo 2004, vor. Es ist mir jedoch sprachlich nicht möglich, die norwegische Sicht angemessen zu würdigen. 989 Catherine Larrère/Éric Pommier (Hg.): L’Éthique de la vie chez Hans Jonas. Paris 2013.
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
Zuletzt hat Pommier ein Sonderheft zu Hans Jonas herausgegeben. In „Alter. Revue de Phénoménologie“990 äußert sich Robert Theis zur Bestimmung des Menschen bei Hans Jonas. Natalie Depraz spricht über den Grenzgänger zwischen Gnosis und Lebensphilosophie, der Chilene Roberto Rubio macht sich Gedanken über eine „Bildwissenschaft“ bei Jonas, Edouard Jolly widmet sich dem Thema Eschatologie bei Jonas und Anders, Avishag Zafrani philosophiert über Nihilismus-Kritik bei Bloch und Jonas, Catherine Larrère und Éric Pommier sprechen über die Verletzlichkeit des Menschen bei Jonas und fragen sich, ob man Jonas heute nicht anders lesen müsse. Schließlich fokussiert Emmanuel Catin den Begriff Vernichtung bei Jonas und Heidegger. Alle diese Publikationen spiegeln nur einen Ausschnitt dessen wider, was Pommier in den vergangenen Jahren zu Hans Jonas in Frankreich publiziert hat. Eine wichtige französischsprachige Monografie hat auch Ester Borghese Keene 2014 publiziert. Sie handelt vom Mythos, den Jonas nutzt, um den Gottesbegriff nach Auschwitz zu klären.991 Der Mythos in der gnostischen und lurianischen Literatur markiert bei Keene jene Ebene, aus dem der Begriff „Gott“ erwächst. Eine entscheidende Rolle spricht Keene hierbei dem Gedächtnis zu, dessen verschiedene Facetten sie eindringlich interpretiert. Der Begriff des Gedächtnisses spiele eine zentrale Rolle in der Argumentation von Hans Jonas.992 Ausgehend von einer epistemologischen Fragestellung spreche Jonas von einem Gedächtnis, das in der Lage sei, in sich die Wahrheit in Bezug auf die Vergangenheit zu bewahren. Es ist offensichtlich, dass sich die französische Rezeption anders als die deutsche weniger auf das „Prinzip Verantwortung“ und die damit verbundene Ethik von Hans Jonas bezieht, sondern Hans Jonas viel stärker aus einer lebensphilosophischen, phänomenologischen und teils theologischen Lesart interpretiert. Auch die italienische Rezeption, die ebenfalls 1990 durch Paolo Portinaros Übersetzung des „Prinzip Verantwortung“ (inklusive einer eigenen Einleitung) einsetzt, zeigt eine spezielle hermeneutische Ausrichtung, die stark von der medizinethischen und theologischen Sicht geprägt ist. Als Paolo Becchi 1999 990 Alter. Revue de Phénoménologie No. 22/2014. Paris 2014. 991 Ester Borghese Keene: Hans Jonas. Mythe, temps et mémoire. Hildesheim/Zürich/New York 2014. 992 Ebd., S. 231f.
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sodann auch eine italienische Fassung von „Organismus und Freiheit“ vorlegt, beginnt eine intensive und bis heute unvermindert anhaltende Jonas-Forschung in Italien. Sie ist zurzeit der wohl stärkste Zweig der Jonas-Forschung. Bereits ein Jahr nach Becchis Übertragung von „Organismus und Freiheit“ widmet sich die Zeitschrift Ragion Pratica, Praktische Vernunft, dem Thema „Hans Jonas in Italien“.993 Darin findet sich nicht nur die Transkription eines Fernseh-Gesprächs zwischen Vittorio Hösle und Hans Jonas über Leib und Seele aus dem Jahre 1990, sondern auch Emidio Spinellis Aufsatz über die griechischen Wurzeln des Freiheitsbegriffes bei Hans Jonas sowie Paolo Becchis Bericht über die Jonas-Rezeption in Italien. Becchi beklagt, in Italien habe es zuletzt viele Versuche der Rehabilitierung der Praktischen Philosophie gegeben, doch sei eine Vernachlässigung der Metaphysik zu verzeichnen. Dementsprechend habe auch die Philosophie von Hans Jonas nicht die Aufmerksamkeit erlangt, die ihr gebührt. Immerhin findet Jonas in Franco Volpis 1999 erschienenem, voluminösen Werklexikon der Philosophie eine kurze Erwähnung.994 Die Aufmerksamkeit der italienischen Philosophie wächst jedoch spätestens mit dem Erscheinen des von Rosangela Barcaro und Paolo Becchi 2004 herausgegebenen Bandes „Questioni mortali l’attuale dibattito sulla morte cerebrale e il problema die trapianti“995. Das Hirntodkriterium und die Transplantationsethik, die so genannte menschliche Organbank sowie die Frage nach der Würde des Menschen sind die übergeordneten Themen, die den italienischen Diskurs über Verantwortung bis heute bestimmen. Auch die „Paradigmi. Rivista di critica filosofia“ widmet ihr Sonderheft im selben Jahr Hans Jonas.996 Irene Kajon beleuchtet darin Mythos und Midrash im Gottesbegriff nach Auschwitz, Emidio Spinelli geht der Frage nach Tierrechten bei Hans Jonas nach, Paolo Nepi philosophiert über traditionelle Ethik und die Ethik der Verantwortung, und Paolo Becchi fragt, ob eine Ethik ohne Metaphysik möglich ist. Parallel hierzu erscheint von Karl-Otto Apel, Paolo Becchi und Paul Ricœur ein Buch über den Verantwortungsphilosophen Hans Jonas.997 Es 993 Ragion Pratica No. 15/2000: Hans Jonas in Italia. Rom 2000. 994 Franco Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. 2 Bände. Stuttgart 1999. 995 Rosangela Barcaro/Paolo Becchi (Hg.): Questioni mortali l’attuale dibattito sulla morte cerebrale e il problema die trapianti. Neapel 2004. 996 Paradigmi. Rivista di critica filosofia 66. Rom 2004. 997 Karl-Otto Apel/Paolo Becchi/Paul Ricœur: Hans Jonas. Il filosofo e la responsibilità. Mailand 2004.
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
enthält unter anderem die Übersetzung von Apels grundlegendem Aufsatz „Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschränkung oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanität?“, den er in seinem Buch „Diskurs und Verantwortung“ Ende der 1980er Jahre bereits in Deutsch publiziert hatte. Der Verantwortungsphilosophie insbesondere mit Blick auf Jonas’ philosophisch-anthropologische Auslegung des Homo pictor wendet sich auch Gianluca Garelli zu.998 Und die Zeitschrift Ragion Pratica999 rückt im Dezember 2006 abermals Hans Jonas in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses und beleuchtet die Philosophie der Verantwortung, Aspekte der Biotechnologie und die Neu-Definition des Todes. Claudio Bonaldi1000 geht im selben Jahr in seinem Buch „Hans Jonas e il mito“ der Bedeutung des Mythos in der Philosophie von Hans Jonas mit besonderem Augenmerk auf den Gottesbegriff nach Auschwitz nach. Und nur wenige Monate später erscheint Angela Michelis1001 Studie über Freiheit und Verantwortung, die Jonas’ Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, sein „leidenschaftliches Judentum“ und die Gnosis-Studien anführt, um zu zeigen, dass dies die Wegweiser waren, die Jonas zu seiner philosophischen Grundlegung von Freiheit und Verantwortung führten. Seine Philosophie, so Michelis, weise über neo-kantianische, existenzialistische und phänomenologische Studien hinaus und beinhalte eine neue Konzeption des Denkens, Sprechens und Handelns mit Fokus auf die Natur. Zu dieser Zeit rückt auch ein anderer Begriff vermehrt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Die italienische Literatur liest fortan Jonas’ Philosophie insbesondere vor der Folie der Leiblichkeit des Menschen. Damit einher geht seine Verletzlichkeit. Es ist wiederum Paolo Becchi, der dieses Thema intensiv verfolgt.1002 Er reflektiert hierzu nicht nur die Denkstationen von Hans Jonas und zeigt, wie Jonas über Heidegger hinaus philosophiert, sondern er rekurriert auch auf Jonas’ Auseinandersetzung mit Ludwig von Bertalanffy, die Medizinethik sowie die Debatte über die Prinzipien Verantwortung und Hoffnung. 998
ianluca Garelli: Il cosmo del ingiustizia. Genf 2005. Sieh dazu auch Francesco BranG cato: La materia vivente. Dio, uomo e natura del pensiero di Hans Jonas. Padua 2013.
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Ragion Pratica 27, Dezember 2006.
1000 Claudio Bonaldi: Hans Jonas e il mito. Tra orzzonte transcendentale di senso e apertura alla transcendenza. Borgogna 2007. 1001 Angela Michelis: Libertà e Responsabilità. La filosofia di Hans Jonas. Rom 2007. 1002 Paolo Becchi: La vulnerabilità della vita. Contributi si Hans Jonas. Neapel 2008.
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Die italienischen Arbeiten, thematisch ähnlich ausgerichtet wie Pommier in Frankreich, gehen von nun an über ein bloßes Einführungsdenken hinaus. So bezieht sich bereits Roberto Franzini Tibaldeo1003 2009 auf die Lehrbriefe, die hermeneutische Bedeutung zwischen Organismus und Freiheit und leitet Jonas’ Denken aus den Philosophien von Aristoteles, Spinoza und Whitehead ab. Zuletzt hat sich Fabio Fossa dem „Gottesbegriff nach Auschwitz“ zugewendet.1004 Es ist der ambitionierte Versuch aufzuzeigen, dass die Gnosis als Thema bis zuletzt das Denken von Hans Jonas beherrscht hat, auch und nicht zuletzt in seiner Interpretation des Zimzum. Es ist zu erwarten, dass der gerade erst begonnene europäische wie internationale Diskurs über Hans Jonas angesichts der politischen und gesellschaftlichen Problemlagen der Gegenwart noch lange anhalten wird.
III Der Jonas-Diskurs in den USA
Anders als in Europa sieht es hingegen gegenwärtig in den USA aus. Bereits im Jahre 2002 monierte David J. Levy, dass Jonas in seiner Wahlheimat zu einem der unterschätztesten Philosophen der Gegenwart gehöre. Anders als im europäischen Raum wird Jonas bis heute in den USA nur sehr sporadisch rezipiert. In der Öffentlichkeit hat sich etwa der republikanische Ideologe und konservative Intellektuelle Leon Kass auf seinen Lehrer Hans Jonas bezogen, um seine eigenwilligen Thesen über Sexualität und Reproduktionsmedizin vorzutragen. Hierbei verteidigt er allerdings mehr die Bibel als die Philosophie von Hans Jonas. Dieser Umstand hat Leon Kass seinerzeit auch mehr für die Bush-Administration als für einen jüdisch-philosophischen Diskurs interessant gemacht.1005 Einerseits überrascht die Feststellung, dass Jonas in den USA nur wenig rezipiert wird, weil er doch knapp vier Jahrzehnte nahe New York gelebt und geforscht hat und davon mehr als die Hälfte der Zeit in den universitären Betrieb der New School eingebunden war. Andererseits 1003 Roberto Franzini Tibaldeo: La Rivoluzione ontologica di Hans Jonas. Uno studio sulla genesi e il significato di Organismo e Libertà. Mailand/Udine 2009. 1004 Fabio Fossa: Il concetto di Dio dopo Auschwitz. Hans Jonas e la gnosi. Pisa 2014. 1005 Vgl. Lawrence Vogel: Natural Law Judaism? The Genesis of Bioethics in Hans Jonas, Leo Strauss and Leon Kass. Hastings Center Report 36, No. 3 (2006), S. 32-44. Sieh auch die Aufsätze in: Hava Tirosh-Samuelson/Christian Wiese (Hg.): The Legacy of Hans Jonas. Judaism and the Phenomenon of Life. Leiden/Boston 2008.
ZWEITER TEIL: DAS WERK IN DER DISKUSSION
verwundert es auch nicht so sehr, weil die Einstellungen der Amerikaner gerade in Sachen Umweltproblematik und technischem Fortschritt nicht mit denen der Europäer korrespondieren. Während in Deutschland und Europa Jonas’ Dubio-Prinzip der politischen Haltung entspricht, eine neue Technologie müsse ihre Unschädlichkeit nachweisen, ist es in den USA eher so, dass ihre Schädlichkeit aufgezeigt werden muss, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Die weitaus unkritischere Haltung gegenüber dem Fortschritt in den USA mag es insofern verhindert haben, dass Jonas zur Autorität eines zukunftsverantwortlichen Diskurses geworden ist. Hinzu kommt schließlich, dass er als Emigrant und deutschsprachiger Philosoph nicht über denselben Einfluss auf die amerikanische Forschungslandschaft verfügt hat, wie viele seiner amerikanischen Kollegen. Zumeist, so David Levy, werde er in den USA nur im Kontext gnostischer Forschung genannt. Das aber verfehle Jonas’ philosophisches Spektrum grundlegend.1006 David Levys Einführung in das Denken von Hans Jonas war insofern ein früher Versuch, die Vernachlässigung seiner Schriften im amerikanischen Raum grundlegend zu ändern. Sein Essay über „Die Rechtschaffenheit des Denkens“ zeichnet beinahe schon eine Charakterstudie des Gelehrten Hans Jonas. Levy skizziert Jonas’ Denkweg von der Gnosis über die Biologie und Anthropologie bis hin zur Ethik, um am Ende nachzuweisen, dass Jonas gerade für den amerikanischen Diskurs viel mehr Themen als nur theologische zu bieten hat. Levy hält diese Themen weiterhin für virulent. Zwar spart er mit biografischen Angaben zu Jonas, und wo er sie gibt, sind sie auch nicht immer ganz korrekt, aber er versucht immerhin, Jonas’ philosophische Ideen zu den Geschehnissen der Zeit in Beziehung zu setzen. Diesen Zugriff wählt er vor allem, um zu zeigen, „welchen Weg ein Lebenswerk nahm, das sowohl eine Philosophie der Natur als auch Studien über die moralische Verantwortung des Menschen umfasst und trotz der größeren Bekanntheit seiner Zeitgenossen beispiellos ist.“ Und 1006 David J. Levy: Hans Jonas, a.a.O. Dazu auch: William LaFleur: Infants, Paternalism, and Bioethics: Japan’s Grasp of Jonas’s Insistence on Intergenerational Responsibility. In: Hava Tirosh-Samuelson/Christian Wiese: The Legacy of Hans Jonas: Judaism and the Phenomenon of Life. Leiden/Boston 2008, S. 461-480. Eigenartig ist, dass ein DFG-Gutachten als Schwäche meines Antrags zur Förderung der Biografie gerade den unzureichend berücksichtigten amerikanischen Diskurs nennt. Wie Vittorio Hösle mir daran anschließend bestätigt, findet aber eben dieser so gut wie nicht statt. Aber über die Logik von Gutachten darf man sich in Deutschland wohl nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen...
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nochmals der Hinweis: „Seine Philosophie verdient eine viel größere Leserschaft als er sie bislang hat.“1007 Levy, der im Jahr seiner Veröffentlichung zu Hans Jonas verstarb, gelang es mit seinem Jonas-Buch leider nicht, auch in den USA ein größeres Publikum für die Arbeiten von Hans Jonas zu gewinnen. Es dauerte noch gut ein Jahrzehnt, bis mit dem Erscheinen von Theresa Morris’ Band zur Verantwortungsethik von Hans Jonas eine Einführung in das Denken des jüdischen Gelehrten ein Werk vorlag, dass seine Philosophie ausgiebig erklärt und sie so auch einem breiteren, gebildeten Publikum zugänglich macht. Insbesondere der Umstand, dass Morris Jonas’ Ethik ins Gespräch mit anderen zeitgenössischen Umweltethiken bringt und Jonas gegen diese verteidigt, ist ein Indiz für einen Wandel im Denken der amerikanischen Philosophie. Betrachten wir Morris’ Buch näher. Sie fragt sich eingangs, ob das Prinzip Verantwortung als Antwort auf die Krisen des 21. Jahrhunderts noch brauchbar ist. Zur Beantwortung dieser Frage kontrastiert sie seine Philosophie insbesondere mit jenen US-amerikanischen Umweltphilosophien, die sich wie Jonas gegen einen postmodernen Relativismus verwahren. Gerade Jonas’ Ethik sei in Bezug auf die Überwindung relativistischer und nihilistischer Standpunkte äußerst vielversprechend: „Ich glaube, dass Jonas für uns eine Philosophie bereitstellt, die wir brauchen, um uns selbst wieder zu orientieren, und zwar an all jenen Handlungen, die nicht nur eine lebenswerte, sondern auch eine gedeihliche Zukunft für die Natur und den Menschen ermöglichen.“1008 Morris rekurriert hierzu zunächst auf die Ursprünge der ökologischen Krise, auf das Fundament von Jonas’ Ethik, seine Philosophie des Lebens und der Verantwortung, sowie auf das Verhältnis von Technik, Natur und Ethik. Das erste Kapitel ist im Kern eine Diagnose der technologischen Zivilisation, wie sie Jonas in seinem Hauptwerk bereits vorgenommen hat. Morris führt in diesem Zusammenhang Descartes’ Dualismus ins Feld, um zu erklären, wie sich das Welt- und Selbstverständnis des modernen Menschen entwickelt hat. Die cartesische Sichtweise der Welt hat die Welt an sich verändert. Der Mensch habe, so Morris, nach und nach damit begonnen, die Welt nach dem Vorbild von Descartes’ Modell zu formen. Damit einher ginge die Auffassung, die Natur sei nicht Teil eines moralisch rele1007 Levy, ebd., S. 1. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 1008 Theresa Morris: Hans Jonas’s Ethic of Responsibility. From Ontology to Ecology. New York 2013. S. 11.
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vanten Bereichs. Moralische Betrachtungen über die Natur waren somit außen vor: „Die Vision, die Natur sei die Magd technischer Gesetze und bloß zu unserer Bedarfsbefriedigung da, hat zum Beinahe-Kollaps der Umwelt geführt. Diese Vision gründet nicht auf ökologischen oder biologischen Tatsachen.“1009 Morris geht sodann dazu über, die Kerngedanken von Jonas’ philosophischer Biologie werkimmanent zu deuten. Im Vordergrund stehen der Rekurs auf Darwins Evolutionsbiologie sowie die Begriffsexplikation der wichtigsten Begriffe der Verantwortungsethik: Innerlichkeit, Naturhaftigkeit, Subjektivität, Metabolismus und Freiheit. Sie zeigt, wie Jonas’ phänomenologische Betrachtungsweise des menschlichen Vollzugs in „Organismus und Freiheit“ in seine Ethik mit der darin enthaltenen graduellen Abstufung zwischen Mensch und Tier mündet. Jonas habe erfolgreich die Frage nach dem ontologischen Status des Menschen wiedereröffnet. Er habe darüber hinaus eine auf evolutionärer Biologie fußende erfrischende Analyse des Menschseins geliefert. Morris resümiert: „Seine Begründung ist stark, vor allem, weil sie die besondere Rolle der Freiheit betont, die dem Menschen im ontologischen Verständnis zukommt.“1010 Doch schlägt eine Ontologie, die in einer Ethik mündet, nicht zwangsläufig fehl, fragt Morris noch einmal. Es bedürfe zur Verteidigung der These von Hans Jonas der Rückkehr zu der philosophischen Frage, die die Validität betreffe, ob man Normen ontologisch begründen könne.1011 Das ontologische Fundament seiner normativen Ethik ist deshalb das zentrale Thema von Morris’ Untersuchung. In dieser Frage hatte Morris’ Kollege Gerald McKenny in seinem Buch über Bioethik, Technologie und den menschlichen Körper bereits in den 1990er Jahren eine kritische Antwort gegeben.1012 McKenny liefert darin vorab eine Kritik herkömmlicher Bioethiken, die im Denken von Francis Bacon wurzeln und die Natur als Mittel zum Zweck des technischen Fortschritts interpretieren. Diese Ethiken sind gemäß McKenny allerdings nicht in der Lage, die Fragen, die das Baconsche Projekt aufgeworfen habe, wirklich zu beantworten. Deshalb wendet er sich im Folgenden den kritischen Stim1009 Ebd., S. 22. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 1010 Ebd., S. 86. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 1011 Ebd. 1012 Gerald McKenny: To Relieve the Human Condition. Bioethics, Technology, and the Body. New York 1997.
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men des Baconschen Ideals zu, die Alternativen anböten. Unter ihnen ist nicht zuletzt die Philosophie von Hans Jonas (als auch die von Leon Kass), die dazu beitragen soll, seine These von der Notwendigkeit einer Wiederentdeckung der moralischen Signifikanz des Körpers zu stützen. McKenny kommt bei seiner Analyse der Verantwortungsethik von Hans Jonas jedoch zu dem Schluss, dass Jonas zwar durch die Zuschreibung subjektiver Verantwortlichkeiten ein Korrektiv des Baconschen Ideals vorzeichne, eine echte Alternative sei seine Ethik dennoch nicht, denn: „Wenn Bacons Projekt die Freiheit auf Kosten der Notwendigkeit hervorgehoben hat, so betont Jonas die Notwendigkeit und weist auf die Ignoranz und Torheit willkürlicher Freiheiten hin. Er drängt uns in diesem Zusammenhang, die Natur (Notwendigkeit) im Fall eugenischer und gentherapeutischer Fragen ihre eigene Dynamik entfalten zu lassen. Im Resultat transzendiert Jonas gar nicht so sehr das moderne Subjekt, sondern ist vor allem dann erfolgreich, wenn er das Missverhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, das in anderen philosophischen Konzepten durchschlägt, beseitigt. Die Ironie hierbei ist, dass Jonas ... oftmals als technologiefeindlich wahrgenommen wird. Doch er ist in vielerlei Hinsicht ebenso modern wie die Anhänger Bacons, die er kritisiert. Angesichts dessen muss Jonas letztlich Verantwortung selbst in quasi-Baconschen Begriffen denken ... und das verantwortliche Subjekt ... ist immer noch wesentlich ein modernes Subjekt, das die Kontrolle über die Technologie besitzt, um dementsprechend überhaupt ein Subjekt bleiben zu können.“1013 McKenny wirft Jonas also vor, dass sein Verantwortungssubjekt essentiell immer noch ein modernes Subjekt ist, das die Kontrolle über die Technologie erlangen muss, um überhaupt Subjekt bleiben zu können. Damit argumentiere Jonas aber geradezu in Begriffen, wie der von ihm kritisierte Francis Bacon und seine Anhänger. Diese Kritik zielt in eine ähnliche Richtung wie die oben bereits diskutierte Kritik des Soziologen Ulrich Beck. Kann die Ethik eigentlich noch das leisten, was sie vorgibt leisten zu wollen? Es ist in diesem Kontext hilfreich, nochmals auf Theresa Morris zu sprechen zu kommen, die einen Vergleich von Hans Jonas’ Ethik mit anderen zeitgenössischen Umweltphilosophien in den USA wagt, bei denen Natur und Werte ebenfalls eine besondere Rolle spielen und die das gleiche Ziel wie Jonas verfolgen: Der Instrumentalisierung der Natur durch die Technik einen ethischen Riegel vorzuschieben. 1013 Ebd., S. 73f. Sinngemäß übersetzt aus dem Englischen.
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Morris kommt deshalb zunächst auf J. Baird Callicott zu sprechen, der eine ganzheitliche, nicht-anthropozentrische Umweltethik im Anschluss an den Vater des Wildnisschutzes und der Landethik in den USA, Aldo Leopold, vertritt. „Land“ bedeutet bei Leopold die ökologische Gesamtheit, in der jeder Organismus der Gemeinschaft eine für die Gesamtheit elementare ökologische Funktion innehat. In dieser ökozentrischen Lesart ist der Mensch Bürger einer biotischen Gemeinschaft, in der die Frage nach dem Eigenwert der Natur die entscheidende Rolle spielt. So auch bei Callicott, der Leopolds literarische Lesart der Landethik in eine philosophische Lesart überführt. Er entwirft zu diesem Zweck eine subjektivistische Theorie der inneren Werte der Natur, die die klassische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt nicht in Frage stellt: Werte entstehen allein im Subjekt, das Werte auf andere Objekte überträgt. Diese Werte können instrumenteller oder aber intrinsischer Natur sein. Es geht Callicott nun insbesondere darum, zu zeigen, dass auch nicht-menschlichen Spezies, Lebensgemeinschaften und Ökosystemen intrinsische Werte zugeschrieben werden können, weshalb es sich verbiete, sie zu zerstören. Dahingehend bezieht Morris auch Holmes Rolston III. in die Diskussion mit ein. In Anerkennung objektiver Naturwerte bestreitet Rolston gegen Callicott, dass Werte nur von Subjekten gesetzt werden. Vielmehr behauptet er die Existenz solcher Werte in der Natur selbst. Auch Paul Warren Taylor, auf den sich Morris abschließend beruft, propagiert einen biozentrischen Gesichtspunkt der Umweltethik. Der Biozentrismus priorisiert Individuen in der Natur, einschließlich des Menschen, spricht dem Menschen jedoch keine grundsätzlich höhere Priorität zu. Taylor argumentiert, dass die Menschen Mitglieder der irdischen Lebensgemeinschaft sind, dass die Erde der Ökosysteme ein komplexes Netz von miteinander verbundenen Elementen ist und dass jeder einzelne Organismus, wie jeder einzelne Mensch, durch Zweckhaftigkeit, Autonomie und Wahlfreiheit charakterisiert ist: Jeder Organismus ist ein Zweck an sich, von Natur aus wertvoll und verdient gleiche moralische Berücksichtigung. Die moralische Überlegenheit des Menschen bestreitet Taylor. Allerdings räumt er ein, dass der Mensch eine moralische Verantwortung auf Grund seiner einzigartigen Entscheidungsfähigkeit hat und insofern verpflichtet ist, im Interesse anderer Lebensformen zu handeln. Der Biozentrismus nötige den Menschen ferner, bestimmten Regeln zu folgen, um die Umwelt vor Schäden zu schützen. Dazu gehören die Anerkennung der Freiheit anderer Lebensformen, die Pflicht, Vertrauen zwischen Mensch und Tier herzustellen so-
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wie die Anerkennung restitutiver Gerechtigkeit, die eine ethische Balance zwischen Mensch und Umwelt wiederherzustellen vermag. Den oben genannten Vertretern der zeitgenössischen US-amerikanischen Umweltphilosophie stellt Morris die Verantwortungsphilosophie von Hans Jonas gegenüber. Callicott, so Morris, sei letztlich „nicht willens, vom materialistischen Standpunkt abzuweichen, auch wenn dies letztlich bedeutet, dass die Annahme intrinsischer Werte in nicht-menschlichen Organismen und der Natur selbst problematisch wird.“1014 Callicotts Umweltethik möchte zwar nicht-anthropozentrisch sein, Morris aber wirft ihm einen ebensolchen vor, weil es in letzter Instanz immer der Mensch sei, der der Natur erst Werte zusprechen müsse, um diese Werte dann auch zu schützen. Callicotts Ethik sei zwar angetreten, das Umweltproblem zu lösen, verschärfe es aber letzten Endes durch diese anthropozentrische Perspektive nur. Rolstons Argumente für intrinsische Naturwerte gingen indes weit über Jonas’ Betrachtungen zur Existenz intrinsischer Werte hinaus und scheinen Morris insofern ein wenig überambitioniert, wenngleich es große Übereinstimmungen der philosophischen Argumentationen bei Rolston und Jonas gebe. Die größte Schnittmenge und zugleich die größte Differenz gibt es laut Morris aber zwischen Taylor und Jonas: Der Mensch ist bei beiden Teil der Natur, in der Organismen das teleologische Zentrum des Lebens bildeten. Taylor nehme allerdings deutlich Abstand von jedweder Begründung auf metaphysischem und ontologischem Boden. Morris kommt nach der Darstellung der verschiedenen Ethiken am Schluss ihres Buches zu dem Fazit, dass es nun gerade Jonas’ biologisch fundierte Philosophie sei, die eine vielversprechende Basis für eine Ethik der Verantwortung bereitstelle, weil sie Natur und Mensch als eine durch Freiheit, Macht und Wissen abgestufte Einheit betrachte. Jonas entwerfe somit eine Ethik, „die einen aussichtsreichen Ausgangspunkt bietet für die ethischen Fragen und Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, und dies mit immer größerer Dringlichkeit im 21. Jahrhundert.“1015 Indem Morris die Verantwortungsethik von Hans Jonas mit aktuellen US-amerikanischen Umweltphilosophien kontrastiert und Jonas letztlich zugesteht, dass er die Antworten auf die Probleme des 21. Jahrhunderts vorweggedacht hat, verleiht sie ihm in der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft des Planeten und des Menschen eine überaus gewichtige Stimme – 1014 Morris, S. 97. Übersetzung aus dem Englischen: Verf. 1015 Ebd., S. 198. Übersetzung aus dem Englischen: Verf.
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gerade für den amerikanischen Diskurs. Das Credo: Die Ethik von Hans Jonas kann keineswegs ad acta gelegt werden. Sie ist aktueller denn je – auch wenn der Subjektbegriff und damit der Träger der Verantwortung bei Hans Jonas möglicherweise einer Transformation bedarf. In diesem Sinne hat dieses abschließende Kapitel einige philosophische Stimmen zu Wort kommen lassen, die das Projekt einer Verantwortungsethik für das 21. Jahrhundert weiterschreiben. Nicht zuletzt geschah dies aus dem Grund, dass wir heute anderen, aber nicht minder großen Problemen und Herausforderungen gegenüberstehen wie die Menschen in den 1970er und 1980er Jahren. Als da sind der fortschreitende Klimawandel, aber auch der wieder aufkeimende Rechtsradikalismus, der wieder erstarkte Nationalismus, der internationale Terrorismus und die Flüchtlingsfragen. Anknüpfungspunkte an Hans Jonas bietet heute nicht zuletzt die Agenda for Sustainable Development 2015 der Vereinten Nationen „Transforming the world“1016, die Nachhaltigkeit ins Zentrum der internationalen Zusammenarbeit rückt. Zentrale Politikbereiche sollen in den nächsten Jahrzehnten auf eine nachhaltige Entwicklung hin umgestaltet werden. Damit soll die Transformation der einzelnen Volkswirtschaften in Richtung einer weltweit zukunftsfähigen Ökonomie vorangetrieben werden. Der Verlust von Biodiversität, wachsende Armut, Hunger und ressourcenverschwendendes Wirtschaften belegen, dass ein Umdenken notwendig ist. Die globale Entwicklung soll sozialverträglich, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltig, das heißt zukunftsfähig gestaltet werden, um kommenden Generationen die Möglichkeit eines friedlichen, gesunden und gerechten Lebens zu sichern. In den Fokus rücken somit auch gesellschaftliche Transformationsprozesse, der digitale Wandel und moderne Informationstechnologien, der Erhalt natürlicher Ressourcen, soziale Nachhaltigkeit und Inklusion. Es bedarf angesichts dieser neuen Herausforderungen eines nicht endenden, argumentativen Dialogs, um politische Lösungen für das Wohlergehen der Menschen heute und morgen zu finden. Es bedarf unseres wohl überlegten Urteils, das heißt: unserer Mit-Verantwortung jetzt und in Zukunft. Hans Jonas hat mit seinem Einsatz für Freiheit und Verantwortung hierzu den Weg gewiesen.
1016 http://www.un.org/sustainabledevelopment/blog/2015/08/transforming-our-world-document-adoption/. (Abruf: 10. Januar 2016).
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ZEITTAFEL 1815 Der Urgroßvater Benjamin Jonas gründet in Borken (Westfalen) eine Leinenweberei 1896
Die Firma wird nach Mönchengladbach verlegt
1903 Hans Jonas kommt als zweites von drei Kindern der Eheleute Gustav Jonas und Rosa Horowitz zur Welt 1911
Die Familie zieht in eine Villa in der Mozartstraße
1914 Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Familie Jonas ist zunächst wie viele Deutsche begeistert vom Ausbruch des Krieges 1916 Der knochenkranke Bruder Ludwig stirbt an den Folgen eines Unfalls 1916 Malunterricht in Mönchengladbach und Bekanntschaft mit dem Arbeiterdichter Heinrich Lersch 1921
Abitur am Stiftisch-Humanistischen Gymnasium
1921 Beginn des Studiums in Freiburg, Beginn zionistischer Aktivitäten, u.a. im Jugendbund Blau-Weiß 1922-28 Studien in Berlin, Freiburg und Marburg, Bekanntschaft mit Leo Strauss, Dolf Sternberger, Hannah Arendt und Günther Stern (Anders) 1928
Rigorosum bei Martin Heidegger
1930 Kommanditist in der mechanischen Leinenweberei, gemeinsam mit seinem Cousin Gerald 1933
Emigration nach London, Bekanntschaft mit George Lichtheim
1934
Der erste Band der Gnosis erscheint
1935 Übersiedlung nach Palästina, in den Folgejahren in der Haganah aktiv 1938
Tod des Vaters, Verhaftung des Bruders, Tod Husserls
1940-45 Soldat der britischen Armee, ab 1944 Soldat der jüdischen Brigade 1942
Tod der Mutter in Auschwitz
1943
Heirat mit Lore Weiner (Krause)
1945 Rückkehr nach Deutschland als Soldat, Rückkehr nach Palästina, Lehrtätigkeit an der School of Higher Studies (British Council) 1948
Soldat im israelisch-arabischen Krieg, Geburt der Tochter Ayalah
ZEITTAFEL
1949/50 Stipendium der Lady-Davis-Foundation für Montreal 1950
Professor in Ottawa, Geburt des Sohnes John
1952
Ablehnung eines Rufs an die Hebräische Universität
1955
Professor in New York, Geburt der Tochter Gabrielle
1959/60 Gastaufenthalt in München 1962 Ehrendoktorat des Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College 1963 Ruf an die University of Chicago (abgelehnt), Alvin-Johnson-Professur an der New School 1964 Heidegger und die Theologie, Vortrag in New Jersey; Ruf an die Southern Methodist University Dallas, Texas (abgelehnt) 1966
The Phenomenon of Life erscheint
1970
Beginn der Freundschaft mit Heinrich Popitz
1972
Beginn an der Arbeit zum Prinzip Verantwortung
1976 Emeritierung, Ehrendoktor der New School und der Universität Marburg 1979
Das Prinzip Verantwortung erscheint bei Suhrkamp
1982/83 Eric-Voegelin-Gastprofessur in München 1987
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1988 Ehrenbürger der Stadt Mönchengladbach, Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband, Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen 1990
Ehrendoktor der Universität Bamberg
1991
Ehrendoktor der Universität Konstanz
1992
Ehrendoktor der FU Berlin
1993
Tod in New York
1994
Tod des Bruders Georg
1998
Eröffnung des Nachlassarchivs an der Universität Konstanz
2012
Tod von Lore Jonas
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DANK Dr. Brigitte Parakenings und Prof. Dr. Gereon Wolters vom Philosophischen Archiv der Universität Konstanz waren mir eine unermessliche Hilfe bei der Durchsicht des Nachlasses von Hans Jonas. Die Universität Siegen hat mir durch eine finanzielle Unterstützung die Recherchen erheblich erleichtert. Ayalah Jonas hat das Entstehen dieses Buch mit großem Interesse verfolgt, einige wichtige Hinweise geliefert und mit zwei kleinen Textbeiträgen meine Arbeit unterstützt. Darüber hinaus lieferte sie mir eine Menge Bildmaterial, das in diesem Band teilweise abgedruckt ist. Dr. Christiane Böhler-Auras hat mir zu Beginn meiner Recherchen das umfangreiche erste Typoskript des 5. Bandes der KGA zur Verfügung gestellt. Maria Popitz war so freundlich und hat mir im April 2016 ausführlich über die Beziehung zwischen ihrem Mann Heinrich Popitz und Hans Jonas berichtet. Prof. Dr. Holger Burckhart und Prof. Dr. Michael Bongardt haben das Entstehen dieser biografischen Annäherung an Hans Jonas stets mit Rat und Tat begleitet. Dr. Christian Wolfsberger und Ilona Gerhards vom Stadtarchiv Mönchengladbach waren mir eine große Hilfe bei der Recherche über das Verhältnis von Hans Jonas zu seiner Geburtsstadt. Prof. Dr. Dieter Lohmar vom Husserl-Archiv Köln hat mir dankenswerterweise Hinweise zur Beziehung zwischen Jonas und Husserl gegeben. Martin Falbisoner und Bärbel Bestler (Konrad-Adenauer-Stiftung) haben mich umfassend mit Presseartikeln über New York und Biotechnologie versorgt. Dr. Jochen Dreher vom Sozialwissenschaftlichen Archiv der Universität Konstanz hat mir aus dem Nachlass von Heinrich Popitz die Hans Jonas betreffenden Fundstücke zur Verfügung gestellt. Dr. Ralf Seidel (Mönchengladbach) und Markus Lingen (Pulheim) waren unschätzbar wertvolle Gesprächspartner im Hinblick auf die Person Hans Jonas. Prof. Dr. Michael Quante danke ich für die Einladung zum XXXIII. Deutschen Kongress für Philosophie, auf dem ich zusammen mit den Kol-
DANK
legen Burckhart und Bongardt zu Hans Jonas vortragen durfte. Prof. Dr. Michael Hochgeschwender hat mich an die LMU München eingeladen, um zum Leben von Hans Jonas vorzutragen. Die von Prof. Dr. Gabriele Weiß ausgerichtete Tagung „Kulturelle Bildung – Bildende Kultur“ an der Universität Siegen bot mir ebenso einen Rahmen, Hans Jonas’ Anthropologie vorzustellen. Zudem hat mir Prof. Dr. Gerhard Hufnagel das „Forum Siegen“ als Diskussionsplattform zur Verfügung gestellt. Schließlich haben mich Prof. Dr. Efraim Inbar und Prof. Dr. Joachim Krause nach Tel Aviv eingeladen, um über die deutsch-israelischen Beziehungen zu referieren. Die Kolleginnen und Kollegen unseres Siegener Kolloquiums haben den Siegener Jonas-Diskurs unendlich bereichert: Prof. Dr. John-Stewart Gordon, Francisco Tibaldeo, Francisco Quesada Rodriguez, Dr. Eva Buddeberg, Prof. Dr. Kristian Köchy, Francesca Michelini, Prof. Dr. Jan C. Schmidt, Petr Frantik, Dr. Andreas Großmann, Prof. Dr. Wolfgang E. Müller und Pascal-Marie Rushura. Anna Doblun war bei der Erstellung des Namenregisters, Sylvie Borel beim Übersetzen längerer Text-Passagen aus dem Französischen behilflich, Jessica Gröber hat das Manuskript Korrektur gelesen. Prof. Dr. Rémi Brague und Prof. Dr. Jürgen Habermas waren so freundlich, mir Einsicht in ihren Briefwechsel mit Hans Jonas zu gestatten. Prof. Dr. Walther Chr. Zimmerli und Prof. Dr. Vittorio Hösle haben mir offene Fragen zu Hans Jonas beantwortet. Vittorio Hösle danke ich ganz besonders für das rasche Verfassen des Credentials auf dem Buchrücken. Fabio Fossa hat mich in unserer Konstanzer Woche mit italienischen Arbeiten zu Hans Jonas vertraut gemacht. Prof. Dr. Arndt Werner hat mir in ungezählten Auto-Stunden zwischen Köln und Siegen den Gründergeist dargelegt und mir Literaturhinweise zum Generationenverhältnis von Unternehmerfamilien gegeben. Dass der wissenschaftliche Ertrag dieser Forschungen in diesem Buch dennoch gering ist, liegt ganz allein an mir und meinem begrenzten Horizont in ökonomischen Fragen. Marita Friedrich hat die Arbeit am Hans Jonas-Institut durch ihren unermüdlichen Einsatz und ihr Organisationstalent überhaupt erst möglich gemacht. Dr. Thomas Brockmann (WBG) hat mir einige wertvolle Hinweise zum besseren Leseverständnis des Textes gegeben. Ohne Katja, Ole und Matti wäre ohnehin alles unmöglich: Danke!
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LITERATUR
I. Archivmaterial
1. Nachlass Hans Jonas. Philosophisches Archiv der Universität Konstanz (Offizielle Nomenklatur: HJ) 2. Sammlung Hans Jonas. Stadtarchiv Mönchengladbach (StAMg) 3. Nachlass Heinrich Popitz. Sozialwissenschaftliches Archiv der Universität Konstanz (HP) 4. Pressearchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung (ACDP-PA) Hinweis: Die Faszikel (HJ und StaMg) werden hier nicht im Einzelnen aufgelistet. Genauere Bestimmungen finden sich in den entsprechenden Fußnoten. Eine detaillierte Verzeichnung des Nachlasses von Heinrich Popitz war zur Zeit der Einsichtnahme noch nicht vollständig abgeschlossen. Die Signatur lautet: HP 14.4.2 und 14.3.3 sowie 10.7.1. Das Findbuch des Nachlasses von Hans Jonas ist über die Seiten des Philosophischen Archivs der Universität Konstanz einsehbar. Einzelne Presseartikel mit Autorennamen sind unter Abschnitt IV aufgeführt.
II. Kritische Gesamtausgabe der Schriften von Hans Jonas (KGA), hg. von Dietrich Böhler, Michael Bongardt, Holger Burckhart, Christian Wiese und Walther Ch. Zimmerli
Hinweis: Die KGA waren bei Fertigstellung des Manuskripts noch nicht vollständig erschienen. Alle bis dato erschienenen Bände werden hier aufgeführt. I/1: Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der Lebenswissenschaften. Hg. von Horst Gronke. Freiburg 2010. I/2a: Das Prinzip Verantwortung. Erster Teilband: Grundlegung. Hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Hermann. Freiburg 2015. I/2b: Das Prinzip Verantwortung. Zweiter Teilband: Aktualität und Tragweite einer Zukunftsethik. Hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Hermann. Freiburg 2017. II/2: Ontologische und wissenschaftliche Revolution. Ontological and Scientific Revolution. Hg. von Jens-Peter Brune. Freiburg 2013. II/3: Leben und Organismus. Hg. von Jens Peter Brune und Jens Ole Beckers. Freiburg 2016. III/1: Metaphysische, religions- und kulturphilosophische Schriften. Hg. von Michael Bongardt, Udo Lenzig, Wolfgang Erich Müller. Freiburg 2014. III/2: Herausforderungen und Profile. Jüdisch-deutscher Geist in der Zeit – gegen die Zeit. Hg. von Sebastian Lalla, Florian Preußger und Dietrich Böhler. Freiburg 2013.
III. Verwendete Schriften von Hans Jonas (in alphabetischer Reihung)
1. Abituraufsatz. In: Stadtarchiv Mönchengladbach, NL Hans Jonas, 14/3490 Familiengeschichte resp. 17/607 Reifeprüfung. 2. Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt a.M. 1997. 3. Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. 1984.
LITERATUR
4. Das Schulwesen in Palästina. HJ 13-17-1. Gekürzte Fassung in Gerhard Holdheim: Zionistisches Handbuch. Berlin 1923, S. 351-358. Der gesamte Abdruck nun in KGA III/2, S. 19-54. 5. Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Frankfurt a.M. 1993. 6. Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt a.M. 1984. 7. Deutschland – Herbst 1945 (Deutschland 1945 – ein Augenzeugenbericht), HJ 1340-30. 8. Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten. Zuerst in: Jüdische Jugend, hg. vom KJV Berlin. Berlin 1922. Jetzt in: KGA III/2, S. 3-17. 9. Die origenistische Spekulation und die Mystik. In: Theologische Zeitschrift 5/49, S. 2445. 10. Erinnerungen, hg. von Christian Wiese. Frankfurt a.M. 2003. 11. Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann. Göttingen 1991. 12. Gnosis und spätantiker Geist. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Zweite Auflage, Göttingen 1966. 13. Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. und übersetzt von Christian Wiese. Frankfurt a.M. und Leipzig 1999. 14. Handeln, Erkennen, Denken. Zu Hannah Arendts philosophischem Werk. In: Merkur 341, 30. Jg., Oktober 1976, S. 921-935. Wiederabgedruckt in KGA III/2, S. 259-275. 15. Hannah Arendt 1906-1975. In: Social Research Spring 1976, S. 3 et passim. Vgl. HJ 16-16-7, Typoskript der Rede in Kopie. 16. Heidegger und die Theologie. In: KGA Bd. III/2. Herausforderungen und Profile. Jüdisch-deutscher Geist in der Zeit – gegen die Zeit, S. 225-258. Original in: Heidegger and Theology, Review of Metaphysics 18/2 (1964), S. 207-233. 17. Husserl und Heidegger. In: KGA III/2, S. 205-224. 18. Im Gespräch mit Herlinde Koelbl, KGA II/2. 19. Im Gespräch mit Wolf Scheller: „Voraussetzung für Verantwortung ist die Freiheit der Tat.“. In: Der Tagesspiegel vom 07.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. 20. Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes. In: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen 1987, S. 47-75. Erstmals Tübingen 1977. 21. Macht und Ohnmacht der Subjektivität. Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M. 1987. 22. Materie, Geist und Schöpfung. Frankfurt a.M. 1988. 23. On the Firing Line. Zuerst in: The Hebrew Union College Monthly for January 1943. 24. Origines’ Peri Archon – ein System patristischer Gnosis. In: Theologische Zeitschrift 5/49, S. 101-119. 25. Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a.M. 1992 (1994). 26. Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung. In: Dietrich Böhler (Hg.): Hans Jonas. Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend. Münster, S. 141-152. 27. Rechte, Recht und Ethik: Wie erwidern sie auf das Angebot neuer Fortpflanzungstechniken? In: HJ 5-16. 28. Religious Implications of Warlessness. In: HJ 1-7-16 sowie in veränderter Fassung in: KGA III/1, S. 427-444. 29. Responsibility Today: The Ethics of Endangered Future, in: Social Research 43.1. Cambden 1976. 30. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993. 31. Technik Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a.M. 1987.
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LITERATUR
32. Technology and Responsibility: Reflections on the new tasks of Ethics. In: Social Research 40.1, Cambden 1973, S. 31-54. 33. The Practical Uses of Theory. In: Social Research 1984, Vol. 51.1, S. 65-90. Reprint des Aufsatzes aus Vol. 26 Nr. 2 (1959). Deutsch: Vom praktischen Gebrauch der Theorie. In: Das Prinzip Leben. Frankfurt a.M. 1997, S. 311-341. 34. Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen. In: Ders.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a.M. 1994, S. 34-49. Der Artikel erschien auf Deutsch zunächst in: Scheidewege 15, 1985/86, S. 47-58. 35. Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen 1987. 36. Yiscor. In: KGA III/2, S. 81-96. 37. Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen. Göttingen 1987.
IV. Zitierte Zeitungsartikel
Hinweis: Aufgeführt werden hier nur die Artikel, bei denen der Autor/die Autorin genannt wird. Pressemeldungen ohne Autorennamen sind zwar in den Fußnoten angeführt, bleiben hier aber unberücksichtigt. Adam, Konrad: „Natur als Einheit denken“ und „Die Pflicht zur freiwilligen Selbstbeschränkung“. In: FAZ vom 12.10.1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. Adam, Konrad: Biologie als Schicksal? In: FAZ vom 14.05.1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Adam, Konrad: Mit franziskanischer Gebärde. Wider die Tollheit des Nihilismus. In: FAZ vom 08.02. 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Becker Horst M.: Im Gespräch mit Ralf Seidel: Jonas-Jahr zum 100. Geburtstag. In: Westdeutsche Zeitung vom 14.01. 2003. StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Böhler, Dietrich: „Im Zweifel für unsere Verantwortungspflicht“. Interview in der Rheinischen Post vom 05.02. 2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Brock, Dan W.: Auch ein Klon ist frei geboren. In: Die Zeit vom 19.08.2004. ACDP Pressearchiv. Brose, Thomas: Schrecklich unsterblich. In: Rheinischer Merkur vom 03.01.2008. ACDP Pressearchiv. Brumlik, Micha: Revolte wider die Weltflucht. In: Frankfurter Rundschau vom 08.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Brumlik, Micha: Schloß wird zu Schlüssel und Schlüssel zu Schloß. Hans Jonas und die Botschaft des fremden Gottes. In: Die Welt vom 24.07.1999. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Dönhoff, Marion Gräfin: Versuch einer neuen Ethik. In: Die Zeit vom 12.02.1993. Geyer, Christian: Die Welt ist für mich niemals ein feindlicher Ort gewesen. In: FAZ vom 18.03.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Grimm, Rudolf: Auf den Spuren eines Bewußtseinswandels. In: Rheinische Post vom 27.05.1988. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342 Band 1. Haase, Marlis: Kampf für das Leben in Würde. In: Welt am Sonntag vom 07.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Hoenig, Matthias: Warner vor dem Fortschritt. In: Offenburger Tageblatt vom 06.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Hoffmans, Christian: Kultur-Highlights. In: Welt am Sonntag vom 04.05.2003. StAMg HansJonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Holstein, Philipp: Was für morgen lebenswichtig ist. In: Niederrheinische Blätter vom 17.09.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490.
LITERATUR
Jacobi, Johannes: Raum ohne Volk. In: Die Zeit Nr. 12, 23.03.1950. Kaim-Grüneisen, Barbara: Bitte kein Schnellschuss! StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaim-Grüneisen, Barbara: Bürger feiern den Ehrenbürger. In: Rheinische Post vom 21.02.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaim-Grüneisen, Barbara: Ein Freund der Stadt, StAMg, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaim-Grüneisen, Barbara: Ein ganz gewöhnlicher Schüler. In: Rheinische Post vom 07.05.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaumanns, Armin: Die Furcht der Zuversicht. In: Westdeutsche Zeitung vom 10.05.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaumanns, Armin: Für strahlenden Philosophen Paket geschnürt. In: Westdeutsche Zeitung vom 22.02.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kaumanns, Armin: Jonas für alle in der Welt. In: Westdeutsche Zeitung vom 07.05.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Königs, Sabine: Das Prinzip Erinnerung. In: Niederrheinische Blätter 2/2003. StAMg HansJonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kremer, Hildegard: Das »Prinzip Verantwortung«. In: Der Weg vom 05.09.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Kuenheim, Haug von: Sorge muß das Handeln leiten. In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12.10.1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. Kurz, Paul Konrad: Die Welt ist Eins. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt 41 vom 09.10.1987. StAMg Sammlung Hans Jonas 15/42/342. Maier, Hans: Kundschafter im Niemandsland der Ethik. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Preisverleihung 1987. „Natur als Einheit denken“ und „Die Pflicht zur freiwilligen Selbstbeschränkung“. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. Manzei, Alexandra: Welche Medizin wollen wir? In: Frankfurter Rundschau vom 27.10.2010. ACDP Pressearchiv. Meichsner, Irene: Ein Philosoph von Weltgeltung. In: Westdeutsche Zeitung vom 28.09.1983. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. Meyer, Martin: Ein mögliches Vermächtnis. Hans Jonas’ philosophischer Ausblick. In: NZZ vom 14.05.1993, Fernausgabe Nr. 109, S. 39. Zitiert nach: Stadtarchiv Mönchengladbach, Sammlung Hans Jonas 14/3490. Michels, Helmut: Marke trägt Jonas’ Worte in die Welt. In: Rheinische Post vom 07.05.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Miesen, Karl-Jürgen: Ruf zur Bescheidenheit. In: Rheinische Post Mönchengladbach vom 12.10. 1987. StAMg Mönchengladbach Pressespiegel Sonderausgabe 14/3490. Möller, Helmut: Wer Verantwortung haben kann, der hat sie. In: Rheinische Post vom 06.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Nirenberg, David: Choosing Life. In: The New Republic, November 5, 2008, S. 39. Peters, Freia: Alles gegeben. In: Welt am Sonntag vom 13.01. 2013. ACDP Pressearchiv. Pontzen, Angela: Kardinal gab Auftrag zum Weiterdenken. In: Stadtspiegel vom 16.07.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Richerdt, Dirk: Dialoge zum Prinzip Zukunft. In: Rheinische Post vom 10.09.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Richerdt, Dirk: Die Zukunft ist noch nicht entschieden. In: Rheinische Post vom 20.09.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Richerdt, Dirk: Marke Verantwortung: Jonas für die große Sendung. In: Rheinische Post vom 07.05.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Rifkin ,Jeremy: Der embryonale Marktplatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.04.2001. ACDP Pressearchiv.
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LITERATUR
Rosenfelder, Andreas: Zum Guten. In: FAZ vom 14.07.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Sahm, Stephan: Ist die Organspende noch zu retten? In: FAZ vom 14.09.2010. ACDP Pressearchiv. Salamander, Rachel: „Donnerwetter, so?, so?“ In: Die Welt vom 12.04.2003. StAMg HansJonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Sattler, Stephan: Dreigestirn des Geistes. In: Focus vom 05.11.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Scheller, Wolf: Fernethiker. In: Der Tagesspiegel vom 06.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Schirrmacher, Frank: Dürftige Hoffnung, daß die Menschen anderes wollten als ihren Untergang. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Preisverleihung 1987. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. Schröder, Julia: Als ob es eine Chance gäbe. In: Stuttgarter Zeitung vom 06.02. 1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Schröder, Richard: Was Forschung darf. In: Der Tagesspiegel vom 04.08.2002. ACDP Pressearchiv. Seidel, Ralf: Hans Jonas. Sein Prinzip hieß Verantwortung. In: Rheinische Post vom 31.12.2002. StAMg: Hans Jonas-Jahr 2003, Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Spaemann, Robert: Gezeugt, nicht gemacht. In: Die Zeit vom 18.01.2001. ACDP Pressearchiv. Strauß, Botho: Wollt ihr das totale Engineering? In: Die Zeit vom 20.12.2000. ACDP Pressearchiv. Vogt, Markus: Alter Meister – für die Gegenwart betrachtet. In: Rheinische Post vom 22.09.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Vogt, Markus: Denken aus einem Guss. In: Rheinische Post vom 06.06.2003. StAMg HansJonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Wehowsky, Stephan: Das Menschliche in Zeiten der Krise. In: SZ vom 10.10.1987. StAMg, Friedenspreis Mönchengladbach Pressespiegel 14/3490. Wehowsky, Stephan: Mut zur Verantwortung. In: SZ vom 08.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Wenzel, Uwe Justus: Verantwortung – und Hoffnung. In: Neue Zürcher Zeitung vom 09.02.1993. Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Werner, Jürgen: Von der Macht des Guten: Der Philosoph Hans Jonas. In: FAZ Magazin 500 vom 29.09.1989. StAMg Sammlung Hans Jonas 3490, Biographisches in MG. Willems, Sophia: Beim ersten Schritt sind wir noch frei. In: Westdeutsche Zeitung vom 12.07.2003. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Willems, Sophia: Im Gespräch mit Ralf Seidel. „Staunen und das Leben lieben lernen“. StAMg Hans-Jonas-Jahr Pressespiegel 14/3490. Wilmes, Hartmut: Menschen müssen Macht und Genuß zügeln. In: Bonner Rundschau vom 06.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490. Winnacker, Ernst-Ludwig: Die Genforschung ist wie ein Schachspiel. In: Die Welt vom 06.07.2001. ACDP Pressearchiv. Zimmerli, Walther Chr.: Wenn die Schöpfung scheitert. In: Die Welt vom 06.02.1993. StAMg Nachrufe Pressespiegel 14/3490.
V. Weitere verwendete Zeitschriften
Alter. Revue de Phénoménologie No. 22/2014 Der Aufbau 2, 9/46 Der Spiegel 22/88
LITERATUR
Der Spiegel 26/59 Études Phénoménologiques No. 33-34/2001 Husserliana IX Jüdische Rundschau 32/1914 Measure 2 Metaphysics 18/2 (1964) Neue Rundschau, 3/74 Paradigmi. Rivista di critica filosofia 66/2004 Philosophy and Phenomenological Research 14 Ragion Pratica 27/2006 Ragion Pratica 15/2000 Social Research 29 The Journal of Philosophy 47 University of Toronto Quaterly 21
VI. Sonstige Literatur
Hinweis: Auf Seitenangaben wird hier verzichtet. Die Angaben tauchen an den entsprechenden Stellen in den Fußnoten auf. Adorno, Theodor W./Gershom Scholem: Briefwechsel. „Der liebe Gott wohnt im Detail“ 1939-1969. Hg. von Asaf Angermann. Frankfurt a.M. 2015. Adorno, Theodor W.: „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 10.2. Frankfurt a.M. 1977. Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a.M. 1964. Adorno, Theodor W.: Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung. In: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 10.2: Eingriffe. Frankfurt a.M. 2003. Aland, Barbara: Gnosis. Festschrift für Hans Jonas. Göttingen 1978. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956. Annual Report on the Economics and Demographic Trends in the Industrial Countries of Western Europe and USA up to 1990. Apel, Karl-Otto /Paolo Becchi/Paul Ricœur: Hans Jonas. Il filosofo e la responsibilità. Mailand 2004. Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1973. Arendt, Hannah/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975. Frankfurt a.M. 2002. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2014 (1964). Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Berlin 1991. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 1970. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2006. Arendt, Hannah: Über die Revolution. München 2011. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2002. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken/Das Wollen. München 1998. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 1985.
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VII. Internetquellen Baumgarten, Albert I.: Elias Bickerman and Hans (Yohanan) Lewy : The Story of a Friendship. In: http://anabases.revues.org/1764#ftn1. (Abruf: 6. März 2015). Neitzel, Sönke: Der historische Ort des Ersten Weltkriegs in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: http://www.bpb.de/apuz/182560/der-historische-ort-des-ersten-weltkrieges-in-der-gewaltgeschichte-des-20-jahrhunderts?p=all (Abruf: 15. Januar 2015). Lingen, Markus: Katholische Kirche und Deutsches Reich unterzeichnen Reichskonkordat. In: www.kas.de/wf/de/191.5739/. (Abruf: 26. August 2015). Overhoff, Frank: Juden im Niederbergischen. Namen, Erinnerungen, Bibliografie. Online-Dokumentation 2010. In: bgv-velbert.dvs.net/cms/daten/Juden-im-Niederbergischen-Zweite-erweiterte-Auflage-2012.pdf. (Abruf: 26. August 2015). Promotionsakte Paula Odenheimer, 1914. UAM, M-II-38p. In: www.universitaetsarchiv. uni-muenchen.de/monatsstueck/2014/dezember14/index.html. (Abruf: 12. März 2016). Stammtafel der Familie Horowitz: http://www.ics.uci.edu/~dan/genealogy/Krakow/Families/Horowitz.html (Abruf: 10. Juni 2015.) UN World Commission on Environment and Development, A42/427: Our common Future, 4. August 1987. In: http://www.un-documents.net/a42-427.htm. (Abruf 15. Dezember 2015). Vereinte Nationen: Transforming the world: http://www.un.org/sustainabledevelopment/blog/2015/08/transforming-our-world-document-adoption/. (Abruf: 10. Januar 2016). ZDF Programmübersicht: www.tvprogramme.net/80/1982/19820711.htm (Abruf am 10. Juni 2015).
NAMENREGISTER Hinweis: Hans Jonas selbst ist im Register nicht aufgeführt. Ebenso wird darauf verzichtet, die Namen in den Fußnoten hier gesondert aufzulisten. Adam, Konrad 190 Adenauer, Konrad 125ff., 184 Adorno, Theodor W. 117, 130, 134ff., 188f., 195, 198f., 269f. Afeissa, Hicham-Stéphane 308 Agnelli, Susanna 163 Ahasver 35 Al-Athel, Saleh A. 163 Aldo, Leopold 317 Alexander der Große 214, 242 Alexander III. 36 Alexander, Harold 79 Anders, Günther 79, 102, 117, 122, 156f., 159, 163, 175f., 212, 309 Anderson, Michael 276 Apel, Karl-Otto 173, 188, 299ff., 305, 308, 310f. Aquin, Thomas von 115 Arendt, Hannah 13, 15, 25, 48, 51f., 55, 62, 76, 93, 99, 104, 108, 117, 122ff., 130, 142, 144ff., 150, 153ff., 201, 217f., 223f., 265, 270, 283, 308 Aristoteles 115f., 199, 215f., 232f., 236, 240, 247, 312 Augustinus 85, 138, 233 Bab, Julius 32 Bacon, Francis 115f., 211, 248f., 315, Baeck, Leo 7, 25, 45, 84, 93, 123, 168 Balfour, Arthur James Earl of 39f., 66 Baneth, Eduard 45 Barcaro, Rosangela 310 Baron, Salo W. 40, 153 Barth, Karl 132 Bartsch, Monika 207 Becchi, Paolo 309ff. Beck, Ulrich 165ff., 173f., 244, 208, 316 Beecher, Henry Knowles 158 Beethoven, Ludwig van 76 Begin, Menachem 127 Bell, Daniel 273
Bemporad, Jack 140f. Ben Gurion, David 123, 126f. Benn, Gottfried 32 Bergmann, Hugo 70,99 Bergson, Henri 29, 85, 176 Berlin, Isaiah 100 Bertalanffy, Ludwig von 94f., 98, 311 Bimbenet, Etienne 308 Birnbaum, Nathan 36 Bloch, Ernst 81, 134, 188, 195, 222, 241, 249, 258, 260f., 264, 287, 289f., 295, 302, 309 Blücher, Heinrich 108, 154 Blumenberg, Hans 15, 101ff., 112ff., 119 Blumenfeld, Kurt 51 Bodenheimer, Max 42 Böhler, Dietrich 177, 205, 299f., 302f., 305 Böhm, Franz 126 Bollnow, Otto Friedrich 136 Bonaldi, Claudio 311 Bonaparte, Napoleon 258 Bongardt, Michael 73, 141 Borghese Keene, Esther 309 Brague, Rémi 86, 306 Brandt, Willy 267 Brecht, Bertolt 253 Brock, Dan W. 203 Bröcker, Walter 48, 103, 112ff., 119 Bronnen, Arnold 32 Brumlik, Micha 198 Brundtland, Gro Harlem 163, 167 Bruneault, Frédérick 308 Brüning, Heinrich 57 Buber, Martin 25, 32, 37f., 40, 43, 61, 84, 86, 99, 281 Bubner, Rüdiger 168 Bultmann, Antje 155 Bultmann, Rudolf 48, 61, 117, 155f. Burckhart, Holger 16, 303ff. Burgeff, Hans-Karl 205
340
NAMENREGISTER
Callicott, J. Baird 317f. Cassirer, Ernst 86, 107 Catin, Emmanuel 309 Chargaff, Erwin 172 Cohn, Hans 75 Cohnen, Karl 31 Colm, Gerhard 107 Courtine-Denamy, Sylvie 308 Darwin, Charles 97, 162, 315 Däubler-Gmelin, Herta 171, 204 Depraz, Nathalie 309 Depré, Olivier 307 Descartes, René 94, 97, 99, 229, 314 Dönhoff, Marion Gräfin 9, 196 Drury, Allen 276 Ebbinghaus, Julius 47f., 81, 104 Eccles, John C. 172 Eichmann, Adolf 13, 122f., 127, 270 Einstein, Albert 176 Engels, Friedrich 136, 258 Erckens, Günther 83, 167, 169, 171 Erhard, Ludwig 127 Eshkol, Levi 127 Fadika, Lamine Mohammed 164 Fanon, Frantz 256 Feldhege, Heinz 184, 191 Ferdinand, Franz (Erzherzog) 26 Feuerring, Gertrud 147 Fichte, Johann Gottlieb 186f., 193 Fischer, Gertrud 55, 103 Flechtheim, Ossip K. 273 Fleischer, Richard 276 Forces, H.M. 73 Fossa, Fabio 312 Frank, Erich 146 Franz von Assisi 210 Franziskus (Papst) 208ff. Freud, Sigmund 59, 215 Friedrich III. 26 Friedrich, Carl Joachim 104 Friedrich, Tilde 90 Frogneux, Nathalie 306 Fuchs, Ernst 134 Fürst, Isidor 81, 128f. Gadamer, Hans-Georg 48, 104, 188
Gagarin, Juri 273 Garelli, Gianluca 311 Geis, Robert 280 Genscher, Hans-Dietrich 172 Geyer, Christian 185ff. Gies, Ludwig 205 Gobineau, Arthur de 37 Goethe, Johann Wolfgang von 77, 156, 212 Goldberg, Eckhard 206 Goldmann, Nahum 126 Goll, Yvan 32 Gould, Stephen Jay 199 Grabenhorst, Richard 46 Gray, Glenn 154 Greisch, Jean 306 Gurwitsch, Aron 93f. Guttmann, Julius 45 Habermas, Jürgen 170, 188, 299, 301, 305, 308 Hadrian (Kaiser) 34 Hallstein, Walter 126 Hamilton, William 139 Hauff, Volker 164 Heidegger, Martin 9f., 43, 48, 51f., 60, 77, 85, 87, 130ff., 142f., 146f., 153f., 156, 161, 176, 178, 186f., 191, 195, 214, 225, 232, 241, 295ff., 306, 308f., 311 Heimpel, Hermann 269 Heine, Heinrich 7, 32 Heller, Hermann 107 Hellman, Robert 91 Hermann, Ingo 184 Herz, John 172 Herzberger, Flora 80 Herzl, Theodor 36f., 42, 86 Heymann, Celestine 24 Hitler, Adolf 32, 55ff., 60, 73, 77, 82, 96, 106, 125, 177, 195 Hobbes, Thomas 86, 200 Hobsbawm, Eric 27 Hofmann, Albert 266 Holmes, Rolston III. 317 Homer 142 Horkheimer, Max 134 Horn, Eva 272, 274 Horowitz, Hans 79f. Horowitz, Jakob 24 Horowitz, Kurt 24 Horowitz, Leo 71, 79, 89
NAMENREGISTER
Horowitz, Leopold 24 Horowitz, Marcus 24 Horowitz, Rosa 24f., 31, 67f., 71, 77, 109f., 128, 278 Hösle, Vittorio 294ff., 310 Hötzendorf, Franz Conrad von 28 Husserl, Edmund 43f., 47, 51, 69f., 176, 232, 308 Huxley, Aldous 227 Ihde, John 157 Jabotinsky, Vladimir 66 Jäger, Werner 64, 93 Jankélévitch, Vladimir 125 Jaud, Jean Paul 308 Jauß, Hans Robert 138 Jernensky, Moshe Elijahu 67, 70 Jesus 35, 139, 221 Johnson, Alvin 106f., 130, 150 Jolly, Eduard 309 Jonas, Alfred Abraham 22, 71 Jonas, Ayalah 15, 75, 77, 89, 109ff., 159 Jonas, Benjamin 20ff., 24, 35, 58 Jonas, Gabrielle 111f., 144 Jonas, Georg Adalbert 25, 31, 68, 70ff., 74ff., 84, 128, 147f. Jonas, Gerald 16, 22f., 60, 72, 77, 91f., 104, 128f. Jonas, Gustav 22, 24f., 38, 58, 66f. Jonas, Herz 21f. Jonas, Hilda (Hilde) 92f. Jonas, Jonas Benjamin 58 Jonas, Jonathan (John) 94, 149 Jonas, Lore (Weiner) 67ff., 74, 77f., 82f., 85, 87ff., 90, 111ff., 120, 130, 135, 144ff., 151ff., 159, 161, 169, 175f., 178f., 191, 206 Jünger, Ernst 62 Jungk, Robert 273 Kahn, Hermann 273 Kajon, Irene 310 Kant, Immanuel 32, 45, 47, 84, 94, 96, 197, 201, 215f., 219, 223, 230, 237ff., 244, 282, 292, 296, 303 Kass, Leon 312, 316 Kästner, Erich 59 Kennan, George 271 Kennedy, John F. 122 Kettler, David 154
Khalid, Mansour 163 Klein, Jacob 86 Klüger, Ruth 56 Kochba, Simon bar 34 Kozlowski, Leo 160 Kozlowski, Peter 160 Kracauer, Siegfried 134 Kreuzer, Philipp 160 Krieger, Leonard 154 Krings, Hermann 160 Krings, Mechthild 167 Krojanker, Gustav 72 Kuhlmann, Wolfgang 299, 303 Kuhn, Helmut 120 Kühn, Karl 206 Kunert, Ernst Dieter 206 Küng, Hans 36 Landauer, Georg 42f., 72 Landgrebe, Ludwig 101, 112ff. Larrère, Catherine 308f. Lederer, Emil 107 Lehmann, Karl (Kardinal) 192, 207 Leibniz, Gottfried Wilhelm 231 Lenin, Wladimir I. 96, 242 Lersch, Edgar 31 Lersch, Heinrich 31f., 193, 195 Levi, Primo 82 Levinas, Emmanuel 308 Levy, David J. 312ff. Lewy, Hans 64 Lichtheim, George 63ff., 87f., 96, 100 Lifton, Robert 172 Lindsay, John 106 Loeb, Eda Kuhn 134 Loeb, Salomon 134 Lories, Danielle 307 Löw, Reinhard 160 Lowe, Adolph 107, 130 Löwenstein, Julie 20 Löwith, Karl 48, 60, 92, 99, 108, 132 Lucas, Franz D. 168 Lucas, Leopold 168 Lüneborg, Hans 80 Luria, Isaak 279 Macdonald, Nancy 150 Magnus, Trude 111 Magnus, Wilhelm 111
341
342
NAMENREGISTER
Maier, Hans 196 Mann, Thomas 48, 50, 59 Mannheim, Karl 55, 107 Marr, Wilhelm 37 Marx, Karl 136, 145, 258ff. McCarthy, Mary 150 McIntyre, Alasdair 158 McKenny, Gerald 315f. Meichsner, Irene 192 Meier, Christian 269 Melvilles, Hermann 201 Mendelssohn, Moses 296 Menze, Lutz 206 Meyer, Eduard 45, 64 Meyer, Martin 12, 185, 188 Michelis, Angela 311 Morgan, Conwy Lloyd 235 Morgenthau, Hans J. 154 Morris, Theresa 294, 314ff. Moses, Siegfried 74 Müller-Doohm, Stefan 135 Müller, Friedrich 104 Nachmansohn, David 104 Nebel, Gerhard 62, 120, 122 Nebusaradan 34 Nehari, Zeev (Willy Weisbach) 83 Nepi, Paolo 310 Neumann, Emanuel 63 Niakan, Kathy 204 Nietzsche, Friedrich 138f., 176, 251f. Nirenberg, David 35, 188 Nixon, Richard 266 Nolte, Ernst 141, 170 Norden, Eduard 64f. Ott, Heinrich 131, 133 Papen, Franz von 58 Paul VI. (Papst) 266 Peres, Simon 67, 126 Petri, Elfriede 51 Phelps, John B. 273 Philipp von Makedonien 241f. Philo von Alexandrien 54 Piketty, Thomas 252f. Platon 200, 229, 238, 244 Plotin 68, 70, 120 Polotsky, Jacob 49f., 65
Pommier, Éric 307ff., 312 Popitz, Heinrich 144ff., 148, 155, 161, 176, 214 Popitz, Johannes 144 Popitz, Maria 144f., 148 Portinaro, Paolo 309 Preuß, Hugo 58 Prigogine, Ilya 172 Primor, Avi 62 Princip, Gavrilo 27 Quispel, Gilles 158 Radbruch, Gustav 107 Rawls, John 275f. Rickert, Heinrich 44 Ricœr, Paul 148, 308, 310 Rifkin, Jeremy 203 Ritter, Joachim 195 Rödder, Andreas 161 Rodgers, Daniel T. 275 Rodrigues de Costa, Regenaldo 308 Rosenblüth, Annie 61 Rosenblüth, Felix 61, 74 Rosenstock-Huessy, Eugen 136 Rosenzweig, Franz 25, 136, 281 Rothschild, Edmund de 36 Rothschild, Lord Lionel Walter 39 Rubio, Roberto 309 Ruprecht, Hellmut 53f., 81, 108 Rushura, Marie Pascal 306 Rüstow, Alexander 15, 118 Rutschky, Michael 272 Sachs, Adalbert 27f. Salamander, Rachel 185, 187, 190 Sambursky, Hans 65 Sambursky, Miriam 99 Scheller, Wolf 188, 197 Schelling, Friedrich W. 85, 212 Schiller, Friedrich 32 Schirrmacher, Frank 185, 198f. Schmidt, Helmut 182 Schmitt, Carl 200 Schoeps, Hans-Joachim 138 Scholem, Fanja 64, 67, 161 Scholem, Gershom 13ff., 46, 49f., 55, 61, 63ff., 68, 70, 72, 94f., 99ff., 117, 158, 161, 279, 281 Schröder, Gerhard 127
NAMENREGISTER
Schröder, Richard 204 Schulte, Christoph 279 Schulz, Walter 133 Schurz, Wilhelm 31 Schütte, Ernst 119 Schwabe, Moshe 99f. Seidel, Ralf 193 Seligmann, Julie 56 Sellin, Ernst 45 Sensburg 129 Shaftesbury, Anthony A.-C. Earl of 212 Shelley, Mary 212 Shklar, Judith 154 Simon, Hans 108 Simon, Heinz 74, 80 Simon, Liesel 80 Skinner, B.F. 158 Sloterdijk, Peter 308 Sokrates 139, 243 Sölle, Dorothee 139 Sontheimer, Kurt 267 Spaemann, Robert 160, 182f., 203 Spicker, Stuart 157 Spinelli, Emidio 310 Spinoza, Baruch de 86, 308, 312 Spranger, Eduard 45 Staudinger, Elisabeth 87, 91 Staudinger, Hans 87, 144, 149 Stern, Fritz 168 Sternberger, Dolf 15, 52, 81, 84, 157, 171 Stirner, Max 136 Strauß, Botho 204 Strauß, Franz Josef 126 Strauss, Leo 15f., 48, 61, 86f., 93, 107, 130 Strong, Maurice 172 Tanguy, Daniel 86 Taubes, Jacob 14, 92, 161 Täubler, Eugen 45 Taylor, Paul W. 317f. Theis, Robert 309 Tibaldeo, Roberto Franzini 308, 312 Tillich, Paul 52 Torczyner, Harry 45 Tramer, Hans 84 Treitschke, Heinrich von 36 Troeltsch, Ernst 45 Trumbull, Douglas 276 Tucholsky, Kurt 59
Uexküll, Jakob von 217, 308 Unseld, Siegfried 157, 233 Urban II. (Papst) 34 Valentinus 118 Varela, Francisco 308 Vitus, Rudi 31, 59f., 71, 81, 83, 128, 139, 148, 151, 167 Vitus, Willi 71 Voegelin, Eric 95f., 118, 120, 162, 190 Volpi, Franco 310 Voltaire 200 Vossenkuhl, Wilhelm 160 Wachtendonk, Wilhelm 150 Walter, François 293 Wartenburg, Hans Yorck von 55 Wartenburg, Peter Graf von 55 Weber, Alfred 58 Weber, Max 58 Weiner, Franz Joseph 88 Weiner, Paula (Odenheimer) 87, 175 Weiner, Siegfried 175 Weizsäcker, Carl Friedrich von 172, 274 Weltsch, Robert 40, 59, 72 Werfel, Franz 32, 136 Wertheimer, Max 107 White, Howard B. 103 Whitehead, Alfred North 85, 96, 132, 143ff., 312 Wiener, Norbert 273 Wiese, Christian 10f., 13 Wilhelm II. 28 Winkelried, Arnold von 90 Winnacker, Ernst Ludwig 204 Wolff, Theodor 58 Wolffsohn, David 42 Wolin, Sheldon 154 Wolters, Gereon 178 Wunderlich, Frieda 107 Young-Bruehl, Elisabeth 51, 265 Zafrani, Avishag 309 Zimmerli, Walther Christoph 192, 268 Zweig, Stefan 32
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Über den Inhalt Hans Jonas (1903–1993) zählt zu den wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Sein Leben war geprägt von der Begegnung mit zahlreichen führenden Intellektuellen seiner Zeit – und von den Folgen der nationalsozialistischen Diktatur. Großgeworden war er noch im akademischen Milieu der Weimarer Zeit; bei Martin Heidegger wurde er 1928 promoviert. Dann kam die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die die vorgezeichneten akademischen Bahnen jäh unterbrach. Der Emigrant, dessen Mutter 1942 in Auschwitz ermordet wurde, diente im Zweiten Weltkrieg als britischer, dann im israelisch-arabischen Krieg von 1948 als israelischer Soldat. Seine akademische Karriere setzte Jonas danach in Kanada und den Vereinigten Staaten fort. Mit seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ (1979) wurde er weltweit bekannt.
Über den Autor Dr. Jürgen Nielsen-Sikora (geb. 1973) ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Stiftungsuniversität Hildesheim und Leiter des Hans-Jonas-Instituts der Universität Siegen.