126 48 38MB
German Pages 378 Year 1997
STEFAN MUCKEL
Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Alexander HoUerbach . Joser Isensee . Joseph Listl Wolfgang Loschelder • Hans Maier· Paul Mikat • Wolfgang Rüfner
Band 29
Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen
Von
Stefan Muckel
Duncker & Humblot · Berlin
Schriftleitung der Reihe "Staatskirchenrecht!iche Abhandlungen": Prof. Dr. Joseph List!, Lennestraße 15, D-531 13 Bonn
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einbeitsaufnahme Muckei, Stefan: Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung : die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen / von Stefan Muckel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen ; Bd. 29) ISBN 3-428-09077-2
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7247 ISBN 3-428-09077-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 1996 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Februar 1997 berücksichtigt werden. Danken möchte ich vor allem Herrn Prof. Dr. Wolfgang Rüfner. Er hat die Arbeit angeregt, sie in vielfältiger Weise gefördert und schließlich das Erstgutachten im Habilitationsverfahren erstellt. Als sein Assistent am Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln fand ich die Bedingungen vor, die das Entstehen der Arbeit überhaupt erst möglich gemacht haben. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Dr. Hartrnut Krüger, der mich immer wieder ermutigt hat, auf dem langen Weg zur Habilitation weiterzugehen, und der dann in kurzer Zeit das Zweitgutachten verfaßt und so einen schnellen Abschluß des Habilitationsverfahrens ermöglicht hat. Es erfüllt mich mit Freude, daß die Arbeit in der Reihe "Staatskirchenrechtliche Abhandlungen" erscheinen kann. Hierfür sei den Herausgebern der Reihe, namentlich Herrn Prof. Dr. Joseph Listl, herzlich gedankt. Ein Wort des Dankes gilt auch dem Bundesministerium des Inneren, das die Drucklegung der Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß gefördert hat. Kiel, 1. März 1997
Stefan Muckel
Für Petra
Inhaltsübersicht ERSTER TEIL Einführung und Problemübersicht 1. Kapitel: Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland ............... . 2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit. . . . . . . . . . . . . .
5
A. Die grundrechtliche Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
B. Das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften ..... ....... ..... ..... .......... ......... ................. .... ... ... .... .... .....
23
C. Fazit. .... .... ..... ..... ..... ..... ..... ..... .... . .... ... .... ....... .... .......... ...
23
ZWEITER TEIL Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug 3. Kapitel: Der Ausgangspunkt: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls.. .......... ............ .......... ....... ...... ................
27
A. Selbstbestimmung als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
B. Die Notwendigkeit des Ausgleichs von individueller Selbstbestimmung und staatlicher Gemeinwohlverantwortung ..................................................
28
C. Staatliche Gemeinwohlverantwortung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug ........ ; . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
4. Kapitel: Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht . . .
38
A. Die "staatliche Sicht" der Verfassungsinterpretation ................................
38
B. Gewährleistung religiöser Freiheit nach Maßgabe der Verfassung...................
41
C. Der begrenzte Nutzen außeIjuristischer Deutungsversuche. .........................
44
5. Kapitel: Grundrechtstheoretische Grundlagen ...............................
46
A. Die Ideologieanfälligkeit der Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
B. Die Wertetheorie der Grundrechte und das staatliche Letztentscheidungsrecht über die Reichweite religiöser Freiheit.. .... ......... ... .... .... ... . .. . ... . ........... ...
47
VIII
Inhaltsübersicht
C. Von der allgemeingültigen Grundrechtstheorie zur Multifunktionalität der Grundrechte..............................................................................
49
D. Die Grundrechte als sachlich begrenzte Verbürgungen........ . .......... . ..........
51
6. Kapitel: Die Bedeutung objektiv bestimmter Rechtsbegriffe für die Entfaltung der Verfassungsnormen .............................................
61
A. Die Konturierung des Schutzbereichs als Voraussetzung für die Entfaltung des Grundrechts........................................................................
61
B. Gefahren für die Entfaltung anderer verfassungsrechtlicher Positionen durch eine subjektivistische Interpretation der religiösen Freiheitsrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
C. Insbesondere: Die staatliche Verantwortung für Verfasssungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
7. Kapitel: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung. ...............................................................
71
A. Die Vieldeutigkeit des Neutralitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
B. Die religiös-weltanschauliche Neutralität als Basis und Grenze staatlicher Letztentscheidungsbefugnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
8. Kapitel: Religionsrechtliche Parität durch staatliche Letztentscheidung . . . . . . .
82
A. Die Gefahr der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
B. Parität als Motor des staatlichen Letztentscheidungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
9. Kapitel: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität................................................................
90
A. Souveränität als rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
B. Die moderne Souveränitätskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
C. Unverzichtbarkeit der Souveränität im Verfassungsstaat ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
D. Staatliche Souveränität und religiöse Freiheitsrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
10. Kapitel: Kein Widerspruch des staatlichen Letztentscheidungsrechts zum Toleranzgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 11. Kapitel: Zwischenergebnis: Staatliches Letztentscheidungsrecht und Letztentscheidungsgebot ................................................ 121 A. Staatliche Definitionsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
B. Staatliche Schrankenziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
Inhaltsübersicht
IX
DRITIER TEIL
Inhalt und Grenzen der verfassungsrechtIichen Garantien religiöser und weltanschaulicher Freiheit 12. Kapitel: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
125
A. Kein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
B. Die Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG..........................................
130
c.
Das Selbstbestimmungsrecht der Religions~ und der Weltanschauungsgemeinschaften ................................................................................. 181
D. Zwischenergebnis: Die verbleibende Bedeutung des religiösen Selbstverständnisses auf der Ebene des Schutzbereichs. .................................................. 195
13. Kapitel: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit..
196
A. Die Legitimität verfassungsimmanenter Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche . .
197
B. Keine allgemeine Grenze des Grundrechtsmißbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204
C. Das Gewaltverbot als Grenze der Grundrechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
D. Rechte Dritter als verfassungsimmanente Grenzen grundrechtlicher Freiheit........
215
E. Zwischenergebnis..................................................................
223
14. Kapitel: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte .... . ........ . ...... . ..
224
A. Die Schranken der Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
B. Die Schranken der Gewissensfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
C. Die Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
Schlußbemerkung ..............................................................
283
Zusammenfassende Thesen
284
Literaturverzeichnis
289
Sachverzeichnis ............................................... . . ...............
347
Inhaltsverzeichnis ERSTER TEIL Einführung und Problemübersicht 1. Kapitel: Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland ............... . 2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit. . . . . . . . . . . . . .
5
A. Die grundrechtliche Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
I. Das Verständnis religiös geprägter Rechtsbegriffe ..............................
5
1. Interpretationsschwierigkeiten in Rechtsprechung und Literatur .............
5
2. Die juristische Problematik .................................................
8
ll. Die geschützten Verhaltensweisen .............................................
13
1. Extensive Auslegung der religiösen Freiheitsrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .................................... :........
13
2. Versuche zur Eingrenzung des grundrechtlieh geschützten Betätigungsfeldes
14
3. Die Schranken der Religionsfreiheit ........................................ a) Kollisionen von Religionsfreiheit und einfachem Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abmilderung des Geltungsanspruchs einfachen Rechts ..................
16 17 20
ill. Verstärkung des Grundrechtsschutzes für religiös fundierte Interessen mit Hilfe der Gewissensfreiheit..........................................................
21
B. Das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften .................................................................................
23
c. Fazit... .... .... ..... ..... .......... .... .... ..... .... ...... ... ..... ..... .... .... ....
23
ZWEITER TEIL Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug 3. Kapitel: Der Ausgangspunkt: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls...............................................................
27
A. Selbstbestimmung als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
B. Die ~otwendigkeit des Ausgleichs von individueller Selbstbestimmung und staatlicher Gemeinwohlverantwortung .................................... : ..... "....
28
Inhaltsverzeichnis
XI
C. Staatliche Gemeinwohlverantwortung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug .........................................................
34
4. Kapitel: Methodische Vorgaben rür ein staatliches Letztentscheidungsrecht ..
38
A. Die "staatliche Sicht" der Verfassungsinterpretation ................................
38
B. Gewährleistung religiöser Freiheit nach Maßgabe der Verfassung...................
41
C. Der begrenzte Nutzen außeIjuristischer Deutungsversuche. .........................
44
5. Kapitel: Grundrechtstheoretische Grundlagen ...............................
46
A. Die Ideologieanfälligkeit der Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
B. Die Wertetheorie der Grundrechte und das staatliche Letztentscheidungsrecht über die Reichweite religiöser Freiheit. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
C. Von der allgemeingültigen Grundrechtstheorie zur Multifunktionalität der Grundrechte..............................................................................
49
D. Die Grundrechte als sachlich begrenzte Verbürgungen..............................
51
I. Kein pauschaler Freiheitsstatus ................................................
51
11. Kein allgemeines Gebot zur Maximierung der individuellen Freiheit...........
53
6. Kapitel: Die Bedeutung objektiv bestimmter Rechtsbegriffe für die Entfaltung der Verfassungsnonnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
A. Die Konturierung des Schutzbereichs als Voraussetzung für die Entfaltung des Grundrechts........................................................................
61
B. Gefahren für die Entfaltung anderer verfassungsrechtlicher Positionen durch eine subjektivistische Interpretation der religiösen Freiheitsrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
C. Insbesondere: Die staatliche Verantwortung für Verfasssungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
I. Gefahren für verfassungsrechtlich garantierte Positionen im Zuge der Veränderungen des religiösen Lebens ..................................................
64
11. Die staatliche Pflicht zum Sch1Jtze grundrechtlich garantierter Güter ...........
67
ill. Die staatliche Verantwortung für nicht grundrechtlieh geschützte Verfassungswerte ..... ..... ......... ..... .... ..... ..... ..... ............. .... .... .... ......
70
7. Kapitel: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung ......... ............ ..... .....................................
71
A. Die Vieldeutigkeit des Neutralitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
B. Die religiös-weltanschauliche Neutralität als Basis und Grenze staatlicher Letztentscheidungsbefugnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
XII
Inhaltsverzeichnis
8. Kapitel: Religionsrechtliche Parität durch staatliche Letztentscheidung . . . . . . .
82
A. Die Gefahr der UngleichbehandIung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
B. Parität als Motor des staatlichen Letztentscheidungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
9. Kapitel: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität................................................................
90
A. Souveränität als rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
B. Die moderne Souveränitätskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
c.
Unverzichtbarkeit der Souveränität im Verfassungsstaat .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
I. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ................................
97
11. Notwendigkeit und Legitimität staatlicher Souveränität ........................
99
ffi. Aktualität des Souveränitätsgedankens ......................................... 104
D. Staatliche Souveränität und religiöse Freiheitsrechte. . .... . . .. . . .... . ... . . .. . . .. . ...
106
I. Religion und Weltanschauung im Gesarntzusammenhang staatlicher Vorrangstellung über die Gesellschaft .................................................. 106 11. Die Souveränität als Pfeiler des staatlichen Letztentscheidungsrechts .. . . . . . . . . . 114
10. Kapitel: Kein Widerspruch des staatlichen Letztentscheidungsrechts zum Toleranzgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 11. Kapitel: Zwischenergebnis: Staatliches Letztentscheidungsrecht und Letztentscheidungsgebot .................................................... 121 A. Staatliche Definitionsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
B. Staatliche Schrankenziehung .......................................................
123
DRITTER TEIL
Inhalt und Grenzen der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser und weltanschaulicher Freiheit 12. Kapitel: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
125
A. Kein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit.................................
125
B. Die Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
I. Die verfassungsrechtlichen Begriffe der Religion und der Weltanschauung ..... 131 1. Inhaltliche Anforderungen an eine Religion oder Weltanschuung im Sinne des Grundgesetzes .......................................................... 131 2. Die Unterscheidung von Religion und Weltanschauung ..................... 135
Inhaltsverzeichnis
XIII
II. Glaubensfreiheit ............................................... .. ..... .. ....... 139 l. Freiheit der Gedanken ........................ .. ................... .. ....... 139
2. Die negative Glaubensfreiheit .............................................. 140 III. Bekenntnisfreiheit............................................................. 145 l. Schutz der Kundgabe religiöser Überzeugungen .................... . . . ..... 145
2. Die negative Bekenntnisfreiheit............................................. 147 IV. Religionsausübungsfreiheit .................................................... 148 l. Freiheit der Ausübung von Religion und Weltanschauung................... 148
2. Kein fest umrissener Begriff der Religionsausübung ........................ 149 3. Die negative Religionsausübungsfreiheit ....................... : . . . . . . . . . . . . 153 V. Gewissensfreiheit ...................................................... .. ...... 154 l. Abwehrrecht gegenüber aufgezwungenen Konflikten ....................... 154
2. Das Kriterium persönlicher Verantwortung.................................. 162 VI. Religiöse Vereinigungsfreiheit ................................................. 163 l. Keine einheitliche verfassungsrechtliche Grundlage für reIlgiös motivierte Personenvereinigungen und ihre Tatigkeit ................................... 163 a) Die Bildung von Religionsgemeinschaften .............................. 164 b) Die Bildung religiöser Vereine .......................................... 165
2. Die negative Vereinigungsfreiheit ........................................... 167 VII. Kollektive Religionsfreiheit.................................................... 169 1. Bekenntnis und Religionsausübung durch Personengemeinschaften ......... 169 2. Das Verhältnis von kollektiver Religionsfreiheit zum grundrechtlichen Schutz des einzelnen .................. '.. .. .. .. .. . .. . . .. .. . . . .. . .. .. .. .. .. . .. a) Der verfassungsrechtliche Status der Religionsgemeinschaft und der eines einzelnen Mitglieds ............................................... b) Keine Eingrenzung der Gewissensfreiheit von Außenseitern durch die Lehren von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ............ c) Kollektive positive Religionsfreiheit und individuelle negative Religionsfreiheit ..............................................................
170 171 175 176
C. Das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaf-
ten .................................................................................
181
I. Das Verhältnis des Selbstbestimmungsrechts zur grundrechtlichen Religionsfreiheit ........................................................................ 181 II. Der materielle Gehalt des Selbstbestimmungsrechts ............................ 184 l. Der Streit um den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts ...................... 184
2. Insbesondere: Die Thesen Joachim Wielands ................................ 186 3. Kein feststehender Bestand der vom Selbstbestimmungsrecht geschützten Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
m.
Die Träger des Selbstbestimmungsrechts .................................. .. .. . 192
Inhaltsverzeichnis
XIV
D. Zwischenergebnis: Die verbleibende Bedeutung des religiösen Selbstverständnisses auf der Ebene des Schutzbereichs. .................................................. 195
13. Kapitel: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit ..
196
A. Die Legitimität verfassungsimmanenter Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche . .
197
B. Keine allgemeine Grenze des Grundrechtsmißbrauchs ..............................
204
C. Das Gewaltverbot als Grenze der Grundrechtsausübung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
I. Kein Grundrechtsschutz für die gewaltsame Beseitigung der grundrechtlichen Ordnung ....................................................................... 206
11. Das Gewaltverbot als Grenze jeder Grundrechtsausübung ...................... 212 D. Rechte Dritter als verfassungsimmanente Grenzen grundrechtlicher Freiheit........
215
I. Die Menschenwürdegarantie und das Recht auf Leben als Grenzen grundrechtlicher Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 215 11. Die Anmaßung fremder Rechtspositionen ...................................... 220 E. Zwischenergebnis..................................................................
223
14. Kapitel: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte .......................
224
A. Die Schranken der Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
I. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRVals Gesetzesvorbehalt der Glaubens-, der Bekenntnis- und der Religionsausübungsfreiheit ........................... 224
11. Der materielle Gehalt des Vorbehaltes in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV .......................................................................... 230 1. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. I WRVals Vorbehalt der allgemeinen Gesetze . .. .. .. .. .. . . .. .. . .. .. . .. .. . .. . . . .. . . .. .. . .. .. . .. . . .. .. .. .. . .. .. .. . .. 230
2. Der Begriff der allgemeinen Gesetze .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231
m.
Das Spannungsverhältnis zwischen Grundrecht und einschränkendem Gesetz "
235
1. Die "Wechselwirkung" von grundrechtlicher Freiheit und allgemeinem Gesetz ...................................................................... 235
2. Keine Interessenabwägung im Einzelfall bei der Bestimmung der Grundrechtsschranken ............................................................ 237 3. Typisierende Güterabwägung statt Kasuistik ............................ ,... 241 IV. Einzelne auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV gestützte Schranken ..................................................... 250 V. Zwischenergebnis ..........................................,.................... 252
Inhaltsverzeichnis B. Die Schranken der Gewissensfreiheit. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV 253
I. Kein Vorbehalt der allgemeinen Gesetze ....................................... 253
11. Die Schranke entgegenstehenden Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 259 1. Gewissen und "schonender Ausgleich" ..................................... 259
2. Das der Gewissensfreiheit entgegenstehende Verfassungsrecht .............. a) Die Sicherung von Staat und Verfassung................................. b) KompeteßZvorschriften ................................................. c) Staatsaufgabenbestimmungen außerhalb der Kompetenzkataloge ........ d) Kollidierende Grundrechte Dritter .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
261 261 263 267 269
3. Zwischenergebnis .......................................................... 275 C. Die Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 I. Das für alle geltende Gesetz ................................................... 276
11. Die Notwendigkeit abstrakt-typologisch vorgeprägter Güterabwägung ......... 277 ill. Einzelne Fälle abstrakt-typologischer Schrankenziehung ....................... 280
Schlußbemerkung ..............................................................
283
Zusammenfassende Thesen .....................................................
284
Literaturverzeichnis ...................... . .....................................
289
Sachverzeichnis ................................................................
347
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abg. AB!. Abs. abw.
am angegebenen Ort Abgeordneter Amtsblatt
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Absatz abweichend Archiv für die ci vilistische Praxis
a.E. a.F.
arn Ende alte Fassung
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BVerfGG
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BW
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bzw.
beziehungsweise
CIC
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DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
Drucks.
Drucksache
XVII
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
ebd.
ebenda
EKD
Evangelische Kirche in Deutschland
EMRK
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention)
epd
Evangelischer Pressedienst
EU
Europäische Union
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
ev.
evangelisch
e.v.
eingetragener Verein
EvKomm
Evangelische Kommentare
EvStL
Evangelisches Staatslexikon - 1. Aufl., hrsgg. von H. Kunst und S. Grundmann in Verbindung mit W. Schneemelcher u. Roman Herzog. Stuttgart, Berlin, 1966 (EvStL 1) - 2. Aufl., hrsgg. von H. Kunst, R. Herzog u. W. Schneemelcher. Stuttgart, Berlin, 1975 (EvStL2 ) 3. Aufl., hrsgg. von R. Herzog, H. Kunst, K. Schlaich u. W. Schneemelcher. I. u. 11. Band, Stuttgart, 1987 (EvStL3)
f.
folgende
FamRZ
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht
F.A.Z.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Festg.
Festgabe fortfolgende
ff.
xvrn Fn. FS GA GewArch. GewO GG ggf. GjS GmbH GV GVBl. HChE HdbStKirchR
HdbDStR
Hess. StGH
Abkürzungsverzeichnis Fußnote(n) Festschrift Goltdammer's Archiv für Strafrecht Gewerbearchiv Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenenfalls Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz- und Verordnungsblan Gesetz- und Verordnungsblan Herrenchiemseer Entwurf Handbuch des Staatskirchenrechts - I. Aufl., hrsgg. von Ernst Friesenhahn u. Ulrich Scheuner in Verbindung mit Joseph Listl. Berlin, Band I 1974, Band II 1975 (HdbStKirchR 1) - 2. Aufl., hrsgg. von Joseph Listl u. Dietrich Pirson. Berlin, Band I 1994 (HdbStKirchR2 ) Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Herausgegeben von Gerhard Anschütz und Richard Thoma. Tübingen. Erster Band 1930, Zweiter Band 1932 Hessischer Staatsgerichtshof
Hess. VGH HK h.M. Hrsg. hrsgg. HStR
Hessischer Verwaltungs gerichtshof Herder-Korrespondenz herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. von Josef Isensee u. Paul Kirchhof. Heidelberg, 1987 ff.
Ld.F. Le.
in der Fassung im einzelnen im engeren Sinne insbesondere im Sinne im übrigen in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter
Le.S. insbes. LS. Lü. LV.m. Lw.S. JA
Jb. JöR n.F. JR JRP JuS JZ
KABI.
Jahrbuch Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, neue Folge Juristische Rundschau Journal für Rechtspolitik Juristische Schulung Juristenzeitung Kirchliches Amtsblatt
Abkürzungsverzeichnis Kap.
Kapitel
KDVNG
Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz
XIX
KG
Kammergericht
KirchE
Entscheidungen in Kirchensachen seit 1946. Begründet von C. J. Hering und H. Lentz, Bände 8 bis 20 hrsgg. von H. Lentz, D. Pirson u. M. Baldus, seit Band 21 hrsgg. von H. Lentz, W. Rüfner u. M. Baldus
KSchG
Kündigungsschutzgesetz
KuR
Kirche und Recht. Zeitschrift für die kirchliche und staatliche Praxis
LG
Landgericht
Lit.
Literatur
Ls.
Leitsatz
LVerf
Landesverfassung
m.
mit
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
Nachw.
Nachweise
Nds.
Niedersachsen
NJ
Neue Justiz
NIW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NuR
Natur und Recht
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NW
Nordrhein-Westfalen
NWVBLI NWVBI.
Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Jahrgänge 1987 bis 1993/ ab 1994
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
OLG
Oberlandesgericht
OVG
Oberverwaltungsgericht
pass.
passim
PAuswG
Gesetz über Personalausweise
PrALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
Preuß.
Preußisch
RdA
Recht der Arbeit. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts
RdJ/RdIB
Recht der Jugend (ab 1965:) und des Bildungswesens
RFL
Rundschau für Fleischhygiene und Lebensmittelüberwachung. Fachzeitschrift für die Schlachttier- und Fleischuntersuchung sowie für die Überwachung des Verkehrs mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen. Mitteilungsorgan für fachbezogene Berufsverbände
RG
Reichsgericht
xx
Abkürzungsverzeichnis Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. Aufl., herausgegeben von K. Galling. Tübingen, 1956 ff.
Rn.
Randnummer
Rspr.
Rechtsprechung
Rh.-Pf.
Rheinland-Pfalz
S.
Seite(n)
SchpflG
Schulpflichtgesetz seilicet (nämlich)
seil. sog. Sp.
sogenannt Spalte(n)
st. Rspr.
ständige Rechtsprechung
StGB
Strafgesetzbuch
StGH
Staatsgerichtshof Staatslexikon. Recht Wirtschaft Gesellschaft in 5 Bänden. Herausgegeben von der GÖrres-Gesellschaft. 7. Aufl., Freiburg, Basel, Wien, 1985 ff.
StL7
ThürVBl.
Thüringer Verwaltungsblätter. Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung
TierSchG
Tierschutzgesetz
u.
und, unten
u. a.
und andere
Urt.
Urteil
v.
von, vom
VBIBW
Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg
VereinsG
Vereinsgesetz
Verf.
Verfassung
VerfGH
Verfassungsgerichtshof
Verh. VerwArch.
Verhandlungen Verwaltungsarchiv
VG
Verwaltungsgericht
VGH vgl.
Verwaltungsgerichtshof
Vol.
Volume Vorbemerkung( en)
va
Vorbem.
vergleiche Verordnung
VR
Verwaltungsrundschau. Zeitschrift für Verwaltung in Praxis und Wissenschaft
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz
WissR
Wissenschaftsrecht
WPflG
Wehrpflichtgesetz Weimarer Reichsverfassung
WRV
Abkürzungsverzeichnis ZAR ZBI ZBR ZDG ZevKR ZfP ZfSH/SGB
zit. ZG ZRG Kan.Abt. ZSR ZStW
XXI
Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und VerwaItungsrecht Zeitschrift für Beamtenrecht Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch zitiert Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Sozialreforrn Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
ERSTER TEIL
Einführung und Problemübersicht Erstes Kapitel
Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich das religiöse Leben in Deutschland verändert. Nach der im Jahre 1961 durchgeführten Volkszählung gehörten damals 94,6 % der in der Bundesrepublik lebenden Menschen einer der beiden christlichen Großkirchen an'. Gestützt auf diese Daten konnten Martin Heckel und Alexander Hollerbach bei der Frankfurter Staatsrechtslehrertagung auch im Jahre 1967 in ihren Beiträgen zum Thema "Die Kirchen unter dem Grundgesetz" noch davon ausgehen, daß rund 95 % der Bevölkerung den großen Kirchen angehörten2 • Konrad Hesse hatte dennoch bereits 1965 festgestellt, "daß christlicher Glaube und kirchliches Leben im Zeichen des gesellschaftlichen Wandels der Gegenwart an bestimmender Kraft für das individuelle und soziale Leben eingebüßt haben,,3. Schon damals sah er mit Karl Rahner in Deutschland ein "Heidenland mit christlicher Vergangenheit und christlichen Restbeständen", ein Missionsland4 • Man mag darüber streiten, ob diese Einschätzung die damalige Lage der Kirchen und die gesellschaftliche Bedeutung des Christentums zutreffend erfaßtes . Heute mehren sich jedenfalls die Anzeichen dafür, daß das von Hesse beschriebene Szenario Wirklichkeit wird. Am 31. 12. 1992 betrug der Anteil derjenigen, die in den alten Bundesländern (ohne Berlin) einer der beiden großen Kirchen angehörten, 81 %6. Die Bedeutung der Kirchen für den Alltag der Menschen und ihrer Überzeugungen, I
Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1967, S. 42.
M. HeckeI, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 37; Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57, 65; vgl. auch BVerfGE 19, 1, 10; näher zur Situation Anfang der sechziger Jahre: Menges, in Menges 1Greinacher, Die Zugehörigkeit zur Kirche, 1964, S. 23 ff. 3 Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337, 344. 4 Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337, 345; nach Rahner, Das freie Wort in der Kirche. 2
Die Chancen des Christentums, S. 41 f. 5 Zur Einstellung der Menschen zu Kirche und Christentum in den sechziger Jahren vgl. Harenberg, Was glauben die Deutschen? Die Emnid-Umfrage, 1968. 6 Statistischer Bericht "Kirchenzugehörigkeit in Deutschland - Was hat sich verändert? Evangelische und katholische Kirche im Vergleich". Statistische Beilage Nr. 89 zum Amtsblatt der EKD, Heft 10 v. 15. 10. 1994, S. 2f. 1 Muckel
2
1. Teil: Einführung und Problemübersicht
neudeutsch: die Akzeptanz der Kirchen in der Gesellschaftsordnung geht unverkennbar zurück. Die Säkularisierung7 ist in allen Lebensbereichen weit fortgeschritten, die christliche Botschaft hat an Relevanz verloren; die Kirchenbindung lockert sich und weicht bisweilen offener Feindschaft gegenüber Christentum und Kirche 8 . Dieser Prozeß hat durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 deutlich an Schubkraft gewonnen. Eine 1991 durchgeführte Bevölkerungsumfrage hat ergeben, daß in den neuen Bundesländern der Anteil der Konfessionslosen 64,6 % betrug; 5,6 % der Menschen sind katholisch, 27 % der befragten Personen bezeichneten sich als Protestanten9 . Für ganz Deutschland bedeutet dies, daß (nach dem Stand von 1994) nur noch etwa 70 % der in diesem Land lebenden Menschen einer der beiden Großkirchen angehören 10• Kennzeichnend für das religiöse Leben in Deutschland sind darüber hinaus seit einigen Jahren die nach Hunderten zählenden 11 neuartigen (pseudo-)religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinschaften, die häufig unter dem Begriff der "Sek7 Zum Begriff der Säkularisierung und seinen verschiedenen Bedeutungsvarianten M. Heckei, ZRG Kan. Abt. 98 (1980), S. 1 ff.; ders., in: Marre/ Schümmelfeder / Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 87 ff. 8 So die Einschätzung von Bischof Walter Kaspar in seiner Predigt beim Abschlußgottesdienst der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 24. 9. 1992, abgedruckt in Pfarramtsblatt 1992, S. 344. 9 Umfrage der ALLBUS-Reihe (allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften), vgl. dazu den Bericht in HK 1992, 453 f. 10 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 51, 104f.; vgl. die Analyse von Listl, in: Marre/Schümmelfeder (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (29), S. 160, 165. Zur Zahl der Christen in Deutschland vgl. auch den statistischen Bericht "Kirchenzugehörigkeit in Deutschland - Was hat sich verändert? Evangelische und katholische Kirche im Vergleich". Statistische Beilage Nr. 89 zum Amtsblatt der EKD, Heft 10 v. 15. 10. 1994, vgl. dazu auch HK 1994, S. 49f. Bei einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach im Frühjahr 1996 bezeichneten sich allerdings nur 47 % der Befragten (West: 53 %, Ost: 22 %) als religiös; nicht für religiös hielten sich 33 % (West: 29 %, Ost: 50 %); als überzeugte Atheisten verstanden sich 8 % (West: 5 %; Ost: 20 %). Quelle: AIlensbacher Archiv, lID-Umfrage 6025, Februar/März 1996. 11 Vgl. etwa Senatsverwaltung für Jugend und Farnilie (Hrsg.), Informationen über neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen und sogenannte Psychogruppen, Berlin, 1994; Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle Nordrhein-Westfalen e.V. (Hrsg.), AJS-Forum, Sonderausgabe (1993): Sogenannte neuere Glaubensgemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung der Scientology Kirche. Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 3 ff.; Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage mehrere Abgeordneter betr. ,,Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Aufklärung über sog. Jugendsekten und Psychogruppen einschließlich der mit ihnen rechtlich, wirtschaftlich oder in ihrer religiösen oder weltanschaulichen Zielsetzung verbundenen Organisationen", BT-Drucks. 13 /4132, S. 2; Rainer Scholz, Probleme mit Jugendsekten, S. 1; insbesondere zur "Church of Scientology" vgl. auch den 1. Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Fragen sog. Jugendsekten und Psychogruppen, in: Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 11 /4643; Gasper / Müller/Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, 4. Aufl. 1995/ 1996; Reller / Kießig /Tschoemer (Hrsg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften,
1. Kap.: Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland
3
ten" bzw. der ,,Jugendsekten" zusammengefaßt werden 12. Die bekanntesten und größten unter ihnen sind die "Church of Scientology", die "Transzendentale Meditation" (TM), die "Vereinigungskirche" des San Myung Mun, die Hare-KrishnaBewegung (ISKCON /Hare Krishna) und die in Osho-Rajneesh-Bewegung umbenannte Bhagwan-Gruppe 13 . Sie haben seit den frühen siebziger Jahren in Deutschland zunehmend an Einfluß gewonnen und breiten sich weiter aus l4 . Auch der Umstand, daß der Islam nach dem Christentum die Religion mit den meisten Anhängern ist, kennzeichnet die Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland seit Beginn der fünfziger Jahre, als der Islam praktisch keine Rolle spielte l5 . Es ist davon auszugehen, daß die neuen religiösen Phänomene in der Bundesrepublik nicht nur vorübergehende Erscheinungen sind l6 . Zwar kann sich ihre Wirkungskraft durch den Säkularisationsdruck der Industriegesellschaft vermindern. Doch wer4. Auf!. 1993; aus dem älteren Schrifttum Haack, Jugendreligionen. Ursachen, Trends, Reaktionen, 1979; Müller-KüpperslSpecht (Hrsg.), "Neue Jugendreligionen", 1979; Schöll (Hrsg.), Handbuch Jugendreligionen. Informationen - Analysen - Alternativen, 1981; Schulze-BerndtIViertelhausIWeidinger, Neue religiöse Bewegungen innerhalb und außerhalb der Kirchen, 1986. 12 Zur - nicht einheitlichen - Tenninologie: Haack, Jugendreligionen. Ursachen, Trends, Reaktionen, S. 7 ff.; Abel, Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in Bezug auf die "neuen Jugendreligionen", S. 2 Fn. 2; ders., in Engstfeld u. a., Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34 mit Fn. 1; Schulze-BerndtIViertelhauslWeidinger, Neue religiöse Bewegungen, 1986, S. IOff. Die Bezeichnung ,,Jugendsekte" erscheint unangemessen, da den betreffenden Gruppen durchaus nicht nur Jugendliche angehören, der Sektenbegriff etymologisch in eine andere Richtung weist und mit einer negativen Tendenz belastet ist (dazu Kriele, F.A.Z. Nr. 79 v. 6. 4. 1994, S. 10; Hemminger, EvKomm 1995, 351, 352f.; Pfeiffer, in: Gewissen und Freiheit Nr. 43, 2. Halbj. 1994, S. 20; auch schon Troeltsch, Kirche und Sekte, 1912, in: Maus/FÜfstenberg [Hrsg.], Religionssoziologie, S. 267, 269: "ursprünglich polemisch und apologetisch gemeint"; krit. auch Eiben, ,,Neue Religiösität in der Bundesrepublik Deutschland, S. 3 m. Fn. 1 f.). Ebenso unpassend ist der Begriff der ,,Jugendreligionen", vgl. auch Keltsch, in: Gross (Hrsg.), Psychomarkt, Sekten, Destruktive Kulte, S. 141, 143 f., 147. Weil die betreffenden Gruppen aber im Vergleich mit den etablierten Religionsgemeinschaften eine neuartige Erscheinung sind, deren Lehre mitunter nur scheinbar religiös oder weltanschaulich fundiert ist (dazu i.e. unten 12. u. 13. Kap.), soll im folgenden von neuartigen (pseudo-) religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften oder auch nur kurz von neuartigen Gemeinschaften gesprochen werden. Die Bundesregierung empfiehlt die Bezeichnung ,,Neuere religiöse 1weltanschauliche Gruppierungen und sog. Psychogruppen", BT-Drucks. 13/4132, S. 9. 13 Rainer Scho/z, Probleme mit Jugendsekten, S. 1. Zu "neuen Religionen" vgl. ferner die Nachw. in Fn. 11. 14 Einen Versuch, die Gründe für den Erfolg der neuartigen (pseudo-) religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften aufzuzeigen, unternimmt Eiben, "Neue Religiosität" in der Bundesrepublik Deutschland, S. 41 ff. m.w.N. 15 Damals waren weniger als 0,1 % der Deutschen Muslime, vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1965, S. 45; Zahlenangaben zur gegenwärtigen Präsenz der Muslime in Deutschland bei Muckel, DÖV 1995, 311 m. Nachw. 16 Vgl. dazu im Hinblick auf den Islam Albrecht, in: Marre 1Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 82, 89 m.w.N.; ferner Starck, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 189, 190; H. Weber, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 191, 193. 1*
4
I. Teil: Einführung und Problemübersicht
den dadurch die neuen Ideen und Gemeinschaften weder aufgehoben noch auf eine unbedeutende Größenordnung zurückgeführt 17 • Aber nicht nur neu aufgekommene (pseudo-) religiöse Gruppen bemühen sich, in das spirituelle und religiöse Vakuum vorzudringen, das durch die abnehmende Bindungskraft der Kirchen entsteht. Auch säkulare Ersatzreligionen l8 , zu denen solch ungleiche Phänomene wie Materialismus 19 (einschließlich all dessen, was neudeutsch als "life-style" bezeichnet wird), Hedonismus 2o und Okkultismus21 gehören, prägen derzeit die gesellschaftlichen Umstände in Deutschland.
17 Vgl. Albrecht, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 82, 89, für den Islam. Das Aufkommen neuartiger (pseudo-) religiöser Gemeinschaften und des Islam ist für die Veränderungen des religiösen Lebens in nahezu allen europäischen Staaten kennzeichnend, vgl. nur Ferrari, Church and State in Europe. Common Patterns and Challenges, in: European Journal for Church and State Research 1995 Vol. 2, S. 149, 155 ff., sowie die bei Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995, abgedruckten Beiträge zum Staatskirchenrecht in den Staaten der EU. 18 Vgl. dazu Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, 1994. 19 Häberle, FS Josef Esser, S. 49, 51 f., sieht in "Materialismus und Ökonomismus" gar Charakteristika der "westlichen wohlstandsgesättigten Demokratien". 20 Dazu G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, 5. Aufl., 1995. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Schulzes findet sich etwa bei Eiben, "Neue Religiosität" in der Bundesrepublik Deutschland, S. 15 ff. 21 Vgl. dazu nur Helsper, Okkultismus, 1992.
Zweites Kapitel
Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit Die Veränderungen des religiösen Lebens werden seit Jahren politisch, soziologisch und religionswissenschaftlich aufgearbeitet I. Aber auch auf juristischem Gebiet ist eine Vielzahl von Problemen aufgetreten, für die bislang befriedigende Lösungen nicht gefunden sind. Vor allem die zentrale Frage, wie sich der neue religiös-weltanschauliche Pluralismus auf die Interpretation der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) auswirkt, ist nach wie vor nicht hinreichend beantwortet. Die folgende Problemübersicht soll dies deutlich machen.
A. Die grundrechtliche Religionsfreiheit I. Das Verständnis religiös geprägter RechtsbegritTe
1. Interpretationsschwierigkeiten in Rechtsprechung und Literatur
Bei der Interpretation der Begriffe "Glauben", ,,religiös", ,,Religionsgemeinschaft" etc. traten in der juristischen Praxis solange keine ernsthaften Schwierigkeiten auf, wie die Behörden und Gerichte nur mit den christlichen Kirchen und christlichen Glaubensvorstellungen konfrontiert waren. Problematisch war meist nur, ob eine bestimmte Verhaltensweise vom Schutz der Religionsausübungsfreiheit erfaßt wa? Dabei stellte die Rechtsprechung entscheidend auf das Selbstverständnis 3 der betreffenden Religionsgemeinschaft ab4 . Die vorrangige I Vgl. nur Hummel, Die sogenannten Jugendreligionen als religiöse und gesellschaftliche Probleme, in: Marre! Stüting (Hrsg.) Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 64 ff.; speziell zum Islam: Albrecht, Religionspolitische Aufgaben angesichts der Präsenz des Islam in der Bundesrepublik Deutschland, in: Marre! Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 82 ff., jeweils mit umfangr. Nachw. 2 Beispielhaft BVerfGE 24, 236 - ,,Aktion Rumpelkammer". 3 Der Ausdruck "Selbstverständnis" hat sich trotz seiner Unschärfe (auf die lsensee, FS Obermayer, S. 203, 211 mit Recht hinweist) eingebürgert und soll deshalb auch hier benutzt werden. Grundlegend zur juristischen Bedeutung des Selbstverständnisses: Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, der, S. 42f., einen weiten Begriff des Selbstverständnisses zugrunde legt; zum Selbstverständnis im Staatskirchenrecht: lsak, Das Selbstverständ-
6
1. Teil: Einführung und Problemübersicht
Frage, ob eine Überzeugung als Glaube, eine Lehre als Religion oder ein Personenzusammenschluß als Religionsgemeinschaft angesehen werden muß, stellte sich in der Praxis erst mit dem Aufkommen der genannten neuartigen Gemeinschaften und des Islam. Seither bilden die religiös geprägten Rechtsbegriffe ,,in ihrer Unbeschriebenheit die offene Flanke jeder Grundrechtsinterpretation schlechthin und damit die Ursache für das Aufkommen immer neuer Auslegungskonflikte"s. Viele Fachgerichte legen nunmehr auch den Religionsbegriff des Art. 4 Abs. 1 GG vor allem mit Blick auf das Selbstverständnis der Gemeinschaft aus6 . Manche stellen dabei darauf ab, wie die Gemeinschaft sich bezeichnet7 (etwa als "Kirche"s) oder aus weislich ihres "Kirchenrechts,,9 oder eigener Veröffentlichungen versteht lO • Im Ergebnis führen die Überlegungen nicht selten zu der Einsicht, daß die "sog. neuen Jugendreligionen ... von ihrem Selbstverständnis her in aller Regel" als Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaften anzuerkennen seien 11 •
nis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1994, der, S. 141 ff., den Begriff des Selbstverständnisses gegenüber der Kritik Isensee verteidigt. Zum Selbstverständnisbegriff auch Häberle, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 121, 124, der treffend auch von "Selbstinterpretation" spricht; vgl. auch dens., JZ 1975, 297 ff., auch in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 155, 157 ff. 4 Besonders deutlich: BVerfGE 24, 236, 247 f.; dazu noch unten S. 13 f. 5 Müller-Volbehr, DÖV 1995,301. 6 So ausdrücklich VGH BW NVwZ 1989,279 = KirchE 26, 220, 224. 7 Vgl. dazu Abel, in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 35, der mit Recht darauf hinweist, daß nahezu alle neu aufgekommenen Gruppen sich selbst als religiös bezeichnen; eine prominente Ausnahme stellt die "Transzendentale Meditation" (TM) dar, da Anhänger der TM nicht seIten einen religiösen oder weltanschaulichen Bezug ihrer Lehre in Abrede stellen, vgl. dazu den Vortrag der Kläger, wie er in BVerwGE 82, 76, 78 wiedergegeben wird. 8 Vor allem LG Harnburg NJW 1988, 2617, betr. die "Church of Scientology"; vgl. aber auch BGHZ 78, 274, 278, wo der BGH der "Church of Scientology" in einern Amtshaftungsprozeß, der einen Bericht des Bundeskriminalamtes über diese Vereinigung zum Gegenstand hatte, ohne nähere Begründung "im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Funktionen als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft" den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugestand. 9 LG Hamburg NJW 1988,2617; zur Kritik vgl. Karsten Schmidt, NJW 1988, 2574ff. 10 VG Darmstadt NJW 1979, 1056, 1057 = KirchE 17, 135, 136; VG Frankfurt a.M. KirchE 18,239,242, beide betr. die "Church of Scientology". 11 Franz, NVwZ 1985, 81, 83; Abel, in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 39; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 59; v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), S. 135, 154: an der Qualifizierung der sog. Jugendreligionen und destruktiven religiösen Gruppen als Religionsgemeinschaften bestehe kein Zweifel; später relativierte v. Campenhausen dieses Urteil, ZevKR 37 (1972), S. 405, 409 ff.; dafür, daß die neuartigen Gemeinschaften grundsätzlich als in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fallend angesehen werden, sprechen sich auch Kremser, ZevKR 39 (1994), S. 160, 173, und Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 45, aus.
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
7
Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung erklären sich eine Reihe von Versuchen, die in Rechtsprechung und Literatur unternommen wurden, um die Begriffe "Religion" und "Weltanschauung" anband objektiver Kriterien näher zu umschreiben. Dabei wird teilweise nur auf die Aktivitäten der einzelnen Gemeinschaften geblickt. Eine Vereinigung sei dann keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, wenn ihre wirtschaftliche oder politische Betätigung ein bestimmtes Maß überschreite l2 . Teilweise wird auch die Lehre der betreffenden Gemeinschaft miteinbezogen. Eine Religion oder Weltanschauung im Sinne des Grundgesetzes liege nur vor, wenn die wesentlichen Lehren und Praktiken mit der Verfassung vereinbar seien 13. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang keinen dieser Vesuche zu einer näheren Bestimmung der religiös geprägten Rechtsbegriffe aufgegriffen. Es hat allerdings mit einem viel beachteten obiter dictum in einem Beschluß vom 5. 2. 1991 14 zu der Frage, wann eine Gemeinschaft als Religionsgemeinschaft i. S. d. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anzusehen sei, Stellung genommen: Allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, könne für sie und ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht rechtfertigen; vielmehr müsse es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln l5 • Dies im Streitfall zu prüfen und zu entscheiden, obliege - als Anwendung einer Regelung der staatlichen Rechtsordnung - den staatlichen Organen, die dabei keine freie Bestimmungsmacht ausübten, sondern den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff zugrunde zu legen hätten l6 . 12 Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 55; vgl. auch ebd., S. 56: politische oder wirtschaftliche Betätigung dürfe "nicht das Wesen einer Vereinigung ausmachen", die sich auf die verfassungsrechtlichen Garantien für Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften berufe; ähnlich Müller- Volbehr, in: Marre / Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, "122. Aus der Rspr. vgl. nur BVerwGE 90, 112, 116ff.; BAG NJW 1996, 143, 146f. (m. Anm. Goerlich, in JZ 1995, 955); näher unten S. 132 ff. 13 Obermayer, ZevKR 27 (1982), S. 253, 261 f.; Müller-Volbehr, in: MarrelStüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 130 ("wesentliche Lehren und Praktiken mit gewissen tragenden Grundsätzen der Verfassung und Grundentscheidungen des Verfassunggebers im Einklang"); ders., JZ 1981, 41, 44. 14 BVerfGE 83, 341 ("BaM'f"); dazu SchockenhoJf, NJW 1992, 1013; Jeand'Heur, JuS 1992,830. 15 BVerfGE 83, 341, 353; bestätigt durch BVerfG NVwZ 1993, 357, 358. 16 BVerfGE 83, 341, 353. Mit Recht hebt Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 66, hervor, daß der Beschluß durch diese die Entscheidung nicht tragenden Ausführungen seine eigentliche Brisanz gewinnt. Die - im Fall der BaM'f gänzlich überflüssigen - Ausführungen des BVerfG zu den Begriffen der Religion mit der Religionsgemeinschaft erhalten dadurch ein zusätzliches Gewicht, daß sie im Leitsatz 1 besonders herausgestellt werden.
8
1. Teil: Einführung und Problemübersicht
Die entscheidende Frage aber lautet: Welchen materiellen Gehalt hat der "von der Verfassung gemeinte oder vorausgesetzte" Begriff der Religion? Das Bundesverfassungsgericht deutet an, daß es für die Beantwortung dieser Frage nicht allein auf das Selbstverständnis einer Gemeinschaft ankommt. Aber nach welchen anderen Kriterien die zur Entscheidung berufenen staatlichen Organe den Begriff bestimmen sollen, bleibt offen. Der Blick auf die Rezeption der genannten Passage aus dem Beschluß vom 5. 2. 1991 in Rechtsprechung und Literatur zeigt, daß die Unklarheiten nicht beseitigt sind. Während die einen eine Trendwende der Rechtsprechung zu einer weniger dem Selbstverständnis verpflichteten Interpretation des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu erkennen glauben 17 , sehen andere die Entscheidung "auf der traditionellen Linie des Gerichts,,18. Nichts erhellt die nach wie vor bestehende Unsicherheit mehr als der Umstand, daß verschiedene Gerichte unter Hinweis auf den genannten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf dieselbe Gemeinschaft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen bei der Frage, ob sie als Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaft anzusehen sei l9 .
2. Die juristische Problematik Alle Versuche, die Tatbestandsmerkmale des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG näher zu bestimmen, dienen letztlich einem Ziel: der Wahrung des - wie auch immer verstandenen - Gemeinwohls. Die neuartigen Gemeinschaften und ihre Anhänger sollen nicht die Möglichkeit haben, unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit Gemeinwohlbelange zu beeinträchtigen2o . Dieses Ziel läßt sich aber möglicherweise auch dadurch erreichen, daß die staatlichen Grundrechtsinterpreten von einer Präzisierung des Schutzbereichs absehen, sich insoweit vielmehr am Selbstverständnis des Grundrechtsträgers orientieren und ihre Aufmerksamkeit vor allem den Gewährleistungsschranken zuwenden. Auch die Schranken der Grundrechte 21 bieten 17 V gl. etwa Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzl I Schulev-Steindl I Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 131; Kremser, ZevKR 39 (1994), S. 160, 172f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 566; wohl auch Abel, NJW 1996,91 f.; H. Weber, ZevKR 41 (1996), S. 172, 194. 18 lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 66; MüllerVolbehr, DÖV 1995, 301, 302f., wenn er trotz BVerfGE 83, 341, 353 "die Frage nach notwendigen Begrenzungen" ganz auf die Ebene der Grundrechtsschranken verlagern möchte. 19 So mit Blick auf die "Church of Scientology" BAG NJW 1996, 143, 146f.: keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft; OVG Hamburg NVwZ 1995, 498, 499 f.: Weltanschauungsgemeinschaft. 20 Vgl. statt vieler Listl, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 449; Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 84 f. 21 Die Untersuchung geht von dem traditionellen ,,Eingriffs- und Schrankendenken" aus, dessen Legitimität in der jüngeren Literatur bisweilen bestritten wird (vgl. vor allem Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 1 Grundgesetz, S. 126ff.; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 52 ff.); dazu näher Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 139 ff.; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 63 ff.; Schlink, EuGRZ 1984,457, 462ff. Mit Recht wird geltend gemacht, daß auf das "Schrankendenken" jeden-
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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nämlich dem Staat, insbesondere dem Gesetzgeber, weitreichende Möglichkeiten, dem Gemeinwohl 22 Rechnung zu tragen23 . Thre Aktualisierung führt nicht selten dazu, daß die Ausübung des Grundrechts zurücktreten muß. Wenn auf diesem Wege alle als schützenswert erkannten Gemeinwohlbelange durchgesetzt werden können, gingen sämtliche Versuche, die Tatbestandsmerkmale des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG näher zu bestimmen, einem Scheinproblem nach. Eine nähere Bestimmung der in Art. 4 GG und anderen Verfassungsbestimmungen enthaltenen religiös geprägten Rechtsbegriffe erübrigte sich. Der Hinweis auf die Schranken des Grundrechts entbindet den Verfassungsinterpreten jedoch nicht von der "unbequemen,,24 Arbeit, die grundrechtlichen Tatbestandsmerkmale - soweit als möglich - zu präzisieren. "Großzügigkeit in der Anerkennung der Grundrechtsbereiche" kann, wie /sensee herausgearbeitet hat, nicht ohne weiteres "durch Strenge in der Anwendung der Schranken" ausgeglichen werden: "Wer einen Grundrechtstatbestand akzeptiert, kann den Grundrechtsfolgen nicht mehr ausweichen.,,25 Diese Folgen bestehen rein fonnal nur in der Aktualisierung der jeweiligen Schranken. Auf der Schrankenebene hat aber das in Rede stehende Verhalten bereits erheblich an Gewicht gewonnen. Es gilt nun als potentiell grundrechtsgeschützt und kann nur unter den Voraussetzungen einer zulässigen Einschränkung des Grundrechts noch des grundrechtlichen Schutzes verlustig gehen. Die neuere Grundrechtstheorie bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß sie ein bestimmtes Verhalten "prima facie" als geschützt ansieht26 . Danach ist eine Abwäfalls solange nicht verzichtet werden kann, wie kein dogmatisch überzeugenderes Modell zur Bewältigung der Probleme im Spannungsfeld zwischen Inhalt und Grenzen der Grundrechtsgewährleistung zur Verfügung steht, so Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301, 306 Fn. 46. 22 Zum Begriff des Gemeinwohls unten S. 28 ff. 23 Für eine verstärkte Berücksichtigung der Schranken der Grundrechte Müller- Volbehr, DÖV 1995,301,305 f.; grundlegend: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 292f.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 172 ff.; Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 411, 424ff., 442; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegen den Staat, S. 170. Hier deutet sich der Streit zwischen den Vertretern eines weiten und denjenigen eines engen Verständnisses grundrechtlicher Tatbestände an, dazu S. 53 ff. Insbesondere zum Verständnis des Schrankenvorbehaltes des für alle geltenden Gesetzes in Art. 140 GG i.V.m. Art. l37 Abs. 3 Satz 1 WRVals Gemeinwohlklausel Baldus, RdJB 1985,52, 56, in Anlehnung an Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 122. 24 Vgl. Rüfner, Festg. BVerfG Bd. II, S. 453, 461, der mit Recht darauf hinweist, daß die Berufung auf eine Grundrechtskollision bequem sein kann, weil sie von der schwierigen Arbeit, den Schutzbereich des einzelnen Grundrechts näher zu bestimmen, entbindet; ähnlich Ossenbühl, DVBI. 1995,904,908. 25 lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 30f.; zustimmend: Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 286 mit Fn. 113; a.A. die Vertreter der sog. weiten Tatbestandstheorie (dazu noch unten S. 53 ff.): Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 292 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 180 ff., pass. 26 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 273, pass., der dabei auf sein Verständnis der Grundrechte als Prinzipien mit dem Charakter von Optimierungsgeboten aufbaut, ebd., S. 75, 88; Höfling, Jura 1994,169,170 m.w.N.
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
gung des grundrechtlich geschützten Interesses und des gegenläufigen Belanges notwendig. Ist der Rechtsanwender aber erst einmal in die Abwägung eingetreten, muß er dem grundrechtlichen Schutzgut als solchem Rechnung tragen. Die Abwägung soll nicht zu einem Alles-oder-Nichts führen 27 . Sie dient ,vielmehr dazu, durch Herstellung praktischer Konkordanz allen betroffenen Rechtsgütern derart Rechnung zu tragen, "daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt,,28. Das in seinem Bestand vom Selbstverständnis des Rechtsträgers abhängige Schutzgut kann nicht mehr übergangen werden 29 . Genau dazu kann aber eine exakte Interpretation des grundrechtlichen Schutzbereichs führen 3o . Es macht also einen erheblichen Unterschied aus, ob schon der Schutzbereich eines Grundrechts nicht betroffen ist oder ob dem - vom Schutzbereich des Grundrechts umfaßten - Interesse auf der Ebene der Grundrechtsschranken gegenläufige Belange entgegengestellt werden 31 . Auch darf nicht übersehen werden, daß die Verfassung religiös oder weltanschaulich geprägte Rechtsbegriffe nicht nur in den Tatbeständen der einschränkbaren 32 Rechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verwendet. Das Grundgesetz knüpft bisweilen an das Bestehen einer Religion oder Weltanschauung an, ohne daß ein Schrankenvorbehalt zur Verfügung steht. Wenn beispielsweise die "Church of Scientology" die Verleihung der Körperschaftsrechte nach Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 5 WRV beantragte, könnte die zuständige Behörde der Frage, ob es sich bei ihr um eine Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaft (Art. 137 Abs. 7 WRV) handelt, nicht ausweichen. Gleiches gilt für die Frage, ob eine Lehre ein Bekenntnis oder eine Weltanschauung i. S. d. Art. 7 Abs. 5 GG darstellt, mit der Folge, daß die sie vertretende Gemeinschaft eine Bekenntnis- oder Weltanschauungs schule errichten kann 33 . Die EinAlexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. 29 Daß das Selbstvertändnis auch bei der Bestimmung der Grundrechtsschranken Berücksichtigung findet, hat auch Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 428, 442, mit aller Deutlichkeit herausgestellt. 30 Zum Begriff des Schutzbereichs lsensee, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 40 m.w.N. Zu den unterschiedlichen Prüfungsschritten vgl. Holoubek, Bauelemente eines grundrechtlichen Argumentationsschemas: Schutzbereich- Eingriff - Schranken, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzl / Schulev-Steindl / Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 61 ff. m,w.N. 31 Vgl. Heintzen, VerwArch. 1990,532,539 Fn. 32, der "das Sichberufenkönnen auf bestimmte Grundrechte", namentlich Art. 4 Abs. I und 2 GG, allerdings nur als "politischen Besitzstand" bezeichnet, der im Rahmen grundrechtlicher Güterabwägungen und Verhältnismäßigkeitsprüfungen Vorteile einbringe. Tendenziell a.A.: Raabe, in: Grabenwarter I Hammer/PelzllSchulev-SteindllWiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 83, 90: "Daß ein Prinzip einschlägig ist, heißt ... nicht, daß die von ihm prima facie geforderte Rechtsfolge definitiv gilt." 32 Zu den Schranken dieser Rechte unten 14. Kap. 33 Vgl. dazu BVerwGE 89, 368, sowie die Vorinstanz BayVGH NVwZ 1991, 1101 (betr. "Scientology"); ferner BVerwGE 90, I. 27 28
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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heitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Verfassung 34 verlangt, daß für Art. 4 GG und alle anderen Normen des Grundgesetzes, die sich mit Religion oder Weltanschauung beschäftigen, die Begriffe einheitlich interpretiert werden 35 . Schließlich darf auch das einfache Recht nicht außer Betracht bleiben. Begriffe, die an Religion und Weltanschauung anknüpfen, sind in ganz unterschiedlichem Kontext Gegenstand des einfachen Rechts. § 2 Abs. 2 Nr. 3 VereinsG etwa schließt Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften vom Anwendungsbereich des Vereinsgesetzes aus. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 GjS darf eine Schrift nicht allein wegen ihres religiösen Inhalts in die Liste jugendgefährdender Schriften aufgenommen werden. § 166 StGB stellt das Beschimpfen eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses unter Strafe. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen36 . Auf der Ebene des einfachen Rechts kann der Rechtsanwender sich nicht auf die Schranken des Grundrechts zurückziehen. Mit der Qualifizierung einer Überzeugung als religiös oder weltanschaulich steht und fällt in aller Regel die Anwendung der einfachrechtlichen Vorschrift. Im einfachen Recht kann nicht von einer grundlegend anderen Bedeutung der Begriffe Religion und Weltanschauung ausgegangen werden, als auf der Ebene des Verfassungsrechts 37 . Die Ausstrahlungswirkung 38 des Grundrechts auf das einfache Recht39 , aber auch die Forderung nach "Einheit der Rechtsordnung,,40 lassen ein anderes Ergebnis nicht ZU41 . SO wie die Rechtsordnung die einheitliche Bewer34 Zur Einheit der Verfassung noch unten S. 56 mit Fn. 75 ff.; S. 264 f. 35 Vgl. Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 14. BVerwGE 89, 368, 369,
betont mit Recht, daß Art. 7 Abs. 5 GG und Art. 4 Abs. I GG ein einheitliches Verständnis des Begriffs der Weltanschauung zugrunde liegt. Vgl. auch die Vorinstanz BayVGH NVwZ 1991, 1101, 1102. 36 Vgl. etwa Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 269 ff.; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 2; Müller- Volbehr, in: Marre! Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 135, 145f. 37 Zu dem Beziehungsgeflecht zwischen Grundrechtsbestimmungen und Gesetzesrecht vgl. die sehr differenzierten Ausführungen von Sachs, in: Stern, Staatsrecht III11, S. 594ff. 38 Dazu Böckenjörde, Der Staat 1990, S. 1,8 f.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1803 f., jeweils m.w.N. 39 Dazu Stern, Staatsrecht IIII2, 1804; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 58. Herbert Krüger, Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, S. 12, bringt den Zusammenhang zwischen Grundrechten und einfachem Gesetzesrecht auf den Punkt: "Unter dem Grundgesetz gelten nicht mehr die Grundrechte im Rahmen der Gesetze, sondern die Gesetze im Rahmen der Grundrechte." 40 Grundlegend: Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; vgl. statt vieler auch P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978, S. 30 f.; Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 216 ff. 41 A.A.: Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 322 mit Fri. 37; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 2, der aber mit Blick auf "die Wertungen des GG" einen Einfluß des grundgesetzlichen Religionsbegriffs auf die Auslegung der Länderverfassungen und des einfachgesetzlichen Bundes- und Landesrechts sieht. Unrichtig BVerwGE 61, 152, 155 = KirchE 18,311, 313f.: Der Bekenntnisbegriff in § 11 Abs. 1 Nr: 3 WPflG sei
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
tung eines Vorgangs als rechtmäßig oder rechtswidrig verlangt42 , fordert sie auch, daß jedenfalls solche Begriffe, die .positivrechtlich nicht näher umschrieben werden (können), an verschiedener Stelle den gleichen materiellen Gehalt haben. Andernfalls wäre die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und damit ihre Funktion, der Rechtsanwendung einen einheitlichen Maßstab an die Hand zu geben43 , in Gefahr. Eine Reihe von Grundrechten setzt eine einfachrechtliche Ausgestaltung44 notwendig voraus. Dies gilt insbesondere für solche Grundrechte, die an zivi1rechtliche Rechtsinstitute anknüpfen. Grundrechtliche Gewährleistungen wie die der Ehe, des Eigentums und des Erbrechts wären ohne zivilrechtliche Normen sinnlos45. Die nähere Ausgestaltung solcher ,,rechtsgeprägten,,46 Grundrechte in unterschiedlichem einfachrechtlichen Kontext47 kann dazu führen, daß derselbe Begriff unterschiedliche Auslegungen erfährt. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Auslegung eines Begriffs in seiner grundrechtlichen Verwendung anders ausfällt als die Auslegung desselben Begriffs im einfachen Recht. Die Unterschiede im Verständnis des sog. verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs und des engeren zivilrechtlichen Eigentums sind hierfür ein anschauliches Beispiel48 . Anders liegen die Dinge jedoch bei Grundrechten, die an nicht rechtserzeugte Phänomene wie Gewissen, Glaube, Kunst oder Wissenschaft anknüpfen. Sie schützen Lebensvorgänge, die das Recht vorfindet und die als solche unabhängig sind von positivrechtlicher Normierung 49 . Derart "sachgeprägt"SO ist auch die Freiheit nicht gleichbedeutend mit der Frage, weIche Bekenntnisse unter Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fallen. Das BVerwG hielt diese differenzierende Sichtweise jedoch - mit Recht - nicht durch, vgl. BVerwGE 89, 368, 370, wo das Gericht den in BVerwGE 61, 152 für § 11 Abs. 1 Nr.3 WPflG entwickelten Bekenntnisbegriff auch für die Interpretation des Art. 4 Abs. 1 GG heranzieht. 42 P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, S.8. 43 Dazu P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, S. 8 f. 44 Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 303 f.; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 116ff., 126ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht li11, S. 595 f. mit umfange. Nachw.; H. H. Klein, DVBl. 1994,489,491. 45 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 303; Sachs, in: Stern, Staatsrecht li11, S. 601 f. m.w.N.; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 32; zu einem "genuin verfassungsrechtlichen Schutzobjekt der Eigentumsgarantie" Leisner, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 149 Rn. 58 m.w.N. 46 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 97, der, S. 94ff., pass., auch den Begriff ,,rechtserzeugt" verwendet. Demgegenüber spricht F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 20, 24, pass., nur von ,,rechtserzeugten" Freiheitsrechten. Näher zu der Unterscheidung von rechts- und sachgeprägten Grundrechten Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 403 f.; Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 211 ff. m.w.N. 47 V gl. zur einfachrechtlichen Ausgestaltung grundrechtlicher Garantien Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 300 ff.; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 24 f. 48 Kritisch allerdings Suhr, EuGRZ 1984,529, 534f. m.w.N.
2. Kap.: VerfassungsrechtIiche Problemfelder religiöser Freiheit
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von Religion und Weltanschauung. Religion und.Weltanschauung sind als Phänomene des gesellschaftlichen Lebens in ihrem Bestand unabhängig von rechtlichen Vorgaben und bilden für alle Normen, die an sie anknüpfen das inhaltlich gleiche Substrat. Festzuhalten bleibt, daß der Versuch einer näheren, objektiven Kriterien unterliegenden Interpretation religiös oder weltanschaulich geprägter Rechtsbegriffe nicht mit dem Hinweis auf die Schranken der grundrechtlichen Religionsfreiheit für überflüssig erklärt werden kann.
11. Die geschützten Verhaltensweisen
1. Extensive Auslegung der religiösen Freiheitsrechte in der Rechtsprechung des Bundesveifassungsgerichts
Liegt eine Religion oder Weltanschauung vor, stellt sich die weitere Frage, ob ein bestimmtes, religiös oder weltanschaulich motiviertes Verhalten vom Grundrechtsschutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfaßt ist, ob etwa das Tragen eines KopftuchS 51 oder der Verkauf von Speisen und Getränken sowie die Vermittlung von Unterkünften 52 als Religionsausübung angesehen werden muß. Das Bundesverfassungsgericht sah derartige religionsneutrale Verhaltensweisen ursprünglich nicht als von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt an53 und setzte sich über das Verständnis der Grundrechtsträger vom Umfang der Religionsfreiheit hinweg 54 . Mit seiner insoweit grundlegenden Entscheidung vom 16. 10. 196855 im sog. Lumpensammlerfall 56 wies das Bundesverfassungsgericht dagegen einen an49 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 136 f., unter Hinw. auf F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 221; ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 403 f. 50 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 96; vgl. auch F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 11, 23, pass., der zwar alle Grundrechte als "sachgeprägte Schutzgarantien" ansieht, jedoch die ,,rechtserzeugten" Freiheitsrechte besonders hervorhebt (vgl. dazu auch oben Fn. 46). 51 Dazu unten S. 146 f. mit Fn. 151 f., S. 161 mit Fn. 251 ff. 52 BVerfGE 19, 129 (betr. "Watch-Tower-Gesellschaft"); VG Hamburg NVwZ 1991, 806 (betr. "Scientology"). 53 BVerfGE 19, 129, 133; in jüngerer Zeit aufgegriffen von VG Harnburg NVwZ 1991, 806,810 (betr. gewerbliche Tätigkeit der "Church of Scientology"). 54 Vgl. BVerfGE 19, 129, 131, zum Vortrag der Beschwerdeführerin, die die Veranstaltungen, für die sie Steuern zahlen sollte, als "wesensmäßige und wesensnotwendige Ausprägungen der Kultusfreiheit wie z. B. Exerzitien und Rüstzeiten der römisch-katholischen und evangelischen Kirche" bezeichnet hatte. 5S BVerfGE 24, 236. S6 Der Fall betraf die Frage, ob die aus karitativen Gründen veranstaltete Lumpensammlung einer katholischen Jugendvereinigung (,,Aktion Rumpelkammer") den Schutz der Reli-
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
deren Weg. Es betonte, daß die äußerlich religionsneutrale Handlung einer Altkleidersammlung Religionsausübung sein könne. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion oder Weltanschauung zu betrachten sei, dürfe das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben57 . Mit Blick auf das Selbstverständnis der katholischen und evangelischen Kirche sah das Bundesverfassungsgericht die Sammlung als Religionsausübung an, die durch einfaches Recht (hier § 1 UWG) nicht beschränkt werden könne 58 . Diese "selbstverständnisorientierte Auslegung,,59 führte das Bundesverfassungsgericht weiter, als es den Grundsatz entwickelte, das Grundgesetz gebe dem einzelnen nicht nur die (innere) Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben; er habe auch das Recht, sein gesamtes Verhalten an der eigenen religiösen Überzeugung, und zwar nicht nur an imperativen Glaubenssätzen, auszurichten 60 • Das Bundesverfassungsgericht sieht seither in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein (einheitliches 61 ) Grundrecht, dessen materieller Gehalt sich vor allem nach dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger richtet62 • 2. Versuche zur Eingrenzung des grundrechtlich geschützten Betätigungsfeldes Das Aufkommen neuartiger Gemeinschaften führte vor allem in der Literatur, vereinzelt auch in der Rechtsprechung, zu Bemühungen, die betont extensive Auslegung der Religionsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren und einzelne Praktiken von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften auf der Ebene des Schutzbereichs aus dem Grundrechtsschutz auszuschließen. Dabei gionsfreiheit genießt; ausführliche Analyse zuletzt bei Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 35 ff. 57 BVerfGE 24, 236, 247. 58 BVerfGE 24, 236, 248 ff. 59 Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 38. 60 BVerfGE 32, 98, 106 (Gesundbeter); BVerfGE 33, 23, 28 (Eides-Fall); BVerfGE 41, 29, 49 (christliche Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg); ähnlich BVerfG NJW 1995, 3378, 3379 (Streichung des Buß- und Bettages als staatlich anerkannter Feiertag): ,,Die Religionsfreiheit gewährt dem einzelnen einen vor staatlichen Eingriffen geschützten Freiraum, in dem er sich in religiös-weltanschaulicher Hinsicht die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht." Verkürzt auch in BVerfGE 93, 1, 15 (Kreuz im Schulraum): "die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben". Zustimmend etwa BVerwGE 99, 1,7 (Tierschlachtungen ohne vorherige Betäubung des Tieres). 61 Dazu i. e. unten S. 125 ff. 62 Vgl. die Einschätzung von Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 24, der in der Eidesentscheidung des BVerfG (BVerfGE 33, 23) "Grundrechtssubjektivismus par excellence" sieht; Goerlich, JZ 1995, 955, 956, gelangt zu der Einschätzung, das BVerfG habe "das jeweilige Selbstverständnis zum leitenden Maßstab ,der Religionsfreiheit' gemacht"; vgl. auch Trute, Jura 1996, 462, 465 f.; mit Blick auf die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften auch die ausführliche Analyse von Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 29 ff., 68.
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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wird häufig an Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts angeknüpft, die unter dem Stichwort der "Kulturvölker-Formel" berühmt geworden sind. In einem Beschluß vom 8. 11. 196063 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, das Grundgesetz habe nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Geschichte herausgebildet habe. Um einen Mißbrauch des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu verhindern, rekurrierte das Bundesverfassungsgericht sodann auf die "grundrechtliche Wertordnung": Aus dem Aufbau dieser Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergebe sich, daß Mißbrauch namentlich dann vorliege, wenn die Würde der Person anderer verletzt werde 64 . Obwohl das Bundesverfassungsgericht an dieser Formel seit langem nicht mehr festhält 65 , wird sie in Entscheidungen der Fachgerichte66 , vor allem aber im wissenschaftlichen Schrifttum67 nach wie vor bemüht, um die Freiheit der Religionsausübung - meist mit Blick auf die neuartigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften - schon auf der Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs zu begrenzen. In engem sachlichen Zusammenhang mit der "Kulturvölker-Formel" stehen Vorschläge, die den Schutz der Religionsfreiheit an bestimmten traditionellen Ausübungsformen orientieren wollen. Die Ausübung von Religion und Weltanschauung sei durch Art. 4 GG nur insoweit geschützt, als die Ausübungsmodalitäten den 63 BVerfGE 12, I (betr. Werbung für Kirchenaustritt mit Tabak); zur Analyse Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 29 ff. und die dortigen Nachw. 64 BVerfGE 12, 1,4. 65 Das BVerfG griff auf die "Kulturvölker-Formel", soweit ersichtlich nur noch einmal, nämlich in BVerfGE 24, 236, 246, zurück; in dieser Entscheidung, mit der das BVerfG seine vor allem am Selbstverständnis orientierte Rspr. begründete (oben S. 13 f.), spielt die Formel aber bereits der Sache nach keine Rolle mehr. In BVerfGE 41, 29, 50 lehnt das BVerfG die "Kulturvölker-Formel" als Mittel zur Bestimmung eines "ethischen Standards" des Grundgesetzes ausdrücklich ab, dazu noch unten S. 151 mit Fn. 183. 66 Vgl. etwa BVerwGE 94, 82, 87, allerdings ohne daß daraus auf eine Begrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs geschlossen wurde; ferner VG München GewArch. 1984, 329, 33lf. 67 Zippelius, BK, Art. 4 (Drittbearbeitung), Rn. 85; Abel, Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in Bezug auf die ,,Neuen Jugendreligionen", S. 113; ders., in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 40, 43 ("beschränkt sich der Schutzbereich des Grundrechts von vornherein auf eine solche Glaubensbetätigung, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat"); Müller-Volbehr, in: Marre/Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 124; ders., JZ 1981,41,44 (ablehnend aber jetzt ders., DÖV 1995,301, 304f.; ders., JuS 1997,223, 224f.); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 67; Franz Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG Art. 4 Rn. 3; w. Nachw. bei Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 57 f., der mit Recht konstatiert, daß sich die Kulturvölker-Formel "zum meistzitierten und auch in der Praxis gerade auf die ,neuen Jugendreligionen' angewendeten Merkmal des Art. 4 Abs. 1,2 GG entwickelt" hat.
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I. Teil: Einführung und Problemübersicht
zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes bekannten, in Deutschland praktizierten Religionen und Weltanschauungen vergleichbar seien68 . Die ungestörte Religionsausübung des Art. 4 Abs. 2 GG schütze einen bestimmten Kreis geschichtlich gewachsener Fonnen der Glaubensäußerung 69 . Der Schutzbereich, von dem der Verfassunggeber ausgegangen sei, werde durch die ,,hergebrachten Fonnen des Christentums", und den "geschichtlich gewordenen und erfüllten Wirkungskreis der christlichen Kirchen" abgesteckt. Innerhalb dieses Schutzbereichs sei dann für christliche wie nichtchristliche Religionausübung Platz. Kein Platz sei jedoch für ,,religiös motivierte Unzucht oder für seelische Vergewaltigung, wie sie heute in einzelnen Jugendsekten" vorkomme 70. 3. Die Schranken der Religionsfreiheit
Keiner der genannten Vorschläge für eine Eingrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs ist in der Rechtsprechung auf ein nachhaltiges Echo gestoßen. Sie orientiert sich ganz überwiegend an der (neueren) Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, versteht Art. 4 Abs. I und 2 GG als umfassendes Grundrecht für ein glaubensgeleitetes Leben und mißt dem Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gemeinschaft entscheidende Bedeutung bei für die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten als Ausübung von Religion oder Weltanschauung dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterfalle 1. Zwangsläufig stehen die Gerichte dann vor der Frage, wo die Schranken des Grundrechts verlaufen. Da das Bundesverfassungsgericht die Schranken der als vorbehaltlos verstandenen Religionsfreiheit nur durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes zieht72, müssen die Gerichte prüfen, ob "mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter,,73 erkennbar sind, die sich bei einem abwägenden Vergleich mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit als höherrangig erweisen74 . v. Mangoldt / Klein/ Starck, GG Art. 4 Abs. I, 2 Rn. 34. Laschelder, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 156, 174 (Leitsatz 4). 70 Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 142, 144, anknüpfend an die Überlegung Hamels, in: Bettermannl Nipperdey 1Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV 11, S. 37, 79f., die Freiheit der Religion sei nur in den Grenzen der Fundamente möglich, die in der Rechtsüberzeugung der Bevölkerung wurzelten; diese Fundamente seien von den abendländisch-christlichen Konfessionen gelegt worden. 71 Vgl. etwa Heintschel v. Heinegg/Schäfer, DVBI. 1991,1341,1344 mit Fn. 35f.; ferner die Einschätzung von Rainer Scholz, NVwZ 1994, 127, 129: "Die kritische Auseinandersetzung öffentlicher Stellen mit Jugendsekten wird nicht selten dadurch zusätzlich erschwert, daß dem Selbstverständnis dieser Gruppierungen von der Verwaltungs- und Verfassungsrechtsprechung ein nicht unerheblicher Einfluß auf Umfang und Ausmaß des grundrechtlichen Schutzes gern. Art. 4 GG zugebilligt wird." 72 BVerfGE 44, 37, 49 f. m. w.N. 73 So die Formulierung in BVerfGE 33, 23, 32. 68
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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a) Kollisionen von Religionsfreiheit und einfachem Recht Dabei ergeben sich häufig Schwierigkeiten, wenn lediglich einfachrechtliche Vorgaben die Religionsausübung begrenzen. Die Gerichte stehen dann vor der Aufgabe nachzuweisen, daß die grundrechtseinschränkend wirkende Vorschrift des einfachen Rechts Ausdruck eines verfassungsrechtlich anerkannten Belanges ist, der gegenüber der Religionsfreiheit den Vorrang genießt. Dies fällt den Gerichten bisher vergleichsweise leicht im Bereich des Beamtenrechts, wenn es etwa um die Frage geht, ob der Beamte von seiner Pflicht zur Verfassungstreue75 im Hinblick auf religiöse Motive freigestellt werden könne 76 • In nachvollziehbarer Weise gelingt es ihnen auch darzutun, daß einem der (damaligen) Bhagwan-Bewegung angehörenden Lehrer von seinem Dienstherrn untersagt werden darf, die für Mitglieder dieser Gruppe (damals) typische rote Kleidung im Unterricht zu tragen. Dies sei mit dem Grundrecht der negativen Bekenntnisfreiheit auf seiten der Schüler und ihrer Eltern77 bzw. dem in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtenturns (Art. 33 Abs. 5 GG) wurzelnden Gebot zu religiös- weltanschaulicher Neutralität des Beamten unvereinbar78 • Diesen Belangen sei gegenüber der Religionsfreiheit des Lehrers der Vorrang einzuräumen79. Auch die Schulpflicht vermögen die Gerichte im Grundsatz durch einen gegenläufigen verfassungsrechtlich anerkannten Belang zu rechtfertigen, indem sie auf den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. I GG verweisen80 • Der "schonende Ausgleich", den die Verwaltungsgerichte mit Blick auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts herzustellen bemüht sind81 , führt dann häufig zur Freistellung schulpflichtiger Kinder (vor allem islamischen Glaubens) vom Sportunterricht82 • 74 Zu dieser Methode der Schrankenbestimmung vgl. etwa Kolwtt, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 90 ff.; v. Münch, in: v. Münchl Kunig, GG Art. 4 Rn. 53 ff.; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 93 ff.; Baldus, DÖV 1971,338,339; Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 38 ff.; Abel, Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in bezug auf die ,,Neuen Jugendreligionen", S. 112ff.; Lücke, EuGRZ 1995,651,656; J. Neumann, ZRP 1995,381,384; Müller-Volbehr, JuS 1997,223,225 ff., jeweils m.w.N. 75 Vgl. z. B. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG, § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG. 76 OVG Rh.-Pf. NVwZ 1986,403,405 = KirchE 23, 279, 283; VG Freiburg NJW 1981, 2829f. = KirchE 19,17, 19ff. 77 BVerwG NVwZ 1988, 937, 938 =KirchE 26, 37, 38. 78 VG München BayVBI. 1985,248 = KirchE 22, 285, 286f.; ähnlich BayVGH KirchE 23,173, 174f., bestätigt durch BayVGH KirchE 25,203,204; VG Hamburg KirchE 23,120, 123. 79 So die in Fn. 78 genannten Entscheidungen; anderes Abwägungsergebnis bei Alberts, NVwZ 1985, 92ff. 80 BVerwGE 94,82,83; BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. 81 Deutlich BVerwGE 94,82,89 (unter Hinweis auf BVerfGE 41,65,78; 52, 223, 251 f.). 82 Grundlegend BVerwGE 94, 82; ferner BVerwG, Urt. v. 25.8.1993 - 6 C 30.92; OVG Lüneburg NVwZ 1992, 79, 80; OVG NW NVwZ 1992, 77, 78; BayVGH KirchE 25, 164,
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
Gegenüber bestimmten Anforderungen des Staatsangehörigkeitsrechts führt die Rechtsprechung den Schutz des Gemeinwesens insgesamt ins Feld. Es nehme Schaden, wenn es in das freie Belieben des einzelnen gestellt wäre, unter Berufung auf subjektive Glaubensüberzeugungen einerseits die rechtlichen Bindungen zu diesem Gemeinwesen zu lösen, andererseits aber tatsächlich in ihm weiterleben zu wollen 83 . In weit weniger sicheres Fahrwasser geraten die - den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts folgenden - Gerichte im Bereich des Straßenrechts 84 • Nicht selten lehnen Anhänger einer neuen (angeblich) religiösen oder weltanschaulichen Bewegung es ab, vor dem Aufstellen von Informationsständen eine straßenrechtliche Sondemutzungserlaubnis zu beantragen. Manche Gerichte sehen in den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Beschränkungen der Religionsfreiheit 85 . Andere ziehen sich auf Leerformeln 86, bisweilen gekoppelt mit verfassungsrechtlich zumindest zweifelhaften Erwägungen87 , zurück oder weichen den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus, indem sie den Schutzbereich der Religionsfreiheit unter Hinweis auf die Besonderheiten des konkreten Falles enger fassen, als es dessen Rechtsprechung entspricht88 . 169; HessVGH NVwZ 1988,951 f. = KirchE 25,307,310; AG Berlin-Tiergarten KirchE 24, 113, 114f.; zur Kritik der Rspr. des BVerwG, insbesondere mit Blick auf die Rechtsgleichheit, unten S. 82 ff. 83 OVG NW NJW 1983, 2599, 2600 = KirchE 20, 131, 134. 84 Vgl. dazu auch die Rechtsprechungsübersicht von Abel, NJW 1996,91,95; ders., NJW 1997,426, 430f. 85 VG Koblenz KirchE 16, 403, 408 f.; AG Stuttgart KirchE 23, 6, 8, das unter Hinweis auf die "der Glaubensfreiheit immanent gezogenen Schranken" das fragliche Verhalten als dem Gemeingebrauch zugehörig wertete. Vgl. auch BVerfG NVwZ 1992,53, mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 und 2 GG; krit. gegenüber dieser Entscheidung Lorenz, JuS 1993,375,377. 86 Das Erfordernis einer Sondernutzungserlaubnis diene den ,,Interessen des Staates ... insbesondere Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs" (VG Hamburg KirchE 23, 211, 214) bzw. einem "störungsfreien Gemeingebrauch ... und der Sicherheit des Straßenverkehrs, die in ihrem Kern durch die Grundrechte der Art. 2 Abs. 1,3 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG gewährleistet" seien (VG Berlin NJW 1989, 2559 =KirchE 26, 296, 298 f.). 87 Die körperliche Unversehrtheit gern. Art. 2 Abs. 2 GG werde geschützt (VG Hamburg KirchE 23,211,214). 88 OLG Hamburg, JZ 1986, 507, 508 = KirchE 24, 66, 67f.: religiös oder weltanschaulich motivierte Persönlichkeitstests nicht von Art. 4 GG geschützt. Deutlich auch Hess. StGH ESVGH 36, 1, 4 f. = KirchE 23, 17, 19, der sich darauf zurückzog, daß die Pflicht zur Teilnahme am Sexualkundeunterricht jedenfalls nicht in den "Wesensgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit" eingreife. Ähnlich VGH BW GewArch. 1989, 378, 379: kein Eingriff in den "Kern der Religionsfreiheit" im Polizeirecht, Baurecht, Straßenverkehrsrecht, Straßenund Wegerecht, Abgabenrecht sowie Gewerberecht; jüngst auch BVerwG NJW 1997, 406f. und 408, wenn das Gericht in zwei Entscheidungen nicht näher prüft, ob der Schutzbereich eines Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eröffnet ist, sondern die Notwendigkeit einer Abwägung mit gegenläufigen verfassungsrechtlich geschützten Interessen in den Vordergrund stellt.
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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Nicht minder problematisch erscheint die Rechtsprechung der Fachgerichte, wenn die Religionsfreiheit einfachrechtlichen Anforderungen des Ausländer-, des Gewerbe- oder des Tierschutzrechts entgegengehalten wird. Im Ausländerrecht begrenzt das Bundesverwaltungsgericht - deutlich entgegen der Tendenz des Bundesverfassungsgerichts - den Schutzbereich der Religionsfreiheit, indem es dieses Grundrecht als nicht dazu bestimmt bezeichnet, Ausländern sonst nicht bestehende Aufenthaltsrechte zu gewährleisten89 . Ähnliche Ausweichmanöver vollführt die Rechtsprechung teilweise auch im Gewerberecht90 , wenn sie die Pflicht zur Anzeige eines Gewerbes (§ 14 GewO) nicht als Eingriff in die Religionsfreiheit ansieht. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG solle die Integrität des geistigen Prozesses, nicht jedoch die Gewerbeausübung schützen91 • Andere Gerichte sehen - ganz auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts - in der Anzeigepflicht das gegenüber der Religionsfreiheit vorrangige Anliegen des Gesetzgebers, die durch Art. 2, 12 und 14 GG garantierten Rechtsgüter Dritter zu schützen92 • Im Tierschutzrecht, das vor allem bei Anträgen von Muslimen auf Erteilung der Erlaubnis zum Schlachten von Schafen oder Rindern ohne vorherige Betäubung (sog. Schächten) in Konflikt mit der Religionsfreiheit tritt, steht die Rechtsprechung vor dem Problem, den Tierschutz als verfassungsrechtlich anerkannten Belang nachzuweisen. Zwar können nach § 4 a Abs. 2 TierSchG solche Schlachtungen ausnahmsweise genehmigt werden. Die Vorschrift gerät aber wegen ihrer engen Voraussetzungen häufig in einen Widerspruch zur Religionsfreiheit als Recht, das ganze Leben nach Glaubensvorstellungen zu gestalten93 . Dem Tierschutzgesetz muß trotz seines § 4 a Abs. 2 der Grundsatz entnommen werden, daß das Schächten von Tieren verboten ist (§ 4 a Abi;. 1 TierSchG). Es handelt sich, verwaltungsrechtlich gesprochen, um ein sog. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Manche halten das Verbot des Schächtens für verfassungswidrig, da sie einen der Religionsausübung entgegenstehenden Verfassungswert nicht zu erkennen vermögen 94 • Andere weichen dem Problem aus, indem sie den Schutzbereich der Religionsfrei-
89 BVerwG NJW 1983,2587 = KirchE 21, 115, 116f. (Sichtvermerkspflicht für Imam); ihm folgend VG Regensburg KirchE 23, 238, 241 (Aufenthaltserlaubnis für Missionare der "Vereinigungskirche"); vgl. auch BVerwG NVwZ 1983, 226, 227 (kein Fremdenpaß wegen Pflicht zur Aufgabe des christlichen Vornamens im Heimatstaat). 90 Vgl. dazu auch die Rechtsprechungsübersicht von Abel, NJW 1995, 91, 94f.; ders., NJW 1997,426, 430f. 91 VG Oüsseldorf KirchE 25, 125, 132. 92 VG Hamburg NVwZ 1991, 806, 811 f.; bestätigt durch OVG Hamburg NVwZ 1994, 192 und BVerwG NVwZ 1995, 473, 474; vgl. die gleichlautende Begründung in VG Hamburg KirchE 23, 211, 214 zur Notwendigkeit einer Sondernutzungserlaubnis für das Ansprechen von Passanten auf öffentlichem Straßenraum (dazu oben S. 18 m. Fn. 84f.). 93 Zu diesem Verständnis oben S. 14 mit Fn. 60. 94 AG Balingen NJW 1982, 1006, 1007; Kuhl/Unruh, OÖV 1991, 94, 101; Trute, Jura 1996,462,467; vgl. auch Pache, Jura 1995, 150, 153f., für den hypothetischen Fall eines völligen Verbots des Schächtens.
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
heit nicht für tangiert halten95 • Schließlich werden vielfältige Versuche unternommen, den Tierschutz als Verfassungsgut nachzuweisen. Als Anknüpfungspunkt dienen die Kompetenznorm des Art. 74 Nr. 20 GG96 , das in Art. 2 Abs. I GG erwähnte Sittengesetz97 und die Menschenwürdegarantie des Art. I Abs. I GG: die Würde des Menschen zeige sich gerade darin, bewußt verantwortlich und fürsorglich mit anderen Geschöpfen umzugehen98 . b) Abmilderung des Geltungsanspruchs einfachen Rechts Insgesamt zeigt sich, daß nach der Schrankendogmatik des Bundesverfassungsgerichts das einfache Recht sich nur schwer gegenüber den durch Art. 4 Abs. I und 2 GG geschützten Belangen durchsetzen kann. Dies liegt zum einen daran, daß das vom einfachen Recht verfolgte Interesse nicht immer Verfassungsrang hat und somit Grenzen "aus der Verfassung selbst" nicht oder nur mit Hilfe mühevoller Konstruktionen99 nachweisbar sind. Aber selbst wenn sich dies als möglich erwiesen hat, hat sich das dem gegenläufigen Verfassungswert Rechnung tragende einfache Recht noch nicht gegenüber dem Grundrecht durchgesetzt. Es muß sich in der Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Interesse als höherrangig erweisen. Das aber wird dadurch erschwert, daß im Rahmen der Abwägung wiederum das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers Berücksichtigung findet 1oo. 95 Vgl. mit unterschiedlicher Begründung BVerwGE 99, 1, 8; OVG Hamburg NVwZ 1994, 592, 593, das allerdings hilfsweise auch die Frage einer zulässigen Beschränkung des Grundrechts erörtert; OLG Hamm NVwZ 1994, 623, 624; VG Gelsenkirchen NWVBL 1993, 116, 117; VG Koblenz NVwZ 1994, 615, 617. Mit Recht stellt Müller-Volbehr, JuS 1997, 223, heraus, daß die Entscheidung BVerwGE 99,1 = NVwZ 1996, 61, paradigmatisch zeigt, welche Mühe der Judikatur die Fixierung von Schutzbereich und Schranken der Religionsfreiheit bereitet. 96 OVG Hamburg NVwZ 1994, 592, 594f. m.w.N.; v. Loeper/Reyer, ZRP 1984,205,211; w. Nachw. bei Kuhl/Unruh, DÖV 1991,94,100. 97 Erbel, DVBI. 1986, 1235, 1249f.; Brandhuber, NJW 1991, 725, 728; ders., NVwZ 1994,561,564; Müller-Volbehr, JuS 1997,223,226. 98 OVG Hamburg NVwZ 1994, 592, 594f. m.w.N.; Erbel, DVBI. 1986, 1235, 1251; Brandhuber, NJW 1991, 725, 728; ders., NVwZ 1994, 561, 564. Ganz ähnliche Probleme zeigen sich im Konflikt von Tierschutz und Forschungs- bzw. Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), vgl. dazu Brandhuber, NVwZ 1993,642; HessVGH NJW 1994, 1608, 1609; Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, S. 85 ff., die, S. 97 ff., dem Tierschutz über Art. 1 GG Verfassungsrang verleihen möchte; so auch R. Dreier / Starck, in: Händel (Hrsg.), Tierschutz. Testfall unserer Menschlichkeit, S. 103, 106f.; Kriele, ebd., S. 113, 120; ablehnend: Kloepfer, JZ 1986, 205, 209f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 93. 99 Vgl. die Überlegungen, zu denen das BVerwG mit Blick auf die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gezwungen ist, um nachzuweisen, daß Monumentalfiguren der Baukunst im Außenbereich nicht im Widerspruch zu den Darstellungen des Flächennutzungsplans aufgestellt werden dürfen: BVerwG DVBI. 1995, 1008, 1009. 100 Oben S. 9 f. mit Fn. 25 ff.
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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Im Ergebnis trägt die betont extensive Interpretation des grundrechtlichen Schutzbereichs durch das Bundesverfassungsgericht, verbunden mit der Judikatur des Gerichts zu den Schranken des Grundrechts, die Tendenz in sich, den Geltungsanspruch des einfachen Rechts zu verkürzen. Dabei möchte das Bundesverfassungsgericht keinerlei Abstufungen, die der Gesetzgeber aus unterschiedlichen Gründen vorgenommen hat, gelten lassen: Die Religionsfreiheit müsse bei der Auslegung und Handhabung des einschlägigen Rechts berücksichtigt werden, unabhängig davon, ob Gestaltungsspielräume dispositiven Rechts in Rede stehen oder Auslegungsspielräume "bei der Handhabung zwingender Vorschriften"IOl. Es verwundert nicht, daß in jüngerer Zeit vermehrt der Wunsch geäußert wird, Art. 4 Abs. I und 2 GG um einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt zu ergänzen 102. Dies wie auch Vorschläge, die darauf hinauslaufen, alle denkbaren gegenläufigen Belange im Grundgesetz zu verankern, um einen sachgerechten Ausgleich mit der Religionsfreiheit zu ermöglichen 103 , belegen, welche Unsicherheit derzeit bei der Bestimmung der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten Verhaltensweisen besteht.
III. Verstärkung des Grundrechtsschutzes für religiös fundierte Interessen mit Hilfe der Gewissensfreiheit Manche der in den vergangenen Jahrzehnten aufgekommenen Religionen werden nicht in einem gefestigten organisatorischen Rahmen ausgeübt. Der Islam z. B. verfügt nicht über kirchenähnliche Organisationen. Er geht davon aus, daß der Gläubige eine unmittelbare, nicht durch eine bestimmte Organisation vermittelte Beziehung zu Gott herstellen kann lO4 • Derartige religiöse Überzeugungen wie auch die nachlassende Kirchenbindung vieler Christen lO5 haben auf der Ebene des Verfassungsrechts dazu geführt, daß das Grundrecht mit der stärksten persönlichen Prägung und der geringsten institutionellen Rückanbindung an korporative Strukturen 106 erheblich an Bedeutung gewonnen hat: die Gewissensfreiheit. Immer häuBVerfGE 83, 341, 356. Fehlau, JuS 1993,441,446; ferner Keltsch auf dem ,,2. Scientology-Tribunal" der Jungen Union, Rheinischer Merkur Nr. 38, v. 23. 9. 1994, S. 24; ablehnend Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,309. 103 So plädieren Kuhl/ Unruh, DÖV 1991, 94, 10 1, z. B. für eine Verfassungsänderung zugunsten des Tierschutzes. 104 Vgl. Steinbach, Der Islam - Religion ohne Kirche, in: Abromeit/Wewer (Hrsg.), Die Kirchen und die Politik, S. 109 ff. 105 Dazu bereits oben S. I f. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang die folgenden Entscheidungen: BVerwG DVBI. 1994, 168 (betr. einen Antrag der Mutter eines christlichen Mädchens auf Befreiung vom Schwimmunterricht); VG Berlin NVwZ 1990, 100 = KirchE 27, 17 (betr. die Weigerung einer Christin, einem Antrag auf Erteilung des Personalausweises ein Lichtbild beizufügen, auf dem sie ohne Kopfbedeckung zu sehen ist). 106 Näher dazu unten S. 175 f. 101
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1. Teil: Einführung und Problemübersicht
figer werden im Religiösen wurzelnde Interessen nicht nur auf "die,dO? Religionsfreiheit, sondern auch auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. I GG gestützt. In der Rechtsprechung werden bereits häufig beide Grundrechte, die Religionsund die Gewissensfreiheit, in einem Atemzug genannt. Versuche, zu einer Abgrenzung vorzudringen, werden gar nicht mehr unternommen lO8 • So prüft das Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob muslimische Mädchen vom Sportunterricht freigestellt werden müssen, unter dem Gesichtspunkt der "Glaubens- und Gewissensfreiheit"l09. Ein anderes Beispiel ist das sog. Kirchenasyl, das in der Praxis regelmäßig auf eine religiös fundierte Gewissensentscheidung zurückgeführt II 0 und juristisch allenthalben unter dem Blickwinkel der "Glaubens- und Gewissensfreiheit" erörtert wird 111 • Kann der einzelne seine religiös bzw. weltanschaulich fundierten Interessen auch mit Hilfe der Gewissensfreiheit durchsetzen, bleiben alle Versuche, die Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit näher zu bestimmen, von rein theoretischem Erkenntniswert. Die Grenzen des Schutzbereichs und die Schranken der Religionsfreiheit könnten mit Hilfe der Gewissensfreiheit umgangen werden. Das wird ermöglicht durch ein Verständnis dieses Grundrechts als ,,kaum umgrenzbar" 112 im Schutzbereich und eine Schrankenbestimmung mit Hilfe gegenläufiger Verfassungsgüter, die gerade bei der Gewissensfreiheit "mit außerordentlich großen Schwierigkeiten betTachtet,,1l3 ist, weil Gewissensgebote einen "schonenden Ausgleich" mit andere!!' Rechtsgütern meist nicht zulassen 1l4. Überlegungen zu Schutzbereich und Schranken religiöser Freiheitsrechte können daher an der Gewissensfreiheit nicht vorbeigehen.
Zur Notwendigkeit differenzierter Betrachtung unten S. 125 ff. Vgl. dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 235 ff. und die dortigen Nachw. 109 BVerwGE 94,82,87; BVerwG, Urt. v, 25.8.1993 - 6 C 30.92, S. 14. 110 Vgl. etwa F.A.Z. Nr. 30 v. 5. 2. 1994: "Gewissenspflicht und Rechtsordnung. Berliner Katholiken gewähren Angolanern Kirchenasyl"; Udo Hahn, Aus Gewissensgründen gegen das Recht. Worum es im Streit um das Kirchenasyl zwischen dem Staat und den Kirchen geht, in: Rheinischer Merkur Nr. 20 v. 20. 5. 1994, S. 1; Scholten, Kirchenasyl kann christliche Pflicht sein, in: Rheinischer Merkur Nr. 22 v. 3. 6. 1994, S. 12 (Leserbrief). 111 B. Huber, ZAR 1988, 153, 157, der, S. 156, von der Rspr. des BVerfG ausgeht, Art. 4 GG gebe dem einzelnen das Recht, sein gesamtes Leben an den Lehren seines Glaubens auszurichten; ferner Kaltenbom, DVBl. 1993, 25, 27 f.; differenzierter Robbers, AöR 113 (1988), S. 30, 44ff.; v. Münch, NJW 1995,565 f. 112 Rüfner, RdA 1992, 1,2 m.w.N. 113 Herdegen, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 494; zur Schrankenbestimmung mit Hilfe gegenläufiger Verfassungsgüter näher unten S. 259 ff. 114 Vgl. Rüfner, RdA 1992, I, 3: "nur ein hartes Entweder-Oder"; Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1036f.; ferner Herdegen, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 493, der insoweit von einem "grundrechtsdogmatischen ,Dilemma'" spricht. 107 108
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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B. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsund der Weltanschauungsgemeinschaften Nach den durch Art. 140 GG in das Grundgesetz aufgenommenen Vorschriften des Art. 137 Abs. 3 und 7 WRV hat jede Religions- und jede Weltanschauungsgemeinschaft das Recht, innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten. Bei der Interpretation dieser Regelung ergeben sich ähnliche Fragen wie bei der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Sie betreffen vor allem Tatbestand und Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und dabei in erster Linie die Frage, inwieweit das Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft zu berücksichtigen ist ll5 . Unabhängig vom Aufkommen neuartiger religiöser bzw. weltanschaulicher Bewegungen werden von einzelnen Autoren gegen die stark dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen verpflichtete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 116 Einwände erhoben ll7 . Die beschriebenen 118 Veränderungen des religiösen Lebens haben dazu geführt, daß auch in der Rechtsprechung vereinzelt Bemühungen um eine objektive Interpretation des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRVerkennbar wurden 119 . In ganz ähnlicher Weise wie bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG 120 ergeben sich dabei jedoch Widersprüche zu der für die christlichen Kirchen entwickelten stark selbstverständnisorientierten Auslegung des Art. 137 Abs. 3 WRVentsprechend der nach wie vor h.M. 121 •
c. Fazit Insgesamt zeigt sich, daß die stark dem Selbstverständnis verpflichtete Interpretation der religiösen Freiheitsrechte nicht leicht zu überwindende Hürden für die dem Gemeinwohl verpflichtete Staatstätigkeit errichtet. Wenn es für das Verständnis der Tatbestandsmerkmale religiöser Freiheitsrechte und der von ihrem Schutz115 Dazu Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1994, mit umfassender Darstellung des Meinungsstandes zu den einzelnen Problemen. Näher unten S. 181 ff., S. 276 ff. 116 Dazu Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 29 ff.; näher unten S. 185 m. Fn. 418. 117 Wieland, Der Staat 1986, 320; ders., DB 1987, 1633; zustimmend Erwin Fischer, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 113, 114 ff.; Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 154ff. 118 Oben 1. Kap. 119 Vgl. etwa VG Hamburg NVwZ 1991, 806, 812. 120 Dazu oben S. 17 ff. 121 Vgl. die Nachw. unten S. 185 mit Fn. 418.
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I. Teil: Einführung und Problemübersicht
bereich erfaßten Aktivitäten entscheidend auf das Selbstverständnis des Rechtsträgers ankommt, können die Behörden und Gerichte kaum noch eigene, aus einer objektiven Interpretation gewonnene Vorstellungen davon durchsetzen, was "Religion", "Glaube" oder eine ,,Religionsgemeinschaft" im Sinne des Grundgesetzes ist. Wenn sodann auch auf der Ebene der Schranken religiöser Freiheitsrechte das Selbstverständnis Berücksichtigung findet und die Notwendigkeit einer Abwägung mit gegenläufigen Verfassungswerten den Geltungsanspruch des einfachen Rechts erheblich zurückdrängt, wird deutlich, daß auch der Gesetzgeber nur noch geringe Möglichkeiten hat, Belange des Gemeinwohls effektiv wahrzunehmen. All dies bedeutet, daß in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug der Staat kaum mehr die verbindliche Letztentscheidung treffen kann. Dieser Befund kann nicht mit dem Hinweis darauf entkräftet werden, daß letztlich immer ein staatliches Gericht (und sei es das Bundesverfassungsgericht) entscheidet. Hierauf scheinen manche Befürworter einer selbstverständnisorientierten Interpretation der Garantien religiöser Freiheit abzustellen, wenn sie betonen, daß die Letztentscheidung über den verfassungsrechtlichen Schutz und damit die Zulässigkeit der konkreten Ausübung religiöser Freiheitsrechte beim Staat bleibe 122 • Auf der Grundlage einer Verfassungsinterpretation, die bereit ist, dem Selbstverständnis des Rechtsträgers auf allen dogmatischen Ebenen, bei der Bestimmung des Schutzbereichs der einschlägigen Garantien, ihrer Schranken und selbst bei der Frage, ob ein Eingriff vOrliegt 123 , zu berücksichtigen l24 , kann staatlichen Stellen aber nur bei formaler Betrachtung ein Letztentscheidungsrecht zustehen. Die staatliche Entscheidung besteht mehr oder weniger in einer Beurkundung der von dem Rechtsträger vorgetragenen Konkretisierung der betreffenden Gewährleistung. Es entscheidet eine staatliche Stelle, die sich aber in der Sache am Selbstverständnis des Rechtsträgers orientiert. Materiell verstanden bedeutet die Letztentscheidungsbefugnis demgegenüber, daß die jeweils zuständige staatliche Stelle eine eigenständige Interpretation von Schutzbereich und Schranken des (Grund-)Rechts für den Rechtsträger verbindlich entwickeln kann. Ob der Staat eine solche - materielle - Letztentscheidungsbefugnis in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug hat, soll im folgenden zweiten Teil der Arbeit erörtert werden 125. Er bemüht sich um den 122 Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 258; allgemein Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 91. 123 So Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 414 ff., 442. Dieser Aspekt subjektivistischen Grundrechtsdenkens bleibt in der vorliegenden Arbeit ausgespart, weil es sich um ein allgemeines Problem der Grundrechtsdogmatik handelt, ohne daß Besonderheiten bei Eingriffen in die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit erkennbar wären. Zu den Problemen des Grundrechtseingriffs im Anwendungsfeld von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bereits MuckeI, Staatliche Warnungen vor sog. Jugendsekten, JA 1995, 343. 124 V gl. die Übersicht bei Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 440 ff. 12S Es ist dies die von earl Schmitt, Politische Theologie 11, S. 33, mit Recht als ..alles entscheidend" bezeichnete ..Hobbes-Frage: Quis iudicabit? Quis interpretabitur?"
2. Kap.: Verfassungsrechtliche Problemfelder religiöser Freiheit
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Nachweis, daß das Grundgesetz nicht eine möglichst weitreichende Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses verlangt, sondern eine möglichst an objektiven 126 Gesichtspunkten orientierte Interpretation der Garantien religiöser Freiheit nahelegt. Erst wenn dieser Nachweis erbracht ist, darf im einzelnen nach objektiven Interpretationskriterien geforscht werden, an denen der staatliche Rechtsanwender sich bei der Ausübung seines Letztentscheidungsrechts orientieren kann (unten dritter Teil).
126 Zum Begriff des Objektiven P. Kirchhof, Objektivität und Willkür, in: FS Geiger, 1989, S. 82, 87 m.w.N., der vor allem den Aspekt der Allgemeingültigkeit und Verallgemeinerungsflihigkeit hervorhebt.
ZWEITER TEIL
Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug Drittes Kapitel
Der Ausgangspunkt: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls A. Selbstbestimmung als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit Die durch die Grundrechte des Grundgesetzes dem einzelnen eingeräumte Freiheit bedeutet vor allem Selbstbestimmungi. Die private, liberale Freiheit vom Staat meint das Recht freier "Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen VOllzug"Z, "die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten,,3. Die grundrechtlichen Freiheitsrechte geben dem einzelnen Rechte zur Selbstentscheidung und halten andere Bestimmungsmächte fem 4 • Die Freiheitsrechte sind dabei zugleich Grundlagen dieser Autonornie 5 und Sicherungen für ihre Entfaltung 6 . I Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 375 f., 380; lsensee, Der Staat 1981, 161, 164, pass. Zur Unterscheidung von individueller, jedenfalls im Ansatz staatsgerichteter Freiheit und der (demokratischen) Freiheit zu selbstbestimmter Gestaltung des Gemeinwesens H. Dreier, JZ 1994,741. 2 BVerfGE 63, 343, 357; näher zum Begriff der Selbstbestimmung in der Rspr. des BVerfG: Sachs, in: Stern, Staatsrecht 111/1, S. 642f. mit umfangr. Nachw. 3 BVerfGE 60, 253, 268. Vgl. auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht 111/1, S. 641, der die Selbstbestimmung als das Recht charakterisiert, über die Rechtssphäre, die dem einzelnen zukommt, "als individuelle Willenssphäre nach eigener Entscheidung selbst zu bestimmen"; Hellermann, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzl / Schulev-Steindl / Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 131 f. 4 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 380; zum Verständnis von Freiheit als ,,Freiheit von staatlicher Fremdbestimmung" auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 67. 5 Zur Gleichsetzung von Selbstbestimmung und Autonomie: Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 380. 6 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht 111/1, S. 642.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Die grundrechtlich geschützte Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben ist für das vom Grundgesetz geformte Staatsgebilde von derart herausgehobener Bedeutung, daß nicht zu Unrecht schon von einer "Grundrechtsdemokratie" gesprochen wird, deren Ausgangspunkt darin liege, daß der Wille der einzelnen in den Angelegenheiten, die sie betreffen, maßgeblich see. Im Verfassungsstaat ist grundrechtliche Freiheit nicht ohne Selbstbestimmung 8 , Selbstbestimmung nicht ohne Grundrechte denkbar.
B. Die Notwendigkeit zum Ausgleich von individueller Selbstbestimmung und staatlicher Gemeinwohlverantwortung Jean Jacques Rousseau, dem als erstem Staatsdenker der Gedanke maximaler Selbstbestimmung des einzelnen vorschwebte, wollte nicht wahrhaben, daß jede individuelle Freiheit an Grenzen stößt. Er glaubte, eine Gesellschaftsform vorstellen zu können, ,,in der jeder, obgleich er sich mit allen vereint, dennoch nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt wie vorher,,9. Abweichungen einzelner von der volonte generale sah er als Ausdruck eines falschen Bewußtseins an, das einem Irrtum unterliege lO . Die Fehlerhaftigkeit dieser Überlegung ist offenkundig ll und vielfach aufgezeigt worden 12 • Mit dem pluralistischen Ansatz des Grundgesetzes 13 ist sie schlechthin unvereinbar. Das Ideal der völligen Selbstbestimmung aller ist nicht zu verwirklichen. Im Zusarnrnenleben mit anderen stößt die individuelle Selbstbestimmung zwangsläufig an Grenzen 14• Dies ist eine Selbstverständlichkeit, die heute über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg anerkannt ist 15 . 7 Haverkate, Verfassungslehre, S. 334, der, S. 330, 334, pass., auch - begrifflich nicht unproblematisch - von "Selbstregierung der einzelnen" spricht; vgl. auch v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 207, 208, pass.: "Selbstherrschaft" aller in der Demokratie; allgemein zur Bedeutung der Grundrechte für die geschriebene Staatsverfassung Stern, Staatsrecht III 11, S. 175 ff., der, S. 175, plastisch von einer "grundrechtsdurchdrungenen Verfassung" spricht. 8 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, S. 340: Selbstbestimmung als Leitpinzip der Grundrechte. 9 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag I 6, S. 43. 10 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag IV 2, S. 154; vgl. dazu Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 39f.; zur Gemeinwohlorientierung der Überlegungen Rousseaus Adam, Der Staat 1994, S. 395,401. 11 Vgl. Le. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 125 f. 12 Vgl. vor allem Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 156f., 264f., 273 f., 31I ff., pass. \3 Dazu nur Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33,43 ff.; v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 103 ff. m.w.N. 14 Vgl. nur Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 126; P. Kirchhof, FS Geiger, 1989, S. 82, 91 m.w.N.
3. Kap.: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls
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Die Grenzen der Selbstbestimmung werden markiert durch die Belange einzelner Dritter und der Allgemeinheit. Die juristische Basis dieser gegenläufigen Interessen ist wie für die Autonomie des einzelnen die Verfassung. Das Grundgesetz ist deshalb als eine Verfassung gekennzeichnet worden, die sowohl gegen den Individualismus als auch gegen den Kollektivismus Stellung bezieht!6 und eine "mittlere Linie,,!7 einhält!8. Das Grundgesetz sieht den einzelnen in seiner "Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit", ohne seinen Eigenwert anzutasten!9. Es hat erkannt, daß die Individuen nicht beziehungslos nebeneinander herleben 2o . Art. 2 Abs. I GG spricht dies ausdrücklich aus. Danach findet die Persönlichkeitsentfaltung ihre Grenze an den Rechten anderer2 !, aber auch an der "verfassungsmäßigen Ordnung". Damit bringt die Verfassung zum Ausdruck, daß der einzelne die rechtlich geschützten Interessen anderer Individuen zu achten hat und zugleich an überpersönliche Gemeinschaftswerte, ja an die gesamte Rechtsordnung22 gebunden ist23 • Mit anderen Worten: Die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung des einzelnen findet ihre Grenze an den Belangen des Gemeinwohls 24 • "Gemeinwohl" wird dabei in einem weiten, verfassungsrechtlich begrün15 Beispielhaft ist, daß zwischen zwei Journalisten mit im Grundsatz gegensätzlichen politischen Auffassungen wie Marion Gräfin Dönhoff(Die Zeit Nr. 14 v. 1. 4. 1994, S. 1: ,,Freiheit ohne Selbstbeschränkung zerstört sich selbst. Die Gesellschaft zerbröse1t, wenn der einzelne ungehindert bestimmen kann, wieviel Freiheit er sich nehmen darf." Ferner dies., Die Zeit Nr. 38 v. 16.9. 1994, S. 1: "Schrankenlose Freiheit führt leicht zum Ende der Freiheit".) und Joachim Fest (Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, 1993, S. 63, 66f. gegen die Idee der Selbstverwirklichung, S. 118: "Überdehnung der Freiheit", pass.) insofern Einmütigkeit besteht. 16 Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 1 Abs. I Rn. 46 m.w.N. 17 Peters, FS Laun, 1953, S. 669, 671. 18 Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 1 Abs. I Rn. 47. 19 BVerfGE 4, 7, 15f.; vgl. auch Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 78; Sachs, in: Stern, Staatsrecht m/2, S. 540, 1040f.; ders., FS Scupin, S. 627, 637,jeweils m.w.N. 20 Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 1 Abs. I Rn. 53. 21 Vgl. dazu Kriele, JA 1984,629,636; Brugger, JZ 1987, 633, 638. 22 Zu dieser Auslegung des Vorbehaltes der .. verfassungsmäßigen Ordnung" vgl. BVerfGE 6,32,36, 37f.; 74, 129, 152; 80, 137, 153. 23 Näher zur Bindung des ,,rechtlich verantwortlichen" Individuums an ..Gemeinschaftsmaßstäbe" Brugger, JZ 1987,633,637,638; vgl. auch Kriele, JA 1984, 629, 637. Treffend de Wall, Theologische Literaturzeitung 1994, Sp. 291, 296, sowie ders., in: Der Evangelische Erzieher 1995, 230, 233 f.: ..Das Grundgesetz errichtet keine Ordnung des bloßen Egoismus." Zur Suche nach dem Gemeinwohl als Aufgabe der Rechtswissenschaft Häberle, FS Josef Esser, S. 49, 52. 24 Die Literatur zum Gemeinwohl ist schier unübersehbar. Aus jüngerer Zeit vgl. die umfassende Darstellung von Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; ferner ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 246, 255; v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 124ff.; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 187ff., 333ff.; Stolleis, Artikel ..Gemeinwohl", in EvStL3 , Bd. I, Sp. 1061; Kerber/Schwan/Hollerbach, Artikel ..Gemeinwohl" in: StL7 , Bd. 11, Sp. 857 jeweils mit umfangr. Nachw.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
deten Sinne25 verstanden als die Summe aller Staatszwecke, die im Grundgesetz zum Ausdruck kommen26 • Das sind vor allem der Schutz der MenschenwÜfde 27 und der Freiheit sowie die Wahrung sozialer Gerechtigkeit 28 . Aber auch Gleichheit und Sicherheit sind Gemeinwohlbelange 29 . Innerhalb dieses, durch grundlegende verfassungsrechtliche Wertsetzungen 30 gebildeten Rahmens muß das Gemeinwohl von Rall zu Fall konkretisiert werden 31 . Dazu, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, ist zunächst der einzelne aufgerufen 32 . Er ist gehalten, bei der Ausübung seiner Freiheit die Belange anderer
25 Mit Recht weist Stolleis, Artikel "Gemeinwohl", in: EvStL 3 , Bd. I, Sp. 1061, 1063, darauf hin, daß eine genauere Beschreibung des Gemeinwohls in eine Darstellung der Grundzüge des geltenden Verfassungsrechts übergehen müßte. 26 Zu diesem Verständnis des Gemeinwohls v. Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 127ff., 183, 185; v. Amim möchte, ebd. S. 174f., allerdings statt von "Staatszwecken" von "Grundwerten" sprechen. Es ist jedoch entgegen v. Amim nicht erforderlich, dem Begriff des Staatszwecks die Vorstellung vom "Staat als Selbstzweck" beizulegen. Da dieses Verständnis heute überholt ist (dazu noch unten S. 206 mit Fn. 76ff.), unterliegt eine Verwendung des präziseren Begriffs der Staatszwecke keinen Bedenken. Vgl. BVerfGE 42, 312, 332, wo in der "Wahrung des Gemeinwohls" der ,,zweck des Staates" gesehen wird. Zum Verständnis des Gemeinwohls als einem aufgegebenen Ziel vgl. auch Hollerbach, Artikel "Gemeinwohl III. Juristische Aspekte", in: StL7 , Bd. II, Sp. 862. Gegen ein Verständnis des Grundgesetzes als "vollständiges materiales Gemeinwohlprogramm" Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 142. Zu abweichenden Umschreibungen des Gemeinwohlbegriffes vgl. etwa lohn Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 51, 263 ("Verhältnisse und Ziele, die jedermann gleichermaßen zum Vorteil gereichen"; v. Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 185, spricht insofern vom Gemeinwohl i.w.S.); ferner: W. Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 97, der drei Gemeinwohlvorstellungen unterscheidet. 27 Vgl. v. Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 127 ff.; Schwan, Artikel "Gemeinwohl H. Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht", in: StL7 Bd. H, Sp. 859, 860. 28 BVerfGE 42,312,332; vgl. auch Denninger, JZ 1970,145,146. 29 Zum Ganzen v. Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 142 ff. m.w.N. 30 Zur Verfassung als Rechtsnormensystem, dem Wertentscheidungen zugrundeliegen und in ihm verankert sind, vgl. vor allem Stem, Staatsrecht I, S. 194f., 558, 566ff.; ders., FS Scupin, S. 627, 634 f. 31 Vgl. BVerfGE 44, 125, 142: "das - je und je zu bestimmende - Gemeinwohl"; vor allem Häberle hat herausgearbeitet, daß es im demokratischen Staat kein apriori feststehendes Gemeinwohl geben kann, sondern das Gemeinwohl stets in einem offenen Prozeß immer wieder neu bestimmt werden muß (vgl. etwa Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 69, 223, pass.; ders., Rechtstheorie 14 [1983], S. 257, 262, 272ff.: "offenes prozessuales Gemeinwohlverständnis"; zustimmend Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 334; vgl. auch Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 272 f.: nur ein "a posterioriGemeinwohl" in der parlamentarischen Demokratie; ferner Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 178 m.w.N.); zur Verfassung als kodifiziertem Rahmen der Gemeinwohlverwirklichung auch Schwan, Artikel "Gemeinwohl H. Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht", in: StL7 , Bd. H, Sp. 859, 860; Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 246, 255f.
3. Kap.: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls
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und der Allgemeinheit im Blick zu behalten. Der einzelne ist in vielfältiger Weise rechtlich verantwortlich für das Gemeinwoht3 3 . Dies spricht nicht nur aus Dienstverpflichtungen, wie Art. 12 a GG sie vorsiehe4 • Auch andere - vom Grundgesetz ausdrücklich statuierte oder stillschweigend vorausgesetzte - Grundpflichten 35 und die Möglichkeit, Grundrechte gemäß Art. 18 GG zu verwirken 36, sind Ausdruck der rechtlich verbindlichen Gemeinwohlverantwortung des einzelnen 37 • Die Grundrechte selbst geben ihm die verfassungsrechtlich geschützte Möglichkeit zu verantwortungsvollem Handeln 38 . Das setzt allerdings voraus, daß der einzelne bereit ist, seine persönliche Freiheit nicht bis zum Äußersten auszuschöpfen 39 • Die Bereitschaft, diese der Verfassung zugrundeliegende Erwartung zu erfüllen, ist seit einigen Jahren immer seltener anzutreffen. Zwangsläufig richten sich die Blicke auf den Staat. Nur er verfügt über die Machtrnittel, um im Einzelfall die als dem Gemeinwohl dienlich festgestellte Ent32 Zum fehlenden Monopol des Staates auf das Gemeinwohl vgl. nur Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 48 ff., 52, pass.; ferner Isensee, in: Isensee 1Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. I § 13 Rn. 106, 174, Bd. V § 115 Rn. 3. 33 Vgl. Brugger, AöR 114 (1989), S. 537, 580: "Autonome Lebensführung muß verantwortet werden" (Hervorhebung im Original). Ein rechtlich faßbarer subsumtionsfähiger Begriff der Verantwortlichkeit besteht freilich, von Spezialvorschriften abgesehen, nicht, vgl. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 172f.; Sachs, DVBI. 1995, 873, 874ff.; allgemein: Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, 2. Aufl., 1958. 34 Zu ihnen und anderen "Sanktionen der Bürgerverantwortung" Sachs, DVBI. 1995,873, 891. 35 Zur Bedeutung der Grundpflichten für das Gemeinwohl Stern, Staatsrecht III 12, S. 1057; Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 435 f. m.w.N. 36 Dazu jüngst Butzer/Clever, DÖV 1994,637; Brenner, DÖV 1995,60, jeweils m.w.N.; zur Grundrechtsverwirkung als Sanktion der Bürgerverantwortung Sachs, DVBI. 1995, 873, 891. 37 Vgl. zur rechtlichen Verantwortlichkeit des einzelnen Brugger, JZ 1987, 633, 638, der allerdings den Begriff des Gemeinwohls vermeidet. 38 Vgl. mit Blick auf die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 16f.; ferner v. Unruh, BayVBI. 1995,38,40, der u. a. in Art. lAbs. 1 GG eine "besondere Verantwortung" der Staatsbürger "für das politische Gemeinwesen wie auch füreinander" begründet sieht; Pietzcker, Mitverantwortung des Staates, Verantwortung des Bürgers, JZ 1985,209, der, S. 216, resümierend betont, daß in jüngerer Zeit Entwicklungen erkennbar sind, die die Verantwortlichkeit des Bürgers zugunsten des Staates abschwächen; Wimmer, Freiheit in der Mitverantwortung für unseren Staat als Sozialstaat im Sinne des Grundgesetzes, S. 46, 233, pass. 39 Vgl. Gusy, JZ 1982,657,660 f.; Braun, JuS 1994,727, 729: ,,Rechtliche Freiheit kann es ... auf lange Sicht nur um den Preis einer inneren Selbstbindung geben." (Hervorhebungen im Original); ferner Rüjner, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (26), S. 60, 83, für die Kirchen; vgl. auch P. Kirchhof, F.A.Z. Nr. 213 v. 13. 9. 1995, S. 14, der mit Recht auf Seiten der Freiheitsberechtigten "die Kraft zur Selbstbindung" für unerläßlich hält. Zur Unmöglichkeit, einen dem Gemeinwohl förderlichen Gebrauch der Freiheit staatlich zu erzwingen, Jestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 152.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
scheidung durchzusetzen. Daß es gegenüber Menschen, die primär eigennützige Ziele verfolgen, des staatlichen Zwangs bedarf, um gemeinwohldienliche Zwecke zu erreichen, ist eine Binsenweisheit40 . Der mit hoheitlicher Gewalt ausgestattete Staat nimmt daher in dem "Entscheidungs- und Verantwortungszusammenhang,,41, den das Grundgesetz im Interesse des Gemeinwohls begründet hat, eine herausgehobene Position ein. Er ist vor dem einzelnen und den Personenverbänden Träger der "Gemeinwohlverantwortung,,42. Das von staatlicher Seite verfolgte Gemeinwohl und die Selbstbestimmung des einzelnen müssen von Fall zu Fall zu einem für beide Seiten befriedigenden Ausgleich gebracht werden. Zwar sind die Grundrechte, wie gesehen, im Gesamtzusarnmenhang der Verfassung bedeutsame Bausteine der Gemeinwohlverwirklichung. Zugleich bildet die auf sie gestützte Selbstbestimmung aber einen Gegenpol zum Gemeinwohl43 . Immer wieder vermögen sich für das Gemeinwohl wichtige Belange im gesellschaftlichen Wettbewerb nicht durchzusetzen. Sie gingen verloren, wenn nicht der Staat sich ihrer annähme44 . Ein Ausgleich grundrechtlich begründeter Selbstbestimmung des einzelnen mit widerstreitenden Belangen des Gemeinwohls ist um so weniger geboten, je mehr sich die Ausübung grundrechtlicher Freiheit auf den Bereich des forum intemum45 beschränkt. Je mehr dagegen das Verhalten des einzelnen in den Bereich des Öffentlichen hineinragt, um so dringlicher wird es, das Selbstbestimmungsrecht zu gegenläufigen Gemeinwohlbelan40 Vgl. etwa W Becker, Die Freiheit die wir meinen, S. 112; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 766: "zwischen Privatwohl und Gemeinwohl ein himmelweiter Unterschied". Wer allerdings mit neueren rechtstheoretischen Überlegungen eine auf Anreize setzende Prozeduralisierung des Rechts befürwortet (vgl. etwa Vesting, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-SteindllWiederin [Hrsg.], Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 9, 21; Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie. Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung, 1992; Pawlowski, Rechtstheorie 19 [1988], S. 409, 427), muß staatlichem Zwang prinzipiell mit Skepsis gegenüberstehen. 41 BVerfGE 44, 125, 142. 42 Zum Staat als Träger der Gemeinwohlverantwortung BVerfGE 42, 312, 332 (,.zweck des Staates ... Wahrung des Gemeinwohls"); lsensee, Der Staat 1981, S. 161, 174f.; Papier, in: Kloepfer I Merten I Papier I Skouris, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, S. 33, der zwar, S. 40, mit Recht darauf hinweist, daß der Rechtsstaat für gesellschaftliche Entwicklungen nicht umfassend verantwortlich ist, der aber gleichwohl "Tendenzen zur umfassenden staatlichen Gemeinwohlverantwortung" sieht; vgl. auch v. Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 165 (sub 6.); Hollerbach, in: Krautscheidt/Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (1), S. 46, 53; Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.) Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 54; Schuppert, DÖV 1995,761,769 f.; klassisch: G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 98: "Staat Vertreter der Gemeininteressen seines Volkes". 43 Vgl. Stolleis, Artikel "Gemeinwohl", in: EvStL 3 , Bd. I, Sp. 1061, 1063; ferner Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 766; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 641 m.w.N.: Widerspruch der Selbstbestimmung "zum Freiheits- und Rechteschutz". 44 lsensee, Der Staat 1981, S. 161, 174. 45 Zu grundrechtlicher Selbstbestimmung und forum internum vgl. Haverkate, Verfassungslehre, S. 340.
3. Kap.: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls
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gen ins Verhältnis zu setzen. Die normative Grundlage hierfür ist die Verfassung, welche über die unterschiedlichen Interessen hinweg Ausdruck eines Grundkonsenses aller ist46 . Mag die Notwendigkeit zum Ausgleich persönlicher Selbstbestimmung mit Belangen des Gemeinwohls in der sozialwissenschaftlichen und der verfassungsrechtlichen Theorie anerkannt sein. Im Alltag und auch in der juristischen Praxis scheint diese Einsicht allmählich in Vergessenheit zu geraten. Der vielbeklagte, juristisch bislang nicht hinreichend aufgearbeitete Individualismus unserer Tage findet in dem Ruf nach Selbstbestimmung seinen - im Ansatz selbstverständlich legitimen - Ausdruck. Auf dem Felde des Verfassungsrechts hat die Spruchpraxis der jüngeren Vergangenheit ihm auf eindrucksvolle Weise nachgegeben. Die oben referierte, stark arn Selbstverständnis des Rechtsträgers orientierte Rechtsprechung in religiösen Fragen47 mag in ihren Ursprüngen als legitime Reaktion auf die religiöse Repression von 1933 bis 1945 gedeutet werden. Dieser Erklärungsversuch kann jedoch nicht herhalten für die Selbstverständnishypertrophie in anderen Bereichen. Das vom BVerfG auf Art. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gestützte 48 Recht auf informationelle Selbstbestimmung etwa trägt - ungeachtet der gegenteiligen Beteuerung des Gerichts - dazu bei, die "Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person,,49 abzuschwächen. In welchem Maße die ,,informationelle Selbstbestimmung" infolge dieser Rechtsprechung die Realisierung von Gemeinwohlkonzepten erschwert hat, wird bereits dadurch signalisiert, daß der Datenschutz in vielen Behörden längst zu einem Reizwort geworden ist, weil seine Erwähnung ausreicht, um die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben zumindest zu erschweren5o . Auch in dem Konfliktfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz hat 46 Zur Verfassung als Ausdruck eines Grundkonsenses BVerfGE 44, 125, 147; Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 61 ff. m.w.N.; Isensee, NJW 1977, 545, 546f.; Karpen, JuS 1987,593 ff., der, S. 595, mit Recht betont, daß der die Verfassung tragende Konsens nicht nur einmal, bei ihrer Entstehung zustande kommen, sondern ständig bewahrt werden muß; Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981, insbes. S. 357 ff.; anders Schwan, Artikel "Gemeinwohl 11. Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht", in: StC, Bd. 11, Sp. 859, 861, der mit Blick auf die Konkurrenz politischer Parteien nur einen "Grundkonsens über die elementaren Verfassungsgehalte" für erforderlich hält (Hervorhebung nicht im Original). Schmitt Glaeser, BayVBI. 1995, 577, unterscheidet unter Hinweis auf Isensee a. a. O. zwischen einem "verfassungsrechtlichen Grundkonsens" und einem "staatsfreien Grundkonsens", der durch eine metarechtliche Ethik gebildet werde, "die für jedes staatliche Gemeinwesen, seine Verfassung und seine gesamte Rechtsordnung unabdingbar ist, weil sie die rechtliche Ordnung durch eine geistig-mentale Prägung des Menschen unterfängt und festigt". Ohne auf die Bedeutung der Verfassung hinzuweisen wird die Notwendigkeit eines Grundkonsenses im demokratischen Gemeinwesen betont von BVerfGE 63, 230, 242 f.; BVerwGE 82, 76, 80. 47 Oben S. 6 m. Fn. 6 ff. sowie S. 14 m. Fn. 57ff. 48 BVerfGE 65, 1,41. 49 BVerfGE 65,1,44. 50 Insoweit ist vor allem auf das traditionelle Konfliktfeld Datenschutz und Verbrechensbekämpfung hinzuweisen, vgl. etwa Ralf Krüger, DÖV 1990, 641; Vahle, VR 1991, 371;
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
das BVerfG dem Selbstverständnis eine bedenkliche Tragweite zugewiesen. In seinem Bestreben, das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG möglichst weit auszulegen, sieht der Erste Senat in einer beleidigenden Äußerung erst dann eine unzulässige "Schmähkritik", wenn für den Beleidiger subjektiv nicht die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht51 . Eine Tatsachenbehauptung unterfällt nach Ansicht des Senats erst dann nicht mehr dem Schutz der Meinungsfreiheit, wenn sie bewußt unwahr, also subjektiv Lüge ist52 . Diese mit Recht heftig kritisierte 53 Rechtsprechung macht deutlich, wie leicht eine der individuellen Selbstbestimmung verpflichtete Grundrechtsinterpretation zu einer einseitigen Verabsolutierung einzelner verfassungsrechtlich geschützter Positionen führen kann. Die Einsicht, daß die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung durch gegenläufige Belange begrenzt wird, tritt in den Hintergrund.
C. Staatliche Gemeinwohlverantwortung in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug Das Aufkommen neuer, Z.T. nur vorgeblich religiös (bzw. weltanschaulich) geprägter Gruppen, hat für eine Rückbesinnung auf die staatliche Verantwortung für das Gemeinwohl gegenüber religiös begründeten Aktivitäten gesorgt54 . Zwar haben auch gesellschaftliche Kräfte, insbesondere die Kirchen, Eltern- und Betroffenenverbände 55 sowie engagierte Einzelpersonen (oft ehemalige Anhänger einer sog. Jugendsekte)56 gegen die neuartigen Gruppen Front gemacht. Vor allem die auch F.A.Z. Nr. 299 v. 24. 12. 1994, S. 4, zu den praktischen Problemen: ,,Ist Datenschutz wichtiger als Verbrechensbekämpfung? Die Nöte der Polizei, wenn sie von einem geplanten Verbrechen erfährt". 51 Vgl. BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; auch BGH NJW 1994, 124, 126; zu dieser Rspr. mit Recht kritisch Kriele, NJW 1994, 1867, 1899, 1900: "Einladung zur Verrohung der Sprache"; Stürner, JZ 1994, 865, 868; Kiesel, NVwZ 1992,1129; Sendler, ZRP 1994,343; Tettinger, Die Ehre - ein ungeschütztes Verfassungsgut? 1995; Stark, JuS 1995,689. 52 Schulze-Fielitz, JZ 1994,902,903, unter Hinweis auf BVerfGE 61, I, 8; vgl. auch Stürner, JZ 1994,865, 867f. m.w.N. 53 Vgl. neben den in Fn. 51 bereits angeführten Beiträgen vor allem: Stern, FS Hübner, S. 815, 816ff.; Isensee, AfP 1993,619; Schmitt Glaeser, NJW 1996,873; demgegenüber plädiert Alberts, NVwZ 1994, 1150, 1154 mit Fn. 33 und 70, dafür, bei Art. 4 GG einen "Grundrechtsstandard" zu verwirklichen, wie er in der Rspr. zu Art. 5 Abs. 1 GG bereits verwirklicht sei. Zustimmung zur Rspr. des BVerfG im Problemfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz auch bei Ladeur, AfP 1993,531 ff., der, S. 536, die Judikatur für "überwiegend vertretbar" hält, aber mit Recht bemängelt, daß sie "zu sehr in situativen Abwägungen befangen" sei (dazu näher unten S. 198 f. mit Fn. 17; S. 225 f.; S. 236 mit Fn. 86 ff.; S. 239 ff. mit Fn.116ff.). 54 Vgl. die Nachw. oben S. 8 Fn. 20. 55 Vgl. etwa Blume/Gurgel, in: Die Zeichen der Zeit 47 (1993), S. 128, zur Arbeit der ,,Eltem- und Betroffenen-Initiative gegen psychologische Abhängigkeit Sachsen e.V."
3. Kap.: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls
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"Church of Scientology"S7, die "Transzendentale Meditation"s8, die "Osho-"(früher: "Bhagwan-")BewegungS9 und die "Vereinigungskirche" ("Mun-Sekte,,)60 sind wiederholt heftig angegriffen worden. Immer wieder wird aber darüber hinaus ein Eingreifen staatlicher Stellen gefordert61 . Diese haben vor allem mit warnenden Stellungnahmen reagiert, die auf von den ,,Jugendsekten" ausgehenden Gefahren aufmerksam machen sollen62 . Aber auch die Einsetzung der Enquete-Kommission 56 Aus dem Kreis der selbst Betroffenen v. Hammerstein, Ich war ein Munie. Tagebücher und Berichte einer Befreiung aus der Mun-Sekte, 1980; Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten. Psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige, 1993; aus dem Kreis der zahlreichen Veröffentlichungen anderer Autoren vgl. nur: Rainer Scholz, Probleme mit Jugendsekten. Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Betroffene sowie Behörden, Gerichte und Berater. Beck-Rechtsberater im dtv, Bd. 5633; Astrid Hermanns, Sekten. Perlen-Reihe, Bd. 806; vgl. im übrigen die Nachw. oben S. 2 Fn. 11. 57 Gegen sie richten sich etwa folgende Veröffentlichungen: J. Hermann (Hrsg.), Mission mit aUen Mitteln. Der Scientology-Konzern auf Seelenfang, 1992; v. Billerbeck/Nordhausen, Der Sekten-Konzern. Scientology auf dem Vormarsch, 1993; R. Hartwig, Scientology. Ich klage an! 1994; Thiede, Scientology - Religion oder Geistesmagie? 1992; ders., Magie mit okkulten und ideologischen Zügen, in: Rheinischer Merkur Nr. 7 v. 18. 2. 1994, S. 22. 58 Mit ihr setzen sich auseinander: Haack/Gandow, Transzendentale Meditation. Maharishi Mahesh Yogi. Maharishi Veda, 6. Aufl, 1992. 59 Aus den gegen sie gerichteten Veröffentlichungen vgl. etwa: Haack, Die "Bhagwan"Rajneesh-Bewegung, 3. Aufl, 1984; Flöther, Der Todeskuß. Wahn und Wirkichkeit der Bhagwan-Bewegung,1985. 60 Mit ihr beschäftigen sich: v. Hammerstein (Fn. 56); Moritzen, Muns Vereinigungskirche. Lehre und Praxis, 1981; Bendrath/Herrmann/Springfeldt, Ein Messias aus Korea? Eine Hilfe zur theologischen Auseinandersetzung mit der Vereinigungskirche und ihren "Göttlichen Prinzipien", 1980; Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten. Psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige, S. 24 f., 26 ff. 61 Beispielhaft v. Billerbeck/Nordhausen, Der Sekten-Konzern. Scientology auf dem Vormarsch, 1993, S. 275, die ein Verbot der "Church of Scientology" fordern. Vgl. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments "zu den Sekten in Europa" v. 29. 2. 1996, mit der eine Reihe staatlicher Maßnahmen gefordert werden (abgedruckt in: Bundesrat Drucks. 196/96). 62 Zu staatlichen Warnungen Muckei, JA 1995, 343. Die Rechtsprechung sieht in derartigen Warnungen Maßnahmen, die "dem Schutz der im EinzelfaU kollidierenden Grundrechte anderer oder der Gewährleistung verfassungsrechtlich hervorgehobener Gemeinschaftsgüter" (BVerfG NJW 1989, 3269, 3270), also dem Gemeinwohl dienen. Vgl. das Verständnis der zitierten Formulierung des BVerfG in der Entscheidung des BVerwG NJW 1991, 1770, 1772 (r. Sp.). In diesem Beschluß hebt das BVerwG, ebd., S. 1771, zudem hervor, daß für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung eine "Verpflichtung auf das Gemeinwohl" besteht. Auch der Gesichtspunkt, daß der Staat insoweit Verantwortung trägt, klingt in der Rspr. an, wenn das BVerfG, NJW 1989, 3269, 3270, ausdrücklich von einer "staatlichen Verantwortung für die verfassungsrechtlich hervorgehobenen Belange des Jugendschutzes" spricht. Zu ,,Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Aufklärung über sogenannte Jugendsekten oder Psychogruppen einschließlich der mit ihnen rechtlich, wirtschaftlich oder in ihrer religiösen oder weltanschaulichen Zielsetzung verbundenen Organisationen" vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage mehrerer Abgeordneter des Deutschen Bundestages, in: Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucks. 13/4132 (zu dieser Kleinen Anfrage vgl. auch BVerfG NJW 1996,2085 - Antrag eines "Transzendentale Meditation" betreibenden Vereins auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung).
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
"Sogenannte Sekten und Psychogruppen" durch den Deutschen Bundestag ist zu nennen 63 . Gegen die von privater wie von öffentlicher Seite unternommenen Versuche, ihrem Wirken Einhalt zu gebieten, führen die angegriffenen Vereinigungen regelmäßig die religiösen bzw. weltanschaulichen Freiheitsrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 und 7 WRV 64 ins Feld. Doch dürfen auch diese Rechte nicht zu unüberwindbaren Hindernissen uminterpretiert werden, die staatlichem Handeln im Interesse gegenläufiger Gemeinwohlbelange in jedem Falle entgegenstehen 65 . Das Recht auf Selbstbestimmung muß in religiösen bzw. weltanschaulichen Angelegenheiten nicht anders als in anderen Lebensbereichen mit Belangen des Gemeinwohls zu einem sachgerechten Ausgleich66 gebracht werden. Religionsfreiheit ist kein "Blankoscheck zur Exemtion aus der verfassungsrechtlichen Wertordnung,,67. Solange das religiöse Leben in Deutschland nahezu ausschließlich christlich geprägt war68 , bestand kein Zweifel daran, daß die Religionsgemeinschaften und das religiös motivierte Handeln des einzelnen einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwohlleisteten69 . Die Aktivitäten der neuartigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften und ihrer Mitglieder zwingen jedoch dazu, diesen Befund zu überdenken. Sie geraten immer öfter in Konflikte mit den 63 Vgl. dazu Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Stenographischer Bericht, 95. Sitzung, 14.3.1996, S. 8487ff. 64 Dazu i.e. unten 3. Teil. 65 Deutlich BVerwGE 90, 112, 123 f.; wo das BVerwG betont, daß ..der Staat in Anbetracht grundrechtsgefahrdender Aktivitäten von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften weder durch die Garantie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG) noch durch das hieran anknüpfende Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität ... an einem aktiven Schutz der bedrohten Grundrechte gehindert" sei. Vgl. auch Hollerbach, AöR 106 (1981), S. 218, 227, der die staatliche Gemeinwohlverantwortung gegenüber einer zu sehr dem Selbstverständnis des einzelnen verpflichteten Interpretation der Religionsfreiheit hervorhebt. 66 Zur Notwendigkeit eines solchen Ausgleichs oben S. 28 ff., insbes. S. 32 f. mit Fn. 43 ff. 67 Link, FS Thieme, S. 95, 118. 68 Vgl. oben S. 1 mit Fn. I f. 69 Vgl. Link, FS Thieme, S. 95, 119. Aus der umfangreichen Literatur zur Religion als Faktor des Gemeinwohls seien hervorgehoben Braun, JuS 1994, 727, 729 mit Blick auf die Bedeutung der Religion bei Rousseau; ferner Zippelius, JuS 1993,889, pass., der, S. 891 die ..integrierende Funktion weltanschaulicher Leitbilder" hervorhebt; zum Beitrag der Kirchen zur Verwirklichung des Gemeinwohls lestaedt, in: Rüther (Hrsg.) Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 152; Mikat, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 111, 137; Schwan, Artikel ..Gemeinwohl 11. Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht", in: StL 7 , Bd. 11, Sp. 859, 861. Vgl. auch die Äußerung des Hildesheimer Bischofs lose! Homeyer zum Verhältnis von Kirche und Politik in dem Interview Rheinischer Merkur Nr. 38 v. 23. 9. 1994, S. 25: ..Verwirklichung des Gemeinwohls". Beispielhaft auch die Präambel des evangelischen Kirchenvertrages mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern, die Bezug nimmt auf die ,,Bedeutung, die christlicher Glaube und christliches Leben und diakonischer Dienst auch im religiös neutralen Staat für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger haben" (ABI. EKD 1994,265 f.).
3. Kap.: Staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls
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normativen Vorgaben für ein Gemeinwesen, in dem bis vor kurzem in religiöser Hinsicht nahezu ausschließlich das Christentum von Bedeutung war, wie es von den Großkirehen vertreten wird. Diese Konflikte erinnern den Verfassungsinterpreten daran, daß auch auf die Garantien religiöser bzw. weltanschaulicher Freiheit gestützte Interessen mit Belangen des Gemeinwohls in Einklang gebracht werden müssen. Da dies, wie dargelegt, mitunter des staatlichen Zwangs bedarf, muß der Staat die Befugnis haben, den notwendigen Ausgleich der unterschiedlichen Belange für alle Seiten verbindlich herbeizuführen 70.
70 Vgl. vor allem v. Campenhausen, in: Morsey I Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, S. 71, der, S. 74, mit Blick auf die vornehmlich in den ersten Nachkriegsjahren vertretene Koordinationstheorie (dazu unten S. 77 mit Fn. 45 f.; S. 111 f. mit Fn. 183 ff.) hervorhebt, daß "angesichts der Gefahr einer pluralistischen Minimierung des demokratischen Verfassungsstaats und dessen unverzichtbarer Gemeinwohlverantwortung ... das staatliche Letztentscheidungsrecht und die Unterworfenheit auch der Religionsgesellschaften in weltlichen Angelegenheiten unter die Hoheit des Staates in Erinnerung gerufen werden" mußte. Ferner Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 68, der darauf hinweist, daß "der Staat in Höchstzuständigkeit Gemeinwohlverantwortung" wahrnimmt. Die im Text formulierte Überlegung ist nicht Ausdruck einer außeIjuristischen, vorverfassungsrechtlichen und rein staatstheoretischen Selbstverständlichkeit. Die Notwendigkeit, die Belange des Gemeinwohls zu konkretisieren und ggf. durchzusetzen ist ein durch und durch verfassungsrechtlich fundiertes Anliegen (vgl. auch Hollerbach, ebd.: "gemäß dieser Verfassung"). Mit Recht betont Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 70: ,,Außerhalb der Verfassung gibt es kein Gemeinwohl ... ".
Viertes Kapitel
Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht A. Die "staatliche Sicht" der Verfassungsinterpretation Ausgangspunkt und Grundlage der Überlegungen zur Stellung der Religionsgemeinschaften und des einzelnen Gläubigen in der staatlichen Rechtsordnung ist das staatliche Recht. Die "staatliche Sicht'.! steht heute als methodischer Ansatz außer Frage. Konnte sich Paul Mikat im Jahre 1963 noch dagegen wenden, das Wesen der Kirchen "durch den Schleier staatlicher Verfassungsnormen" zu sehen 2, so besteht heute im Grundsatz Einigkeit darüber, daß die Religionsgemeinschaften in vom staatlichen Recht geordneten Bereichen nur nach Maßgabe dieses Rechts tätig werden können 3 • Dieser methodische Ansatz kann sich auf ein Verständnis des modernen Staates als "organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" stützen, welche einerseits die Gesellschaft zusammenhält und ordnet und andererseits von den in dieser Gesellschaft lebenden Menschen zusammengehalten wird4 . Dieser Staat unterwirft die auf Glauben oder Weltanschauung beruhenden Vereinigungen seiner Ord1 H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, S. 18; vgl. auch Quaritsch, Der Staat 1962, S. 175, 180, auch in: Quaritsch/Weber, Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 265, 269: "staatliche Blickweise". Dieser Ansatz deutet sich bereits an bei Smend, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 11 (1954), S. 238, 239, der erkannte, daß "vom Staat her gesehen" die Antwort zu finden ist auf die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche. 2 Mikat, in: Staatsbürger und Staatsgewalt Bd. II, S. 315, 341; mit Recht kritisch bereits Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337,358 Fn. 57. 3 Vgl. Scheuner, ZevKR 7 (1959/60), S. 225, 229ff., der sich, S. 230, unter Hinweis darauf, daß der modeme Staat es mit verschiedenen Konfessionen zu tun hat, gegen die Annahme wendet, im staatlichen Recht einfach ein Widerspiel der kirchlichen Lehren vorzufinden; ferner H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, S. 18 ff., der zur Begründung auf die staatliche Souveränität verweist; ders., Grundprobleme des Staatskirchenrechts, S. 22 ff., 28 f., wo er sich, ebd. Fn. 43, kritisch gegenüber der Betonung des religiösen Selbstverständnisses durch BVerfGE 24, 236 äußert, zu dieser Entscheidung oben S. 13 f. mit Fn. 55 ff.; Meyer-Teschendorj, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 105; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 21 f. m.w.N. 4 Heller, Staatslehre, S. 228 ff.; vgl. auch Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatsrechtslehre, in: FS Smend, 1962, S. 225, 249, 258.
4. Kap.: Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht
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nungsgewalt, soweit sie in den allgemeinen Rechtsverkehr eintreten oder durch ihr Wirken das Gemeininteresse oder Recht des einzelnen berühren5 . Die ,,rechtliche Grundordnung des Staatswesens ..6 ist die Verfassung. Sie regelt in Grundzügen sowohl die Organisation und Funktionsweise der Staatsgewalt als auch die Rechtsstellung des einzelnen und der Verbände7 • Sie ist es, die in rechtlicher Hinsicht, nicht moralisch oder politisch-programmatisch, die Ausübung politischer Herrschaft bestimmt und begrenzt, die den politischen Prozeß und die Auseinandersetzung der Gruppen um Macht und Teilhabe am Sozialprodukt ordnet und auch die individuelle Freiheit sichert8 . Die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und das Staatskirchenrecht müssen als Teil des Verfassungsganzen verstanden und interpretiert werden 9 . Die Kirchen und Religionsgemeinschaften 10 sind dem Maßstab der Verfassung unterworfen. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes in der Demokratie nimmt das Recht in Anspruch, das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften durch die Verfassung zu ordnen und die Stellung und Wirkungsmöglichkeit von Religion und Religionsgemeinschaften in der staatlichen Rechtsgemeinschaft durch die Verfassung oder aufgrund der Verfassung durch Gesetz und Vertrag zu bestim-
5 Badura, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 212f. mit umfangr. Nachw. 6 Scheuner, in: Staatstheorie und Staatsrecht, S. 171, 173; vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 17: "Rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens"; so auch Hartmut Krüger, in: Brunner (Hrsg.), Politischer Pluralismus und Verfassungsstaat in Deutschland und Ungarn, S. 97, 98; ähnlich lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 172: "Rechtliche Grundordnung des Staates"; auch schon Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 109, pass.; zu anderen Umschreibungen des Verfassungsbegriffs Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 4 mit Nachw. 7 Zur Qualifizierung der Religionsgemeinschaften als Verbände aus der Sicht des Verfassungsrechts unten S. 112 mit Fn. 188. B Vgl. Badura, Artikel "Verfassung", in: EvStL3 Bd. 11, Sp. 3737; ferner Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 88 f.; ders., VVDStRL 20 (1963), S. 53, 61 ff. 9 Es ist das Verdienst Schlaichs, dies in seinem Werk "Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip" herausgestellt zu haben, vgl. etwa ebd. S. 163: "Einfügen des Staatskirchenrechts in die Grund- und Wertordnung der Verfassung im Ganzen". Vgl. auch Hollerbach, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 88: "die Bürger ... in ihrem Verhältnis zu Religion und Kirche sowie die religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften als Lebensverbände im Gemeinwesen unter der Autorität der Verfassung ... ". 10 Auch die Kirchen sind in der Terminologie des Grundgesetzes Religionsgesellschaften bzw. -gemeinschaften. Ihre besondere Hervorhebung im Text signalisiert daher keinen besonderen staatskirchenrechtlichen Status, sondern trägt lediglich ihrer nach wie vor herausgehobenen Stellung für das religiöse Leben in Deutschland Rechnung; zur Terminologie vgl. etwa Kästner, Staatliche lustizhoheit und religiöse Freiheit, S. 3 Fn. 1; ders., ZevKR 34 (1989), S. 260, 268 m. Fn. 38; Badura, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 225f.; Schleithoff, Innerkirchliche Gruppen als Träger der verfassungsmäßigen Rechte der Kirchen, S. 97 ff., jeweils m.w.N.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
men 11. "Die Verfassung ist das Grundgesetz der staatlichen Gemeinschaft und demgemäß Rechtsgrund des Staatskirchenrechts.,,12. Dadurch verlieren die Religionsgemeinschaften nicht die Freiheit selbständigen Wirkens nach eigenem Maß und Verständnis. Thr Wirken bestimmt sich allerdings nach der inhaltlichen Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Normen 13 • Zu derartigen Vorgaben ist die Verfassung legitimiert aufgrund der Säkularität des von ihr geordneten Staatswesens. Zu den den modernen Staat prägenden Merkmalen wird die ,,rein weltliche Betrachtung des politischen Herrschaftsverhältnisses,,14 gezählt, in deren Folge die Religion nicht Bestandteil der politischen Ordnung ist und in den Bereich der Gesellschaft verwiesen wird l5 . Das Grundgesetz setzt dies als Ergebnis einer langen Entwicklung l6 voraus und bezieht es unter verschiedenen Aspekten, etwa dem der Neutralität 17 , der Parität l8 , der Trennung von Staat und Kirche l9 , aber auch dem der Religionsfreiheit in seinen normativen Gehalt ein. Für die Interpretation der Normen des staatlichen Rechts ist danach, auch soweit sie Fragen der Religion und Weltanschauung betreffen, grundsätzlich das Verständnis maßgeblich, das der staatliche Rechtsanwender mit den Methoden zur Auslegung des staatlichen Rechts errnittelt2o . "Was eine Religionsgemeinschaft, eine Weltanschauungsgemeinschaft ist, bestimmt das staatliche Recht".21 Bei der Auslegung kann sich zeigen, daß die (Verfassungs-) Norm an das religiöse Selbstverständnis eines einzelnen oder einer Gemeinschaft anknüpft22 . Doch ist damit noch
11 Badura, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 212 mit Blick auf die Kirche. 12 Badura, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 214, der ergänzend auf Modifikationen dieses Satzes durch Konkordate und Kirchenverträge hinweist. 13 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 163. 14 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: FS Forsthoff, 1967, S. 76, 85, auch in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 92. 15 Böckenjörde, in: FS Forsthoff, 1967, S. 76, 85, 89. Näher zur Trennung von Staat und Gesellschaft unten S. 97 ff. 16 Dazu Böckenförde, in: FS Forsthoff, 1967, S. 76ff. 17 Dazu unten 7. Kap. 18 Dazu unten 8. Kap. 19 Dazu unten S. 73 mit Fn. 16; S. 108 mit Fn. 161; S. 134 f.; S. 192. 20 Gegen eine Bindung des Staates bei Festlegung, Abgrenzung und Interpretation der verfassungsrechtlichen Garantien und ihre Voraussetzung an ,,Eigenart und ,Selbstverständnis' der Religion" auch Badura, in: ListI IPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 222. 21 Scheuner, HdbStKirchR I Bd. I, S. 5, 40; vgl. auch H. Weber, ZevKR 34 (1989), S'. 337, 346 f., sowie dens., ZevKR 41 (1996), S. 172, 194: "Was Religion und Weltanschauung (und damit auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft) im verfassungsrechtIichen Sinne ist, ergibt sich aus der Verfassung (und nicht aus dem Selbstverständnis der betroffenen Gruppierungen)." 22 Vgl. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 133; zur Anknüpfung des staatlichen Rechts an kirchliche Normen: Schlaich, Neutralität als verfas-
4. Kap.: Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht
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keine Entscheidung darüber getroffen, inwieweit staatliche Stellen bei der Rechtsanwendung gehalten sind, das Selbstverständnis zu berücksichtigen. Daß eine Nonn des staatlichen Rechts an das religiöse bzw. weltanschauliche Selbstverständnis anknüpft, hat nicht zwangsläufig einen vollständigen Rückzug staatlicher Stellen von der näheren Bestimmung des fraglichen Begriffs zur Folge. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht betont, daß die Prüfung und Entscheidung, ob eine Religion und eine Religionsgemeinschaft vorliegt, der das Grundrecht aus Art. 4 Abs. I und 2 GG zusteht, "als Anwendung einer Regelung der staatlichen Rechtsordnung" den staatlichen Organen obliegt23 • Die materielle Frage nach der Relevanz des Selbstverständnisses ist damit nicht entschieden. In methodischer Hinsicht aber steht fest, daß die Beantwortung dieser Frage nur auf der Grundlage des staatlichen Rechts erfolgen kann 24•
B. Gewährleistung religiöser Freiheit nach Maßgabe der Verfassung Die Idee der Religionsfreiheit25 im Sinne eines verbindlichen subjektiven Rechts des einzelnen gegen den Staat ist - anknüpfend an die im Zeitalter des Humanismus und der Refonnation entfachte Diskussion26 - ein Produkt der Aufklärung 27 • Das rationale Naturrecht dieser Zeit sah die Religionsfreiheit als ursprüngliches und unverzichtbares Recht an, das der einzelne beim Abschluß des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages nicht in diesen eingebracht, sondern sich vorbesungsrechtliches Prinzip, S. 199 mit umfangr. Nachw.; vgl. ferner M. Heckei, HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 445, 503 f. 23 BVerfGE 83, 341, 353. 24 Vgl. dazu auch Karl Barth, Dogmatik IV 12, S. 778: "Sie (seil. die Kirche) wird sich faktisch darein finden müssen, daß er (seil. der Staat) ihr, auch wenn die Mehrheit seiner Bürger und manche seiner Vertreter selbst mehr oder weniger gute Christen sein sollten, als ihr weltlicher Partner gegenüberstehen und in seinem Verhältnis zu ihr von seinen und nicht von ihren eigenen Voraussetzungen her denken und argumentieren, in seiner Gesetzgebung und in seinen Verwaltungsmaßnahmen mit ihr umgehen wird." 25 Zur Geschichte der Religionsfreiheit Hamel, in: Bettermann 1Nipperdey 1Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV 11, S. 37, 39 ff.; Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, 1891; Bates, Glaubensfreiheit, S. 197 ff.; Leder, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, 1965. 26 Dazu etwa Leder, in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 331, 362f.; Aubert, ebd., S. 422 ff.; Guggisberg, ebd., S. 455, 465 f. pass.; Bates, Glaubensfreiheit, S. 222 ff. 27 Vgl. Guggisberg, in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 455; Luf, in: Schwartländer, Freiheit der Religion, S. 72, 80; v. Campenhausen, in: Isensee 1Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 136 Rn. 23; Hamel in: Bettermann 1 Nipperdey 1 Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV /1, S. 37, 40 f.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
halten habe28 . Die Religionsfreiheit wurde demgemäß zu den vor- bzw. überstaatlichen Menschenrechten gezählt29 . lohn Locke ging davon aus, daß die Menschen sich "zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens" zu staatlichen Gemeinschaften zusammenschließen 3o , dabei aber die unveräußerlichen, vorstaatlichen Menschenrechte behalten. Die Staatsgewalt, die Locke als vereinigte Gewalt aller Mitglieder der Gesellschaft versteht, kann seiner Ansicht nach nicht größer sein als die Gewalt, die die einzelnen von Natur aus hatten, bevor sie in die Gesellschaft eintraten. Niemand könne einem anderen eine größere Gewalt übertragen, als er selbst besitze3l . Derartige Überlegungen 32 haben eine Vielzahl von Verfassungswerken stark beeinflußt. Viel zitiert ist Abschnitt 1 der berühmten Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776: "Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuß des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb von Besitz und Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.,,33 Auch Art. 1 Abs. 2 GG spricht von "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft" und knüpft damit an das Menschenrechtsverständnis der Aufklärung an 34 . Das vorstaatliche, naturrechtliche Fundament der Freiheitsrechte des Grundgesetzes könnte einer maßgeblich am Selbstverständnis orientierten Interpretation der einzelnen Garantien in erheblichem Maße Schubkraft geben. Wenn nämlich die Religionsfreiheit eine dem Staat vorausliegende Freiheit ist 35 , so müßte eine 28 M. Heckel, StC Bd. IV Sp. 820, 823; näher Bates, Glaubensfreiheit, S. 568 ff. m. Nachw. 29 Vgl. Bates, Glaubensfreiheit, S. 576 ff.; allg. zur "Überstaatlichkeit" der Grundrechte Zippelius, Artikel "Grundrechte", in: EvStL 3 , Bd. I, Sp. 1212, 122l. 30 lohn Lacke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsgg. v. W. Euchner, Buch II, 9. Kap., § 123 (S. 283). 31 Lacke (Fn. 30), Buch II, 1l. Kap., § 135 (S. 290). 32 Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 79, betont mit Recht die Unmöglichkeit, eine einheitliche geistesgeschichtliche Grundlegung der Grundrechtsidee nachzuweisen. Zum Einfluß lohn Lackes - und anderer Denker - auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die ersten amerikanischen Verfassungen Stern, Staatsrecht III / 1, S. 93 f. 33 Originaltext und Übersetzung abgedruckt bei Franz, Staatsverfassungen, S. 6 f.; vgl. dazu Zippelius, BK Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 104, der, ebd. Fn. 158, auf die Anlehnung dieser Begriffe an die Vorstellungen lohn Lackes hinweist. Vgl. auch die Einleitungsformel der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit der Formulierung "die natürlichen unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen", abgedruckt bei Franz, Staatsverfassungen, S. 302 f. 34 Zippelius, BK Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 104; vgl. auch Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 169, unter Hinweis auf Materialien zur Entstehungsgeschichte der Norm. 35 V gl. zu diesem Verständnis Hamel, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte IV / I, S. 37,43, unter Hinweis auf Ulrich Huber. Zum Gedanken der Gewissensfrei-
4. Kap.: Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht
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inhaltliche Letztentscheidungskompetenz des Staates von vornherein ausscheiden 36 . Staatliche Stellen können, so ließe sich dieser Ansatz weiterführen, nicht definieren, was der Dispositionsmacht des Staates nicht unterfallt und unabhängig von seinem (Fort-) Bestand Geltung hat37 . Zu dieser Schlußfolgerung gelangte vor allem earl Schmitt. Ausgehend von dem Verständnis der Grundrechte als "vor- und überstaatliche Rechte,,38 formulierte er zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung, der Inhalt der Freiheit sei nicht von Staats wegen normiert; sie könne auch nicht unter einem Vorbehalt stehen, dessen Ausfüllung im Ermessen eines anderen liege. Eine Freiheit, deren Maß und Inhalt ein anderer bestimme, sei vielleicht eine höhere, edlere, wahrere, wohlverstandenere Art von Freiheit, aber nicht das, was man in einem bürgerlichen Rechtsstaat darunter verstehen müsse. Was Freiheit sei, könne nämlich in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein soll. Sonst sei es nach allen menschlichen Erfahrungen mit der Freiheit schnell zu Ende 39 . Eine derartige von vorstaatlicher Geltung der Freiheitsrechte ausgehende Sichtweise beachtet jedoch nicht, daß Normen in verschiedener Hinsicht "Geltung" beanspruchen können40 • Normen können unabhängig vom positiven Gesetz "Geltung" haben im Sinne von moralischer Verpflichtungskraft. Das gleiche gilt für vorherrschende sozialethisehe Vorstellungen; sie können ihre außerrechtliche Geltung auch dann behalten, wenn ein Gesetz ihnen widerspricht41 . Nichts anderes gilt im Verhältnis von vorstaatlichen Menschenrechten und positivrechtlich gewährleisteten Grundrechten. Zwar kann die moralische Verpflichtungskraft und die sozialethisehe Geltung einer Norm vorstaatlichen Ursprungs sein. Auf ihre Eigenschaft als wirksames garantiertes Recht kann dies nicht übertragen werden. Geltung im Sinne eines erforderlichenfalls durchsetzbaren Rechts erhält sie erst kraft staatlicher Gewährleistung 42 . Sie ist nicht dem Staat vorgelagert43 . Die Grundlagen für heit "als eines Rechtes, das von keiner irdischen Macht verliehen und daher von keiner irdischen Macht geschmälert werden dürfe", G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 1,39; in jüngerer Zeit zustimmend G. Zimmermann, Der Staat 1991, S. 393, 409 (Grundrechte nicht "gewährt", sondern "garantiert"). 36 Vgl. die Hypothese von Böckenjörde, Diskussionsbeitrag, in: Marret Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 156. 37 Zur Unabhängigkeit der "Wertnorm" vom Schicksal der "Positivierungsnorm" Dürig in: Maunz/Dürig, GG Art. lAbs. 11 Rn. 73. 38 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 163 f. (ausdrücklich auch für die Religionsfreiheit); ders., Grundrechte und Grundpflichten, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 181, 192. 39 Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, 1931, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140, 167. 40 Dazu Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 39; Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S. 51 ff., 58 ff.; Wissmann, Rechtsnorm und reale Geltung, S. 51 ff.,jeweils m.w.N. 41 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 39 42 Vgl. Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 88 a.E.; Isensee, FS Sendler, S. 39, 50.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
die Maßgeblichkeit des positiven Rechts hat Hobbes gelegt: llim kam es nicht auf das natürliche Gesetz an, auf das, was moralisch begründeter Einsicht entspricht. ,,Denn obwohl es von Natur aus vernünftig ist, so ist es doch durch die souveräne Gewalt Gesetz ...44 • "Autoritas, non veritas facit legern ...45 Aus einem vorstaatlichen Menschenrecht der Religionsfreiheit lassen sich daher für die nähere Interpretation der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen Gewährleistungen keine Schlußfolgerungen ziehen. Insbesondere gebietet der Gedanke einer vorstaatlichen Religionsfreiheit nicht eine Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, die sich vor allem am Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gruppe orientiert. Die Deutung der verfassungsrechtlichen Garantie kann nicht auf Prämissen gestützt werden, die keinen Eingang in das geschriebene Verfassungsrecht gefunden haben46 • Erst die Verfassung entscheidet darüber, in welchem Maße individuelle Selbstbestimmung grundrechtlichen Schutz genießt47 •
c. Der begrenzte Nutzen außerjuristischer Deutungsversuche Antworten auf die Frage, was eine Religion ist und unter welchen Voraussetzungen von einer Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann, werden nicht nur in der Rechtswissenschaft gesucht. Auch andere Disziplinen, allen voran Religionswissenschaft und Theologie, beschäftigen sich mit dem Problem. Ihre Erkenntnisse könnten für den Juristen von Nutzen sein. Sind staatliche Stellen mit der Interpretation von Vorschriften befaßt, die religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugungen, Institutionen oder Vorgänge zum Gegenstand haben, so müssen sie sich jedoch stets vergegenwärtigen, daß es sich dabei um Rechtsbegriffe handelt. Ihr materieller 43 Zippelius, BK Art. I Abs. I u. 2, Rn. 105; ders. , Artikel "Grundrechte", in: EvStl}, Bd. I, Sp. 1212, 1222. 44 Hobbes, Leviathan, Kap. 26, S. 212; zu den Wurzeln des Gesetzespositivismus bei Hobbes vgl. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 103 f.; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 115 ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.52ff. 4S SO die prägnante Formulierung von Hobbes im lateinischen Original: Leviathan, Cap. 26, S. 133. Zur Bedeutung dieses Satzes im demokratischen Verfassungstaat Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, S. 86 f., 94 f. 46 So für die Prinzipien des Staatskirchenrechts Obermayer, BK Art. 140 Rn. 70; v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 14, 20, der sich dagegen wendet, daß die Trennung von Staat und Kirche sowie die religiöse Neutralität des Staates der Verfassung vorgelagerte Prinzipien seien; a.A. insoweit wohl H. Weber, Religionsgemeinschaften, S. 33 (" vorstaatliche Fundierung des Staatskirchenrechts"), der sich aber in NJW 1967, 1641, 1644, dagegen wendet, im Staatskirchenrecht eine vorverfassungsrechtliche Koordination von Staat und Kirche zugrunde zu legen. Zur Koordinationstheorie noch unten S. 77 mit Fn. 45 f.; S. III f. mit Fn. 183 ff. 47 Vgl. Hellermann, in: Grabenwarter/Hammer/Pelzl/Schulev-SteindllWiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 132.
4. Kap.: Methodische Vorgaben für ein staatliches Letztentscheidungsrecht
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Gehalt kann nicht ohne weiteres durch einen Rekurs auf theologische, religionswissenschaftliche, philosophische oder soziologische Ansätze ennittelt werden. Ein christlicher Theologe etwa, der mit der Frage nach der Religionsqualität bestimmter "neuartiger Gemeinschaften" befaßt wäre, müßte sein christliches Verständnis zugrunde legen und an ihm das religiöse Gedankengut der betreffenden Gruppen messen48 . Ein Religionswissenschaftler, dem dieselbe Frage vorgelegt wird, kann zu einer ganz anderen Antwort kommen 49 . Der Jurist muß sich stets darüber im klaren sein, daß Definitionsversuche in Nachbardisziplinen durchweg nicht ungeprüft übernommen werden können. Zwar ist der Rückgriff auf Erkenntnisse anderer Wissenschaften nicht ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner jüngeren Rechtsprechung für die Frage, ob eine Religion im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorliegt, sogar ausdrücklich auf das allgemeine wie auch religionswissenschaftliche Verständnis ab5o • Auch für die Interpretation anderer Begriffe, wie etwa dem der Kunst gemäß Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, schließt das Bundesverfassungsgericht einen Rückgriff auf außerrechtliche Begriffsbestimmungen nicht gänzlich aus51 • Anleihen bei wissenschaftlichen Nachbardisziplinen sind jedoch deshalb nur begrenzt möglich, weil das Recht zwar von den geistigen Strömungen seiner Zeit bedingt und bestimmt wird, sie aber beschränkt und nur teilweise rezipiert52 . Auch muß beachtet werden, daß andere Disziplinen den jeweiligen Begriff isoliert sehen. Sie vermögen nicht, ihn als Rechtsbegriff mit Blick auf seine rechtlichen Rahmenbedingungen zu erklären. So geraten außerrechtliche Definitionsversuche des Religionsbegriffs leicht in Konflikt mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates53 , die bei der Interpretation der Religionsfreiheit nicht außer acht gelassen werden darf54 . Außerrechtliche Überlegungen können daher für die Bestimmung von Verfassungsbegriffen im Themenbereich des Religiösen nur als Orientierungshilfen dienen. Insoweit freilich sind sie unverzichtbar55 . 48 Listl, Diskussionsbeitrag, in: MarnU Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 154; vgl. auch Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 282. 49 Zu den Problemen in der Religionswissenschaft im Zusammenhang mit ,,Jugendsekten" vgl. Hummel, Marre/ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 64 ff., 93 f. 50 BVerfGE 83, 341, 353; dazu bereits oben S. 7 mit Fn. 14ff. 51 BVerfGE 67, 213, 224f.; zur Notwendigkeit, einen Kunstbegriff als ,,rechtlichen Zweckbegiff' zu finden, vgl. Denninger, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 146 Rn. 1. 52 M. Heckei, Artikel "Religionsfreiheit", in: StL7 IV, Sp. 820f. 53 Vgl. Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,303; ferner Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 6, mit Blick auf die Gewissensfreiheit. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität i.e. unten 7. Kap. 54 Vgl. etwa die religionswissenschaftlichen Überlegungen Hummels, Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 93, 94, der - ohne einer rechtlichen Forderung nach religiöser Neutralität zu unterliegen - für eine wertende Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Religion plädieren kann. 55 Zur "Vor-, Zu- und Nacharbeit seitens der anderen Disziplinen" für die Rechtswissenschaft vgl. auch Häberle, FS Josef Esser, S. 49, 53.
Fünftes Kapitel
Grundrechtstheoretische Grundlagen A. Die Ideologieanf"älligkeit der Grundrechte Gerade die eigenmächtige oder gruppenspezifische Auslegung hat dazu geführt, daß die Grundrechte heute besonders ideologieanfällig sind 1. Die oben2 skizzierte Rechtsprechung zur Interpretation der Garantien religiöser Freiheit vor allem nach dem Selbstverständnis eines einzelnen oder einer Gemeinschaft kann insoweit als Beispiel dienen. Gerade solche Tatbestandsmerkmale von Grundrechtsnormen, die auf positivrechtlich nur gering strukturierte Schutzgehalte Bezug nehmen, sind anfällig für ideologische Verbiegungen und damit für einen stillen Verfassungswandel3 • Klaus Stern sieht deshalb die Aufgabe der Grundrechtsdogmatik darin, "einseitigen, wie immer gearteten 'politischen' Interpretationen Einhalt zu gebieten und sich auf eine strikt grundgesetzmäßige Auslegung zurückzubesinnen,,4. Mit Recht stellt er sich gegen eine Denaturierung des Ideals der Menschenrechte und hebt auf die besondere Bedeutung der Individualfreiheit ab. Ihr Schutz, dem die Grundrechte des Grundgesetzes in besonderer Weise dienen, gebietet, daß - soweit als möglich - rechtliche Maßstäbe zur Bewertung der verschiedenen Lebensvorgänge gefunden werden. Die Befürchtung, daß durch eine mehr und mehr am Selbstverständnis orientierte Interpretation die Grundrechte insgesamt in Gefahr geraten, erscheint nicht als übertriebener Zweckpessimismus5 . "Die Definitionsmacht gerade über die in den Grundrechtsnormen enthaltenen ,weiten' und ,großen' Begriffe darf nicht dem Belieben einzelner ausgeliefert werden; sie muß nach dem Kanon juristisch geschulter und überlieferter, durchaus festgefügter Interpretationsmethodik erfolgen,,6. Damit ist der Verfassungsinterpret aufgefordert, 1 Stern, Staatsrecht III/l, S. 208, Staatsrecht III/2, S. 1637, jeweils m.w.N.; vgl. auch Hollerbach, in Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, S. 37, 55 f.; Dreier, Recht - Moral Ideologie, S. 158 mit umfangr. Nachw. auch zur philosophischen und soziologischen Literatur. 2 S. 6 f. mit Fn. 6 ff.; S. 13 f. mit Fn. 57 ff. 3 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 17. 4 Stern, Staatsrecht III/I, S. 208. 5 Vgl. auch Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 104, der im Extremfall eine völlige Depossedierung des Staates befürchtet; v. Campenhausen/Christoph, Göttinger Gutachten, S. 354, 364 a.E., mit Blick auf die Betonung des Selbstverständnisses durch LG Hamburg NJW 1988, 2617, zu dieser Entscheidung bereits oben S. 6 mit Fn. 8 f. 6 Stern, Staatsrecht III 11, S. 208.
5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
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die verfassungsrechtlichen Begriffe zunächst anhand der Vorgaben näher zu bestimmen, die das Grundgesetz selbst bereit hält. Ein voreiliger Rekurs auf das Selbstverständnis ist ihm versagt. Es gibt keinen anderen Weg, um im Einzelfall eine grundrechtlich geschützte Position von über das Ziel hinaus schießender Überfrachtung der Grundrechte mit Ideologien und Partikularinteressen zu unterscheiden.
B. Die Wertetheorie der Grundrechte und das staatliche Letztentscheidungsrecht über die Reichweite religiöser Freiheit Eine schnelle Lösung des Problems, ob und ggf. inwieweit staatlichen Stellen bei der näheren Bestimmung von Schutzbereich und Schranken ein Letztentscheidungsrecht zusteht, bietet scheinbar ein Blick auf die Grundrechtstheorien. Mit ihnen sollen verschiedene Ansätze zur Deutung der Grundrechte systematisiert werden. Im einzelnen wird die Aufgabe der Grundrechtstheorien darin gesehen, eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter und die normative Zielrichtung der Grundrechte vorzulegen. Darüber hinaus sollen Interpretationsansätze entwickelt werden, auf deren Grundlage Aussagen über "die inhaltliche Reichweite der Grundrechte,,7 gemacht werden können. Dies deutet darauf hin, daß den Grundrechtstheorien zumindest Anhaltspunkte für die nähere Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche zu entnehmen sind. Die Grundrechtstheorien könnten die entscheidende "normative Leitidee für den Grundrechtsinterpretationsprozeß"s bieten. Den am meisten beachteten Vorschlag zur Systematisierung der verschiedenen Grundrechtstheorien hat Emst-Wolfgang Böckenförde unterbreitet9 . Er unterscheidet bekanntlich die folgenden Theorien: die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie, die Wertetheorie der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie 10. Die liberale, von Böckenförde auch bürgerlich-rechts staatlich genannte, Grundrechtstheorie versteht die Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte zum Schutze des einzelnen vor staatlichen Eingriffen in bestimmte, wichtige und nach der historischen Erfahrung besonders gefahrdete Lebensbereiche. Diese Theorie geht von einer vorstaatlichen Freiheit des einzelnen aus, die der Staat nicht konstiBöckenförde, NJW 1974, 1529. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 50. 9 Böckenförde, NJW 1974, 1529ff.; zu anderen Systematisierungsvorschlägen vgl. Denninger, Staatsrecht 2, S. 181 f.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 50ff., jeweils m. Nachw. 10 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530ff.; zur Unvollständigkeit dieser Theorienpalette Stern, HdbStR V § 109 Rn. 24. 7
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
tutiv gewährt, sondern vorfindet. Der Staat schafft lediglich die rechtlichen Instrumente zu ihrem Schutz: die Grundrechte l1 . Die institutionelle Grundrechtstheorie stellt demgegenüber nicht die Funktion der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte des einzelnen in den Vordergrund, sondern betont ihren Charakter als objektive Ordnungsprinzipien für die von ihnen geschützten Lebensbereiche I2 . Danach bedarf die individuelle Freiheit institutioneller Gewährleistungen, wie derjenigen der Ehe, der Familie oder des Zusammenschlusses mehrerer in VereinenB. Grundrechtliche Freiheit ist nicht eine Freiheit schlechthin wie bei der liberalen Grundrechtstheorie. Sie ist ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel, die Realisierung des institutionell-objektiven Sinns der Grundrechte 14. Dazu sind mitunter Begrenzungen der Grundrechte als subjektive Individualrechte zulässig 15 . Die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie versteht die Grundrechte von ihrer öffentlichen und politischen Funktion her. Die Gewährleistung grundrechtlicher Freiheitsbereiche erfolgt danach primär, um einen freien Prozeß demokratischer Staatshervorbringung und einen demokratischen Prozeß politischer Willensbildung zu ermöglichen und zu schützen. Im Vordergrund stehen die Grundrechte der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit 16 . Die sozialstaatliche Grundrechtstheorie stellt darauf ab, daß für eine wachsende Zahl von Menschen die sozialen Voraussetzungen zur Realisierung der rechtlichen Freiheitsgewährleistungen entfallen und daher bedeutungslos geworden sind. Im sozialstaatlichen Verständnis sind die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte, sondern zugleich die Grundlage für soziale Leistungsansprüche gegen den Staat 17 • Ähnlich wie die institutionelle Grundrechtstheorie hat schließlich auch die auf der Integrationslehre Rudolf Smends 18 basierende 19 Wertetheorie 2o der GrundrechVgl. zu dieser Grundrechtstheorie Böckenförde, NJW 1974,1529, 1530ff. m. Nachw. Zu dieser Grundrechtstheorie Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 f. m. Nachw. 13 V gl. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 98 f. 14 So bereits die Deutung Böckenfördes, NJW 1974, 1529, 1532. 15 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 100f. 16 Zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534f. m. Nachw. 17 Dazu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535 f. m. Nachw. 18 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; auch in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 ff.; vorbereitet durch den Beitrag "Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform" in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 68 ff.; vgl. auch die Zusammenfassungen: Artikel ,,Integrationslehre" in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. V (1956), S. 299, sowie Artikel "Integration" in: EvStI.? (1975), Sp. 1024. Dazu auch Korioth, Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, S. 97 ff. 19 Gegen eine Gleichsetzung der Integrationslehre Smends mit einem unkritischen Denken in Werten Hesse, ZevKR 20 (1975), S. 337. 11
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5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
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te den Charakter der Grundrechte als objektiv-rechtliche Verbürgungen im Auge21 • Grundrechtliehe Freiheit ist danach Freiheit zur Realisierung der in den Grundrechten ausgedrückten Werte und im Rahmen der durch die Grundrechte insgesamt aufgestellten Wertordnung 22 • Diese Theorie könnte eine Antwort auf die Frage nach dem staatlichen Letztentscheidungsrecht bei der Bestimmung von Schutzbereich und Schranken der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit liefern. Die Wertetheorie der Grundrechte führt zu einer "Differenzierung zwischen wertverwirklichendem und wertgefährdendem Freiheitsgebrauch" mit der Konsequenz einer "staatlichen Definitionszuständigkeit" über die Werthaftigkeit. Diese Formulierungen Böckenjördei3 zeigen die Verbindungslinien zwischen staatlicher Konkretisierungsbefugnis im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutzbereich und der Wertetheorie der Grundrechte deutlich auf. Mit dieser Theorie ließe sich die verfassungsrechtliche Legitimation einer solchen Interpretationsarbeit begründen; zugleich könnten die jeweiligen Werte die materialen Kriterien für die amtliche Interpretationsarbeit liefern. In einer seiner ersten Entscheidungen zur Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhang zwischen einem Denken in verfassungsrechtlich verankerten oder vorausgesetzten Werten und der Interpretation religiöser Freiheitsrechte hergestellt: Auf die Glaubensfreiheit könne sich nicht berufen, wer die Schranken übertrete, die die allgemeine Wertordnung des Grundgesetzes errichtet habe 24 •
c. Von der allgemeingültigen Grundrechtstheorie zur Multifunktionalität der Grundrechte
Doch bietet die Einsicht in den objektiven Wertcharakter der Grundrechte nicht die "Patentlösung" für die hier interessierende Frage nach der Letztentscheidungskompetenz für den Inhalt des grundrechtlichen Schutzbereichs. Dies gilt für die Wertetheorie der Grundrechte wie für jede andere der angebotenen Grundrechtstheorien. Mit dem Rückgriff auf die Wertetheorie ist in besonderem Maße die Gefahr verbunden, daß der Verfassungsinterpret mit dem Hinweis auf den besonderen "Wert" eines bestimmten Rechtsgutes sein persönliches Vorverständnis überdeckt und deshalb unausgesprochen lassen kann. Warum ein bestimmter Wert den VorBöckenförde, NJW 1974, 1529, 1530, 1533 f., spricht von "Werttheorie". Zum heute bestehenden Streit über die einheitsstiftende Tendenz des Wertedenkens vgl. Staff, in: Di1cherIStaff, Christentum und modemes Recht, S. 21, 26. Zur Einheit der Verfassung unten S. 56 mit Fn. 75 ff. 22 Vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533 m.w.N. 23 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534. 24 BVerfGE 12, 1,4; zu der in dieser Entscheidung entwickelten "Kulturvölkerformel" bereits oben S. 15 mit Fn. 63 ff. Auf den Zusammenhang dieser Entscheidung mit der Wertetheorie der Grundrechte weist auch Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534, hin. 20
21
4 Muckel
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
zug erhält, kann im Dunkeln bleiben 25 . Der Gewinn der Entscheidung für eine bestimmte Grundrechtstheorie soll aber gerade darin bestehen, daß der Betreffende sein persönliches Vorverständnis zu offenbaren gezwungen wird26 . Die Wertetheorie der Grundrechte vermag zudem keine Kriterien für eine geschlossene Rangfolge von Werten und für eine darauf aufbauende Wertabwägung aufzuzeigen 27 . Sie geht zwar vom Vorrang des jeweils höheren Wertes aus, überläßt aber dessen Bestimmung dem ,,richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus,,28. Die Wertetheorie der Grundrechte unterliegt ferner den Bedenken, die gegen jede Grundrechtstheorie bestehen. Diese Bedenken sind vielfach ausführlich formuliert worden29, so daß hier nur die Ergebnisse der Kritik referiert werden müssen. Sie bezieht sich auf die Unklarheit des Theoriebegriffs 3o, auf die Unvollständigkeit der Grundrechtstheorien 31 , die Gefahr von Vorurteilen 32 und einer Verabsolutierung grundrechtlicher Teilaspekte33 , das Fehlen von Kriterien für die Frage, welche Grundrechtstheorie im Einzelfall maßgeblich ist, sowie die damit verbundene Gefahr zirkulärer Auslegungsversuche: "Erst holt man aus der Norm etwas heraus, um die Theorie zu formen; alsdann imputiert man die Theorie in die Norm und bestätigt ein Ergebnis, das man bereits gefunden hat,,34.
Vgl. Denninger, Staatsrecht 2, S. 184. Zum Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Vorverständnis: Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 109 Rn. 24, 25, 26; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers, S. 76 m.w.N.; allgemein zu "Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung" die diesen Titel tragende Schrift J. Essers; ferner R. Dreier, Recht Moral- Ideologie, S. 146, 152 ff. 27 Gegen eine "Wertrangordnung" auch Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 914 m.w.N.; kritisch gegenüber "verbindlich gemachte(n) Werthierarchien" auch Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 264; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 61, hält mit Recht eine solche Rangordnung immerhin für bestimmte Fundamentalgüter wie die Menschenwürde und das Leben für gerechtfertigt; zur Bedeutung der elementaren Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben) als verfassungsimmanente Grundrechtsgrenzen unten S. 215 ff. 28 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534 m.w.N. zur Kritik der Wertetheorie. 29 Vgl. etwa Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, S. 109 Rn. 25 f.; ders., Staatsrecht III/2, S. 1680 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 59 ff.; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S. 75 ff. Demgegenüber fragt Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 30 (1972), S. 162, nach "einer bzw. der verfassungsgemäßen Grundrechtstheorie"; auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 64 ff., geht von einer ,,richtigen" Grundrechtstheorie aus, wenn er, S. 71, sein "formales Freiheitsverständnis als Basis einer konkretisierungsleitenden Grundrechtstheorie" versteht (Hervorhebung im Original). 30 Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HStR V § 109 Rn. 26, unter Hinweis auf R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: Recht - Moral- Ideologie, S. 70. 31 Stern, in: Isensee/Kirchhof(Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 24. 32 Stern, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 25. 33 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 59 m.w.N.; Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 149. 25
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5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
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Heute wird daher überwiegend nicht mehr von Grundrechtstheorien, sondern von Funktionen der Grundrechte gesprochen 35 . Dabei wird nicht auf eine bestimmte Grundrechtsfunktion abgestellt. Es ist vielmehr erkannt worden, daß die Grundrechte multifunktional wirken 36 , und zwar vor allem als Abwehrrechte, als Schutzpflichten 37 , aber auch als Normen, die bestimmte Institute verbürgen 38 und damit bestimmte verfassungsrechtlich verfestigte Wertungen zum Ausdruck bringen.
D. Die Grundrechte als sachlich begrenzte Verbürgungen J. Kein pauschaler Freiheitsstatus Die Grundrechte gewähren keinen umfassenden, pauschalen 39 Freiheitsstatus, der sich im Ergebnis auf jedes erdenkliche menschliche Verhalten erstreckt40 . Sie gewähren vielmehr begrenzte Freiheiten41 , die nach Maßgabe vor allem der grundrechtlichen Schutzbereiche, aber auch der die Grundrechte in zulässiger Weise einschränkenden Gesetze42 ausgeübt werden dürfen. Dadurch, daß die Grundrechte an je eigene Lebensbereiche 43 anknüpfen, weisen sie sich als unterschiedliche, 34 Stern, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 25, unter Hinweis auf R. Dreier, Diskussionsbeitrag, in: Link, Der Gleichheitssatz im modemen Verfassungsstaat, S. 96, 97, der sich gegen die Gedanken Böckenfördes wendet. 35 Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 27 mit umfangr. Nachw. 36 V gl. nur Bleckmann, Staatsrecht 11 - Die Grundrechte, § 11: Die Funktionen der Grundrechte, der, S. 197, die ,,MehrfunktionaIität der Grundrechte" betont; Stern, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 27; ders., Staatsrecht III / 2, S. 1692 f. 37 Dazu näher unten S. 67 ff. 38 Dazu in jüngerer Zeit H. Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, 505; Jeand'Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, JZ 1995, 161, jeweils m. umfangr. Nachw.; vgl. auch unten S. 55 Fn. 68. 39 Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S.92. 40 Vgl. Grimm, Sondervotum, in: BVerfGE 80,164. 41 Rüjner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453, 456; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 428; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 43 ff. 42 Dazu im Hinblick auf die Freiheitsrechte des Art. 4 Abs. I und 2 GG unten S. 224 ff, für das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV unten S.276ff. 43 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 428; W. Schmidt, AöR 91 (1966), S. 42,44 ("inhaltlich benannte Sachbereiche des menschlichen Zusammenlebens"); Isensee, FS Sendler, S. 39, 51; Grimm, Sondervotum, in: BVerfGE 80, 164, 168, betont mit Recht, daß Verfassungsbeschwerden außerhalb von Art. 2 Abs. 1 GG nur in "bestimmten, thematisch umgrenzten Bereichen" erhoben werden können. Kritisch gegenüber einem Grundrechtsdenken nach Lebensbereichen Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 162 ff.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
voneinander abgegrenzte Freiheitsverbürgungen aus mit unterschiedlichen Voraussetzungen für die Aktualisierung der grundrechtlichen Freiheit und die Zulässigkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen. Die Grundrechte verweisen nicht auf eine vorstaatliche oder übergesetzliche Freiheit44 , die mit den Normtexten nur annähernd umschrieben werden konnte. Wie weit die Freiheit des einzelnen - und nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG auch der Personengemeinschaften 45 - reicht und was von ihr umfaßt ist, wird durch die Grundrechtsbestimmungen der Verfassung erst ,,konstitutiv" bestimmt. Ein Verständnis der Grundrechte als bloße Veranschaulichung eines übergreifenden allgemeinen Freiheitsstatus verwandelte die differenzierten grundrechtlichen Verbürgungen in ein einziges ,,Recht, vom Staat nicht rechtswidrig an der Betätigung des eigenen Willens gehindert zu werden,,46. Selbst für das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG, in dem das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit erblickt47 , wird bisweilen eine Abgrenzung grundrechtlieh geschützter Freiheitsbetätigungen von Verhaltensweisen gefordert, die keinen Grundrechtsschutz genießen48 . Im Hinblick auf die speziellen49 Freiheitsrechte erweist sich die Berechtigung dieser Forderung um so mehr. Nach dem klassischen Kanon juristischer Methodik ist für jedes Grundrecht und in jedem Einzelfall zu prüfen, ob das in Rede stehende Verhalten grundrechtlichen Schutz genießt oder nicht.
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Vgl. oben 4. Kap. B (S. 41 ff.).
Zur verfassungsdogmatischen Bedeutung des Art. 19 Abs. 3 GG anschaulich Isensee, Der Staat 1981, S. 161, 167, der mit Recht darauf hinweist, daß die Vorschrift in besonderer Weise deutlich macht, wie sehr sich das Grundgesetz "aus dem Bann der individualistischen Menschenrechtstradition" gelöst hat. 46 Grimm, Sondervotum, in: BVerfGE 80,164,167. 47 BVerfGE 6, 32, 36 - Elfes; BVerfGE 80, 137, 152 f. - Reiten im Walde, dort m. w.N. 48 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 298 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 428; W. Schmidt, AöR 91 (1966), S. 42 ff.; Schatz, AöR 100 (1975), S. 80, 81, 83 m.w.N. in Fn. 12; jüngst Grimm, Sondervotum, in: BVerfGE 80, 164, 168 f., der sich, S. 169, für eine "Respezifizierung" des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. I GG ausspricht. Der Erste Senat des BVerfG wies die Kritik Grimms an der st. Rspr. des Gerichts zu Art. 2 Abs. I GG zurück: BVerfGE 80, 137, 153 f.; für eine Fortführung der bisherigen Rspr. auch v. Mangaldtl KleinlStarck, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 8ff.; Pieroth, AöR 115 (1990), S. 33,44; Degenhart, JuS 1990, 161, 162 ff., der, S. 162, ausdrücklich betont, daß Art. 2 Abs. 1 GG in seiner das aktive Handeln des einzelnen nach außen schützenden Komponente "weitgehend konturenlos" wird. 49 Zum Verständnis des Grundrechts aus Art. 2 Abs. I GG als subsidiäres Auffanggrundrecht Degenhart, JuS 1990, 161, 165ff.; PierothlSchlink, Grundrechte. Staatsrecht 11, Rn. 402 ff., jeweils m.w.N. auch zur Rspr.; modifizierend Grimm, Sondervotum, in: BVerfGE 80, 164, 167. 45
5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
53
11. Kein allgemeines Gebot zur Maximierung der individuellen Freiheit
Den Grundrechten kann auch nicht ein Gebot zu möglichst weitreichender Ausdehnung der grundrechtlichen Freiheit entnommen werden. In diese Richtung weist jedoch die Lehre vom weiten Verständnis grundrechtlicher Tatbestände5o . Ihr Anliegen besteht darin, möglichst lückenlosen Grundrechtsschutz zu erreichen. Bei bestimmten sog. sachgeprägten51 Grundrechten, wie der Gewissens-, der Re1igions- und der Kunstfreiheit, verlangt diese Lehre, daß der grundrechtliche Schutzbereich weitgehend durch das Selbstverständnis des einzelnen abgesteckt werde. Die weite Tatbestandstheorie geht davon aus, daß der Schutzbereich eines Grundrechts sein Sachthema völlig abdeckt, ohne auf etwaige Kollisionen mit anderen verfassungsrechtlichen oder ethischen Normen Rücksicht zu nehmen 52 . Die Grundrechte statuieren danach Erlaubnisnormen, die sich vor allem durch eine "besondere Offenheit der grundrechtlichen Normbereiche,,53 auszeichnen. Grundlage dieser Sichtweise ist die für das deutsche Verfassungsrecht vor allem von Robert Alexy behauptete Eigenschaft der Grundrechte als Prinzipien, die gebieten, "daß etwas relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße realisiert" wird54 . Als Prinzipien sprechen die Grundrechte danach Optimierungsgebote aus 55 . Für die Auslegung der Grundrechte bedeutet dies, daß dem Prinzip zu folgen ist, falls nicht hinreichende Gegengründe vorliegen 56 . So soll die freiheitliche Selbstbestimmung bestmöglich verwirklicht werden 57 .
50 Mit Recht wird diese Lehre der Sache nach als theoretische Untennauerung der Rspr. des BVerfG angesehen, vgl. Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 149 f. m.w.N. 51 Zur Unterscheidung von sach- und rechtsgeprägten Grundrechten Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 96f., ferner Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 83ff., jeweils m.w.N.; dazu auch bereits oben S. 12 f. mit Fn. 46, 50. 52 So die Umschreibung von Isensee, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 172; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 291, auf der Grundlage seiner Unterscheidung grundrechtlicher Regeln und Prinzipien: ,,Eine weite Tatbestandstheorie ist eine Theorie, die alles das, für dessen Schutz das jeweilige grundrechtliche Prinzip spricht, in den Schutzbereich fallen läßt." 53 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 185; zu den Grundrechten als "explizite Erlaubnisnonnen" Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 206 ff. 54 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87 f., ähnlich S. 75. 55 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; vgl. dens., Der Staat 1990, S. 49, 54; zu den Grundrechten als Regeln und Prinzipien vgl. auch Höfling, Vertragsfreiheit, S. 36f.; Rossen, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 41 ff., 51 f. m.w.N. 56 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 396, der, S. 397, die These Alexys auf die Ebene der Methodik transponiert, wenn er bei hinreichenden Gegengründen für eine objektivierende Auslegung· des grundrechtlichen Nonnbereichs plädiert. Zu Alexys "Spiel von Grund und Gegengrund" vgl. dens., Theorie der Grundrechte, S. 88, 289 f., pass.; zustim-
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Manche Autoren kommen ausgehend von derartigen Überlegungen zu dem Ergebnis, daß die grundrechtlichen Begriffe einen lediglich formalen Charakter haben. Über den inhaltlichen Gehalt des jeweiligen Begriffs sei eine definitorischjuristische Aussage nicht möglich. Was Kunst, Wissenschaft oder Religion sei, unterliege einem an den Staat gerichteten Definitionsverbot58 . Andere wiederum plädieren für eine differenzierte Sichtweise nach dem Grad "normativer Offenheit" des jeweiligen Grundrechts 59 oder dem Bestehen ,,hinreichender Gegengründe,,60 wie die notwendige Greifbarkeit und Operationalisierbarkeit verfassungsrechtlicher Begriffe61 oder die Möglichkeit mißbräuchlicher Beanspruchung des Grundrechts 62 . Im Kern postuliert die Lehre von den Grundrechten als zu optimierende Prinzipien nichts anderes als das, was zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung - mit unterschiedlichen Nuancen - unter der Flagge der Vermutung für die Freiheit63 segelte und was unter der Geltung des Grundgesetzes meist mit der Formel "in dubio pro libertate" umschrieben wurde 64 . Für earl Schmitt, der die Freiheitssphäre des mend Höfling, Jura 1994, S. 169, 170f.; ders., in: Thomas/Kluth (Hrsg.), Das zumutbare Kind. Die zweite Bonner Fristenregelung vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 119, 122 ff.; ders., JZ 1995,26,31 f.; ders., Vertragsfreiheit, S. 38. 57 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 396 f. 58 So für Kunst i. S. d. Art. 5 Abs. 3 GG: Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 217 ff.; zum Meinungsstand im Hinblick auf die Kunstfreiheit Hoffmann, NJW 1985, 237 f. mit Fn. 6; Denninger, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 146 Rn. 1 ff. m. Nachw.; für Wissenschaft i. S. d. Art. 5 Abs. 3 GG: Knemeyer, Lehrfreiheit. Begriff der Lehre - Träger der Lehrfreiheit, S. 25; Schrödter, Die Wissenschaftsfreiheit des Beamten, S. 63 ff.; Leib/ried, RdJ 1970, 180, 182; für Religion: Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 281 ff.; Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, S. 172ff., 175, pass.; wohl auch Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,303, dessen Überlegungen, wie er selbst festhält, ..einem absoluten Definitionsverbot hinsichtlich des qualitativen Gehalts einer Religion bzw. Weltanschauung sehr nahekommen"; für die Freiheit des Gewissens Hirsch, Sondervotum, in: BVerfGE 48, 185, 188 f.; allgemein: Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 440 f. 59 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 93, pass., der, S. 96, die Religionsfreiheit ihrer Struktur nach als in besonderem Maße offen ansieht. 60 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 397,403. 61 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 404. 62 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 405, der betont, daß die Aufzählung möglicher Gegengründe nicht abschließend sein könne. 63 Kitzinger, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 449, 450; earl Schmitt, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR 11, S. 572, 601; Elias Wolf, Schweiz. Juristen-Zeitung 26 (1929/30), S. 151, 152, der insoweit schon die Formel ..in dubio pro libertate" gebrauchte, vgl. dazu auch die Nachw. in der folgenden Fn. 64 Dies gesteht Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 517, ausdrücklich zu. Auch Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 424, rekurriert auf den Grundsatz ..in dubio pro libertate", möchte aber, S. 328, diesen Gedanken nicht anwenden, wenn Freiheitsrechte der Bürger gegeneinander abgegrenzt werden sollen; ähnlich Preu, JZ 1991, 265, 268; anders Hellennann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 100, der das von Alexy
5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
55
Bürgers - wie dargelegt65 - als etwas vor dem Staat Gegebenes voraussetzte, war "die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt,,66. Er sah die Grundrechte nur als "individualistische Freiheitsrechte", nicht als "soziale Forderungen,,67 und stand objektivrechtlichen Deutungen der Grundrechte ebenso skeptisch gegenüber68 wie der Einschätzung (verfassungs-) rechtlicher Normen als Wertentscheidungen69. Schmitt griff verschiedene, zu Weimarer Zeiten vertretene Lehrmeinungen auf, als er von einer "Vermutung für die individuelle Freiheit,,70 sprach. Er verwies dabei insbesondere auf den Richard Thoma zugeschriebenen 71 Gedanken, von mehreren, mit Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte vereinbaren Auslegungen einer Grundrechtsnorm sei derjenigen der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfalte 72. Mit Recht ist der Orientierung an derartigen Kurzformein ebenso wie der Maxime "in dubio pro libertate" entgegengehalten worden, daß sie eine von der Verfassung nicht getragene Vereinseitigungstendenz in sich birgt73 . Freiheitsvermutungen verabsolutieren den Freiheitsgedanken auf Kosten anderer Verfassungsgüvorgestellte Verständnis der Freiheitsrechte als Prinzipien, d. h. Optimierungsgebote, auch im Verhältnis zwischen Privaten zur Geltung kommen lassen möchte; so auch Alexy selbst: Theorie der Grundrechte, S. 78 ff. 65 Vgl. oben S. 43 mit Fn. 38. 66 earl Schmitt, Verfassungslehre, S. 126. 67 earl Schmitt, Verfassungslehre, S. 164f.; Schmitt bezeichnete, S. 165, die "Religionsund Gewissensfreiheit" als "das individualistische Urrecht" und trifft sich damit in der Sache mit manchem heutigen Vertreter eines weiten, subjektivistischen Verständnisses grundrechtlicher Tatbestände. 68 Vgl. etwa earl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140, 171, wo er betont, daß dem Geist einer liberalen rechtsstaatlichen Verfassung entsprechend "institutionelle Garantien nur als Konnexund Komplementärgarantien zu einer allgemeinen Freiheit" Geltung haben könnten. Zur Kritik Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 92ff.; gegen ihn wiederum Suhr, EuGRZ 1984,529, 536f. 69 earl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: FS Forsthoff, 1967, S. 37ff.; zur Kritik vgl. nur Karpen, Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes, S. 50f. m.w.N. 70 earl Schmitt, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR II, S. 572, 601. 71 Es muß betont werden, daß nicht earl Schmitt, sondern erst das BVerfG diese Äußerung Thomas aus dem Zusammenhang seiner Überlegungen gerissen und als simple Freiheitsvermutung verstanden hat, vgl. etwa BVerfGE 6, 55, 72. Zu Mißdeutungen der Ansicht Thomas vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 87 f.; Pestalozza, Der Staat 1963, S. 425, 443 mit Fn.104. 72 Thoma, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, S. 1,9. 73 Vgl. nur Stern, Staatsrecht I, S. 133 f., Staatsrecht III/2, S. 1653 f., 1740 und die dortigen Nachw.; ferner A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlautes, S. 279; Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidung bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 84f.; deutlich auch Lerche, DVBI. 1961,690,698, auch in: R. Dreier I Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 110, 134: "anspruchsvolle Einseitigkeit".
2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
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ter74 und mißachten vor allem das Prinzip der Einheit der Verfassung 75 . Dieses Prinzip verlangt, daß die Verfassung jeweils als ein in sich sinnvoller, vielseitiger und keineswegs spannungsloser, aber doch immer auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichteter Ordnungszusammenhang interpretiert wird 76. Der Grundsatz der Einheit der Verfassung, den das Bundesverfassungsgericht als "vornehmstes Interpretationsprinzip,,77 bezeichnet hat, steht einem Ausgleich widerstreitender Belange entgegen, der allein dem einen auf Kosten des anderen zum Durchbruch verhilft78. Die neue Lehre vom weiten Verständnis grundrechtlicher Tatbestände und einem "prima facie-Vorrang des Prinzips der rechtlichen Freiheit" hält diese Einwände gegen eine grundsätzliche Freiheitsvermutung nicht für berechtigt79 . Sie wendet sich zwar - anders als Carl Schmitt80 - ausdrücklich weder gegen einen werthaften Charakter grundrechtlicher Garantien 81 noch bestreitet sie, daß die Probleme grundrechtlicher Fälle regelmäßig nur mit Hilfe von Wertungen gelöst werden können 82 . Schon das Verhältnis zwischen der subjektiven und der objektiven Seite der Grundrechte bestimmt sie aber nicht grundlegend anders, als Carl Schmitt dies getan hat83 . Alexy spricht von einer "Vermutung zugunsten der subjektiven Dimension,,84. Als Stütze seiner "Subjektivierungsthese,,85 dient ihm neben dem bereits erwähnten Gedanken der Grundrechtsoptimierung 86 "das Argument des Grundrechtsindividualismus,,87. Der Zweck und damit der Grund für die Grundrechte besteht danach im Schutz des einzelnen, nicht in der Garantie objektiver Ordnungen oder kollektiver Güter88 . Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 134, der den Aspekt der Sicherheit hervorhebt. Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1740; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 87. 76 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 77; näher zum Verständnis der Verfassung als Einheit Stern, Staatsrecht I, S. l31 ff. sowie Staatsrecht III/2, S. 1742ff., jeweils m.w.N.; kritisch gegenüber einer Arbeit mit dem Prinzip der Einheit der Verfassung F. Müller, Die Einheit der Verfassung. Elemente einer Verfassungstheorie III, S. 226 ff. Auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidung bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 85, hält einer Auslegungsregel ,Jn dubio pro libertate" die vom Grundgesetz vorausgesetzte Gemeinschaftsbezogenheit des einzelnen entgegen. 77 BVerfGE 19,206,220. 78 Vgl. Muckel, NJW 1993,2283,2284 m.w.N. 79 Vgl. die Antikritik von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 517 f. 80 Dazu oben S. 55 mit Fn. 69. 81 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138 ff., 477; ders., Der Staat 1990, S. 49 f. 82 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 298. 83 Vgl. oben S. 55 mit Fn. 68. 84 Alexy, Der Staat 1990, S. 49, 60 f. 85 Alexy, Der Staat 1990, S. 49, 61. 86 Alexy, Der Staat 1990, S. 49, 61; oben S. 53 f. mit Fn. 55, 63f. 87 Alexy, Der Staat 1990, S. 49, 61. 88 Alexy, Der Staat 1990, S. 49, 61. 74 75
5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
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Damit zeigt sich, daß auch die neue Lehre nicht frei ist von unzulässigen Vereinseitigungen. Sie löst die Grundrechte vom Verfassungs ganzen und verabsolutiert ihre liberale Zielrichtung. Zudem erkennt sie nicht, daß grundrechtliche Freiheit auch Bindungen unterliegen kann, die zwar nicht ausdrücklich in der entsprechenden Schrankenbestimmung normiert sind89 , die aber in einer funktionsfähigen Gemeinschaftsordnung als selbstverständliche Grenzen der Freiheit mitgedacht werden müssen90 • Das Grundgesetz will einen reinen Liberalismus nicht91 . Es sieht den Menschen als "Person ,im Gefüge,,,92. Mit Blick auf die - auch vom Bundesverfassungsgericht vielfach betonte93 - Gemeinschaftsgebundenheit des einzelnen hat das Grundgesetz seine Freiheit in den Zusammenhang der ,,Minimalwerte eines störungsfreien Gemeinschaftslebens" gestellt94 , so in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2, aber auch in Art. 18 GG95 . Das Grundgesetz anerkennt die individuelle Freiheit nicht als ausschließlich höchsten Wert96 . Es denkt die Freiheit des anderen mit und sieht auch, daß grundrechtliche Freiheit den Fortbestand des freiheitlichen Staatswesens und seiner Verfassung voraussetzt97 • Ein reiner Individualismus ist dem Grundgesetz fremd 98 • Es kennt bestimmte Bindungen der Freiheit, die dieser von vornherein anhaften und daher nicht zugunsten eines subjektivistisch-individualistischen Grundrechtsverständnisses von den einzelnen Verbürgungen grundrechtlicher Freiheit getrennt werden dürfen99 • Für die Verfassung ist es selbstverständlich, daß das Recht nicht allein der Selbstverwirklichung des einzelnen dient, sondern daß "Aufgabe und Ziel des Rechts" darin liegen, "das Zusammenleben der
89 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290ff., wo er sich gegen jede Form "enger Tatbestandstheorien" wendet. 90 Zu diesen verfassungsimmanenten Grenzen grundrechtlicher Freiheit i.e. unten 13. Kap. (S. 196ff.) 91 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 43 m.w.N. 92 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 94. Mit seinen rein verfassungsrechtlich-strukturell ansetzenden Überlegungen kann Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 342 ff., diesen Einwand nicht entkräften. 93 Vgl. die Nachw. oben S. 29, S. 33 mit Fn. 49. 94 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 43, in Anlehnung an Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Art. 2 Abs. I Rn. 4 (a.E.). 95 Vgl. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 43. % Vgl. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 44. 97 Vgl. Pirson, FS Frost, S. 383, 388; zust. bereits Muckel, DÖV 1995,311,316. Näher u. S. 206ff., 213. 98 Vgl. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 43 f. 99 Näher zu den damit bereits angedeuteten verfassungsimmanenten Grenzen grundrechtlicher Freiheit unten 13. Kap.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Menschen in einer möglichst allseits befriedigenden Harmonie zu ordnen und dadurch ihr Glück zu begründen"loo. Wie weit die Freiheit des einzelnen reicht, folgt danach nicht nur aus dem, was von außen an das Grundrecht herangetragene "gegenläufige Prinzipien,,101 übriglassen. Es geht nicht allein um ein ,,zurückdrängen" des mit "prima facie-Vorrang" ausgestatteten "Prinzips der rechtlichen Freiheit" 102. Die verfassungsrechtliche Aufgabe besteht - jedenfalls auch - darin aufzuzeigen, in welcher Hinsicht die Freiheit des einzelnen von vornherein Bindungen unterliegt. Die "Individualisierung" ist heute weit fortgeschritten 103. Das gesellschaftliche Miteinander wird zu einem Nebeneinander, das immer öfter in ein (gewaltsames lO4) Gegeneinander umschlägt lO5 • Das Gespür für Bindungen der (grundrechtlichen) Freiheit, für die Notwendigkeit zur "Selbstverantwortung des Freiheitsgebrauchs"l06 geht zusehends verloren. Dies hat eine Reihe von Ursachen, die im gesellschaftlichen und politischen Bereich zu suchen sind 107. Aber auch die Rechtswissenschaft leistet ihren Beitrag zu dieser Entwicklung. Die unhaltbare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Meinungssowie Kunstfreiheit einerseits und Ehrenschutz andererseits zeigt dies besonders deutlich auflO8 • Die These vom "Grundrechtsindividualismus", der nach "GrundKüchenhoff, PS Geiger, 1974, S. 45 m.w.N. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 518. 102 Zitate aus Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 518. 103 Vgl. nur Redeker, ,,Individualisierung", NJW 1993, 1835. Zu der von Redeker, ebd., aufgegriffenen Warnung des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf davor, die Grundrechte zur ,,Magna Charta des Egoismus" werden zu lassen, vgl. F.A.Z. Nr. 57 v. 9. 3. 1993, S. 4; gegen eine "egoistische Interpretation der Grundrechte" wendet sich auch Badura, Diskussionsbeitrag, in: Politische Studien. Sonderheft 2/1995 "Wertekonsens in der Demokratie", S. 61, 63. Gegen den - seiner Ansicht nach irreführenden - Begriff der ,,Individualisierung" spricht sich Eiben, "Neue Religiosität" in der Bundesrepublik Deutschland, S. 13 f., aus. Zu den materiellen Problemen des mit dem Begriff der ,,Individualisierung" umschriebenen Phänomens auch Horster, Der Staat 1992, S. 481, unter Hinweis auf die in den USA aufgekommene Diskussion um den sog. Kommunitarismus; dazu auch Apel, Das Anliegen des anglo-amerikanischen "Kommunitarismus" in der Sicht der Diskursethik, in: Brumlik / Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, S. 149; Wellmer, Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen, ebd., S. 173; Fink-Eitel, Gemeinschaftals Macht. Auszüge aus dem Manifest amerikanischer Kommunitarier "Response Communitarian Platform" sind abgedruckt in: F.A.Z. Nr. 56 v. 8. 3. 1994, S.37. 104 Dazu Schmitt Glaeser/Horn, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Auf!. 1992; Schmitt Glaeser, Über Ursachen politisch motivierter Privatgewalt und ihre Bekämpfung, ZRP 1995, 56ff., jeweils m. umfangr. Nachw. 105 Vgl. Redeker, NJW 1993, 1835. 106 Schmitt Glaeser, ZRP 1995, 56, 62. 107 Vgl. Schmitt Glaeser, ZRP 1995,56,59 ff. m.w.N. 108 Auch Redeker, NJW 1993, 1835, 1836, verweist auf diese Rspr. Zu ihr und zur Kritik an ihr bereits oben S. 34 mit Pn. 51, 53. 100
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5. Kap.: Grundrechtstheoretische Grundlagen
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rechtsoptimierung" verlange, schafft für diese subjektivistische Rechtsprechung eine - verfassungsrechtlich konsistente - dogmatische Basis. Das eindrucksvolle Gedankengebäude Alexys steht auf dem Fundament einer besonderen Offenheit der Grundrechte 109. Das Grundgesetz statuiere eine Ordnung formaler, inhaltlich nicht determinierter Freiheit. Materiale Freiheit in dem Sinne, daß der einzelne seine Freiheit in einem bestimmten, staatlich vorgegebenen Sinne auszuüben habe, sei dem Grundgesetz fremd l1o . Dabei wird jedoch - insoweit ganz auf der Linie von earl Schmitt lll - nicht hinreichend beachtet, daß der Verfassung und insbesondere den Grundrechten Werte und Wertungen zugrundeliegen, die die Grenzen der Offenheit vorzeichnen. Die freiheitliche Verfassung setzt materiale Inhalte der Freiheits- und Rechtsidee voraus ll2 . Das Grundgesetz geht von der Existenz vorgegebener, verbindlicher sittlicher Werte aus. Es ist unvorstellbar, daß die Grundrechtsausübung von ihnen hätte freistellen wollen 113. Um eine möglichst große Offenheit grundrechtlicher Freiheit bemühte Deutungsversuche laufen dieser Grundanlage der Verfa!,sung zuwider. Sie verwandeln die materiellen grundrechtlichen Rechtssätze in bloße Verfahrensargumente 114. So richtig es ist, daß die Grundrechte nicht nur in einem bestimmten, etwa den staatlichen Zielen entsprechenden 1l5 oder demokratischen 116 Sinne ausgeübt werden dürfen. So falsch ist es, materiale Elemente der verfassungsrechtlichen Freiheit gänzlich auszuschließen. Zwar statuieren die Grundrechte Erlaubnisnormen, die sich vor allem durch eine "besondere Offenheit der grundrechtlichen Normbereiche,,117 auszeichnen. Die Offenheit der Grundrechte ist aber nicht unbegrenzt. Die Grundrechte gewähren nicht eine prima facie unbegrenzte Freiheit. Sie gehen vielmehr davon aus, daß Freiheit unter den Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens aller nicht ohne Bin-
109 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 15, 58 ff., pass.; vgl. auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 77 ff. 110 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 75 f. 111 Auf ihn rekurriert ausdrücklich Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 55, 57. 112 Vgl. vor allem Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 188ff., 242ff.; zustimmend Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 94 f.; ferner Berka, Der Freiheitsbegriff des "materiellen Grundrechtsverständnisses", in: FS Scharnbeck, S. 339, 342ff., der, S. 347, mit Recht darauf hinweist, daß der formale und ein materieller Begriff der Freiheit sich nicht ausschließen. 113 Friauf, JR 1970,215. 114 Vgl.Isensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 120, der sich mit diesem Argument gegen die subjektivierende Auslegung der Grundrechte wendet. 115 Vgl. H.H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 63 Fn. 59; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 183. 116 So vor allem die sog. demokratischen Grundrechtstheorien, zu ihnen Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534f.; ablehnend auch Hufen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 455, 473 f. 117 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 185; zu den Grundrechten als "explizite Erlaubnisnormen" Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 206 ff.
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2. Teil: Die Grundlagen ~taatlicher Letztentscheidungen
dungen zu haben ist 118 . Es gibt "Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung" 119. Eine im Ansatz unbegrenzte, individualistische Freiheit, die die Tendenz zu ihrer Maximierung in sich trägt, ist dem Grundgesetz fremd.
Vgl. dazu Suhr, EuGRZ 1984,529,533. So der Titel des Beitrags von lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 (S. 353). Zu den Verfassungsvoraussetzungen auch P. Kirchhof, NJW 1996, 1497, 1501 f., pass. 118
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Sechstes Kapitel
Die Bedeutung objektiv bestimmter RechtsbegrifTe für die Entfaltung der Verfassungsnormen A. Die Konturierung des Schutzbereichs als Voraussetzung für die Entfaltung des Grundrechts Je größer bei der Interpretation der Religionsfreiheit der Raum wird, der durch das Selbstverständnis ausgefüllt ist, desto mehr verliert das Grundrecht seine tatbestandliche Umgrenzung). Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus der Gegenwart2 erfordert Eindeutigkeit der maßgeblichen Normen 3 . Sollen die in Fragen der Religion bzw. Weltanschauung einschlägigen Verfassungsnormen funktionsfahige Maßstäbe für die Beantwortung der vielfältigen Rechtsfragen geben, müssen sie hinreichend bestimmt sein. Das Grundrecht der Religionsfreiheit enthält keine inhaltlichen Aussagen zum Kreis der geschützten religiösen Überzeugungen oder ihrer Betätigungsformen. Geschützt wird die frei gewählte, selbstbestimmte religiöse Anschauung und ihre Ausübung4 • Die Religionsfreiheit kann daher nicht ohne Rückgriff auf das Selbstverständnis des einzelnen oder einer Religionsgemeinschaft mit Leben erfüllt werdens. Räumte man dem religiösen Selbstverständnis jedoch die allein entscheidende Bedeutung für die Interpretation des grundrechtlichen Tatbestandes ein, so verlöre die Norm die hinreichende Konturierung, die sie davor bewahrt, zu einer an Unbestimmtheit über Art. 2 Abs. I GG und die dort verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit noch hinausgehenden Vorschrift6 oder gar zu einem gesichtslosen Programmsatz7 zu werden. Das Grundgesetz geht mit Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 34. Vgl. oben 1. Kap. 3 Vgl. M. Heckel, FS Lerche, S. 213, 217, der in der ,,heillosen religiösen Zerrissenheit" das Signum unserer Zeit sieht; vgl. auch dens., Gleichheit oder Privilegien? S. 29. 4 Näher zum Inhalt des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unten S. 130 ff. 5 V gl. Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 103 f. 6 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 105; vgl. auch'Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 14, die die Religionsfreiheit auf der Grundlage einer ausschließlich auf das Selbstverständnis abstellenden Interpretation in der Gefahr sieht, sich in ein "alle menschliche Handlungen umfassendes Grundrecht zu verwandeln"; ferner Karlen, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, S. 204; Friauf, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 129, 130, für die Gewissensfreiheit. 7 Zum Anspruch des Grundgesetzes, inhaltlich bestimmte Maßstäbe für die Ordnung des Gemeinwesens aufzustellen, vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz und ,.Eingriffsintensität", 1
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
seinen unterschiedlichen Grundrechten, die verschiedene, voneinander abgegrenzte Tatbestände aufweisen, davon aus, daß eine Unterscheidung der verschiedenen Merkmale möglich ist. Eine möglichst klare Konturierung des grundrechtlichen Schutzbereichs ist die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame Entfaltung des Grundrechts 8 . Die nähere Umschreibung des grundrechtlichen Schutzbereichs stellt nicht nur eine "Umzäunung der grundrechtlichen Aussage" dar. Das Grundrecht gewinnt mit ihr zugleich Gestalt9 • Dies gilt auch und gerade für Grundrechte wie die Religionsfreiheit, deren Merkmale sich begrifflich scharfer Definition entziehen und allenfalls umschrieben werden können. Ohne konturierende Festlegung des Schutzbereichs läßt sich die Aussagekraft des Grundrechts und damit seine Nutzbarkeit in der praktischen Rechtsanwendung nicht erhalten 10. Auch die Kennzeichnung eines staatlichen HandeIns als Eingriff in das Grundrecht ll verlangt eine hinreichend fixierte grundrechtliche Substanz. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Qualifizierung einer Maßnahme als Eingriff liegt in der Notwendigkeit der Rechtfertigung 12. Dehnt man den Schutzbereich des Grundrechts so weit aus, daß jedes dem religiösen Selbstverständnis des einzelnen widersprechende staatliche Verhalten in ihn eingreift, verschwimmt der Eingriffsbegriff. Dies macht deutlich, wie leicht das mit der Hervorhebung des Selbstverständnisses verbundene Bemühen um eine Optimierung grundrechtlicher Freiheit in ihr Gegenteil umschlagen kann. Denn Unklarheit über das Vorliegen eines Eingriffs in verfassungsrechtliche Garantien bedeutet Unklarheit über die Notwendigkeit verfasS. 101 m.w.N., der, S. 102, mit Recht in der Bestimmtheit der Verfassungsnonnen kein geeignetes Kriterium zur Festlegung von Reichweite und Grenzen der Nonnativität des Grundgesetzes sieht. Im Text steht jedoch nicht der notwendig unbestimmte Nonntext des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Rede, sondern die Gefahr einer weitergehenden Unbestimmtheit durch eine überzogene Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses. 8 Vgl. Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. I, 11. 9 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 7; kritisch im Hinblick auf gesetzliche Konturierungen grundrechtlicher Schutzbereiche Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 16, der die Einordnung eines Gesetzes als Grundrechtsbegrenzung oder Inhaltsbestimmung willkürlich nennt; zu den verschiedenen Auffassungen in dieser Frage Kloepjer, Festg. BVerfG Bd. ll, S. 405 f. \0 Vgl. Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 16, der als Beispiel den Begriff der Kunst i. S. d. Art. 5 Abs. 3 GG anführt; dazu auch Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 5 Rn. 91 (subjektives Definitionsmonopol müsse "die Auflösung des Begriffes Kunst und damit seine juristische Unbrauchbarkeit herbeiführen"). 11 Vgl. dazu Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffabwehrrechte, S. 25 ff.; Mayen, Der grundrechtliche Infonnationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S. 120 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend: Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 1991. Zur Kontroverse um das ,,Eingriffs- und Schrankendenken" bereits oben S. 8 f. Fn. 21. 12 Vgl. nur Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 14; ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 442, der allerdings auch bei der Prüfung, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, dem Selbstverständnis maßgebliche Bedeutung beimißt (vgl. bereits oben S. 24 Fn.123).
6. Kap.: Die Entfaltung der Verfassungsnormen
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sungsrechtlicher Rechtfertigung der betreffenden Maßnahme und über die Anforderungen, die an eine solche Rechtfertigung zu stellen sind. Die praktische Bedeutung dieser Zusammenhänge wird durch das an anderer Stelle 13 aufgearbeitete Problem staatlicher Warnungen vor sog. Jugendsekten anschaulich exemplifiziert.
B. Gefahren für die Entfaltung anderer verfassungsrechtlicher Positionen durch eine subjektivistische Interpretation der religiösen Freiheitsrechte Grundrechtsausübung bedarf im Gemeinschaftsleben notwendig der Abgrenzung gegenüber der Rechtssphäre anderer Grundrechtsberechtigter und der Sphäre, die durch die (anderen) Belange des Gemeinwesens ausgefüllt wird. Art. 1 Abs. 2 GG zeigt deutlich, daß das Grundgesetz den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als in die Gemeinschaft gestellt ansieht l4 . Dies zwingt die Rechtspraxis ständig dazu, gegenläufige Belange, insbesondere kollidierende Grundrechte l5 , einem "schonendsten Ausgleich,,16, "praktischer Konkordanz,,17 zuzuführen l8 . Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn über den sachlichen Gehalt der verschiedenen verfassungsrechtlichen Positionen Klarheit besteht. Sollen etwa im Falle eines Antrags auf Befreiung vom Sportunterricht aus religiösen Gründen l9 das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder gern. Art. 6 Abs. 2 GG einerseits und der staatliche Erziehungsauftrag gern. Art. 7 Abs. 1 GG andererseits zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden 2o , muß Klarheit darüber bestehen, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen der betreffenden Normen erfüllt sind. Überließe man diese Frage dem Selbstverständnis, bliebe der abwägende Vergleich der verschiedenen Positionen im Ungefahren. Dies würde zwangsläufig dazu führen, daß der gegenläufige Belang, im genannten Beispiel der staatliche Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG, in seiner verfassungsrechtlichen Wirkkraft beeinträchtigt würde. Mucket, JA 1995, 343, inbes. zur Frage des Grundrechtseingriffs S. 345 f. m. w.N. Vgl. bereits oben S. 29, S. 33 mit Fn. 49, S. 57 mit Fn. 93; ferner Stern, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 78 m.w.N. 15 Zur Figur der Grundrechtskollision Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453, 454 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 602 ff. m.w.N. 16 Dazu im einzelnen Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 125 ff., 152 f.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 122 Rn. 3 ff.; Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 82, jeweils m.w.N. 17 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. IS Näher Stern, -in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 109 Rn. 80ff., insbes. Rn. 82, mit umfangr. Nachw. 19 Vgl. dazu oben S. 17 mit Fn. 80 ff. 20 Vgl. dazu die umfangreichen Überlegungen in BVerwGE 94, 82, 83 ff. 13
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Ein "schonendster Ausgleich" erfordert notwendig die gegenseitige Begrenzung der gegenläufigen Belange, um allen betroffenen Gütern zu größtmöglicher, optimaler Wirkung zu verhelfen. Von einer subjektivistischen Interpretation dagegen ist eine Begrenzung der betreffenden verfassungsrechtlichen Position nicht zu erwarten. Ihr wohnt vielmehr eine deutliche Tendenz zum Maximalen inne. Die Ausdehnung eines Rechts mit Hilfe des Selbstverständnisses verschaffte ihm - auf Kosten der gegenläufigen Belange - ein größeres Gewicht. Auf diese Weise würde der Grundrechtssubjektivismus zu einem Instrument, welches die wichtigste Aufgabe der Verfassungsinterpretation erheblich erschwert, wenn nicht unlösbar macht: die Aufgabe, die einzelnen Verfassungsnormen stets frei von einseitiger Beschränkung auf Teilaspekte mit Blick auf andere Verfassungsnormen und auch das Verfassungsganze21 zu sehen. Soweit auch der gegenläufige verfassungsrechtliche Belang in einer grundrechtlich geschützten Position mit einem vom Selbstverständnis bestimmten Inhalt besteht, sieht sich der Rechtsanwender gar, wie lose! Isensee herausgearbeitet hat, vor eine unlösbare Aufgabe gestellt22 . Wie soll er eine größtmögliche Entfaltung durch gegenseitige Begrenzung erreichen, wenn beide Positionen nach dem jeweiligen Selbstverständnis unverzichtbaren grundrechtlichen Schutz genießen? Die subjektivierende Betrachtungsweise erweist sich damit nicht nur als ungeeignet, zu einer Verfassungsinterpretation beizutragen, die der Einheit der Verfassung gerecht wird. Sie errichtet zugleich unübersteigbare Hürden für einen diesem Prinzip Rechnung tragenden Ausgleich gegenläufiger grundrechtlich untermauerter Selbstverständnisse.
C. Insbesondere: Die staatliche Verantwortung für Verfassungsgüter I. Gefahren für verfassungsrechtlich garantierte Positionen im Zuge der Veränderungen des religiösen Lebens
Wenn man den einschlägigen Veröffentlichungen 23 trauen darf, treten in jüngerer Zeit vermehrt Situationen auf, in denen die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zur Gefahr für andere verfassungsrechtliche Gewährleistungen wird. Neuartige (pseudo-) religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften und andere Gruppen sind den Berichten zufolge Auffassungen verpflichtet und entfalten Aktivitäten, die zu verschiedenen Aussagen des Grundgesetzes in Widerspruch stehen. So sollen etwa Äußerungen Osho-Rajneeshs24 , das den "Kindern Gottes" nachgesagte Zur Einheit der Verfassung bereits oben S. 56 mit Fn. 75 ff. lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 31 f.; vgl. auch dens., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 120; ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 328; a.A.: Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 184. 23 V gl. die Nachw. oben S. 2 Fn. 1; S. 34 f. Fn. 55 ff. 21
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6. Kap.: Die Entfaltung der Verfassungsnormen
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"flirty fishing" zur Einnahmenerzielung und zur Glaubensanwerbung 25 und verschiedene Praktiken anderer Gruppen 26 mit der Menschenwürde gern. Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar sein. Auch das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht auf Leben ist bisweilen in Gefahr. So wird etwa berichtet, daß von Mitgliedern mancher Gruppen Mord oder Selbstmord verlangt werden kann 27 • Die tragischen Ereignisse um den Massenselbstmord von Angehörigen der "Volkstempel-Sekte" im Jahre 197828 , die Selbstverbrennung der "Davidianer" 1993 in Waco/USA29 und der gewaltsame Tod von Angehörigen der "Sonnentempler-Sekte" im Oktober 1994 und Dezember 1995 30 bestätigen solche Mitteilungen. Aber auch Berichte über die Vollstreckung von auf islamische Rechtsvorstellungen gestützten Todesurteilen im muslimischen Ausland gehören in diesen Zusammenhang 31 • Die gleichfalls von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierte körperliche Unversehrtheit ist nicht erst beeinträchtigt, wenn bestimmte Verhaltensweisen körperliche Repressalien 32 BVerwG, NVwZ 1994, 162, 163. Abel, in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 45: Verstoß gegen die Menschenwürde der weiblichen Miglieder der "Kinder Gottes", die zum "fIirty fishing" angehalten werden; dazu auch Valentin, in: Gasper/Müller/Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Sp. 985; ferner EA.Z. Nr. 275 v.26. 11. 1994, S. 12. Zur Sexualität bei den "Kindern Gottes" vgl. Lü. den Bericht des ehemaligen Mitglieds dieser Gruppe Rachel Sand (Pseudonym), Kindheit und Jugend bei den "Kindern Gottes". EZW-Texte. Information Nr. 131 (IV/1996), S. 8, IOf., 19ff., insbes. zum sexuellen Mißbrauch von Kindern durch Erwachsene. 26 Abel, Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in bezug auf die ,,Neuen Jugendreligionen", S. 189 ff. m. Nachw.; insbesondere mit Blick auf die "Church of Scientology": Keltseh, in: Gross (Hrsg.), Psychomarkt, Sekten, Destruktive Kulte, S. 141, 155, 161. 27 So die Erklärung eines ehemaligen Hare-Krishna-Jüngers nach einem Bericht im "Kölner Stadtanzeiger" Nr. 100 v. 30.4. 1993, S. 12. Le Figaro v. 9. 1. 1996 zitiert eine ehemalige Anhängerin der französischen Sekte ,,Maev" mit den Worten: ,,Maev ist sehr beeindruckend. Auch sehr böse. Sie ist fahig, die Leute zum Selbstmord zu treiben. Sie kann sogar von einem Anhänger verlangen, daß er eine Person tötet, weil sie in ihr unheilvolle Geister sieht". 28 Dazu Bolewski, EvKomm 1979, S. 4; Rampe, Luth. Monatshefte 1979, S. 1. 29 Dazu EA.Z. Nr. 92 v. 21. 4.1993; Rheinischer Merkur Nr. 17 v. 23. 4.1993, S. 1. 30 Zu den Todesfällen in der Schweiz bzw. in Kanada im Oktober 1994: EA.Z. Nr. 232 v. 6. 10. 1994, S. 7; Rheinischer Merkur Nr. 40 v. 7. 10. 1994, S. 1; Die Zeit Nr. 42 v. 14. 10. 1994, S. 13 ff.; zu den Vorgängen in den französischen Alpen im Dezember 1995: EA.Z. Nr. 300 v. 27. 12. 1995, S. 9. 31 Prominentestes Opfer ist der sudanesische Politiker Muhammad Mahmud Taha, der im Jahre 1985 hingerichtet wurde, dazu näher Tworuschka, in: Rheinischer Merkur Nr. 3 v. 20. 1. 1995, S. 24; Duran, in: EA.Z. Nr. 10 v. 13. 1. 1997, S. 9. Nach einem Bericht in der EA.Z. Nr. 31 v. 6. 2. 1997, S. 5 sind im Iran Angehörige der Baha'f-Religion wegen Apostasie zum Tode verurteilt worden; der Oberste Iranische Gerichtshof hat der Zeitungsmeldung zufolge die Beschwerden der Verurteilten gegen die Todesurteile verworfen. Zum Problem der Bestrafung von Apostaten auch unten Fn. 37 sowie S. 217 f. mit Fn. 161. 32 Als Beleg mag der Hinweis auf die Zulässigkeit körperlicher Strafen nach dem islamischen Strafrecht dienen, vgl. etwa Dilger, in: Marrt5 / Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 195; 1ibi, Die Eotwestlichung des Rechts. Das Hudud-Straf24
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
nach sich ziehen 33 , sondern bereits dann, wenn Personen Behandlungen ausgesetzt werden, die zu psychischen Schäden führen 34 . Manche Lehren wenden sich offensiv gegen Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)35 und die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie sie in Art. 3 Abs. 2 GG festgeschrieben ist36 . Auch wird bisweilen die Religionsfreiheit Dritter beeinträchtigt, etwa durch Maßnahmen, die einen Austritt aus der Gruppe erschweren oder gar verhindern 3? Ferner stellen nicht wenige Gruppen und verstärkt auch muslimische Lehren den - freilich nicht zu den Grundrechten zählenden - staatlichen Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG in Frage38 . Manche Gruppen schließlich lehnen den auf der Grundlage des Grundgesetzes bestehenden Staat insgesamt ab 39 . Im einzelnen sind die verschierecht der islamischen Scharia und der "Krieg" der Zivilisationen, in: EA.Z. Nr. 143 v. 23. 6. 1995, S. 13, 14; zur Praxis im Iran vgl. die Meldung ,,85 Peitschenhiebe für tanzende Braut", in: Kölner Stadtanzeiger Nr. 207 v. 6. 9. 1995, S. 39. Vgl. auch den Bericht über das Auspeitschen von Kindern bei den "Kindern Gottes": Sand (Fn. 25), S. 16. 33 Vgl. Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 45 f., 55 m.w.N. 34 Dies verkennt Keltsch, in: Gross (Hrsg.), Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte, S. 141, 166, wenn er eine Ergänzung des Art. 2 GG dahingehend fordert, daß auch das Recht auf "geistig-seelische Unversehrtheit" geschützt sei. Zu den verschieden Faktoren und Ursachen der im Text erwähnten Schäden Hummel, in: Marre I Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 64, 70; für die "Transzendentale Meditation": BVerwGE 82, 76, 86, 88 f. unter Berufung auf einen Bericht der Bundesregierung; für die "Church of Scientology" : Hummel, a. a. 0., S. 64, 70 mit Fn. 7; Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen "Sogenannte neuere Glaubensgemeinschaften", in: AJS-Forum, Sonderausgabe (1993), S. 4; vgl. auch den Bericht eines früheren Mitlieds der Gruppe in: Hernnann (Hrsg.), Mission mit allen Mitteln, S. 30, 38 f.; allg.: BTÜhlmann-Jecklin, Artikel ,,Psychologie", in: Gasper/Müller/Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Sp. 848, 853 ff.; Hemminger, Artikel ,,Psychotechniken", ebd., Sp. 854, jeweils mit umfangr. Nachw. 35 Vgl. im Hinblick auf die Osho-Bewegung BVerwG NJW 1991, 1770, 1772f.; BVerwG NVwZ 1994, 162, 163, jeweils zu entsprechenden Regierungsberichten; mit Blick auf "Vereinigungskirche" und "Kinder Gottes": Müller- Volbehr, in: Marret Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 128; zur rechtlichen Bewertung Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 47 ff., der mit Recht darauf hinweist, daß die Ablehnung von Ehe und Familie nicht stets einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG darstellt. 36 Zu islamischen Vorstellung vgl. insoweit Füssell Nagel, EuGRZ 1985,497,499 m.w.N. 37 Vgl. LG München NJW 1987, 847f.: Verstoß gegen Art. 4 GG durch an den Austritt geknüpfte Zahlungspflichten bei der "Church of Scientology"; Müller-Volbehr, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 128 f.; zum Verbot der Apostasie im Islam vgl. Muckei, DÖV 1995,311,316; Conring, KuR 110, S. 11, 17f. (Heft 1196, S. 1, 7f.), jeweils m.w.N.; dazu auch unten S. 217 f. mit Fn. 161. 38 Vgl. die oben S. 17 mit Fn. 80ff. nachgewiesenen Entscheidungen zur Befreiung muslimischer Kinder vom Sportunterricht; ferner Schönberger, Artikel "Erziehung, religiöse. 2. Religiöse Sondergemeinschaften", in: Gasper/Müller/Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Sp. 244ff. m.w.N. 39 Vgl. etwa die in der Publikation des Bundesamtes für Verfassungsschutz ,,Islamischer Extremismus und seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland. Marsch in Richtung islamistischer Staat", 1994, genannten Gruppen.
6. Kap.: Die Entfaltung der Verfassungsnormen
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denen Vorwürfe bereits häufig näher ausgeführt und belegt worden4o . Hierauf sei verwiesen. 11. Die staatliche Pflicht zum Schutze grundrechtlich garantierter Güter
Grundrechte geben dem einzelnen (und grundrechtsfähigen Personengemeinschaften) nicht nur Rechte auf Abwehr staatlicher Beeinträchtigungen. Aus ihnen folgen daneben staatliche Schutzpflichten. Damit ist die Verpflichtung des Staates gemeint, die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter in seinen Schutz zu nehmen, und zwar vor allem gegenüber Verletzungen oder Gefährdungen durch Dritte41 . Der Staat darf nicht abseits stehen, wenn der Bürger seine Grundrechtssphäre nicht mehr vor den Übergriffen anderer bewahren kann. Er muß sich dann schützend vor die Grundrechtsgüter stellen und sie auch gegen Angriffe von privater Seite verteidigen42 . In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt die grundrechtliche Schutzpflicht spätestens seit dem Fristenlösungsurteil von 1975 43 einen festen Platz ein44 . Das Gericht leitet sie aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte her45 . Die Verpflichtung des Staates zum Schutze grundrechtlicher Güter ("Schutzgüter,,46) ist heute als allgemeiner Grundsatz für alle Grundrechte anerkannt47 . Die Schutzpflicht bezieht sich zum einen auf das grundrechtliche Schutzgut und korrespondiert insofern mit dem Abwehrrecht, dem sie auch in ihrer Vgl. die Nachw. in den voranstehenden Fußnoten. Aus der inzwischen unüberschaubaren Literatur zu den grundrechtlichen Schutzpflichten vgl. etwa H.H. Klein, DVBI. 1994,489,490; Stern, Staatsrecht III/ I, S. 931; lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § III Rn. 3, 86ff.; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 52ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz I GG, 1987; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 142; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 131 ff., jeweils m.w.N. 42 Dirnberger, DVBI. 1992, 879 m. Nachw. zur Rspr. des BVerfG. 43 BVerfGE 39, 1. 44 Vgl. die Nachw. bei H.H. Klein, DVBI. 1994,489, 490f.; detaillierte Übersicht über die Rechtsprechung des BVerfG bei Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 129ff.; lsensee, das Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, S. 43 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 142 ff. 45 Nachw. bei Dietlein, die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 17, auch zur Lit.; vgl. auch Stern, Staatsrecht III! 1, S. 931 m. Fn. 209, S. 937; Pietrzak, JuS 1994, 748 f. auch zu anderen Ableitungsversuchen. 46 Zu diesem Begriff lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 41, der, Rn. 93, das Schutzgut als Gegenstand der grundrechtlichen Schutzpflicht bezeichnet; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 274. 47 lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 86, 93; Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 944, jeweils m. umfangr. Nachw.; ferner H.H. Klein, DVBI. 1994,489,493. 40
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
thematischen Reichweite entspricht48 . Daneben sind die Grundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension geschützt. Insoweit erfaßt die Schutzpflicht die grundrechtlichen Güter unabhängig von der Person eines Grundrechtsträgers und ihren subjektiven Bezügen als Sache der Allgemeinheit, als öffentliche Interessen49 . Nicht Gegenstand grundrechtlicher Schutzpflichten sind die grundrechtsähnlichen Verfahrensgarantien (wie die des Art. 103 GG), soziale Gewährleistungen (wie die des Art. 6 Abs. 4 und 5 GG)50 und der allgemeine Gleichheitssatz, wohl aber die objektiven Wertentscheidungen des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau51 . Die dogmatischen Strukturen des "zweidimensionalen" Eingriffsabwehrdenkens lassen sich nur begrenzt auf das "dreidimensionale" Schutzgeflecht Staat-StörerOpfer übertragen. Steht eine Schutzverpflichtung in Rede, muß stets die Position des Störers mitbedacht werden52 . Stehen auch ihm Grundrechte ZU 53 , ist die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht unter Umständen nur auf Kosten dieser Grundrechte möglich 54 . Das setzt voraus, daß Klarheit über die beteiligten grundrechtlichen Positionen des Störers wie des Opfers besteht. Diese Klarheit ist um so größer je mehr die Reichweite der grundrechtlichen Freiheit anband objektiver Kriterien entwickelt werden kann. Dies verlangt nach einem möglichst weitgehenden staatlichen Letztentscheidungsrecht. Für das von dritter Seite gefährdete oder verletzte Grundrecht ist dieser Zusammenhang auf die Formel gebracht worden: Was der Staat nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen55 . Die Notwendigkeit, stets auch Isensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V § II1 Rn. 93. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § I11 Rn. 95; anders Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 79 ff., der nicht die institutionelle Gewährleistung als solche, sondern erst das vorn einfachen Gesetzgeber geschaffene Institut als Schutzgut der grundrechtlichen Schutzpflichten ansieht. 50 Vgl.lsensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 96. 51 In diesem Sinne Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84f.; anders Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 96: nur mittelbarer Schutz der Gleichheit mit Hilfe der Menschenwürdegarantie des Art. I Abs. I GG. 52 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 75. 53 Zur Unmöglichkeit gewaltsamer Grundrechtsausübung und zum tatbestandlichen Ausschluß anderer Aktivitäten aus dem grundrechtlichen Schutzbereich unten S. 206 ff., 215 ff. 54 Allg. im Hinblick auf gegenläufige verfassungsrechtliche Güter H.H. Klein, DVBI. 1994, 489, 493, unter Bezugnahme auf BVerfGE 49, 24, 55. 55 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HStR V § 115 Rn. 119; ders., Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 35; ders., Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 186; P. Kirchhof, NJW 1985,225,227; Scholz, in: Maunz I Dürig, GG Art. 5 III Rn. 25, alle in Anlehnung anA. Arndt, NJW 1966,26,28; ferner Bethge, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 8; v. Campenhausen, Staat und Kirche unter dem Grundgesetz. Eine Orientierung, S. 35. Vgl. im. Hinblick auf Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 3 WRVauch Herdegen, EuGRZ 1984,244,245, der sich mit der Begründung gegen eine Überbetonung des kirchlichen Selbstverständnisses wendet, daß der Gesetz48 49
6. Kap.: Die Entfaltung der Verfassungsnormen
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den (grund-) rechtlichen Status des Störers in den Blick zu nehmen, macht darüber hinaus die staatliche Letztentscheidung über seine Rechtsposition erforderlich: Vor dem, was der Staat nicht definieren kann, kann er nicht schützen. Lassen sich z. B. Praktiken einer neuartigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft56 , die die körperliche Unversehrtheit von Mitgliedern der Gruppe beeinträchtigen, als Formen der Religionsausübung qualifizieren, muß der Staat dies bei seinem SChutzeingriff57 berücksichtigen. Als Grundrechtseingriff muß dieser sich gegenüber der Abwehrfunktion des Grundrechts behaupten. Der Eingriff darf nur so weit gehen, wie er die notwendige Voraussetzung dafür bildet, daß der Inhaber des geschützten Grundrechts in der Lage ist, das Recht für seine Person zu entfalten58 . Es darf nicht zu "einliniger Ausdehnung,,59 einer konkreten individuellen Freiheitsposition zu Lasten anderer, ebenfalls grundrechtlich fundierter Freiheitspositionen Dritter kommen. Der Schutzeingriff muß insbesondere geeignet, notwendig und angemessen sein, um sein Ziel, die Abwehr des privaten Übergriffs, zu erreichen60 • Bei der Erfüllung der Schutzpflicht unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Grundrechte des Störers steht der staatliche Grundrechtsinterpret - in welcher Funktion auch immer: als Gesetzgeber, Verwaltungsbediensteter oder Richter - vor der oben beschriebenen Aufgabe, einen schonenden Ausgleich der kollidierenden Belange zu finden 61 • Die Schutzpflicht erfordert es, die Rechtssphären der Beteiligten gegeneinander abzugrenzen 62 . Bei weitgehender Einbeziehung des jeweiligen Selbstverständnisses kann sich diese Aufgabe schnell als unlösbar erweisen. Erst das Letztentscheidungsrecht des Staates, sein "Interpretationsprimat,,63, schafft die Voraussetzung für Schutzvorkehrungen, die allen beteiligten Belangen Rechnung tragen.
geber sonst "selbst elementaren Schutz- und Ordnungsfunktionen nicht mehr gerecht werden könnte". 56 Zur Bindung der neuartigen Religions- bzw. Weltanschauungs gemeinschaften an die Grundrechte vgl. Stern, Staatsrecht III/I, S. 1222. 57 Zu diesem Begriff Isensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111 Rn. 168; Wahl! Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990,553. 58 Vgl. H.H. Klein, DVBI. 1994,489,493 f. 59 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 51. 60 Isensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 11 Rn. 170; differenzierend Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 103 f. Auch unterliegt der Schutzeingriff dem Vorbehalt des Gesetzes in seiner klassischen Funktion als Eingriffsvorbehalt, dazu Isensee, a. a. 0., Rn. 152, 169 m.w.N.; Wahl!Masing, JZ 1990, 553, 557 ff. 61 Vgl. H.H. Klein, DVBI. 1994,489,493: ,,Abwehr des Störers bei möglichster Schonung seiner Rechte". 62 H.H. Klein, DVBI. 1994,489,491. 63 Dazu Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 119; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 90 f.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
111. Die staatliche Verantwortung für nicht grundrechtlich geschützte Verfassungswerte
Den Staat trifft nicht nur eine Pflicht zum Schutze grundrechtlieh gewährleisteter Güter. Er trägt darüber hinaus die Verantwortung64 auch für andere, außergrundrechtliche Verfassungsgüter, die als bewußte Wertentscheidung der Verfassung angesehen werden können. Zu ihnen zählen nicht nur Normen und Grundsätze, die unmittelbar das Verhältnis zwischen Staat und Bürger betreffen, wie der staatliche Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. I GG, der Schutz der Jugend (Art. 5 Abs. 2 GG)65 und die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates66 , sondern auch die objektiven Grundentscheidungen für den (Fort-)Bestand des Staates und der Verfassung selbst. Will der Staat diesen Belangen in angemessener Weise Rechnung tragen, muß er in der Lage sein, sie zu gegenläufigen Interessen, insbesondere zur grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit in Bezug zu setzen. Dies kann nur gelingen, wenn Klarheit über den Schutzbereich dieses Grundrechts besteht. Die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes kann nicht allein dem Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gruppe überlassen sein. Nicht anders als bei der Wahrnehmung einer grundrechtlichen Schutzpflicht67 müssen staatliche Stellen die Möglichkeit haben, den Schutzbereich der verfassungsrechtlich verbürgten Religionsfreiheit soweit als möglich anhand objektiver Kriterien zu bestimmen.
Zum Begriff der Verantwortung oben S. 31 Fn. 33 ff. Vgl. BVerfG NJW 1989, 3269, 3270: "staatliche Verantwortung für die verfassungsrechtlich hervorgehobenen Belange des Jugendschutzes"; ferner BVerfGE 30, 336, 348: "ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen". 66 Dazu unten 7. Kap. 67 Oben S. 67 ff. mit Fn. 41 ff. 64 65
Siebentes Kapitel
Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung Der Gedanke der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates! dient in der Literatur regelmäßig als tragender Pfeiler einer Argumentation für eine maßgeblich am Selbstverständnis orientierte Interpretation religiös geprägter Rechtsbegriffe. Im religiös und weltanschaulich neutralen Staat gebe es keine Kriterien für eine allgemeingültige Bestimmung derartiger Begriffe. Der Staat habe kein eigenes Wissen von dem, was Religion sei2 • Er entspreche dem Gebot der Neutralität nur, wenn er ein Höchstmaß an religiöser bzw. weltanschaulicher Selbstbestimmung einräume. Dem Verfassungsprinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates trage nur ein Grundrechtsverständnis Rechnung, das umfassend alle religiös und weltanschaulich intendierten Verhaltensweisen ergreife3 . In einer differenzierten pluralistischen Gesellschaft mit freiheitlicher Verfassung müsse der um Neutralität bemühte Staat den Dialog mit den verschiedenen Gruppen suchen, um akzeptable Wege des Zusammenlebens zu entwickeln. Insbesondere dort, wo die Aufgabe rechtlicher Regelung zwangsläufig die Betroffenen in ihren Eigenvorstellungen wesentlich berühre, verlangten der Schutz der Freiheit und die Neutralität des Rechts die Zurückhaltung bei der Vorgabe inhaltlicher Direktiven 4 • Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Gedanke religiös-weltanschaulicher Neutralität nicht auch andere Schlußfolgerungen zuläßt. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität könnte für den freiheitlichen Staat zur Plattform einer inhaltlichen Konkretisierung religiöser Freiheitsrechte werden, solange er sich an "neutralen", in der Verfassung selbst angelegten Vorgaben orientiert. Dieser Gedanke ! Zu dieser Formel v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 19, unter Hinweis auf BVerfGE 41, 29, 50. 2 lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 219; vgl. auch 1illmanns, in: Neumann/Tilmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161,208. 3 Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,304; ders., JuS 1997, 223f.; vgl. auch 1illmanns, in: Neumann/Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161, 199, mit der These, das Gebot staatlicher Neutralität diene der größtmöglichen Entfaltung der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Religionsfreiheit. 4 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 335. Auch M. Heckei, in: MarreJ Schümmelfeder /Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 127, 129, greift zur Begründung einer dem religiösen Selbstverständnis verpflichteten Interpretation von Rechtsbegriffen auf das Gebot staatlicher Neutralität zurück.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
deutet sich an bei Emst-Wolfgang Böckenförde: Aus dem Umstand, daß der einzelne sich aufgrund des Prinzips der Neutralität vor Zumutungen von seiten des Staates an seine Individualität, seine geistige und sittliche Persönlichkeit und damit insbesondere an sein Gewissen sicher wissen könne, gewinne der Staat die Legitimation, seinen Bürgern mit dem Anspruch auf unbedingte Loyalität, ja auf Gehorsam gegenüberzutreten5 • Dieser Gehorsam könnte, solange der Staat auf - in einem noch zu bestimmenden Sinne - neutrale Eckdaten zurückgreift, auf Regelungen oder Entscheidungen bezogen sein, die die Religions- und Weltanschauungsfreiheit präzisieren und bisweilen auch einschränken. Dann wäre die religiöse und weltanschauliche Neutralität in der Tat die verfassungsrechtliche Basis für eine auch dem einfachen Gesetzgeber zustehende 6 - staatliche Letztentscheidungsbefugnis für die Reichweite verfassungsrechtlicher Garantien religiös bzw. weltanschaulich motivierten Verhaltens.
A. Die Vieldeutigkeit des Neutralitätsbegritfs Ein einheitliches, übergreifendes Verfassungsprinzip der staatlichen Neutralität besteht nicht. Der Gedanke staatlicher Neutralität findet sich in einer Vielzahl verfassungsrechtlicher Gewährleistungen, für die Verwaltung etwa in Art. 20 Abs. 3 GG, die Bundesbank in Art. 88 GG und die Rechtsprechung in Art. 20 Abs. 3, 92 ff. GG. Nur anknüpfend an die speziellen Normen und die jeweiligen Sachbereiche kann der Neutralitätsgedanke inhaltlich bestimmt werden7 • Im Staatskirchenrecht folgt der Grundsatz der (religiös-weltanschaulichen) Neutralität aus dem Zusammenspiel verschiedener Verfassungsbestimmungen, die das Verhältnis des Staates zu Fragen der Religion bzw. Weltanschauung berühren8 . Insoweit ist vor allem auf die Religions- und die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. I und 2 GG9 , 5 Bäckenfärde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 55 f., unter Berufung auf Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 184; zustimmend Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 240. 6 Bäckenfärde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 57, schließt allerdings in seiner Untersuchung über das Grundrecht der Gewissensfreiheit eine Begrenzung der Gewissensbetätigung durch die allgemeinen Gesetze aus; a.A. neuerdings Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 287ff.; ders., in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 495 ff.; dazu noch unten S. 253 ff. mit Fn. 228 ff. 7 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 44, 226f., pass.; ders., Artikel,,Neutralität. 11. Innerstaatlich", in: EvStL3 , Bd. 11, Sp. 2239, 2241. 8 V gl. v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 20, der aber verengend nur das Verhältnis des Staates zu Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Auge hat (Hervorhebung nicht im Original). 9 Schlaich, in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 446, bezeichnet die Religionsfreiheit als "Grunddatum" der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates; auch v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 20, und Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativitä~ des positiven Rechts, S. 204; Scholler, in: Jb. zur Staats- und Verwaltungswissenschaft Bd. 7 (1995), S. 117, 121, 133, stellen in beson-
7. Kap.: Religiös-weltansch!luliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung
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auf das Verbot der Staatskirche in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV IO , aber auch auf das Verbot der Benachteiligung und Bevorzugung des Bürgers aus religiösen Gründen in Art. 3 Abs. 3 GG sowie die Unabhängigkeit des bürgerlichen und staatsbürgerlichen Individualstatus und der öffentlichen Ämter vom Bekenntnis gemäß Art. 33 Abs. 3 GG zu verweisenlI. Ungeachtet des normativen Bezugs und seiner Erhebung zum "Schlüsselbegriff' des Staatskirchenrechts 12 ist aber die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates vieldeutig geblieben I3. Die Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche 14 wird ebenso auf sie gestützt wie die Pflicht des Staates zu positiver Religionspflege, zur Religionsförderung l5 . Zum gesicherten Bestand religiöser und weltanschaulicher Neutralität des Staates dürften folgende Aspekte zählen: Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 1 WRV steht mit dem Verbot der Staatskirche einer Staatsreligion oder Staats-Weltanschauung entgegen 16; die demokratische Gesellschaft ist für die verschiedenen geistigen und politischen Kräfte und deren Auseinandersetzung offen l7 ; der demokratische Staat ist nicht in der Lage, den Glaubensinhalt eines religiösen Bekenntnisses zu bestimmen 18; der Staat, der allen derem Maße auf das Grundrecht der Religionsfreiheit ab. Wohl aus verfassungsprozessualen Gründen auch BVerfGE 93, 1, 16 f. (krit. insoweit bereits Muckei, KuR 110, S. 21, 28 f. [Heft 2/1996, S. 65, 72 f.D. 10 Vgl. statt vieler: Böckenförde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 130. 11 Vgl. M. Heckei, Staat Kirche Kunst, S. 207f. m.w.N.; ferner Böckenjörde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 129; de Wall, Theologische Literaturzeitung 1994, 291, 293 f.; ders., in: Der Evangelische Erzieher 1995,230,232; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 5. 12 Schlaich, Artikel ,,Neutralität. II. Innerstaatlich", in: EvSte, Bd. n, Sp. 2239, 2242; Häberle, ZevKR 18 (1973), S. 420. 13 Zur Mehrdeutigkeit des Neutralitätsbegriffs vgl. Lorenz, Wissenschaftsfreiheit zwischen Kirche und Staat, S. 16: "ambivalent"; Jestaedt, JRP 1995,237, 244f.; auch Pannenberg, Was bedeutet Neutralität? in: Rheinischer Merkur Nr. 38 v. 22. 9. 1995, S. 24. 14 Fischer, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 24, pass.; Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 149ff.; vgl. dazu auch Schlaich, in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 434ff. 15 Nachw. und Problematisierung bei Schia ich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 215 ff., 242f.; aus jüngerer Zeit Robbers, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 867, 888 f.; Clement, in: Marrel Schümmelfeder (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (28), S. 41, 45. Zum Begriff der positiven Religionspflege Johannes Heckel, in: Quaritsch/Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 44, 76; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 38f.; Müller-Volbehr, ZRP 1991, 345, 346; Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grnndrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 138 f. 16 Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 113; ders., Artikel "Staatskirchen und Staatsreligionen", in: Ste, Bd. V, Sp. 182, 185; Schlaich, in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 430. 17 Schlaich, in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 430; vgl. auch Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 159. 18 BVerfGE 41, 65, 84.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Bürgern eine Heimstatt bieten S01l19, darf sich nicht mit einer religiösen Position identifizieren oder eine oder mehrere privilegieren2o • Die weiteren Folgerungen aus dem Neutralitätsgedanken sind nicht zuletzt wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffs streitig geblieben. Die konfessionelle, religiöse, weltanschauliche Neutralität war stets ein klassischer Kampfbegriff der politischen und der Sozialgeschichte21 • Daran hat sich bis heute nichts geändert 22 • Kulturverfassungsrecht und Staatskirchenrecht23 sind im pluralistischen Staat notwendig Konfliktsrecht und Kompromißrecht. Die Kontroversen um die Gestaltung der Schule, insbesondere um die Stellung des Religionsunterrichts 24, machen dies anschaulich deutlich 25 •
19 Vgl. BVerfGE 19,206,216: Staat als "Heimstatt aller Staatsbürger". In dieser Zielsetzung sieht Rüfner, NJW 1974,491,492, das Hauptanliegen des Prinzips der Nichtidentifikation. Ähnlich lestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 149 f., der in der ,,religiös~weltanschaulichen Abstinenz des Staates" mit Recht die Bedingung der Fähigkeit, "Heimstatt aller Staatsbürger" zu sein, sieht. 20 Grundlegend zum Prinzip der Nichtidentifikation Herbert Krüger; Allgemeine Staatslehre, S. 178ff.; vgl. ferner v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 20 a.E.; Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 160; Link, FS Thieme, S. 95, 99f.; ders., NJW 1995, 3353; de Wall, in: Der Evangelische Erzieher 1995, 230, 232; Tillmanns, in: Neumann/Tilimanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161, 194, 199. 21 Häberle, ZevKR 18 (1973), S. 420, 425; zustimmend: Schlaich, in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 429; vgl. ferner Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 145 f. 22 Vgl. die im Namen der Neutralität erhobenen Forderungen von religiösen bzw. weltanschaulichen Außenseitern und Sondergruppen, beispielhaft etwa den Vortrag der Bf. im Verfahren vor dem BVerfG um das Kreuz in bayerischen Klassenzimmern, BVerfGE 93, 1,6 (insoweit in NJW 1995,2477 nicht abgedruckt); ferner den Leserbrief eines Mitglieds des VPM (Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis), in: F.A.Z. Nr. 100 v. 30.4. 1994, S. 9. 23 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 157 ff., sieht das Staatskirchenrecht als Teil des Kulturverfassungsrechts; vgl. auch dens., in: Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, S. 427, 441. 24 V gl. aus der Vielzahl der gegenwärtigen Probleme etwa das Verhältnis von Religionsund Ethikunterricht (dazu statt vieler de Wall, Theologische Literaturzeitung 1994, Sp. 291 mit umfangr. Nachw.), die Anwendbarkeit des Art. 141 GG auf die neuen Bundesländer (dazu einerseits Rüfner, in: Marrel Stüting [Hrsg.], Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche [26], S. 60, 68ff.; Kremser, JZ 1995, 928ff.; andererseits Schlink, NJW 1992, 1008, 1010 ff.; Renck, DÖV 1994,27,31 f., jeweils m.w.N.) sowie die Diskussion um das Fach "Lebensgestaltung, Ethik, Religion" im Land Brandenburg (dazu etwa Muckel/Tillmanns, RdJB 1996,361; zur Entwicklung des Streits: F.A.Z. Nr. 161 v. 14.7. 1995, S. 4: Kirchen kritisieren geplantes Pflichtfach; F.A.Z. Nr. 219 v. 20. 9. 1995, S. 6: Der Streit um LER in Berlin und Brandenburg verschärft sich; F.A.Z. Nr. 221 v. 22. 9. 1995, S. 10: SPD hält an LER als Pflichtfach fest. Einigung über Religionsunterricht nahezu aussichtslos). 25 Vgl. Häberle, ZevKR 18 (1973), S. 420, 427.
7. Kap.: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung
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B. Die religiös-weltanschauliche Neutralität als Basis und Grenze staatlicher Letztentscheidungsbefugnis Die auf seiner Vieldeutigkeit und seiner Instrumentalisierung für bestimmte politische Ziele bestehende Unklarheit ist auch ursächlich dafür, daß der Neutralitätsbegriff zur Klärung der Frage nach dem Stellenwert des religiösen bzw. weltanschaulichen Selbstverständnisses bei der Interpretation der religiösen Freiheitsrechte für ganz unterschiedliche Antworten dienen kann. Sie erklären sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher staats- und verfassungstheoretischer Ausgangspunkte, die die Diskussion um die Neutralität im Staatskirchenrecht widerspiegeln 26 . Wer den Gedanken der Neutralität zugunsten einer verstärkten Berücksichtigung des Selbstverständnisses ins Feld führt, argumentiert auf der Grundlage eines Verständnisses von Neutralität als an den Staat gerichtetes Verbot des Eingriffs bzw. der Parteinahme zugunsten einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft 27 . Diese (traditionelle) Neutralität im Sinne staatlicher Begrenzung ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, sie war in der Weimarer Zeit bestimmend und findet sich auch in einer Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts28 . Wer dagegen den Neutralitätsgedanken zur Begründung staatlicher Letztentscheidungsbefugnis in Angelegenheiten mit religiösem bzw. weltanschaulichem Bezug nutzbar machen möchte, wird auf den "etatistischen Affekt,,29 des Neutralitätsgedankens abstellen wollen. Danach bedeutet Neutralität Begrenzung der gesellschaftlichen also auch religiösen bzw. weltanschaulichen Kräfte, die den Staat in seiner Staatlichkeit und Ordnungskompetenz zu bedrohen scheinen 3o . An diese Sichtweise knüpft Böckenförde mit seiner aus dem Neutralitätsgedanken abgeleiteten Forderung nach Loyalität und Gehorsam des Bürgers gegenüber dem Staat an 31 . Neutralität meint danach vor allem Nichtidentifikation, die es dem Staat 26 Vgl. dazu Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 131 ff., der, S. 138, in den verschiedenen Interpretationsansätzen "die beiden Lager, in die sich die staatskirchenrechtliche Verfassungsinterpretation gespalten hat", repräsentiert sieht; ferner M. HeckeI, DVBI. 1996,453, 472f. 27 Deutlich: Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 195. 28 Näher Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 131 ff. m. Nachw.; aus der Rspr. des BVerfG vgl. neben den bei Schlaich zitierten Entscheidungen vor allem BVerfGE 93, I, 16f. 29 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 134; vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 240. 30 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 134; vgl. auch Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 84, der eine "mit dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität vorausgesetzte Gewähr\eistungsaufgabe des Staates für die staatskirchenrechtliche Ordnung und für die Sicherung der Rechte und Güter, die Schranken der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie sind", herausarbeitet. 31 Oben Fn. 5 f.; auch Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 134 mit Fn. 21, ordnet Bäckenfärde diesem zweiten Verständnis religiös-weltanschaulicher Neutralität zu.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
ermöglicht und ihn darauf verpflichtet, den einzelnen mit seinen je eigenen Ansichten und Überzeugungen zu akzeptieren. Dieses Verständnis von Neutralität gebietet den staatlichen Stellen, zu Religion und Weltanschauung eine gewisse Distanz zu halten 32 • Es verlangt indessen keine Indifferenz des Staates in dem Sinne, daß er vom Bekenntnis seiner Bürger keine Kenntnis nehmen darf33 . Der Bürger hat das (durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte) Recht, seine religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen innerhalb des Staates frei zu entfalten34 . Die freiheitliche Verfassung ist hierfür offen. Das Gebot der NichtidentifIkation verlangt lediglich, daß der Staat in den Wahrheitsfragen 35 zwischen den Konfessionen und Weltanschauungen nicht Partei nimmt. Er darf weder eine eigene Verbundenheit mit einer Kirche, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft 36 noch einem bestimmten Glauben oder einer Weltanschauung zum Ausdruck bringen37 • NichtidentifIkation ist eine Frage staatlicher Selbstdarstellung 38 : Dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat ist es verwehrt, sich als christlicher, islamischer oder in anderer Weise religiös oder weltanschaulich geprägter Staat darzustellen 39 • Diese "distanzierende Neutralität,,40, gepaart mit staatlicher Souverä32 Vgl. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 22: ,.Distanz und Neutralität"; lestaedt, JRP 1995, 237, 245: "distanzierende Neutralität". 33 Vgl. v. Campenhausen, Staat und Kirche unter dem GG. Eine Orientierung, S. 39; Badura, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 224 ("nicht ... Indifferenz oder Blindheit"); ders., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 81 f.; de Wall, Theologische Literaturzeitung 1994,291,294; Oebbecke, DVBI. 1996, 336,340; TIlimanns, in: Neumann/Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrchtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161, 195 ff., 199; Solte, Theologie an der Universität, S. 123 f., weist mit Recht darauf hin, daß das Neutralitätsgebot daher auch einer Verweisung des staatlichen Rechts auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften nicht entgegensteht. 34 Vgl. Bäckenfärde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 131. 35 Zur Wahrheit als Gegenstand verfassungsrechtlicher Verbürgungen religiöser Freiheit Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, S. 83. 36 Dagegen steht bereits das Verbot der Staatskirche aus Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 1 WRV, vgl. Bäckenfärde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 130. 37 Vgl. Bäckenfärde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 131; M. Heckei, DVBI. 1996,453,472; Räger, DRiZ 1995, 471, 474 m.w.N. Das Kriterium eigener Verbundenheit des Staates mit bestimmten Lehren oder Institutionen ist hervorgehoben worden von BGer EuGRZ 1991,89, 94; zustimmend auch "»ss, ZB1 1994, 385, 396; ähnlich Robbers, in: ders. (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, S. 61, 64, wenn er betont, daß der Staat ,,keine besondere Neigung zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft" besitzen dürfe. 38 Weitere konkrete Schlußfolgerungen aus dem Gebot der Nichtidentifikation zu ziehen fällt schwer, zu den Problemen Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S.240ff. 39 Dies hindert es nicht, daß der Bürger sich im Bereich des Staatlichen zu einer bestimmten Religion bekennt, wie dies etwa durch das Anbringen eines Kreuzes durch Schüler im Klassenzimmer einer staatlichen Schule geschieht (zur Inkonsistenz des die Frage betreffenden Beschlusses des BVerfG v. 16. 5. 1995, BVerfGE 93, I, vgl. Müller-Volbehr, JZ 1995, 996, 998 f.; Lerche, in: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach [Hrsg.l, Kirche und Gesellschaft. Sonderheft: Schule ohne Kreuz? S. 16f.; Kämper, KuR
7. Kap.: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung
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nität41 , wird so zur Voraussetzung der konfessionellen Freiheit der Bürger und ihrer religiösen Gruppierungen42 • Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Folgerung, daß der Staat als neutrale Instanz um des gesellschaftlichen Friedens willen eine letzte Entscheidungsbefugnis gegenüber den widerstreitenden Ansprüchen der verschiedenen (pseudo-)religiösen bzw. weltanschaulichen Kräfte haben muß43 . Diese Konzeption, die letztlich auf Gedanken des 17. und 18. Jahrhunderts zurückgeht44 , wandte sich in der Vergangenheit vornehmlich gegen die als desintegrierend empfundene sog. Koordinationslehre, die den Staat und die Kirchen wie Völkerrechtssubjekte als voneinander geschiedene, gleichberechtigte Größen verstand45 • Heute gilt die Koordinationslehre als überwunden46 . Das ursprünglich gegen sie gerichtete, auf der staatlichen Souveränität basierende Neutralitätsverständnis hingegen bleibt aktuell. Sein Ziel war und ist die Abwehr einer befürchteten Desintegration47 . Die Aktivitäten so mancher, in Deutschland neuartiger (teilweise nur vorgeblich) religiöser bzw. weltanschaulicher Gruppen lassen entsprechende Befürchtungen als nicht unberechtigt erscheinen. Nicht selten wird das Geschäfts980, S. 22; Muckei, KuR 110, S. 21, 35 f. [Heft 2/1996, S. 65, 79f.]). Allein die staatliche Anordnung eines bestimmten Symbols erscheint fragwürdig. 40 Bäckenfärde, ZevKR 20 (1975), S. 119, 130; vgl. auch M. Heckei, DVBI. 1996,453, 472: ,,Neutralität der gleichmäßigen Distanzierung von Religionen und Ideologien". 41 Dazu näher unten 9. Kap. 42 Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat 1962, S. 175, 190, auch in: Quaritsch/H. Weber, Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 265, 277. 43 Vgl. zum Verhältnis von Staat und Kirchen: SchefJler, Die Stellung der Kirche im Staat, 1964, S. 43. 44 Dazu i.e. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 135 ff. m. umfangr. Nachw. 45 Vgl. dazu M. Heckei, in: Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. 40 Jahre Rechtsentwicklung, S. I, 21 ff.; Meyer-Teschendorj, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 4ff.; Quaritsch, Der Staat 1962, S. 289, 297, auch in: Quaritsch/H. Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 265, 290 f.; Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, S. 76 ff., 143 ff.; Link, FS Thieme, S. 95, 112; Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, S. 62ff.,jeweils mit umfange. Nachw.; grundlegende Darstellungen bei Albrecht, Koordination von Staat und Kirche in der Demokratie, 1965; Marre, Zur Koordination von Staat und Kirche, DVBI. 1966, 10. 46 Zu in der Gegenwart fortwirkenden koordinationsrechtlichen Vorstellungen Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, S. 84f. m.w.N. Die Koordinationslehre wird heute nur noch vereinzelt vertreten, vgl. etwa Geiger, ZevKR 26 (1981), S. 156, 159; Schachten, Quis iudicabit? Das konfessionell gebundene Staatsamt eines katholischen Universitätstheologen und die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht des Staates im Bereich der Grundrechte, 1989, S. 72, pass., unter Berufung auf Hollerbach, der die Koordinationstheorie jedoch nicht mehr vertritt; ferner Leisner, Staatliche Rechnungsprüfung kirchlicher Einrichtungen, 1991, S. 39. Im Grundsatz ablehnend, aber für "Koordination mit den Religionsgemeinschaften in den religiös relevanten Regelungsaufgaben" M. Heckei, in: Nörr (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. 40 Jahre Rechtsentwicklung, S. 1,21 ff. (das Zitat s. S. 23). 47 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 135.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
gebaren von Gruppen, die sich selbst als religiös oder weltanschaulich orientiert bezeichnen, sowie ihr Umgang mit Mitgliedern und ihr Verhalten bei der Anwerbung neuer Mitglieder als Gefahr für den freiheitlichen Staat und seine Institutionen bezeichnet48 . Desintegrationsbestrebungen in religiösem Gewand, die vor Jahrzehnten den Kirchen nachgesagt wurden49 , sind heute in der Tat erkennbar freilich nicht auf seiten der Kirchen, sondern bei den genannten neuartigen Gemeinschaften. Die beiden Deutungen religiös-weltanschaulicher Neutralität als staatsgerichtete Forderung einerseits und als verfassungsrechtlich determinierter Mechanismus zum Abgleich religiöser Freiheit mit anderen Rechtspositionen andererseits sind nicht unvereinbar5o . Das Grundgesetz hat sich, insbesondere in seinen Grundrechten, weder für Pluralität noch für Nichtidentifikation als allgemeingültiges Prinzip entschieden, und zwar "teils um die pluralistischen Kräfte zu schützen und sie zu fördern, teils um den Bürger vor ihnen zu schützen,,51. 48 V gl. etwa Abel, Angriff auf die Demokratie. Scientology, die Gerichte und der Staat, in: Herrmann (Hrsg.), Mission mit allen Mitteln. Der Scientology-Konzern auf Seelenfang, S. 138 ff.; vgl. auch die verschiedenen extremistischen islamischen Gruppen in Deutschland, dazu Bundesamt für Verfassungsschutz, Islamischer Extremismus und seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland. Marsch in Richtung islamistischer Staat, 1994; ferner die von Politikern immer wieder erhobene Forderung nach Überwachung der "Chureh of Scientology" durch die Behörden des Verfassungsschutzes, zu entsprechenden Forderungen in jüngerer Zeit: EA.Z. Nr. 242 v. 18. 10. 1995, S. 2; EA.Z. Nr. 183 v. 8. 8. 1996, S. 4; krit. insoweit Graf, Verfassungsschützer als Glaubenswächter?, in: EA.Z. Nr. 179 v. 3. 8. 1996, S.12. 49 Die christlichen Kirchen sind heute als institutionell fundierte Ordnungsrnächte ersten Ranges und damit als Mitträger der gesellschaftlichen Ordnung neben dem Staat anerkannt (so bereits Wasse, Die Werke und Einrichtungen der evangelischen Kirche, 1954, S. 146). Sie stehen dem demokratischen Staat nicht ablehnend gegenüber, sondern tragen ihn mit (vgl. v. Campenhausen, Wandel des Staatsverständnisses aus evangelischer Sicht, S. 7, Homeyer, Wandel des Staatsverständnisses aus katholischer Sicht, S. 23, 29ff.). Dies wird nicht nur durch die (tägliche) Kooperation der Kirchen mit den Institutionen des freiheitlich-demokratischen Staates belegt (vgl. dazu v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 15, 35 ff.), sondern auch durch ausdrückliche Verlautbarungen (vgl. etwa die Denkschrift der EKD "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", herausgegeben vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, 1985) bzw. entsprechende Aussagen des Kirchenrechts (vgl. für das katholische Kirchenrecht Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, S. 171, 174). Differenzierend Kriele, Rechtsverständnis und Bürgergesinnung vor dem Hintergrund der Konfessionen, in: Hilterhaus/Zöller (Hrsg.), Kirche als Heilsgemeinschaft Staat als Rechtsgemeinschaft: Welche Bindungen akzeptiert das modeme Bewußtsein? S. 73, der, S. 77, eine positive GrundeinsteIlung der katholischen Kirche gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat und, S. 80, "geringere Verfassungsloyalität der Lutheraner" und Calvinisten konstatiert. Insoweit krit. Rendtorff, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 91, 92; auch K. Schmitt, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 95; dagegen wiederum Kriele, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 101 ff.; skeptisch im Hinblick auf die Haltung evangelischer Christen gegenüber dem demokratischen Staat auch Link, FS Thieme, S. 95, 120ff. 50 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 164. 51 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 187 f.
7. Kap.: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung
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Seit jeher wird es als vordringliche öffentliche Aufgabe angesehen, für die Stellung des einzelnen mit seinen je persönlichen Anschauungen und Überzeugungen und die Ordnung des Zusammenlebens aller rechtliche Regeln aufzustellens2 . Im VerfassungsstaatS3 wird diese Aufgabe zuvörderst von der Verfassung erfülltS4 . Gerade die pluralistische Vielfalt der heutigen Gesellschaft verlangt nach der ,,konsensusgewährenden Integrationsfunktion"ss einer solchen VerfassungS6 . Dem pluralistischen Grundzug der modemen GesellschaftS? trägt das Verfassungsrecht vor allem dadurch Rechnung, daß es offen bleibt für ganz unterschiedliche Auffassungen und Überzeugungens8 . Damit gibt es allerdings nicht den Anspruch auf, "solche Herrschaftsmomente" zu verhindern, "die in der Festlegung auf bestimmte Anschauungen und politische Richtungen unter Ausschluß der Entfaltung anderer Kräfte bestehen"s9. Die Zulassung einer offenen Meinungsbildung und gesellschaftlichen Gruppenaktivität setzt die gemeinsame Anerkennung bestimmter Grundlagen der Gemeinschaft voraus, die in der Verfassung zu finden sind. Dies hat zur Folge, daß der Offenheit des Verfassungsrechts gegenüber gesellschaftlichpolitischen Gruppen gewisse äußerste Grenzen gezogen sind60, die durch einzelne Normen, übergreifende Prinzipien und den Gedanken gezogen werden, daß die Verfassungsordnung selbst nicht uneingeschränkt zur Disposition steht61 .
52 Bereits bei Thomas von Aquin klingt dieser Gedanke an (Summa Theologica I - 11 105 I, Ausgabe der Albertus-Magnus-Akademie, 1951 ff., Bd. 13, S. 421: ,,Bezüglich der guten Amtsordnung der Herrscher in einem Gemeinwesen oder einem Volk sind zwei Dinge zu beachten. Erstens müssen alle irgendwie an der Herrschaft teilhaben: denn dadurch wird der Friede des Volkes erhalten, und alle lieben und wahren eine solche Verfassung [Aristoteles]. Zweitens muß die Art der Herrschaft bzw. die Zuordnung der Herrschafts/ormen berücksichtigt werden" [Hervorhebungen nicht im Original]. Zu der richtigen Herrschaftsforrn führt Thomas allerdings, ebd., aus, Königtum und Aristokratie seien die vorzüglichsten.). Marsilius von Padua spricht ihn offen aus (Defensor Pacis, Teil I, Kap. IV, § 4 [So 40/41]). Mit der Staatsvertragslehre des Naturrechts (dazu bereits oben S. 41 f.) wurde dann das Grundthema der Versöhnung menschlicher Freiheit und politischer Ordnung offengelegt und in die Idee des Gesellschaftsvertrags von Rousseau zu einer Theorie der demokratischen Gemeinschaft fortentwickelt (vgl. die Analyse Scheuners, in: Jakobs [Hrsg.], Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 39). 53 Zu diesem Begriff Sachs, DVBI. 1995,873,882 m.w.N. 54 Zur Funktion der Verfassung als ,,rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens" oben S. 39 mit Fn. 6. 55 Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 158. 56 Zu dem engen Zusammenhang von Pluralismus und Konsens vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 37, 50, 64, pass. 57 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 46. 58 Zur Offenheit als Spezifikum des Verfassungsrechts Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, S. 105 ff. mit umfangr. Nachw. 59 Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), RechtsgeItung und Konsens, S. 33, 51. 60 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 53 f. 61 Näher zu den verfassungsimmanenten Grenzen religiöser Freiheit unten 13. Kap.; insbesondere zur Bedeutung des Fortbestands von Staat und Verfassung dort S. 206 ff. mit Fn. 76 ff.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Diese Überlegungen haben im Grundgesetz ihren normativen Niederschlag gefunden. Es bietet die Voraussetzungen dafür, sowohl den Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs und damit den Partikularinteressen einzelner und bestimmter Verbände Rechnung zu tragen als auch den Gesamtzusammenhang der Verfassung zu wahren62 . Mit Recht ist es als "bildendes, alle Lebensäußerungen des Staates durchwaltendes, zusammen-ordnendes ,Grund-Gesetz ...63 bezeichnet worden, dessen Auftrag zumindest auch darin besteht, eine sinnvolle daseins gestaltende Sozialordnung zu verwirklichen 64 • Das Grundgesetz ist, wie sein Art. 1 signalisiert, in einem grundsätzlichen Sinne auf die Menschen hin orientiert65 und damit auf ihre Eigenheiten und je unterschiedlichen Lebensäußerungen. Wie jede freiheitliche Verfassung enthält es aber zugleich die normativen Grundlagen für den "Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit"66 und schafft damit die Voraussetzungen für den juristischen Blick auf Zusammenhänge, die die Rechtsstellung des einzelnen übersteigen. Dementsprechend ist auch der Gedanke religiös-weltanschaulicher Neutralität in einem heterogenen Sinne zu verstehen, so daß er ganz unterschiedlichen Interessen dienen kann. Neutralität verlangt einerseits, daß der Staat sich nicht mit einer bestimmten religiösen, weltanschaulichen oder sonstigen gedanklichen Konzeption identifiziert67 . Neutralität beinhaltet aber auch einen "Aufruf zur Staatlichkeit,,68 und erfordert insoweit die staatliche Ordnungsgarantie, die mitunter nur durch Begrenzung der gesellschaftlichen Mächte durchzusetzen ist69 . Dabei muß der Staat offen sein für die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen. Es handelt sich um eine Offenheit, die - nach Maßgabe der Verfassung - staatlicher Beschränkung und souveräner Entscheidung über ihr Ausmaß unterliegt7o . Der religiös neutrale Staat legt einen eigenen, säkularen und damit allgemeinen Maßstab zugrunde. Er interpretiert die verfassungsrechtlichen Begriffe nach allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunk-
62 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 163 f., in Anlehnung an M. Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 66 Fn. 222. 63 Hollerbach, AöR, 85 (1960), S. 241, 249, auch in: Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd. I, S. 206, 211. 64 Hollerbach, AöR, 85 (1960), S. 241, 250, auch in: Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd. I, S. 206, 212. 65 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 282 f. m.w.N. 66 Heller, Staatslehre, S. 228; zu diesem Staatsverständnis bereits oben S. 39 mit Fn. 4. 67 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 187; Kewenig, in: KrautscheidtiMarre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (6), S. 9, 28. 68 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 21. 69 Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 81, in Anlehnung an Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 21,130, 134ff. 70 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 187. Zur staatlichen Souveränität noch unten 9. Kap.
7. Kap.: Religiös-weltanschauliche Neutralität und staatliche Letztentscheidung
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ten 71. Dies steht einer Anknüpfung des Verfassungsrechts an das je unterschiedliche Freiheits- und Selbstverständnis nicht entgegen. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität verbietet nicht die Verweisung auf den Maßstab des jeweiligen Grundrechtsträgers. Immer aber ist es die Verfassung, die die Berücksichtigung des Selbstverständnisses gebietet und die darüber entscheidet, wie weit der Verweis auf Vorgegebenes geht. Der Staat ist verpflichtet, auf die Einhaltung des säkularen Rahmens zu achten 72. Das setzt voraus, daß er, nicht der Träger des Freiheitsrechts, die Befugnis zur Letztentscheidung hat. Diese Neutralität, verstanden als dem Maßstab der Verfassung unterliegende Offenheit des Staates für Religion und Weltanschauungen bei gleichzeitiger Nichtidentifikation, steckt zugleich die Grenzen des Letztentscheidungsrechts des Staates bei der Konkretisierung der Verfassungs garantien religiöser Freiheit ab. Die "neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkte,m, nach denen die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen auszulegen sind74 , müssen in der Verfassung selbst angelegt sein75 , da sie die für alle Seiten maßgebliche Ordnung schafft. Insoweit, d. h. im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben für seine Interpretationsarbeit, ist der Staat ebenso wie die Verfassung nicht neutrae 6 .
71 BVerfGE 24, 236, 247 f. m. w.N.; zur Analyse dieser Formulierung auch Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 203 m. w.N. in Fn. 310; zustimmend jüngst Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,302; M. Heckei, in: Marre/Schümmelfeder/Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 86. Verfehlt sind deshalb die theologisch inspirierten Überlegungen von v. Schlabrendorff, Sondervotum, in: BVerfGE 33, 35, 36 f. Zum begrenzten Nutzen theologischer und religionswissenschaftlicher Erkenntnisse für die Verfassungsinterpretation oben S. 44 ff. 72 M. Heckei, JZ 1994, 425, 430; zum Begriff des Rahmens für das religiöse Selbstverständnis unten S. 88 f. mit Fn. 50 f. 73 BVerfGE 24, 236, 247 f. 74 Vgl. die Forderung von Hellermann, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzll SchulevSteindl / Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 132. 75 Vgl. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 134: ,,Maßstab dieser Neutralität ist ... die Verfassung". 76 In dieser Richtung auch Häberle, FS JosefEsser, S. 49, 65; für das Beispiel des Gewaltverbots (dazu i.e. unten S. 206ff.) Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 597; zu "Durchbrechungen" des Neutralitätsgedankens im Grundgesetz auch Hellermann, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 140; zu Ausnahmen vom Gebot staatlicher Nichtidentifikation Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, S. 84f., sowie lestaedt, JRP 1995, 237, 245, mit Blick auf die Entscheidung des Grundgesetzes für die freiheitliche demokratische Grundordnung und einzelne Grundentscheidungen der Verfassung.
6 Muckel
Achtes Kapitel
Religionsrechtliche Parität durch staatliche Letztentscheidung A. Die Gefahr der Ungleichbehandlung Für ein staatliches Letztentscheidungsrecht im Hinblick auf die religiösen Freiheitsrechte der Verfassung streitet zudem der Grundsatz religionsrechtlicher Parität l . Er verlangt (im Rahmen der sog. staatsbürgerlichen Parität) die Gleichberechtigung aller Bürger unter religiösen Aspekten und (als staatskirchenrechtliche Parität) die Gleichberechtigung, die Gleichwertigkeit und den Gleichrang von Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Yerfassungsordnung 2 • Rechtsgrundlage der religionsrechtlichen Parität ist vor allem der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Daneben bestehen besondere Gleichbehandlungsgebote u. a. in Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 2 WRy 3 . Aber auch anderen Yerfassungsvorschriften, die nicht unmittelbar ein Gleichbehandlungsgebot aussprechen, sind wichtige Aussagen für die religionsrechtliche Parität zu entnehmen, so etwa dem Yebot der Staatskirche (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 1 WRY) und dem Angebot des Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften, die nicht bereits in dieser Rechtsform organisiert sind (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRY). Eine weitgehend am Selbstverständnis orientierte Interpretation muß dazu führen, daß derselbe Rechtsbegriff einen von Fall zu Fall unterschiedlichen materiellen Gehalt aufweist. Dafür, daß dies unter dem Gesichtspunkt der Parität bedenkI Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 36: "Der Grundrechtssubjektivismus ist schlechthin unvereinbar mit der Gleichheit." Ders., Diskussionsbeitrag, in: Mam51 Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 186: "Die Rechtsgleichheit bliebe auf der Strecke"; ders., Diskussionsbeitrag, in: Marre I Schümmelfeder I Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 141, 143 ("grundrechtliche Freiheit ... als gleiche Freiheit"). Vgl. ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 326, der neben anderem "die Gleichheit der Bürger vor dem Recht" als Gesichtspunkt nennt, der von Verfassungs wegen für eine objektive Gestaltung der Rechtsordnung spreche; Morlok relativiert diesen Gedanken aber, ebd. S. 411 f., mit der These, die "Freiheitsrechtsbegriffe" überließen "dem Bürger, welchen Inhalt er der rechtlichen Garantie gibt". 2 VgL v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 27; zum Grundsatz der Parität ferner M. Heckel, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 589 ff. bzw. S. 623 ff.; ders., Gleichheit oder Privilegien? 1993, jeweils m. umfangr. Nachw. 3 Näher zu den R!!chtsgrundlagen der religionsrechtlichen Parität M. Heckel, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 589 f., 623 f.; ders., Gleichheit oder Privilegien? S. 2f.
8. Kap.: Religionsrechtliche Parität durch staatliche Letztentscheidung
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lich sein kann 4 , bietet die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Befreiung schulpflichtiger Kinder vom Sportunterricht aus religiösen Gründen s ein anschauliches Beispiel. Das Bundesverwaltungsgericht mußte in zwei Entscheidungen vom 25. 8. 19936 zur Befreiung muslimischer Mädchen vom koedukativerteilten Sportunterricht Stellung nehmen. Das Gericht hebt erkennbar in der Absicht, den Grundrechtssubjektivismus im Rahmen des Art. 4 GG juristisch zu kanalisieren, hervor, "daß nicht schon die bloße - nicht ernsthafte, möglicherweise aus anderen Gründen vorgeschobene - Berufung auf behauptete Glaubensinhalte und Glaubensgebote, sondern erst die konkrete, substantiierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonflikts als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Überzeugung zuwiderzuhandeln, geeignet ist, einen möglichen Anspruch auf Befreiung von einer konkret entgegenstehenden, grundsätzlich für alle geltenden Pflicht unter der Voraussetzung zu begründen, daß der Zwang zur Befolgung dieser Pflicht die Glaubensfreiheit verletzen würde,,7. Eine objektiv nachvollziehbare Darlegung sieht das Bundesverwaltungsgericht bereits darin, daß die Klägerin die Bekleidungsvorschriften des Koran, "wie sie sie versteht"S, konsequent beachtet und daß sie sich auf eine Bescheinigung des "Islamischen Zentrums Aachen" berufen kann 9 .
In einem dritten Urteil vom 25.8. 1993 10 war derselbe Senat des Bundesverwaltungsgerichts mit dem Antrag der Mutter eines christlichen Mädchens, die unter Berufung auf eine Stelle im 1. Timotheusbriefll die Befreiung ihrer Tochter vom koedukativen Schwimmunterricht beantragt hatte, befaßt. Zwar hatte sich dieser Antrag durch Zeitablauf erledigt, da das Kind mittlerweile eine Jahrgangsstufe besuchte, in der der Unterricht für Jungen und Mädchen getrennt erteilt wurde. Doch 4 Vgl. Scheuner, ZevKR 7 (1959/60), S. 225, 257f. mit Fn. 92; Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 278; H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, S. 81; M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, S. 64 f.; ferner Schleithoff, Innerkirchliche Gruppen als Träger der verfassungsmäßigen Rechte der Kirchen, S. 89, der - ohne den Paritätsgrundsatz ausdrücklich zu erwähnen - mit Recht hervorhebt, daß die Bestimmung des Begriffs der Religionsgemeinschaft in Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV nicht dem Selbstverständnis gesellschaftlicher Gruppen überlassen werden darf, da dann eine gleichmäßige Rechtsanwendung durch staatliche Organe nicht mehr gewährleistet wäre. 5 Dazu auch die Nachw. oben S. 17 Fn. 80ff. 6 6 C 8.91 (BVerwGE 94,82) sowie 6 C 30.92. 7 BVerwGE 94, 82, 88 (Hervorhebung nicht im Original). 8 BVerwGE 94,82,87; BVerwG v. 25.8.1993 - 6 C 30.92, S. 15 der Entscheidungsgründe. Die Relativierung der Forderung nach objektiv nachvollziehbarer Darlegung liegt auf der Hand! 9 BVerwGE 94,82,87. 10 6 C 7.93, DVBl. 1994, 168. 11 1. Tim. 2, 9 - 11. Die Verse lauten: "Ebenso sollen auch die Frauen in würdiger Haltung mit Ehrgefühl und Zucht sich schmücken, nicht mit Haargeflechten, Gold, Perlen oder teurem Kleid, sondern, wie es Frauen geziemt, die sich zur Gottesfurcht bekennen, mit guten Werken. Die Frau soll sich ruhig verhalten und lernen in aller Unterordnung."
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
äußert sich das Bundesverwaltungsgericht auch zu den Erfolgsaussichten eines Antrags auf Befreiung von einem derart durchgeführten Schulsport. Es sieht für eine Glaubensüberzeugung, die zur Freistellung des Kindes führen kann, ,,keine erkennbaren objektiven Anhaltspunkte" 12. Deutlicher noch als in den Entscheidungen, die islamische Schülerinnen betreffen, verlangt es, daß die "mit der Schulpflicht in Konflikt stehende Glaubensüberzeugung ... als eine solche hinreichend objektivierbar" sein müsse 13 . Die Gegenüberstellung der Entscheidungen zu den muslimischen Mädchen einerseits und dem christlichen andererseits zeigt, wie leicht die Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses durch staatliche Stellen zu Ungleichbehandlungen führen kann. Während das Bundesverwaltungsgericht in dem die christliche Schülerin betreffenden Fall eine "Bibelexegese" durch staatliche Gerichte ausdrücklich ausschließt 14, ist es in den anderen beiden Entscheidungen bereit, sich mit dem Inhalt des Koran auseinanderzusetzen 15 . Das Gericht geht sogar so weit, die islamischen Bekleidungsvorschriften so zu akzeptieren, wie die Klägerin sie versteht 16 . Insoweit mißt das Bundesverwaltungsgericht deutlich mit zweierlei Maß. Die referierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts offenbart aber noch einen weiteren unter Paritätsgesichtspunkten problematischen Aspekt der Inbezugnahme des religiösen Selbstverständnisses. Als "objektiv nachvollziehbare Darlegung,,17 eines religiös bedingten Verhaltensgebotes verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Stellungnahme eines islamischen Zentrums in Aachen. Die Mutter des christlichen Mädchens konnte, wie dies häufig bei "Außenseitern und Sektierern,,18 der Fall ist, eine entsprechende Bescheinigung nicht vorlegen. Allein dies vermag eine dem Grundsatz der Parität widersprechende Ungleichbehandlung nicht zu begründen. Der Rekurs des Bundesverwaltungsgerichts auf die Stellungnahme eines islamischen Zentrums zeigt aber, daß eine am Selbstverständnis orientierte Interpretation des Art. 4 Abs. I und 2 GG 19 die Gefahr mißbräuchlicher BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. 14 BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. 15 BVerwGE 94,82, 87f.; BVerwG v. 25.8.1993 - 6 C 30.92, S. 15f. der Entscheidungsgründe. Daß diese Methode "vertiefter Einstiege in Koran- und Talmud-Interpretationen" in der Rspr. der Verwaltungsgerichte kein Einzelfall ist, stellt mit Recht Hufen, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 455, 463, mit Blick auf das religiös motivierte Schächten heraus (dort w. Nachw.). Für eine Auseinandersetzung staatlicher Gerichte mit Bibelstellen auch v. Schlabrendorff, Sondervotum, in: BVerfGE 33, 35, 36 f.; zur Fehlerhaftigkeit derartiger Überlegungen bereits oben S. 80 f. mit Fn. 71 sowie Fn. 73 f. 16 Oben Fn. 8. 17 BVerwGE 94, 82, 88. 18 BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. 19 Eine solche Interpretation nimmt das BVerwG trotz der Beteuerung, "nicht schon die bloße ... Berufung auf behauptete Glaubensinhalte und Glaubensgebote" (BVerwGE 94, 82, 88) reiche aus, der Sache nach vor. 12 13
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Berufung auf das Grundrecht in sich birgt2o• Muslime haben, da übergreifende kirchenähnliche Organisationen mit klaren Regelungen über die Mitgliedschaft fehlen 2l , die Möglichkeit, sich einer bestimmten Glaubensrichtung 22 anzuschließen, ohne daß dies objektiver Nachprüfung zugänglich wäre. Dies wiederum ermöglicht ihnen, für jede von einer der vielen Glaubensrichtungen vertretene Aussage eine Bescheinigung beizubringen, zumal die (in Deutschland in großer Zahl anzutreffenden) islamischen Organisationen und Zentren 23 in vielen Fragen unterschiedliche Auffassungen vertreten. Selbstverständlich ist die Wahl einer bestimmten Glaubensrichtung nicht mißbräuchlich. Da diese Wahl wie auch die theologische ,,Richtigkeit" einer einzelnen Auffassung für staatliche Stellen in Deutschland nicht objektiv nachprüfbar ist, trägt Großzügigkeit staatlicher Stellen gegenüber Muslimen nicht selten die Gefahr einer sachlich nicht gerechtfertigten und mit dem Grundsatz der Parität nicht zu vereinbarenden 24 Bevorzugung in sich. Das Beispiel der Befreiung vom Sportunterricht zeigt, wie schnell die Rechtsgleichheit in Gefahr gerät, wenn staatliche Stellen nach der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Interpretationsmaxfme 25 das religiöse Selbstverständnis des einzelnen zum maßgeblichen Faktor ihrer - zwangsläufig kasuistischen - Entscheidungsfindung, machen 26 • Auch wird deutlich, daß die Befürchtung, Grundrechtsauslegung werde bei weitgehender Berücksichtigung des Selbstverständnisses "von einer Sache der Gerechtigkeit zu einer Sache der Geschicklichkeit", nicht unberechtigt ist27 •
20 Zur Mißbrauchsgefahr durch von staatlicher Seite ungeprüft akzeptierte religiöse Inhalte vgl. Stolleis, in: Friesenhahnl Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR I Bd. 11, S. 437, 443; allgemein Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 405. 21 Näher Muckei, DÖV 1995,311, 314f. 22 Zu den verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen vgl. nur Stempel, Zwischen Koran und Grundgesetz. Religiöse Betätigung muslimischer Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, S. 41 ff.; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Dialog mit einer neu etablierten religiösen Minderheit in NRW, türkische Muslime und deutsche Christen im Gespräch, 2. Aufl. 1995, S. 30ff. 23 Vgl. dazu Stempel, Zwischen Koran und Grundgesetz. Religiöse Betätigung muslimischer Ausländer in der Bundesrepublik Deutschalnd, S. 41 ff.; Abdullah, Was will der Islam in Deutschland? S. 37 ff.; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Dialog mit einer neu etablierten religiösen Minderheit in NRW, türkische Muslime und deutsche Christen im Gespräch, S. 83 ff. 24 Vgl. Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 278. 25 Zur Rspr. des BVerfG oben S. 13 ff. mit Fn. 55 ff. 26 Das verkennt Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 114. 27 So lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 36; vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 216 jeweils m.w.N.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
B. Parität als Motor des staatlichen Letztentscheidungsrechts Bei dem Bemühen, die Frage nach der staatlichen Letztentscheidungsbefugnis bzw. nach dem Stellenwert des Selbstverständnisses bei der Interpretation religiös geprägter Rechtsbegriffe und der jeweiligen Vorschriften unter dem Blickwinkel der religionsrechtlichen Parität zu sehen, tritt sogleich das uralte Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit 28 in den Vordergrund der Betrachtung. Der einzelne oder eine Religionsgemeinschaft verlangt unter Hinweis auf bestimmte religiöse Überzeugungen eine rechtliche Sonderstellung, häufig Freistellung von gesetzlichen Vorgaben. Der Bürger möchte etwa von der Schulpflicht29 , von der Pflicht, einen Eid zu leisten 3o, oder von gewerberechtlichen Vorgaben 31 befreit werden. Die Religionsgemeinschaften begehren Freistellung von den Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts 32 oder den Anforderungen des Vereinsrechts 33 . Derartigen Wünschen kann rechtstechnisch dadurch Rechnung getragen werden, daß bereits im Gesetzgebungsverfahren das Selbstverständnis einer oder mehrerer Religionsgemeinschaften berücksichtigt wird - ein Unterfangen, das den Gesetzgeber, der dann zu einer umfassenden Analyse des religiösen oder weltanschaulichen Lebens in der Gesellschaft aufgerufen ist, zu überfordern droht34 . Eine andere Möglichkeit, dem von der Regel abweichenden Selbstverständnis zum Durchbruch zu verhelfen, besteht darin, daß Rechtsprechung und Verwaltung die betreffende Norm des einfachen Rechts mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (bzw. Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) nicht anwenden 35 • In jedem Falle wird der religiösen Freiheit auf Kosten der (Rechtsetzungs- oder Rechtsanwendungs-) Gleichheit ein Vorrang eingeräumt. Die Berücksichtigung des religiös-weltanschaulichen Selbstverständnisses ist angesichts des das Recht kennzeichnenden Anspruchs auf allgemeine Geltung eine Ausnahme, die der 28 Vgl. dazu Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: Benda I Maihoferl Vogel (Hrsg.), HdbVerfR 1, S. 129, 133 ff., auch in: Kriele, Recht Vernunft Wirklichkeit, S. 143, 148 ff.; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992,946,948; P. Kirchhof, FS Geiger, 1989, S. 82, 99ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 216, jeweils m.w.N. 29 Dazu oben S. 17 mit Fn. 80 ff. 30 Oben S. 14 Fn. 60; zum Problem der Verfassungstreuepflicht im Beamtenrecht vgl. auch die Nachw. S. 17 Fn. 76. 31 Dazu oben S. 19 mit Fn. 90f. 32 BVerfGE 46, 73. Zu gegenläufigen Tendenzen in der verfassungspolitischen Diskussion Badura, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR 2, Bd. 1, S. 211, 251. 33 BVerfGE 83, 341. Vgl. auch Muckel, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827 m.w.N. 34 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Positivität des normativen Rechts, S. 228, mit Blick auf die in weitem Umfang auf religiöse Selbstverständnisse Bedacht nehmende Rechtsprechung des BVerfG. 35 Vgl. dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 227; M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien? S. 95 f.
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"Gleichheit vor dem Gesetz" widerspricht36 und daher der Rechtfertigung bedarf37 . Diese Rechtfertigung kann nicht bereits im religiösen bzw. weltanschaulichen Selbstverständnis und seiner - im Grundsatz unbestrittenen - verfassungsrechtlichen Absicherung in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gesehen werden. Zwar ließe sich mit dem Rekurs auf das jeweilige Selbstverständnis und den daran geknüpften Rückzug 38 staatlicher Vorgaben eine formale Gleichheit herstellen. Soweit diese Überlegung aber dazu dienen soll, gerade die Bedeutung des religiösen bzw. weltanschaulichen Selbstverständnisses zu rechtfertigen, wird die Argumentation leicht zirkulär: das Selbstverständnis dient dazu, seine eigene Berücksichtigung zu rechtfertigen. Das Grundrecht der Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) verweisen auf das religiöse Selbstverständnis39 . Sie entfalten diese Rechtsfolge aber erst, wenn ihre tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Gerade angesichts der Umtriebe so mancher neuartiger (pseudo-) religiöser Gemeinschaft ist der Staat aufgerufen, ein eigenes, einheitliches Verständnis der Begriffe "Religion", "Religionsgemeinschaft" etc. zu entwickeln 40 . Der Staat darf ,,religiöse Falschmünzerei,,41 nicht hinnehmen, will er nicht die Akzeptanz von Rechtspflichten, die im Grundsatz an alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft gerichtet sind, aufs Spiel setzen42 . Das Feld, das die Grundrechte der Subjektivität überlassen, muß um der Rechtsgleichheit und damit auch um des Rechtsfriedens willen nach objektiven Kriterien abgesteckt werden43 . Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus hat dazu geführt, daß um der Rechtsgleichheit willen eine Rückbesinnung auf die staatlichen Regelungs- und Eingriffsbefugnisse unabweisbar geworden ist. Der Staat kann sich nicht dem Absolutheitsanspruch 44 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 317 m.w.N. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 224f., für die Rücksichtnahme auf Gewissensbedenken. 38 Dafür plädiert Pawlowski, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409, 435, wenn er sich dafür ausspricht, im Interesse des Zusammenlebens verschiedener Glaubensgemeinschaften darauf zu verzichten, die Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften den eigenen (seil. historisch gewachsenen, vgl. ebd. S. 431) Verhaltensregeln zu unterwerfen. 39 Vgl. M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, S. 65; ders., JZ 1994, 425, 430. 40 Vgl. M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, S. 64; BVerfGE 12,45,54: "Das Verfassungsrecht geht davon aus, daß die Grundlagen des politischen Zusammenlebens einheitlich für alle Staatsbürger zu bestimmen sind. Verfassungsbegriffe sind daher für alle Bekenntnisse und Weltanschauungen gleich zu interpretieren." 41 M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien? S. 64, vgl. auch dens., JZ 1994,425,430. 42 Den Zusammenhang zwischen Rechtsgleichheit und Akzeptanz belastender Regelungen betont Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 223; vgl. auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 30 f., der bei ungleichmäßiger Durchsetzung des für alle geltenden Gesetzes Schäden für das Rechtsbewußtsein befürchtet. 43 Vgl. Isensee, AfP 1993,619,622. 44 Dazu M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien? S. 46. 36
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
sämtlicher Religionen (die einen solchen Anspruch erheben) beugen - dies müßte unmittelbar ins Chaos führen. Aus Gründen der Parität kann er aber auch nicht den Absolutheitsanspruch nur einer Religion respektieren. Er muß darüber wachen, daß die verfassungsrechtlichen Garantien für Religionen und Weltanschauungen allen in gleicher Weise zugute kommen und daß alle die Schranken ihrer Freiheit einhalten. Der religiös und weltanschaulich neutrale Staat stößt allerdings bei seinen Bemühungen um eine inhaltliche Bestimmung religiös bzw. weltanschaulich geprägter Rechtsbegriffe an Grenzen. Diese Grenzen sind oben45 unter Bezugnahme auf eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts allgemein in der Weise umschrieben worden, daß die verfassungsrechtlichen Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten ausgelegt werden müssen. Auch der Paritätsgrundsatz, der mit dem Gedanken religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates in einem engen Zusammenhang steht46 , vermag diese Grenzen nicht zu verschieben oder aufzuheben. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit kann nicht einseitig zugunsten der Gleichheit aufgelöst werden. Die religiös-weltanschauliche Neutralität erlaubt keine Nivellierung des religiösen Lebens. Gleichheit und Freiheit sind indessen keineswegs unvereinbar. Die einheitstiftende Funktion der Verfassung, die mit zunehmender Heterogenität der pluralistischen Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, führt zur Synthese der beiden Rechtsprinzipien. Die Verfassung errichtet einen für die unterschiedlichen Interessen und Rechte einheitlichen Ordnungsrahmen. Sie ist es, die die Auflösung des pluralistischen Gemeinwesens im allgemeinen Chaos verhindert47 • Aus der Verfassung gewonnene und gleichmäßig angewandte Kriterien für den Stellenwert des Selbstverständnisses bei der Interpretation staatlichen Rechts bieten die sicherste Gewähr für eine dem Paritätsgrundsatz entsprechende Verwendung von Rechtsbegriffen. Zugleich verhindert die Orientierung an der Verfassung eine neutralitätswidrige Nivellierung unterschiedlicher Phänomene und Vorgänge48 . Die Verfassung zeigt die Grenzen auf, die vom Selbstverständnis der Bürger und dem ihrer Gemeinschaften unabhängig sind49 und die daher auch im Namen einer ,,höheren Wahrheit" nicht überschritten werden können. Die Verfassung, nicht, wie häufig zu lesen ist50, die einzelne auf das Selbstverständnis verVgl. oben S. 80f. mit Fn. 71. Vgl. nur M. HeckeI, Gleichheit oder Privilegien? S. 41 f. 47 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 332. 48 Vgl. oben S. 79 mit Fn. 54 ff. 49 Zur Unabhängigkeit säkularen Rahmenrechts vom religiösen Selbstverständnis M. HeckeI, Gleichheit oder Privilegien?, S. 66: ,,Nur der - generelle und inhaltlich abstrahierte weltliche Rahmen ist durch den Staat einheitlich und säkular für alle Religionsgemeinschaften zu bestimmen; über diesen Rahmen kann das Selbstverständnis der Religionsgesellschaften nicht verfügen." Vgl. auch Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 331: Schranken- und Ordnungsrahmen durch "ein grundsätzlich selbstverständnisunabhängiges Recht". 50 M. HeckeI, in: Friesenhahn I Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR I, Bd. I, S. 445, 504: "säkulare Mantel- und Rahmenbestimmungen"; ders., Gleichheit oder Privilegien?, S. 65: "Rahmenbegriff und Mantelbestimmungen", S. 67: "Rahmennormen"; wenn HeckeI, ebd. S. 68, 45
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8. Kap.: Religionsrechtliche Parität durch staatliche Letztentscheidung
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weisende Norm, ist der Rahmen, innerhalb dessen die persönlichen Auffassungen eines einzelnen oder die Ansicht einer Gemeinschaft zur Geltung kommen könnenSl . Der Blick auf die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, Prinzipien und die ihnen zugrunde liegenden Wertungen vermag kraft des universellen Geltungsanspruchs der Verfassung am ehesten die vom Grundsatz der Parität geforderte Rechtsgleichheit bei der Berücksichtigung des Selbstverständnisses zu gewährleisten. Zugleich stellt der Maßstab der Verfassung als säkularer, dem Neutralitätsgedanken verpflichteter Maßstab sicher, daß das Selbstverständnis des einzelnen und der Personenzusammenschlüsse angemessen zur Geltung kommt.
zu dem Ergebnis kommt, der Staat regele die säkularen Rahrnenbedingungen einheitlich und gleichmäßig, während die Religionsgemeinschaften die spezifisch religiöse Seite je nach ihrem Bekenntnis regelten, so umgeht er die Schwierigkeit, wie diese "spezifisch religiöse Seite" bestimmt werden soll. Ohne eine Lösung dieses Problems läuft die von Heckel vorgeschlagene Formel auf eine weitgehende Geltung des Selbstverständnisses auch im Hinblick auf religiös geprägte Begriffe des staatlichen Rechts hinaus. Vgl. auch dens., JZ 1994,425, 430; dens., in: MarreJSchümmelfeder/Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 124ff., wo Heckel wiederum die Begriffe und Normen des Staatskirchenrechts als "Rahmenbegriffe" und ,,Rahmennormen" bezeichnet und darüber hinaus das Staatskirchenrecht als "säkulares Rahmenrecht"; zustimmend etwa Schnizer, Diskussionsbeitrag, in: MarreJ Schümmelfeder 1 Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 145; zweifelnd Starck, Diskussionsbeitrag, ebd. S. 138, 139. 51 Vgl. Scheuner, ZevKR 7 (1959/60), S. 225, 231: Verfassungsrecht als normativer Rahmen und als Grenzziehung zwischen Staat und Kirche.
Neuntes Kapitel
Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität A. Souveränität als rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft Voraussetzung der verfassungsrechtlich verankerten Verantwortung staatlicher Stellen zum Schutze grundrechtlicher und anderer Güter mit Verfassungsrang und ihrer Verpflichtung, eine gegenüber religiösen Fragen neutrale sowie auf Parität bedachte Haltung einzunehmen, ist die innere Souveränität des Staates, seine Fähigkeit, Gemeinwohlkonzepte als verbindlich durchzusetzen, im Konfliktfall auch gegen die stärkste unter den widerstrebenden Kräften der Gesellschaft!. Auch sie streitet dafür, daß bei der Interpretation religiös oder weltanschaulich geprägter Rechtsbegriffe und bei der Bestimmung der Grenzen der jeweiligen Gewährleistung die jeweiligen staatlichen Stellen das Letztentscheidungsrecht haben 2 . Der Souveränitätsbegriff ist jedoch seit einiger Zeit mit erheblichen Unsicherheiten belastet3 . Heute 4 wird mit dem Gedanken der Souveränität - sofern er nicht völlig aufgegeben wird5 - die Vorstellung verbunden, daß der Staat nach außen unI So die Umschreibung von Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115 Rn. 116 und VII § 162 Rn. 75; zur "Koppelung von Souveränität und Gemeinwohl" vgl. auch Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, S. 383 f., zu seiner Souveränitätskritik unten S. 95 f. mit Fn. 46 ff. 2 A.A aus jüngerer Zeit vor allem Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 224 ff. 3 Dazu H. Dreier, Der Ort der Souveränität, in: H. Dreier / Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 11 mit Fn. I; RandelzhoJer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. I ff. m. Nachw.; Isensee, FS Everling, S. 567, 576 ("der Begriff der Souveränität, an sich ein Proteus, der seine Gestalt ständig verändert"). 4 Zur geschichtlichen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 435 ff.; Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 70ff.; Kurz, in: ders. (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. VII ff.; RandelzhoJer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 13 ff. m.w.N.; H. Dreier, Artikel "Souveränität", in: StI}, Bd. 4, Sp. 1203, 1204ff.; ders., in: H. Dreier/Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 11, 14 ff. mit umfangr. Nachw.; Wildhaber, FS Eichenberger, S. 131, 133 ff.; insbesondere zur Lehre Bodins: Heller, Die Souveränität, S. 13 ff.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 243 ff.; ders., Souveränität, S. 46 ff. 5 Zur Souveränitätskritik unten S. 92 ff. mit Fn. 18 ff.
9. Kap.: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität
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abhängig von anderen Staaten (äußere Souveränität)6 und die Staatsgewalt nach innen die rechtlich höchste Gewalt ist (innere Souveränität)7. Nach Herbert Krüger ist Souveränität gekennzeichnet durch Einzigkeit und Einseitigkeit der Staatsgewalt s. "Einzigkeit" bedeutet, daß die souveräne Staatsgewalt als höchste Gewalt9 allein steht und eine zweite gleiche Gewalt innerhalb eines bestimmten (rechtlichen, d. h. insbesondere von den Kompetenzvorschriften gebildeten 10) Raumes nicht bestehen kann. Infolgedessen ist die Staatsgewalt politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Verbänden rechtlich übergeordnet 11. Die ,,Einseitigkeit" der Staatsgewalt bedeutet, daß im Interesse ihrer Richtigkeit und Wirksamkeit die staatlichen Entschließungen und Maßnahmen aus der Staatsgewalt selbst hervorgehen müssen und durch sie verwirklicht werden können, daß also alle nicht-staatlichen Subjekte und Gesichtspunkte an solchen Entscheidungen und Maßnahmen nicht beteiligt sein können und daher von ihnen femgehalten werden müssen 12. Der Staat bedarf zur Ausübung seiner Zuständigkeiten nicht der Zustimmung der Betroffenen oder eines gerichtlichen Vollstreckungstitels. Dies schließt nicht aus, daß der Staat von sich aus den Weg vertraglicher Vereinbarung wählt 13 . Längst ist erkannt worden, daß der Staat allein mit den Mitteln der EinseiDazu Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 25 ff. m.w.N. Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 23, 35; Herbert Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, S. 3; vgl. auch Haverkate, Verfassungslehre, S. 26: "die Macht, Frieden nach außen und innen herzustellen oder zu bewahren"; auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 55, sieht die Chance der Souveränität darin, inneren Frieden zu gewinnen. 8 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 847 ff., 879 ff.; vgl. auch die Umschreibungen von Dagtoglou, Artikel "Souveränität" in: EvSte, Bd. 11, Sp. 3155, 3160ff.; Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 35 ff. 9 Dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 851 unter Hinweis auf das Souveränitätsverständnis Bodins. 10 Mit diesem Verständnis trägt der Souveränitätsbegriff der Aufteilung staatlicher Gewalt entsprechend dem Gedanken der Gewaltenteilung Rechnung. Die Kritik Doehrings, Allgemeine Staatslehre, Rn. 258 a.E., greift daher nicht durch. Eine Unvereinbarkeit des Souveränitätsbegriffs mit dem Gedanken der Gewaltenteilung behauptet auch Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat. ,The Sovereignity of Parliament', S. 160, anders jedoch S. 146. 11 Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvSte, Bd. 11, Sp. 3155, 3160; zum Verhältnis von Staatsgewalt zu Kirchen- und Gemeindegewalt Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 864ff.; vgl. auch Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 653, 646: "Staat und Verbände können niemals gleichgeordnete Partner sein." Doehring schließt von dieser Einsicht allerdings (nur) auf die Notwendigkeit des Grundsatzes der Trennung von Staat und Gesellschaft; dazu unten S. 97 ff. mit Fn. 64 ff. 12 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 879. 13 Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvSte, Bd. 11, Sp. 3155, 3161 f.; Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 38; Wildhaber, FS Eichenberger, S. BI, 143 f.; mit Blick auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 60ff., 118; anders noch ders., Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 380 ff., ausgehend von der sog. Koordinationstheorie (dazu bereits oben S. 77 mit Fn. 45 f.), die Hollerbach heute nicht mehr vertritt. 6
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
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tigkeit die ihm gestellten Aufgaben nicht sachgerecht bewältigen kann 14. Die Grenzen staatlichen HandeIns im Vertragswege werden durch die Gesetze und die Verfassung gezogen l5 . Einzigkeit und Einseitigkeit der Staatsgewalt verlangen nicht, daß die Letztentscheidung bei einem einzigen Staatsorgan liegt. Teilung bei der Ausübung beeinträchtigt die Souveränität des Staates als solche nicht l6 . Auch der gewaltenteilende demokratische Staat verfügt über innere Souveränität 17 .
B. Die moderne Souveränitätskritik Die Kritik an der Vorstellung staatlicher Souveränität findet eine Vielzahl von Ansatzpunkten. Vor allem seine ideengeschichtliche Entwicklung wurde zur Grundlage einer ablehnenden Haltung gegen den Gedanken staatlicher SouveränitätIg, insbesondere der Blick auf das Verständnis staatlicher Souveränität im Zeitalter des Absolutismus 19, aber auch auf spätere fatale Überspitzungen des Staatsverständnisses, etwa bei HegePO, führten zum "Kampf gegen die Souveränität,,21. Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 912. Im einzelnen ist in dem damit angesprochenen Bereich ,,konsensualen Verwaltungshandeins" noch vieles ungeklärt, zu den Problemen vgl. vor allem die zu dem Thema "Verträge und Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten" auf der Bayreuther Staatsrechtslehrertagung 1992 gehaltenen Referate von Burmeister, VVDStRL 52 (1993), S. 190, und Krebs, ebd., S. 248; ferner Lecheier, BayVBI. 1992,545, 546f., 548f.; Schuppen, DÖV 1995,761, 763. Vgl. auch § 54 Satz I VwVfG: "soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen". Zu normersetzenden Absprachen: Brohm, DÖV 1992, 1025. 16 Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 38; zur Gegenmeinung vgl. die Nachw. oben Fn. 10. 17 Vgl. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 29 ff.; Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvStL 3 , Bd. 11, Sp. 3155, 3163. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 158, kommt demgegenüber bei seiner Betrachtung der Situation in der Bundesrepublik Deutschland zu dem Ergebnis, "von Souveränität im Sinne der höchsten und fortdauernden Gewalt zu sprechen, wäre absurd. Die Grundlagen politischer Herrschaft, von den Repräsentanten der Bundesrepublik wenn überhaupt dann doch ohne Überzeugungskraft verteidigt, sind dahin." 18 Vgl. etwa Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. looff.; ders., Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Festg. Laband, 1908, Bd. 11, S. 197; Krabbe, Die modeme Staats-Idee, 2. Auf!. 1919, S. 3 ff. .19 Dazu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 455 ff.; Staff, Lehren vom Staat, S. 70 ff.; Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvStL3 , Bd.lI, Sp. 3155, 3158. 20 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274 (S. 225): "der Staat als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz", § 331 (S. 266): "das Volk als Staat ist ... die absolute Macht auf Erden", Zusatz zu § 272 (S. 357): "so hoch der Geist über der Natur steht, so hoch steht der Staat über dem physischen Leben". Hinweise auf Hegel etwa bei Maritain, in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 244, 254; v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 120 ff.; dazu auch Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 5 mit Fn. 9; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 478 ff.; zur "dunklen Stelle" bei Hegel vgl. auch Marcic, in: 14
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Hugo Preuß erteilte allen Bemühungen (insbesondere denjenigen von Paul Laband), die Souveränität des Staates als rechtlich gebundene zu verstehen, eine Absage. Souveränität stehe mit ihrer begrifflichen Unbeschränkbarkeit in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum Recht, das immer und überall Beschränkung bedeute 22 . Die für den "absoluten Obrigkeitsstaat" kennzeichnende 23 Souveränitätsidee könne im Recht immer nur auf den Befehl des Herrschers sehen, sei dies nun der konkrete Monarch oder der abstrakte Staat; ihr sei die Autonomie des Rechts als eines organischen Produkts des - der Vorstellung von Preuß entsprechenden von unten nach oben aufsteigenden genossenschaftlichen Gemeinwesens fremd 24 • Letztlich plädierte Preuß für die Eliminierung des Souveränitätsbegriffs aus der Dogmatik des Staatsrechts25 •
Zum gleichen Ergebnis kommt Jacques Maritain aus der Perspektive der politischen Philosophie, der der Souveränitätsgedanke seiner Ansicht nach angehört26 . Idee und Zweck der Souveränität seien durch die absolute Monarchie in Europa geprägt27 , ja der Begriff der Souveränität sei mit dem des Absolutismus eins 28 . Die der Person des souveränen Fürsten zugeschriebene Suprematie im Sinne eines Rechts, welches über dem vom politischen Körper oder dem Volk gebildeten Ganzen steht, gebühre dem Staat nicht29 • Demokratische Staaten würden durch das mit der Souveränität verbundene Prinzip der Nicht-Verantwortlichkeit in einen ernsthaften inneren Widerspruch geführt3o • Weder der - rechenschaftspflichtige und der Überwachung unterworfene - Staat noch das Volk, das ebenfalls keine Macht ohne Rechenschaftspflicht ausübe, seien souverän. Das Fazit Maritains ist vernichtend: "Die beiden Begriffe ,Souveränität' und ,AbsoluKaltenbrunner (Hrsg.), Hegel und die Folgen, S. 181, 207f.; Topitsch, ebd., S. 329ff., der, S. 342 f., pass., u. a. die Verabsolutierung des Staates bei Hegel zu den Ursachen einer fatalen Hegel-Rezeption im Nationalsozialismus zählt. Betont werden muß aber, daß trotz der Übersteigerung des Staatsgedankens Hegels Überlegungen zur Souveränität durchaus nicht absolutistisch vereinseitigt, sondern differenziert sind, vgl. einerseits Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 279 (S. 228), wo er die Souveränität auf die Person des Monarchen bezieht, andererseits ebd. § 278 (S. 227), wo er die Souveränität "im gesetzlichen, konstitutionellen Zustande" von der "bloßen Macht und leeren Willkür" sowie vom Despotismus unterscheidet, und den Zusatz zu § 279 (S. 360), wo Hegel betont, daß der Monarch nicht willkürlich handeln dürfe. 21 Preuß, in: Festg. Laband, Bd. 11, S. 197,241. 22 Preuß, Festg. Laband, S. 197,241. 23 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 107, 136. 24 Preuß, Festg. Laband, S. 197,244; vgl. auch dens., Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 132f. 25 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 135 f. 26 Maritain, in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 244, 245. 27 Maritain, ebd., S. 253. 28 Maritain, ebd., S. 263. 29 Maritain, ebd., S. 265. 30 Maritain, ebd., S. 266.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
tismus' sind gemeinsam auf demselben Amboß geschmiedet worden. Man muß sie gemeinsam verschrotten. ,,31 Andere Kritiker des Souveränitätsbegriffs blicken auf die "Realitäten des sozialen Daseins,,32. Wer das Recht als auf der Souveränität beruhend ansehe, verkenne, daß die Parlamentsgesetze das Ergebnis eines riesigen Komplexes von Kräften seien, zu dem oft genug von Leuten und Gruppen innerhalb und außerhalb des Staates Wertvolles beigesteuert werde 33 . Die von Harold J. Laski befürwortete "pluralistische Staatstheorie" bestreitet die Rechtmäßigkeit der Gewalt und hebt den Anspruch des Staates auf Gehorsam auf. Der Staat habe sich wie jede andere Vereinigung durch Erfolge zu bewähren34 . Hans Kelsen dagegen setzt im Sinne seiner ,,reinen Rechtslehre" und der auf ihrer Grundlage erfolgten Ineinssetzung von Staat und Recht 35 die Souveränität des Staates mit der Positivität des Rechtes gleich 36 . Dadurch biete sich die "Möglichkeit einer selbständigen, von Ethik und Religionsdogmatik unabhängigen Rechtsund Staatswissenschaft,,37. Kelsen versteht Souveränität "als Eigenschaft des gesamten Rechtssystems und nicht mehr als Eigenschaft einer Teilgemeinschaft innerhalb dieses Systems,,38 und löst sie damit vom Begriff des Staates 39 . Auch Hermann Krabbes Theorie von der Rechtssouveränität, nach der nicht der Staat, sondern das Recht souverän sei4o, verzichtet darauf, einen bestimmten Träger der Souveränität auszumachen. Die Grundlage für die Herrschaft des Rechts sieht er allein im Rechtsbewußtsein der Menschen41 . Krabbe wendet sich vor allem gegen Maritain, ebd., S. 267. Laski, Studies in the Problem of Sovereignity, 1917 (Neudruck 1968), S. 15: ,,realities of social existence", Übersetzung in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S.90,100. 33 Laski, Studies in the Problem of Sovereignity, S. 16, zur Übersetzung vgl. Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 90, 101. 34 Laski, Studies in the Problem of Sovereignity, S. 23, vgl. die Übersetzung in Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 90, 106; zur pluralistischen Theorie Laskis vgl. auch dens., The Pluralistic State, in: The Foundations of Sovereignity, 1921, S. 232. 35 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 289ff., insbes. S. 319f.; ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 126: "Der Staat ist eine Einheit von Normen, die menschliches Verhalten zum Gegenstand haben". 36 In seinem Werk "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" wendet Kelsen, S. 2 f., sich ausdrücklich gegen die von Preuß (oben Fn. 25) vorgeschlagene ,,Eliminierung" des Souveränitätsbegriffs. 37 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 87 f. 38 Kelsen, Der Wandel des Souveränitätsbegriffs, in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 164, 178. 39 Kelsen, in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, S. 164, 176. 40 Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, 1906; ders., Die modeme Staats-Idee, S.39ff. 41 Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 152 ff.; ders., Die modeme Staats-Idee, S. 41, 50, 53 f., 95, pass. 31
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9. Kap.: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität
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rechtlich nicht abgesicherte staatliche Machtausübung und verlangt, daß der Gebrauch physischer Gewalt durch staatliche Stellen der Bindung an das Recht unterworfen sei42 . Kern der Lehre von der Rechtssouveränität sei, daß "außerhalb des Rechtes keine Gewalt als eine rechtmäßige anerkannt wird, also eine Pflicht des Gehorsams nur aus einer Rechtsnorm entspringen kann,,43. Schließlich führt die Souveränitätskritik die gewandelte Situation im neuzeitlichen Verfassungs staat ins Feld. Besonders deutlich formuliert earl J. Friedrich: Souveränität des Parlaments oder der Volksmehrheit widerspreche der Idee eines konstitutionellen Systems mit seinem Schutz für das Individuum und für die Minderheit gegen willkürliche Handlungen der Mehrheit innerhalb und außerhalb des Parlaments. Im Gegensatz zum Absolutismus mit seiner Konzentration der Macht trage der Konstitutionalismus für eine geteilte Ausübung der Macht Sorge44 . Souveränität als Begriff sei mit dem Konstitutionalismus unvereinbar45 .
Peter Häberle bezeichnet die Souveränität "von der ,Innenseite' des Verfassungsstaates her gesehen" als ,,'sterbenden' wenn nicht schon gestorbenen Begriff,46. Aus dem Primat der Verfassung über die Volkssouveränität gemäß Art. 79 Abs. 3 GG47 folge, daß im Verfassungsstaat - anknüpfend an Krabbes Idee der Rechtssouveränität48 - von "Souveränität der Verfassung" gesprochen werden könne 49 . Häberle wendet sich dagegen, den Souveränitätsbegriff nur negativ, seine Grenzen und seine Infragestellung zu diskutieren, nicht aber positiv seinem Inhalt nachzugehen. Eine rein negative Sicht sei insbesondere für die Problemfelder Souveränität und Kirche, Souveränität und Gewissen sowie Souveränität und Pluralismus entwickelt worden. Die Souveränitätsdiskussion kranke an der Vernachlässigung einer ganzheitlichen, problemorientierten Betrachtungsweise 5o . Souveränität 42 Krabbe, Die moderne Staats-Idee, S. 70ff.; ders., Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 187ff., 247f., pass. 43 Krabbe, Die moderne Staats-Idee, S. 71. 44 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 16; vgl. auch die Gleichsetzung von Souveränität und Absolutismus bei Maritain (oben mit Fn. 28). 45 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 18 m.w.N. in Fn. 16 (S. 19); vgl. auch ebd., S. 257: "inhaltslose Theorie von der ,Staatssouveränität"'. 46 Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 395 (Hervorhebung im Original) - Nachtrag zu dem im übrigen auch in AöR 92 (1967), S. 259 abgedruckten Beitrag; in der ursprünglichen Fassung des Beitrags ging Häberle noch nicht ganz soweit: "Fast ist man geneigt, ihm (seil.: dem Souveränitätsbegriff) den Abschied zu geben." (Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 397). 47 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 368, vgl. auch S. 373, in Anlehnung an Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 20. 48 Vgl. oben Fn. 40 ff. 49 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 368, auch S. 392: "Im Verfassungsstaat gibt es außerhalb der Verfassung keine Souveränität." Zur Geschichte des Gedankens von der Souveränität der Verfassung vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 7 f., 53. 50 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 369 f.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
müsse als geschichtlicher Begriff verstanden werden5l , so daß heute allein nach seiner Bedeutung im Verfassungsstaat gefragt werden dürfe. Der Souveränitätsbegriff dürfe nicht länger absolutistisch etatistisch verstanden werden52 • Heute verwirkliche sich Souveränität im normalen Gang des Verfassungslebens, ihre Funktion für den Konfliktfall sei von untergeordneter Bedeutung53 . Im Verfassungs staat sei sie nur eine andere Bezeichnung für die geschichtlich aufgegebene Wirkungsund Verantwortungseinheit des Staates54 und werde in erheblichem Maße von bestimmten Instituten, Kompetenzordnungen und Ämterzuweisungen absorbiert55 . Dies nähert sich der These Martin Krieles, im demokratischen Verfassungs staat gebe es keinen Souverän56 • Im Gegensatz zu Häberle postuliert er allerdings auch nicht die Souveränität der Verfassung57 • Auch das Volk58 , das Parlament oder derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheide59 , sei nicht souverän60 . Nur wenn es keinen Souverän gebe, gebe es verläßliche, auf Menschenrechten und nicht nur auf Toleranz beruhende Freiheit6l . Demokratie setze einen Verfassungsstaat voraus, in dem es keinen Souverän gebe 62 . Schließlich wird mit Blick auf das vom Grundgesetz geordnete Staatswesen gegen die Vorstellung staatlicher Souveränität eingewandt, daß der demokratische Staat nur "Selbstorganisation der Gesellschaft" sei und "von daher auch Widerspiegelung der grundrechtlich abgestützten Beeinflussung wie Beschränkung staatli51 Vgl. auch H. Dreier, in: Dreier/Hofmann, Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 11, 16: ,,Entgegen der falschen Verallgemeinerung zu einem überzeitlichen, durch Abstrahierung entwurzelten Begriff hat ,Souveränität' ein ziemlich genau angebbares historisch-politisches Profil." 52 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 370 ff. 53 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 376. 54 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 385, in Anlehnung an Bäumlin. 55 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 385. 56 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 121 ff., 275 f. 57 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 123. 58 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 123 f., 275 ff., beschränkt die Souveränität auf den "pouvoir constituant", die Entscheidung über die Verfassung; indem er vom "pouvoir constituant" Gebrauch mache, gebe der demokratische Souverän seine Souveränität auf (S. 277); zur Kritik der Überlegungen Krieles vgl. Bäckenfärde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, der, S. 17, mit Recht darauf hinweist, daß es an einem "in der Zeit fortdauernden bzw. sich erneuernden seinsmäßigen Getragensein der Grundentscheidungen der Verfassung durch die in der konkreten staatlich geeinten Gemeinschaft lebendigen politischen und rechtlichen Überzeugungen" nicht fehlen darf, wenn die Verfassung nicht in einen Prozeß der Erosion geraten soll; vgl. auch Quaritsch, Der Staat 1978, S. 421, 427f. 59 Insoweit gegen Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, S. 12. 60 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 123 ff., zur Volkssouveränität auch S. 273 ff. 61 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 273. 62 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 275.
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cher Gewalt" sei. Der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zufolge könne es keine der Gesellschaft entrückte Staatsgewalt geben63 .
C. Unverzichtbarkeit der Souveränität im Verfassungsstaat I. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Grundvoraussetzung staatlicher Souveränität im oben 64 umschriebenen Sinne als Vorrangstellung gegenüber den Kräften der Gesellschaft ist, daß Staat und Gesellschaft unterschieden werden können. Ist der Staat nur "Selbstorganisation der Gesellschaft,,65 oder "organisierte Lebensform,,66 und als solche mit der Gesellschaft ununterscheidbar verbunden, ist der Vorstellung einer Souveränität des Staates gegenüber gesellschaftlichen Kräften der Boden entzogen. Staat und Gesellschaft67 sind nicht völlig unabhängig voneinander bestehende, personell unterschiedene "Verbände,,68. Der Unterschied ist vielmehr funktionaler 63 H. Dreier, Artikel "Souveränität", in Stl} Bd. IV Sp. 1203, 1207 f. unter Hinwejs auf Hermann Heller. Zu den Tendenzen, die den Staat zur "Selbstorganisation der Gesellschaft" werden lassen, vgl bereits C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 78f.; zustimmend Papier, in: Kloepfer / Merten / Papier / Skouris, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, S. 33, 39f., 42; auch Böckenförde, Staat Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd. III, S. 113, 151 f., sieht einen Trend des demokratischen Staates zur "Selbstorganisation der Gesellschaft", bewertet dessen Auswirkungen für die gesellschaftliche Freiheit aber als "durchaus ambivalent". 64 A. 65 Oben Fn. 63. 66 Heller, Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, 1931, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 411, 414. 67 Mit Recht betont Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 114f., die grundlegende Schwierigkeit bei der begrifflichen Erfassung von "Staat" und "Gesellschaft", sieht aber auch, daß dies nicht von einer Lösung des Problems entbindet. Zum hier zugrunde gelegten Staatsverständnis und zu den Problemen begrifflicher Präzisierung lsensee, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 41 ff. 68 Vgl. Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 28 Rn. 25f.; ferner Böckenjörde, Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd. III, S. 113, 147: keine "strikte und beziehungslose Trennung von Staat und Gesellschaft"; Karpen, JA 1986, 299, 304; Haverkate, Verfassungslehre, S. 341; Kewenig, in: Krautscheidt/ Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (6), S. 9, 14 f. Die alte Streitfrage um die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft kann hier auch nicht annähernd erschöpfend behandelt werden. Ausführliche Darstellungen finden sich etwa bei Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 28; Böckenjörde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; ders., Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd. III, S. 113, 137 ff.; ders., Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Festg. für Hefermehl, 1972, S. 11, auch in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 209; lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassung, S. 149 ff.; Karpen, Die
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Natur. Während der Wirkungsbereich organisierter und institutionalisierter Staatlichkeit auf Herrschaft, politischer Gemeinwohlbestimmung sowie Regierungsfähigkeit und damit auf Bindung und Rechtsgehorsam angelegt ist, ist der gesellschaftliche Bereich der Selbstbestimmung des einzelnen, seiner freien Entfaltung überlassen und bietet damit Raum für pluralistische Vielfalt der Meinungen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen69 . Dies folgt aus den Grundentscheidungen der Verfassung gegen eine allein "richtige" Ideologie, für Vielfalt, unterschiedliche Wertvorstellungen und Weltanschauungen, für Selbstbestimmung und Offenheit7o . Wie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im einzelnen ausgestaltet ist, bestimmt sich nach der Verfassung7 !. Das Grundgesetz hat die Wirkungsfelder der Verbände, (ausweislieh Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 1 WRV) der Kirchen, der Universitäten und der Presse nicht als staatliche Subsysteme geformt, sondern als eigenständige Lebensräume vorgesehen, auf die sich bestimmte Grundrechte und institutionelle Garantien beziehen 72 • Dem Staat bleibt die Aufgabe, die Modalitäten und Verträglichkeitsgrenzen der verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsbetätigung festzulegen und zu sichern73. Diese Aufgabe muß gerade deshalb wirkungsvoll erfüllt werden, um den Fortbestand der gesellschaftlichen Vielfalt sicherzustellen. Nur ein zu den gesellUnterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der rechtsstaatlichen Freiheit, JA 1986, 299; Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 113 ff., die sich im Grundsatz für eine Beibehaltung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft einsetzen; zur Gegenposition vgl. etwa W. Schmidt, AöR 101 (1976), S. 24, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen Böckenfördes; an sie anknüpfend auch SchmUt Glaeser, BayVBI. 1995, 577, 579 f.; ferner Hesse, DÖV 1975, 437; Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: FS Smend, 1962, S. 23, der, S. 24 f., zu Unrecht von der Vorstellung von Staat und Gesellschaft als zu unterscheidende Verbände ausgeht. 69 Vgl. Rupp, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 128 Rn. 26f.; der Sache nach auch lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassung, S. 158, wenn er dem Staat als "öffentlicher Gewalt" die Gesellschaft als "Inbegriff aller Grundrechtsträger" gegenüberstellt; zum gesellschaftlichen Pluralismus auch Böckenförde, Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd. III, S. 113, 148 f.; Karpen, JA 1986, 299, 302. 70 Vgl. Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 28 Rn. 27 m.w.N. 71 Vgl. Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 28 Rn. 2; lsensse, Der Staat 1981, S. 161, 166f. 72 Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 633 m.w.N., der deshalb mit Recht eine Pflicht zu weitgehender "Demokratisierung" gesellschaftlicher Bereiche ausschließt; dazu auch Karpen, JA 1986, 299, 302; Papier, in: Kloepfer I Merten I Papier I Skouris, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, S. 33, 42, 45 ff.; de Wall, in: Der Evangelische Erzieher 1995,230,234; zu Recht gegen ein verfassungsrechtliches Gebot zur Demokratisierung von Wirtschaft und Kultur ferner Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 9; aus anderer Perspektive auch Pestalozza, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland, S. 9; mit Blick auf die Kirchen jüngst M. Heckei, in: Marre I Schümmelfeder I Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S.82, 125. 73 Böckenförde, Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft Kirche, Bd. III, S. 113, 147.
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schaftlichen Vorgängen in einer gewissen Distanz stehender Staat ist in der Lage, die vielfältigen, auch desintegrierend wirkenden Kräfte, die der gesellschaftliche Pluralismus hervorbringt, in Schranken zu weisen74 . Er trägt die Verantwortung für den Erhalt der gesellschaftlichen Vielfalt und damit zugleich für die gesellschaftliche Freiheit75 . Auch ist er, wie bereits angedeutet 76 , in besonderer Weise dem Gemeinwohl verpflichtet und insoweit Verantwortungsträger. Um ihre Gemeinwohlverantwortung wahrnehmen zu können, bedürfen die Staatsorgane der rechtlichen Unabhängigkeit gegenüber der Gesellschaft. Andernfalls wäre der der Allgemeinheit verpflichtete Staat nicht in der Lage, als solche erkannte Belange des Gemeinwohls gegenüber partikularen Interessen durchzusetzen 77. Das Grundgesetz erlaubt weder die "Verstaatlichung der Gesellschaft" noch die "Vergesellschaftlichung des Staates,,78. Es geht vielmehr von einer Unterscheidung der beiden Bereiche aus, findet in ihr eine "Bedingung der Verfassung der Freiheit,,79.
11. Notwendigkeit und Legitimität staatlicher Souveränität Mit Recht wendet sich die Souveränitätskritik gegen "das Dogma von der prinzipiellen Unbeschränktheit souveräner staatlicher Gewalt"so. Eine solche Vorstellung Sl ist unter den Bedingungen des Verfassungsstaates schlechthin unhaltbars2 . Sie entspricht auch nicht dem oben s3 dargestellten modemen Souveränitätsverständniss4 und zwingt daher nicht zur Verabschiedung des Souveränitätsgedankens 74 Vgl. BöckenJörde, Staat - Gesellschaft - Kirche, in: ders., Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche, Bd. III, S. 113, 150. 75 BöckenJörde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 209, 232,234 ff. 76 Oben S. 32 mit Fn. 41 f. 77 Vgl./sensee, Der Staat 1981, S. 161, 174f. 78 Rupp, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 28 Rn. 44. 79 Stern, Staatsrecht I, S. 633 mit umfangr. Nachw.; ferner Karpen, JA 1986,299: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der rechtsstaatlichen Freiheit; vgl. auch M. Heckei, Gleichheit oder Privilegien? S. 15. 80 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 393; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 56ff., 121 ff. 81 Vgl. etwa Heller, Die Souveränität, S. 97 ff., 104, 109: "gegebenenfalls auch contra legern"; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 760f.; ders., Souveränität und Staatengemeinschaft, S. 3. 82 Vgl. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 58, 122 f. 83 S. 91 f. mit Fn. 6 ff. 84 Vgl. RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 115 Rn. 7, der darüber hinaus darauf hinweist, daß "die Vorstellung von der Souveränität als schrankenloser höchster Gewalt" nicht dem ursprünglichen Inhalt der Souveränität entspricht; vgl. auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 33; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 58 f. unter Hinweis auf die Lehre Bodins; auch Blanke, DÖV 1993,412,420, der ein ,,Festhalten am etatozentrischen Souveränitätsbegriff' ablehnt und stattdessen (bezogen auf den einzelnen Mitgliedstaat der EG) von ,,staatsgewalt" sprechen möchte. Zur geschichtlichen Entwicklung
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für das nach den Grundsätzen freiheitlicher Demokratie geformte Staatswesen85 . Der Souveränitätsbegriff war immer schon die Antwort auf die jeweilige geschichtliche Problemlage 86 . Souveränität wird heute nicht mehr nach der insbesondere von Rugo PreuJf>7 und Jacques Maritain 88 zugrunde gelegten absolutistischen Vorstellung definiert. Auch der Blick auf die soziale Wirklichkeit zwingt nicht zur Aufgabe des Souveränitätsgedankens. Der modeme demokratische Staat zeichnet sich aus durch den Pluralismus der Anschauungen, Richtungen und Gruppen 89 . Dies führt entgegen Rarold Laski90 nicht zur Auflösung des Staates, solange bestimmte Grundlagen der Gemeinschaft anerkannt werden 91 und der demokratische Staat gewisse äußerste Grenzen seiner Offenheit gegenüber gesellschaftlich-politischen Gruppen wahrt92 • Diese Grenzen werden durch die Verfassung gezogen, die als "eine zur Rechtsform kristallisierte Festlegung des zukünftigen souveränen Willens,,93 angesehen werden kann. Die staatlichen Institutionen dürfen angesichts der Offenheit des modemen Staates nicht ihre Pflicht, für die Gesamtheit aller Bürger tätig zu sein und über allen partikularen Kräften zu stehen, aufgeben94 . So verstanden ist der Pluralismus keine Gefahr für die Souveränität, sondern erlangt im freiheitlichen Gemeinwesen eine "souveränitätsbegründende Seite,,95. Nach wie vor steht der Souveränitätsgedanke - ganz gleich, wie man ihn begrifflich kennzeichnet (etwa als "Staatsgewalt,,96 oder "Unabhängigkeit,,97) - für die Ausschaltung privater des Souveränitätsbegriffs vgl. die Nachw. oben Fn. 4. Zur Notwendigkeit, den Souveränitätsbegriff Bodins zu modifizieren, um im Verfassungsstaat an ihn anknüpfen zu können, Frohn, in: H. Dreier / Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 45, 47 f., 49 f. 85 Vgl. Denninger, Rechtsperson und Solidarität, S. 275 f. m.w.N. 86 Vgl. bereits den Hinweis v. Gierkes, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, S. 16. 87 Zu ihm oben S. 93 mit Fn. 21 ff. 88 Vgl. oben S. 93 f. mit Fn. 26 ff. 89 Vgl. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 44: "Der Pluralismus bildet einen Grundzug der modemen Demokratie... ". Vgl. auch Petersen, Volonte generale und volonte particuliere. Konsens, Konflikt und Kompromiß in der Demokratie, S. 37 f., pass. 90 Vgl. oben S. 94 mit Fn. 32 ff. 91 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 53, der, S. 47, ausdrücklich auf Laskis Pluralismustheorie verweist. 92 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 54f. 93 v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 84. 94 Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33,48. 95 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364,390. 96 H. Dreier, Der Ort der Souveränität, in: Dreier/Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 11 m.w.N. 97 RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 8 im Hinblick auf die äußere Souveränität.
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Gewalten und ihre Ersetzung durch eine oberste staatliche Gewalt, um nach innen Frieden und Sicherheit zu gewährleisten und nach außen mit anderen Staaten gleichberechtigt in völkerrechtliche Beziehungen zu treten98 • Solange die Wahrung von Frieden und Sicherheit im Inneren als wesentliche Staatsaufgabe angesehen wird99 , bleibt Souveränität mit dem Verständnis des modemen Staates auch als ,,Machteinheit" 1()() verbunden 10 I: "Souveränität ist die Bedingung des inneren Friedens. ,,102. Mit größerem Nachdruck als in monarchischen oder totalitären Staatsgebilden der Vergangenheit (und der Gegenwart) stellt sich im Verfassungsstaat die Frage nach der Legitimität staatlicher "souveräner" Machtausübung lO3 • Der Hinweis auf die staatliche Souveränität darf nicht dazu dienen, die Legitimitätsfrage auszuschalten lO4 • Macht und Gewalt sind nicht Ziel und Zweck des Rechtsstaates 105. Souveränität muß stets in Zusammenhang gesehen werden mit der Legitimität staatlicher Gewalt. ,,Die Souveränität des Staates hängt von seiner Legitimität ab, und die Legitimität begründet seine Souveränität.,,106 Der modeme Staat findet die Grundlagen seiner Legitimität vor allem in der Aufgabe, Frieden und Sicherheit für seine Bürger zu gewährleisten lO7 • Darin liegt 98 Vgl. RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 8; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 29 ff. 99 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 63 m.w.N.; Scheuner, in: FS Smend, 1962, S. 225, 252, 256 f., 257 f; Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 90; BöckenJörde, Recht, Staat, Freiheit, S. 92, 105 f. unter Hinweis auf Hobbes. Zu den Problemen, die bei einer Einordnung der "inneren" und "äußeren" Sicherheit in die verfassungsrechtlich vorgezeichneten Staatsaufgaben auftreten, vgl. Gusy, DÖV 1996,573,574, der, S. 581, eine "Staatsaufgabe Sicherheit" als zu pauschal und daher juristisch nicht weiterführend ablehnt. 100 Dazu lsensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 62, 71 ff. m.w.N. 101 Vgl. RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 8. 102 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 47, 48; vgl. auch Scheuner, FS Smend, 1962, S. 223, 258 f. 103 Daß die Herrschenden aller Zeiten und Staatsformen sich auf eine Legitimationsbasis zu stützen bemühen, betont mit Recht W. Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 17. Zum Unterschied von Verfassungsstaat und Diktatur: Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 24f. 104 So mit Recht Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 381, 383. 105 Vgl. bereits Apelt, Hegelscher Machtstaat oder Kantsches Weltbürgertum, S. 16; ferner Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 29, unter Hinweis darauf, daß das berühmte Diktum v. Treitschkes, Bundesstaat und Einheitsstaat, in: Historische und politische Aufsätze, Bd. 11, 5. Aufl., 1886, S. 77, 152, wonach "das Wesen des Staats zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht" sei, im Rechtsstaat nicht haltbar ist; vgl. auch die Ausführungen v. Treitschkes, in: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hrsgg. von Cornicelius, Bd. I, 1899, S. 32 f. Gegen die Vorstellung von der Machtentfaltung als oberstem Sinn staatlicher Aktivität auch Scheuner, FS Smend, 1962, S. 223, 254. 106 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 19; zur "Wechselbezüglichkeit von Souveränitäts- und Legitimationsaspekt" H. Dreier, in: H. Dreier I Hofmann, Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 11,39 Fn. 140. 107 Zu unterscheiden sind die Legitimation staatlicher Herrschaft im demokratischen Staat, die eine Rückbeziehung der repräsentativen Entscheidungsorgane auf das Volk verlangt, sog.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
"der erste, konstitutive Zweck des modernen Staates"I08 und zugleich die Basis für andere Zielsetzungen des heutigen sozialen Rechtsstaats: Schutz des Bürgers vor staatlichen Übergriffen und den vielfältigen Risiken der Marktgesellschaft sowie Wahrung sozialer Sicherheit I09 . Um diese Aufgaben erfüllen zu können, bedarf der moderne Staat der inneren Souveränität. Er ist geradezu "auf Souveränität hin ange1egt,,110. Zugleich ist er als Verfassungsstaat stets dem rechtlichen Anspruch der Verfassung unterworfen 111, welche für die Ordnung der staatlichen Verhältnisse den "festen Ankergrund im Normativen,,112 darstellt. Souveränität ist nicht nur ein rechtlicher, sondern auch ein politischer Begriff, eine "politische Kategorie der Macht,,1I3, die einerseits vom Recht vorausgesetzt wird 114 und der andererseits durch das Recht Zügel angelegt sind. Macht kann im Verfassungsstaat nur auf der Grundlage des Rechts bestehen ll5 . Nach innen ist die staatliche Souveränität durch das Verfassungsrecht (ggf. auch das Europarecht 116) gebunden ll7 . Dabei kann insdemokratische Legitimation, als eine Form weltanschaulicher Legitimation und die soziale Legitimation des Staates, bei der die Befriedigung materieller Ansprüche der Staatsbürger in Rede steht (vgl. W. Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 15f., dort S. 18, 23ff. zum "demokratischen Legitimationsrahmen"). 108 lsensee, in: Isensee! Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 63; vgl. auch dens., FS Eichenberger, S. 23, 29 mit Fn. 16; WildfuJber, FS Eichenberger, S. 131, 139; Schmitt Glaeser/ Horn, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, S. 196: "Die Schaffung des inneren Friedens und die Herstellung eines Gesamtzustands der Sicherheit ist wegen der SubjektsteIlung seiner Bürger der erste und der letzte Zweck des Staates." Ferner Schmitt Glaeser, BayVBI. 1995, 577, 579. Ähnlich bereits Samuel v. Pufendorf, De lure Naturae et Gentium Libri octo, VII 4, 3: "Der erste Endzweck des Staates ist die Sicherheit und daß alle einmütig mit vereinigter Macht gewaltsame Eingriffe anderer ablenken." 109 lsensee, in: Isensee! Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 102 f.; mit Recht stellt Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 37, fest, daß der Verfassungsstaat die beste Gewähr für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit bietet. 110 lsensee, in: Isensee!Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 87. III lsensee, in: Isensee! Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 88. 112 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 40. 113 lsensee, in: Isensee!Kirchhof (Hrsg.), HStR VII § 162 Rn. 75. Frohn, in: H. Dreier! Hofmann (Hrsg.), S. 45, 66, möchte "mindestens als politische Kategorie" nicht auf den Souveränitätsbegriff verzichten. Heller, Die Souveränität, S. 104, betont demgegenüber, daß "wir die Souveränität als Rechtsbegriff zu verstehen haben". Herbert Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, S. I, sieht die Souveränität "auf der Grenze zwischen Recht und Wirklichkeit". Zur Unterscheidung von Souveränität als rechtlicher und als politischer Kategorie: Koppensteiner, Die europäische Integration und das Souveränitätsproblem (1963), S. 16, 33 ff., 46, 48 ff., pass. ll4 Vgl. Denninger, Rechtsperson und Solidarität, S. 277 m.w.N. llS Vgl. WildfuJber, FS Eichenberger, S. 131, 139: "Recht und Macht bedürfen der Vereinigung in einer ,verfaßten' Ordnung". WildfuJber, ebd., definiert Souveränität als "potentielle Allzuständigkeit des Staates im Rahmen einer verfaßten und gerechtigkeitsorientierten Ordnung". 116 Vgl. dazu die Entscheidung des BVerfG zum Vertrag über die Europäische Union, BVerfGE 89, 155, 182f., wo das Gericht, S. 186, aber auch betont, daß die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch einen Staatenverbund wie die Europäische Union "sich auf Er-
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besondere den Grundrechten eine beschränkende Wirkung zugeschrieben werden, während die organisationsrechtlichen Regelungen als Ausformungen der Souveränität verstanden werden können 11 8. Diese Bindungen erlauben es nicht (mehr), Souveränität im Sinne einer allmächtigen Staatsgewalt Hobbesscher Prägung 119 oder als "Blanko- oder Generalvollmacht,,120 zu verstehen 121 • Entsprechend den rechtlichen Vorgaben müssen staatliche Stellen jedoch auch im Verfassungs staat in der Lage sein, sich gegenüber den Kräften der Gesellschaft durchzusetzen. Zwar verwirklicht sich diese Souveränität vor allem im normalen Gang des sozialen Lebens 122. Ihre Bedeutung für den Konfliktfall hat sie damit aber nicht eingebüßt 123 • mächtigungen souverän bleibender Staaten" gründet (Hervorhebung nicht im Original); ferner H. Dreier, StL7 , Bd. IV Artikel "Souveränität", Sp. 1203, 1208; RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 33f.; Doehring, ZRP 1993,98; Götz, JZ 1993,1081, 1082; Mosler, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR VII § 175 Rn. 28 ff.; Blanke, DÖV 1993, 412, 418 ff.; grundlegend: Koppensteiner, Die europäische Integration und das Souveränitätsproblem, 1963; ferner die Beiträge von Ress, Bleckmann und Krück, in: Ress (Hrsg.), Souveränitätsverständnis in den Europäischen Gemeinschaften, S. 11 ff., 33 ff., 155 ff. 117 Vgl. RandelzhoJer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 15 Rn. 23, unter Hinweis auf eine Formulierung von Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvStL 3 , Bd. 11, Sp. 3155, 3160: "höchste Gewalt von Rechts wegen"; ferner Wildhaber, FS Eichenberger, S. 131, 140: "Rechtlich gebändigte, relative höchste Gewalt, eine Gewalt unter dem Recht". 118 Vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII § 183 Rn. 24. 119 Allerdings ist der Souverän auch bei Hobbes nicht von jeglicher rechtlichen Ordnung freigestellt, er ist vielmehr an die lex divina bzw. die lex naturalis gebunden, vgl. dazu Frohn in: H. Dreier/Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 45, 50 f. mit Nachw. 120 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 760f.; auch: Eichenberger, in: Hennis/ Kielmansegg/Matz (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. I, S. 103: "Blanko- und Generalvollmacht zum Handeln". 121 Eine Argumentation mit dem überkommenen Souveränitätsverständnis (vgl. etwa H.P. Ipsen, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HStR VII § 181 Rn. 19 a.E.; Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 301 f.) entzieht daher Überlegungen zur staatlichen Souveränität zu Unrecht von vornherein den Boden, vgl. auch oben S. 99 f. mit Fn. 82 ff. Bereits G. lellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 419, betonte, daß der einzelne nur begrenzter Gewalt unterworfen sei: "Die Unterordnung des Individuums unter den Staat reicht nur so weit, als das Recht es anordnet. Jeder staatliche Anspruch an den Einzelnen muß rechtlich begründet sein." 122 Vgl. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 377. Insoweit zustimmend: Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 88; Schmitt Glaeser/Hom, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, S. 148f.; Frohn, in: H. Dreier/Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, S. 45, 69. Die These earl Schmitts (oben Fn. 59), souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, ist abzulehnen, vgl. etwa Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvStL3 Bd. 11 Sp. 3155, 3163; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 125f.; Wildhaber, FS Eichenberger, S. BI, 140, in Anlehnung an Heller, Die Souveränität, S. 104. 123 Auch Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 364, 376, konzediert, daß die Souveränität auch im Konfliktfall eine Funktion habe. Nach Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 88, stellt sich die Frage der Souveränität "nur im äußersten Konfliktfall"; vgl. auch Schmitt Glaeser/Hom, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, S. 148: ,,Loslösung des Souveränitätsbegriffs von seiner Fixierung auf den Ausnahme- und
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Die für den Verfassungsstaat kennzeichnenden Grundrechte 124 machen den Konflikt zwischen Bürger und Staat, aber auch - als Grundrechtskollision 125 - unter gleichberechtigten Individuen zu einem festen Bestandteil des verfassungsmäßigen Normalzustandes. Der Aufgabe, diese Konflikte zu lösen, darf der Verfassungs staat nicht ausweichen. Er bleibt angewiesen auf eine im Verhältnis zu den Bürgern und den gesellschaftlichen Verbänden größere Gewalt. Die rechtlich gebundene Vormachtstellung ist notwendige Bedingung dafür, daß der Staat sich gegenüber allen innerstaatlichen Machtgruppierungen als überlegen erweisen kann 126. Er kann "die Gewährleistung der innerstaatlichen Friedenseinheit und die letztinstanzliche Gemeinwohlverantwortung,,127 nur übernehmen, wenn er die umfassende politische Entscheidungsgewalt innerhalb seines Gebietes behauptet und keine nichtstaatlichen Inhaber politischer Entscheidungsgewalt anerkennt oder zuläßt, sofern deren Befugnisse nicht gegenständlich genau umgrenzt sind, in einem Delegationszusammenhang zur Staatsgewalt stehen und staatlicher Aufsicht und Kontrolle unterliegen 128. Die rechtlich geordnete Vormachtstellung staatlicher Stellen gegenüber den Kräften der Gesellschaft und damit die Möglichkeit, sich, wenn nötig, auch gegenüber der stärksten von ihnen durchzusetzen, ist im Verfassungsstaat nicht ausgeschlossen, sondern wird vielmehr von der Verfassung stillschweigend vorausgesetzt 129.
III. Aktualität des Souveränitätsgedankens
Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten stellt sich die Frage nach der inneren Souveränität des Staates heute nicht mehr mit Blick auf bestimmte Gruppen, etwa die "wirtschaftlich-sozialen Verbände und Interessenträger,,130 oder die KirKonfliktfall", unter Hinweis auf das "positive Verhältnis korrelativer Zuordnung von Normalität und Normativität" bei Hermann Heller, Staatslehre, S. 250 ff. 124 Zur Bedeutung der Grundrechte im Verfassungsstaat vgl. Häberle, Die Wesengehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 364: "Sie (seil. die Grundrechte) geben eine wesentliche Legitimationsbasis für ihn (seil.: den Verfassungsstaat) ab". 125 Dazu bereits oben S. 63 mit Fn. 15. 126 Zu dieser Forderung nach staatlicher Überlegenheit vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 158: "Die Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungen der Gesellschaft übergeordnet"; Isensee, ebd. Fn. 33, läßt die Frage allerdings für das Verhältnis von Staat und Kirche offen. 127 Böckenförde, Der Staat 1976, S. 457, 469. 128 Böckenförde, Der Staat 1976, S. 457, 469; vgl. auch Schmitt Glaeserl Horn, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, S. 146, unter Hinweis auf Dagtoglou, Artikel "Souveränität", in: EvStL 3 , Bd. II, Sp. 3155, 3160. 129 Zur inneren Souveränität als Verfassungsvoraussetzung Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 761 mit Fn. 5; lsensee, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VII § 162 Rn. 75; v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 31, der die Souveränität als ein "faktisch einer jeden Rechtsordnung zugrunde liegendes" Willenselement definiert, vgl. auch ebd. S. 42: "fortwirkende Voraussetzung für die Rechtsordnung".
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chen 131. Sie werden in ihrer Eigenschaft als organisierte Einheiten nicht mehr als Machtpotentiale angesehen, die in der Lage sind, "sowohl den Herrschafts- als auch den Gemeinschaftscharakter des Staates hart anzufechten" 132. Unbeschadet ihrer wichtigen Funktion für das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben und ihrer großen politischen Bedeutung konnten sich weder die Kirchen noch andere soziale Gruppen und Verbände als gleichberechtigte Ordnungsmächte neben dem Staat behaupten 133• Heute bieten vor allem die vielfältigen, fast schon selbstverständlich gewordenen Formen der Gewaltanwendung (physicher und psychischer Art) einzelner und organisierter Gruppen im täglichen Leben, nicht zuletzt im politischen Meinungskampf, Anlaß, auf die innere Souveränität des Staates zu verweisen 134. Auch die Praktiken mancher neuartiger (pseudo-)religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften 135 haben die innere Souveränität (wieder) in das Blickfeld verfassungsrechtlicher und -politischer Überlegungen gerückt. Insofern spitzt sich das Problem auf die Frage zu, ob der Souveränitätsgedanke auch gegenüber Gruppen, die sich auf die religiösen Freiheitsrechte aus Art. 4 GG und Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV berufen, Geltung haben kann.
130 Formulierung von Böckenförde, Der Staat 1976, S. 457; zum Problem der sozialen Macht solcher Vereinigungen vgl. etwa Zacher, Staat und Gewerkschaften, 1977, der, S. 10, im Hinblick auf die Gewerkschaften von einer "offenen Souveränitätsfrage" sprach; Böckenförde, Der Staat 1976, S. 457, 458 sah die Machtpositionen der Tarifpartner als ,,Ausfluß einer weiterreichenden Strukturveränderung unserer politischen Ordnung"; Kielmannsegg in: Hennis 1Kielmannsegg 1Matz (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 11, S. 139, 143 f., 172; im Hinblick auf die Gewerkschaften ferner Scheuner, in: Hennis/Kielmannsegg/Matz (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 11, S. 102, 137; allg. zum Problem sozialer Macht von Verbänden: Grimm, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR2 , § 15 Rn. 7ff.; lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 114, der es immerhin für möglich hält, daß gegenüber der Verbandsmacht sogar die "Selbstbehauptung der Staatlichkeit" zum Problem werden kann; weniger kritisch dagegen Papier, in: Kloepfer 1Merten 1Papier 1Skouris, Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, S. 33, 50 ff. 131 Vgl. etwa die Befürchtungen von Herben Krüger, ZevKR 6 (1957/58), S. 72, 73 f.; Fuß, DÖV 1961,734,737; vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 431; Heller, Allgemeine Staatslehre, S. 209 f. 132 H. Huber, Staat und Verbände, 1958, S. 31, der allerdings ausgehend von der damals weithin vertretenen Koordinationstheorie (dazu bereits oben S. 77 mit Fn. 45 f.) in der Bundesrepublik Deutschland einen Souveränitätsverzicht des Staates zugunsten der Kirchen feststellen zu können glaubte. 133 lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 227. 134 Vgl. etwa Schmitt Glaeser/Hom, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, S. 143 ff. . 135 V gl. oben S. 64 ff. mit Fn. 23 ff.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
D. Staatliche Souveränität und religiöse Freiheitsrechte I. Religion und Weltanschauung im Gesamtzusammenhang staatlicher Vorrangstellung über die Gesellschaft
Der neuzeitliche souveräne Staat ist das Ergebnis eines langen Prozesses der "Entgeistlichung der irdischen Gewalt". Dies bedeutet vor allem "Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung, ihrer, Verweltlichung' im Sinne des Heraustretens aus einer vorgegebenen religiös-politischen Einheitswelt zu eigener, weltlich konzipierter (,politischer') Zielsetzung und Legitimation, schließlich die Trennung der politischen Ordnung von der christlichen Religion und jeder bestimmten Religion als ihrer Grundlage und ihrem Ferment" 136. Die Trennung von Politik und Religion, die "Emanzipation der weltlichen Ordnung von überkommenen religiösen Autoritäten und Bindungen,,137 führte zur Herausbildung religionsunabhängiger Staatszwecke 138 und verschaffte dem Staat das Letztentscheidungsrecht, die "souveräne Herrschaftsgewalt" 139. Bereits Bodin betonte, daß die Souveränität des Königs auch gegenüber den ,,religiösen Korporationen,,140 bestehe 141 . Hobbes führte diesen Gedanken weiter, wenn er für den christlichen Staat "die Rechtsprechung sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Dingen,,142 einforderte. "Der Mensch oder die Versammlung, welche die Staatsgewalt innehat, ist das Haupt des Staats und der Kirche; denn die Kirche und der christliche Staat sind dasselbe.'''43 Daraus folgt für Hobbes, daß der civis et christianus dem Staat Gehorsam schuldet: "Wenn nämlich jeder christliche Staat zugleich die Kirche ist, die jeder Christ, der Untertan dieses Staates ist, nach Christi Geburt hören soll, dann ist jeder Bürger verplichtet, seinem Staate, d. h. dem oder den Inhabern der höchsten Gewalt, nicht bloß in weltlichen, sondern auch in geistlichen Dingen zu gehorchen.'.!44 Der weltliche christliche Fürst ge136 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 92, 93; vgl. auch Link, FS Geiger, 1974, S. 277, 279. 137 Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 92,111. 138 Zu den Staatszwecken im neuzeitlichen Verfassungsstaat oben S. 30 mit Fn. 26 ff. 139 Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 92, 106; zum Letztentscheidungsrecht als Ausdruck der staatlichen Souveränität vgl. auch Doehring, ZRP 1993,98. 140 In der von Mayer-Tasch herausgegebenen Übersetzung von Bodins "Sechs Bücher über den Staat" heißt es im III. Buch 7. Kapitel (Bd. I, S. 524): "Man wird ihre (seil.: die der Korporationen und Gemeinschaften) Eigenart leichter verstehen, wenn man feststellt, daß sie entweder zu religiösen oder zu administrativen Zwecken geschaffen werden." Deutlicher das Original (S. 478): "pour la religion, ou pour la police". 141 Vgl. A. Schmitz, Staat und Kirche bei Jean Bodin, S. 27, pass.; zustimmend: Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 287. 142 Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, nach der Übersetzung von Frischeisen-Köhler/ Gawlick, Vom Bürger, Kap. 17, Abschn. 28 a.E. (S. 310). 143 Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger (Fn. 142), Vom Bürger, S. 310.
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winnt bei Hobbes die unumschränkte Machtvollkommenheit auch in religiösen Angelegenheiten 145. In der politischen Theorie Hobbes' ist kein Platz für eine über der politischen Autorität stehende oder von ihr auch nur gelöste spirituelle Autorität l46 . Obwohl Hobbes im Ansatz noch der alten Lehre "von der einen, Geistliches und WeItIiches umspannenden Universalverfassung des Gemeinwesens" verhaftet war 147 , waren seine Überlegungen bereits deutlich von der Trennung der Politik von der Religion geprägt. Bei Hobbes dient die Staatsgründung dem rein säkularen Ziel, das bellum omnium contra omnes zu beenden l48, und steht damit "auf dem Boden der reinen Bedürfnisnatur und der zweckgerichteten, individualistischen Vernunft" 149. Nachdem mit der Reformation und ihren politischen Folgen der im Hoch- und Spätmittelalter erhobene Anspruch der Kirche auf Überordnung über die weltliche Herrschaft 150 hinfällig geworden war, legten Bodin und Hobbes den Grund für die lange Geschichte staatlicher Souveränitäts ansprüche gegenüber den Kirchen. An ihre Überlegungen knüpften vor allem 151 Samuel v. Pufendorfmit seiner Einschätzung der Kirche als in den Staatsverband eingegliederte und diesem untergeordnete "societas aequalis,,152 und Christian Thomasius an, dessen Hauptanliegen im Be144 Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger (Fn. 142), Vom Bürger, Kap. 18, Abschn. 14 (S.325). 145 Vg!. Link, ZevKR 20 (1975), S. 1, 5; beispielhaft sind die Ausführungen Hobbes' zur Abendmahlslehre im Leviathan, Kap. 37, S. 340, zit. nach der deutschen Ausgabe von Hennis / Maier: "Denn wenn zum Beispiel jemand behauptet, daß nach dem Aussprechen bestimmter Worte über einem Stück Brot dieses kein Brot mehr ist, sondern von Gott sogleich zu einem Gott, einem Menschen oder beidem gemacht wird und doch immer noch wie ein Brot aussieht, so hat niemand Grund zu der Annahme, dies sei wirklich geschehen, oder ihn deswegen zu fürchten, bis er Gott durch seinen Stellvertreter oder Statthalter gefragt hat, ob dies geschehen ist oder nicht." Dieser Statthalter ist nach Hobbes der weltliche Souverän. 146 Fetscher, Ein!. zum "Leviathan", S. XXXIX, zit. nach der deutschen Ausgabe von Hennis / Maier. 147 Link, ZevKR 20 (1975), S. 1, 5; vgl. auch dens., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 28 ff. 148 Im vorstaatlichen "Naturzustand" ist bekanntlich der Mensch nach Ansicht von Hobbes ein Wolf für die anderen Menschen - homo homini lupus (De Cive, Widmung, in der Übersetzung "Vom Menschen. Vom Bürger" [oben Fn. 142], S. 59; zum "Krieg aller gegen alle" ebd.: Vom Bürger, Kap. 1, Abschn. 12 [So 83 f.] und Kap. 5, Abschn. 2 [So 124]). Der Staat dient dazu, diesen Zustand zu vermeiden und Frieden und Sicherheit zu gewährleisten (Vom Bürger, Kap. 5, Abschn. 3 ff. [So 125 ff.]; Leviathan, Kap. 17 [So 131 ff. in der von I. Fetscher herausgegebenen Fassung]). Vgl. dazu Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 22 ff.; Maier, in: Maier /Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, Bd. I, S. 351, 366ff.; Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 99. 149 Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 92, 106 f.; Adam, Der Staat 1994, S. 395, 400: "Legitimation des Souveräns durch Effizienz" bei Hobbes. 150 Dazu W Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 35,40 m.w.N. 151 Ausführliche Darstellungen des staatlichen Herrschaftsanspruchs über die Kirchen bei Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979; ders., ZevKR 20 (1975), S. 1; Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978.
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reich des Staatsrechts die Begründung und Rechtfertigung der Souveränität des absoluten Territorialstaats 153 nach außen gegenüber dem Reich und innen gegenüber den Kirchen bestand i54 . Es entwickelte sich das protestantische landesherrliche Kirchenregiment, das in Deutschland mit den sich wandelnden 155 Formen des Episkopalsystems l56, des Territorialismus 157 und schließlich des Kollegialismus 158 im Grundsatz bis 1918 Bestand hatte l59 . In den katholischen Ländern sind umfassende staatliche Aufsicht und Kontrolle über das kirchliche Leben mit den Begriffen des Gallikanismus in Frankreich, des Febronianismus im Reich und Josephinismus in den habsburgischen Erblanden verbunden 160. Auch die Weimarer Reichsverfassung führte mit ihrer ,,hinkenden Trennung von Staat und Kirche,,161 und dem Selbstbestimmungsrecht der "Religionsgesellschaf152 Vgl. die Umschreibung der Grundthese Pufendoifs bei Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, S. 81; ferner Link, ZevKR 20 (1975), S. 1, 9ff.; ders., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 240ff.; Gäbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, S. 20ff., jeweils mit Nachw. zum Werk Pufendoifs. Pufendoif erhob die Souveränität zum ,,Zentralproblem der Staatslehre" (Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 69); er sah den durch Vertrag begründeten Staat als eine Institution an, "die außer sich keinem Menschen unterworfen ist" (De habitu religionis christianae ad vitam civilem, 1687, § 11 [33]). Zur Rolle Pufendoifs als "Vater der sogenannten ,Kollegialtheorie'" vgl. Gäbel, Das Verhältnis von Staat und Kirche nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, S. 22; Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, S. 52 f. 153 Zum "Territorialsystem" vgl. M. Heckei, Artikel "Territorialsystem", in: EvStL 3 , Bd. H, Sp. 3599; Schia ich, ZRG 85 (1968) Kan. Abt. 54, S. 269; Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 292 ff.; ders. ZevKR 20 (1975), S. 1,9 ff.; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 21. 154 Luig, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, S. 227, 237, dort S. 249 ff. näher zum Recht des Staates in religiösen Angelegenheiten nach der Lehre des Thomasius; dazu auch die in Fn. 153 angeführten Nachw. 155 Bereits Hinschius, Staat und Kirche, 1887, aus Marquardsen's Handbuch des Öffentlichen Rechts, S. 187,203, wies darauf hin, daß die im Text angedeuteten Theorien zum Verhältnis von Staat und Kirche niemals ihre volle Verwirklichung erlangt haben. 156 M. Heckei, Artikel ,,Episkopalsystem" in: EvStL3 , Bd. I, S~. 728; Scheuner, Artikel "Episkopalismus. 2. Innerhalb der evangelischen Kirche" in: RGG , Bd. H, Sp. 532 f.; Liermann/Frost, Artikel "Kirchenverfassungen, A. Historische Entwicklung", in: EvStL3 , Bd. I, Sp. 1711, 1715; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 19f. 157 Dazu oben Fn. 153. 158 Dazu Schlaich, Artikel "Kollegialismus", in: EvStL 3 , Bd. I;Sp. 1810; Liermann/ Frost, Artikel "Kirchenverfassungen, A. Historische Entwicklung", in: EvStL3 , Bd. I, Sp. 1711, 1716; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 22ff.; grundlegend: Schlaich, Kollegialtheorie. Kirche, Recht und Staat in der Aufklärung, 1969. 159 Vgl. Heun, Artikel "Staatskirche", in: EvStL3 , Bd. H, Sp. 3423, 3424. 160 Zum Ganzen Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, S. 50ff., 54ff. mit umfangr. Nachw.; ferner v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 18 ff., 25 ff. 161 Stutz, Das Studium des Kirchenrechts an den deutschen Universitäten, in: Deutsche Akademische Rundschau, 6. Jahrg., 12. Semester-Folge Nr. 5 v. 15. 12. 1924, S. 1,2 r. Sp. u.,
9. Kap.: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität
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ten" in der praktischen Rechtsanwendung 162 nicht sogleich zum Wegfall der staatlichen Aufsicht über die Kirchen. Erst nach Erlaß des Grundgesetzes setzte sich auch in der Praxis vollends die Einsicht durch, daß den Religionsgemeinschaften und der Religonsausübung des einzelnen weitreichende Freiräume zustehen. Eine staatliche Aufsicht über die Religionsgemeinschaften besteht unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr 163 . Im Jahre 1949 mußte das Verhältnis von Kirche und Staat neu bestimmt werden. Wandte sich Otto Dibelius noch unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Kirchenpolitik pauschal gegen eine "Allmacht des Staates" über das religiöse Leben l64 , so forderte Rudolf Smend in seiner wegweisenden Abhandlung "Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz,,165 eine differenzierte Sicht: "Die grundsätzliche Gewährleistung kirchlicher Freiheitsrechte erfordert ihre gleichzeitige grundsätzliche Begrenzung durch die staatliche Souveränität.,,166. Smend erkannte, daß "die Unsicherheit des deutschen Staatsbewußtseins,,167 den Souveränitätsgedanken ins Abseits gedrängt hatte. Gleichwohl betonte er die Notwendigkeit, das "Wesen des Staates" nicht außer acht zu lassen. ,,Nur eine inhaltliche Wesensbestimmung des Staats, die damit zugleich seine gerade der Kirche gegenüber selbstverständlich vorausgesetzte Selbstbegrenzung enthielte, kann der alten wie der heutigen grundsätzlichen Rechtslage der Kirche gegenüber dem Staat ihren rechtlichen Raum und ihre gesunde Grenze geben.,,168 Der demokratische Staat des Grundgesetzes hat keine allumfassenden Kompetenzen, er ist keine Personenvereinigung "zur Verwirklichung aller Gemeinzwecke des Volkslebens,,169. Ihm sind vielmehr im Interesse des Gemeinwohls 17o Aufgaben übertragen, die er im Rahmen der (verfassungs-) rechtlichen Vorgaben erfüllen muß. Manche Bereiche dagegen, insbesondere die Pflege von Religion und Weltder insoweit von einern ,,Mittelding zwischen dem Bisherigen und der eigentlichen Abschichtung der Kirche" spricht; vgl. auch dens., Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIIl. nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico Ferrata, 1926, S. 54 Fn. 2. 162 Zu den abweichenden Überlegungen in der Lehre, die zunächst nur von Ebers vorgetragen wurden, später aber noch zu Weimarer Zeiten im wissenschaftlichen Schrifttum weitgehende Anerkennung fanden, unten S. 188 f. mit Fn. 448. 163 Vgl. nur v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 49 ff., 97 f., 115 ff. 164 Dibelius, Grenzen des Staates, 1949, S. 84ff., 87f. 165 ZevKR 1 (1951), S. 4, auch in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411. 166 Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4, 12, auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411, 419. 167 Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4, 12, auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411, 419. 168 Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4, 12f., auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411, 420. 169 So die Definition des Staates bei Hermann Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht mit besonderer Berücksichtigung der Krisis des Jahres 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes, 1867, S. 121; kritisch bereits Heller, Allgemeine Staatslehre, S. 21Of. 170 Zum Begriff oben S. 29 f. mit Fn. 24 ff.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
anschauung, sind ihm entzogen 171. Das bedeutet jedoch nicht, daß staatliche Maßnahmen, die den Bereich des Religiösen berühren, von vornherein ausgeschlossen sind. Das Grundgesetz geht vom Gegenteil aus, wenn es etwa in Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs.l WRV die "staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" der Religionsausübung nicht unterordnet l72 oder wenn es das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV dem Vorbehalt des "für alle geltenden Gesetzes"J73 unterwirft. Die Verfassung setzt damit voraus, daß die Erfüllung gewisser staatlicher Aufgaben zu Eingriffen in das Betätigungsfeld der Religionsgemeinschaften und die Religionsausübung des einzelnen führen kann. Unter der Geltung des Grundgesetzes gilt der Satz, "daß die Macht des Staates an der Kirchentür zu enden hat,,174 nicht 175 • Es gibt keinen (gegenständlich oder räumlich) abgrenzbaren Bereich, der der Erfüllung legitimer staatlicher Aufgaben apriori verschlossen ist l76 . So wie es keine unveränderlichen Grenzen staatlicher Aufgabenwahl gibt l77 , bestehen auch keine feststehenden Grenzen für die Erfüllung legitimer staatlicher Aufgaben. Umgekehrt akzeptiert die Verfassung, daß Religion nicht nur in Kirchenräumen zur Geltung kommt, sondern "nach außen" getragen wird und dabei auch in den Wirkungsbereich des Staates vordringt und mitunter auch die grundrechtlich geschützten Sphären Dritter berührt. Für die christlichen Kirchen ist die öffentliche 171 Vgl. P. Kirchhof, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 651: der Staat will nicht Antworten auf die Fragen nach den letzten Wahrheiten geben; lestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 149 f. 172 Dazu i.e. unten S. 255 ff. und S. 230 ff. 173 Dazu Le. unten S. 276 f. 174 Dibelius, Grenzen des Staates, S. 84. 175 Daß dies auch der kirchlichen Sichtweise entspricht, wird anschaulich belegt durch die kirchlichen Stellungnahmen zur Frage eines "Kirchenasyls", vgl. etwa die Äußerung des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz Lehmann in einem Interview mit dem "Spiegel" Nr. 20/1994 v. 16.5.1994, S. 51: "Kirchen sind kein rechtsfreier Raum. Die Polizei hat auch grundsätzlich Zutritt. Es besteht kein Zweifel, daß es sich beim Verstecken eines Menschen, der von der Polizei gesucht wird, um Rechtsbruch handelt." Lehmann wiederholte diese Einschätzung in einem offenen Brief an Bundesinnenminister Kanther, abgedruckt in Rheinischer Merkur Nr. 20 v. 20. 5. 1994, S. 22; seine Einschätzung wird geteilt vom Ratsvorsitzenden der EKD Bischof Engelhardt, abgedruckt in Rheinischer Merkur Nr. 20 vom 20. 5. 1994, S. 22: "Es gibt keine rechtsfreien Räume, auch die Kirchen sind es nicht." Vgl. auch die in der F.A.Z. Nr. 221 v. 22. 9. 1994, S. 4, zitierte Äußerung Engelhardts; ferner die Äußerung des Bischofs der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber in einem Interview in Die Zeit Nr. 21 v. 20. 5. 1994, S. 6: "Konflikte mit der staatlichen Rechtsordnung". Zum "Kirchenasyl" vgl. Lü. die Nachw. oben S. 22 Fn. llOf. 176 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 207 unter Hinweis auf die vom BVerfG vorgenommene Abwägung im Bereich des Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Die sog. Bereichsscheidungs1ehre überzeugt daher nicht, näher unten S. 184f. mit Fn. 414; S. 186 mit Fn. 427. 177 Vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 150, mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre. Im Hinblick auf die Bestimmung des Gemeinwohls bereits oben S. 30 mit Fn. 31.
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Wirksamkeit ihres Gedankengutes unverzichtbar 178. Der "Öffentlichkeitsauftrag,,179 der Kirchen wird heute vom Staat als verfassungsrechtlich verankerte Selbstverständlichkeit akzeptiert. Das Grundgesetz geht eben nicht davon aus, daß Religion bzw. Weltanschauung "Privatsache" sein muß 180. Das Fehlen einer "Demarkationslinie,,181 zwischen Staat und Religionsgemeinschaften und das Fehlen klarer Grenzen zwischen den verschiedenen Religionen und den Aktivitäten ihrer Anhänger führen zu einem ständigen Spannungs verhältnis, das auf beiden Seiten ausgehalten werden muß 182. Die Forderung der (wiederbelebten 183) "Koordinationslehre" nach ,,zuordnung (Koordination)" von Staat und Kirche als "zweier voneinander unabhängiger, in ihren Bereichen selbständigen Gemeinwesen" 184, die sich wie Völkerrechtssubjekte als voneinander geschiedene, gleichberechtigte Größen gegenüberstehen 185 , 178 Vgl. Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4, 9, auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411, 416; vgl. auch Link, JZ 1980,564,565: kein "wall of seperation" zwischen Staat und Kirche unter der Geltung des Grundgesetzes; mit Blick auf die Weimarer Reichsverfassung auch ders., FS Thieme, S. 95, 105 f. 179 Dazu BVerwGE 37, 344, 363; Schlaich, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. 11, S. 231 ff. m. umfangr. Nachw.; ferner H.-P. Schneider, in: Greive (Hrsg.), "Gott im Grundgesetz?" Loccumer Protokolle 14/93, S. 10, 16. 180 Vgl. nur Badura, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR 2 Bd. I, S. 211, 221; ders., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 81 f.; v. Campenhausen, in: Rheinischer Merkur Nr. 47 v. 25.11. 1994, S. 28: "Religion ist in Europa alles andere als Privatsache"; Lorenz, Wissenschaftsfreiheit zwischen Kirche und Staat, S. 16 f.; Jestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 150, der insoweit die .. hinkende Trennung von Staat und Kirche nach dem Grundgesetz" (vgl. dazu oben S. 108 f. mit Fn. 161) von einer strikten Trennung, auf deren Grundlage die Religion vollständig zur Privatsache erklärt wird, unterscheidet und, S. 157, darauf hinweist, daß ..Jugendreligionen und -sekten, fundamentalistische Strömungen oder esoterische Zirkel" einen ..weltanschaulichen Konkurrenzdruck" entstehen lassen, der - ungeachtet der aufgezeigten Verfassungslage - die Tendenz in sich trägt, Religion beliebig und zur Privatsache werden zu lassen. Gegen Religion als ,,Privatsache" auch Rauscher, in: Kath. Sozial wissenschaftliche Zentral stelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft. Sonderheft: Schule ohne Kreuz? S. 3, 7; vgl. auch H. Maier, ebd., S. 9, 10: ..Das Grundgesetz kennt keine Trennung von Religion und Öffentlichkeit"; aus verfassungsgeschichtlicher Sicht: Link, FS Thieme, S. 95, 98. A.A.: Alberts, NVwZ 1994, 1150f., 1152 (Religion und Weltanschauung Privatsache). 181 Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4, 9, auch in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 411, 416. 182 Vgl. die klassische Formulierung Hellers, Allgemeine Staatslehre, S. 211, der die ..Unfähigkeit, die Spannung beider Funktionen (seil.: der des Staates und der der Kirche) praktisch zu ertragen", als der ..geistigen Unfähigkeit, zwischen Staat und Kirche zu unterscheiden", vorausgehend bezeichnet. 183 Die Koordinationstheorie kam bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, erlangte aber erst in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nachhaltigen Einfluß auf das Staatskirchenrecht in Deutschland; näher zur Entwicklung der Koordinationstheorie Quaritsch, Der Staat 1962, S. 289, 296ff. mit Fn. 94ff., auch in: Quaritsch/H. Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 265, 289 ff. mit Fn. 94 ff.; zur Koordinationstheorie bereits oben S. 77 mit Fn. 45 f. 184 Mikat, in: Bettermann 1Nipperdey 1Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV 11, S. 111, 145. 185 Vgl. dazu oben S. 77 mit Fn. 45.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
mochte in den ersten Jahren der Geltung des Grundgesetzes als Reaktion auf die Zeit von 1933 bis 1945 verständlich erscheinen. Das Abklingen des "koordinationsrechtlichen Überschwangs der Nachkriegszeit,,186 lenkte den Blick aber mit Recht auf die Verfassung und wich der Einsicht, daß das Verhältnis des Staates zu den Kirchen wieder in die allgemeinen Zusammenhänge von Staat und Gesellschaft zUlÜckgeführt werden muß 187 . Dies führt zwangsläufig zu der Einsicht, daß die Religionsgemeinschaften ungeachtet aller Besonderheiten, die sie von anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen unterscheiden, im Verhältnis zum Staat Verbände neben anderen Verbänden sind l88 . Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß der Staat gegenüber den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften souverän im oben beschriebenen Sinne, d. h. nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben übergeordnet ist l89 . Religion und Weltanschauung sind wichtige Faktoren des gesellschaftlichen Lebens, die der staatlichen ,,Rechtshoheit" 190 nicht entzogen sind 191 . 186 v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 11; ders., in: Morsey/Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, S. 71, 74. 187 Vgl. etwa Herzog, JuS 1969, 397, 399 f.; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 162, 178,247, pass.; zum Ganzen Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 3 ff., 13. Ablehnend Hesse, ZevKR 6 (1957/58), S. 177, 182. 188 Vgl. Quaritsch, Der Staat 1962, S. 289, 320, auch in: Quaritsch/Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 265, 309; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 168, 178 ff.; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 425 f.; lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 169 ff. mit umfangr. Nachw.; Kewenig, in: KrautscheidtiMarre (Hrsg.) Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (6), S. 9, 17, 22f. m.w.N.; Rüfner, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 42: "Die Kirche wird eingeordnet wie andere gesellschaftliche Gruppen auch, ... ". Ferner iestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 152. Zu einer herausgehobenen Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Kräfte verhilft den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erhalten (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV), sofern man bereit ist, diese Rechtsform nicht nur als Vehikel zur Einräumung hoheitlicher Befugnisse, sondern funktional i.S. einer besonderen Zuordnung der Religionsgemeinschaften zum Staat zu interpretieren, vgl. Muckei, DÖV 1995, 311, 313f. ("partnerschaftliches auf Kooperation angelegtes Verhältnis zwischen Staat und [seil.: korporierter] Religionsgemeinschaft"); im Ansatz bereits Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57, 87; zweifelhafte Verallgemeinerung dagegen bei Robbers, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 867, 877 f. Mit Recht betont Lorenz, JuS 1995, 492, 494 f., daß die Kirchen auch als öffentlich-rechtliche Körperschaften außerstaatliche, gesellschaftliche Verbände bleiben. Zweifelnd: Link, FS Thieme, S. 95, 113 f. 189 Die Notwendigkeit der Überordnung des Staates betont auch Obermayer, BK Art. 140 Rn. 85: "strukturelles Grundprinzip"; ohne ausdrücklich auf den Souveränitätsgedanken zu rekurrieren auch Rüfner, Diskussionsbeitrag, in: Krautscheidt/Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (6), S. 42; ablehnend W. Weber, VVDStRL 11 (1954), S. 153, 169. 190 Ausdruck von Erik Wolf, Ordnung der Kirche, S. 150, der sich allerdings gegen die "Vorstellung vom Staat als Inhaber der ,Rechtshoheit'" und Träger "souveräner Gewalt" wendet; gegen ihn H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, S. 19.
9. Kap.: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität
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Als rechtlich gebundene stellt die Souveränität den Staat nicht von der strikten Beachtung der Freiheitsrechte frei. Seine Vorrangstellung gegenüber den Religionsgemeinschaften und seine Ordnungsrnacht über religiös oder weltanschaulich begründete Verhaltensweisen kann nicht dazu dienen, die religiösen Freiheitsrechte, insbesondere das Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV, zu überspielen. Auch die Souveränität vermag einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten staatlichen Eingriff in eines dieser Rechte nicht zu heilen. Er ist und bleibt verfassungswidrig. Die Souveränität zeigt aber an, daß der Staat, in welcher konkreten Funktion (als Gesetzgeber, Behörde oder Gericht) auch immer, nicht von vornherein vor Religion oder Weltanschauung kapitulieren muß. Er hat auch in diesem Bereich nach Maßgabe des geltenden (Verfassungs-) Rechts Regelungs- und Eingriffsbefugnisse. Aus rechtspolitischer Perspektive wird dieses Ergebnis durch den religiös-weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart und seine Begleitumstände 192 bestätigt. Nicht wenige der heute um den "wahren" Glauben bzw. die ,,richtige" Weltanschauung ringenden Gruppen befinden sich längst in einem dauernden Konflikt mit staatlichen Stellen l93 . Aber auch zwischen den verschiedenen Gemeinschaften haben sich teilweise Dauerkonflikte entwickelt 194. Nur der souveräne, (rechtlich gebundene, aber) über allen Beteiligten stehende, neutrale 195 und zum gesellschaftlichen Leben in einer gewissen Distanz 196 stehende Staat ist im Stande, den Rechtsfrieden zu wahren und die Rechte der verschiedenen Gemeinschaften wie auch ihrer Mitglieder einzulösen l97 . 191 Vgl. H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, S. 19; Obermayer, BK Art. 140 Rn. 85. Kritisch gegenüber staatlicher Souveränität in diesem Bereich: Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337, 348 Fn. 36; M. Heckei, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 23f.; w. Nachw. bei Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 226 Fn. 12. 192 Zu den Praktiken mancher neuartiger religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften oben S. 64 ff. mit Fn. 23 ff. 193 Hinzuweisen ist insbesondere auf die Prozeßfreudigkeit der "Church of Scientology", die in vielen Bereichen mit rechtlichen Vorgaben in Konflikt gerät, vgl. nur die Nachw. oben S. 6 Fn. 8 ff., S. 10 Fn. 33, S. 13 Fn. 52 f. 194 Vgl. etwa das Vorgehen der christlichen Kirchen gegen neuartige religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften, dazu BVerfG NVwZ 1994, 159 (Äußerung der Evangelischen Kirche über andere Gemeinschaften); OVG NW NVwZ 1994, 787 (Äußerung eines kirchlichen Sektenbeauftragten über "Universelles Leben"). 195 Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates oben 7. Kap. 196 V gl. oben S. 76 f. mit Fn. 32 u. 40; S. 98 f. 197 Vgl. Obermayer, DÖV 1967,9, 12 ff., auch in: Quaritsch/H. Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik, S. 382, 390ff.; ders., BK Art. 140 Rn. 85, unter Hinweis auf Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik 1894, S. 278 f., der jedoch ein "System der Kirchenhoheit des Staats" nach dem Grundsatz der Bereichsscheidung durch den Staat konstruieren zu können glaubte. Eine allgemeingültige Klärung der "äußeren Rechtsgrenzen der in seiner eigenen Gemeinschaft vereinigten Kirchengesellschaften" (Kahl,
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
11. Die Souveränität als Pfeiler des staatlichen Letztentscheidungsrechts Von einer Vorrangstellung des Staates über die Kräfte der Gesellschaft könnte nicht gesprochen werden, wenn die staatlichen Stellen nicht auch die Befugnis zur verbindlichen Letztentscheidung inne hätten im Konflikt zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen, ganz gleich ob es sich um miteinander unvereinbare Auffassungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen oder um die Kollision staatlicher Vorgaben mit den Anschauungen eines Einzelnen oder einer Gruppe handelt l98 . Der Einzelne kann seine Vorstellungen über Reichweite und Auswirkungen der ihm zustehenden Rechtspositionen, also auch des grundrechtlichen Schutzes einbringen. Dies gebietet schon die mit Art. I GG deutlich angezeigte zentrale Stellung, die ihm nach der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zukommt l99 . Ohne die ordnende und schützende Hand des Staates wäre die Rechtsstellung des Individuums indessen nicht viel wert. Der Staat ist nicht nur Adressat der Freiheitsrechte, er ist auch "die Voraussetzung von Rechten und Freiheit,,2oo. Ihm kommt daher im Hinblick auf die normativ festgelegten Voraussetzungen der Rechtsstellung nichtstaatlicher Rechtsträger der Interpretationsprimat ZU 201 . Dies schließt es aus, daß der Einzelne oder ein Verband sich nach Maßgabe seines Selbstverständnisses über die Tragweite von Freiheitsrechten von der Bindung an die positive Rechtsordnung freizeichnen kann 202 . Da, wie dargelegt203 , die Souveränität des Staates sich auf die Religionsgemeinschaften erstreckt und auch religiös motivierte Betätigungen eines Einzelnen nicht schlechthin hinnehmen muß, steht ihm auch bei der Interpretation der religiösen Freiheitsrechte das Letztentscheidungsrecht zu. Ohne diese Befugnis wären Angelegenheiten mit religiösem Bezug der staatlichen Souveränität in toto entzogen. Die Freiheit der Religionsausübung und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften können nicht ohne Rückgriff auf das Selbstverständnis der beebd., S. 279) ist dem Staat unter der Geltung des Grundgesetzes jedoch nicht möglich, vgl. oben S. 110 mit Fn. 174 ff.; zur fehlenden Kirchenhoheit des Staates unter der Geltung des Grundgesetzes vgl. nur W. Weber, VVDStRL 11 (1954), S. 153, 158 ff.; Peters, ebd., S. 177, 187f. 198 Vgl. Böckenjörde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 92, 106: Staat mit "zur Letztentscheidung berufenen und darum souveränen Herrschaftsgewalt ausgestattet". 199 Hierauf stellt vor allem Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 69 ff., 282 ff., 302 mit Fn. 89, pass., ab. 200 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 528; zur Geltung verfassungsrechtlich verbürgter Freiheitsrechte nach Maßgabe der Verfassung oben S. 41 ff. 201 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 119; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 90 f.; vgl. bereits oben S. 69 mit Fn. 63. 202 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 208, unter Hinweis auf Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 19; gegen eine entscheidende Bedeutung des Selbstverständnisses auch Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 528. 203 Oben S. 106ff.
9. Kap.: Die staatliche Letztentscheidung als Ausdruck der inneren Souveränität
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treffenden Gemeinschaft bzw. eines "Außenseiters und Sektierers,,204, dessen Ansichten nicht mit der einer Religionsgemeinschaft übereinstimmen, mit Leben erfüllt werden. Mit Recht betont aber Roman Herzog, daß ein zu weit gehendes Zurückgreifen auf das Selbstverständnis "gerade in Zeiten, in denen neue weltanschauliche Systeme wie die Pilze aus dem Boden schießen, zu einer Verlagerung jener Kompetenz-Kompetenz führen kann, die der modeme Staat seit Generationen gegenüber der Gesellschaft beansprucht,,205. Eine vor allem dem Selbstverständnis verpflichtete Interpretation der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit läuft Gefahr, das Verhältnis von Bürger, Staat und Gesellschaft, wie es dem Grundgesetz zugrunde liegt, auf den Kopf zu stellen 206 . Festzuhalten bleibt, daß auch die Souveränität des Staates, verstanden nicht als voraussetzungslose Allmacht, sondern als rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft, den staatlichen Stellen bei der Interpretation der religiösen (weltanschaulichen) Freiheitsrechte die Befugnis der Letztentscheidung zuweist.
BVerwG DVBI. 1994, 168, 169. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 104; kritisch: Listl, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 462 f; lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 258; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 116 f. 206 Vgl. Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 103. 204
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Zehntes Kapitel
Kein Widerspruch des staatlichen Letztentscheidungsrechts zum Toleranzgedanken Dem staatlichen Letztentscheidungsrecht in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug, d. h. einer objektivierenden Interpretation religiös geprägter Rechtsbegriffe, gepaart mit der Schaffung objektiver Schranken der religiösen Freiheitsrechte, steht der Gedanke religiöser und weltanschaulicher Toleranz nicht entgegen 1• Denn das geltende Verfassungsrecht läßt für Toleranz als selbständiges Prinzip keinen Raum. Wer "Toleranz als Rechtsprinzip,,2 fruchtbar machen möchte, steht vor großen Schwierigkeiten. Sie beginnen bereits bei der Frage nach dem materiellen Gehalt des Toleranzgedankens. Dem Grundgesetz läßt sich ein klarer Toleranzbegriff oder ein konturenscharfes Toleranzmodell nicht entnehmen 3 • Ja, nicht einmal ein ausdrücklicher Hinweis auf religiöse oder politische Toleranz findet sich in der Verfassung 4 - anders als in manchen Landesverfassungen5 • Es überrascht daher nicht, daß eine einheitliche Deutung des Toleranzbegriffs bislang nicht gefunden werden konnte. Häufig wird Toleranz verstanden als Duldung (im Sinne der Freiheit von staatlichen Eingriffen) von Einzelnen oder Gruppen, die sich zu einer religiösen, politischen oder sonst weltanschaulichen Richtung bekennen6 , als Achtung vor der abweichenden Auffassung des anderen 7, vor seiner Person und seiner AnsichtS, als 1 A.A. wohl Schnapp, JZ 1985, 857, 861, der zur Begründung einer selbstverständnisorientierten Interpretation des grundrechtlichen Schutzbereichs auf den Toleranzgedanken verweist; in dieser Richtung auch Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip, S. 23. 2 A. Krämer, ZevKR 29 (1984), S. 113 (m.w.N. zum rechtlichen Stellenwert des Toleranzgedankens auf S. 117f.); vgl. auch Grundmann, Artikel "Toleranz" in: EvStL 1, Sp. 2293, 2302: "Toleranz als RechtsbegriW'. 3 Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip, S. 24; Eisenhardt, JZ 1968,214,215; Häberle, ZevKR 19 (1974), S. 206, 212; zur Rspr. des BVerfG zum Toleranzgedanken A. Krämer, ZevKR 29 (1984), S. 113, 118 ff.; zu den Unsicherheiten eines Toleranzbegriffs allgemein i. Neumann, in: J. Neumann/N. W. Fischer (Hrsg.), Toleranz und Repression, S. 71 f. 4 A. Krämer, ZevKR 29 (1984), S. 113, 116; Eisenhardt, JZ 1968, 214. 5 Dazu Hering, in: Aequitas und Toleranz, S. 143; H.-i. Becker, Artikel "Toleranz", in: StL7 , Bd. V, Sp. 485, 488; Tillmanns, in: Neumann/Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161,202. 6 Eisenhardt, JZ 1968, 214, 219; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 254; Hering, in: Aequitas und Toleranz, S. 143, 144, unter Hinweis auf die Bedeutung des lateinischen Verbs "tolerare".
10. Kap.: Kein Widerspruch zum Toleranzgedanken
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Respektierung der "geistig-sittlich-kulturellen Prägung des einzelnen Menschen,,9. Toleranz verlange, die religiösen, weltanschaulichen, politischen und kulturellen Überzeugungen und Anschauungen aller Bürger als Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit zu begreifen, als solche zu achten und ihr öffentliches Bekenntnis zu dulden, auch wenn sie im Widerspruch zu eigenen Auffassungen und Wertungen stehen 10. Das so verstandene Toleranzprinzip enthalte ein staatsgerichtetes Verfassungsgebotli. Auch sei es Grundlage einer den Bürger treffenden Verpflichtung 12• Insoweit wird der Toleranzgedanke weniger als ein "echtes, ... an den einzelnen Bürger gerichtetes Rechtsgebot,,13 verstanden. Meist dient er - dahinter zurückbleibend - als Basis einer staatlichen "Verantwortung für die Wahrung der Toleranz zwischen den Staatsbürgern,,14. Seine Aufgabe als "Hüter der Toleranz,,15 unter den Bürgern erfülle der Staat vor allem dadurch, daß er eine allseitige und befriedigende Aktualisierung des Grundrechts der Religionsfreiheit und der übrigen Grundrechte bei den einzelnen Staatsbürgern und den religiösen Gemeinschaften ermögliche 16. Toleranz fungiert dabei als Komplementärprinzip17 der Religionsfreiheit bei der Herstellung praktischer Konkordanz in Angelegenheiten mit religiösem Bezug 18. 7 Isensee, Diskussionsbeitrag in: Krautscheidt/Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 126, 127; ähnlich M. Heckei, ZRG Kan. Abt. 55 (1969), S. 395, 396 f. 8 Maunz, Toleranz und Parität im deutschen Staatsrecht, S. 5; Guggisberg, in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz- und Religionsfreiheit, S. 455, 458; die Achtung vor der Person des anderen schließt lsensee (Fn. 7) gerade aus dem Toleranzgedanken aus. 9 Steiner, Artikel "Toleranz. Rechtlich", in: EvStL 3, Bd. n, Sp. 3630, 3631. 10 Steiner, Artikel" Toleranz. Rechtlich" in: EvStL 3 , Bd. n, Sp. 3630, 3631. Vgl. ferner zum Meinungsstand im älteren Schrifttum Eisenhardt, JZ 1968, 214ff. m. Nachw., der, S. 218 f., mit Recht auch eine gewisse Begriffsverwirrung bei den Versuchen, den Gedanken der Toleranz zu umschreiben, konstatiert. 11 Steiner, Artikel" Toleranz. Rechtlich", in: EvStL 3 , Bd. II, Sp. 3630, 3631. H.-i. Becker, Artikel, "Toleranz", in: StL7 , Bd. V, Sp. 485,488. Demgegenüber sieht Häberle, ZevKR 19 (1974), S. 206, 213 f., Toleranz lediglich als "Gegenstand von Verfassungsaufträgen" an. 12 Steiner, Artikel "Toleranz. Rechtlich", in: EvStL3 , Bd. II., Sp. 3630, 3632; H.-i. Becker, Artikel "Toleranz", in: StL7 , Bd. V., Sp. 485, 488. 13 So allerdings Scheuner, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 64; H.-i. Becker, Artikel "Toleranz", in: StL7 , Bd. V, Sp. 485, 488; ähnlich auch Hollerbach, JZ 1974,578,580. 14 Steiner, Artikel "Toleranz. Rechtlich", in: EvStL3 , Bd. II, Sp. 3630, 3632. 15 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 254; Schnapp, JZ 1985, 857, 861 ("Wächter der Toleranz"). 16 Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 11 f. 17 Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 251; ders., in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 443 m.w.N. 18 Vgl. Scheuner, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 64 Fn. 184; Listl (Fn. 17); ferner ders., Diskussionsbeitrag, in: MarreJ Schümmelfeder I Kämper
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
Nur mit diesem Verständnis als streitentscheidende Abwägungsleitlinie kann der Toleranzgedanke eigenständige Bedeutung neben den Grundrechten haben. Alle darüber hinausgehenden Versuche, ein originäres, mit einem bestimmten materiellen Gehalt ausgestattetes Verfassungsprinzip der Toleranz zu begründen, verkennen, daß die Grundrechte des Grundgesetzes Ausdruck der Toleranzidee sind 19 und aus ihnen, nicht aus einem übergeordnetem Rechtsprinzip konkrete Schlußfolgerungen gezogen werden müssen20 . Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger läßt das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. I und 2 GG keinen Raum für ein daneben bestehendes Abwehrrecht in religiösen oder weltanschaulichen Fragen21 • Verfassungsrechtlich besteht hierfür auch unter der Geltung des Grundgesetzes mit seinen weitreichenden Garantien religiöser Freiheit kein Bedürfnis. Staatliche Toleranz im Sinne der Achtung oder Duldung abweichender Auffassungen bedeutet im übrigen begriffsnotwendig, daß der Staat eine eigene religiöse oder weltanschauliche Sicht hat. Eine solche Identifikation mit einem bestimmten Bekenntnis wird ihm jedoch durch den Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität verwehrt 22 • Der Staat darf keinen eigenen weltanschaulichen Standpunkt einnehmen 23 . Im säkularen, religiös neutralen Staat ist an die Stelle der Toleranz, die eine bekenntnisgebundene Obrigkeit früherer Epochen dem Andersdenkenden gewährte 24 , die grundrechtliehe Religionsfreiheit getreten 25 • Damit steht zugleich fest, daß der Toleranzgedanke auch nicht als eigenständiges Recht für das Verhältnis der Bürger untereinander Bedeutung hat. Dies für eine (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 141, unter Berufung auf Scheuner; A. Krämer, ZevKR 29 (1984), S. 113, 121; Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873, 876f.; wohl auch Häberle, ZevKR 19 (1974), S. 206, 213f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Art. 4 Rn. 25; Renck, ThürVbl. 1996, 73, 74; beispielhaft auch im Streit um das Kreuz im Schulraum BVerfGE 93, I, 22f.; Seidl/Söllner/Haas, Sondervotum, in: BVerfGE 93,25 = NJW 1995,2480,2482 (sub II 2 b bb). 19 Vgl. Häberle, ZevKR 19 (1974), S. 206, 212. 20 Vgl. Pieroth, DVBI. 1994,949, 960f.; im Ergebnis auch Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 85; tendenziell auch Böckenförde, in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 401, 414, wenn er die Frage aufwirft, "ob bei anerkannter Religionsfreiheit die (bürgerliche) Toleranz im eigentlichen Sinn, d. h. das Dulden von etwas, das rechtlich nicht anerkannt werden kann, entbehrlich wird". 21 Schnapp, JZ 1985,857,861; v. Zezschwitz, JZ 1966,337,339 Fn. 15; ihm zustimmend Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtIiches Prinzip, S. 254 Fn. 75. 22 V gl. oben S. 75 f. Fn. 32 ff. 23 Schnapp, JZ 1985, 857, 861, unter Hinweis auf Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 55 f. 24 Zur Geschichte der Toleranzidee vgl. Link, in: Barton (Hrsg.), Im Zeichen der Toleranz, Bd. I, S. 17; Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 10 f.; Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz- und Religionsfreiheit, 1977; Opitz, in: FS Walther, S. 187 ff.; Hering, in: Aequitas und Toleranz, S. 143 ff., pass. 25 Vgl. Badura, in: ListI/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 211, 221.
10. Kap.: Kein Widerspruch zum Toleranzgedanken
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von Art. 4 GG umfaßte Gewährleistung zu fordern hätte zur Folge, daß alle dogmatischen Schranken für die Geltung der Grundrechte zwischen Privaten (ganz gleich, ob man sie unter der Überschrift "Drittwirkung der Grundrechte,,26 oder der "grundrechtlicher Schutzpflichten,,27 abhandelt) im Bereich des religiösen Lebens niedergerissen würden. Aber auch gegen eine ,,komplementäre" Verwendung des Toleranzgedankens im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz erheben sich Bedenken. Der weitgehende inhaltliche Gleichlauf von Toleranz und Religionsfreiheit hat zur Folge, daß die Orientierung der notwendigen Abwägung am Toleranzgedanken stets zu einer Verstärkung der Religionsfreiheit und zu einer Schwächung des gegenläufigen Grundrechts führt. Dies aber hätte für die Religionsfreiheit den Effekt, daß sie einem Optimierungsgebot28 unterstellt würde, das zu erfüllen nur auf Kosten anderer Grundrechte möglich ist29 . Sofern sich wie im Streit um das Schulgebet30 oder das Kreuz im Schulraum31 , zwei gleichermaßen auf die (positive bzw. negative) Religionsfreiheit gestützte Begehren gegenüberstehen, verleitet die Orientierung am Toleranzprinzip zur Lösung der Kollision nach einem einseitigen Entweder-Oder. Der einen Seite (in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schulgebet der positiven Religionsfreiheit 32 , in der des Hessischen Staatsgerichtshofs der negativen 33 ) wird auf Kosten der anderen zum völligen Durchbruch verholfen. Richtigerweise muß jedoch ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen gesucht werden, der beiden Seiten möglichst weitgehende Geltung ver26 Dazu statt vieler Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; beide warnen mit Recht vor einem zu großen Einfluß des Verfassungsrechts auf das Zivilrecht (Rüfner, ebd., S. 249 f.; Hesse, ebd., S. 39 ff., S. 43 f.); in diesem Sinne auch Hillgruber, Abschied von der Privatautonomie? in: ZRP 1995,6; ders., AcP 191 (1991), S. 69, 85 f., mit Kritik an der Rspr. des BVerfG zur Geltung der Grundrechte zwischen Privaten. Vgl. auch Eschenbach/Niebaum, Von der mittelbaren Drittwirkung unmittelbar zur staatlichen Bevormundung, NVwZ 1994, 1079; H. A. Hesse/P. Kaufmann, Die Schutzpflicht in der Privatrechtsprechung, JZ 1995, 219. Zum Streitstand Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 532ff., der sich, S. 561, im Ergebnis krit. gegenüber der etablierten Drittwirkungslehre äußert. 27 Der Gedanke grundrechtlicher Schutzpflichten wird in der Lit. bisweilen dem der "Drittwirkung der Grundrechte" vorgezogen, vgl. etwa Höfling, Vertragsfreiheit, S. 52 ff. 28 Es klingt an bei Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 12 Fn. 28; ders., FS Geiger, 1989, S. 539, 541. 29 Vgl. i. Ü. die Kritik gegenüber gruf.1drechtlichen Optimierungsgeboten oben S. 53 ff. mit Fn. 55 ff. Die im Text aufgezeigte Konsequenz wird auch gesehen von Schnapp, JZ 1985, 857, 862, der sich folgerichtig auch für die Geltung des Satzes "in dubio pro libertate" ausspricht (zu diesem Satz bereits oben S. 54 Fn. 63 f.). 30 Dazu i. e. unten S. 176 ff. mit Fn. 356 ff. 31 BVerfGE 93,1; w. Nachw. unten S. 176ff. 32 BVerfGE 52, 223, 250 ff. Das ohne Zweifel richtige Ergebnis dieser Entscheidung hätte das BVerfG auch ohne Rekurs auf den Toleranzgedanken erzielt. 33 Hess. StGH NJW 1966, 31, 36 (sub 12.). Insoweit könnte auch auf die Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 93,1) zum Kreuz im Schulraum verwiesen werden.
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
schafft34 . Das Gebot praktischer Konkordanz selbst ist bereits Ausdruck des Toleranzgedankens 35 . Bei seiner Erfüllung im Einzelfall darf die Toleranz nicht ein weiteres mal berücksichtigt werden zugunsten eines der gegenläufigen Belange. Das wäre verfassungsrechtlich des Guten zuviel!36 Es bleibt festzuhalten, daß der Toleranzgedanke im geltenden Verfassungsrecht keine eigenständige Bedeutung hat. In materieller Hinsicht geht er in den Grundrechten, insbesondere dem der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, auf. Als Instrument zum Ausgleich gegenläufiger Interessen ist er unverziehtbar. Er hat allerdings bereits in dem Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz eine Konkretisierung gefunden, die seiner (zusätzlichen) Berücksichtigung in concreto zugunsten des einen oder des anderen Belangs entgegensteht. Mit dem Nachweis fehlender eigenständiger Bedeutung der Toleranz im Verfassungsrecht steht zugleich fest, daß der Toleranzgedanke einem staatlichen Letztentscheidungsrecht in religiösen Fragen nicht entgegensteht.
34 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72; Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453,467 (der allerdings, S. 472f. im Schulgebetsstreit auch auf den Toleranzgedanken rekurriert). 35 Vgl. Bäumlin, VVDStRL 28 (1970), S. 3, 20f., 31 (Leitsatz 6.1.): "Konkordanz ist praktisch geübte Toleranz"; auch Wemer, Verh. 44. DIT, Bd. II, B 13, der in dem - dem Gebot praktischer Konkordanz verwandten - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die in juristischer Hinsicht entscheidende Konkretisierung des Toleranzgedankens sieht. 36 Gegen ein aus dem Prinzip der Toleranz abgeleitetes, an den einzelnen Grundrechtsträger gerichtetes Rechtsgebot spricht sich auch lestaedt, JRP 1995, 237, 261, aus; lestaedt sieht, ebd. unter Hinweis auf lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 256, im Toleranzgedanken eine "Verfassungserwartung an die Grundrechtsausübung", die "als solche Thema der ,Grundrechtsmoralität' und nicht vom Staat erzwingbar" sei.
Elftes Kapitel
Zwischenergebnis: Staatliches Letztentscheidungsrecht und Letztentscheidungsgebot A. Staatliche Deflnitionsbefugnis Es ergibt sich: Der Staat hat auch in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug die Befugnis zu verbindlicher Letztenscheidung. llim steht diese Befugnis nicht nur rein formal zu insoweit, als im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes zu guter letzt immer ein staatliches Gericht zur Entscheidung berufen ist. Der Staat kann vielmehr dem religiösen oder weltanschaulichen Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gemeinschaft eigene materielle Vorstellungen entgegenhalten. Aufgrund dessen ist er im Grundsatz befugt, die religiös oder weltanschaulich geprägten Rechtsbegriffe der Verfassung und des einfachen Rechts inhaltlich nach objektiven Kriterien zu umschreiben, zu definieren. Dies folgt aus der Verantwortung des Staates für die Entfaltung der Verfassungsnormeni, aus der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, die von staatlichen Stellen verlangt, bei der Interpretation religiöser Freiheitsrechte allgemeine, säkulare Maßstäbe anzulegen 2 , aus der religionsrechtlichen Parität3 und schließlich aus der staatlichen Souveränität, der rechtlich gebundenen Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft; diese - von der Verfassung stillschweigend vorausgesetzte - Kategorie läßt sich nicht denken ohne die Befugnis, das staatliche Recht letztverbindlich auszulegen 4 . Von dieser Befugnis müssen die im Einzelfall mit Fragen der Religion oder der Weltanschauung befaßten staatlichen Stellen Gebrauch machen. Dies verlangt ihre Gemeinwohlverantwortung 5 und die zu ihrer Konkretisierung normativ ausgeformten verfassungsrechtlichen Schutzaufträge, insbesondere die grundrechtlichen Schutzpflichten. Im Ergebnis trifft die staatlichen Stellen daher ein Gebot zur näheren Bestimmung des Inhalts religiös bzw. weltanschaulich geprägter Rechtsbegriffe6 anhand objektiver Kriterien. Der Staat unterliegt also nicht lOben S. 61 ff. Oben S. 75 ff. 3 Oben S. 86ff. 4 Oben S. 114f. 5 Dazu oben S. 32 mit Fn. 41 f.; S. 35 ff. 6 So im Ergebnis auch Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 127; vgl. auch Listl, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 449, der betont, daß die 2
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2. Teil: Die Grundlagen staatlicher Letztentscheidungen
einem Definitionsverbot7, die Verfassung richtet vielmehr ein Definitionsgebot an ihn8 . Die Befugnis des Staates zur verbindlichen Begriffsbestimmung wird jedoch von der Verfassung begrenzt. Da dem Grundgesetz ein Verständnis offener, formaler, im Grundsatz9 nicht auf einen bestimmten, ,,richtigen" Gebrauch festgelegter Freiheit zugrunde liegt lO, können nicht alle Probleme auf der Ebene des Tatbestandes gelöst werden. Bei der näheren Betrachtung der Garantien religiöser Freiheit werden Bereiche sichtbar werden, deren inhaltliche Ausfüllung die Verfassung dem religiösen Selbstverständnis überläßt. Dies deutet sich etwa im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgmeinschaften (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) für das Merkmal "ihre Angelegenheiten" an ll . Insoweit ist der Staat an einer objektiven Begriffsbestimmung gehindert. Unter Berücksichtigung solcher, dem religiösen Selbstverständnis zugewiesener Bereiche läßt sich der Verfassung ein an staatliche Stellen gerichtetes Gebot zu möglichst objektiver Definition der tatbestandlichen Voraussetzungen religiöser Freiheitsrechte entnehmen. Wo die Verfassung an das Selbstverständnis des Einzelnen oder einer Gemeinschaft anknüpft, stößt der Staat an die Grenzen seiner diesbezüglichen Möglichkeiten. Dessen ungeachtet steht die allgemeine Richtung staatlicher Grundrechtsinterpretation fest. Es gilt die "Maxime objektiver Auslegung des sachlichen Schutzbereichs,,12.
Organe des Staates nicht nur berechtigt, sondern sogar dazu verpflichtet sind, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob es sich im Einzelfall um eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft i.S. des Grundgesetzes handelt; ferner Schotz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 III Rn. 25 für die Kunstfreiheit, Rn. 88 für die Wissenschaftsfreiheit; vgl. Rupp, JZ 1970, 165, der mit Recht hervorhebt, daß eine Definition des Wissenschaftsbegriffs nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß Wissenschaft und Forschung keine objektiven Wahrheiten liefern. 7 Vgl. dazu die Nachw. oben S. 54 Fn. 58. 8 Vgl. lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 36; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 125 ("Definitionsauftrag"), und S. 177 (kein Definitonsverbot); vermittelnde Position bei Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 285, der sich dafür ausspricht, "zunächst soweit als möglich vom Selbstverständnis des betroffenen Rechtssubjekts" auszugehen, "in Grenzfällen" aber die Rechtsentscheidung zu objektivieren. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 94, geht zwar von einem "Definitionsverbot" aus, lehnt, aber, S. 92 f., gleichwohl die selbstverständnisorientierte Rspr. des BVerfG ab und sucht, S. 94 ff., nach objektiven Kriterien zur Umgrenzung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit. 9 Zu den eng begrenzten Ausnahmen unten S. 206 ff., S. 215 ff. 10 Vgl. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 65 m.w.N. 11 V gl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 52. Näher dazu unten S. 184 ff. 12 Dies in bewußtem Gegensatz zu Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 397: ,,Maxime subjektiver Auslegung des sachlichen Schutzbereichs". Morlok knüpft dabei an die Prinzipientheorie Alexys an; zur Fragwürdigkeit dieser Konzeption oben S. 53 ff.
1l. Kap.: Staatliches Letztentscheidungsrecht und Letztentscheidungsgebot
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B. Staatliche Schrankenziehung Soweit auf der Ebene des Tatbestandes das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis maßgeblich ist, kann sich das Letztentscheidungsrecht des Staates darin äußern, daß er für die jeweilige Gewährleistung Schranken errichtet oder bestehende Schranken aufzeigt. Dies erfordert allerdings "eine Abkehr von der Minimalisierung der Möglichkeiten des Staates, wie sie unter Berufung auf die Religionsfreiheit und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht das Klima des Staatskirchenrechts lange Jahre bestimmt hat,,13. Auch die Befugnis staatlicher Stellen zur Aktualisierung der Schranken religiöser Freiheit wird aus den soeben dargelegten Gründen 14 zu einer Verpflichtung, die freilich in erster Linie objektiv-rechtlicher Natur ist. Nur aus den grundrechtlichen Schutzpflichten können dem Einzelnen subjektiv-öffentliche Rechte auf ein das Handeln eines Dritten beschränkendes staatliches Vorgehen (im Extremfall auch des Gesetzgebers) erwachsen l5 . Im folgenden soll versucht werden, entsprechend dem an staatliche Stellen gerichteten Definitionsgebot zu einer möglichst objektiven Interpretation der Verfassungsgarantien religiöser Freiheit durchzudringen. Dabei gilt es zugleich, die Bereiche religiöser Freiheit aufzuzeigen, die objektiver Bestimmung unzugänglich sind, in denen die Verfassung vielmehr an das religiöse Selbstverständnis des Rechtsträgers anknüpft und daher das staatliche Letztentscheidungsrecht erst auf der Schrankenebene zum Tragen kommen kann. Es bedarf also nunmehr einer näheren Untersuchung der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit, und zwar sowohl im Hinblick auf die Schutzbereiche der einschlägigen Gewährleistungen als auch im Hinblick auf ihre Schranken.
13 H. Weber, Diskussionsbeitrag, in: Marn5! Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 141, 142. 14 Oben A.
15 BVerfGE 77,170, 214f.; vgl. auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 173ff.; H. H. Klein, DVBl. 1994,489, 493 ff., jeweils m.w.N.
DRITTER TEIL
Inhalt und Grenzen der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser und weltanschaulicher Freiheit Zwölftes Kapitel
Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit Die wichtigste Grundlage religiöser Selbstbestimmung des einzelnen, der Religionsgemeinschaften und anderer religiöser Vereinigungen 1 ist Art. 4 Abs. 1 und 2GG.
A. Kein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht2 und mit ihm die ganz überwiegende Ansicht in der Literatur3 sehen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit. Der nach verschiedenen Gewährleistungen differenzierende Wortlaut sei lediglich Ausdruck einer vom Verfassunggeber noch unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezweckten KlarsteIlung. In I Zur Unterscheidung von Religionsgemeinschaften und anderen religiösen Vereinigungen vgl. MuckeI, in: ListllPirson, HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 828. 2 BVerfGE 24, 236, 245, für die ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG), die im Begriff der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) enthalten sei; seither leitet das BVerfG auch den Schutz von Äußerungsfonnen religiöser Überzeugungen häufig aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG ab, vgl. etwa BVerfGE 32, 98, 106; 33, 23, 28; 41, 29, 49; BVerfGE 93, I, 15. 3 Vgl. Kokot!, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 12f.; Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 24; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 61, ders., in: Isensee ! Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 136 Rn. 36, der allerdings, Rn. 37, gleichwohl Abstufun~en des grundrechtlichen Schutzes erkennt; Listl, in: Listl! Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR ,Bd. I, S. 439, 455 ff. (mit Fn. 49) plädiert zwar für eine eigenständige Bedeutung der Glaubensfreiheit, weist der Garantie ungestörter Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG dagegen nur die Funktion einer Klarstellung zu. ,,Das umfassende Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit" macht auch Müller-Volbehr, DÖV 1995,301, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Gegen eine selbständige Bedeutung der Religionsausübungsfreiheit in Art. 4 Abs. 2 GG v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 5.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Wahrheit handele es sich bei der Religionsfreiheit um ein umfassendes Recht. Die im Grundgesetz verwendeten Begriffe der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie der freien Religionsausübung stellten weitgehend synonyme Umschreibungen dar4 • Die Hervorhebung der ungestörten Religionsausübung in einem zweiten Absatz sei ausschließlich historisch zu erklären und aus der deutschen Verfassungstradition mit besonderen Garantien für das exercitium religionis 5 sowie vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Störungen der Religionsausübung 6 . Jedenfalls seit der Weimarer Reichsverfassung gehe die Freiheit der Religionsausübung inhaltlich in der Bekenntnisfreiheit aue. Art. 4 Abs. 2 GG stelle klar, daß Träger des Grundrechts auch eine Gemeinschaft sein könne 8 . Dieses Verständnis des Art. 4 Abs. I und 2 GG als "umfassendes" Grundrecht der Religionsfreiheit führte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts9 (zwangsläufig) zu einer besonders extensiven Auslegung 10. Das Grundrecht der Religionsfreiheit gewähre dem einzelnen das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln ll. Dem Selbstverständnis wird maßgebliche Bedeutung beigemessen 12. Gegen die "nivellierende" Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre erheben sich jedoch Bedenken 13. Das gewichtigste v. Campenhausen, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 136 Rn. 36. v. Mangoldt!Klein!Starck, GG Art. 4 Rn. 33; Listl, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 461. 6 BVeIfGE 24, 236, 245; Listl, in: ListIlPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 461; zustimmend: Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 101 m.w.N. 7 BVeIfGE 24, 236, 245, unter Hinweis auf Hamel, in: Bettermann I Nipperdey I Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV 11, S. 37, 54, 62. 8 BVeIfGE 24, 236, 245. 9 Zu ihr bereits oben S. 13 ff. 10 Die Notwendigkeit extensiver Auslegung betont das Gericht ausdrücklich in BVeIfGE 24,236,246; vgl. i.ü. die Analyse der Rspr. des BVeIfG bei Listl, FS Klecatsky, S. 571, 574; ders., FS Geiger, 1989, S. 539, 540; ders., in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 440 f.; zu Ansätzen einer Trendwende in der jüngeren Rspr. des BVeIfG oben S. 7 mit Fn.14ff. 11 Zur Rspr. des BVeIfG vgl. die Nachw. oben S. 14 Fn. 60; aus der Lit. vgl. nur v. Campenhausen, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 136 Rn. 52; v. Mangoldt! Klein! Starck, GG Art. 4 Rn. 21; Franz Klein, in: Schmidt-Bleibtreu I Klein, GG Art. 4 Rn. 1; Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, S. 143; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 35; M. Heckel, DVBl. 1996,453, 474f.; Trute, Jura 1996,462, 464f.; Müller-Volbehr, JuS 1997,223 f. D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7,12, spricht treffend von einem Verständnis der Religionsfreiheit als "SondeIform der allgemeinen Handlungsfreiheit". 12 Vgl. bereits oben S. 14 mit Fn. 62. 13 Kritisch gegenüber der Rspr. des BVerfG auch Goerlich, JZ 1995, 955 ff.; Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 138 ff., 249 f.; ders., in: Grabenwarter I Hammer I Pelzl I Schulev-Steindl I Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137; Fehlau, JuS 1993,441,446; Jestaedt, JRP 1995, 237, 251. 4
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12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
127
folgt aus dem Wortlaut der Verfassung 14. Die Freiheit der Religionsausübung ist nicht nur in Art. 4 Abs. 2 GG garantiert, sondern wird auch in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 4 WRVais eigenständige Gewährleistung vorausgesetzt. Dies spricht für eine selbständige Bedeutung der Religionsausübungsfreiheit. Der Wortlaut der Verfassung deutet aber auch auf eine Unterscheidung einzelner Gewährleistungen im ersten Absatz des Art. 4 GG hin. Glauben, Gewissen und Bekenntnis sind begrifflich nicht dasselbe. Dadurch, daß der Verfassunggeber die Freiheit des Gewissens 15 semantisch zwischen die des Glaubens und die des Bekenntnisses geschoben hat, wird die Eigenständigkeit dieser beiden Gewährleistungen ebenso betont wie durch die nähere Kennzeichnung nur des Bekenntnisses als religiöses und weltanschauliches. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Gleichsetzung der Glaubens- und der Bekenntnisfreiheit als Relikt aus der Zeit vor Erlaß des Grundgesetzes 16. Art. 135 WRV war weniger differenziert gefaßt als Art. 4 Abs. I und 2 GG. Die Vorschrift garantierte in Satz I allen Bewohnern des Reichs "volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" und betonte darüber hinaus in Satz 2 lediglich die Freiheit ungestörter Religionsausübung 17 . Die Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 135 Satz I WRV wurde mit dem Begriff der Bekenntnisfreiheit gleichgesetzt 18 . Dabei wurde sie als Gewährleistung zweier Positionen verstanden, der Freiheit, einen Glauben zu haben, einerseits und der "Freiheit zu sagen, was man glaubt oder nicht glaubt, und zu verschweigen, daß und was man glaubt" andererseits 19 . 14 Für eine an den Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anknüpfende Interpretation spricht sich vor allem Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 64, aus. Die Bedeutung des Wortlauts als maßgeblichem Interpretationsansatz ist in der jüngeren Verfassungsrechtswissenschaft etwas in den Hintergrund getreten, vgl. etwa H. Huber, Gedenkschrift Imboden, S. 191, 195, 198f.; Rossen, in: Grabenwarter/Hammer/Pelzl/Schulev-SteindI/Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 41, 46 (Rechts sätze, "die aus vorhandenen Normtexten ... erst gewonnen werden müssen"). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 501 ff., betont zwar die Bindung an den Wortlaut von Grundrechtsbestimmungen und, daß vom Wortlaut der Verfassung auszugehen sei (S. 106), räumt aber andererseits, S. 105 f., ein, daß sein Prinzipienmodell (dazu oben S. 53) in einem gewissen Spannungsverhältnis zu diesem Anspruch steht. Zur Bedeutung des Normtextes für die Verfassungsinterpretation vgl. auch F. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 66, 155 f.; zu den Problemen einer am Wortlaut orientierten Auslegung Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 110 Rn. 19ff. 15 Daß die Gewissensfreiheit gegenüber der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit eigenständige juristische Bedeutung hat, wird heute nicht mehr bestritten, vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 231 f., m.w.N. unter Hinweis auf die ältere abweichende Ansicht Hamels, dazu unten S. 155 mit Fn. 207 f. 16 BVerfGE 24, 236, 245. 17 Art. 135 WRV: ,,Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt." 18 Anschütz, WRV Art. 135 Anm. 3, 4; ders., in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR II, S. 675, 683 f.; Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, S. 319, 322f.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Man war sich der Schwierigkeit bewußt, daß dieses Recht, eine ,,religiöse Ansicht. zu äußern oder ein solches Bekenntnis zu unterlassen,,20, der Vorschrift des Art. 135 WRV nicht dem Wortsinn nach entnommen werden konnte, und griff deshalb auf den ,,historischen Inhalt" des Gewissensbegriffs zurück21 . Art. 4 GG greift also mit der Freiheit des Glaubens und der Freiheit des Bekenntnisses eine bereits vor Erlaß des Grundgesetzes bekannte Unterscheidung auf. Das Grundgesetz vermeidet jedoch die unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung bestehende Schwierigkeit zur Begründung des grundrechtlichen Schutzes auch des Äußerns oder Verschweigens religiöser Überzeugungen, indem es neben der Glaubens- auch die Bekenntnisfreiheit ausdrücklich garantiert. Der Blick auf die Gewährleistung religiöser Freiheit vor Erlaß des Grundgesetzes legt also nicht eine Ineinssetzung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nahe. Er zeigt vielmehr, daß das Grundgesetz sich mit dem ausdrücklichen Schutz auch des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses gegen eine einheitliche Garantie von Glauben und Bekenntnis entschieden hat. Soweit das Bundesverfassungsgericht (und mit ihm die h.M. im Schrifttum)22 die ungestörte Religionsausübung unter einem allgemeinen Recht, sein ganzes Leben an den eigenen religiösen Überzeugungen auszurichten, einebnet 23 , setzt es sich nicht nur über die besondere Erwähnung der Religionsausübung in Art. 4 GG, ihre Hervorhebung in einem eigenen Absatz dieses Artikels und ihre besondere Berücksichtigung in Art. 140 GG i. V.m. Art. 136 Abs. 4 WRV hinweg. Die "ganzheitliche" Sicht der Religionsfreiheit ignoriert auch die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG. In den Beratungen der mit dieser Vorschrift befaßten Ausschüsse ging man zu keiner Zeit davon aus, daß die Garantie ungestörter Religionsausübung von lediglich deklaratorischer Bedeutung, weil in der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit bereits enthalten, sei. Die Vater des Grundgesetzes hielten im Gegenteil eine besondere Erwähnung der Religionsausübung für notwendig. So betonte der Abgeordnete Dr. Süsterhenn, daß und in welcher Hinsicht die Freiheit der Religionsausübung den Schutz des religiösen Bekenntnisses ergänze24 . Intensiv wurde die Frage diskutiert, ob die Freiheit der Religionsausübung unter den Vorbehalt der "allgemeinen Gesetze" gestellt werden solle. Dabei hatte man die Auswirkungen eines solchen Vorbehaltes nur für die Freiheit der Religionsausübung im Blick und dachte allein über das Verhältnis dieser Gewährleistung zu anderen Grundrechten 19 Anschütz, WRV Art. 135 Anm. 4; ders., in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR 11, S. 675, 684. 20 Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 323. 21 Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 323. Zum Streit um die Rechtsgrundlage der religiösen Äußerungsfreiheit zu Zeiten der WRVunten S. 146 mit Fn. 142. 22 Vgl. die Nachw. oben S. 14 Fn. 60; S. 16 Fn. 71. 23 Für eine lediglich deklaratorische Bedeutung des Art. 4 Abs. 2 GG in jüngerer Zeit vor allem Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 461. 24 v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR (n.P.) Bd. 1 (1951), S. 74.
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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nach25 • Der Grundsatzausschuß war darüber hinaus mit der Frage befaßt, ob die öffentliche und die private Religionsausübung geschützt seien 26 • Damit knüpfte dieses Gremium - bewußt oder unbewußt - an eine jahrhundertelange Entwicklung rechtlicher Garantien für die Ausübung anderer Religionen als der Hauptkonfession des betreffenden Territoriums an, die sich zunächst auf den privaten, häuslichen Bereich beschränkt hatten 27 und später auch die religiösen Kultushandlungen in der Öffentlichkeit erfaßten 28 • Diese Entwicklung verlief nicht parallel mit der Geschichte der Glaubensfreiheit im Sinne des Rechts darauf, einen Glauben zu haben oder keinen Glauben zu haben29 • Beide Gewährleistungen entwickelten sich getrennt voneinander. Mit seinem Verständnis des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitlichem Grundrecht der Religionsfreiheit mißachtet das Bundesverfassungsgericht die bewußte Entscheidung des Verfassunggebers für einen eigenständigen grundrechtlichen Schutz der Religionsausübung. 30 Gegen die Interpretation des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als umfassendes Grundrecht der Religionsfreiheit 31 spricht schließlich, daß die Grenzen eines solchen Rechts und damit zugleich seine Unterscheidbarkeit von thematisch naheliegenden anderen Gewährleistungen, insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV 32, im Ungefähren bleiben müssen. Die Grundrechte verbürgen, wie dargelegt, begrenzte, auf einen bestimmten Lebensbereich bezogene Freiheiten33 • Das setzt voraus, daß einzelne v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR (n.F.) Bd. 1 (1951), S. 74f. v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR (n.F.) Bd. 1 (1951), S. 76. 27 Dazu Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, S. 190, 212ff.; Listl, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 458, 46Of.; vgl. noch §§ 7 ff. II 11 PrALR. 28 Vgl. noch die Unterscheidung zwischen ,,häuslicher" und "öffentlicher Religionsübung" in Art. 12 der preuß. Verf. von 1850 (abgedruckt bei Huber/Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. II, S. 37). Diese Unterscheidung entfiel erst mit Art. 135 WRV, vgl. Anschütz, WRV, Art. 135 Anm. 5 (S. 620). 29 Zur Geschichte der Glaubensfreiheit Bates, Glaubensfreiheit, S. 197 ff. 30 Dies steht in einem merkwürdigen Widerspruch dazu, daß das Gericht zur Begründung des grundrechtlichen Schutzes der religiösen Vereinigungsfreiheit (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 WRV), näher zu diesem Grundrecht unten S. 163 ff., gerade auf die Entwicklung dieses Rechts in den Beratungen des Parlamentarischen Rates rekurriert, BVerfGE 83, 341,354f. 31 Diese Sichtweise wird auch noch in der Entscheidung BVerfGE 83, 341, 354, betont, obwohl das BVerfG im folgenden nur auf die spezielle Verbürgung der religiösen Vereinigungsfreiheit abstellt und obwohl es, ebd., S. 356, "den Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit" und "die durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützte Religionsausübung" zumindest begrifflich unterscheidet. 32 Zum Verhältnis der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zum Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV unten S. 181 ff. 33 Vgl. oben S. 51 f. 2S
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Freiheitsrechte nach ihrem sachlichen Gewährleistungsgehalt voneinander abgegrenzt werden können.
B. Die Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Die Unterscheidung der verschiedenen Gewährleistungen religiöser Freiheit in Art. 4 Abs. I und 2 GG stellt einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer näheren Bestimmung des grundrechtlichen Schutzes dar34 . Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß eine nach einzelnen Verbürgungen differenzierende Interpretation zu größerer Rechtsklarheit führt und das Risiko verringert, daß das Grundrecht mißbräuchlich in Anspruch genommen wird 35 . Die oben angeführten Vorzüge einer weniger am Selbstverständnis des Grundrechtsträgers orientierten Auslegung 36 klingen an. Die Unterschiede im Interesse einer differenzierten Betrachtungsweise aufzuzeigen ist nicht nur von rein theoretischem Interesse 3 ? Eine solche Vorgehensweise vermag vielmehr erste Anhaltspunkte für eine objektivierende, nicht allein dem religiösen Selbstverständnis verpflichtete Interpretation des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aufzuzeigen. Der Wortlaut der einzelnen Garantien und die Bedeutung der verschiedenen Begriffe nach traditionellem Verständnis38 sind die primären Anknüpfungspunkte der Interpretation. Danach enthält Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die im folgenden (11. bis VII.) aufzuzeigenden unterschiedlichen 39 Verbürgungen. Vorweg (I.) aber gilt es, 34 Vgl. Loschelder, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 152f.; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 47 ff.; Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137; ders., Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 138. 35 Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 50. Der Vorwurf mißbräuchlicher Inanspruchnahme der grundrechtlichen Religionsfreiheit wird insbesondere den neuartigen (pseudo-) religiösen Gemeinschaften entgegengehalten. Mit ihm kann, gemessen an den Kategorien der Grundrechtsdogmatik, gemeint sein, daß die betr. Gemeinschaft nicht Grundrechtsträger ist, daß der Schutzbereich eines Grundrechts religiöser Freiheit nicht betroffen ist oder daß die Schranken der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht eingehalten werden. Eigenständige Bedeutung außerhalb des gängigen Prüfungsschemas, das durch Schutzbereich und Schranken gebildet wird, könnte der Kategorie des Grundrechtsmißbrauchs allenfalls auf der Ebene verfassungsimmanenter Schranken zukommen; in diesem Zusammenhang wird der Mißbrauchsvorwurf unten S. 204 ff. untersucht (dort auch Nachw. zum Vorwurf, die ,)ugendsekten" mißbrauchten die Religionsfreiheit). 36 Oben 6. bis 9. Kap. 37 So aber v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 36 a.E.; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 31. 38 Zur Unzulänglichkeit allein des Blicks auf die Tradition unten S. 150 ff. 39 Daß die Begriffe "Glaubensfreiheit", "Gewissensfreiheit" und "Bekenntnisfreiheit" ganz verschiedene Bedeutung haben, betont bereits Fürstenau, Das Grundrecht der Reli-
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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die verfassungsrechtlichen Begriffe der Religion und der Weltanschauung zu beleuchten. Sie haben zentrale Bedeutung für jedes der einzelnen Grundrechte. Die Frage lautet, wann im Sinne der Verfassung40 von einer Religion oder einer Weltanschauung gesprochen werden kann. I. Die verfassungsrechtlichen Begriffe der Religion und der Weltanschauung 1. Inhaltliche Anforderungen an eine Religion oder Weltanschauung im Sinne des Grundgesetzes
Bei der Auslegung der Begriffe "Religion" und "Weltanschauung" ist davon auszugehen, daß der staatlichen Rechtsordnung kein nach den Vorstellungen einer bestimmten Theologie, Konfession, Kirche oder Weltanschauung geprägter, spezifisch konfessioneller oder auch rationalistisch-agnostischer oder antire1igiöser Religionsbegriff zugrunde gelegt werden d~l. Auch darf sich das Staats- und Verfassungsrecht bei der Begriffsbestimmung nicht an den Aussagen einzelner Vertreter der Religionswissenschaft42 über Wesen und Entstehung einer Religion orientieren43 . Derartigen Verengungen der zentralen Begriffe religiöser Freiheit steht die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates entgegen. Sie verlangt, wie dargelegt44 , eine Interpretation der verfassungsrechtlichen Begriffe nach allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten. Danach ist der Kreis von Überzeugungen, die heute und in Zukunft vom Grundgesetz als Religionen oder Weltanschauungen geschützt werden, prinzipiell unbegrenzt45 • Insbesondere Versuche, die Garantien religiöser Freiheit aus der Perspektive eines spezifisch christlichen Verständnisses auszulegen, stehen mit der Verfassung nicht in Einklang46 .
gionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, 1891, S. 1. 40 Die Begriffe der Religion und der Weltanschauung müssen für alle Verfassungsvorschriften einheitlich ausgelegt werden, vgl. BVerwGE 89, 368, 372, im Hinblick auf den Begriff der Weltanschauung in Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 7 Abs. 5 GG; dazu bereits oben S. 10 f. 41 Listl, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 452. 42 Zum begrenzten Nutzen außerjuristischer Deutungsversuche bereits oben S. 44 f. 43 Listl, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2, Bd. I, S. 439, 452. 44 Oben S. 80f. mit Fn. 71. 45 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 53; zustimmend Rüfner, AöR 116 (1991), S. 298; vgl. Schatzschneider BayVBI. 1985,321,322. 46 Vgl. Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,304; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 59 ff.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 16,27, jeweils m.w.N. auch zur Gegenansicht; zur Unzulässigkeit einer Beschränkung der Religionsfreiheit auf typisch christliche Kultushandlungen unten S. 149 ff mit Fn. 172 ff. 9*
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Für die nähere Bestimmung der Begriffe ,,Religion" und "Weltanschauung" verbleiben einige Gesichtspunkte, die dem Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität Rechnung tragen. Auszugehen ist von der Funktion der Religionsfreiheit, dem einzelnen und Personengemeinschaften einen (insbesondere im Verhältnis zu Art. 5 und Art. 8 GG) besonderen Schutz seiner religiösen bzw. weltanschaulichen Überzeugung zu vermitteln47 • Der Grund für diese Privilegierung besteht darin, daß Religion bzw. Weltanschauung eine Überzeugung ist, die für den Betroffenen in besonderer Weise verbindlich, mit seiner personalen Identität verknüpft ist48 • Erhöhte Verbindlichkeit entfaltet eine Überzeugung dann, wenn sie Fragen nach Herkunft und Ziel des Daseins, der Stellung des Menschen in der Welt und dem abstrakten Sinn des Lebens zum Gegenstand hat49 • Diese - sehr formale - Definition wird ergänzt durch negative Begriffsmerkmale. Sie knüpfen an die Unterscheidung von Religion, Wirtschaft und Politik an. Vereinigungen, die wirtschaftliche Ziele verfolgen, können nicht in jedem Falle als Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaften, ihre Lehre nicht immer als Religion oder Weltanschauung qualifiziert werden. Das Grundgesetz geht, wie schon die Unterscheidung von Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) einerseits und Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) andererseits zeigen, davon aus, daß zwischen religiösem und wirtschaftlich orientiertem Handeln unterschieden werden kann. Zwar sind auch Organisationen, die mit den christlichen Großkirchen verbunden sind, auf wirtschaftlichem Gebiet tätig. Dies gehört im Rahmen ihrer karitativen Arbeit zu den traditionellen Handlungsformen der Kirche5o . Niemand käme auf den Gedanken, den Kirchen wegen derartiger Aktivitäten die Eigenschaft von Religionsgemeinschaften abzusprechen. Eine neuartige Gruppierung, die mit dem Anspruch auftritt, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu sein, kann sich jedoch nicht auf eine ähnlich lange Tradition ihres religiösen bzw. weltanschaulichen Wirkens auch auf wirtschaftlichem Gebiet berufen 5 !. Ihre Lehre ist als Religion oder Weltanschauung anzusehen, wenn die Auseinandersetzung mit Herkunft und Sinn des Daseins nicht lediglich als Vorwand für wirtschaftliche Ziele dient, die die wahre Motivation für die Aktivitäten der Gemeinschaft darstellen 52 • Ob dies der Fall ist, beurteilt sich nach dem äußeren ErVgl. Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 93. Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 96. 49 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 141 ff., 166; ähnlich zum Inhalt religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen Obermayer, BK Art. 140 Rn. 40; Stein, Staatsrecht, S. 260; Müller-Valbehr, JZ 1981,41,42; ders., DÖV 1995,301,302; v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), S. 135, 151, jeweils m.w.N. 50 Vgl. BVerfGE 24, 236, 250, zur Sammlung von Sachspenden und anschließender Veräußerung. 5l Zur Bedeutung der Tradition für die Interpretation der Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unten S. 151 f. mit Fn. 185 f. 52 Vgl. BVerwGE 90, ll2, ll8; BAG NJW 1996, 143, 147; VGH BW NJW 1996, 3358, 3362; zustimmend: VG Hamburg NJW 1996,3363,3365; Marlak, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 46; weniger eindeutig Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 147, 47
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12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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scheinungsbild53 der betreffenden Gruppierung. Eine Vereinigung, die - wie die "Church of Scientology" - ihre Mitglieder zur Teilnahme an Kursen zum Preis von jeweils mehreren tausend DM auffordert54 , die eine Erlaubnis gewerblicher Arbeitsvermittlung zu erstreiten versucht55 und auch sonst in vielfältiger Hinsicht wirtschaftlich aktiv ist56 , ist nach ihrem äußeren Erscheinungsbild ,,in der Substanz"57 ein Wirtschaftsuntemehmen, bei dem weltanschauliche Aspekte allenfalls am Rande und als Vorwand58 für andere Ziele eine Rolle spielen. Eine solche Vereinigung ist weder Religions- noch Weltanschauungs gemeinschaft, ihre ,,Lehre" weder Religion noch Weltanschauung 59 . Zwar benötigt eine Religionsgemein150: religiöse bzw. weltanschauliche Ziele dürften nicht nur "Vorfrage" anderer Zwecke sein; schwer zu handhaben auch das Kriterium von Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 55, 56: politische oder wirtschaftliche Betätigung dürfe "nicht das Wesen einer Vereinigung ausmachen", die sich auf die verfassungsrechtlichen Garantien für Religion und Weltanschauung berufe; ähnlich Müller- Volbehr, in MarreJ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 122; ders., JZ 1981, 41,44; ders., JuS 1981,728,730; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 73; Heintschel v. Heinegg/Schäfer, DVBI. 1991, 1341, 1343, die alle darauf abstellen, wo der Schwerpunkt der Betätigungen liegt. 53 BVerfGE 83, 341, 353 (dazu oben S. 7 mit Fn. 14 ff.); vgl. auch VGH BW 1996,3358, 3362; Müller-Volbehr, JuS 1981, 728, 730; Heintschel v. Heinegg/Schäfer, DVBI. 1991, 1341,1344. 54 Vgl. nur Thiede, Geistesmagie für eine finanzstarke Kundschaft, in: Rheinischer Merkur Nr. 40 v. 7. 10. 1994, S. 93; ohne Angabe von Zahlen auch BAG NJW 1996, 143, 147. 55 Rheinische Post Nr. 246 v. 22. 10. 1994 - Politische Umschau. 56 Dazu statt vieler VGH BW NJW 1996, 3358, 3359f.; v. Billerbeck/Nordhausen, Der Sekten-Konzern. Scientology auf dem Vormarsch, 1993, S. 118 ff., pass.; K. Hermann, Filiale Bundesrepublik. Wie der Scientology-Konzern die westdeutsche Wirtschaft unterwandert, in: J. Hermann (Hrsg.), Mission mit allen Mitteln. Der Scientology-Konzern auf Seelenfang, 1992, S. 99ff.; Eiben, ,,Neue Religiosität" in der Bundesrepublik Deutschland, S. 32, sieht in der Entwicklung der "Scientology Church" eine ,,komplette Zielverschiebung"; das Ziel sei zunächst eine Art Laienpsychotherapie gewesen und bestehe jetzt allein darin, den Bestand der Organisation zu sichern. Zu den "ökonomischen Chancenstrukturen" neuartiger Gemeinschaften Eiben, ebd., S. 34 f. 57 Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 55. 58 So ausdrücklich BAG NJW 1996, 143, 146f., das die "Church of Scientology" als ,,Institution zur Vermarktung bestimmter Erzeugnisse" bezeichnet; demgegenüber vermochte OVG Hamburg NVwZ 1995, 498, 500 (r. Sp.) dies in dem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit ,jedenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" zu bejahen. 59 Vgl. neben BAG (Fn. 58): Hufen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 455, 465 m.w.N.: "Scientology" weder "science" noch ,,religion", sondern "business"; Listl, in: European Journal for Church and State Research 1995 (Vol. 2), S. 13, 19 f.: "Scientology Church as an Economic Enterprise"; vgl. auch Schatzschneider, BayVBI. 1995, 321, 322, der die "Church of Scientology" als ein "prosperierendes Wirtschaftsunternehmen" bezeichnet, "das unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft agiert"; Keltseh, in: Gross (Hrsg.), Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte, S. 141, 144, 149ff., 154, 167, der aber gleichwohl, S. 150, in dem, womit die "Church of Scientology" sich beschäftigt, eine Weltanschauung sieht; aus dem nichtjuristischen Schrifttum Dälle-Oelmüller, in: Baumgartner (Hrsg.), Verführung statt Erleuchtung: Sekten - Scientology - Esotherik, S. 127, 160f.;
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schaft finanzielle Mittel. Auch ist sie nicht gehindert, diese durch Entgelte für Güter oder Dienstleistungen mit religiösem Bezug zu erwirtschaften. Allein der Umstand, daß die Vereinigung hohe Einnahmen erzielt und ein beachtliches "Management" aufweist, rechtfertigt es nicht, ihre Lehre nicht als Religion oder Weltanschauung anzusehen60 • Sofern aber erkennbar ist, daß der eigentliche Zweck ihrer Tatigkeit in der Erzielung von Gewinnen besteht, handelt es sich bei der betreffenden Organisation nicht um eine Religionsgemeinschaft61 • Religiöse Überzeugungen, die mit der Absicht privaten Gewinns vertreten werden, sind nicht schutzwürdig 62 . Auch politische Ansichten sind von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen abgrenzbar. Die Unterscheidung zwischen Religion und Politik mag im Einzelfall schwierig sein - der Hinweis auf die Aktivitäten von Vereinigungen, die sich dem sog. politischen Islam zugehörig fühlen 63 , zeigt bereits die Problematik auf. Das Grundgesetz statuiert jedoch ein säkulares Staatsgebilde und setzt damit voraus, daß eine Trennung von Religion und Politik möglich ist64 . Die Trennung Schmidtchen, Sekten und Psychokultur, S. 74; Abel, NJW 1997,426 Fn. 1, der die Scientology-Organisation als einen "auf der Anwendung von Psychotechniken basierenden, mit Mitteln und Methoden der Wirtschaft arbeitenden multinationalen Konzern mit letztlich politische Zielsetzungen" bezeichnet; zweifelnd Haack/Gandow, Scientology, Dianetik und andere Hubbardismen, S. 12 f. A.A. ("Church of Scientology" Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft) wohl Alberts, NVwZ 1994, 1150, 1152 mit Fn. 45 unter Hinweis auf OVG Hamburg, NVwZ 1994, 192, betr. das Betreiben eines Gewerbes durch die "Church of Scientology"; das OVG Hamburg ging aber in dieser Entscheidung (NVwZ 1994, 192) ausdrücklich ohne nähere Prüfung davon aus, daß die "Church of Scientology" eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes sei, und zwar nur deshalb, weil es für die Lösung des Falles nicht darauf ankam; allerdings sah dasselbe Gericht in einer jüngeren Entscheidung die "Church of Scientology" als Weltanschauungsgemeinschaft an (OVG Hamburg NVwZ 1995, 498, 499f.). Auch die Bundesregierung sieht in der Scientology-Organisation wegen ihrer wirtschaftlich ausgerichteten Ziele weder eine Religions- noch eine Weltanschauungsgemeinschaft, BT-Drucks. 13 / 4132, S. 10. 60 Abel, in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 39. 61 Vgl. auch Starosta, Religionsgemeinschaften und wirtschaftliche Betätigung, S. 45, der mit Recht betont, daß ein Wirtschaftskonzern den verfassungsrechtlichen Status einer Religionsgemeinschaft nicht dadurch erlangen kann, daß er sich als solche bezeichnet, ohne sich entsprechend zu betätigen. 62 BVerwGE 61, 152, 160f.; a.A. Guber, ,)ugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 86f.: fehlende Vermarktung dürfe nicht verlangt werden. 63 Vgl. dazu Schulze, in: Nirumand (Hrsg.), Im Namen Allahs. Islamische Gruppen und der Fundamentalismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 9 ff.; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Dialog mit einer neu etablierten religiösen Minderheit in NRW, türkische Muslime und deutsche Christen im Gespräch, S. 36 ff. m.w.N. 64 Dazu Schmitt Glaeser, BayVBI. 1995, 577, 578, der die Trennung der religiösen von der politischen Sphäre mit Recht als eine der "großen zivilisierenden Leistungen des modernen Verfassungsstaates" bezeichnet; ferner Spieker, Entgöttlichung der Welt, Beschränkung der Politik, in: EA.Z. Nr. 236 v. 11. 10. 1995, S. 10.
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von Staat und Kirche gern. Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 1 WRV bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Zwar ist Religionsgemeinschaften, wie bereits ausgeführt, nicht versagt, den Bereich der Politik zu beeinflussen, sich zu politischen Fragen zu äußern. Das Grundgesetz geht nicht davon aus, daß Religion nur "Privatsache" ist65 . Andererseits müssen Religion und Politik nicht nur um der Trennung von Staat und Kirche willen, sondern auch im Interesse einer Abgrenzung der Religionsfreiheit von anderen Grundrechten, insbesondere dem der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und dem der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), unterschieden werden66 . Die Unterscheidung folgt dem gleichen Kriterium wie die Abgrenzung von religiösen und wirtschaftlichen Zielen. Damit von einer Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann, darf die politische Betätigung nicht das eigentliche Ziel der betreffenden Vereinigung sein, während das Religiöse bloße Randerscheinung ~st67. Gruppen, die vor allem eine Veränderung der bestehenden politischen Verhältnisse anstreben, sind keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften, auch wenn sie ihre Ziele mit einer religiösen bzw. weltanschaulichen Motivation begründen.
2. Die Unterscheidung von Religion und Weltanschauung Zu einer näheren Interpretation der zentralen, vor allem in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG benutzten Verfassungsbegriffe könnte ferner die Unterscheidung von Religion und Weltanschauung beitragen. Ob eine Abgrenzung der beiden Begriffe gelingen kann, erscheint jedoch fraglich. Die Verfassung scheint davon auszugehen, daß Religion und Weltanschauung inhaltlich klar voneinander unterschieden werden können. Dies spricht nicht nur aus Art. 4 Abs. 1 GG. Auch Art. 33 Abs. 3 Satz 2 GG ist zu nennen, der zwischen "Bekenntnis" und "Weltanschauung" differenziert, sowie alle Verfassungsnormen, die nach ihrem Wortlaut nur eines der beiden Phänomene erfassen. Dies sind vor allem das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG und die Garantie des Religionsunterrichts in Art. 7 Abs. 3 GG. Selbst die Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 7 WRVenthält, wie schon Gerhard Anschütz betonte, "zugleich eine Gegenüberstellung von Religion und Weltanschauung,,68. Dieser EinOben S. 111 mit Fn. 180. Zur Notwendigkeit möglichst objektiver Begriffsinterpretation im Interesse der Entfaltung von Verfassungsnormen oben 6. Kap. 67 Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 56. Zu den "politischen Chancenstrukturen" neuartiger (pseudo-) religiöser Gemeinschaften Eiben, "Neue Religiosität" in der Bundesrepublik Deutschland, S. 35 f. 68 Anschütz, WRV Art. 137 Anm. 12 (S. 649f.); vgl. auch Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, der bezeichnenderweise den "Grundsatz völliger Toleranz und völliger Gleichstellung aller Weltanschauungen" (S. 282) aus einer Gesamtbetrachtung aller Vorschriften der Reichsverfassung zu Fragen der Religion ableitet und der Vorschrift des Art. 137 65
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druck wird noch verstärkt durch die systematische Stellung der Norm, die ihren Anwendungsbereich auf den Regelungsgehalt des Art. 137 WRV zu begrenzen scheint69 . Der Blick auf den gesamten Normenbestand der Verfassung zu Religion und Weltanschauung führt zu dem Befund, daß den Vorschriften, in denen beide Phänomene gleich behandelt werden (Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 7 Abs. 5 GG, Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 WRV), andere gegenüberstehen, die eine Gleichbehandlung nicht ausdrücklich vorsehen (Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 7 Abs. 2 und 3 GG, Art. 140 GG LY.m. Art. 136 WRV, Art. 140 GG LY.m. Art. 141 WRV70). Die Gleichbehandlungsgebote beziehen sich nach dem Wortlaut der Verfassung stets nur auf einzelne Verbürgungen. Eine Begriffsbildung, die dieser differenzierten Wortwahl des Verfassunggebers Rechnung trägt und klar herausstellt, worin die Unterschiede zwischen Religion und Weltanschauung bestehen, stößt jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten. Vielfach werden die Kategorien von Transzendenz und Immanenz bemüht. Während die Religion eine den Menschen überschreitende und umgreifende ("transzendente") Wirklichkeit zugrunde lege, beschränke sich die Weltanschauung auf innerweltliche ("immanente") Bezüge71. Mit Recht ist jedoch darauf hingewiesen worden, daß aus philosophischer, religionswissenschaftlicher und theologischer Sicht die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz längst ins Wanken geraten ist mit der Folge, daß die Grenzen zwischen Religion und Weltanschauung zerfließen 72. Bereits wenige Jahre nach Erlaß der Weimarer Reichsverfassung wurAbs. 7 WRV lediglich die Bedeutung beimißt, daß "diese Gleichstellung ... sich nur auf die Erlangung der öffentlich-rechtlichen Eigenschaft beziehen" könne (S. 297). 69 Für ein derart beschränktes Anwendungsfeld des Art. 137 Abs. 7 WRV spricht sich namentlich Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 137 a.E., aus. A.A. (Gleichstellung von Religion und Weltanschauung gilt für alle inkorporierten Vorschriften der WRV): v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140/ Art. 137 WRV Rn. 219; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG Art. 140 Rn. 54 - jeweils ohne Begründung; im Hinblick auf Art. 141 WRVauch Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge. Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenwirkens von Staat und Kirche im Strafvollzug, S. 109. 70 Zu Art. 141 WRVa.A.: Eick-Wildgans (Fn. 69). 71 BVerwGE 90, 112, 115, wo das Gericht zu Unrecht auf BVerfGE 32, 98, 108 und BVerwGE 32, 244, 366 verweist; Ansätze zu den genannten Begriffsbestimmungen finden sich in der Rspr. des BVerwG, soweit ersichtlich, erstmals in der Entscheidung BVerwGE 61, 152, 156; damals wollte das BVerwG, ebd., S. 155, seine Definition noch auf den Anwendungsbereich des § 11 Abs. I Nr. 3 WPflG beschränken (vgl. bereits oben S. 11 f. Fn. 41). Zum Begriff der Weltanschauung i. S. d. Art. 4 Abs. 1 GG: BVerwGE 89, 368, 369ff.; OVG Hamburg NVwZ 1995,498,499; Hollerbach, Artikel "Weltanschauungsgemeinschaften", in: StL?, Bd. V, Sp. 927, 928. Ähnliche Umschreibungen bei Müller/Volbehr, JZ 1981,41, 42; ders., in: Marre/ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 111, 116; Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 284f.; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 282f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 17ff. Nach Spieldiener, Weltanschauung und Weltanschauungsgemeinschaften im Recht der Bundesrepublik Deutschland, S. 100ff., 108, wurde die Unterscheidung nach den Kriterien der Transzendenz und Immanenz auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates - unausgesprochen - vorausgesetzt.
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de erkannt, daß es "überaus schwer, ja fast unmöglich" ist, eine juristisch faßbare Unterscheidung zwischen Religion und Weltanschauung vorzunehmen73. Aus heutiger Sicht kann dieser Einschätzung nur zugestimmt werden. Die Philosophie hat der okzidentalen Antithese von Transzendenz und Immanenz den Boden entzogen74 und damit der Rechtswissenschaft das einzige handhabbare Kriterium zur Abgrenzung von Religion und Weltanschauung aus der Hand geschlagen75. Vor diesem Hintergrund müssen alle Differenzierungsversuche gekünstelt und willkürlich anmuten. Dies vermag auch der Hinweis auf die ,,Ergänzungsfunktion"76 des Weltanschauungs begriffs in der Verfassung nicht zu überspielen. Will der Verfassungsinterpret nicht den Vorwurf längst überwundenen positivistischen Denkens auf sich ziehen 77 , muß er die Unmöglichkeit einer eindeutigen Abgrenzung der beiden Begriffe zur Kenntnis nehmen und daraus verfassungsrechtlich die Konsequenzen ziehen. Das bedeutet vor allem, daß die Frage, ob eine Gemeinschaft eine Religion oder eine Weltanschauung vertritt, nur - sofern die genannten Voraussetzungen an die Thematik der Lehre 78 erfüllt sind - nach ihrem Selbstverständnis beurteilt werden kann79 . Ein anderes Kriterium steht nicht zur Verfügung. An die72 Obermayer, BK Art. 140 Rn. 42; ders., DVBI. 1981,615,618; Casper, Artikel "Weltanschauung", in: StC, Bd. V, Sp. 924, 925 f.; Reimer, Artikel "Weltanschauungsgemeinschaften", in: EvStL3 , Bd. 11, Sp. 3963, 3964f.; vgl. auch Kluth, Jura 1993, 137, 138, der den Bezug zu transzendenten Wesen oder Prinzipien nicht auf Religionen beschränkt. 73 Mausbach, in: J. Schrnitt (Hrsg.), Kirchliche Selbstverwaltung im Rahmen der Reichsverfassung, 1926, S. 133, 147; vgl. dens., Kulturfragen in der Deutschen Verfassung, 1920, S.72. 74 Vgl. etwa - neben den bei Obermayer, BK Art. 140 Rn. 42, genannten Denkern - Uvinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, S. 60 f. ("die Transzendenz in der Immanenz"), S. 126f., 140, 183f.; ferner die Einschätzung von Blumenberg, Artikel "Transzendenz und Immanenz", in: RGG3 , Bd. VI, Sp. 989, 995 f. 75 Auch die Überlegungen der Religionssoziologie zum Begriff der Religion führten in Folge der Unsicherheiten des Transzendenzbegriffs in die Resignation. So konstatiert Kehrer, Religionssoziologie, 1968, S. 4: "Die alte Streitfrage, ob die Religionssoziologie die Religion auf gesellschaftliche Strukturen reduzieren kann oder ob sie einen transzendenten Ursprung der Religion annehmen muß, ist als wissenschaftlich nicht lösbar zurückzuweisen." Vgl. auch dens., Einführung in die Religionssoziologie, S. 11; zustimmend Hach, Gesellschaft und Religion in der Bundesrepublik Deutschland, S. 18, der, S. 31, alle Versuche, den Aspekt der Transzendenz in den soziologischen Religionsbegriff einzubeziehen, ablehnt. Dazu auch Luhmann, Funktion der Religion, S. 38 ff. 76 Reimer, Artikel "Weltanschauungsgemeinschaften", in: EvStL3 , Bd. 11, Sp. 3963, 3966; zustimmend: Hollerbach, Artikel "Weltanschauungsgemeinschaften", in: StL7 , Bd. V, Sp. 927, 928; ders., in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 137. 77 Dazu vor allem F. Müller, Normstruktur und Norrnativität, S. 18, pass. 78 Oben S. 132 ff. 79 Vgl. Obermayer, BK Art. 140 Rn. 42 (S. 43); ders., DVBI. 1981, 615, 618; ders., ZevKR 27 (1982), S. 253, 258; Müller-Volbehr, JZ 1981, 41, 42; im Ergebnis führt die Gleichstellung von Religion und Weltanschauung allerdings dazu, daß ein Selbstverständnis, das Wert darauf legt, nicht Religion, sondern Weltanschauung zu sein, für die Rechtsanwendung irrelevant ist. Darauf weist mit Recht Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 15, hin. Kritisch gegenüber einer Berücksichtigung des Selbstverständ-
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ser Stelle stößt der Vollzug des Gebots zu möglichst objektiver Interpretation der religiös oder weltanschaulich geprägten Rechtsbegriffe 80 deutlich an eine Grenze. Festzuhalten bleibt, daß eine abschließende Definition der Begriffe ,,Religion" und "Weltanschauung" mit Hilfe objektiver Merkmale nicht möglich ist. Es bleiben aber einige (wenige) objektive Kriterien zur näheren Bestimmung dieser für alle Garantien religiöser Freiheit zentralen Begriffe. Dabei zeigt sich, daß Religion und Weltanschauung eine mit erhöhter Verbindlichkeit für den einzelnen ausgestattete Überzeugung voraussetzen, die sich auf Herkunft und Ziel des Daseins, der Stellung des Menschen in der Welt und den abstrakten Sinn des Lebens bezieht. Religionen und Weltanschauungen beschäftigen sich mit einer solchen Thematik um ihrer selbst willen; sie dient ihnen nicht als Vorwand für politische oder wirtschaftliche Ziele. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann nur mit Blick auf die jeweilige Lehre beantwortet werden. Neuartigen Gemeinschaften kann der Status einer Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaft ebenso wenig pauschal abgesprochen werden, wie ihre Lehren generell - nach Maßgabe ihres Selbstverständnisses - als religiös oder weltanschaulich anerkannt werden können 8!. Die "Church of Scientology" dürfte, wie dargelegt 82, weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft sein. Die Osho-(früher Bhagwan-)Bewegung 83 und die "Vereinigungskirehe" ("Mun-Sekte,,)84 dürften dagegen als Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaften anzusehen sein. Nicht eindeutig einzuschätzen ist derzeit noch die "Transzendentale Meditation,,85, da Anhänger der "TM" nicht selten einen religiösen oder weltanschaulichen Bezug ihrer Lehre in Abrede stellen 86 . nisses an dieser Stelle Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 164, der allerdings zu Unrecht aus Art. 7 Abs. 3 GG die Notwendigkeit einer Abgrenzung von Religion und Weltanschauung nach objektiven Kriterien ableitet; feruer Spieldiener, Weltanschauung und Weltanschauungsgemeinschaften im Recht der BundesrepubIik Deutschland, S. 315, dessen allgemein gehaltene Hinweise auf "die Normstruktur der maßgeblichen Bestimmungen" und auf "die Mißbrauchsversuche" jedoch nicht zu überzeugen vermögen. 80 Dazu oben S. 122 mit Fn. 12. 81 So aber die bereits oben S. 6 Fn. 11 genannten Autoren. Wie im Text bereits Muckei, JA 1995,343,345; weitergehend Müller-Valhehr, DÖV 1995,301,303, der sich zu Unrecht dagegen wendet, einer einzelnen Gemeinschaft den Grundrechtsschutz der Religionsfreiheit generell zu- oder abzuerkennen. 82 Oben S. 133 mit Fn. 59. 83 BVerwGE 90, 115f.; BVerwG NVwZ 1988, 937f.; BayVGH KirchE 23,173, 174f.; VGH BW NVwZ 1989,279; VG Köln KirchE 24,10, 28f.; Heintschel v. Heinegg/Schäjer, DVBI. 1991, 1341, 1343. 84 VG Köln KirchE 24, 81, 83; Schatzschneider, BayVBI. 1985, 321, 322; ablehnend: Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 147 (Organisation 'mit politischen Zielen). 85 BVerwGE 82, 76, 79, ließ offen, ob "TM" den Schutz des Art. 4 Abs. 1 GG genießt; die Vorinstanz OVG NW ZevKR 32 (1987), S. 219 bejahte die Frage. 86 Anschaulich der Vortrag der Kläger, wie er in BVerwGE 82, 76, 78, wiedergegeben wird. Vgl. auch Reller / Kießig /Tschaemer (Hrsg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften, S. 651 f.
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11. Glaubensfreiheit
1. Freiheit der Gedanken Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistet die Glaubensfreiheit, d. h. die Freiheit der inneren Überzeugung, der Gedanken in Fragen des Glaubens. Geschützt wird das forum internum 8? Dem Staat ist es verwehrt, auf die Bildung von Glaubensüberzeugungen Einfluß zu nehmen 88 . Der Normtext mit der besonderen Berücksichtigung weltanschaulicher Überzeugungen im Rahmen der Bekenntnisfreiheit deutet darauf hin, daß dabei der Begriff des Glaubens nur im Sinne einer religiösen inneren Einstellung, nicht im Sinne einer areligiösen oder antireligiösen Weltanschauung zu verstehen ist. Gegen eine solche Sichtweise spricht aber nicht nur die Unmöglichkeit einer eindeutigen Abgrenzung von Religion und Weltanschauung. Auch die besondere Verbürgung der weltanschaulichen Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG zeigt, daß die Gedankenfreiheit auch im Hinblick auf Weltanschauungen geschützt sein soll. Die Freiheit zum weltanschaulichem Bekenntnis ist ohne die Freiheit zur Bildung der entsprechenden Überzeugung nicht denkbar89 . Der Sinn eines eigenen Rechts der Glaubensfreiheit ist häufig in Abrede gestellt worden. In einer "Kritischen Würdigung" einer auf der Grundlage des Art. 6 HehE erarbeiteten Fassung der Religionsfreiheit bestritt Thoma die Notwendigkeit einer Freiheit des Glaubens und der Überzeugung: "Wer sollte die antasten können,,90. Dahinter stand die weitverbreitete Auffassung, daß der Glaube etwas rein Innerliches sei, nach außen nicht wahrnehmbar werde und infolgedessen dem Recht, das nur nach außen in Erscheinung tretende Umstände zum Gegenstand haben könne, entzogen sei9l . Nicht erst die Psychotechniken92 mancher ,,Jugendsekten" haben jedoch das Bewußtsein dafür geschärft, daß auch Einsichten und Überzeugungen beeinflußt werden können, ja manipulierbar sind. Bereits kurze Zeit nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde Klage geführt über den "perversen Einbruch der Technik in die leib-seelisch-geistigen Zusammenhänge der menschlichen Persönlichkeit,,93. 87 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 66; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 32, 49f.; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 41; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 19; Listl, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 455: ,,reines Internum". 88 Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2, Bd. I, S. 439, 455. 89 Vgl. Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 67. 90 v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR (n.F.) 1 (1951), S. 73. 91 Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland, 1891, S. 1 f.; Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, S. 108 f. m.w.N. Anders aber Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 323, der mit Recht darauf hinwies, daß staatliche Rechtssätze die freie Überzeugungsbildung beeinflussen können. 92 Dazu Hemminger, Artikel ,,Psychotechniken", in: Gasper I Müller I Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Sp. 854 ff.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Gefaludet sei nicht die Freiheit der Meinungsäußerung , sondern die Freiheit der Meinungsbildung 94 . Antireligiös (und mit Blick auf die negative Giaubensfreiheit9S auch religiös) motivierte Manipulationen und Suggestionen können den Schutzbereich der Glaubensfreiheit berühren und rufen das Grundrecht auf den Plan96 • 2. Die negative Glaubensfreiheit
Ob die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG auch eine negative Seite hat, die seinem Träger das Recht gibt, von der Freiheit zur Bildung eines Glaubens keinen Gebrauch machen zu müssen97 , ist nach wie vor umstritten. Den Befürwortern98 einer solchen besonderen Gewährleistung wird entgegengehalten, die Glaubensfreiheit sei kein Grundrecht, das ein positives Tun schütze99 • Die Annahme einer negativen Seite komme aber nur für solche Grundrechte in Betracht, die dem Bürger das Recht zur ungehinderten Vornahme einer bestimmten Handlung gewährtenl()(). Auch wird eingewandt, alles was mit Religion und Weltanschauung zusammenhänge, sei in rechtlicher Hinsicht irrelevant. Daher verbiete es sich, Verhaltensweisen auf religiösem Gebiet einer positiven oder negativen Freiheit zu unterstellen. Die Unterscheidung könne nur aufgrund einer inhaltlichen Bewertung 93 Ridder, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. II, S. 243, 246, der allerdings gleichwohl, S. 248, die innere Betätigung des freien Geistes als weder grundrechtlich geschützt noch rechtlich oder tatsächlich beschränkbar ansieht. 94 Herben Krüger, Der Rundfunk im Verfassungsgefüge und in der Verwaltungsordnung von Bund und Ländern, 1960, S. 45 Fn. I (Hervorhebungen im Original). Zum Ganzen Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, S. 15 ff. m.w.N. 95 Dazu sogleich unten 2. 96 Vgl. Stein, Staatsrecht, S. 260; im Ergebnis auch Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 455, wenn er betont, daß der Schutz freier Bildung von Glaubensüberzeugungen rechtlicher Regelung zugänglich ist. Vgl. auch Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II, S. 319, 323. A.A.: Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, S. 30ff., der allerdings, S. 34, zu Unrecht davon ausgeht, daß weder die Glaubens- und Gewissensfreiheit noch die Bekenntnisfreiheit etwas über das Zustandekommen des Glaubens aussagen. 97 Näher zum Inhalt der negativen Glaubensfreiheit unten S. 143 ff. 98 Vgl. etwa BVerfGE 93, 1,22 f. (Kreuz im Schulraurn), dem aber mit Recht vorgeworfen wird, der negativen im Verhältnis zur positiven Religionsfreiheit eine allzu starke Stellung eingeräumt zu haben (dazu unten S. 179 f. mit Fn. 384 und die dortigen Nachw.); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 74ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 93 ff.; v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 13; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 78; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 24; im Grundsatz auch Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 17. 99 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 140 f. 100 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 130f.; zum Begriff des Grundrechts mit einer ,.handlungsrechtlichen" Seite ebd., S.. 132ff.; die Unterscheidung von Handlungsrechten und anderen, rein abwehrrechtlich ausgerichteten Grundrechten wird vor allem vertreten von Menen, VerwArch. 73 (1982), S. 103; W. Schmidt, AöR 91 (1966), S. 42, 54; Degenhan, JuS 1990, 161 f.
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erfolgen, die den staatlichen Stellen jedoch nach dem Grundgesetz versagt sei. Das Grundrecht der Religionsfreiheit eröffne die Möglichkeit, sich dem Gebiet von Religion und Weltanschauung zu widmen, so daß jede aktive freie Betätigung in dem durch dieses Grundrecht beschriebenen Freiheitskreis unabhängig von ihrem Inhalt als positive Äußerung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu bezeichnen sei 101. Der wahre Grund für die Unterscheidung von positiver und negativer Religionsfreiheit liege in dem rechtspolitischen Anliegen, dem Religiösen und seinen Organisationen den gesicherten traditionellen Platz in der Öffentlichkeit zu erhalten lO2 • Die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Freiheitsrechten finde sich demgemäß nur im Bereich der Religionsfreiheit, sonst "nirgendwo,,103. Diese Behauptung ist jedoch unrichtig. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum werden seit langem 104 alle Grundrechte darauf untersucht, ob und inwieweit ihnen jeweils eine negative Dimension zukommt 105. Außerhalb des Anwendungsfeldes der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit besteht inzwischen weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die Grundrechte eine negative Komponente aufweisen 106. Der Freiheit, sich aktiv zu entfalten, entspricht die Freiheit, nicht mit Handlungspflichten belegt zu werden 107. Diese Sicht führt nicht zur "staatlichen und gesellschaftlichen Funktionslosigkeit der Grundrechte,,108. Sie ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil der grundrechtlichen Verhaitensfreiheit l09 101 E. Fischer, Volkskirehe ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 70f.; ihm folgend J. Neumann, ZRP 1995, 381, 385 ("nutzlose und nur Verwirrung stiftende Unterscheidung zwischen 'negativer und positiver Religionsfreiheit"'), dessen Behauptung, das Grundgesetz kenne den Begriff der Religionsfreiheit nicht, schon durch einen Blick auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV widerlegt wird. Vgl. auch Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 40. 102 Renck, NVwZ 1994, 544 f.; im Ansatz bereits ders., JuS 1989, 451, 455; zustimmend J. Neumann, ZRP 1995, 381, 385 Fn. 22; kritisch auch Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. 90 Fn. 165. 103 Renck, JuS 1989,451,455. 104 Vgl. etwa Dürigs im Jahre 1958 angestellte Überlegung zur (allerdings von Dürig abgelehnten) negativen Komponente der körperlichen Bewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 GG (Dürig in: Maunz I Dürig, GG Art. 2 Abs. II Rn. 50); ferner die Bestandsaufnahme von Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 20 ff. mit umfangr. Nachw. 105 Vgl. nur Sachs, in: Stern, Staatsrecht III11, S. 630f. und die dort, Fn. 34, ausgebreitete Dokumentation des Meinungsstands zu den einzelnen Grundrechten. Dazu auch Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Grundrechte, S. 36ff., der jedoch, S. 149f., einer negativen Glaubensfreiheit und generell, S. 249, einer negativen Komponente von Grundrechten, die Handlungsrechte statuieren, ablehnend gegenübersteht. 106 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 5 Abs. I, 11 Rn. 40: "alle Grundrechte des GG mit Ausnahme des Art. 611"; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1065f.; Merten, VerwAreh. 73 (1982), S. 103, 106, jeweils m. umfangr. Nachw.; einschränkend allerdings Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 1, S. 629 f. 107 Degenhart, JuS 1990, 161, 166. 108 So aber Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 538 f. 109 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatrecht 111/1, 629.
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und Ausdruck des Gedankens, daß der Bürger unter der Geltung des Grundgesetzes nicht verpflichtet ist, von seinen Grundrechten Gebrauch zu machen llO . Soll der einzelne wirksam davor geschützt sein, daß Freiheit von Zwang nicht in Zwang zur Freiheit umschlagen kann, müssen die Grundrechte nicht nur Garantien der Betätigung, sondern auch Garantien der Nichtbetätigung enthalten. Frei ist der Bürger nur, wenn sowohl die Ausübung als auch die Nichtausübung seiner Grundrechte sanktionslos bleibt II I. Die terminologische Abgrenzung dieser beiden Aspekte grundrechtlichen Schutzes ist nicht das Ergebnis einer aufwendigen rechtspolitischen Strategie ll2 • Die Unterscheidung trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, daß grundrechtliche Freiheit nur besteht, solange der Bürger eine Verhaltensalternative hat, die auch darin liegen kann, die ausdrücklich geschützte Handlung nicht vorzunehmen ll3 . Die begriffliche Differenzierung zeigt die verschiedenen Dimensionen des grundrechtlichen Schutzes auf. Mit ihr ist noch keine Aussage darüber getroffen, daß Art und Umfang des Grundrechtschutzes unterschiedlich sind 1l4 . Die Unterscheidung von Handlungsrechten und anderen Freiheitsrechten mit rein abwehrrechtlicher Tendenz zwingt nicht dazu, den Gedanken negativer Glaubensfreiheit aufzugeben. Die an dieser Unterscheidung ansetzende, namentlich von Johannes Hellermann formulierte Kritik 1l5 vermag nicht deutlich zu machen, warum bei Nicht-Handlungsrechten eine negative Seite von vornherein ausgeschlossen sein soll. Hellermann verweist auf Überlegungen zu Art. 10, Art. 13 sowie Art. 16 a bzw. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. 1l6 . Allein der Umstand, daß bei diesen Grundrechten eine negative Seite bislang nicht herausgearbeitet wurde und auch in der Praxis keine Bedeutung erlangt hat, spricht indessen nicht gegen ihre Existenz. Auch für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird eine negative Seite nur am Rande diskutiert, meist mit Blick auf die Ablehnung lebensrettender bzw. die Gesundheit wiederherstellender Maßnahmen 117. Hellermann schließt eine negative Seite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aus, weil er in ihm kein Handlungsrecht sieht 1l8 . Gerade das Recht auf körper110 V gl. Stern, Staatsrecht III /2, S. 1065 f., unter Hinweis auf die insbesondere von Herbert Krüger vertretene Gegenmeinung; ferner Merten, VerwArch. 73 (1982), S. 103, 107 ff. m.w.N. 111 Vgl. Merten, VerwArch. 73 (1982), S. 103, 106f. 112 Dies unterstellt jedoch Renck (oben Fn. 102). 113 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 288. 114 Zur Kollision von positiver und negativer Freiheit der Religionsausübung unten S.176ff. 115 Oben Fn. 100. 116 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 35, 38 f., 130 f. mit Fn.2. 117 Näher Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 33 und die dortigen Nachw. 118 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 136 f.
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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liche Unversehrtheit zeigt aber, daß das Problem der negativen Freiheitsrechte mit der Differenzierung zwischen Handlungs- und reinen Abwehrrechten nicht zu lösen ist. Das Recht auf Abwehr vor Beeinträchtigungen der Gesundheit (insoweit ist die "positive Seite" des Grundrechts betroffen) läßt sich nicht strikt vom Recht auf Ablehnung staatlicher Heileingriffe (ein Fall der negativen Seite des Grundrechts) trennen. Dies wird sogleich deutlich, wenn eine - vorübergehende - Beeinträchtigung der Gesundheit, wie häufig, der Wiederherstellung der Gesundheit dient. Gleiches gilt für die Glaubensfreiheit, die auch ein bloßes Nicht-Handlungsrecht ohne negative Seite sein soll119. Das Recht, einen Glauben haben zu dürfen, wäre unvollständig ohne das Recht, keinen Glauben haben zu müssen. Die positive Seite des Grundrechts, den für wahr, ja als absolut erkannten Glauben anzunehmen, setzt notwendig die negative Glaubensfreiheit zur Ablehnung eines jeden anderen Glaubens voraus 120. Rechtliche Freiheit zur Bildung eines Glaubens besteht erst, wenn es sowohl erlaubt ist, dies zu tun, als auch, dies nicht zu tun 121. Die Glaubensfreiheit zählt zu den Grundrechten, die eine negative Seite aufweisen 122 . Die negative Glaubensfreiheit umfaßt zum einen die Freiheit zu einer areligiösen, antireligiösen oder auch glaubens- bzw. weltanschauungs skeptischen Überzeugung 123, ohne daß diese sich auf eine Religion oder Weltanschauung stützt (andernfalls wäre sie bereits von der positiven Gedankenfreiheit umfaßt 124). Zum anderen schützt die Glaubensfreiheit in ihrer negativen Ausrichtung auch das Recht, keinen religiösen Glauben bzw. keine weltanschauliche Überzeugung bilden zu müssen 125 . Diesem letztgenannten Verständnis negativer Glaubensfreiheit kann nicht entgegengehalten werden, Art. 4 GG diene dem Schutz der geistigen Freiheit; Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 140 f. Vgl. M. Heckel, in: Marrel Schümmelfederl Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 129, der allerdings generalisierend von "Religionsfreiheit" spricht. 121 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 203, unter Hinweis auf BVerfGE 12, 1,4, für die Bekenntnisfreiheit; ferner Herzog, Artikel "Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit. II. Rechtlich", in: EvStL 3, Sp. 1153, 1162; Bleckmann, Staatsrecht lI-Die Grundrechte, S.285f. 122 Dieser Gedanke wurde erstmals in den Verhandlungen zur Paulskirchenverfassung geäußert, vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 481 und 482 ("ein neuer Gedanke, mit dem die Paulskirche an der Wiege der negativen Grundrechtsausübung steht"). 123 Dies dürfte weitgehend unstreitig sein. Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 19; Preuß, AK-GG, Art. 4 Rn. 17. 124 Darauf weisen mit Recht v. Münch, in: v. Münch I Kunig, GG Art. 4 Rn. 23, und Karlen, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, S. 206, hin. 125 Vgl. v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 44; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 78; H.-P. Schneider, in: Greive (Hrsg.), "Gott im Grundgesetz ?" Loccumer Protokolle 14/93, S. 10, 14f.; im Ergebnis auch v. Münch, in: v. Münchl Kunig, GG Art. 4 Rn. 23, der die Frage allerdings als Scheinproblem bezeichnet; teilweise ablehnend Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 17 f.; a.A. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 140: "das bloße Nichthaben eines Glaubens ist durch die Glaubensfreiheit nicht geschützt". 119
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
wer von ihr keinen Gebrauch mache, sei nicht schutzbedürftig 126 • Auch derjenige, der - aus welchen Gründen auch immer - Fragen der Religion und jedweder Weltanschauung indifferent gegenübersteht, kann Indoktrination und Suggestion im Namen einer Religion oder Weltanschauung ausgesetzt sein 127 . Zwar schützt die Glaubensfreiheit nicht davor, religiös motivierte Äußerungen oder Handlungen anderer oder religiöse Symbole zur Kenntnis nehmen zu müssen 128 • Andernfalls wäre die von Art. 4 Abs. 2 GG geschützte Religionsausübung unter den Verhältnissen der vielbeschworenen multireligiösen Gesellschaft 129 gar nicht möglich. Die Wahrnehmung der Religionsausübung Dritter mag auf die indifferente Haltung des einzelnen Einfluß haben. Zu einem Grundrechtsproblem wird dies aber nur unter den engen Voraussetzungen der Grundrechtsgeltung unter Privaten 130. Die Frage nach dem Grundrechtsschutz für eine religiös und weltanschaulich indifferente Einstellung setzt dagegen bei der staatsgerichteten Seite des Grundrechts ein. Der weltanschaulich Gleichgültige, der sich gar nicht um die Gewinnung einer Weltanschauung bemüht, macht zwar von den Möglichkeiten, die ihm Art. 4 Abs. 1 GG bietet, keinen Gebrauch J31. Dies betrifft aber allein die positive Seite des Grundrechts. Nur bei ihr kann davon gesprochen werden, daß ein bestimmtes Verhalten des Grundrechtsträgers thematisch dem betreffenden Grundrecht nicht zugeordnet werden kann 132. Die negative Seite der Grundrechte dagegen schützt das Recht, die (positive) Ausübung des Grundrechts unterlassen zu dürfen 133 • Danach hat auch So aber Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 18. Dies gesteht auch Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 18, zu. Zum Schutz der Glaubensfreiheit vor religiöser oder weltanschaulicher Indoktrination vgl. auch v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 19; Karlen, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, S. 226. 128 Vgl. Rüjner, NJW 1974,491; dazu auch - unter dem Blickwinkel der negativen Religionsausübungsfreiheit - unten S. 153 mit Fn. 198. Richtig (insoweit) auch BVerfGE 93, 1, 16: ,,kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben"; zur übermäßig verstärkten Stellung der negativen Religionsfreiheit in dieser Entscheidung des BVerfG unten S. 179 mit Fn. 384 f. 129 Vgl. etwa Richter, RdJB 1993, 257, 259; Hellennann, in: Grabenwarter/Hammerl PelzllSchulev-Steindl/Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 144; aus soziologischer Sicht, insbesondere mit Blick auf den Islam: Leggewie, Alhambra - Der Islam im Westen, 1993. 130 Dazu bereits oben S. 119 mit Fn. 26f. 13l Vgl. Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 18; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung), Rn. 31; a.A. Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 158 ff., der, S. 159, von der zweifelhaften These ausgeht, die bewußte Nichtbefassung mit Herkunft und Sinn des Daseins, die dezidierte Indifferenz habe keinen geringeren Einfluß auf die Identität und Individualität des Menschen als die Ausbildung einer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung. 132 Diese Unterscheidung kommt bei Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 18, nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck, wenn er argumentiert, die Lebenssäußerungen des religiös und weltanschaulich Indifferenten fielen gar nicht in den Normbereich des Grundrechts. 133 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 78; ähnlich Bethge, JA 1985,249,253; vgl. auch M. Heckei, in: Marre I Schümmelfeder I Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema 126 127
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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derjenige, dessen Nichtglaube auf keinerlei religiöser oder weltanschaulicher Motivation beruht, am Schutz der negativen Glaubensfreiheit teil l34 •
IH. Bekenntnisfreiheit 1. Schutz der Kundgabe religiöser Überzeugungen Art. 4 Abs. 1 GG garantiert auch die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Die Vorschrift schließt eine Lücke im Text des Art. 135 Satz I WRV. Der Parlamentarische Rat entschied sich für eine ausdrückliche Garantie der Bekenntnisfreiheit, nachdem Thoma das Fehlen dieser Verbürgung in früheren Vorlagen kritisiert hatte 135. Damit wandte sich der Verfassunggeber bewußt gegen eine Gleichsetzung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit l36 . Daß die Bekenntnisfreiheit auch nicht mit der Freiheit der Religionsausübung in eins gesetzt werden kann, diese vielmehr selbständige Bedeutung hat, wurde bereits dargelegt l37 . Die Bekenntnisfreiheit schützt das Verkünden einer religiösen Überzeugung und das Reden über sie l3s • Sie unterscheidet sich von der Glaubensfreiheit nicht hinsichtlich des Gegenstandes der Garantie, sondern in der Verhaltensmodalität l39 • Mit Recht wird die so verstandene Bekenntnisfreit als lex specialis gegenüber der in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit verstanden l40 • Damit garantiert Art. 4 Abs. 1 GG das ,,Äußern, Aussprechen (profiteri) einer GlaubensStaat und Kirche (30), S. 126: "die negative Religionsfreiheit, nicht zur Religionsausübung gezwungen zu werden ... ". 134 Im Ergebnis auch Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 26; a.A.: Liegmann, Eingriffe in die Religionsfreiheit als asylerhebliche Rechtsgutsverietzung religiös Verfolgter, S. 98 f., die sich allerdings zu Unrecht auf Herzog beruft; Herzog bringt zwar seine - der hier vertretenen Auffassung im Ergebnis entsprechende - Ansicht nicht in der von Liegmann ebd. zitierten Stelle in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 55, wohl aber in Rn. 58 f. deutlich zum Ausdruck. Zur Ansicht v. Münchs, auf die Liegmann sich ebenfalls beruft, bereits oben Fn. 125. m v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR (n.P.) 1 (1951), S. 73f. 136 Dazu bereits oben S. 127 f. 137 Oben S. 126f. 138 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 82; Fehlau, JuS 1993,441,446; ähnlich Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 54: "die Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Mitwelt kundzutun"; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 28; Stein, Staatsrecht, S. 260; anders: Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 142f.; ders., in: Grabenwarterl Hammer I Pelzll Schulev-Steindl I Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137, der die Bekenntnisfreiheit als subsidiäre Garantie im Verhältnis zur Religionsausübungsfreiheit versteht. 139 Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 81. 140 So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 83; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 19; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 98; Weinzierl, ArchKathKR 132 (1963), S. 30, 50; Stein, Staatsrecht, S. 259: ,,Meinungsfreiheit in Glaubensfragen"; a.A.: Scheuner, DÖV 1967,585,590; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 36. 10 Muckel
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
überzeugung,,141 als eigenständiges Grundrecht. Die noch unter der Geltung der Weimarer Verfassung bestehende Unklarheit, ob es insoweit des Rückgriffs auf das Grundrecht der allgemeinen Meinungsfreiheit bedarf!42, ist beseitigt. Eine über den Schutz verbaler (oder auch zeichenhafter) Äußerung der Glaubensüberzeugung hinausgehende Ausweitung der Bekenntnisfreiheit auf eine "Lebensführung gemäß der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung"143 ist nicht möglich. Eine solche Interpretation würde die Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG mit der Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG weitgehend zur Deckung bringen!44. Dies aber wäre ein Ergebnis, das vom Verfassunggeber nicht gewollt wurde!45 und von Wortlaut und Systematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht nahe gelegt wird. Danach ist zwar die Werbung für einen religiösen Glauben oder eine weltanschauliche Überzeugung, einschließlich des Rechts auf Abwerbung von einem anderen Glauben, vom Schutz der Bekenntnisfreiheit umfaßt!46. Die Kundgabe der religiösen Überzeugung darf aber nur im Wege geistiger Kommunikation erfolgen!47. Dazu zählt nicht die Anwendung von Gewalt, List oder Drohung!48. Die manchen neuartigen Gemeinschaften nachgesagten Psychotechniken 149 sowie das sog. flirty fishing 150 sind daher ebenso wenig Ausdruck der Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wie Versuche, einzelne Personen unter Zwang am Verlassen der Gemeinschaft zu hindern. Aber auch das Tragen eines Kopftuches, des Tschadors oder eines Turbans ist nicht durch das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit geschützt l5l . Diese Verhaltens141 Anschütz, WRV Art. 135 Anm. 4 (S. 619); vgl. auch dens., in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR, Bd. 11, S. 675, 684. 142 Für die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf Art. 118 WRV: Anschütz, WRV Art. 135 Anm. 4 (S. 619); ders., in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR, Bd. 11, S. 675,684, mit dem Hinweis darauf, daß die Bekenntnisfreiheit die Beschränkungen der Meinungsfreiheit teile; a.A. (Äußerungsfreiheit durch Art. 135 geschützt): Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 323, 328, 329. 143 v. Campenhausen, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 52. 144 Vgl. v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 45; v. Campenhausen, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 36,61. 145 Oben S. 128 f. 146 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 84; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 19. 147 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 84; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 19; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Art. 4 Rn. 29. 148 Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 19; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Art. 4 Rn. 29. 149 Dazu bereits oben S. 65 mit Fn. 34, S. 139 mit Fn. 92. 150 Dazu oben S. 64 f. mit Fn. 25. 151 A.A. für das Tragen des Tschadors: Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindl/Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137, auf der Grundlage eines - weiten - Verständnisses der grundrechtlichen Bekenntnisfreiheit.
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weisen mögen den Schutz der Religionsausübungsfreiheit 152 nach Art. 4 Abs. 2 GG genießen. Als Fonn einer religiösen Meinungsäußerung und damit als Bekenntnis i. S. d. Art. 4 Abs. I GG kann das Tragen der genannten Kleidungsstücke regelmäßig nicht angesehen werden i53 . 2. Die negative Bekenntnisfreiheit
Wie die Glaubensfreiheit so hat auch die Bekenntnisfreiheit eine negative Seite. Sie schützt das Recht, die eigene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung nicht zu offenbaren i54 . Diese Komponente des Grundrechts wird allerdings nicht durch Art. 4 Abs. I GG gewährleistet 155 , sondern durch die ausdrückliche Garantie des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV 156 • Ob daneben auch die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Bekenntnisfreiheit eine negative Seite hat, die lediglich hinter die spezielle Nonn des Art. 136 Abs. 3 Satz I WRV zurücktritt l57 , bedarf keiner Entscheidung. Nach seinem eindeutigen Wortlaut ist Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV jedenfalls der vorrangige nonnative Anknüpfungspunkt, wenn es um die negative Bekenntnisfreiheit geht l58 . 152 Nach h.M. ist das Tragen des traditionellen muslimischen Schleiers ein Akt der Religionsausübung gern. Art. 4 Abs. 2 GG, vgl. etwa VG Berlin NVwZ 1990,100 =KirchE 27,17, 19; Spies, NVwZ 1993,637,638 m.w.N.; aus islamwissenschaftlicher Sicht wird der Schleier heute vielfach nicht als Ausdruck einer religiösen, sondern einer politischen Haltung oder einer Sitte angesehen, vgl. etwa die Äußerung des Islamwissenschaftlers Mohammed Arkoun, zitiert nach Die Zeit Nr. 52 v. 23. 12. 1994, S. 30; zu den verschiedenen Deutungen des Kopftuchs Lerch, Nicht nur ein kleines Stück Stoff, in: EA.Z. Nr. 41 v. 18. 2. 1997, S. 11; ferner Erck, Der Prophet als erster Befreier, in: Rheinischer Merkur Nr. 35 v. 2. 9. 1994, S. 6; Schütt, Zwischen Koran und Grundgesetz, in: EAZ. Nr. 91 v. 19.4. 1995, S. 10, über ein Kopftuchverbot an einer Schule in Peine; zu dem Fall einer muslimischen Referendarin, die während des Unterrichts vor Schulklassen das Kopftuch nicht ablegen möchte: EAZ. Nr. 42 v. 19.2. 1997, S. 10. 153 AA.: Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 95; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 36. 154 Vgl. Badura, Staatsrecht, eRn. 54 (S. 110); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 98; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 23; Listl, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 456; Weinzierl, ArchKathKR 132 (1963), S. 30, 51; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 99; Karlen, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, S. 222 f. 155 Zur gleichwohl bestehenden Möglichkeit, gestützt auf eines der durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Grundrechte Verfassungsbeschwerde zu erheben, unten S.165. 156 Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 161 f., 170. Anders die h.M., die in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV lediglich eine deklaratorische Wiederholung der ohnehin in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten negativen Bekenntnisfreiheit sieht, vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 98; Listl, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 456 m.w.N.; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 99 a.E. 157 Verneinend Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 161 f. 158 Eine gegenüber Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV spezielle Garantie negativer Bekenntnisfreiheit enthält Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG. Die Vorschrift erfüllt eine nicht unwichtige Klarstellungsfunktion für einen besonderen Lebensbereich, vgl. Preuß, AK-GG
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
IV. Religionsausübungsfreiheit 1. Freiheit der Ausübung von Religion und WeltansclUluung
Art. 4 Abs. 2 GG garantiert die ungestörte Religionsausübung. Nach ihrem Wortlaut schützt die Vorschrift nicht die Ausübung einer Weltanschauung (wie z. B. die Anwendung von Meditationstechniken sogenannter Psychogruppen 159 , spiritistische Sitzungen oder andere okkulte Praktiken l60). Unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 GG wird bisweilen die Auffassung vertreten, die Ausübung weltanschaulicher Überzeugungen sei nicht von Art. 4 Abs. 2 GG erfaßt 161 • Weltanschaulich motivierte Aktivitäten, die über das bloße Bekenntnis hinausgingen, seien von anderen Grundrechten abgedeckt, etwa der Berufsfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, notfalls dem Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit 162 . Daraus, daß Art. 4 Abs. 2 GG die Ausübung von Weltanschauungen nicht ausdrücklich erwähnt, kann jedoch nicht gefolgert werden, die Verfassung beabsichtige einen unterschiedlichen Schutz von Religion und Weltanschauung 163 . Damit wird vorausgesetzt, daß beide Phänomene juristisch eindeutig voneinander abgegrenzt werden können. Da aber tragfähige Kriterien für eine Unterscheidung von Religion und Weltanschauung nicht zur Verfügung stehen l64 , erArt. 4 Abs. 1,2 Rn. 23, der in Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG eine "Konkretisierung" der negativen Bekenntnisfreiheit sieht, als deren Grundlage er allerdings zu Unrecht vor allem Art. 4 Abs. 1 GG betrachtet. Entgegen Preuß, ebd., dürften Art. 7 Abs. 2 GG und Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 4 WRV jedoch nicht Ausdruck der negativen Bekenntnis-, sondern der negativen Religionsausübungsfreiheit sein (dazu unten S. 153 f.). 159 Zu den einzelnen Organisationen vgl. Relier/Kießig/Tschoemer (Hrsg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften, S. 859 ff., wobei allerdings zu betonen ist, daß die dort neben anderen aufgeführte "Scientology" nicht als Weltanschauung angesehen werden kann, vgl. oben S. 133 mit Fn. 59 sowie S. 138 mit Fn. 82. 160 Zur Bewertung des Spiritismus und anderer okkulter Lehren als Weltanschauungen vgl. Hutten, in: Reller/Kießig/Tschoerner (Hrsg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften, S. 942, 944; vgl. auch ebd., S. 515 ff.; zu den einzelnen Praktiken E. Bauer, Artikel "Spiritismus", in: Gasper I Müller I Valentin (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Sp. 1000, 1003 f. 161 Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung), Rn. 103; Isensee, Diskussionsbeitrag in; Marre/Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 161; Fehlau, JuS 1993, 441, 446, der sich allerdings für eine Verfassungsänderung ausspricht, mit dem Ziel, auch die ungestörte Ausübung von Weltanschauungen unter den ausdrücklichen Schutz des Grundgesetzes zu stellen; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 33; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 45, die aber beide die Garantien des Art. 4 Abs. 1 GG so weit auslegen, daß sie nicht hinter der Religionsausübungsfreiheit zurückbleiben. 162 Isensee, Diskussionsbeitrag in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 161. 163 So aber Fleischer, der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 11, der allerdings im weiteren Verlauf seiner Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, daß Art. 4 Abs. 2 GG auch Weltanschauungen schütze (S. 163) und lediglich Art. 7 Abs. 3 GG eine Unterscheidung von Religion und Weltanschauung erfordere (S. 164, 166). 164 Oben S. 135 ff.
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faßt der Schutz religiös motivierten Verhaltens auch Aktivitäten, die Ausdruck einer Weltanschauung sind. Ungestörte Religionsausübung i. S. d. Art. 4 Abs. 2 GG bedeutet zugleich ungestörte Ausübung von Weltanschauung 165. Ohne uneingeschränkte Gleichbehandlung von Religion und Weltanschauung besteht, wie schon Joseph Mausbach betont hat l66 , keine volle Religionsfreiheit. Diese Interpretation zwingt nicht zu einem Verständnis der Garantien aus Art. 4 Abs. I und 2 GG als einheitliches umfassendes Grundrecht l67 • Die Gleichsetzung von Religion und Weltanschauung hebt nicht die vom Wortlaut der Verfassung vorgegebene und der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. I und 2 GG entsprechende l68 Unterscheidung zwischen Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit auf. Insoweit können sehr wohl - anders als für Religion und Weltanschauung - Abgrenzungskriterien gefunden werden.
2. Keinfest umrissener Begriff der Religionsausübung Die Freiheit der Religionsausübung umfaßt unzweifelhaft alle kultischen Handlungen, also insbesondere Gottesdienst, Gebet, die Feier von Sakramenten, aber auch kirchliche Kollekten, Prozessionen, das Zeigen von Kirchenfahnen und Glokkenläuten l69 • Dies sind jedoch nicht die Formen religiös motivierten Verhaltens, die in jüngerer Zeit vermehrt rechtliche Probleme aufwerfen 170. Schwierigkeiten ergeben sich heute vor allem im Hinblick auf das sog. Schächten, d. h. Töten von Tieren ohne vorherige Betäubung, sowie angeblich religiös geforderte Verhaltsweisen, die mit den Vorgaben des einfachen Rechts, insbesondere des Gewerberechts und des Straßenrechts in Konflikt geraten 171. Die Freiheit der Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG bietet im religiösneutralen Staat 172 nicht nur spezifisch christlichen Kultushandlungen Schutz. In anderen Religionen ausgeformte Handlungen sind in gleicher Weise geschützt 173. 165 Im Ergebnis auch BVerfGE 24,236, 246f.; Steiner, JuS 1982, 157, 159; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 61; Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 24, 26; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 101. 166 Mausbach, Kulturfragen in der Deutschen Verfassung, 1920, S. 72. 167 In dieser Richtung aber Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 163. Gegen ein derartiges Verständnis bereits oben S. 125ff. 168 Vgl. oben S. 127 ff. 169 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 101; ders., Artikel "Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit. 11. Rechtlich", in: EvStL 3 , Bd. 11, Sp. 1153, 1159; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 24. 170 Das Glockenläuten stößt allerdings in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft immer öfter auf Ablehnung, so daß auch insoweit Rechtsprobleme auftreten, grundlegend dazu Laubinger, VerwArch. 1992, S. 623 mit umfangreichen Nachw. 171 Vgl. dazu oben S. 17 ff. 172 Dazu bereits oben 7. Kap.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates steht einer Beschränkung des Art. 4 Abs. 2 GG auf typisch christliche Kultushandlungen ebenso entgegen wie Überlegungen, den Wirkungskreis der christlichen Kirchen zum Maßstab für christliche wie nichtchristliche Religionsausübung zu machen l74 . Ob Muslime aus religiösen Gründen verpflichtet sind zu schächten, ist umstritten 175 . Noch schwieriger werden klare Aussagen zu den Verhaltens geboten neuartiger Religionsgemeinschaften. Hier stehen die Behörden und Gerichte vor großen Schwierigkeiten, wollen sie nicht dem Selbstverständnis des einzelnen bzw. seiner Gemeinschaft l76 die entscheidende Bedeutung beimessen. Diese Schwierigkeiten lassen sich nicht dadurch beseitigen, daß man der Religionsausübung i. S. d. Art. 4 Abs. 2 GG nur solche Verhaltensweisen zurechnet, die der Tradition der jeweiligen Religion entsprechen 177 • Wie. das Beispiel des Schächtens bei Muslimen zeigt, ist eine gesicherte Tradition selbst bei Weltreligionen nicht immer eindeutig nachweisbar 178 • Bei neu aufgekommenen Religionen versagt das Kriterium der Tradition vollends. Auch ihnen gegenüber muß das Grund173 So mit Recht Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 101; M. Heckel, in: Marrel Schümmelfeder 1 Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 86; Hellermann, in: Grabenwarter 1Hammer 1Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137 m.w.N.; ausführliche Problematisierung bei Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 60 ff. 174 So aber Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), S. 142, 144, mit Blick auf Verhaltensweisen in sog. Jugendsekten; Loschelder, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 156f.; Berendt, Gott im Grundgesetz. Der vergessene Grundwert "Verantwortung vor Gott", S. 132 ff., 282, 318 f., sieht die gesamte Verfassungsordnung auf dem Boden christlichen Denkens stehend und versteht Art. 4 GG als Toleranznorm für Andersdenkende (zum Toleranzgedanken oben 10. Kap.). Im älteren Schrifttum sprach sich vor allem Hamel, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte IVIl, S. 37, 78f.; ders., ZStW 109 (1953), S. 54, 71, für eine Interpretation der Religionsfreiheit mit Blick auf christliche Betätigungsformen aus. Ablehnend auch Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 281 f.; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 205 f. m.w.N. 175 Ablehnend etwa BVerwGE 99, 1,9 = NVwZ 1996,61; OVG Hamburg NVwZ 1994, 592,595; VG Augsburg NuR 1993, 170, 171; VG Gelsenkirchen NWVBL 1993, 116, 117; VG Koblenz NVwZ 1994, 615, 616; VG Hamburg, Urt. v. 14.9.1989 - 9 VG 703/89, S. 16ff. der Entscheidungsgründe; Nowak/ Rath, RFL 42, S. 87 ff.; im Grundsatz a.A. Lorz, TierSchG § 4 a Rn. 15, der aber auf differenzierte Lösungen in der Praxis hinweist. 176 Nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG kommt es allein auf deren Sicht an; das betont auch BVerwGE 99, 1. 177 Vgl. Hellermann, in: Grabenwarter 1Hammer 1Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 133, der diese Ansicht aber nicht konsequent durchhält, vgl. ebd., S. 137: "Kultushandlungen, ... nicht nur in dem christlicher Tradition, sondern in dem der jeweiligen Religion entsprechenden Umfang"; H. Weber, Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 191, 192. 178 Zum insoweit bestehenden Streit vgl. die Nachw. oben Fn. 175.
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
151
gesetz seine Offenheit l79 beweisen. Mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität, die dem Staat untersagt, sich mit bestimmten religiösen Anschauungen zu identifizieren 180 und andere unberücksichtigt zu lassen, sowie mit dem Grundsatz der religionsrechtlichen Parität l81 wäre ein numerus clausus der Formen zulässiger Religionsausübung nach dem Maßstab der bei Weltreligionen bestehenden Traditionen nicht in Einklang zu bringen. Es ist daher insbesondere nicht möglich, im Sinne der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur solche Formen der Religionsausübung von Art. 4 Abs. 2 GG als geschützt anzusehen, "die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Geschichte herausgebildet" haben l82 • Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht an dieser Formulierung nicht festgehalten, sich ausdrücklich gegen feste Maximen ethischer Grundanschauungen gewandt und die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen als "ethischen Standard" der Verfassung hervorgehoben l83 • Diese Offenheit zeigt sich gerade darin, daß das Grundgesetz auch neuen religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen seinen Schutz nicht versagt. Es ist nicht möglich, die zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes in Deutschland bekannten Formen religiös motivierten HandeIns zum Maßstab für den Umfang des durch Art. 4 Abs. 2 gewährten Schutzes zu machen l84 . Zwar ist der Blick auf die Tradition dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn Angehörige einer Weltreligion, die auf eine lange Entwicklung festgefügter Kultushandlungen zurückblicken kann, bestimmte Verhaltensweisen als von ihrem Glauben geboten bezeichnen. In solchen Fällen kann eine Prüfung der religiösen Tradition dem Selbstverständnis des einzelnen als objektivierendes Interpretationselement an die Seite oder auch entgegengestellt werden l85 . Die Tradition kann daDazu bereits oben S. 76, 79. Vgl. oben S. 75 f. 181 Dazu oben 8. Kap. 182 So aber BVerfGE 12, 1, 4; vgl. auch BVerfGE 24, 236, 246; dazu oben S. 15 mit Fn. 63 ff., dort Nachw. zu Gerichten und Autoren, die nach wie vor nicht selten auf die "Kulturvölker-Formel" rekurrieren, um die Religionsausübungsfreiheit neuartiger Gemeinschaften und ihrer Mitglieder zu begrenzen. 183 BVerfGE 41,29,50; zustimmend Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, S. 81; de Wall, Theologische Literaturzeitung 1994,291, 295f.; ablehnend gegenüber der "Kulturvölker-Formel" auch Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 82ff., 90f.; ihm zustimmend Rüfner, AöR 116 (1991), S. 298; ablehnend auch Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,305; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 33,90; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 42. 184 So aber v. Mangoldt / Klein/ Starck, GG Art. 4 Rn. 34 (S. 441); mit Recht gegen eine Festschreibung historisch überkommener Deutungen im Bereich des Staatskirchenrechts Hesse, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 530f. m.w.N.; ausführliche Kritik derartiger Überlegungen auch bei Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 49 ff. 185 Anders Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 103, der meint, die ,,historische Auslegung" könne dazu führen, daß die Grundrechtsinterpretation ganz ohne den Rückgriff auf das religiöse Selbstverständnis auskomme. 179
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
für, daß ein bestimmtes Verhalten religiös motiviert ist, ein Indiz sein l86 . Ein allgemeingültiges Kriterium zur Festlegung der Grenzen zulässiger Religionsausübung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 GG kann in der religiösen Tradition jedoch nicht gesehen werden. Selbst eine Forderung nach "ähnlicher Geschlossenheit und Breite ... , wie sie den im abendländischen Kulturkreis bekannten Religionen zu eigen ist" kann nicht erhoben werden l87 • Dies wäre kein neutrales Merkmal 188 . Es führte dazu, daß nur die traditionellen, etablierten Religionen geschützt wären und ließe neu entstehenden, noch nicht von einer größeren Gemeinschaft vertretenen Überzeugungen nur geringe Chancen, in den Genuß der Garantien aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu kommen l89 . Die Freiheit der Religionsausübung geht, das ist das Ergebnis der vorstehenden Überlegungen, über die bloße Kultusfreiheit hinaus l90 . Auf die Kultusfreiheit abzustellen hieße ein der (christlichen) Tradition verpflichtetes Merkmal in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise in die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 GG hineinzulesen. Aus der Verfassung selbst ergeben sich nur wenige Anhaltspunkte dafür, wo die Freiheit der Religionsausübung endet und die von ihr nicht mehr umfaßte Betätigung religiöser Überzeugung beginnt 191. Religion ist nach dem Verständnis des Grundgesetzes nicht auf einen klar abgegrenzten Bereich innerhalb bestehender oder gedachter Kirchenmauem 192 verwiesen. Die Freiheit der Religionsaus186 Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 96. 187 So aber BVerwGE 89, 368, 371, in Anlehnung an Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 67; v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 18, ähnlich auch Rn. 3: "umfassendes metaphysisches oder auf die Welt als Ganzes bezogenes Gedankensystem", Rn. 31: "hinreichend geschlossenes Gedankengebäude über die Welt als Ganzes". Mit Recht betonen Heintschel v. Heinegg/Schäjer, DVBl. 1991, 1341, 1342f., daß an die innere Konsistenz der Lehre keine besonders hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. 188 Vgl. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 207; a.A. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 31. 189 Vgl. vor allem Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 153 f.; auch v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), S. 135, 151 f.; Isak, Das Selbstverständis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 207. Zu weit geht auch "yss, ZBI 1994,385,392, wenn er eine "fundierte und zusammenhängende, grundlegende Fragen des .menschlichen Lebens umfassende Sicht" verlangt, die sich nicht in "fragmentarischen Splitteransichten" erschöpft; gerade eine neue Religion wird häufig zunächst nur über einzelne Bausteine eines noch zu entwickelnden Gedankengebäudes verfügen. 190 A.A.: Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137; ders., Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 139; wohl auch Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 103 ff. 191 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 234. 192 Nicht alle Aktivitäten innerhalb der "Kirchenrnauern" müssen vom Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG erfaßt sein. Obwohl es sich innerhalb kirchlicher Räume vollzieht, bestehen beispielsweise Bedenken dagegen, das sog. Kirchenasyl als Form der Religionsausübung anzu-
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
153
übung nach Art. 4 Abs. 2 GG ist vielmehr eine auch in die Öffentlichkeit gerichtete 193 Garantie, die nicht in jeder Hinsicht nach feststehenden Kriterien ein für allemal abgegrenzt werden kann. Die Grenzen zulässiger Religionsausübung ergeben sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die unten im einzelnen aufgeführt werden. Sie werden bei isolierter Betrachtung des Art. 4 GG nicht erkennbar und seien hier nur deshalb bereits angedeutet, um deutlich zu machen, daß die Freiheit der Religionsausübung im Ergebnis nicht doch wieder zu dem oben 194 abgelehnten Recht auf ein Leben entsprechend den religiösen Überzeugungen führt: Das Selbstverständnis des einzelnen muß sich messen lassen an den religiösen Vorgaben der Religionsgemeinschaft, der er angehört l95 • Um grundrechtlichen Schutz zu genießen, kann Religionsausübung sodann weder in der gewaltsamen Bekämpfung der Grundlagen der Rechtsgemeinschaft bestehen noch erlaubt sie, mit Gewalt Rechtsgüter Dritter in Anspruch nehmen; schließlich gibt Art. 4 Abs. 2 GG weder ein Recht darauf, die Menschenwürde eines anderen (Art. 1 Abs. 1 GG) zu beeinträchtigen oder in sein Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) einzugreifen noch unter Anmaßung einer fremden Rechtsposition andere Grundrechte Dritter zu beeinträchtigen l96 .
3. Die negative Religionsausübungsfreiheit
Die negative Seite des Rechts auf ungestörte Religionsausübung ist in Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. 4 WRV gewährleistet 197 • Danach darf niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden. Wie bei der negativen Bekenntnisfreiheit 198 bedarf es eines Rückgriffs auf Art. 4 GG nicht. Die Vorschrift des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 4 WRV stellt klar, daß schon der Zwang zu bloß äußerer Teilnahme an einer der in dieser Vorschrift genannten Handlungen eine Beeinträchtigung der negativen Religionsausübungsfreiheit darstellt. Nicht erst ein individueller Bekenntnisakt des einzelnen kann gestützt auf Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 4 WRV verweigert werden l99 • Ande-
sehen (so aber wohl B. Huber, in: Just [Hrsg.], Asyl von unten, S. 91, 102f.). Zum Kirchenasyl bereits oben S. 22, llO Fn. 175; siehe auch unten S. 160 f. mit Fn. 243 ff. 193 Zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen bereits oben S. 111 mit Fn. 179. 194 Oben S. 128 ff. 195 Vgl. unten S. 171 ff. 196 Näher unten S. 206ff., 215ff. 197 Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 161 f. 198 Dazu oben S. 147. 199 Zum Streit um den Befehl "Helm ab zum Gebet" vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 171 Fn. 22 und die dortigen Nachw.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
rerseits folgt aus dieser Vorschrift, daß nicht schon die bloße Konfrontation mit religiösen Symbolen oder Handlungen Dritter in die negative Religionsausübungsfreiheit eingreift 200
v. Gewissensfreiheit 1. Abwehrrecht gegenüber aufgezwungenen Konflikten Dem einzelnen, nicht Personengemeinschaften 201 , steht sodann nach Art. 4 Abs. 1 GG das Grundrecht der Gewissensfreiheit zu. Es schützt die Ausbildung und das Haben eines Gewissens, das forum internum 202 . Zu den geschilderten Schwierigkeiten203 im Umgang mit der Gewissensfreiheit hat die heute ganz herrschende Lehre geführt, die über das forum internum hinaus auch die Umsetzung von Gewissensentscheidungen nach außen, ihre Äußerung204 und andere Formen ihrer Verwirklichung 205 zum Schutzbereich des Grundrechts zählt. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist als Gewissensentscheidung "jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,gut' und ,böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte,,206. 200 Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 171, unter Hinweis auf BVerfGE 35, 366 zum Kreuz im Gerichtssaal als Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 GG. Der Hinweis des BVerfG auf Art. 140 GG i.V.m. 136 Abs. 4 WRV im Streit um das Kreuz in bayerischen Schulräumen (BVerfGE 93, 1, 16) liegt neben der Sache, weil das Anbringen eines Kreuzes selbst mit dem vom BVerfG in zweifelhafter Weise angenommenen "appelativen Charakter" (BVerfGE 93, 1, 20) nur die - negative - Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, nicht aber die negative Seite der Religionsausübungsfreiheit derjenigen Schüler berühren kann, die das Kreuz ablehnen. Zum fehlenden Grundrechtsschutz vor der Religionsausübung anderer bereits oben S. 144 mit Fn. 128. 201 Vgl. Herdegen, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 489f.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 295 f. jeweils m.w.N. auch zu abw. Ansichten. 202 Anschaulich Heyen, DÖV 1985,772,773: ,,innerer Gerichtshof". 203 Oben S. 21 f. 204 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 131; D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 17: ,,kommunikativer Aspekt". 205 Vgl. Böckenjörde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 52f.; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 14; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 135; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 27; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 37; Herdegen, in Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 491 f.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 235 ff.; Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschemechtskonvention, S. 157 ff., jeweils mit umfangr. Nachw. 206 BVerfGE 12,45, 55; 23, 191,205; BVerfG NJW 1993,455 - st. Rspr.; ferner Rüfner, RdA 1992, 1, 2; Herdegen, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 496f.;
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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Das Grundrecht der Gewissensfreiheit hat sich im Laufe einer langen Entwicklung von der Religionsfreiheit gelöst und stellt heute ein eigenständiges Grundrecht dar207 . Das Gewissen als Rechtsbegriffist nicht von einer religiösen Perspektive her zu bestimmen208 . Gleichwohl bestehen auch heute noch zahlreiche Verbindungen zwischen Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit. Bei nicht religiös motivierten Gewissenstatbeständen greift die Glaubensfreiheit tatbestandiich nicht ein 209 . Die umgekehrte Schlußfolgerung, daß bei religiös fundierter Gewissensbildung nur die Glaubensfreiheit betroffen sei 21O , ist jedoch nicht möglich. Auch bei Gewissensentscheidungen aufgrund religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit thematisch einschlägig211 • Diese Grundrechtskonkurrenz 212, die in Rechtsprechung und Literatur vielfach unter der ausweichenden Bezeichnung "Glaubens- und Gewissensfreiheit" firrniert 213 , kann nicht apriori zugunsten des einen oder des anderen Grundrechts gelöst werden. ders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 243; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 57; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 135 f., jeweils m. umfangr. Nachw.; skeptisch gegenüber Versuchen zur Bestimmung des Gewissensbegriffs Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 21 f. mit Fn. 18. 207 Vgl. Listl, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 458ff.; Herdegen, ebd., S. 481 f.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, -So 231 ff.; SchoUer, Die Freiheit des Gewissens, S. 114f., 130, pass.; Sachs, DVBI. 1995, 873, 887; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 21; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 122 ff., jeweils m. W.N. 208 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 231, unter Hinweis auf die insbesondere von Hamel, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV /I, S. 37 , 50ff.; ders. AöR 89 (1964), S. 322ff., vertretene Gegenauffassung; für eine an die Glaubensfreiheit angelehnte Gewissensfreiheit trat auch Dürig, FS Nawiasky 1956, S. 157, 161 Fn. 6, ein, wenn er formulierte: "Nur Entscheidungen in derartigen Bekenntnisdingen (religiöser oder moralbezogener weltanschaulicher Art) sind auch Gewissensentscheidungen im Sinne des Artikel 4." Zur heute herrschenden, von der Eigenständigkeit der Gewissensfreiheit ausgehenden Meinung vgl. auch Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 12 und die dortigen Nachw. 209 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 107 Rn. 21; zustimmend Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439,460. 210 So im Ergebnis Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 21; Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 460. 211 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 125; Blum, Die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 156; Hellermann, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzl / Schulev-Steindl / Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 138. 212 Zu diesem Begriff Rüjner, Festg. BVerfG, Bd. II, S. 453, 474; ähnlich Stern, Staatsrecht III/2, S. 1368; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 7, 134; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 324; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 2 Fn. 6, jeweils m.w.N. 213 Dazu bereits oben S. 22 mit Fn. 107 ff. und die dortigen Nachw.; ferner Morlok, in H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 11, pass.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Sofern der einzelne aufgrund seiner religiösen Überzeugungen mit gegenläufigen Vorgaben214 in Konflikt gerät und die Voraussetzungen einer Gewissensentscheidung erfüllt sind, kann sowohl eines der religiösen Freiheitsrechte des Art. 4 Abs. I und 2 GG (Glaubens-, Bekenntnis- oder Religionsausübungsfreiheit) als auch die Gewissensfreiheit berührt sein21S . Das bedeutet aber nicht, daß immer, wenn die Glaubens-, die Bekenntnis- oder die Religionsausübungsfreiheit betroffen ist, auch ein Eingriff in die Gewissensfreiheit vorliegt. Wer die Gewissensfreiheit als eigenständige, von der Glaubensfreiheit unabhängige Gewährleistung ernst nehmen will, muß das Besondere der Gewissensfreiheit, durch das dieses Grundrecht sich von anderen abhebt, im Auge behalten. Die Besonderheit der Gewissensfreiheit besteht darin, daß dieses Grundrecht weit mehr als andere (einschließlich der in Art. 4 GG verbürgten Garantien religiöser Freiheit) an eine Konfliktsituation anknüpft, in die der einzelne sich gestellt sieht. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit hat den ,,Einzel- und Ausnahmefall,,216 im Auge. Es gibt weder ein ,,Recht auf Schutz der ethischen Selbstbestimmung,,217 noch erstreckt es sich auf "das, was alle angeht,mg. Es greift erst, wenn dem Bürger ein Verhalten abverlangt wird, das ihn - aufgrund einer als unbedingt verpflichtend empfundenen Überzeugung - in einen existentiellen, die Identität der Persönlichkeit bedrohenden Konflikt stürzen würde 219 . Während Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit dem einzelnen (und Personengemeinschaften) die Möglichkeit geben, frei von äußeren Zwängen einen Glauben zu bilden, ihn zu bekunden und auszuüben, gibt die Gewissensfreiheit dem Bürger das Recht, ein Verhalten zu verweigern, das seiner religiösen (oder areligiös begründeten) Überzeugung grundlegend widerspricht.
214 Die Frage, ob es sich dabei stets um staatliche Anordnungen handeln muß oder ob auch von Privaten ausgehende Weisungen erfaßt sind, ist ein Problem der sog. Drittwirkung der Grundrechte, vgl. Rüfner, RdA 1992, I, 3 f.; dazu bereits oben S. 119 mit Fn. 26 f. 215 Anders Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 34, nach dessen Ansicht ein durch religiösen Glauben bestimmtes Gewissen nur Gegenstand der Gewissens-, nicht der Glaubensfreiheit ist, wenn die Verwirklichung seiner Gebote mit Rechtspflichten kollidiert; die Gewissensfreiheit sei dann ein Spezialfall der Glaubensfreiheit. 216 Hellermann, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 138; vgl. auch Bethge, ZBR 1988, 205, 210: "exzeptioneller Konfliktsfall"; Denninge.r, JA 1993, 264, 269: ,,Anerkennung der Gewissensentscheidung als exzeptionelle Befreiung von den Anforderungen der allgemein geltenden Rechtsordnung". 217 So aber D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 14ff. 218 Vgl. aber Habermas, in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, S. 29,44: "Das Gewissen des Staatsbürgers erstreckt sich auch auf das, was alle angeht." 219 Vgl. Hellermann, in: Grabenwarterl Hammer I Pelzll Schulev-SteindllWiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 138; Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 264ff.; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 67ff.; für eine Anknüpfung an den Gewissenskonflikt auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 239.
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Die Gewissensfreiheit hat mehr als die anderen in Art. 4 Abs. I und 2 GG gewährleisteten Grundrechte den Charakter eines Abwehrrechts 22o . Gegenstand der Gewissensfreiheit ist nicht das umfassende Recht, "seinem Gewissen gemäß zu handeln,,221. Andernfalls würde die Gewissensfreiheit in die Nähe der allgemeinen Handlungsfreiheit gerückt222 . Eine Eingrenzung der von Art. 4 Abs. I GG geschützten Formen der Gewissensbetätigung ist unumgänglich, da keine Rechtsordnung es sich leisten kann, einen umfassenden Schutz aller denkbaren Formen der Gewissensbetätigung anzuerkennen. Die Rechtsordnung kann, wenn sie Bestand haben soll, nicht erlauben, daß Subjektivismus und Solipsismus zum Prinzip erhoben werden 223 . Wie diese Eingrenzung vorgenommen werden soll, deutet der Hinweis auf die Ursprünge der Gewissensfreiheit im Toleranzgedanken 224 an. Toleranz meint Achtung oder Duldung abweichender Auffassungen 225 . In diesem Sinne diente die Gewissensfreiheit (als mit der Glaubensfreiheit verbundene Gewährleistung) von Anfang an dazu, dem einzelnen einen letzten unantastbaren Freiheitsraum gegenüber staatlichen Eingriffen zu sichern 226 . Erst im Vormärz wurde unter liberalistischem Vorzeichen eine Ausdehnung der Gewissensfreiheit zu einem Recht auf ein Handeln gemäß dem Gewissen gefordert227 . Die Nationalversammlung in der Paulskirche dagegen wollte ein Grundrecht der Gewissensfreiheit als umfassendes Betätigungsrecht nicht anerkennen. Zwar garantierte die Paulskirchenverfassung 220 Gegen "das verbreitete handlungsrechtliche Verständnis der Gewissensfreiheit" auch Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 141. 221 So aber v. Mangoldt, GG Art. 4 Anm. 2 (S. 55); ähnlich Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 153 ("Teilfreiheit, sich gemäß seinem Gewissen verhalten zu dürfen"), der, S. 198 ff., das Grundrecht der Gewissensfreiheit gar als Leistungsrecht versteht; noch weiter geht Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 148, der in der Gewissensfreiheit "nichts anderes" sieht "als den Anspruch auf weitgehend ungehinderte Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung in zwischen Individuum und Gemeinschaft geteilter Verantwortlichkeit". Mit Recht kritisch Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 63f. m.w.N. zu ähnlichen Äußerungen; ablehnend auch OLG Karlsruhe, NJW 1996, 606, 607 (,,kein allgemeines Recht auf Verwirklichung von Gewissensentscheidungen", ,,keine generelle Betätigungsfreiheit für jegliche Gewissensentscheidung"). Zur grundSätzlichen Anerkennung der von Art. 4 Abs. 1 GG erfaBten Gewissensbetätigung oben S. 154 mit Fn. 204 f. 222 Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 64. Für ein Verständnis der Gewissensfreiheit als "verfassungsrechtlich privilegierte Sonderform der allgemeinen Handlungsfreiheit" v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 37, unter Hinweis auf die bei Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 132, referierte Auffassung. Vgl. auch Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1035, der in der Gewissensfreiheit eine "Spielart der allgemeinen Handlungsfreiheit" sieht. 223 Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 45 m.w.N.; ferner ders., in: Gründel (Hrsg.), Das Gewissen, S. 53, 63 f. 224 Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 65. 225 Zu dieser Deutung des Toleranzgedankens oben S. 116 f. 226 Vgl. die Analyse Herdegens, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 74ff. m. Nachw.; ferner Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S:4IOf. 227 Dazu i.e. Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33,41 mit Fn. 22.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
die "volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" (§ 144 Abs. 1). Dieses Grundrecht sollte aber, so der Standpunkt der Mehrheit in der Nationalversammlung, lediglich als Prinzip anzusehen sein, das in den nachfolgenden Bestimmungen228 näher durchgeführt sei. Daraus wurde der Schluß gezogen, daß für die Gewissensbetätigung im forum extemum nach der Paulskirchenverfassung nur so viel Raum blieb, wie die §§ 145 ff., insbesondere mit der Gewährleistung der Religionsausübungsfreiheit und der religiösen Vereinigungsfreiheit, ausdrücklich verbürgten 229 . Für darüber hinausgehende Gewissensbetätigungen wurde auf andere Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit nach § 143 der Paulskirchenverfassung, verwiesen230 . Erst unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung gelangte die Verfassungsinterpretation zu einem Verständnis der "Glaubens- und Gewissensfreiheit" als weitreichende Freiheit des HandeIns gemäß Glauben und Gewissen231 . Diese extensive Auslegung des Grundrechtstatbestandes blieb jedoch im Ergebnis folgenlos, weil die Grundrechte des Art. 135 WRV unter dem Vorbehalt der allgemeinen Staatsgesetze standen (Art. 135 Satz 3 WRV)232. Unter der Geltung des Grundgesetzes kann für die Gewissensfreiheit nicht auf einen Gesetzesvorbehalt verwiesen werden 233 . Nunmehr muß eine Eingrenzung der Gewissensfreiheit auf der Ebene des Schutzbereichs sorgfältig geprüft werden. Dabei kann - wegen der inzwischen unstreitigen Verselbständigung der Gewissensfreiheit von den religiösen Freiheitsrechten - nicht an das äußerst restriktive Verständnis der Paulskirche angeknüpft werden. Ebensowenig kann aber - wegen des fehlenden Gesetzesvorbehaltes für die Gewissensfreiheit im Grundgesetz - die ausgesprochen extensive Interpretation der Weimarer Zeit zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Entscheidend muß vielmehr die Einsicht sein, daß im historischen Rückblick die Gewissensfreiheit entsprechend ihren Wurzeln im Toleranzgedanken als ein Recht erscheint, das den einzelnen vor Zwang bewahrt, den der Staat auf ihn ausübt. Die Gewissensfreiheit sollte dem Bürger die Möglichkeit geben, in nicht von ihm selbst herbeigeführten Situationen, die die Reaktion des Gewissens herausforderten, bestehen zu können 234 . Das Verständnis der Gewissensfreiheit als Recht, aufgezwungene Gewissenskonflikte abwehren zu können, entspricht der Funktion dieses Grundrechts im Grundgesetz. Die Aufgabe der Gewissensfreiheit besteht darin, ein "seelisches 228 Abgedruckt bei E.R. Huber (Rrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 304, 3I9f. 229 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 484 m. Nachw. 230 Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 485. Für eine solche Interpretation auch des Art 4 GG spricht sich Zippelius, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 90, 91, aus. 231 Dazu Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33,43 f. und die dortigen Nachw. 232 Darauf weist mit Recht auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 79, hin. 233 Näher unten S. 253 ff. 234 Vgl. die zusammenfassende Bewertung von Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 42. Näher Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 74 ff. m.w.N.
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Phänomen,,235 zu schützen 236 . Sie besteht nicht darin, dem Rechtsträger weitreichende Möglichkeiten zur Beeinflussung seiner Umwelt nach seinen Vorstellungen zu geben. Diese Möglichkeiten bieten ihm Art. 5 Abs. 1, Art. 8 sowie Art. 2 Abs. 1 GG. All diese Grundrechte erlauben dem einzelnen, auf die Gestaltung der Sozialordnung Einfluß zu nehmen, aktiv aus eigener Initiative heraus tätig zu werden. Daß dabei zwangsläufig Konflikte auftreten mit anderen Ansichten und ihrer Umsetzung, setzt die Verfassung voraus. Die den genannten Grundrechten beigefügten Gesetzesvorbehalte bzw. (in Art. 8 Abs. 1 GG) die ausdrückliche Betonung des Friedlichkeitsgebots sind hierfür ein deutlicher Beleg. Mit der Verbürgung der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG geht die Verfassung demgegenüber nicht davon aus, daß miteinander unvereinbare Formen der Gewissensbetätigung aufeinander treffen. Dies aber wäre die notwendige Folge eines Verständnisses der Gewissensfreiheit als weitreichendes Handlungsrecht. Die Verfassung geht - entsprechend der traditionellen Funktion der Gewissensfreiheit im historischen Kontext - davon aus, daß die Gewissensfreiheit den einzelnen vor Konflikten schützt, die von außen an ihn herangetragen werden. Sie sieht in diesem Grundrecht keine Ermächtigung für den Bürger, selbst die Initiative zu ergreifen. Damit steht das Grundgesetz zugleich auf dem Boden einer soziologischen Erkenntnis. Auf ein vom Gewissen gebotenes (rechtswidriges) aktives Tun des einzelnen kann sich die Sozialordnung nur schwer einstellen. Wenn der Bürger sich weigert, einem staatlichen Handlungsgebot nachzukommen, kann die Sozialordnung häufig Auswege und Alternativen bereitstellen237 . Der zivile Ersatzdienst gern. Art. 12 a Abs. 2 GG ist hierfür ein Musterbeispiel 238 . Wird aber der einzelne von sich aus tätig, kann die Gemeinschaft, wenn sie seine Handlungsweise respektieren möchte, nicht viel mehr tun, als mit ihren Rechtsgeboten zurückzuweichen. Damit jedoch müssen über kurz oder lang die Rechtsgleichheit und die Geltungskraft des Rechts insgesamt in Gefahr geraten. Festzuhalten bleibt, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit als Ausprägung des Toleranzgedankens dem einzelnen einen von der Ansicht der staatlichen Gemeinschaft abweichenden Standpunkt zugesteht. Das Grundrecht möchte bestimmte Zwangssituationen, in die der einzelne durch staatliches Handeln geraten kann, vermeiden. Es hat eine "Abwehrfunktion gegenüber aufgezwungenen Konfliktsituationen,,239. Das grundrechtlich geschützte Gewissen reagiert negatorisch. Es gerät nicht aufgrund eigener, freier Initiative in Schwierigkeiten 240. Wahrend Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit dem einzelnen auch einen BVerfGE 12,45,54. Auf diese Funktion verweist auch Hellennann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 141. 237 Vgl. Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 282f. 238 Zur "lästigen Alternative" noch unten S. 259 f. 239 Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 42. 240 Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 42. 235
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Freiraum zur Verfügung stellen wollen, in dem er sich seinen religiösen Überzeugungen gemäß verhalten, seinen Glauben leben kann, verfolgt die Gewissensfreiheit primär das Ziel, ihm durch ,,Exemtion von Rechtspflichten im Einzelfall,,241 bestimmte Verhaltensweisen zu ersparen. Die Gewissensfreiheit gibt nur ein Recht zur Verweigerung (staatlicher) Befehle242 . So steht "Kirchenasyl,,243 nicht unter dem Schutz der Gewissensfreiheit 244 . Die Mitglieder einer Kirchengemeinde, die von Abschiebung bedrohten Menschen "Kirchenasyl" gewähren, bringen sich selbst, aufgrund eines eigenen Entschlusses in die Konfliktsituation. Sie wehren sich nicht gegen einen ihnen von staatlicher Seite aufgezwungenen Konflikt. Wer "Kirchenasyl" gewährt, setzt seine Entscheidung an die Stelle der Entscheidung der zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichte. Er ersetzt das staatliche Asylanerkennungsverfahren durch ein eigenes Verfahren 245 . Ein so weit gehendes Handlungsrecht gewährt die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. I GG nicht246 . Die Kirchen und ihre Mitglieder haben das Recht, möglicherweise auch die moralische Pflicht, gegen ein von ihnen als unbefriedigend bewertetes staatliches Asylrecht und seine Anwendung Stellung zu beziehen247 . Dieses Recht gibt ihnen Art. 5 Abs. 1 GG und ggf. auch Art. 8 GG248 . Weder durch
Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 261. Vgl. A. Amdt, NJW 1966,2204, 2205f.; im Ansatz auch Berg, JuS 1969, 16, 19; Karl Peters, FS Hellmuth Mayer, S. 257, 274; im Ergebnis auch ders., in: Conrad/Kipp (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des Rechts. Beiträge zum Staats-, Völker- und Kirchenrecht sowie zur Rechtsphilosophie, S. 23, 37 f., wo er dem Richter, der die Anwendung eines Gesetzes nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, lediglich das Recht zugesteht, die Mitwirkung an dem Verfahren oder der Entscheidung abzulehnen. A.A.: Herzog, DVBl. 1969,718, 720. 243 Dazu bereits oben S. 22, 1l0, 152f. Fn. 192 und jeweils die dortigen Nachw. 244 So im Ergebnis, wenngleich mit anderer Begründung, auch v. Münch, NJW 1995, 565, 566, unter Hinweis auf die Schranken des Grundrechts; ähnlich Jacobs, ZevKR 35 (1990), S. 25, 38 f.; ohne eine von der der anderen Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG getrennte Prüfung der Gewissensfreiheit auch Gramlieh, FS Küchenhoff, S. 195, 202ff.; Ehnes, in: Rau/Reuter / Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, S. 601, 614; a.A. neben den bereits oben S. 22 Fn. 110 Aufgeführten: Mühleisen, HK 1994, 350, 353 ff.; differenzierend Robbers, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), Asyl am Heiligen Ort. Sanctuary und Kirchenasyl. Vorn Rechtsanspruch zur ethischen Verpflichtung, S. II 7, 126f., der mit Recht darauf hinweist, daß die Gewissensfreiheit grundSätzlich nicht als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund dient, daß aber die Motive des einzelnen bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden können. 245 So mit Recht v. Münch, NJW 1995,565,566. 246 Vgl. bereits oben S. 156ff. mit Fn. 221 ff. 247 Die Kirchen haben von dieser Möglichkeit mehrfach Gebrauch gemacht, vgl. Ehnes, in: Rau/Reuter/Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, S. 601, 623f. vornehmlich mit Nachw. zu Erklärungen von ev. Seite; auf kath. Seite siehe etwa das Interview mit Bischof Karl Lehmann, in: Der Spiegel Nr. 20 v. 16.5. 1994, S. 51, sowie den Artikel von Bischof Franz Kamphaus "Unsere Fremden. Worum geht es eigentlich - um den Schutz der Flüchtlinge oder den Schutz vor ihnen?" in: Die Zeit Nr. 39 v. 22. 9. 1995, S. 1. 241
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diese Grundrechte noch durch die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG wird ihnenjedoch eine eigenmächtige Korrektur staatlicher Entscheidungen ermöglicht249 • Die Befreiung vom Sportunterricht aus religiösen Gründen 250 ist dagegen meist eine Frage der Gewissensfreiheit. Auch die Forderung, bestimmte Kleidungsstükke 251 , etwa den Tschador252 oder einen Turban253 , nicht zu tragen oder vorübergehend, z. B. für die Anfertigung eines Paßfotos254 , auf sie zu verzichten, kann die Gewissensfreiheit berühren. Auch in diesen Fällen kommt es darauf an, ob der einzelne sich aus freiem Entschluß in einen Widerspruch zu staatlichen Anordnungen bringt oder ob ihm von staatlicher Seite ein Gewissenskonflikt aufgezwungen wird. Der Notwendigkeit, für einen Paß oder Personalausweis ein Lichtbild anfertigen zu lassen, kann kein Deutscher ausweichen (vgl. § 1 PAuswG). Die Helmpflicht für Motorradfahrer (§ 21 a Abs. 2 StVO) zwingt demgegenüber niemanden dazu, in der Öffentlichkeit das Haupt zu entblößen. Der gläubige Sikh, dem dies verboten ist, kann den Turban in privaten Räumlichkeiten gegen den Sturzhelm vertauschen oder ein anderes Verkehrsmittel benutzen255 . In derartigen Fällen kann der Sache nach auch Art. 4 Abs. 2 GG einschlägig sein. Diese Möglichkeit ergibt sich notwendig daraus, daß für die Freiheit der Religionsausübung keine festen, allein aus Art. 4 GG deduzierbaren Grenzen bestehen256 . Die Konkurrenz von Gewissensfreiheit und Religionsausübungsfreiheit führt - auf der Ebene des Grundrechtstatbestands - gleichwohl nicht zu einer Verstärkung des grundrechtlichen Schutzes für glaubensgeleitetes Verhalten. Sie kann erst durch unterschiedliche Schranken bewirkt werden. Wenn sich etwa zeigt, daß 248 Auch Zippelius, in: Gründel (Hrsg.), Das Gewissen, S. 53, 63, weist auf andere Grundrechte als die in Art. 4 GG genannten hin, um die Betätigung von Glaubens- und Gewissensentscheidungen grundrechtlichem Schutz zu unterstellen. 249 Der Hinweis B. Hubers, ZAR 1988, 153, 157, auf BVerfGE 32, 98, vermag die Gegenansicht nicht zu stützen, da in dem vom BVerfG entschiedenen Fall dem Bf. von staatlicher Seite nicht ein Unterlassen (wie im Falle des "Kirchenasyls" durch die Strafbestimmungen des § 92 AuslG i.V.m. § 27 StGB), sondern durch den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung ein positives Tun angesonnen wurde, er also nicht durch eigenes, selbstbestimmtes Handeln in einen Gewissenskonflikt geraten war. 250 Dazu oben S. 17 mit Fn. 82; S. 83 mit Fn. 5 ff. 2S1 Zum Meinungsstand in Rspr. und Lit. oben S. 146 f. mit Fn. 151 ff. 252 Zur Diskussion um ein Verbot des Tschadors an französischen Schulen vgl. nur EA.Z. Nr. 221 v. 22. 9.1994, S. 8; zum avis des Conseil d'Etat v. 27.11. 1989 in dieser Frage Spies, NVwZ 1993, 637 m. Nachw. auch zur damals in Frankreich geführten Diskussion. 253 Zum Fall eines Sikh, der sich weigerte, im Straßenverkehr statt des Turban den vorgeschriebenen Motorradhelm zu tragen, unten Fn. 255. 254 Dazu VG Wiesbaden NVwZ 1985, 137f.; VG Berlin NVWZ 1990, 100 = KirchE 27, 17; Losehelder, in: MarrMStüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 155. 255 Dies hat das schweiz. Bundesgericht für eine der Vorschrift des § 21 a Abs. 2 StVO entsprechende Regelung herausgestellt, BGer EuGRZ 1993,595,596. 256 Vgl. oben S. 149ff.
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von zwei einschlägigen Grundrechten das eine (z. B. die Bekenntnisfreiheit) in weiterem Umfang eingeschränkt werden kann als das andere (z. B. die Gewissensfreiheit)257, wirkt sich der Umstand, daß auch dieses Grundrecht betroffen ist, für den einzelnen günstig aus.
2. Das Kriterium persönlicher Verantwortung Für die Abgrenzung von Gewissensentscheidungen i. S. d. Art. 4 Abs. 1 GG und solchen Wertvorstellungen, die schon tatbestandlich nicht den Schutz der Gewissensfreiheit genießen, kann zudem auf das Kriterium des objektivierbaren Bezugs zum persönlichen Verantwortungsbereich verwiesen werden. Dieses Kriterium hat Matthias Herdegen in den Vordergrund seiner Überlegungen zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit gestellt 258 . Das Grundrecht der Gewissensfreiheit erfaßt danach nur solche persönlichen Entscheidungen, die sich dem Verantwortungsbereich des einzelnen zuordnen lassen259 . Dafür kommt es darauf an, "daß entweder das jeweilige Verhalten nach seiner Modalität Gegenstand eines Gewissensbefehls ist (wie etwa die Eidesverweigerung) oder aber die gewissensrelevanten (d. h. die Berufung auf eine Gewissensentscheidung tragenden) Faktoren dem einzelnen als von ihm erstrebte oder beanstandete Wirkungen seines persönlichen Handeins oder Unterlassens in individualisierbarer Weise zuzurechnen sind und deshalb seiner Verantwortung zugerechnet werden können,,26o. Sofern jedoch Staatsorgane oder Dritte die Verantwortung für einen bestimmten Vorgang tragen, kann der einzelne diesen nicht mit Hilfe der Gewissensfreiheit unterbinden 261 . Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung können nicht mit dem religiös begründeten Wunsch verweigert werden, rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche nicht finanzieren zu wollen262 . Der Zivildienst kann nicht unter Hinweis auf die religiös fundierte Vorstellung verweigert werden, die durch ihn und Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers bewirkte Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft müsse ver257 Zu den unterschiedlichen Schranken der Bekenntnisfreiheit und der Gewissensfreiheit unten S. 224 ff. bzw. S. 253 ff. 258 Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 255 ff.; ders., in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 488 f. 259 Herdegen, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 489; zum Kriterium des Verantwortungsbereichs bei der Lösung eines Spezialproblems: Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 159 m.w.N. 260 Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 258; gegen eine Eingrenzung des Schutzbereichs nach dem Kriterium der Verantwortlichkeit Rüjner, RdA, 1992, 1, 2 f., der die Nachprüfung der Gewissensentscheidung anhand einer Plausibilitätskontrolle befürwortet. 261 Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 258. 262 Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 261, 265 unter Hinweis auf BVerfG EuGRZ 1984,433; BVerfG NJW 1988, 2289; zum Problem auch D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 36ff. m.w.N.
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hindert werden 263 . Die Zahlung von Steuern darf nicht unter Hinweis auf ihre mögliche Verwendung für militärische Zwecke verweigert werden 264 . Mit dem Kriterium der Zurechnung zum persönlichen Verantwortungs bereich zeigt Herdegen eine - freilich auf die Gewissensfreiheit beschränkte - Möglichkeit auf, den Schutz dieses dem Selbstverständnis des einzelnen in besonderer Weise verpflichteten Grundrechts 265 objektiver Eingrenzung zu unterwerfen 266 •
VI. Religiöse Vereinigungsfreiheit 1. Keine einheitliche verfassungsrechtliche Grundlage für religiös motivierte Personenvereinigungen und ihre Tätigkeit Der Begriff der religiösen Vereinigungsfreiheit steht für das Recht, sich zum Zweck gemeinsamer Betätigung der religiösen Überzeugung zu religiösen Vereinen und Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen 267 • Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch die religiöse Vereinigungsfreiheit vom Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfaßt 268 . Das Gericht begründet dies mit der Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG. Mit dem Verzicht auf eine eigene Regelung der Vereinigungsfreiheit in Art. 4 GG habe der Parlamentarische Rat lediglich 263 Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 261, 266 m. Nachw. zur Rspr.; zum Problem der Ersatzdienst- und Totalverweigerung auch D. Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 27ff. m.w.N. 264 BVerfG NJW 1993,455; BFH NJW 1992, 1407. Beide Gerichte weisen - ganz auf der Linie der von Herdegen vorgeschlagenen Konzeption - darauf hin, daß über die Verwendung des Steueraufkommens nur die gesetzgebenden Körperschaften im Rahmen ihrer haushaltsrechtlichen Befugnisse entscheiden. 265 Vgl. Bethge, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 137 Rn. 7; ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 212, der so weit geht, in dem Begriff des Gewissens die Bezeichnung für das ..eigentliche Selbstverständnis ... in der Sprache des Grundgesetzes" zu sehen. 266 Darin sieht Herdegen das Ziel seiner Überlegungen, vgl. Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 256f.; ders., in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 489. Ablehnend jüngst Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 33, der dafür plädiert, die Lösung auf der Ebene der Grundrechtsschranken zu suchen. 267 V gl. Mikat, in: Bettennann 1Nipperdey 1Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV 11, S. 111, 150, auch in: ders., Religionsrechtliche Schriften, S. 29, 68. 268 BVerfGE 83, 341, 354; so auch Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 371 f., der - konsequentder Vorschrift des Art. 137 Abs. 2 WRV lediglich deklaratorische Bedeutung beimißt. Der vereinheitlichenden Sicht des BVerfG zustimmend: Badura, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 241 f.; vgl. auch BVerfGE 42,312,332: ..der individuellen und kollektiven Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG korrespondiert die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 WRV)". Mit Recht krit. gegenüber dieser Fonnulierung: Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. I, 2 Rn. 20.
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der Einbeziehung des Art. 137 Abs. 2 WRV in das Grundgesetz Rechnung tragen und eine "Doppelgewährleistung,,269 vermeiden wollen27o. Es sei davon auszugehen, "daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich für die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit auf Art. 140 GGI Art. 137 Abs. 2 WRV bezieht und sie in dessen normativem Gehalt mit umfaßt,,271.
a) Die Bildung von Religionsgemeinschaften Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 und 7 WRV gewährleistet die Freiheit der Vereinigung zu Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften272 . Darüber hinaus findet sich - insbesondere im Grundrechtsteil - keine ausdrückliche verfassungsrechtliche Garantie religiöser bzw. weltanschaulicher Vereinigungsfreiheit. Dieser Textbefund legt es nahe, die Freiheit zur Bildung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften allein durch Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 2 und 7 WRV garantiert zu sehen. Auch die vom Bundesverfassungsgericht referierte Entstehungsgeschichte trägt diese Sichtweise. Der ursprünglich für die grundrechtiche Gewährleistung der Religionsfreiheit vorgesehene Satz "das Recht der Vereinigung zu Religions- und Weltanschauungs gemeinschaften wird anerkannt" wurde im Parlamentarischen Rat auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses mit Blick auf die Aufnahme der Art. 136 f. WRV in das Grundgesetz gestrichen 273 . Der Vorgang macht deutlich, daß der Verfassunggeber die Freiheit der Bildung von Religions- und Weltanschauungs gemeinschaften als eigenständige Gewährleistung ansah, die nicht bereits in der Freiheit des Glaubens und des Bekenntnisses enthalten ist. Ein Verständnis des Art. 137 Abs. 2 und 7 WRVals im Ergebnis deklaratorische, weil in Art. 4 GG bereits enthaltene, Verbürgung wird durch die Entstehungsgeschichte nicht nahe gelegt. Das Bundesverfassungsgericht dürfte mit seiner "Hereinnahme" des Art. 137 Abs. 2 WRV in Art. 4 GG vor allem bezwecken, die Freiheit der Bildung von Religionsgemeinschaften zur Grundlage einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG erstarken zu lassen. Dieses Ziel läßt sich aber auch dadurch BVerfGE 83, 341, 355. BVerfGE 83, 341, 354f. 271 BVerfGE 83, 341, 355; vgl. auch v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 30 ("der Zusammenschluß zu Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften gehört zum Grundrechtstatbestand des Art. 4 Abs. 1"); Listl, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 463; Lücke, EuGRZ 1995, 651, 652; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 112, der allerdings, Rn. 113, das Recht, Vereinigungen zur Pflege einer areligiösen Weltanschauung zu bilden, nicht aus Art. 4 Abs. 2 GG, sondern aus Art. 9 GG und aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 und 7 WRV herleitet. 272 Zur Entstehungsgeschichte dieses Grundrechts: Landau, JZ 1995,909. 273 Vgl. Abg. Zinn, Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses 19481 49, S. 745; v. Doemming / Füßlein/Matz, JöR (n.F.), 1 (1951), S. 78 f. Zu diesem Vorgang auch Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 44 Fn. 101. 269 270
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erreichen, daß die Gewährleistung der Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 Satz 1 und 7 WRV - ihrer nonnativen Struktur entsprechend - als Freiheitsrecht angesehen wird, das der Sache nach die Verbürgung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergänzt und nur aufgrund einer redaktionellen Zufälligkeit außerhalb des fonnellen Grundrechtskatalogs der Art. 1 bis 19 GG gewährleistet ist. Als derartige Ergänzung274 einer grundrechtlichen Garantie kann die Verletzung der Vereinigungsfreiheit aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 WRV im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden. Sie hat damit verfassungsprozessual am grundrechtlichen Charakter des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG teil, enthält jedoch eine materiell eigenständige Garantie275 . Diese Lösung hat gegenüber dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts, das im Rahmen der Zulässigkeitsprufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG abstellt, um dann Art. 140 GG als materiellen Prüfungsmaßstab der Überlegungen zur Begründetheit Verfassungsbeschwerde heranzuziehen 276 , allemal den Vorzug dogmatischer Stringenz. Sie steht darüber hinaus im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, der nicht verlangt, daß die Verletzung eines der im Grundrechtskatalog aufgeführten Rechte gerügt wird277 . Festzuhalten bleibt, daß Grundlage des Rechts, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu bilden, Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 2 und 7 WRVist278 .
b) Die Bildung religiöser Vereine Nicht nur Religionsgemeinschaften, sondern auch religiösen Vereinen möchte das Bundesverfassungsgericht die religiöse Vereinigungsfreiheit zusprechen279 • Dabei handelt es sich um Vereinigungen, die - anders als Religionsgemeinschaften 274 Grundlegend zur gegenseitigen Ergänzung von Grundrechten: Rüfner, Der Staat 1968, S.41,47ff. 275 Letztlich führt dies freilich für die Freiheit der Bildung von Religions- und von Weltanschauungsgemeinschaften (zu sog. religiösen Vereinen sogleich) nicht zu anderen Ergebnissen als die Rspr. des BVerfG. 276 Dazu i.e. Schlaich, Das Bundesverfassunsgericht, Rn. 216 m. Nachw. 277 Anders die ganz h.M., die verlangt, daß die Verletzung eines der Grundrechte im formellen Sinne aus Art. 1 bis 19 GG geltend gemacht wird, soweit das betreffende Recht nicht in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG ausdrücklich genannt wird, vgl. SchmidtBleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer/Bethge/Winter, BVerfGG § 90 Rn. 49 m.w.N.; im Hinblick auf Art. 137 Abs. 3 WRV spricht sich auch BVerfGE 19, 129, 135 gegen eine auf Art. 140 GG gestützte Verfassungsbeschwerde aus. 278 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 380, der lapidar feststellt, daß sich die religiöse Vereinigungsfreiheit nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG finde, sondern an anderer Stelle des GG, nämlich in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV; ferner Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 140/ Art. 137 Rn. 3. 279 BVerfGE 83, 341, 356. Das Gericht stellt dies nicht ausdrücklich heraus, prüft jedoch, ebd. sub 3., welche Auswirkungen ..die religiöse Vereinigungsfreiheit" für religiöse Vereine hat.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
- hinsichtlich der Pflege des religiösen Lebens ihrer Mitglieder nur eine partielle Zielsetzung haben 28o . Sie erheben nicht wie die Religionsgemeinschaft den Anspruch, alle wesentlichen Fragen des menschlichen Daseins zu behandeln, sondern beschränken sich auf einzelne Aufgaben. Im kirchlichen Bereich zählen zu ihnen vor allem die der Karitas, der Mission, der Jugend- oder der Bildungsarbeit dienenden Vereinigungen sowie die Rechtsträger (Stiftungen, eingetragene Vereine), kirchliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser, aber auch zahllose Vereine in den Pfarreien mit religiös motivierten Zielen 281 . Für derartige Vereine findet sich im Grundgesetz, abgesehen von der Erwähnung in Art. 140 GG LV.m. Art. 138 Abs. 2 WRV, keine ausdrückliche Regelung. Das Grundgesetz enthält, insbesondere im Rahmen des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 und 2 GG), keine Vorschrift wie Art. 124 Abs. 1 Satz 3 WRV über ,,religiöse Vereine und Gesellschaften,,282. Wer einen religiösen Verein gründen möchte, kann sich nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung nicht auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV stützen. Diese Vorschrift garantiert nur das Recht, Religionsgemeinschaften zu bilden. Bildung und Bestand religiöser Vereine werden dagegen durch Art. 9 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet, ihre Tätigkeit im einzelnen durch das jeweils sachlich einschlägige Grundrecht, vor allem durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG283 . Allein diese differenzierte Sicht der verfassungsrechtlichen Stellung religiöser und weltanschaulicher Vereinigungen trägt dem Umstand Rechnung, daß das Grundgesetz eine Regelung der religiösen bzw. weltanschaulichen Vereinigungsfreiheit nicht kennt, sondern den Schutz von religiös oder weltanschaulich motivierten Personenzusammenschlüssen auf mehrere Füße stellt. Die Folge dieser Sichtweise besteht vor allem darin, daß religiöse Vereine nach Art. 9 Abs. 2 GG aufgelöst werden können 284 . Sofern also einzelne Vereine, die etwa als Trägervereine für bestimmte Einrichtungen neuartigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften zugeordnet sind, die die in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Voraussetzungen erfüllen, können sie nach § 3 VereinsG verboten werVgl. dazu Muckei, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 828 m.w.N. "Verein soziale Dienste St. Anna", "Verein für Mission und Entwicklung an St. Peter und Paul". 282 Art. 124 Abs. I WRV lautet: ,,Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die dem Strafgesetz nicht zuwiderlaufen, Vereine oder Gesellschaften zu bilden. Dieses Recht kann nicht durch Vorbeugungsmaßregeln beschränkt werden. Für religiöse Vereine und Gesellschaften gelten dieselben Bestimmungen. " 283 Muckei, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 828 m.w.N. 284 Näher für religiöse Vereine Muckei, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 829 m.w.N. auch zur Gegenmeinung; Planker, DÖV 1997, 101, 106f.; für Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 465 m.w.N.; Planker, DÖV 1997, 101 ff.; insoweit einschränkend Alberts, ZRP 1996, 60,61 ff., 64. Von der im Text vertretenen Ansicht geht auch Keltsch, in: Gross (Hrsg.), Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte, S. 141, 167, aus; er zweifelt allerdings daran, daß die Erfüllung der Voraussetzungen für ein Verbot scientologischer Organisationen derzeit nachgewiesen werden könne. 280 281
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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den. Auch findet das staatliche Vereinsrecht der §§ 21 ff. BGB im Grundsatz285 Anwendung. Wirtschaftlich tätige Vereine der "Church of Scientology" haben z. B. keinen Anspruch auf Eintragung als Idealvereine 286 .
2. Die negative Vereinigungs/reiheit Auch die religiöse und weltanschauliche Vereinigungsfreiheit hat eine negative Komponente. Aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 und 7 WRV folgt, daß niemand verpflichtet ist, einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft anzugehören. Soweit in dem Austritt aus einer Religionsgemeinschaft zugleich ein Bekenntnisakt zum Ausdruck gebracht wird, ist er daneben durch Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV garantiert287 . Der durch den Austritt geschaffene Zustand ist dagegen allein von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV geschützt. Dabei beziehen sich die verfassungsrechtlichen Garantien nur auf Zusammenschlüsse auf dem Boden der staatlichen Rechtsordnung. Die rein geistliche Kultgemeinschaft ist nicht Gegenstand der religiösen Vereinigungsfreiheit nach dem Grundgesetz 288 . Ob die Religionsgemeinschaft (wie z. B. die römisch-katholische Kirche 289 ) den einzelnen trotz einer Austrittserklärung noch als ihr Mitglied betrachtet, ist im Hinblick auf die negative Vereinigungsfreiheit ohne Belang. Sie garantiert lediglich, daß die Gemeinschaft fortan nach weltlichem Recht gegen den einzelnen keine Ansprüche mehr durchsetzen kann29o. Für das Verlassen religiöser Vereine ergibt sich Entsprechendes aus Art. 9 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht garantiert dem einzelnen das Recht, nicht religiösen oder weltanschaulichen Vereinen angehören zu müssen. Soweit manche neuartigen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften austritts willige Mitglieder am Austritt hindem29 1, ist dies mit der negativen Vereinigungsfreiheit nicht vereinbar292 . 285 Vgl. BVerfGE 83, 341, 357f. Zu Modifikationen in der Rspr. Muckei, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 835 ff. insbesondere mit Fn. 56. Zur Rspr. (insbesondere zum Entzug der Rechtsfähigkeit): Abel, NJW 1997,426,430 m. Nachw. 286 Vgl. OLG DüsseldorfNJW 1983,2574; VG München GewArch. 1984,329; VG Stuttgart NVwZ 1994, 612; Karsten Schmidt, NJW 1988, 2574ff.; a.A.: Kopp, NJW 1989,2497, 2499ff., jeweils m.w.N.; wohl auch VGH BW NJW 1996, 3358, 3361 ff.; w. Nachw. in der Rechtsprechungsübersicht von Abel, NJW 1997, 426, 430 f. 287 Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 20 m.w.N. in Fn. 41. 288 Vgl. BVerfGE 83, 341,355. 289 Mörsdorf, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 615, 627; v. Campenhausen, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 755, 758 ff. 290 Zur Wirkung des Kirchenaustritts vgl. auch v. Campenhausen, in: Listll Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 777, 780. 291 Vgl. bereits oben S. 66 mit Fn. 37; näher dazu Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 196ff. m.w.N. 292 Zur (Dritt-)Wirkung der Grundrechte auch zwischen Privatpersonen oben S. 119 mit Fn. 26f.; S. 156 Fn. 214.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Der bereits im Zusammenhang mit der negativen Glaubensfreiheit erwähnten293 Kritik Johannes Hellermanns ist auch im Hinblick auf die religiöse Vereinigungsfreiheit nicht zu folgen. Hellermann sieht in den von ihm so genannten Handlungsrechten, zu denen er auch die Vereinigungsfreiheit rechnet294, "besondere grundrechtliche Gewährleistungen der Aktivität, also der Betätigung der Bürger,,295. Eine negative Seite der Handlungsrechte lehnt er ab 296 und verortet den grundrechtlichen Schutz der Passivität in Art. 2 Abs. 1 GG 297 . Hellermann gesteht zu, daß das Fehlen ausdrücklicher negativer Freiheitsrechte in der Verfassung keine grundsätzliche Entscheidung gegen die Möglichkeit grundrechtlichen Schutzes vor Zwang zum Handeln darstelle98 . Entgegen Hellermann 299 läßt sich aber auch den ausdrücklichen Garantien negativer Freiheit in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 und 4 WRV 300 nicht der Gedanke entnehmen, daß ,,Handlungsrechte" im übrigen keine negative Seite haben. Die negative Bekenntnisfreiheit und die negative Religionsausübungsfreiheit wurden bereits zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung als selbstverständliche Folgerungen aus der Religionsfreiheit angesehen 301 . Sie wurden gleichwohl ausdrücklich verbürgt, weil eine lange Geschichte des Glaubenszwangs zeigte, daß eindeutige Garantien zumindest nützlich sein können. In anderen Lebensbereichen waren vergleichbare Erfahrungen nicht gemacht worden, ausdrückliche Garantien negativer Freiheit wären nicht verstanden worden. Der Gegenschluß Hellermanns von der negativen Bekenntnis- und der negativen Religionsausübungsfreiheit aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 bzw. 4 WRVauf das Nichtbestehen einer negativen Seite der Freiheitsrechte im übrigen überzeugt daher nicht. Auch der Hinweis Hellermanns auf die geschichtliche Entwicklung einzelner Grundrechte zwingt nicht zur Verabschiedung der Idee einer negativen Seite der Freiheitsrechte. Wenn er ausführt, daß bei der Entwicklung der Freizügigkeit, der Freiheit der Berufswahl sowie der Meinungs-, der Versarnmlungs-, der Vereinigungs- und der Koalitionsfreiheit regelmäßig die Sicherung freier Aktivität in Rede stand302, so schließt dies nicht aus, daß erst später aus Anlaß neuer ProblernkonOben S. 140 mit Fn. 99f. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 135 für Art. 9 Abs. I GG. Eine besondere Untersuchung von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV findet sich bei Hellermann nicht. 295 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 231. 296 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 233 f., pass. 297 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 162 f., 173 f., 180 ff., 199 ff., pass. 298 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 160. 299 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 161. 300 Dazu oben S. 147, 153 f. 301 Anschütz, WRV Art. 136 Anm. 4 (S. 625 f.) und Anm. 5 (S. 627); Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 343 f. 302 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 150ff. 293
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12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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stellationen eine weitere Dimensionen des grundrechtlichen Schutzes herausgearbeitet wird. Entgegen Hellermann treten auch unüberwindbare "Dysfunktionalitäten bei der Anerkennung einer negativen Seite,,303 der Freiheitsrechte nicht auf. Es überrascht nicht, daß Ausländer nicht in den Genuß der negativen Seite von Grundrechten kommen, deren Träger nur Deutsche sein können. Die Überlegung Hellermanns, daß die Pflicht zur Betätigung für das Gemeinwesen eher Sache der Deutschen als der Ausländer ist304, bestätigt dieses Ergebnis und zeigt, daß eine negative Grundrechtskomponente vor allem für Deutsche Bedeutung erlangen kann. Die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte sind in der Tat durchweg auf die positive Seite des Schutzbereichs zugeschnitten 305 . Dieser Befund spricht jedoch nicht entscheidend gegen eine negative Seite der Freiheitsrechte. Er zeigt vielmehr nur, daß Einschränkungen auf der negativen Seite eines Freiheitsrechts nicht ohne weiteres denselben Regeln unterliegen wie auf der positiven Seite. Die bisherigen Erfahrungen mit negativen Freiheitsrechten zeigen, daß dieses Problem im Wege der Auslegung gelöst werden kann.
VII. Kollektive Religionsfreiheit 1. Bekenntnis und Religionsausübung durch Personengemeinschaften Mit der Freiheit, aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen Vereinigungen zu bilden, ist ein weiterer, zentraler Aspekt religiöser Freiheit nach dem Grundgesetz angesprochen: die sog. kollektive Religionsfreiheit. Ob Personengemeinschaften Träger der Garantien aus Art. 4 Abs. I und 2 GG sein können, erschließt sich bei einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Gewährleistungen ohne Schwierigkeiten. Zwar können Personenvereinigungen keinen Glauben haben 306 . Sie können aber die Überzeugungen ihrer Mitglieder verbreiten und insofern das Grundrecht der Bekenntnisfreiheieo7 aus Art. 4 Abs. 1 GG ausüben. Auch die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG kann in der Gemeinschaft und von
Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 163. Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 164. 305 Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 164. 306 Vgl. Rüfner, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 40; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1128; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 78 m.w.N.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 35; für Grundrechtsträgerschaft von Personengemeinschaften im Hinblick auf die Glaubensfreiheit sprechen sich demgegenüber aus: v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 10; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 41; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung) Rn. 72, der aber betont, daß juristische Personen keinen Glauben haben können. 307 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 36; v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 78 m.w.N. 303
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
einer Gemeinschaft betätigt werden 308 . Dies ist in der christlich-abendländischen Tradition ein fester Bestandteil der Grundrechtsinterpretation. Bereits im Parlamentarischen Rat wurde das Grundrecht ungestörter Religionsausübung als ein auch juristischen Personen zustehendes Recht genannt309 . Bekenntnisfreiheit und Religionsausübungsfreiheit sind Grundrechte, die gern. Art. 19 Abs. 3 GG ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar sind. Grundrechtsträger können nicht nur die Kirchen und andere gemäß Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 5 WRV korporierte Religionsgemeinschaften sein3 \O. Auch religiösen Vereinen und nach staatlichem Recht rechtsfähigen Gesellschaften 311 stehen die genannten Grundrechte zu. Über den Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG hinaus können schließlich auch IJichtrechtsfähige Vereine Träger der Bekenntnisfreiheit und der Religionsausübungsfreiheit sein 312. Typische Formen kollektiver Religionsausübung sind die oben genannten Kultushandlungen christlicher Kirchen 313 • Eine abschließende Umschreibung ist jedoch wie bei der individuellen Religionsausübungsfreiheit 314 nicht möglich. 2. Das Verhältnis von kollektiver Religionsfreiheit zum grundrechtlichen Schutz des einzelnen Die verschiedenen Gewährleistungen kollektiver Religionsfreiheit, die Bekenntnis- und die Religionsausübungsfreiheit, aber auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV und der Weltanschauungsgemeinschaften gern. Art. 137 Abs. 7 WRV 315 stehen in engem Zusammenhang mit den Grundrechten des einzelnen aus Art. 4 308 Der Sinn des Art. 4 Abs. 2 GG wird vom BVerfG auch in der Klarstellung gesehen, daß die Religionsfreiheit den Religionsgemeinschaften zukommt, BVerfGE 24, 236, 245 f.; zustimmend in jüngerer Zeit Richter, RdJB 1993, 257, 260. 309 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht III/l, S. 1095, 1128 m. Nachw. 310 Zur Grundrechtsträgerschaft von Religionsgemeinschaften mit der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts Rüjner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 73; v. Campenhausen, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 78; Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 4 Rn. 38 ff.; Steiner, JuS 1982, 157, 160, jeweils m.w.N. 3ll Zur Frage, ob neben dem Idealverein auch Aktiengesellschaft und GmbH Träger von Rechten aus Art. 4 Abs. I und 2 GG sein können, vgl. Rüjner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 41 m.w.N., der mit Recht zu dem Ergebnis kommt, daß alle juristischen Personen des Privatrechts Träger der Religionsfreiheit sein können; vgl. auch Rottmann, Sondervotum, in: BVerfGE 53,408,409; a.A.: BVerfGE 44, 103, 104 a.E. (ohne Begründung), betr. eine GmbH. 312 Näher zur nichtrechtsfähigen Vereinigung als Grundrechtsträger Rüjner, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 54ff. m. umfangr. Nachw. 313 Oben S. 149 mit Fn. 169. 314 Vgl. oben S. 149ff. 315 Näher zum Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften unten S. 181 ff.
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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Abs. 1 und 2 GG. Wie dieser Zusammenhang juristisch faßbar gemacht werden kann, ist noch nicht abschließend geklärt316 . Das Problem ist mehrschichtig: a) Der verfassungsrechtliche Status der Religionsgemeinschaft und der eines einzelnen Mitgliedes Es fragt sich zunächst, wie sich das Selbstverständnis des einzelnen in einer religiösen Frage zur Lehre der Religionsgemeinschaft verhält, der er angehört317 . Das Problem tritt auf bei Konflikten der unterschiedlichen Auffassungen, z. B. im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts, wenn sich für den Arbeitsrichter die Frage stellt, wer darüber zu entscheiden hat, was "der ,wahre' Katholizismus,,318 ist. Die Frage stellt sich aber auch, wenn der einzelne sich zwar im konkreten Fall nicht (wie im kirchlichen Arbeitsrecht) gegen die Religionsgemeinschaft stellt, der er angehört, er aber - etwa gegenüber einer staatlichen Vorgabe - eine religiöse Überzeugung geltend macht, die der Lehre seiner Religionsgemeinschaft nicht entspricht. Könnte im "Gesundbeter-Fall" des Bundesverfassungsgerichts319 der Ehemann der verstorbenen Ehefrau sich gegenüber einer strafrechtlichen Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung auch dann auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen, wenn er nicht der Glaubensgemeinschaft des Evangelischen Brüdervereins, sondern der Evangelischen Landeskirche angehörte?32o Unstreitig dürfte heute sein, daß sich die Lehre einer Religionsgemeinschaft nicht nach dem Verständnis einzelner Mitglieder oder Amtsträger oder bestimmter Kreise innerhalb der Gemeinschaft richtet321 . Nur den Religionsgemeinschaften als solchen kommt die Kompetenz zur Feststellung ihrer Lehre ZU 322 . Staatliche Stellen, insbesondere die Gerichte, müssen sich also, um den Inhalt dieser Lehre zu ermitteln, an die Religionsgemeinschaft selbst halten. Damit ist aber noch nicht Vgl. bereits den Befund von M. Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 17. Grundlegend zum Verhältnis von individuellem und kollektivem Selbstverständnis Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 217f. 318 Struck, NJW 1977, 366, 367, der der Einschätzung des Arbeitnehmers den Vorzug geben möchte; mit Recht ablehnend Rüthers, NJW 1977, 368, 370. 319 BVerfGE 32, 98. 320 Das BVerfG deutet an, daß es die Mitgliedschaft des Bf. im ev. Brüderverein für entscheidungserheblich hielt, wenn es ausführt, beide Ehepartner hätten die Freiheit, sich einer der eigenen Überzeugung gemäßen Glaubensrichtung anzuschließen und ihr Leben diesem Glauben entsprechend einzurichten (BVerfGE 32, 98, 110). Über einen aktuellen Fall aus den USA, der dem in BVerfGE 32, 98 entschiedenen Fall vergleichbar ist, berichtet Abel, NJW 1997,426,432. Weitere anschauliche Beispiele (aus der Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte) bei Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 97. 321 Vgl. BVerfGE 70, 138, 166; Hesse, in: List1/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 539 f.; Rüjner, FS Rechtswissenschaftliche Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, S. 797, 800. 322 H. Weber, FS Obermayer, S. 263, 268 f. 316 317
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
die Frage beantwortet, welches religiöse Verständnis maßgeblich ist, wenn die Ansicht des einzelnen, von deIjenigen seiner Religionsgemeinschaft abweicht - eine in Zeiten nachlassender Kirchenbindung häufig auftretende Situation. Gegen die im Streit um das kirchliche Arbeitsrecht aufgestellte These, daß "Kirchenautonomie und Gewissensfreiheit des einzelnen rechtlich gleichsinnig" seien323 , bestehen erhebliche Bedenken. In verfassungs geschichtlicher Sicht ist die Religionsfreiheit vor allem ein gruppenbezogenes Grundrecht 324 . Die heutige Verfassung betont in der religiösen Vereinigungsfreiheit (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 WRV)325 und vor allem im Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV die Ausübung der Religion in der Gemeinschaft, im "Kollektiv". Das Ziel dieser Gewährleistungen ist es, einem Glauben, der danach verlangt, in der Gemeinschaft gelebt und ausgeübt zu werden, den hierzu erforderlichen Freiraum zu sichern. Insofern 326 stellen die religiöse Vereinigungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften notwendige Ergänzungen der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dar327 . Dies macht in besonderem Maße deutlich, daß zwischen der religiösen Freiheit des einzelnen und der Gemeinschaft eine innere Verbindung besteht. Zugunsten der Religionsgemeinschaften verstärken die Gewährleistungen des Staatskirchenrechts die Garantien religiöser Freiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Dadurch wird zugleich die Rechtsposition des einzelnen Mitglieds einer solchen Gemeinschaft gestärkt328 . Andererseits stellt das institutionelle Staatskirchenrecht eine sinnvolle Umgrenzung der religiös-weltStruck, NJW 1977,366,367. So mit Recht Scheuner, DÖV 1967,585,589; ihm zustimmend Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 96; ferner Häberle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 117. 325 Oben S. 163 ff. 326 Die Vorschriften des Art. 137 Abs. 2 und 3 WRV haben daneben weitere Funktionen, etwa die institutioneller Garantien. 327 Listl, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 444; allgemein Losehelder, in: MarreJStüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 154: "Die individuelle Grundrechtsdimension wird durch die kollektive ergänzt." Zum Gedanken der Ergänzung von Grundrechten bereits oben S. 164 f. mit Fn. 274. 328 Vgl. Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 73, der mit Recht betont, daß von allen juristischen Personen des öffentlichen Rechts die Kirchen den Bürgern am meisten zur Verwirklichung ihrer individuellen Grundrechte dienen. Vgl. auch Dibelius, Überstaatliche Verbindungen der Kirche und Religionsfreiheit, S. 79f. m.w.N. Zur Stärkung der individuellen durch die kollektiven Rechte auch Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirehe, S. 490f., mit Blick auf § 147 der Paulskirchenverfassung; lestaedt, in: Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland, S. 148, 153. Grundlegend zur Freiheit des einzelnen in Verbindung mit anderen Menschen Denninger, Rechtsperson und Solidarität, S. 216, 244, pass.; Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, S. 355 ff.; ders., Freiheit durch Geselligkeit, EuGRZ 1984, 529, 533 ff. m.w.N.; ders., Vom selbständigen Menschen im verfaßten Gemeinwesen, in: Schuppert I Tzschadel (Hrsg.), Angewandte Dialektik, S. 64ff.; ders., Freiheit und Eigentum im Hinblick auf die Gesellschaft der Zukunft, ebd. S.96ff. 323
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anschaulichen Freiheit des einzelnen dar329 , indem es zum Ausdruck bringt, daß die Umsetzung religiöser Überzeugungen durch Gemeinschaften auf die Gewährleistungen des Staatskirchenrechts 330 angewiesen ist. Dies betrifft das Handeln durch die Gemeinschaft und in der Gemeinschaft. Eine Religionsgemeinschaft (wie auch eine Weltanschauungsgemeinschaft) im Sinne des Grundgesetzes ist durch einen religiösen (bzw. weltanschaulichen) Konsens gekennzeichnee 31 . Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß gerade bei neuen Gruppen, die mit dem Anspruch auftreten, Religions- oder Weltanschauungs gemeinschaften zu sein, das Vorliegen des religiösen bzw. weltanschaulichen Konsenses im Einzelfall besonders sorgfältig zu prüfen ist332 . Dieser Konsens wird in der regelmäßigen oder auch unregelmäßigen Ausübung des Glaubens bekräftigt. Der einzelne bezeugt seine Überzeugung aber auch durch die bloße Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft. Solange er sich VOn ihr nicht lossagt, muß vermutet werden, daß er in dem die Gemeinschaft tragenden Konsens steht. Ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf eine Sonderbehandlung wäre widersprüchlich. Damit geschieht dem einzelnen kein Unrecht. Er kann versuchen, innerhalb seiner Religionsgemeinschaft für seine abweichende Auffassung einzutreten, um die Gemeinschaft zu einer Änderung ihrer Lehre zu bewegen. Als letztes Mittel bleibt ihm die - grundrechtlich geschützte333 - Möglichkeit, sich von der Gemeinschaft abzuwenden. Dies hat zur Folge, daß der einzelne häufig nicht unter Berufung auf die ihm zustehenden Grundrechte des Art. 4 Abs. I und 2 GG den Schutz religiös begründeten Verhaltens verlangen kann,. wenn dies der Lehre seiner Religionsgemeinschaft widerspricht. Auch die Gewissensfreiheit verhilft - im Falle eines Gewissenskonfliktes auf religiöser Grundlage - seiner Überzeugung in vielen Fällen nicht zum Durchbruch334 . Zwar kann auch ein Gewissen, das dem einzelnen in einer bestimmten Frage etwas anderes vorgibt als die Lehre seiner Religionsgemeinschaft, grundrechtlich geschützt sein. Die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sollen, wie mit Recht vielfach betont wird, gerade auch Außenseitern und Sektierern zur Verfügung stehen335 . Gleichwohl muß aber auch ein schwer nachvollziehIn diesem Sinne Scheuner, ZevKR 15 (1970), S. 242, 254. Neben Art. 140 GG ist vor allem Art. 7 Abs. 3 bis 5 GG zu nennen. 331 Vgl. Müller-Volhehr, JZ 1981,41 f.; Kremser, ZevKR 39 (1994), S. 160, 164. 332 Müller-Volhehr, JZ 1981,41,42. 333 Oben S. 167 ff. 334 In der Tendenz auch Scheuner, ZevKR 15 (1970), S. 242, 254, 255. 335 Vgl. für die Gewissensfreiheit H. H. Klein, FS Doehring, S. 479, 493; für die "Glaubens- und Gewissensfreiheit" auch BVerwG DVBl. 1994, 168, 169; für die "Freiheit des Glaubens und der ungestörten Religionsausübung" VG Berlin NVwZ 1990, 100 = KirchE 27, 17, 19, betr. den Fall einer Christin, die keiner Religionsgemeinschaft angehörte und sich weigerte, bei einem Antrag auf Erteilung eines Personalausweises ein Lichtbild vorzulegen, das sie ohne Kopfbedeckung zeigt (zu diesem Problem bereits oben S. 161). Unrichtig Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Dach Art. 9 der Europäischen Menschen329
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
barer (und daher fragwürdiger) Gewissenskonflikt in substantiierter Weise dargelegt werden. Wenn der Bürger sich auf einen - religiös fundierten - Gewissenskonflikt beruft, für den die Lehre seiner Religionsgemeinschaft keine Grundlage bietet, wird er häufig nicht plausibel darlegen können 336 , warum sein Gewissen strengere Anforderungen an ihn stellt als die Religionsgemeinschaft. Im Ergebnis läuft der Widerspruch zwischen persönlichem Gewissen und der Lehre der Religionsgemeinschaft, der der einzelne angehört, darauf hinaus, daß die Darlegung des Gewissenskonflikts erhöhten Anforderungen unterliegt. Dies gilt freilich nur, wenn die Religionsgemeinschaft in der Lage ist, einen einheitlichen Willen zu bilden. Nach abendländisch-christlichen Vorstellungen, die sich an den christlichen Kirchen orientieren, ist dies selbstverständlich. Aber schon der Blick auf den Islam, seine Erscheinungsformen in Deutschland und die Vielzahl der Vereinigungen, die er hierzulande hervorgebracht hae 37 , schärft das Problembewußtsein. Die Herausbildung von Instanzen, die verbindlich über Lehre und Ordnung entscheiden, ist bei den muslimischen Organisationen in Deutschland erst ansatzweise erkennbar338 • Solange dies nicht weiter fortgeschritten ist, bewegen staatliche Rechtsanwender sich auf unsicherem Boden, wenn sie das religiöse Selbstverständnis des einzelnen mit einer übergreifenden islamischen Lehre vergleichen wollen. Wer keiner Religionsgemeinschaft angehört, die in der Lage ist, religiöse Vorstellungen klar zu formulieren, kann nicht an Stellungnahmen mehr oder weniger zufällig ausgewählter "Schulen" oder Zentren festgehalten werden 339 oder sich auf sie berufen34o .
rechtskonvention, S. 96, wenn er nur solche Verhaltensweisen als von der Religionsausübungfreiheit geschützt ansieht, "die von einer Mehrzahl der Gläubigen in gleicher oder ähnlicher Weise ausgeübt werden"; unrichtig auch Kuhl/Unruh, DÖV 1991,94,98 mit Fn. 33. 336 Zur Notwendigkeit einer Plausibilitätskontrolle bei der Nachprüfung von Gewissensentscheidungen Rüjner, RdA 1992, 1,3. 337 Dazu Stempel, Zwischen Koran und Grundgesetz. Religiöse Betätigung muslimischer Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, S. 56ff.; Abdullah, Was will der Islam in Deutschland? S. 37ff.; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Dialog mit einer neu etablierten religiösen Minderheit in NRW, türkische Muslime und deutsche Christen im Gespräch, S. 83 ff. 338 Vgl. Muckei, DÖV 1995,311,314 m. Nachw. 339 Zweifelhaft deshalb VG Gelsenkirchen NWVBL 1993, 116, 117, das dem Kläger eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten mit der Begründung verweigerte, daß es "glaubensmäßige islamische Autoritäten" gebe, die es für unbedenklich hielten, die Tiere vor der Schlachtung zu betäuben. Richtig dagegen AG Balingen NJW 1982, 1006, 1007 (aus der Zeit vor Erlaß des Tierschutzgesetzes). 340 Bedenklich daher BVerwGE 94, 82, 87 f., wo die Befreiung eines muslimischen Kindes vom Sportunterricht u. a. mit einer Bescheinigung des ,,Islamischen Zentrums Aachen" begründet wird, dazu bereits oben S. 83 mit FD. 9.
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b) Keine Eingrenzung der Gewissensfreiheit von Außenseitern durch die Lehren von Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften Gehört der einzelne keiner Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft an, kann sein religiöses bzw. weltanschauliches Selbstverständnis nicht ohne weiteres an den "üblichen" oder ,,herrschenden" Ansichten gemessen werden. Zwar bildet der einzelne seine Gewissensentscheidung nicht "in robinsonartiger Einsamkeit,,341. Die großen Verbände, vor allem die Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, schaffen die Grundlagen für seine Überlegungen und prägen sie vor342, auch wenn der einzelne nicht Mitglied in ihnen ist. Eine verfassungsrechtlich zwingende Verbindung zwischen Gewissensfreiheit und Staatskirchenrecht, wie Scheuner sie angedeutet hat343 , läßt sich daraus jedoch nicht ableiten. Die von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Gewissensfreiheit muß nicht religiös oder weltanschaulich fundiert sein344. Die Verfassung des säkularen Staates legt den Inhalt einer Gewissensentscheidung nicht in bestimmter Weise (religiös oder weltanschaulich) fest 345 . Die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG stehen, wie erwähnt, auch Außenseitern und Sektierern zur Verfügung 346 . Das Gewissen läßt sich nicht auf seine Richtigkeit oder Irrigkeit prüfen - auch das irrende Gewissen ist geschützt347 - und deshalb auch nicht starr an eine überindividuelle Instanz binden 348 . Das Gewissen eines von der Lehre seiner Religionsgemeinschaft abweichenden Mitglieds unterliegt, wie dargelegt349 , gesteigerten Anforderungen an die Glaubhaftmachung. Darüber hinaus erlaubt das Grundgesetz nicht, daß "Grundelemente staatskirchenrechtlicher Überlieferung für die Eingrenzung der Gewissensfreiheit fruchtbar gemacht werden,,35o. Für Personen, die keiner Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft angehören, muß darauf verwiesen werden, daß die Gewissensfreiheit sich spätestens unter dem Grundgesetz von ihren geschichtlichen religiösen Grundlagen gelöst hat. Herzog, DVBl. 1969,717,720. Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 125; ders., DVBl. 1969,717,720; Häherle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 110, 111 f., 117; im Ansatz auch Hollerhach, ebd., S. 116. 343 Scheuner, ZevKR 15 (1970), S. 242, 254. 344 Zur Ablösung der Gewissensfreiheit von der Religionsfreiheit bereits oben S. 155 mit Fn.207. 345 Vgl. Eckertz, Der Staat 1986, S. 251, 266. 346 Oben S. 173 mit Fn. 335. 347 Vgl. Scheuner, DÖV 1961,201,204 mit Blick auf Art. 4 Abs. 3 GG; Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 260f.: Gewissen als ,,Eruption der Eigentiichkeit des Selbst, die man nur mit staunender Toleranz zur Kenntnis nehmen und respektieren, aber inhaltlich nicht überprüfen kann". 348 H. H. Klein, FS Doehring, S. 479, 493. 349 Oben a. 350 So aber Scheuner, ZevKR 15 (1970), S. 242, 254. 341
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"Gruppenbezug,,351 der Gewissensfreiheit kann bei einem Außenseiter nur mittelbar bestehen. Demjenigen, der nachweisen kann, daß seine Anschauung von einer bestimmten Religion oder Weltanschauung vorgeprägt ist, wird die notwendige 352 Prüfung seiner Einwände mit Blick auf die Gewissensfreiheit leichter fallen 353 als jemandem, der sich allein oder in einem kleinen Kreis eine Meinung gebildet hat354 . Dies ist der Grund dafür, daß viele Kriegsdienstverweigerer im Vorfeld der bis 1983 gesetzlich vorgesehenen mündlichen "Gewissensprüfung,,355 auch dann den Rat eines Geistlichen suchten, wenn sie dem christlichen Glauben und der Kirche ablehnend gegenüberstanden. c) Kollektive positive Religionsfreiheit und individuelle negative Religionsfreiheit In den Zusammenhang des Verhältnisses von kollektiver Religionsfreiheit und der grundrechtlichen Stellung des einzelnen muß auch die Frage danach gestellt werden, wie das Bekenntnis oder die Ausübung einer Religion durch eine Gruppe oder mehrere Einzelpersonen mit dem Wunsch eines einzelnen auf Unterlassung derartiger Verhaltensweisen in Einklang gebracht werden kann. Das Problem tritt in einer Gesellschaft, die in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht immer heterogener wird, verstärkt auf. Auf Schlagworte reduziert lautet die Frage: Wie verhält sich die kollektive positive Religionsfreiheit zur individuellen negativen Religionsfreiheit?356
Die Frage ist im Anschluß an das Schulgebetsurteil des Hessischen Staatsgerichtshofs vom 27. 10. 1965 357 und den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zum Kreuz in bayerischen Schulräumen358 viel diskutiert worden. Das Schulgebet und das von Schülern angebrachte Wandkreuz stellen Akte gemeinsamen Bekenntnisses dar359 . Es handelt sich um Formen der Grundrechtsverwirklichung, für die Häberle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 117. Vgl. dazu H. H. Klein, FS Doehring, S. 479; Scheuner, DÖV 1961,201,204. 353 Vgl. Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 260, der die Mitgliedschaft in Organisationen als Beweis, "zumindest als Anscheinsbeweis" für eine bestimmte Gewissensentscheidung wertet. 354 Auch deshalb scheiterte die Klägerin in BVerwG DVBI. 1994, 168 (dazu bereits oben S. 83 f. mit Fn. 10 ff.). 355 Vgl. jetzt Art. 1 § 5 KDVNG v. 28. 2. 1983, zuletzt geändert durch Gesetz v. 17.12. 1990 BGBI. I, S. 2809. 356 Das Problem unterscheidet sich von den bisher dargestellten Konfliktsituationen dadurch, daß es an einem hoheitlichen Eingriff fehlt (sofern der einzelne sich nicht gegen die staatliche Anordnung eines Schulgebets oder eines Kreuzes im Schulraum wendet, dazu unten S. 179 mit Fn. 380); der Staat übt sein Letztentscheidungsrecht als Mittler eines Konflikts zwischen Privaten aus. 357 Hess. StGH NJW 1966,31. 358 BVerfGE 93,1; dazu bereits oben S. 119 mit Fn. 31. 351
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die Schule nur den institutionellen Rahmen bildee60 • Der Hessische Staatsgerichtshof löste die Kollision von positiver Religionsfreiheit der zum Schulgebet bereiten Schüler und negativer Religionsfreiheit des Schülers, dessen Eltern das Gebet ablehnten, zugunsten der negativen Grundrechtskomponente. Da das Recht zum Schweigen nicht in fremde Rechtskreise eingreife, sei es weder eingeschränkt noch einschränkbar361 • Dem einzelnen Schüler sei nicht zumutbar, das Klassenzimmer für die Dauer des Gebetes zu verlassen. Dadurch werde er in einer gegen seine negative Bekenntnisfreiheit verstoßenden Weise gezwungen, seine abweichende Überzeugung zu bekunden362 . A~ch das Bundesverfassungsgericht, das im Schulgebetsstreit noch einen anderen Standpunkt vertreten hatte 363 , legt in seiner Entscheidung zum Kreuz im Klassenzimmer der negativen Religionsfreiheit das größere Gewicht bei. Anders als beim Schulgebet könne sich der Andersdenkende von einem im Schulraum angebrachten Kreuz, seiner "Präsenz und Anforderung" nicht distanzieren. Der Konflikt lasse sich auch nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen; denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezwecke in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten364• Die negative Seite der religiösen Freiheitsrechte gibt dem einzelnen, wie dargelege 65 , das Recht, die (positive) Ausübung des Grundrechts zu unterlassen. Aus der negativen Freiheit läßt sich darüber hinaus nicht ein - gegen den Staat gerichtetes Recht darauf ableiten, daß andere Menschen ihren Glauben nicht bekennen 366 • 359 Vgl. für das Schulgebet Bäckenfärde, DÖV 1980, 323, 325. Zur der umstr. Frage, ob im Streit um das Schulkreuz eine Kollision von positiver und negativer Glaubensfreiheit vorliegt, vgl. M. Heckei, DVBI. 1996,453,479; Muckei, KuR 110 S. 21, 35 (Heft 2/1996, S. 65, 79), jeweils m. W.N. 360 Link, JZ 1980, 564, 565. 361 Hess. StGH NJW 1966, 31, 34. 362 Hess. StGH NJW 1966,31, 34f.; dem Urteil zustimmend v. Zezschwitz, JZ 1966, 337, 342 f.; Gallwas, BayVBI. 1966, 122, 124; Scheffler, Staat und Kirche, S. 328; ablehnend: vor allem BVerfGE 52,223,247; BVerwGE 44, 196,200; v. Carnpenhausen, Staatskirchenrecht, S. 77 ff.; Harnei, NJW 1966, 18; Erwin Stein, Gedenkschr. f. Röbbelen, S. 237, 248; Listl, FS Klecatsky, S. 571, 576ff.; ders., in: Listl 1Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 441 f. 363 BVerfGE 52,223,247. 364 BVerfGE 93, 1,24. Das BVerfG hat den ersten Leitsatz seines Beschlusses ("Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. I GG.") präzisiert. Die Pressestelle des Gerichts erklärte, der Leitsatz müsse richtigerweise zum Ausdruck bringen, "daß die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes verstößt" (EA.Z. Nr. 195 v. 23. 8. 1995, S. 1; EA.Z. Nr. 196 v. 24. 8. 1995, S. 3). Welche rechtliche Bedeutung diese "Präzisierung" hat, ist freilich unklar. 365 Oben S. 144 mit Fn. 133. 366 Vgl. Sällner/Seidl/Haas, Sondervotum, in: NJW 1995,2480,2482 = BVerfGE 93, 25: "Das Recht der Religionsfreiheit ist kein Recht zur Verhinderung der Religion." Ferner Müller-Volbehr, JZ 1995, 996, 999 m.w.N.: kein "Verzicht Dritter auf die von ihnen gewünschte Religionsausübung" .
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Indem der Hessische Staatsgerichtshof ein solches Recht auf der Grundlage der negativen Bekenntnisfreiheit konstruiert und das Bundesverfassungsgericht eine Rechtfertigung des Schulkreuzes durch die positive Seite des Grundrechts ausschließt367 , verhelfen beide Gerichte der negativen Seite zu einer Tragweite, die sie keinesfalls hat. Sie funktionieren das Recht zu schweigen um in ein Recht, fremde Rechtskreise zu beschränken. Mit Recht haben Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht im Schulgebetsstreit hervorgehoben, daß dem Grundgesetz ein Vorrang der negativen vor der positiven Bekenntnisfreiheit nicht entnommen werden kann 368 . Das Bundesverfassungsgericht wies damals den Weg zur Lösung der Kollisionslage 369 : Der Staat schreibt das Schulgebet nicht vor; er bietet lediglich der positiven Bekenntnisfreiheit im Bereich der Schule Raum, in "einem Bereich, den er ganz in seine Vorsorge genommen hat'.37o. Das Schulgebet ist keine staatliche Veranstaltung 37 !. Die staatliche Schulverwaltung darf die Abhaltung eines Schulgebetes nicht verbindlich anordnen 372 • Dies wäre mit dem aus dem Grundsatz religiöser und weltanschaulicher Neutralität des Staates folgenden Gebot der Nichtidentifikation 373 nicht zu vereinbaren. Wohl aber darf die Schulverwaltung im Rahmen der ihr durch den Neutralitätsgrundsatz nicht versagten Religionsförderung 374 das Gebet unverbindlich anregen und hierfür während der Unterrichtszeit einen Freiraum zur Verfügung stellen 375 • Das Schulgebet wird nicht angeordnet sondern ermöglicht376 . Dafür kommt es allerdings - entgegen der Ansicht des BundesverfasBVerfGE 93, 1,24. BVerwGE 44, 196, 200; BVerfGE 52, 223, 247; zustimmend Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439,442; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 77 f.; die damalige Entscheidung des BVerfG wird ohne nähere Begründung abgelehnt von G. Czermak, in: ders., Staat und Weltanschauung, S. 271, 302f. 369 Vgl. Link, JZ 1980, 564, 565: "Grundrechtskollision". Zu ihr bereits oben S. 63 mit Fn. 15; S. 104 mit Fn. 125. 370 BVerfGE 52, 223, 241. 371 Zur Frage, inwieweit es sich um eine schulische Veranstaltung handeln kann, Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, S. 148. 372 Entgegen Suhr, NJW 1982, 1065, 1068, kann von einem "obrigkeitlichen Schulgebet" durchweg keine Rede sein. Unrichtig daher auch v. Zezschwitz, JZ 1966, 337, 339; ders., JZ 1971, 11, 12, 15 ("staatliche Glaubensverkündigung"). Richtig v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art 4 Abs. I, 2 Rn. 15. Zu der Unterscheidung auch Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, S. 77 mit Fn. 256. Zur Anordnung eines Schulkreuzes unten Fn. 380. 373 Dazu oben S. 75 f. 374 Vgl. Kewenig, Das Grundgesetz und die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, in: KrautscheidtiMarre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (6), S. 9, 28. Pauschal zustimmend: Pirson, in: Marrel Schümmelfeder (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (28), S. 83, 84; vgl. auch Marre, KuR 410, S. 11, 12f. (Heft 3/95, S. 33, 34f.) m.w.N. 375 BVerfGE 52,223, 239f.; zum Zusammenhang zwischen Schulgebet und Religionsförderung auch Listl, FS Klecatsky, S. 571, 581. 367
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sungsgerichts377 - nicht auf den Charakter der Schule als Bekenntnisschule, christliche Gemeinschaftsschule oder Schule mit einem nichtchristlichen Gepräge an. Für einen freien Bekenntnisakt, dessen rechtliche Grundlage allein das Grundrecht der Schüler aus Art. 4 Abs. 1 GG ist, kann der Charakter der Schule keine Bedeutung haben 378 • Nichts anderes gilt im Grundsatz für das Kreuz im Klassenzimmer379 . Solange der Staat seine Anbringung nicht verbindlich anordnet380 , ist das Kreuz Ausdruck eines Bekenntnisakts derjenigen Schüler, die es an die Wand gehängt haben oder damit einverstanden sind381 . Der Staat bietet hierfür lediglich den erforderlichen Freiraum, ohne für eine bestimmte Religion Partei zu ergreifen oder seine Verbundenheit mit ihr auszudrücken 382 . Bei der Lösung der Kollisionslage ist für generalisierenden Formalismus nach dem vom Hessischen Staatsgerichtshof aufgestellten Grundsatz "negative vor positiver Religionsfreiheit" kein Raum. Der auf die positive Religionsfreiheit gestützte Anspruch darauf, daß die Religion im öffentlichen Leben nicht unterdrückt wird383 , kann nicht mit Hilfe der negativen Religionsfreiheit überspielt werden 384 . 376 So mit Recht v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 15 in Auseinandersetzung mit Überlegungen des BVerfG. 377 BVerfGE 52,223, 236ff.; dem BVerfG zustimmend v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 76f. m. Fn. 78; Scheuner, DÖV 1980, 518f.; Listl, in: HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 441 f. 378 Vgl. Böckenförde, DÖV 1980,323, 325 f.; das., DÖV 1980,515; Link, JZ 1980,564, 566; v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 15. 379 Vgl. Söllner / Seidll Haas, Sondervotum, in: NJW 1995, 2480, 2481 =BVerfGE 93, 25, unter Hinweis auf BVerfGE 52, 223. 380 Die staatliche Anordnung eines Kreuzes im Schulraum dürfte gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates verstoßen, wie sie oben S. 76 mit Fn. 36 ff. gedeutet wurde. Mit einer solchen Anordnung nimmt der Staat religiös Partei und zeigt seine eigene Verbundenheit mit einer bestimmten Religion (vgl. insoweit OVG NW OVGE 43, 164, 166, das bei seiner Entscheidung zugunsten des Schulkreuzes davon ausging, daß der Staat das Kreuz nicht anordnet; ferner BGer EuGRZ 1991, 89,94; Ehlers, in: Sachs [Hrsg.], GG Art. 1401 Art. 136 WRV Rn. 8; i.e. dazu bereits Muckel, KuR 110, S. 21, 33 ff. [Heft 211996, S. 65, 77 ff.]). Anders wäre es, wenn der Staat nicht die Anbringung eines bestimmten Symbols verlangte, sondern eine allgemein gehaltene Aufforderung an die Schüler richtete, ihre religiöseen) oder weltanschauliche(n) Überzeugung(en) zeichenhaft zum Ausdruck zu bringen. Dann würde der Staat zwar zugunsten von Religion und Weltanschauung im allgemeinen Partei ergreifen. Dies ist jedoch eine zulässige Durchbrechung der Neutralität zugunsten von verfassungsrechtlich besonders hevorgehobenen und geschützten Belangen, zu deren Förderung der Staat tätig werden darf (zu solchen, von der Verfassung vorgegebenen Ausnahmen von der religiös-weltanschaulichen Neutralität bereits oben S. 81 mit Fn. 76). 381 Das verkennt J. Neumann, ZRP 1995,381,385, wenn er religiöse Symbole in staatlichen Räumen ausnahmslos für unzulässig hält. 382 Zur Deutung des Gebots der staatlichen Nichtidentifikation als Verbot, für eine bestimmte Religion Partei zu ergreifen oder Verbundenheit mit ihr zu bekunden, oben S. 76 mit Fn.36ff. 383 Vgl. Karlen, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, S. 223. 384 Vgl. Söllner/SeidIlHaas, Sondervotum, in: NJW 1995, 2480, 2482 = BVerfGE 93, 25: negative Religionsfreiheit "kein Obergrundrecht"; kritisch Goerlich, NVwZ 1995, 1184;
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Sollen beide Seiten des Grundrechts Bedeutung behalten, muß ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefunden werden, der nach Möglichkeit nicht einseitig nur zu Lasten einer Seite gehen dare 85 . Für den einzelnen Schüler bestehen vielfältige Möglichkeiten, sich dem Schulgebet zu entziehen, ohne daß dieses unterbleiben muß 386 . Aber auch der Streit um das Kreuz im Schulraum läßt Kompromisse zu. Ein großes Kreuz mit Korpus kann ausgetauscht werden gegen ein kleineres (ohne Korpus). Es muß nicht an exponierter Stelle an der Stirnseite des Klassenraums hängen. Das Kreuz kann an einer anderen Wand angebracht werden, mitunter gar an einer Stelle außerhalb des Blickfeldes des Schülers, der das Kreuz ablehnt 387 . Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in Ausnahmefällen der Konflikt nur durch einen völligen Verzicht auf das Schulgebet bzw. das Kreuz gelöst werden kann 388 . Vor allem in Schulklassen, die wie in vielen Großstädten zu einem Großteil aus muslimischen Schülern bestehen, wird eine solche Lösung in Betracht kommen. Die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG haben nicht vor allem anderen den Sinn, die Minderheit zu schützen389 . Auch der Mehrheit sollen Bekenntnis und unzustimmend dagegen Müller-Volbehr, JZ 1995,996,999; Geis, RdJB 1995,373, 384f.; gegen die Überbetonung der negativen Glaubensfreiheit durch das BVerfG wenden sich auch Lerche, in: Kath. Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft. Sonderheft: Schule ohne Kreuz? S. 15,20; v. Campenhausen, Karlsruhe fördert die Intoleranz. Was das "Kruzifix-Urteil" des Verfassungsgerichts bedeutet, in: Rheinischer Merkur Nr. 33 v. 18.8.1995, S. 1. 385 BVerfGE 52,223,241; Söllner/Seidl/Haas, Sondervotum, in: NJW 1995,2480,2482 = BVerfGE 93, 25; OVG NW OVGE 43, 164, 165; Geis, RdJB 1995, 373, 383; Reis, ZRP 1996,56,58. Die Notwendigkeit, das Recht auf Schweigen und das Recht auf Manifestation des Glaubens zum Ausgleich zu bringen, betonte bereits vor Erlaß der Entscheidung des BVerfG zum Schulgebet Erwin Stein, Gedenksehr. Röbbelen, S. 237, 248. Zweifelnd (mit Blick auf den Streit um Kreuze in den Klassenzimmern bayerischer Schulen) Pirson, BayVBI. 1995,755,757, der es für fraglich hält, ob das Interesse, von einer Einwirkung des Kreuzes freizubleiben, und das Interesse, ein Kruzifix im Unterricht gegenwärtig zu haben, "wirklich kommensurabel sind und in sachgerechter Weise gegeneinander abgewogen werden können". 386 BVerfGE 52,223,248. 387 Vgl. den Bericht über die Lösung des Problems in der Volksschule im bayerischen Ort Moorenweis: "Christus seitlich. Pragmatische Lösung für das Kruzifix", in: Die Zeit Nr. 44 v. 27. 10. 1995. Auf Lösungsmöglichkeiten wie die im Text genannten geht das BVerfG, wie in der Literatur mit Recht kritisiert wird (Müller-Volbehr, JZ 1995,996,998; Link, NJW 1995, 3353,3356; lestaedt, JRP 1995, 237, 260), nicht ein. 388 BVerfGE 52, 223, 253. Daß eine solche Lösung aber nicht die Regel ist, betont mit Recht Kühne, NWVBL 1991,253,259, der zugleich auf die Möglichkeit hinweist, daß Angehörige anderer Religionsgemeinschaften Symbole ihrer Religion anbringen. 389 So aber E. Fischer, Volkskirehe ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 70; vereinseitigend auch Holoubek, in: Grabenwarter I Hammer I Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 61, 66; ßYss, ZB11994, 385, 399ff.; Goerlich, NVwZ 1995, 1184, der den Minderheitenschutz als zentralen Gehalt der Grundrechte im religionsrechtlichen Bereich bezeichnet; richtig dagegen Erwin Stein, Gedenksehr. Röbbelen, S. 237, 248; H. Maier, in: Kath. Sozialwissenschaftliche Zentral-
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gestörte Religionsausübung ermöglicht werden 39o . Das Grundgesetz wendet sich nicht nur gegen die "Majorisierung dissentierender Minderheiten,,391, sondern auch gegen die "Intoleranz der Negation,,392. Der Konflikt von positiver und negativer Religionsfreiheit läßt sich nicht lösen durch Überlegungen zum Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in abstracto. Es ist vielmehr in concreto nach Wegen zu suchen um das Spannungsverhältnis der konfligierenden Grundrechte für beide Seiten möglichst schonend aufzulösen393 .
C. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsund der Weltanschauungsgemeinschaften Nach Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRVordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft394 ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Die Vorschrift gilt nach Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 7 WRV auch für Weltanschauungsgemeinschaften. Im Zeichen erheblicher Veränderungen des religiösen Lebens ergeben sich - wie erwähnt 395 bei ihrer Anwendung ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
I. Das Verhältnis des Selbstbestimmungsrechts zur grundrechtlichen Religionsfreiheit Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften 396 bedarf jedoch nur dann näherer Betrachtung, wenn es neben den Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG selbständige Bedeutung hat. Ist es bereits durch eine grundrechtliche Verbürstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft. Sonderheft: Schule ohne Kreuz? S.9, 11 f. 390 Vgl. Listl, FS Klecatsky, S. 571, 578; Erwin Stein, Gedenkschr. Röbbelen, S. 237, 248; mit Recht hebt Müller-Volbehr, JZ 1995,996, 1000, hervor, daß eine allzu starke Betonung des die Minderheit schützenden Aspekts der Grundrechte einem übersteigerten Subjektivismus Vorschub leistet. 391 Link, JZ 1980,564,566. 392 M. Heckei, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 14; jetzt wieder ders., in: Marre/Schümmelfeder/Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 82, 126 (,Jntoleranz der Negierung"); der im Text zitierten Formulierung zustimmend Link JZ 1980, 564,566. 393 Vgl. Söllner/Seidl/Haas, Sondervotum, in: NJW 1995,2480,2482 = BVerfGE 93, 25. 394 Das Grundgesetz (Art. 7 Abs. 3) spricht im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung nicht von "Religionsgesellschaften". Zur Terminologie bereits oben S. 39 Fn. 10. 395 Oben S. 23. 396 Im folgenden ist nur zur Entlastung des Textes stets von Religionsgemeinschaften, nicht auch von Weltanschauungsgemeinschaften die Rede. Für sie gilt inhaltlich infolge Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 7 WRV nichts anderes.
182
3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
gung, etwa die der Religionsausübungsfreiheit in Art. 4 Abs. 2 GG, geschützt, verspricht eine Untersuchung von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV von vornherein einen allenfalls nur sehr begrenzten Erkenntnisgewinn. Vor allem Joseph Listl sieht das Selbstbestimmungsrecht als bloße "Ausprägung des zu voller Tragweite aktualisierten Grundrechts der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG,,397 an, dessen Verbürgung in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV lediglich deklaratorische Bedeutung habe 398 . Der Schutzgegenstand des Selbstbestimmungsrechts werde von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vollständig erfaßt399 . Mit einer differenzierten, am Wortlaut der Garantien religiöser Freiheit ansetzenden Interpretation 4OO sind derartige Überlegungen nicht zu vereinbaren. Zwar schließt eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Gewährleistungen nicht aus, daß einzelne der durch Art. 140 GG in Bezug genommenen Vorschriften sich mit Blick auf andere Garantien des Grundgesetzes als von lediglich deklaratorischer Bedeutung erweisen. Besonders augenfällig ist dies etwa für die Vorschrift des Art. 140 GG i.Y.m. 136 Abs. 2 WRV, die bereits ihrem Wortlaut nach vom Regelungsbereich des Art. 33 Abs. 2 Satz I GG umfaßt ist. Auch läßt sich nicht leugnen, daß eine eindeutige Abgrenzung der durch Art. 4 Abs. 2 gewährleisteten Freiheit kollektiver Religionsausübung vom Selbstbestimmungrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 WRV bisweilen schwierig ist401 . 397 Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 369; ähnlich bereits ders., in: Krautscheidt/Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (3), S. 34, 87; später: ders., in: Friesenhahn/ Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 363, 401, 403; jetzt wieder ders., in: Listl/ Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR 2, Bd. I, S. 439, 447. Nachw. zu Zustimmung und Kritik der These Listls bei Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 201 ff.; ähnlich Leisner, in: MarrelStüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 9, 14; Schlief, Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche und seine Ausgestaltung im Bonner Grundgesetz, S. 216f.; nicht ganz eindeutig ders., in: FS Geiger 1989, S. 704, 719; vgl. auch Obermayer, BK Art. 140 Rn. 75, der Art. 137 Abs. 2 und 3 WRVais Konkretisierung des Art. 4 Abs. 2 GG verstand; Lücke, EuGRZ 1995,651,653 f., sieht das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften bereits als durch "das Grundrecht der kollektiven Glaubensfreiheit" gewährleistet an. 398 Listl in: Krautscheidt / Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (3), S. 34, 87; vgl. auch Lücke, EuGRZ 1995,651,653 f. 399 Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 372 ff.; jüngst auch Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 74. 400 Dazu oben S. 130. 401 Vgl. Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57, 60f.; auf ihn rekurriert Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 373. Später plädierte Hollerbach, Diskussionsbeiträge, in: Marre/ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 34 f., deutlicher für eine Unterscheidung der beiden Garantien; vgl. auch dens., in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 114. Zu Überschneidungen von grundrechtlicher Religionsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht vgl. auch Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten, S. 56; Scheuner, in: Friesenhahn / Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 79.
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
183
Doch können die beiden Gewährleistungen gleichwohl nicht zur Deckung gebracht werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften geht mit der Garantie des Ordnens und Verwaltens der eigenen Angelegenheiten 402 über die von Art. 4 Abs. 2 GG geschützte Religionsausübung der Religionsgemeinschaften hinaus403 • So umfaßt der Schutz des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV insbesondere "die organisatorische Seite,,404 des Tatigkeitsfelds der Religionsgemeinschaften. Grundstücksverwaltung 405 und Organisation der kirchlichen Buchhaltung 406 sind nicht Religionsausübung i. S. d. Art. 4 Abs. 2 GG, wohl aber Formen kirchlicher Selbstbestimmung gern. Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRY. Nur die Angelegenheiten, die in Erfüllung des religiösen Auftrags erfolgen und sichtbarer Vollzug des Glaubens sind, unterfallen dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 GG. Diejenigen Aufgaben, die zur Vorbereitung und Unterstützung dieses Auftrags wahrgenommen werden, werden dagegen durch das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRVerfaßt407 . Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften erhält damit gegenüber dem Grundrecht ungestörter Religionsausübung eine eigenständige Bedeutung408 . Es stellt, wie bereits erwähnt409 , eine notwendige Ergänzung der grundrechtlichen Religionsausübungsfreiheit dar, "die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt,,41O. Näher dazu unten S. 186 ff., 192. Vgl. Hollerbach, Diskussionsbeitrag, in: Marret Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 35; H. Weber, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 35 f. 404 H. Weber, Diskussionsbeitrag, in: Marrt!/ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 35. 405 Beispiel von v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 106; auf die Vermögensverwaltung verweist auch Jurina, Diskussionsbeitrag, in: KrautscheidtlMarre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (3), S. 179, 180. 406 Beispiel von H. Weber, Diskussionsbeitrag, in: Marre / Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 35 f. 407 Vgl. lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 202 m.w.N.; ferner Scheuner, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 79; Schleithoff, Innerkirchliche Gruppen als Träger der verfassungsmäßigen Rechte der Kirchen, S. 162, 163 f. 408 Im Ergebnis auch Steiner, JuS 1982, 157, 166; v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140/Art. 137 WRV Rn. 26ff.; Scheuner, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 79; Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, S. 35; Rüthers, Diskussionsbeitrag, in: Heinemann / Marre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (27), S. 72 f., mit Blick auf einen Vergleich von Art. 9 EMRK und Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 3 WRV; Preuß, AK-GG Art. 140 Rn. 16; Schleithoff, Innerkirchliche Gruppen als Träger der verfassungsmäßigen Rechte der Kirchen, S. 166; veranschaulichend anhand des Beispiels kirchlicher Krankenhäuser Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, S. 142. 409 Oben S. 172 mit Fn. 327. 402 403
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Verfassungsprozessual führt diese Sichtweise nicht zu einer schlechteren Stellung der Religionsgemeinschaften als der Ansatz Listls. Als notwendige Ergänzung der gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG verfassungsbeschwerdefähigen Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kann auch eine Verletzung des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV im Verfahren nach §§ 90 ff. BVerfGG gerügt werden411 . 11. Der materielle Gehalt des Selbstbestimmungsrechts Die Beantwortung der Frage, ob eine konkrete Angelegenheit vom Tatbestand des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRVerfaßt ist, verlangt eine "doppelte religionsbezogene Entscheidung,,412. Zum einen muß geklärt werden, ob die jeweilige Vereinigung eine Religionsgemeinschaft ist. Zum anderen gilt es festzustellen, ob die Religionsgemeinschaft in ,,ihren" eigenen Angelegenheiten berührt ist. Bei der Prüfung beider Voraussetzungen stellt sich nicht anders als bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Frage nach den Kriterien für die Interpretation religiös geprägter Rechtsbegriffe. Es fragt sich, ob Gesichtspunkte aufgezeigt werden können, die eine objektive Interpretation ermöglichen, oder ob das Selbstverständnis der Gemeinschaft entscheidend ist413 . 1. Der Streit um den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts Manche Gerichte und vereinzelte Stimmen in der Literatur bemühen sich um ein eingrenzendes Verständnis der eigenen Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft. Dazu werden im Grundsätzlichen ansetzende Vorschläge, wie die Reaktivierung der weithin für überwunden geglaubten "Bereichsscheidungslehre,,414 oder
410 BVerfGE 53, 366, 401, unter Hinweis auf Hesse, in: Friesenhahnl Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR I, Bd. I, S. 409, 414; vgl. jetzt dens., in: Listll Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 525 f.; zustimmend: Hollerbach, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 114; v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 I Art. 137 WRV Rn. 27; vgl. auch v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 107; Scheuner, in: Friesenhahnl Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 42; Tillmanns, in: Neumann/Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161, 205; ähnlich, wenngleich mit anderem Akzent, H. Weber, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR 2 , Bd. I, S. 573, 575, der die Freiheitsrechte als Ergänzung des Selbstbestimmungsrechts bezeichnet. 411 Insoweit gilt nichts anderes als das oben S. 164 f. mit Fn. 274 ff. zur religiösen Vereinigungsfreiheit Gesagte. 412 Kästner, ZevKR 34 (1989), S. 260, 268. 413 Vgl. zum Parallelproblem bei Art. 4 Abs. 1 und 2 oben S. 1 ff., S. 13 ff. 414 Wieland, Oer Staat 1986, S. 321, 343ff.; ders., OB 1987, 1631, 1635ff.; zustimmend Erwin Fischer, Volkskirehe ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 113 ff. Zur Bereichs-
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
185
die vom Bundesverfassungsgericht inzwischen nicht mehr benutzten Kriterien der "Natur der Sache" und der ,,zweckbestimmung" einer Angelegenheit415 , ebenso unterbreitet wie Lösungen, die bei den Besonderheiten des konkreten Falles anknüpfen416 und dem Problem auf diese Weise ausweichen417 . Dabei ist die Rechtsprechung meist mit Anträgen neuartiger (pseudo-) religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften befaßt. Überwiegend orientieren sich Rechtsprechung und Literatur jedoch nach wie vor bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 137 Abs. 3 WRVam Selbstverständnis der betreffenden Vereinigung 418 . Dabei wird durchaus nicht verkannt, daß ein solcher Ansatz zur Konturlosigkeit der Normen führen kann419 . Vorgeschlagen wird deshalb eine exakte Überprüfung des jeweiligen Selbstverständnisses mit den Instrumentarien, die das Beweisrecht der einschlägigen Prozeßordscheidungslehre vgl. Kästner, Staatliche lustizhoheit und religiöse Freiheit, S. 85; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 132, 234; Hesse, in: Listll Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 550f.; Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, S. 69 ff., 139 ff., 181 ff., 254 ff.; zu Anleihen an die Bereichsscheidungslehre in der jüngsten Rspr. des BVerwG unten Fn. 418. 415 VG Hamburg NVwZ 1991, 806, 812; Rottmann, Sondervotum, in: BVerfGE 53, 408, 410. Zu diesen auf Kahl, AöR 43/4 n.P. (1922), S. 115, 119 (..Natur der Sache") bzw. Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, 1894, S. 284 (..Sach- und Zweckbeziehung"), zurückgehenden und von Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 248, sowie in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 361, 389, aufgegriffenen Kriterien, insbesondere auch zu ihrer Bedeutung in der Rspr. des BVerfG: Hesse, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 539f.; eine der letzten Entscheidungen, in denen das BVerfG mit der ,,Natur der Sache" und der ..Zweckbeziehung" argumentierte, ist, soweit ersichtlich, BVerfG NJW 1983, 2571. Zur Kritik vgl. neben Hesse a. a. O. Kästner, Staatliche lustizhoheit und religiöse Freiheit, S. 246ff.; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 215 ff. 416 Vgl. etwa BVerwGE 82, 76,88 f.; VGH BW GewAreh. 1989,378,379 (.. Kembereich der Religionsausübung" durch Vorschriften des Gewerberechts nicht berührt). 417 Zu ähnlichen Tendenzen bei der Interpretation der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG oben S. 19 mit Fn. 89 f. 418 Vgl. die Ergebnisse der ausführlichen Analyse Isaks, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 68 (für die Rspr. des BVerfG), S. 102 (Gesamtbewertung der Rspr.), S. 110 (Befürworter einer selbstverständisorientierten Auslegung, zu denen auch Isak selbst zählt, vgl. ebd., S. 280f., 28lf., 285f., 287, pass.), S. 124 (Gegner einer selbstverständnisorientierten Auslegung). Ferner Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 437f.; Hesse, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 543 m. Fn. 73; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 1401 Art. 137 WRV Rn. 6; zur Rspr. des BVerfG vgl. auch Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbetimmungsrecht der Kirchen, S. 94. Eine Verbindung der Berücksichtigung des Selbstverständnisses mit Elementen der Bereichsscheidungslehre hat das BVerwG gefunden, wenn es den Zeitschlag einer Kirchturmuhr ungeachtet eines möglicherweise anders lautenden Selbstverständnisses der Kirche (der Glockenschlag weise auch auf die Zeitlichkeit des Menschen hin) als ..nicht sakrales Glockenschlagen" bezeichnet, das ..nicht mehr einem Bereich kirchlicher Tätigkeit zugeordnet werden" könne, ..in dem die allgemeinen Gesetze nur eingeschränkt geiten", BVerwGE 90,163,167; bestätigt durch BVerwG NJW 1994,956. 419 Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 102.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
nung zur Verfügung stellt420, sowie eine verstärkte Berücksichtigung der Gewährleistungsschranken421 . 2. Insbesondere: Die Thesen Joachim Wie lands
In einer breit angelegten Kritik hat Joachim Wieland dem Bundesverfassungsgericht, das - entsprechend der h.M. in Rechtsprechung und Literatur422 - den Kreis der von Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV geschützten "Angelegenheiten" vor allem mit Blick auf das Selbstverständnis der jeweiligen Reiigionsgemeinschaft bestimmt, vorgeworfen, es lege nicht den Text der Verfassung zugrunde, sondern trage ein vorgefaßtes Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Kirche an sie heran423 . Das Gericht verkenne den strukturellen Unterschied zwischen Art. 4 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV424 . Im Gegensatz zu Art. 4 GG sei das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht primär als Freiheitsrecht zu verstehen 425 , sondern als "Abgrenzung der Regelungsbefugnisse von Staat und Religionsgesellschaften,,426. Als Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften, deren Ordnung und Verwaltung ihnen durch Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV garantiert sei, läßt Wieland nur solche Aufgaben gelten, die nicht in den staatlichen Bereich hineinreichen427 . Geschützt seien daher zwar Glaubenslehre, Kultusordnung, Verfassung und Verwaltung der Religionsgesellschaften und ihrer Unterverbände428 , Rechte und Pflichten der Mitglieder von Religionsgesellschaften, Rechtsverhältnisse der geistlichen und anderer Amtsträger sowie das kirchliche Finanzwesen429 , nicht aber die karitative Tatigkeit der Religionsgesellschaften und ihnen zugeordneter Einrichtungen 43o. Davon ausgehend kann Wieland die "Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften" i. S. d. Art. 140 GG 420 421 422 423
328.
lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 152 ff. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 228 ff. Dazu die Nachw. in Fn. 418. Wieland, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, in: Der Staat 1986, S. 321,
Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 327, 332 f., 344. Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 347, 348; ders., DB 1987, 1633, 1636. 426 Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 348, ähnlich, ebd. S. 327. Vgl. auch Preuß, AK-GG, Art. 140 Rn. 27, der in Auseinandersetzung mit Hesses Zuordnungslehre (vgl. etwa Hesse in: Listl/Pirson [Hrsg.], HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 549ff.) zu dem Ergebnis kommt, Art. 137 Abs. 3 WRV sei "eine Abgrenzungs-, nicht eine Zuordnungsregel". 427 Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 346. 428 Insoweit setzt Wieland sich in einen Widerspruch zu seiner These, nur Religionsgesellschaften, nicht aber andere religiöse Zusammenschlüsse oder Einrichtungen könnten Träger des Selbstbestimmungsrechts sein (Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 342f.; dazu noch unten S. 193 mit Fn. 485). 429 Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 343, in Anlehnung an Anschütz, WRV Art. 137 Anm. 4. 430 Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 343 ff. 424
425
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRVais "objektiven Begriff" ansehen, der vom Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften unabhängig sei431 . In methodischer Hinsicht setzt Wie land am Text der Verfassung an und blickt daneben vor allem auf die geschichtliche Entwicklung des heute in Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. Er plädiert für eine Korrektur der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Interpretation des Art. 137 Abs. 3 WRV durch ,,Rückbesinnung auf die Verfassung,,432. Ein Blick auf den Text des Art. 137 Abs. 3 WRV vermag jedoch Wielands These, diese Norm diene vor allem der Abgrenzung eines engeren kirchlichen Wirkungskreises von dem des Staates, nicht zu stützen. Im Gegenteil: Der Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRVerinnert an die Garantie kommunaler Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG433 . Diese enthält nicht nur eine Regelung zur Unterscheidung des kommunalen vom staatlichen Wirkungskreis, sondern schirmt die Gemeinden auch gegen unzulässige, sachlich nicht gerechtfertigte Eingriffe ab434 . Aber auch der Hinweis Wie lands auf die geschichtliche Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften vermag nicht zu überzeugen. Wieland geht zurück auf die Zeit vor 1919, wenn er das Selbstbestimmungsrecht als bloße Abgrenzungsregel deutet435 und dem Staat die Aufgabe zuweist, darüber zu wachen, daß die Religionsgemeinschaften ihre Rechtsetzungs- und Verwaltungsbefugnisse nicht im Widerspruch zur staatlichen Rechtsordnung und zu Lasten der betroffenen Menschen ausüben436 . Bereits das Preußische Allgemeine Landrecht grenzte die "Religionsgesellschaften", die "Kirchengesellschaften" und die "geistlichen Gesellschaften" (§§ 10 ff. 11 11) vom Staat als "unterscheidbare und unterschiedene Lebenskreise,,437 ab und wies dem Staat lediglich über die äußeren Rechtsverhältnisse die Aufsicht zu (§ 32 11 11)438. Die Selbständigkeit der Kirchen für ihre inneren Angelegenheiten, insbesondere für die Gegenstände, auf die Wieland das Selbstbestimmungsrecht im heutigen Verfassungsrecht beschränWieland, Der Staat 1986, S. 321, 345f. Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 342. 433 Vgl. M. Heckei, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 14 f.: vom Staat verliehene Autonomie der Kirchen "nach dem Modell der Kommunalfreiheit". 434 Zu dieser Funktion des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG BVerwGE 67, 321, 323 - Rastede; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, S. 409; Schmidt-Aßmann, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1. Abschn. Rn. 19 ("Freiheit von Zweckmäßigkeitsweisungen anderer Hoheitsträger"), Rn. 24; Maurer, DVBI. 1995, 1037, 1041, jeweils m.w.N. 435 Oben Fn. 426. 436 Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 328. 437 Kahl, in: Harms (Hrsg.), Recht und Staat im Neuen Deutschland, Bd. I, 1929, S. 353, 361. 438 Dazu statt vieler Listl, in: Civitas VI (1967), S. 117, 126f. 431
432
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheit~rechte
ken möchte: Glaubenslehre, Kultus, Religionsausübung und Verfassung der Religionsgemeinschaften, gehörte bei Erlaß der Weimarer Reichsverfassung im Jahre 1919 längst zum staatskirchenrechtlichen Gemeingut439 . Die Reichsverfassung von 1919 knüpfte dagegen440 an die Paulskirchenverfassung an44 1, die mit § 147 Abs. 1 zwar auch eine Abgrenzung von Staat und Kirche vorausgesetzt hatte442, die aber mit dieser Vorschrift vor allem erstmals ein Recht der Religionsgesellschaften zur selbständigen Ordnung und Verwaltung vorsah443 . Mit Art. 137 Abs. 3 WRVerhielten die Religionsgemeinschaften "die volle Autonomie nicht nur in ihren inneren, sondern auch in den äußeren Angelegenheiten,,444. Die Reichweite dieser Garantie bestimmte nicht mehr der Staat nach seinem Ermessen445 . Unter der Geltung der Weimarer Verfassung setzte sich im staatskirchenrechtlichen Schrifttum446 nicht die von Gerhard Anschütz vorgetragene44? und von Wieland in 439 Vgl. nur Kahl, in: Hanns (Hrsg.), Recht und Staat im Neuen Deutschland, Bd. I, S. 353, 363; Rieker, Die Stellung des modernen Staates zur Religion und zur Kirche, der, S. 7ff., 24, bereits 1895 konstatierte, daß die Selbständigkeit der Religionsgesellschaften im Anschluß an die Paulskirchenverfassung weitgehend erreicht sei. Anders allerdings die meisten rückblickenden Betrachtungen späterer Zeit, etwa W. Weber, in: Staat und Kirche in der Gegenwart, S. 311, 313f. 440 Zur Neuartigkeit des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften aus Art. 137 Abs. 3 WRV im Vergleich zu früheren Rechtszuständen vgl. etwa Mausbach, Kulturfragen in der Deutschen Verfassung, S. 63 f.; Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, S. 291 f.; Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 44ff., 253. 441 Vgl. Mausbach, in: J. Schmitt (Hrsg.), Kirchliche Selbstverwaltung im Rahmen der Reichsverfassung, S. 131, 135. 442 V gl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 488 ff. Deutlicher noch für eine Trennung von Staat und Kirche § 147 Abs. 2 Halbs. 2 der Paulskirchenverfassung mit dem Verbot einer Staatskirche. 443 § 147 Abs. 1 der Paulskirchenverfassung lautet: ,,Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen." Abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 391. Nach Rieker, Die Stellung des modernen Staates zur Religion und Kirche, 1895, S. 8, ist damit die Kirchenfreiheit ,,in der schroffsten Form" gewährleistet. Das Verständnis des § 147 der Paulskirchenverfassung als Freiheitsrecht wird belegt durch die Entstehungsgeschichte der Norm, vgl. Zwirner, ZRG Kan. Abt. 72 (1987), S. 210, pass., insbesondere S. 212, 215, 222f., 225 f., 260, 280 f., 286, 294, sowie zur oktroyierten preußischen Verfassung von 1848 ebd. S. 235 (,,kirchliches Selbstbestimmungsrecht als liberales Freiheitsrecht"). 444 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 326, der die "äußeren Angelegenheiten" allerdings zu Unrecht auf "Organisation und Verwaltung" beschränkte. Dazu sogleich im Text. 445 Ebers, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 361, 365. 446 In der Praxis bestanden allerdings bis zum Ende der WRV Elemente der Staatskirchenhoheit fort (vgl. W. Weber, in: ders., Staat und Kirche in der Gegenwart, S. 311, 323 f.; insbesondere zur damaligen Rspr.: Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, S. 45 f., 48 ff. m. Nachw., der allerdings im Schrifttum zu undifferenziert die Befürworter einer Kirchenaufsicht als Verfechter der herrschenden Lehre bezeichnet, dazu
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
189
bezug genommene restriktive Interpretation des Art. 137 Abs. 3 WRV, sondern die Ansicht von Godehard Joseph Ebers durch448 • Er wandte sich gegen eine Befugnis des Staates, den Kreis der Angelegenheiten bestimmen zu -können, die den Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 3 WRV zur selbständigen Ordnung und Verwaltung überlassen waren449 • Zwar mochte Ebers auch den Religionsgesellschaften nicht die Befugnis einräumen zu entscheiden, was zu ihren Angelegenheiten i. S. d. Art. 137 Abs. 3 Satz I WRV zu zählen sei45o • Wenn er aber zur näheren Bestimmung dieser Angelegenheiten auf das verweist, "was seinem Wesen nach" in die Sphäre des Religiösen fällt451 , steht er an der Schwelle zu einer Auslegung des Tatbestandes von Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften. Anders als Wielarut 52 schloß Ebers auch solche Angelegenheiten nicht aus dem Anwendungsbereich des Art. 137 Abs. 3 Satz I WRV aus, die staatliche Interessen sogleich m. Fn. 448 f.), obwohl Anzeichen einer "Verse1bständigung der Kirche gegenüber dem Staat" unverkennbar waren, vgl. den Befund A. Schultzes, Die kirchenrechtliche Judikatur des Reichgerichts, in: o. Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, S. 278, 282 f. 447 Oben Fn. 429. 448 Vgl. etwa J. Heckei, Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 und 1931, VerwAreh. 37 (1932), S. 280, der seinen Beitrag mit dem Hinweis darauf einleitet, die Einsicht und der Wille hätten sich "entschieden verstärkt, dem älteren System der Kirchenhoheit Valet zu sagen"; ferner Kalle, Die Bedeutung des Satzes "Es bsteht keine Staatskirche", 1931, S. 31 ff., der sich, S. 34f., in Auseinandersetzung mit Ebers allein gegen dessen Formulierungen zur Trennung von Staat und Kirche wendet; Löhr, Ist eine staatliche "Kichenhoheit" und eine besondere Staatsaufsicht über die Kirche mit der deutschen Reichsverfassung vereinbar? 1927, S. 55; Rieder, Die Lockerung der bisherigen Staatshoheit gegenüber der Kirche durch die Reichsverfassung, 1928, S. 164; insbesondere gegen die Lehre von der Staatsaufsicht als "Korrelat" des Körperschaftsstatus Weiß, Die staatskirchenrechtliche Stellung der religiösen Körperschaften des öffentlichen Rechts in Württemberg, 1932, S. 22. A.A. in der hier allein interessierenden Spätphase der Weimarer Republik: Anschütz, WRV Art. 137 Anm. 5 (S. 637f.); Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 115 ff.; vermittelnd A. Schultze, Die kirchenrechtliche Judikatur des Reichsgerichts, in: o. Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, S. 278, 288, der zwar einerseits in Anlehnung an Holstein, AöR n.F. 13 (1927), S. 153, 175, besondere aufsichtsrechtliche Vorschriften des Staates im Grundsatz für zulässig hält, aber andererseits eine Prüfung jeder einzelnen Vorschrift daraufhin verlangt, "ob nicht etwa ihre Anwendung ... entweder nach ihrem eigenen Sinn und Zweck oder im Hinblick auf Sonderart und Selbständigkeit der Kirche ausgeschlossen ist". 449 Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 254, 258, der, S. 261 ff., den Kreis der eigenen Angelegenheiten der Religionsgesellschaften i. S. d. Art. 137 Abs. 3 WRV deutlich weiter faßt als Anschütz (oben Fn. 429), der wiederum die Ansicht von Ebers ausdrücklich ablehnt. 450 Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 258. 451 Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 258. Daneben plädiert Ebers ebd., für die Kriterien der "Natur der Sache" und der ,,zweckbeziehung", dazu bereits oben S. 184f. mit Fn. 415. 452 Oben Fn. 427.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
berühren453 . Zum Ausgleich hierfür verwies er - ganz auf der Linie der heutigen selbstverständnisorientierten Interpretation - darauf, daß der Staat auf der Grundlage des Schrankenvorbehaltes "des für alle geltenden Gesetzes" in der Lage sei, seine Interessen durchzusetzen 454 . Spätestens seit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften also nicht mehr auf einen bestimmten, nicht in den staatlichen Bereich hineinreichenden Kreis von Angelegenheiten beschränkt455 . Die anderslautende These Wielands456 wird durch die geschichtliche Entwicklung nicht belegt. Damit deutet sich bereits an, daß auch Wie lands Ansicht, die Vorschrift des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRY sei nicht primär als Freiheitsrecht457 zu verstehen, an der Entstehungsgeschichte vorbeigeht. In der Weimarer Nationalversammlung ist das Selbstbestimmungsrecht als Freiheitsrecht verstanden worden. Der Berichterstatter des Yerfassungsausschusses umschrieb den Zweck des späteren Art. 137 Abs. 3 WRy458 damit, daß die Religionsgesellschaften "auf dem Gebiete der Religion" selbständig seien459 . Dieser Grundsatz, der im Ausschuß in voller Einmütigkeit festgehalten worden sei, enthalte "die ,Freiheit der Kirche vom Staate' oder die ,Freiheit gegenüber dem Staate und seiner Macht",46o. Im staatskirchenrechtlichen Schrifttum der Weimarer Zeit war der Charakter des Selbstbestimmungsrechts als Freiheitsrecht nicht umstritten461 . Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 259. Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 259. 455 Aus gutem Grund wird auch seither nicht mehr von einem Recht der Religionsgemeinschaften zur "Selbstverwaltung", sondern von einem "Selbstbestimmungsrecht" gesprochen; besonders deutlich Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 253; ders., in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, S. 361, 387 f.; irreführend allerdings insoweit noch der Titel des von J. Schmitt herausgegebenen Buches "Kirchliche Selbstverwaltung im Rahmen der Reichsverfassung", 1926. 456 Oben Fn. 427. 457 Oben Fn. 424 f. 458 Art. 134 Abs. 3 im damaligen Entwurfsstadium. 459 Mausbach, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 329, S. 1644; Mausbach sprach insoweit allerdings noch vom "inneren Gebiete" der Religionsgesellschaften, dazu bereits oben S. 188 mit Fn. 444. 460 Mausbach ebd.; zum Verständnis des Selbstbestimmungsrechts als Freiheitsrecht in der Nationalversammlung vgI. ferner Abg. Naumann ebd., S. 1651, 1652 ("zunächst die Freiheit des Religiösen, dann die Freiheit der Kirchenverwaltung"); vgI. auch die Analyse von J. Schmitt, in: ders. (Hrsg.), Kirchliche Selbstverwaltung im Rahmen der Reichsverfassung, S. 1,41 ff. 461 Anschütz, WRV Art. 137 Anm. 4: ,,Freiheit der Betätigung"; ders. in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HdbDStR, Bd. 11, S. 675, 682, wo er das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV im Zusammenhang mit der gegen den Staat gerichteten, negatorischen Zielrichtung der Religionsfreiheit erwähnt; ferner Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 254, anknüpfend an das im Text zitierte Diktum Mausbachs in der Nationalversammlung; ders. in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 361, 362 ("Freiheit der Kirche vom Staat durch Vereinigungsfreiheit und Selbständigkeit in ihren eigenen Angelegenheiten"), S. 387 f. ("wirkliche Freiheit"). 453
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An dieses Verständnis knüpfte der Parlamentarische Rat - ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten, die über das Staatskirchenrecht bestanden462 - an463 , als er Art. 137 Abs. 3 WRV neben anderen Vorschriften der Reichsverfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes machte. Gerade die Technik der Inkorporation des Weimarer Staatskirchenrechts zeigt dies besonders deutlich auf"64. Smends berühmter Satz "Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe,,465 wurde nicht in dem Sinne verstanden, daß das Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRVals Bestandteil des Grundgesetzes nur in geringerem Maße als Verbürgung kirchlicher Freiheit anzusehen sei. Schnell setzte sich vielmehr die Auffassung durch, daß die ,,Freiheit der Kirche nach Art. 137 Abs. 3 WRV,,466 als ,,Freiheit ihres geistigen Wirkens in der Welt, ihrer Sendung zur Verkündigung der christlichen Botschaft und zum christlich-brüderlichen Dienste im Bereich der Öffentlichkeit,,467 zu verstehen ist. Das Grundgesetz führt, wie der Abgeordnete Dr. v. Brentano bereits in seinem schriftlichen Bericht für den Parlamentarischen Rat darlegte, eine Verstärkung der Freiheit und Kirchenautonomie 468 herbei. Die Rezeption der Weimarer Religionsartikel sollte nicht den Sinn haben, einen früheren weniger freiheitlichen Rechtszustand wieder herzustellen469.
462 Dazu jetzt die Darstellung von Badura, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 236ff. 463 Vgl. etwa Abg. Dr. Süsterhenn, in: v. Doemming/Füßlein/Matz, JÖR n.F. 1 (1951), S. 900, mit dem Hinweis, es gehe nur um die Formulierung geltenden Rechts; auch Abg. Seebohm, ebd., S. 905, unter Hinweis auf Art. 137 Abs. 3 WRV; Abg. Dr. v. Brentano, Parlamentarischer Rat, Bonn 1948/49. Schriflicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 850, 854), Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 61, 74. 464 Vgl. Scheuner, in: Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 237, 238, der mit Recht betont, daß die Inkorporation der Weimarer Vorschriften bei allen verständlichen Bemühungen um eine Neuorientierung auch auf das Jahr 1919 zurückweist. 465 Smend, ZevKR 1 (1951), S. 4. 466 M. Heckei, ZevKR 12 (1966/67), S. 1,23. 467 M. Heckei, ZevKR 12 (1966/67), S. 1,35 Fn. 7 sub 1, der, ebd., sub 2 auch von einem "status negativus aus Art. 137 Abs. 3 WRV" spricht; vgl. ferner Scheuner, in: Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 237, 247 ("Freiheit der Kirchen in der Gestaltung ihrer Angelegenheiten"). 468 Abg. Dr. v. Brentano, in: Parlamentarischer Rat. Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen Nr. 850, 854), Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 61, 73ff. 469 Vgl. Bertermann, MDR 1966, 881, 882 unter Hinweis auf BVerwGE 7,188,193 f.
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3. Kein feststehender Bestand der vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften geschützten Angelegenheiten Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV garantiert den Religionsgemeinschaften das freie Ordnen und Verwalten ihrer Angelegenheiten. Die Vorschrift gewährt den Religionsgemeinschaften einen Raum eigenständigen Wirkens. Zusammen mit dem Verbot der Staatskirche in Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 1 WRV ist das Selbstbestimmungsrecht die Grundlage dafür, daß die Religionsgemeinschaften "ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten,,47o. Die nähere Bestimmung der eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ist seit jeher umstritten471 . Mit Recht werden die genannten Versuche einer objektivierenden Interpretation des Selbstbestimmungsrechts 472 heute überwiegend zurückgewiesen 473 . Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß nur die Religionsgemeinschaften bestimmen können, was zu ,,ihren Angelegenheiten" zählt. Entscheidend ist insoweit ihr Selbstverständnis. An dieser Einsicht führt auch unter der Maxime möglichst objektiver Auslegung des Schutzbereichs kein Weg vorbei474 . Der religiös neutrale Staat hat kein eigenes Wissen von dem, was eine einzelne Religionsgemeinschaft zu ihren Angelegenheiten zählt. Die säkularen Maßstäbe, die anzulegen ihm die religiös-weltanschauliche Neutralität erlaubt475 , kommen vor allem bei den "Schranken des für alle geltenden Gesetzes" zum Tragen476 .
IH. Die Träger des Selbstbestimmungsrechts Nach dem Wortlaut des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV sind die ,,Religionsgesellschaften,,477 Träger des Selbstbestimmungsrechts. Sie sind jedoch nicht die einzigen Personenvereinigungen, die aus religiösen Gründen gebildet werden. BVerfGE 18, 385, 386. VgI. dazu Hesse, in: ListIlPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 538 ff.; ausführlich: lsak (Fn. 418). 472 Zu diesen Objektivierungsbemühungen oben S. 184f. mit Fn. 414 f. 473 Oben Fn. 418. 474 Zu der Maxime möglichst objektiver Auslegung des Schutzbereichs oben S. 122. Zur Notwendigkeit, den Begriff der "eigenen Angelegenheiten" in Art. 137 Abs. 3 WRV mit Blick auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft auszulegen, vgI. lsak (Fn. 418) und die von ihm angeführten Nachw.; ferner Tillmanns, in: Neumann I TiIImanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, S. 161, 207ff.; Muckel, DÖV 1995,311,314; Konkretisierung für einen speziellen Bereich bei Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, S. 146 f., 154 ff. 475 Oben S. 80f. Fn. 71. 476 Dazu unten S. 276 ff. 477 Zur Terminologie bereits oben Fn. 394. 470 471
12. Kap.: Die Schutzbereiche der Garantien religiöser Freiheit
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Neben den Religionsgemeinschaften sind die bereits erwähnten478 religiösen Vereine zu beachten. Fraglich ist, ob auch sie - über den Wortlaut des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz I WRV hinaus - Träger des Selbstbestimmungsrechts sein können. Das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend die h.L. 479 erkennen kirchennahe Einrichtungen und Vereinigungen in weitem Umfang als Träger des Selbstbestimmungsrechts an480 . Voraussetzung sei, daß "die Einrichtungen nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen,,481. Hiervon ausgehend hat das Bundesverfassungsgericht z. B. kirchlich getragene Krankenhäuser von der Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes freigestellt 482 , Zutrittsrechte betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zu Heil- und Pflegeanstalten mit kirchlicher Zielsetzung verneint483 und den Kirchen das Recht zugestanden, die für Kündigungen von Arbeitsverhältnissen entscheidenden Loyalitätspflichten der Arbeitnehmer und ihr Gewicht selbst zu bestimmen484. Mit dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Unterscheidung zwischen Religionsgemeinschaften auf der einen und ihren Einrichtungen auf der anderen Seite mißachtet485 . Ausgehend von seiner (wie gesehen) zu Recht dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften verpflichteten Interpretation des "Ordnens und Verwaltens" eigener Angelegenheiten versteht es sich von selbst, daß Art. 137 Abs. 3 WRV den Religionsgemeinschaften das Recht gibt, sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben solcher Vereine und Einrichtungen zu bedienen, die ihr "in bestimmter Weise zugeordnet,,486 sind. Nicht ganz eindeutig ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich im Hinblick auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Zuordnung besteht. Es bleibt unklar, ob es ausreicht, daß die betreffende Organisation Oben S. 165 ff. Vgl. die Nachw. bei Muckei, Kirchliche Vereine in der staatlichen Rechtsordnung, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 833 ff.; ferner Schleithojf, Innerkirchliche Gruppen als Träger der verfassungsmäßigen Rechte der Kirchen, S. 122 f. 480 BVerfGE 46, 73, 86f.; 53, 366, 391 ff.; 57, 220, 242; 70,138,162; vgl. auch Hesse, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 534f. 481 BVerfGE 46,73,85; ähnlich BVerfGE 53,366,391; 57, 220, 242; 70,138,162. 482 BVerfGE 46,73 - Goch. 483 BVerfGE 57,220 - Volmarstein. 484 BVerfGE 70, 138. 485 So aber Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 333, 343, pass.; ihm zustimmend Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 156 (,.Begrenzung des Begriffs Religionsgesellschaft"); ferner Fischer, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 113 ff. 486 BVerfGE 70,138,162 m.w.N. 478 479
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einen kirchlichen Zweck verfolgt487 oder ob eine organisatorische oder institutionelle Verbindung mit der Religionsgemeinschaft erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar betont, daß Organisationen, die eine solche Verbindung mit der Kirche haben, "ohne weiteres" ein Ziel verfolgen, das sie zu Trägem des Selbstbestimmungsrechts macht488 . Es hat aber nicht eine besondere Verbindung als Voraussetzung für eine Berufung der Einrichtung auf Art. 137 Abs. 3 WRV angesehen. Im Vordergrund stand stets der Zweck der jeweiligen Organisation489 . Richtigerweise kann es aber auf die Zielsetzung allein nicht ankommen. Erforderlich ist vielmehr eine "formalisierte Zuordnung,,490 des Vereins oder der Einrichtung zur Religionsgemeinschaft. Der Verein ist keinesfalls originär Träger des Selbstbestimmungsrechts. Er leitet seine verfassungsrechtliche Stellung vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft ab. Entscheidend ist daher, ob die Religionsgemeinschaft in der Arbeit des Vereins einen Beitrag zur Erfüllung ihres Auftrags sieht, nicht dagegen, ob der Verein sich mit den Zielen der Religionsgemeinschaft identifiziert. Ob der Verein und seine Arbeit als Angelegenheit der Religionsgemeinschaft i. S. d. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV angesehen werden491 , hängt vom Willen der Religionsgemeinschaft ab. Die - im Interesse klarer Anknüpfungspunkte für den Rechtsverkehr - unverziehtbare Formalisierung der Zuordnung zur Religionsgemeinschaft kann darin liegen, daß eine organisatorische Verbindung492 besteht493 oder die Religionsgemeinschaft eine Erklärung abgibt, in der die Arbeit der betreffenden Organisation anerkannt wird494 . Nur unter diesen Voraussetzungen kann sich eine Organisation, die nicht selbst Religionsgemeinschaft ist, auf Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV berufen.
487 Zu diesem Erfordernis BVerfGE 46, 73, 86 f. unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 236, 246 f. zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; BVerfGE 53, 366, 392 f. 488 BVerfGE 46, 73, 86f.; ferner BVerfGE 53, 366, 392f.; vgl. auch BVerfGE 57, 220, 242 f.; 70, 138, 163. 489 Anders das Ergebnis der Analyse von Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 68, der die Rspr. des BVerfG so versteht, daß der Zweck und die organisatorische Verbundenheit der Einrichtung mit der Kirche nebeneinanderstehende Voraussetzungen für eine Berufung auf Art. 137 Abs. 3 WRV sind. 490 Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof(Hrsg.), HStR VI § 138 Rn. 121. 491 Näher hierzu und zum folgenden MuckeI, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 833f. m.w.N. 492 Z.B.: Vorsitzender des Vereinsvorstands ist ein Amtsträger der Religionsgemeinschaft. 493 Hierfür plädieren Rüjner, Diskussionsbeitrag, in: Marre 1Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (17), S. 32; Frost, Diskussionsbeitrag, ebd.; v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 1401 Art. 137 WRV Rn. 42. 494 Vgl. Bürgel, Die Beziehung der katholischen Kirche zu ihren Vereinigungen im kirchlichen Recht und im Recht der Bundesrepublik Deutschland, S. 191 ff.; w. Nachw. bei Mukkel, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 834 Fn. 40.
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D. Zwischenergebnis: Die verbleibende Bedeutung des religiösen Selbstverständnisses auf der Ebene des Schutzbereichs religiöser Freiheitsrechte Die nähere Prüfung der einzelnen Schutzbereiche religiöser Freiheit hat die schon vorher (am Schluß des zweiten Teils dieser Untersuchung 495 ) formulierte Vermutung bestätigt: Die Schutzbereiche der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit lassen sich nur begrenzt mit Hilfe objektiver Kriterien näher bestimmen. Bereits ein Blick auf den Religionsbegriff macht dies deutlich. Religion im Sinne des Grundgesetzes kann nur in der Weise umschrieben werden, daß sie Fragen nach Herkunft und Ziel des Daseins, der Stellung des Menschen in der Welt und dem abstrakten Sinn des Lebens zum Gegenstand hat; dient eine Lehre nur als Vorwand für politische oder wirtschaftliche Ziele, ist sie weder Religion noch Weltanschauung. Aber schon Kriterien zur Abgrenzung von Religion und Weltanschauung stehen dem säkularen, religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht zur Verfügung. Für diese Unterscheidung kommt es allein auf das Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gemeinschaft an. Auch für die Frage, ob der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit betroffen ist, kann das Selbstverständnis bedeutsam sein. Anders als bei der Glaubensund der Bekenntnisfreiheit lassen sich die in Art. 4 Abs. 2 geschützten Verhaltensmodalitäten nicht abstrakt festlegen. Das gleiche gilt für das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und Weltanschaungsgemeinschaften aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 und 7 WRY. Welche "Angelegenheiten" vom Schutz dieses Rechts erfaßt sind, können nur die Religionsgemeinschaften bestimmen. Sie haben damit zugleich die Möglichkeit, auch die Arbeit einzelner Vereine oder Einrichtungen als ihre Angelegenheit zu betrachten, mit der Folge, daß auch diese Organisationen sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV berufen können. In ihren Ergebnissen weichen diese Überlegungen zu den Schutzbereichen der religiösen Freiheitsrechte häufig nicht von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (und der ihm folgenden Fachgerichte) ab. Ungeachtet ihrer kritikwürdigen Ausgangspunkte496 verdient sie insbesondere insoweit Zustimmung, als sie die Reichweite der Religionsausübungsfreiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften nach dem Selbstverständnis des jeweiligen Rechtsträgers bestimmt. Damit gewinnt die Frage nach den Schranken der einzelnen Gewährleistungen an Bedeutung. Aber auch verfasungsimmanente Grenzen, die bestimmte Aktivitäten von vornherein vom Schutz der jeweiligen Gewährleistung ausnehmen, sind zu prüfen. Sie müssen, sofern man sie grundsätzlich anzuerkennen bereit ist, berücksichtigt werden, noch bevor der Blick zu den Schranken wandert.
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Oben S. 122. Dazu oben S. 125 ff.
Dreizehntes Kapitel
Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit Verfassungsimmanente Grenzen 1 beruhen auf dem Gedanken, daß bestimmte Verhaltensweisen oder Ziele "von vornherein" nicht Gegenstand grundrechtlicher Freiheit sind. Sie sind dem grundrechtlichen Tatbestand in einem weiteren Sinne (ungeschrieben) zuzurechnen. Zu denken ist etwa daran, daß Verhaltensweisen, die sich gegen die staatliche Ordnung richten, die mit Gewaltanwendung verbunden sind oder (ohne daß Gewalt angewandt wird) einen Übergriff in Grundrechte Dritter darstellen, keinen grundrechtlichen Schutz genießen 2 • Für die Garantien religiöser Freiheit, deren Tatbestand nicht mit Hilfe objektiver Kriterien abschließend umschrieben werden kann, namentlich die Religionsausübungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, wäre damit noch vor einer Aktivierung der Gewährleistungsschranken 3 ein Filter gefunden, in dem manche als religiös motiviert gekennzeichnete, aber von der Verfassung als schädlich erkannte Aktivität abgeschöpft wird. Daß diese Überlegung nicht nur von theoretischem Interesse ist, wird durch die bereits erwähnten Praktiken sog. Jugendsekten4 illustriert.
1 Zur Terminologie: lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 56; Bethge, ZBR 1988, 205, 209: "verfassungsimmanente Schranke"; die Bezeichnung "verfassungsimmanente Grenze" erscheint jedoch insoweit glücklicher, als sie deutlicher zum Ausdruck bringt, daß bereits eine Begrenzung des Schutzbereichs, nicht erst eine Beschränkung der definitiven grundrechtlichen Gewährleistung auf der Schrankenebene in Rede steht. 2 Zu weitergehenden, in Rspr. und Lit. erarbeiteten Vorschlägen verfassungsimmanenter Grenzen v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, 1981. 3 Zum Unterschied zwischen verfassungsimmanenten Grenzen und Gewährleistungsschranken v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 9 f. 4 Oben S. 64 ff. mit Fn. 23 ff.
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A. Die Legitimität verfassungsimmanenter Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche Verfassungsimmanente Grenzen der grundrechtlichen Schutzbereiche beruhen letztlich auf Wertungen - Wertungen, die in der Verfassung ausdrücklich zum Ausdruck kommen oder ihr unausgesprochen zugrunde liegen 5 . Dem Grundgesetz wird jeweils die Wertung entnommen, daß bestimmte Güter von so großer Bedeutung sind, daß sie nicht zur Disposition stehen und daher auch nicht - oder jedenfalls nicht mit allen Mitteln - im Wege der Grundrechtsausübung angetastet werden können. Der Verfassungsinterpret steht vor der Aufgabe, solche Wertungen der Verfassung zu erkennen. Er geht dabei davon aus, daß die Verfassung ungeachtet des von ihr ermöglichten und gewollten geistig-ethischen Pluralismus verbindliche Orientierungspunkte setzt, die Ausdruck eines übergreifenden Konsenses sind. Auf einen solchen Konsens ist die demokratische Verfassung angewiesen. Schon der für diese Ordnung kennzeichnende Grundsatz der Mehrheitsentscheidung könnte ohne eine gemeinsame Basis schwerlich legitimiert werden6 . Zwar muß in der Demokratie der Konsens einer Mehrheit zu den sich immer neu stellenden Einzelfragen stets neu gefunden werden. Diese Arbeit erfolgt jedoch nicht freischwebend in einem ethischen Vakuum. Sie kann sich vielmehr an einigen (wenigen) verfassungsrechtlichen "Wertentscheidungen,,7 orientieren, die das äußere Zeichen eines grundlegenden Konsenses sind8 . Die Verfassung verfolgt auch in ihrem Grundrechtsteil nicht nur den Zweck, die Staatsrnacht zu beschränken9 . Spätestens seit Rudolf Smend die Werthaftigkeit verfassungsrechtlicher Bestimmungen aufgezeigt hat lO, muß der Sinn der Verfassung darin gesehen werden, daß sie Verfahren und inhaltliche Ausrichtung der staatlichen Gemeinschaft auf lange Dauer bestimmen 5 Vgl. v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 16 f., 35 f. unter Hinweis auf Überlegungen Friedrich Kleins und Dürigs. A.A. für die Anwendung verfassungsimmanenter Grenzen Isensee, FS Sendler, S. 39, 40: "Schutzbereich des Grundrechts wertindifferent gefaßt". Mit Recht betont jedoch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 298, daß letztlich alle Lösungsversuche, die des weiten Tatbestandsverständnisses und solche, die von einern engen Verständnis grundrechtlicher Schutzbereiche ausgehen (zu dieser Unterscheidung oben S. 53 ff. mit Fn. 50 ff.), auf Wertungen hinauslaufen. Deutlich auch de Wall, in: Der Evangelische Erzieher 1995,230,234, der bestimmte Elemente der "Wertordnung des Grundgesetzes" als "immanente Schranken" der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bezeichnet. Grundlegend: Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, S. 2 ff., pass. 6 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 61. 7 So die häufig gebrauchte Formulierung des BVerfG, vgl. dazu Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 363; Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 133 ff., jeweils mit umfangr. Nachw. 8 A.A.: Böckenjörde/Enders, Artikel ,,Freiheit", in: Stl.?, Bd. 11, Sp. 712, die in dem Konsens in einern pluralistischen Staat ein Element "ohne Orientierung" sehen. 9 Vgl. Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtgeltung und Konsens, S. 33, 61. 10 Vgl. bereits oben S. 48 f.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
möchtelI. Gerade diese in die Zukunft gerichtete Bestimmung der Verfassung als verbindlicher Entwurf gemeinsamer Entwicklung rechtfertigt es, in ihr auch Elemente eines grundlegenden Konsenses zu erkennen, die im politisch-gesellschaftlichen Alltag nicht überspielt werden können. Welche konkreten normativen Vorgaben diesen Grundkonsens im einzelnen ausmachen, ist herauszuarbeiten. Die aus rechtstheoretischer Sicht erhobene Forderung nach einer Dogmatik, die nicht aufgrund von Wertungen entscheidet, sondern ausgehend von weltanschaulicher und kultureller Neutralität des Rechts die "Richtigkeit" des positiven Rechts mit der Möglichkeit seiner Änderung und Verbesserung begrundet 12, beruht auf einer Fiktion. Diese Sichtweise verkennt, daß auch die Grundentscheidung einer Rechtsordnung für die Abänderbarkeit des Rechts eine Wertung darstellt, die es verhindert, den jeweils aktuellen Rechtszustand zum absoluten Maßstab zu erheben. Wird die Veränderung des Rechts zudem von dem Willen einer demokratisch legitimierten Mehrheit abhängig gemacht 13 , wird die fehlende Wertfreiheit derartiger Überlegungen vollends deutlich. Denn die Erhebung des Mehrheitswillens zum entscheidenden Maßstab beruht auf einer Wertung. Auch ist nicht ersichtlich, wie ganz ohne Wertungen eine Verbesserung des Rechts als solche erkennbar sein soll. Im Ergebnis wird bei einer Ausgrenzung bestimmter Verhaltensweisen aus dem grundrechtlichen Schutz die Lösung konkreter Fälle häufig nicht anders ausfallen als auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht bevorzugten Abwägung der gegenläufigen Verfassungsgüter im Einzelfall 14 • Das Bundesverfassungsgericht wird die Tötung eines Menschen für Zwecke der Kunst 1S ebenso wenig von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ansehen wie es eine entwürdigende Behandlung von Frauen im Namen einer religiösen Überzeugung 16 dem Schutz der Religionsfreiheit unterstellen wird. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts hat aber den Nachteil einer jeden Lösung mit Hilfe von Abwägungen: richterlicher Dezisionismus l7 tritt 11 Zu dieser Funktion der Verfassung Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.); Rechtsgeltung und Konsens, S. 33, 61 f. 12 Pawlowski, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409, 420f., pass., auch in: ders., Recht und Moral im Staat der Glaubensfreiheit, S. 37. 13 Pawlowski, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409, 432. 14 Dazu bereits oben S. 16 ff. mit Fn. 72 ff. 15 Zu diesem Beispiel F. Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 57; ders., JuS 1981,643 f.; Rüjner, Festg. BVerfG Bd. 11, S. 453, 460. 16 Zum "flirty fishing" der "Kinder Gottes" oben S. 64f. mit Fn. 25; zur Bewertung dieser Praxis auf der Grundlage der Rspr. des BVerfG vgl. Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 64 f. 17 Vgl. Hellel7TUlnn, in: Grabenwarter/Hammer/Pelzl/Schulev-Steindl/Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 129, 137. Vgl. auch das Ergebnis der ausführlichen Analyse Harald Schneiders, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten. Empirische Studie zu Methode und Kritik eines Konfliktlösungsmodells, S. 243. Zum Vorwurf der Kasuistik gegenüber der Rspr. des BVerfG auch H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154; Stern, FS Hübner, S. 815, 828, unter Hinweis auf Deninnger, JZ 1975, 545, 547; ferner Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 541; besonders
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an die Stelle klarer Vorgaben, die Rechtssicherheit tritt zurück zugunsten vermeintlicher Einzelfallgerechtigkeit. Da die Abwägung sich nicht an einer normativ faßbaren 18, feststehenden Rangordnung der betreffenden Güter orientieren kann, ist sie verwiesen auf die "willkürgefährdete, zufallsbeeinflußte, subjektive Wertung der Abwägungsbeteiligten, letztlich also des Richters,,19. Abwägungen vermögen nicht ohne weiteres "den Anforderungen eines rationalen, nachvollziehbaren und kontrollierbaren Subsumtionsprozesses gerecht zu werden,,2o. Sie werden mit einem Verlust an Rechtssicherheit erkauft21 , der als solcher schon einen rechtlichen Nachteil bildet, weil die Rechtssicherheit am verfassungsrechtlichen Rang des Vertrauensschutzprinzips teil hat22 . Die Methode der Güterabwägung ist "irrational und nicht vorausberechenbar", sie darf für den Juristen immer nur ein Notbehelf sein23 . Hinzu kommt, daß die verminderte Überschaubarkeit rechtlicher Entscheidungen verantwortliches und damit dem Gemeinwohl 24 dienliches Handeln des einzelnen erschwert. Ein solches Handeln setzt voraus, daß der einzelne die rechtlichen Folgen seiner Entscheidungen einigermaßen sicher abschätzen kann25 . Abwägungen lassen sich nicht völlig ausschließen, sollten aber aus den genannten Gründen nach Möglichkeit vermieden werden. Die Ausgrenzung bestimmter Verhaltensweisen aus dem Grundrechtsschutz bietet eine solche Möglichkeit und vermeidet - ein Stück weit - die Unsicherheiten der Abwägungsmethode. Sie steht aber in der Gefahr, die Grundrechte unangemessen zu verkürzen 26, und bedarf daher besonders sorgfältiger prüfung 27 . scharr die Kritik von Bettennann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 8, der in der Rspr. des BVerlG, insbesondere soweit sie sich auf die sog. Wechselwirkungstheorie (dazu unten S. 235 ff.) stützt, eine Kasuistik zu erkennen glaubt, die die Rspr. "an die Grenze der Kadijustiz" bringe. Nach Ansicht von Sendler, ZRP 1994, 343, 346, herrscht im Konfliktfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz inzwischen "Kadijustiz" vor. 18 Zur Möglichkeit, Güterabwägungen (auf abstrakter Ebene, nicht bei der Prüfung des Einzelfalls) durch Präjudizien handhabbar zu machen, unten S. 241 ff. 19 Isensee, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 175; vgl. auch Mahrenholzl Böckenförde, Sondervotum, in: BVerlGE 69, 57, 62f.; Pawlowski, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409, 415. 20 So aber Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 180; vgl. auch dens., JZ 1995, 26, 32. 21 Vgl. H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154; Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 541. 22 Vgl. dazu Muckel, Kriterien des verlassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 59 f.; zur Gefahr kasuistischer Interessenabwägungen ebd. S. 23 f., jeweils m.w.N. 23 Rüfner, Der Staat 1968, S. 41, 58. 24 Vgl. dazu oben 3. Kap. 25 Vgl. Pawlowski, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409, 422, unter Hinweis auf Max Weber. 26 Kritisch deshalb Bethge, JA 1985, 249, 252; Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301, 307 f. 27 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verlassungsrechts, Rn. 309; zur Behutsamkeit bei dem Rückgriff auf "von vornherein mitgedachte-ungeschriebene (immanente) Grundrechtsschranken" mahnt mit Recht auch Kloepfer, JZ 1986, 205, 209.
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Die Bemühungen, ungeschriebene Grenzen des grundrechtlichen Schutzes aufzuzeigen, stoßen seit jeher auf Kritik. Mögen sich in der Rechtsprechung erste, noch unsichere Anzeichen dafür finden lassen, daß die Gerichte apriorische Grundrechtsgrenzen nicht länger gänzlich ausschließen 28 , so geht die überwiegende Ansicht in der Literatur auf der Grundlage eines weiten Verständnisses grundrechtlicher Tatbestände29 inzwischen30 davon aus, daß dem Grundrechtsschutz vorausliegende Begrenzungen, die bestimmte Verhaltensweisen von vornherein ausschließen, nicht bestehen3l . In einer ausführlichen Kritik hat sich zuletzt Michael Sachs gegen Begrenzungen des grundrechtlichen Schutzes durch verfassungsimmanente Vorgaben gewandt. Nach seiner Einschätzung hat das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit langem im Vordergrund stehende Abwägungsmodell entscheidende Vorzüge. So biete die Arbeit mit diesem Modell die Gewähr sachgerechter Ergebnisse32 . Aufgrund seines umfassenden Anwendungsbereichs erlaube es zudem Begrenzungen gegenüber Grundrechtsbestimmungen jeder Art zu begründen, und habe darüber hinaus den Vorzug, eine strukturell einheitliche Lösung der gesamten Begrenzungsproblematik aufzuzeigen 33.
Diese Überlegungen tragen - von den bereits angedeuteten grundsätzlichen Einwänden gegen Abwägungslösungen34 abgesehen - die Bedenken gegen das Vorge28 BVerfG NJW 1984, 1293, 1294 - Vorprüfungsausschuß, betr. den "Sprayer von Zürich", wo das Gericht festhält, die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz I GG erstrecke sich "von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung" (Hervorhebung nicht im Original); zustimmend Kriele, JA 1984,629,636; Isensee, FS Sendler, S. 39, 58; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 177; ders., Diskussionsbeitrag, in: MarrelStüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (22), S. 148, 150; zur Kritik Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 539 mit Fn. 219; Ansätze zu verfassungsimmanenten Grenzen der grundrechtlichen Schutzbereiche finden sich ferner in den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, I; 88, 203; dazu unten S. 218ff. mit Fn. 163ff.) sowie in dem Kammerbeschluß BVerfG NJW 1994,3342, mit dem das BVerfG klarstellt, daß Wirtschaftswerbung, die sich einer fremden angesehenen Marke bedient, "von vornherein" aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit herausfällt. 29 Dazu oben S. 53 ff. 30 Noch 1981 konnte v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 4 f., mit Recht konstatieren, daß die Vorstellung verfassungsimmanenter Grundrechtsgrenzen überwiegend Zustimmung finde. 31 Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 525 ff.; ders., JuS 1995,984,985 f.; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 87 ff.; Schnapp, JuS 1978, 729, 733; MüllerVolbehr, DÖV 1995, 301, 307f.; v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, 1981; Heintschel v. HeinegglSchiifer, DVBI. 1991, 1341, 1344; Bolz, Das Verhältnis von Schutzobjekt und Schranken der Grundrechte, S. 194, der von "nebulösen Immanenzlehren" spricht, die "entbehrlich und dogmatisch unergiebig" seien. 32 'Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 525, 550ff., 571 ff.; vgl. auch dens., JuS 1995, 984, 985f. 33 Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 571 f.; im Ergebnis auch v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 147.
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hen des Bundesverfassungsgerichts in sich. Die Möglichkeit, die Begrenzung jedweden Grundrechts begründen zu können, mag aus politisch-pragmatischer Sicht ein Vorteil sein. Dem Anliegen der Grundrechte, den einzelnen vor Beeinträchtigungen bestimmter Lebensbereiche effektiv zu schützen, wird sie nicht gerecht. Auch die - nicht zu leugnende - umfassende Anwendbarkeit des AbwägungsmodelIs erscheint fragwürdig. Sie ist ursächlich dafür, daß Einschränkungen der Grundrechte nicht (mehr) von im Grundgesetz angelegten "sorgfältig abgestuften Vorbehalten,,35 abhängen, sondern von einer für alle Gewährleistungen in gleicher Weise geltenden ungeschriebenen Generalklausei, nämlich der Frage, ob sie auf einem höherrangigen Rechtswert basieren. Das Modell des Bundesverfassungsgerichts mag bei einzelnen Grundrechten durch besondere Modelle modifiziert und eigene Begriffe gekennzeichnet sein ("Wechselwirkungstheorie,,36, "Drei-StufenTheorie"). Im Ergebnis verbirgt sich dahinter nichts wesentlich Unterschiedliches und nichts anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht bei der Priifung von Einschränkungen vorbehaltloser Grundrechte offen ausspricht: eine "Abwägung aller Umstände des Einzelfalles'.37. Auf diese Weise werden die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte der Relativierung durch eine "unbestimmte Klausel" unterworfen, die das Bundesverfassungsgericht gerade ausschließen wollte 38 . Der Unterschied derartiger Grundrechte ohne die ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit der Einschränkung zu anderen Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt wird ebenso verwischt wie Abstufungen der je verschiedenen Vorbehalte. Auch birgt die Arbeit mit dem Abwägungsmodell des Bundesverfassungsgerichts eine Reihe von Problemen 39 , für die eine befriedigende Lösung nicht in Sicht ist. So läßt sich mit der diesem Modell zugrunde liegenden Formel von der Begrenzung der Grundrechte nur durch die Verfassung selbst40 keine Aussage darüber treffen, welche Inhalte der Verfassung in die Abwägung eingestellt werden Oben S. 198 f. mit Fn. 17 ff. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 309. 36 Dazu noch i.e. unten S. 235 ff. 37 BVerfGE 30, 173, 195 - Mephisto. A.A. im Hinblick auf die Stufentheorie des BVerfG zu Art. 12 Abs. 1 GG: Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 427ff.; wenn er, ebd. S. 460, hervorhebt, daß die Stufentheorie immerhin der Berufswahl ein größeres Gewicht beimesse als der Berufsausübung, so ist dem entgegenzuhalten, daß das BVerfG schon bald nach Einführung der Abstufung im ,,Apotheken-Urteil" (BVerfGE 7, 377) erkennen mußte, daß die unterschiedlichen Anforderungen an Beschränkungen von Berufswahl und Berufsausübung nicht strikt durchgehalten werden konnten (so im "Kassenarzt-Urteil" BVerfGE 11, 30,42f.). 38 BVerfGE 30, 173, 193: "Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den allgemeinen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter abhebt." (Hervorhebung nicht im Original). 39 Näher Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 552 ff. m.w.N. 40 BVerfGE 30,173,193. 34
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dürfen41 • Auch konnte bislang weder über die Voraussetzungen, an die eine Abwägung der verschiedenen Belange geknüpft ist, noch über die Kriterien, an denen die Entscheidung sich zu orientieren hat, Klarheit geschaffen werden42 • Die Vorwürfe, die gegen eine Suche nach verfassungsimmanenten apriorischen Grenzen des Grundrechtsschutzes erhoben werden, erweisen sich nicht als berechtigt. Die Ausgrenzung bestimmter Verhaltsweisen führt nicht dazu, daß die Grundrechte unter Mißachtung ihres Verfassungsrangs zurücktreten sollen43 • Sie geht vielmehr den im Vergleich zum Abwägungsmodell des Bundesverfassungsgerichts unbequemeren44 Weg einer Auslegung der grundrechtlichen Gewährleistungen, die sich nicht später, im Rahmen der Abwägung noch korrigieren läßt. Soweit sich ergibt, daß ein bestimmtes Verhalten von vornherein nicht vom Schutz eines Grundrechts erfaßt ist, ist dies eine keineswegs ungewöhnliche Folge juristischer Auslegungsarbeit, wenn diese nicht - wie etwa bei der Orientierung an der grundrechtsfreundlichen Auslegungsmöglichkeit 45 - einer vorgefaßten Tendenz folgen soll. Macht der Verfassungsinterpret sich von solchen Zielvorstellungen frei und sieht er in den Grundrechten nicht strukturell von anderen Normen grundlegend unterschiedene Gewährleistungen, so wird er in einer vorsichtigen frühen Aussonderung einzelner Verhaltensweisen auch keinen Verstoß gegen die sog. Schutznormlehre finden können46 . Denn die von ihr akzentuierte grundlegende, einseitige Ausrichtung der Grundrechte auf den Schutz des Bürgers wird durch ein enges Tatbestandsverständnis nicht in Frage gestellt. Auch wird dadurch nicht das einfache Dazu noch unten S. 261 ff. So mit Recht Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 2, S. 556 ff. bzw. 560 ff., jeweils mit umfangr. Nachw.; auf das Fehlen allgemeiner Kriterien für die Abwägung weist auch Isensee, FS Sendler, S. 39, 57, hin; ferner Schlink, EuGRZ 1984,457,461; v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 123 ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 280, mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß es an gesicherten Strukturprinzipien fehlt, welche bei Beeinträchtigungen der Gewissensbetätigungsfreiheit in klar prognostizierbarer Weise eine Abwägung steuern könnten; zu den besonderen Schwierigkeiten des Abwägungsmodells im Bereich der Gewissensfreiheit Herdegen, ebd., S. 283 f. 43 So aber Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 2, S. 538. 44 Vgl. dazu bereits oben S. 9 mit Fn. 24. 45 Dafür plädiert im Bereich der Religionsfreiheit Alberts, NVwZ 1994, 1150, 1151, 1154 mit Fn. 33 und 70 unter Hinweis auf die Rspr. des BVerfG zur Meinungsfreiheit; vgl. auch VGH BW NJW 1996, 3358, 3361: "die Grundrechte ... fordern ... die Auslegung des einfachen Rechts, die sie zur optimalen Geltung bringen" (mit Blick auf eine Berufung der "Church of Scientology" auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG); zum in die gleiche Richtung weisenden Grundsatz "in dubio pro libertate" vgl. bereits oben S. 54 f. mit Fn. 63 f. Gegen eine Grundrechtsinterpretation, die ,,im Zweifel sehr subjektiven Idealvorstellungen" folgt, auch Rüfner, NJW 1971, 15, 16. 46 Einen solchen Verstoß sieht jedoch Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 2, S. 539, der sich auch zu Unrecht gegen die Formulierung Isensees, FS Sendler, S. 39, 60, wendet, der Gesetzgeber habe im Grundsatz ein politisches Ermessen, ob und wie er seine Eingriffsmöglichkeit nutzt; ein solches Ermessen wird dem Gesetzgeber schwerlich abgesprochen werden können. 41
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Recht, soweit es Ausprägungen der verfassungsimmanenten Schutzbereichsgrenzen enthält, den Grundrechten pauschal übergeordnet47 • Der grundrechtliche Schutzbereich wird allein durch verfassungsrechtliche Vorgaben begrenzt48 , allerdings auch durch ungeschriebene, von der Verfassung aber als selbstverständlich zugrunde gelegte Aspekte. Im übrigen führt das Verfassungsrecht kein Eigenleben. Es ist in vielen Bereichen an das einfache Recht angebunden. Die Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch ergeben, Ausgestaltung und Begrenzung der Grundrechte durch das einfache Recht voneinander abzugrenzen 49 , mögen diesen Zusammenhang illustrieren. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Verfassung selbst und ihre Interpretation immer in die geistigen und gesellschaftlichen Kräfte, die im Zeitpunkt der aktualen Geltungsverwirklichung wirksam sind, eingebunden bleiben 5o . VorUrteile und Vor-Verständnisse sind hier immer am Werk. Entscheidend ist daher, daß die den Auslegungsprozeß bestimmenden Faktoren offengelegt werden, damit nicht der Verfassung stillschweigend untergeschobene Ideologien zum maßgeblichen Faktor der Interpretation werden 51 • Dem Abwägungsmodell werden insoweit entscheidende Vorteile gegenüber jedem engen Tatbestandsverständnis nachgesagt. Die Abarbeitung von Grund und Gegengrund auf den nacheinander geschalteten Stufen von Schutzbereich und effektivem Garantiebereich sei eher geeignet, die tatsächlichen Wertungen aufzudecken und so den Argumentationsprozeß transparent und nachvollziehbar zu gestalten52 . Daß diese Einschätzung infolge der grundlegenden Schwächen eines jeden Abwägungsmodells bezweifelt werden muß, wurde ebenso bereits dargelegt53 , wie die Bedenken, die gegen ein weites Verständnis grundrechtlicher Tatbestände und die ihm innewohnende einseitige Betonung individueller Freiheit bestehen54. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß das hier So aber Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 2, S. 539 f. Dies gesteht auch Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S. 169, vom Boden einer weiten Tatbestandskonzeption aus (vgl. ebd. S. 170, 173) zu. 49 Vgl. etwa Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 9 a.E., 15 f., 37 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 306f. 50 Hollerbach, in: Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, S. 37, 55. 51 Vgl. Hollerbach, in: Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, S. 37, 55. Ein mustergültiges Beispiel bietet insoweit BVerfGE 42,312, 330f., wo das BVerfG für die Interpretation der Schrankenformel des durch Art. 140 GG in die Verfassung aufgenommenen Art. 137 Abs. 3 WRVein historisch geprägtes Vorverständnis offenlegt. 52 Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 181, 184; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S. 172 unter Hinweis auf Kloepfer, Festg. BVerfG Bd. 11, S. 405, 406 f., der sich - mit Recht - für eine Trennung von Grundrechtstatbestand und -schranken und gegen eine "totale In-Eins-Sicht" ausspricht; sie wird aber mit der Vorstellung eines durch einzelne Aspekte begrenzten Schutzbereichs nicht befürwortet. Zu den Schranken der religiösen Freiheitsrechte unten 14. Kap. 53 Oben S. 198 f. 54 Oben S. 53 ff. 47
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befürwortete Modell eines durch einzelne Aspekte apriori begrenzten Schutzbereichs nicht zu einer Verunklarung des Argumentationsprozesses führt. Die grundlegenden Wertungen55 werden nicht verdeckt, sondern offengelegt. Soweit nicht eine verfassungsimmanente Schutzbereichsgrenze in Rede steht, verläuft der Argumentationsprozeß im übrigen nicht anders als bei einem weiten Tatbestandsverständnis. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß auch dieses Verständnis wie jedes andere Modell zur Interpretation der Grundrechte - nicht ideologiefrei ist. Wenn auch ,,klare Fälle grundrechtlichen Nicht-Schutzes das Ergebnis einer Abwägung" sein sollen, die "Abwägungsmöglichkeit für alle Fälle" offen gehalten werden soll56, so liegt dem der Wunsch nach einer möglichst unbegrenzten Freiheit des Individuums und einem möglichst weitgehenden Rückzug jedweder staatlicher Vorgaben zugrunde. Die Legitimität dieses Wunsches im demokratischen Staat steht außer Zweifel57 , von seiner ideologischen Vorprägung jedoch kann er deshalb nicht freigezeichnet werden 58 .
B. Keine allgemeine Schranke des Grundrechtsmißbrauchs Nicht selten wird mit Blick auf die Aktivitäten neuartiger religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften vorgebracht, sie mißbrauchten die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit59 . Die betreffenden Gemeinschaften könnten sich, so wird geltend gemacht, nicht mit Erfolg auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen 60 . Dabei wird bisweilen auf die bereits erwähnte 61 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. 11. 1960 rekurriert62, in der das Gericht den Staat anhält, einen Mißbrauch der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu verhindern 63 . Zur Bedeutung von Wertungen für die Arbeit mit Grundrechten bereits oben S. 197. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 (Hervorhebung im Original). 57 V gl. nur W Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 244 f. 58 Dabei soll der Begriff der Ideologie in einem wertneutralen Sinne verstanden werden, der davon ausgeht, daß menschliche Existenz stets in Machtbezügen gedacht werden muß und niemals eindeutig und ausschließlich rational gesteuert verläuft, vgl. zu diesem Ideologiebegriff Lieber, Artikel ,Jdeologie", in: EvStL3 , Bd. I, Sp. 1303; zum sog. positiven Ideologiebegriff auch Maihofer, in: Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, S. I, 18 ff. m.w.N. 59 BVerwGE 90, 112, 118; Guber, ,,Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 58 f.; Müller- Volbehr, in: Marre / Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (19), 132. 60 Abel, in: Engstfeld u. a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, S. 34, 39 ff., insbesondere S. 41 f.; ders., Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in bezug auf die "neuen Jugendreligionen", S. 114 f., bei dem aber nicht ganz klar wird, wie er die Figur des Grundrechtsmißbrauchs dogmatisch einordnen will, als Schranke - unter dieser Überschrift erörtert Abel das Problem - oder als Element des grundrechtlichen Schutzbereichs. 61 Oben S. 15 mit Fn. 63 ff. 62 v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), S. 135, 140; Abel (Fn. 60). 63 BVerfGE 12, 1,4. 55
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Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die Figur des Grundrechtsmißbrauchs weder eine verfassungsimmanente Begrenzung der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG64 noch eine Grundrechtsschranke im Sinne eines den Rechten Dritter oder kollektiver Güter dienenden, von außen65 an das Recht herangetragenen Begrenzungselements 66 ist. Der Grundrechtsmißbrauch hat vielmehr außerhalb des Anwendungsfeldes von Art. 18 GG67 keine selbständige Bedeutung. Art. 18 GG knüpft die - vom Bundesverfassungsgericht auszusprechende Rechtsfolge der Grundrechtsverwirkung daran, daß Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden. Damit ist zwar die Möglichkeit eines Mißbrauchs von Grundrechten im Dienste anderer Ziele nicht ausgeschlossen. Dies hat insbesondere für die in Art. 18 GG nicht genannten Grundrechte Bedeutung, zu denen auch die Religionsfreiheit zählt68 . Das derzeit herrschende "grundrechtsdogmatische Argumentationsschema: Schutzbereich - Eingriff - Schranken,,69 macht jedoch, von Art. 18 GG abgesehen, den Grundrechtsmißbrauch als eigenständige Rechtsfigur entbehrlich7o . Soweit ein Grundrechtsmißbrauch in der Verletzung rechtlich geschützter Interessen Dritter oder der Allgemeinheit gesehen wird71 , kann dies durch eine Aktualisierung der jeweiligen 64 Rechtsrnißbrauch wird als immanente Grenze angesehen von Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, S. 117 f. ("Handeln ohne Recht"); Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 129, 133 m. umfangr. Nachw.; ferner ders., AöR 95 (1970), S. 320. 65 Zu diesem, der heute herrschenden Sichtweise entsprechenden Verständnis von Grundrechtsschranken Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 250 ("Außentheorie"), S. 253 ff. 66 So wohl Abel (Fn. 60); auch Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 121 Rn. 51, wenn er den seine Rechte mißbrauchenden Störer als jemanden ansieht, der durch Eingriff in seine Rechtsbezirke zurückgewiesen wird. 67 Dazu oben bereits oben S. 31 mit Fn. 36; S. 57 mit Fn. 95. 68 Vgl. Vater, Die Schranken der Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Bonner Grundgesetzes und Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 145. Unrichtig v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 75, nach dessen Ansicht ein grundrechtlicher Mißbrauchs vorbehalt im "Widerspruch zu den normativen Regelungen des Grundgesetzes", insbesondere aus Art. 5 Abs. 3 Satz 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 18 und Art. 21 Abs. 2, steht. 69 Holoubek, in: Grabenwarter 1Hammer 1 Pelzll Schulev-Steindll Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 61 m.w.N. auch zur Kritik an diesem Schema. 70 Im Ergebnis auch Schwabe, JuS 1972,380,383 Fn. 17 m.w.N.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III 12, S. 545 f.; ob der Mißbrauch eines Grundrechts auch unter den Voraussetzungen des Art. 18 GG in das genannte Schema eingefügt werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung; Brenner, DÖV 1995, 60, 63, weist ihn der Schutzbereichsebene zu, wenn er ein mißbräuchliches Verhalten als "von vornherein" vom Schutz der Grundrechte nicht umfaßt ansieht und den bestimmungsmäßigen Gebrauch der Grundrechte als "immanente Schranke der Grundrechtsausübung" bezeichnet. 71 Zu diesen ..Mißbrauchstypen" Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, S. 51 bzw. 88. Gallwas konstruiert, ebd., S. 105, eine ..dritte Mißbrauchstype" der .. Verletzung unabdingbarer Interessen der staatlichen Gewalten"; dies läßt sich aber von der Grundrechtsausübung zum Nachteil von Allgemeininteressen nicht trennen.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Grundrechtsschranken oder besonderer verfassungsimmanenter Schranken72 aufgefangen werden73. Soweit es um Fälle geht, in denen ein Grundrecht geltend gemacht wird, obwohl bereits seine tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, bedarf es eines Rückgriffs auf den Grundrechtsmißbrauch ebensowenig. Eine exakte Prüfung wird bereits auf der Ebene des Schutzbereichs zeigen, daß die Berufung auf das Grundrecht zu Unrecht erfolgt. So kann, wie dargelegt74 , von einer Religion oder Weltanschauung im Sinne der Verfassung nicht gesprochen werden, wenn eine Lehre nur als Vorwand für wirtschaftliche oder politische Ziele dient. In einem solchen Fall ist weder Art. 4 Abs. I und 2 GG noch eine andere Vorschrift des Grundgesetzes einschlägig, die an das Vorhandensein einer Religion oder Weltanschauung anknüpft. Für jedes der Grundrechte aus Art. 4 Abs. I und 2 GG bedeutet das im Ergebnis, daß sein Schutzbereich nicht berührt ist. Wenn das Bundesverwaltungsgericht darüber hinaus von einem "Mißbrauch des Rechts zur gemeinschaftlichen Pflege von Religion oder Weltanschauung" spricht75 , so ist dies verfassungsrechtlich ohne Belang. Das Gericht umschreibt lediglich in besonders drastischer Weise, daß der Schutzbereich keines der Grundrechte aus Art. 4 Abs. I und 2 GG berührt ist.
c. Das Gewaltverbot als Grenze der Grundrechtsausübung I. Kein Grundrechtsschutz für die gewaltsame Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung Längst werden der Staat und sein Dasein nicht mehr, wie noch Rudolf Smend formulierte, als "Selbstzweck und damit einzige wesentliche Aufgabe der Verfassung" 76 angesehen 77. Der Fortbestand des Staates zählt vielmehr um seiner Freiheitlichkeit willen zu den Zielen des Grundgesetzes 78. In den Vorschriften, die Zu ihnen sogleich C und D. Bereits der Gesetzesvorbehalt des Art. 135 Satz 3 WRV, der die Religionsfreiheit dem Vorbehalt der ..allgemeinen Staatsgesetze" unterstellte, diente nach den Vorstel1ungen des Verfassunggebers dem Zweck, ..einern Mißbrauch der religiösen Freiheit vorzubeugen, der die Rechte oder das Interesse der öffentlichen Ordnung gefährden würde" (Abg. Dr. Mausbach als Berichterstatter des Verfassungsausschusses in der Nationalversammlung, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 329, S. 1643, 1644 bett. Art. 132 im damaligen Entwurfsstadium). 74 Oben S. 132 ff. 75 BVerwGE 90, ll2, ll8, wobei das Gericht al1erdings im konkreten Fal1 einen Mißbrauch des Grundrechts durch die ..Osho-Bewegung" ausschloß. 76 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. ll9, 197. 77 Vgl. nur v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 128 f.; v. Unruh, BayVBI. 1995,38,39; Häberle, FS JosefEsser, S. 49, 66. 78 Nichts wesentlich anderes meint die Formulierung Sterns, FS Scupin, S. 627, 634, der Staat sei nicht um seiner selbst willen existent, sondern als Grundvoraussetzung des men72
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13. Kap.: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit
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zum klassischen Arsenal der "wehrhaften Demokratie,,79 gehören, Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG, kommt dies deutlich zum Ausdruck. Unter der Geltung des Grundgesetzes stehen individuelle Freiheit und staatliche Ordnung nicht mehr unverbunden nebeneinander bzw. sich gegenüber. Das Grundgesetz versteht Freiheit nicht mehr als Freiheit zur Selbstpreisgabe und Selbstvernichtung der verfassungsrechtlichen OrdnungSo. Darin zeigt sich vor allem anderen die Wehrhaftigkeit die.ser Verfassung. Sie hat "der suizidalen Lethargie gegenüber formell-legalen Formen der Liquidierung demokratischer Verfassungsstrukturen"Sl, der die Weimarer Verfassung zum Opfer gefallen istS2 , abgeschworen. Im modemen demokratischen Staat zählt die Sicherung der Freiheit und damit der freiheitlichen Verfassung zu den vorrangigen Staatszwecken 83 . Diese Aufgabe setzt voraus, daß die Verfassung und das von ihr geformte Staatswesen Bestand haben. Das legt den Schluß nahe, daß keine Verfassungsnorm, also auch kein Grundrecht, den Rechtsgrund dafür bilden kann, die Verfassung aus den Angeln zu heben s4 . Der Gebrauch der vom Verfassungsstaat gewährleisteten Grundrechte zum Zwecke der Bekämpfung des Verfassungsstaats, so wird argumentiert, sei ein Widerspruch in sich s5 • Das Grundgesetz schließt jedoch den Widerspruch des einzelnen gegen die Verfassung nicht völlig aus. Für Hochschullehrer wird die Treue zur Verfassung in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG besonders betont, weil Hochschulen in aller Welt als Freischlichen Daseins, das er als menschenwürdig zu sichern und zu schützen habe; ähnlich v. Unruh, BayVBI. 1995,38,41. 79 Dazu Stern, Staatsrecht I, S. 195 mit umfangr. Nachw. 80 Stern, Staatsrecht I, S. 195. 81 H.H. Klein, VVDStRL 37 (1979), S. 53, 66 im Anschluß an K. Loewenstein. 82 V gl. nur Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 208 f. m.w.N.; ferner Butzer! Clever, DÖV 1994, 637, 638; differenzierend Gusy, Weimar - die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, 1991, pass. 83 V gl. v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 134, 136 ff., der allerdings, S. 174f., statt von Staatszwecken von ..Grundwerten" spricht (dagegen bereits oben S. 30 Fn. 26); ferner Isensee, FS Sendler, S. 39, 47 f. 84 So Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 54; Dürig, in: Summum ius, summa iniuria, S. 80, 87f.; Tiedemann, Der Staat 1987, S. 371, 383; ähnlich Losehelder, in: Marre! Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 149, 159, der die ,,religiöse Freiheit von vornherein mit der Maßgabe eingeräumt" sieht, "daß die Grundlagen der Ordnung, der sie ihren Schutz verdankt, respektiert werden". 85 H.H. Klein, FS Doehring, S. 479,498; vgl. auch Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 54: ..logischer Widerspruch"; vgl. auch die ältere Rspr. des BVerwG, wonach es zum Inbegriff aller Grundrechte gehöre, daß sie nicht in Anspruch genommen werden dürften, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet würden, BVerwGE 1,48,52; w. Nachw. auch zur Kritik bei Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 90 Fn. 54; zu dieser Rspr. des BVerwG auch v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 90 ff., insbesondere S. 91 f.; krit. bereits Bachof, JZ 1957, 334, 337.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
räume für staatsfeindliche Agitationen genutzt wurden und werden. Auch für Beamte wird - teilweise anknüpfend an Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG - mit Recht eine besondere Verfassungstreuepflicht gefordert 86 . Das Grundgesetz sieht ferner in Art. 9 Abs. 2 die Möglichkeit vor, Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, zu verbieten. Eine ähnliche Regelung findet sich in Art. 21 Abs. 2 GG mit der Besonderheit, daß die Entscheidung (über die Verfassungswidrigkeit politischer Parteien) nur dem Bundesverfassungsgericht zukommt. All diese Vorschriften beschränken bereits die geistige Auseinandersetzung. Sie wenden sich gegen die Bekämpfung der freiheitlich demokratischen Grundordnung auch mit dem Mittel der Meinungsäußerung. Sie betreffen jedoch nur eng begrenzte Lebensbereiche und die entsprechenden Verfassungsgarantien. Ein allgemeiner Grundsatz des Inhalts, jedwede Grundrechtsausübung stehe unter dem Vorbehalt der Verfassungstreue, kann den genannten Vorschriften nicht entnommen werden. Im Gegenteil: Die besondere Zuordnung dieses Vorbehalts zu ganz bestimmten Sachfragen zwingt zu dem Gegenschluß, daß außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 5 Abs. 3 Satz 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs. 2 GG eine Verfassungstreuepflicht nicht besteht. Mit Recht wird daher allenthalben betont, daß eine allgemeine Grundpflicht der Verfassungstreue dem Grundgesetz nicht entnommen werden kann 87 • Art. 18 GG bestätigt dieses Ergebnis. Wenn dort die Verwirkung von Grundrechten an ihren Mißbrauch geknüpft wird, so zeigt dies, daß nicht von vornherein jede gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtete Äußerung oder Verhaltensweise aus dem Schutz der Grundrechte herausfallt 88 • Meinungsäußerungen 89 oder Versammlungen mit verfassungsfeindlicher Tendenz liegen nicht apriori jenseits des Grundrechtsschutzes. Gleiches gilt für das Bekenntnis oder die Ausübung religiöser Überzeugungen, die zu Wertentscheidungen der Verfassung im Widerspruch stehen. Die These, von einer Religionsgemeinschaft 9o im Verfassungssinne könne nur gesprochen werden, wenn ihre wesentlichen Lehren und Praktiken mit der Verfassung vereinbar seien91 , findet im Grundgesetz 86 Vgl. H.H. Klein, FS E.R. Huber, S. 75, 83; zur Verlassungstreuepflicht der Beamten vgl. i.ü. Stern, Staatsrecht I, S. 369 ff. 87 Vgl. nur Stern, Staatsrecht III/2, S. 1027f.; Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 59 f. m. Fn. 116, pass., jeweils mit umfangr. Nachw. 88 Mit Recht betont Brenner, DÖV 1995,60, 63, daß gern. Art. 18 GG nur "mißbräuchliches Verhalten vom Schutz der Grundrechte von vornherein nicht umfaßt wird". Gegen eine "Sperrwirkung" des Art. 18 GG in der Weise, daß jedweder Grundrechtsmißbrauch nur vom BVerlG festgestellt werden kann, mit Recht H.H. Klein, VVDStRL 37 (1979), S. 53, 81 f. m.w.N.; dazu auch Butzer/Clever, DÖV 1995,637,639 f. m.w.N. 89 Vgl. Hufen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992,455,471: im Bereich der geistigen Auseinandersetzung auch ,,radikale" Positionen zulässig. 90 Zu den engeren Voraussetzungen, die an die Lehre einer Religionsgemeinschaft zu steilen sind, wenn sie den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gern. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRVerlangen möchte, vgl. Muckei, DÖV 1995,311,316. 91 Obermayer, ZevKR 27 (1982), S. 253, 261 f.; dazu bereits oben S. 7 mit Fn. 13.
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keine Stütze. Verfassungskonformität ist keine immanente Grenze der Religionsfreiheit 92 • Erst die unfriedliche, d. h. gewaltsame Aktion gegen die Verfassung oder den Staat genießt keinerlei Grundrechtsschutz 93 . Für die Versammlungsfreiheit ist dieser Gedanke in Art. 8 Abs. I GG ausdrücklich normiert94 . Über diese singuläre Gewährleistung hinausgehende Bedeutung erlangt das Gebot der Friedlichkeit, wenn man nach seinem tieferen Grund fragt: Es ist die spiegelbildliche Entsprechung des staatlichen Gewaltmonopols95, seine "Kehrseite,,96. Da das staatliche Gewaltmonopol für die verfassungsmäßige Ordnung von geradezu konstitutiver Bedeutung ist, setzt das Grundgesetz seine Beachtung nicht nur in einzelnen Bereichen, sondern überall als grundlegendes Prinzip voraus 97 . Aus dieser engen Beziehung des Friedlichkeitsgebots zum staatlichen Gewaltmonopol erschließt sich zugleich, wann ein Verhalten unfriedlich ist. Nach der klassischen, auf die Souveränitätslehre Jean Bodins98 zurückgehenden Vorstellung legt das Gewaltmonopol des Staates dem Bürger die Verpflichtung auf, die Anwendung physischen Zwangs auf Personen oder Sachen zu unterlassen99 . Soweit es um Einwirkungen auf Personen geht, ließe sich mit Blick auf die vielfältigen heute bestehenden Mittel psychischer Zwangseinwirkung daran denken, auch die Aus92 Vgl. Alberts, NVwZ 1994, 1150, 1153; zur Kritik verfassungsimmanenter Vorbehalte zugunsten der Verfassung und der Rechtsgemeinschaft vgl. auch F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 13 f.; v. Nieuwland, Darstellung und Kritik der Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 96 ff. 93 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 198 ff.; auch Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 105 f.; Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 597 f. 94 Vgl. Starck, in: Heydel Starck (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, S. 9, 28 f., der insoweit treffend von einem "Staatsziel Frieden" spricht; vgl. dens., Frieden als Staatsziel, FS Carstens, Bd. II, S. 867. 95 Vgl. Bethge, ZBR 1988,205,209; Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der modemen Gesellschaft, S. 26f.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 56f. 96 Stern, Staatsrecht ill/2, S. 1026 m.w.N. 97 Zur (nachlassenden) Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols in der Bevölkerung Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der moderuen Gesellschaft, S. 18 f., der folgerichtig und mit Recht, S. 86, eine stärkere Verdeutlichung von Funktion und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols für erforderlich hält, um zu einer Reduzierung politisch motivierter Gewalt zu gelangen. Zur Geschichte des Gewaltmonopols jetzt H.-J. Becker, NJW 1995,2077. 98 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, hrsgg. v. Meyer-Tasch, Buch I, Kap. 10 (S. 284ff.). 99 Vgl. vor allem Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, S. 493, 499; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29, 829ff., pass.; Isensee, FS Sendler, S. 39, 48, 58 f. (betr. Gewalt gegen Sachen); ders., FS Eichenberger, S. 23, 32; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 200; Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der modemen Gesellschaft, S. 21, jeweils m.w.N. Zur Geschichte des Gewaltmonopols Faller, FS Geiger, 1989, S. 3, 5ff. m.w.N.; Wassermann, a. a. 0., S. 23ff.; Gusy, DÖV 1996, 573, 575 f.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
übung nichtkörperlich wirkenden Zwangs auf die individuelle Willensentschließung als dem Gewaltmonopol widersprechend und damit als immanente Grenze des Grundrechtsschutzes anzusehen loo . Die strafrechtliche Rechtsprechung mit ihrem weiten Verständnis von Gewalt i.S. des § 240 StGB 101 könnte diese These stützen 102. Unfriedlieh und gewaltsam im verfassungsrechtlichen Sinne wäre dann jedes Verhalten, das von einem anderen als Zwangseinwirkung empfunden wird, also auch Zwang, der in erheblichem Maße psychisch wirkt lO3 • Eine Übertragung des "vergeistigten" bzw. "entmaterialisierten" 104 Gewaltbegriffs auf das Verfassungsrecht erscheint jedoch nicht möglich. Die materielle Aussage des Gewaltmonopols, das als Maßstab für grundrechtlich nicht geschütztes Verhalten gelten soll 105 , weist, wie gesehen 106, in eine andere Richtung. Sie spricht vielmehr - soweit Gewalt gegenüber Personen in Rede steht - dafür, nur physischen Zwang gegenüber einem Dritten, eine Einwirkung auf seinen Körper 107 als Gewalt im verfassungsrechtlichen Sinne anzusehen lO8 • Nur ein solches enges Verständnis liefert einen zuverlässigen Ansatzpunkt für die Begrenzung des Grundrechtsschutzes. Der enge Gewaltbegriff stellt ein handhabbares Abgrenzungskriterium dar lO9 • Einen Redner mit Farbbeuteln oder faulen Früchten zu bewerfen ist danach Gewalt l1O • Sitzblockaden dagegen sind keine Einwirkung auf den Körper des Opfers, sie wirken erst mittelbar über dessen Psyche 111 und sind daher nicht
100 So Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 200 ff.; ohne Bezug zu den Grundrechten auch Schmitt Glaeser, ZRP 1995,58, 59f., der mit Recht eine "dem Verfassungsgebot des staatlichen Gewaltmonopols strikt zuwiderlaufende Strategie der Gewaltdesensibilisierung" beklagt. 101 Zur Entwicklung des Gewaltbegriffs bei § 240 StGB BVerfGE 92,1, 14ff.; Amelung, NJW 1995,2584,2585; zur strafrechtlichen Rspr. BGH NJW 1995,2643 m.w.N. 102 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 201 f. 103 BGH NJW 1995, 2643 f., wo der BGH in Modifizierung seiner früheren Rspr. betont, daß geringer körperlicher Aufwand "den Bereich des rein Psychischen verlassen und (auch) physisch als körperlicher Zwang wirken" muß. 104 Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, Vorbem. § 234 Rn. 10. 105 Vgl. oben Fn. 99. 106 Oben Fn. 98. 107 Zu diesem Gewaltbegriff Merten, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, S. 324, 327; ähnlich Isensee, FS Sendler, S. 39, 61, der Gewalt als unwiderstehlichen körperlich wirkenden Zwang versteht und so aber nicht klarstellt, ob das Verhalten, wie praktisch jedes menschliche, körperlichen Ursprungs sein soll oder ob es auf den Körper eines anderen einwirken soll. Diese Unklarheit führt Isensee für Sitzblockaden zu einem unrichtigen Ergebnis, dazu unten mit Fn. 111 f. 108 Der im Text definierte Gewaltbegriff entspricht dem Begriff der Unfriedlichkeit i. S. d. Art. 8 Abs. 1 GG gern. der Rspr. des BVerfG. Vgl. BVerfGE 73,206,248: "äußerliche Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen". 109 A.A.: Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 539. 110 A.A. wohl Frank, FS Ridder, S. 37,47.
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von vornherein aus dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit auszugrenzen. Sitzblockaden können Versammlungen i.S. des Art. 8 GG sein 1l2 . Die Anwendung des weiten, in der strafgerichtlichen Rechtsprechung herrschenden Gewaltbegriffs dagegen ist mit einer Vielzahl von Unsicherheiten behaftet ll3 . Sie in die grundrechtlichen Schutzbereiche zu implantieren, ließe deren Grenzen nicht deutlicher, sondern undeutlicher werden. Die im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB notwendige Abwägung aller Umstände 1l4 würde der Sache nach in die Schutzbereiche der Grundrechte übertragen. Damit wäre nichts erreicht. Überlegungen, die bisher auf der Ebene der Schranken angestellt werden, hätten lediglich einen anderen Anknüpfungspunkt. Es ergibt sich: Grundrechtsschutz, wie ihn das Grundgesetz gewährt, besteht nur so lange, wie die durch diese Verfassung statuierte Ordnung besteht. Grundrechtsschutz setzt den Fortbestand der Rechtsgemeinschaft voraus 1l5 . Die Verfassung selbst kann zwar Gegenstand geistiger Auseinandersetzung sein. Sie erlaubt es, sie mit den Mitteln der Meinungsäußerung in Frage zu stellen. Nicht aber gestattet sie den gewaltsamen Angriff auf die staatliche Ordnung 1l6 , wobei Gewalt der körperlich wirkende Zwang gegenüber Personen oder Sachen ist. Dem Schutzbereich der Religionsfreiheit - wie auch dem eines jeden anderen Grundrechts - unterfallen daher weder heiliger Krieg noch religiöser oder weltanschaulicher Anarchismus ll7 . Wenn dagegen eine muslimische Gruppe ein flugblatt verteilt, in dem die demokratische Ordnung als antiislarnisches System beIII Demgegenüber liegt in der Blockade einer Straße mit Hilfe von Kraftfahrzeugen die Anwendung von Gewalt, weil es nicht allein auf die Willensentschließung des Genötigten ankommt für die Frage, ob er weiterfährt; dies ist ihm durch wirksame Hindernisse unmöglich gemacht; dazu BGH NJW 1995, 2643 f. 112 Vgl. BVerfGE 73, 206, 248; 87, 399,406; 92, 1; nach lsensee, FS Sendler, S. 39, 62, unterfallen Sitzblockaden dem Gewaltverbot und sind daher von vornherein nicht grundrechtlich geschützt ("Einsatz körperlicher Gewalt", zur Unstimmigkeit in der Argumentation Isensees im Hinblick auf Sitzblockaden vgl. bereits oben Fn. 107). 113 Vgl. BVerfGE 92, 1, 18; Eberl, Ztp 1994, 359, 368, dessen Schlußfolgerungen ("moraIische Rechtfertigbarkeit" zivilen Ungehorsams und - unter bestimmten engen Voraussetzungen auch "friedlichen Widerstands", ebd., S. 387) aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht haltbar erscheinen. Zu den Gefahren eines ausgedehnten, konturlosen Gewaltbegriffs für die Rechtsordnung insgesamt Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der modernen Gesellschaft, S. 17 f., pass. Auf die Unsicherheit des weiten Gewaltbegriffs weisen auch die Kritiker im strafrechtlichen Schrifttum hin, vgl. die Nachw. bei Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, Vorbem. §§ 234 Rn. 10. 114 BVerfGE 73, 206, 255 f. m.w.N. aus der strafrechtlichen Rspr. und Literatur. 115 Vgl. Pirson, FS Frost, S. 383, 388. 116 Vgl. BVerfGE 81, 278, 292, wo das Gericht mit Recht betont, daß ein geordnetes menschliches Zusammenleben nicht nur die gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger, sondern auch eine funktionierende staatliche Ordnung voraussetzt, "welche die Effektivität des Grundrechtsschutzes überhaupt erst sicherstellt". 117 Vgl. Pirson, FS Frost, S. 383, 388.
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zeichnet wird, das nicht unterstützt werden darf l18 , so kann sie sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG berufen ll9 .
11. Das Gewaltverbot als Grenze jeder Grundrechtsausübung Mit dem Gewaltverbot ist eine erste objektiv faßbare Grenze der Grundrechtsausübung markiert 120. Konnte diese Grenze zunächst im Hinblick auf Aktivitäten verdeutlicht werden, die sich gegen die staatliche Ordnung insgesamt richten, so erweist sich bei näherer Prüfung, daß jedwede Grundrechtsausübung mit welchem Ziel auch immer unter dem Vorbehalt der Friedlichkeit steht l21 • Das staatliche Gewaltmonopol ist nicht nur die Basis dafür, daß der Staat seinen Fortbestand zu sichern in der Lage ist. Es ist die Voraussetzung für jede Form der Grundrechtsausübung. Nur in einer staatlich befriedeten Gesellschaft ist grundrechtliche Freiheit als für jedermann gleiche, rechtlich zugemessene und (staatlich) gesicherte Freiheit möglich 122. Als "Entscheidungs- und Wirkungseinheit,,123 sowie "Friedenseinheit,,124 hat der Staat das Gewaltmonopol, um sicherzustellen, daß Gewaltanwendung, soweit sie überhaupt legitim ist, allein ihm zukommt 125. Dies ist zugleich die Voraussetzung für effektiven Grundrechtsschutz 126. Die Grundrechte wenden
118 Ein solches Flugblatt wurde im Oktober 1994 in Köln verteilt. Verfasser war Cemaleddin Hocaoglu Kaplan, der damalige Führer der als fundamentalistisch geltenden islamischen Organisation "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. Köln" (ICCB), vgl. zu ihm Bundesamt für Verfassungsschutz, Islamischer Extremismus und seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland, S. 1Of.; Binswanger, in: Nirumand (Hrsg.), Im Namen Allahs. Islamische Gruppen und der Fundamentalismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 38, 44; Stolz, Die Mullahs am Rhein, in: Die Welt v. 19.3.1994, S. G 1; ders., Die Mullahs am Rhein. Der Vormarsch des Islam in Europa, S. 241 f.; zu dem geschilderten Vorgang vgl. Kölner Stadt-Anzeiger Nr. 246 v. 22./23. 10. 1994, S. 15. 119 Nicht aber auf Art. 4 Abs. I und 2 GG. Zur Abgrenzung von Meinungs- und Religionsfreiheit oben S. 135, S. 145 mit Fn. 140. 120 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 199 ("absolute und zugleich objektiv faßbare Schranke"), S. 200 ("eine für alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft gleichermaßen nach objektiven Merkmalen bestimmte Grenze"). 121 lsensee, FS Sendler, S. 39f., pass.; ders., in: Isensee 1Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 111 Rn. 176; Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der modemen Gesellschaft, S. 27; zweifelnd: Hain, ZG 1996, S. 75,81. 122 Vgl. lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115 Rn. 109f.; Bethge, NJW 1982, 2145, 2150, sieht in der Pflicht zum Respekt gegenüber der staatlichen Friedensordnung und zur Anerkennung des Staates als des alleinigen Inhabers physischer Gewalt mit Recht ein "notwendiges Korrelat der Gewährleistung der Grundrechte durch den Verfassungsstaat". 123 H. Heller, Staatslehre, S. 228; dazu bereits oben S. 39 mit Fn. 4, S. 80 mit Fn. 66. 124 Bäckenfärde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 12f.; lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 62ff.; ders., FS Sendler, S. 39, 48. 125 lsensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I § 13 Rn. 78. 126 Vgl.Isensee, in: Isensee/Kirchhof(Hrsg.), HStR V § 115 Rn. 113.
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sich nicht nur im Sinne der alten liberalen Vorstellung gegen den Staat l27 . Sie bedürfen auch seiner. Bereits in den Beratungen des Parlamentarischen Rates betonte Carlo Schmid, daß der Staat dazu da sei, die äußere Ordnung zu schaffen, deren die Menschen zu einem auf der Freiheit des einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen 128. Heute ist die Notwendigkeit des staatlichen Schutzes grundrechtlieh gesicherter Güter vor Gefahren, die nicht von staatlicher, sondern privater Seite ausgehen, allgemein anerkannt. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten legt hierfür ein beredtes Zeugnis ab 129 . Die "postindustrielle" Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch hochkomplexe Handlungsfelder und schnelle Umweltveränderungen, führt zu Bedrohungen des einzelnen, die er aus eigener Kraft nicht abwehren kann. Er ist auf die ordnende Hand des Staates angewiesen 130 . Grundrechtsschutz setzt den Bestand des Staates voraus 131. Da dieser aber nur solange bestehen kann, wie er seine Aufgabe als auf den Ausschluß privater Gewalt angelegte Friedenseinheit erfüllt 132, können die Grundrechte keinen Rechtsgrund für die Anwendung von Gewalt bieten. Dies zeigt sich nicht erst bei einer abwägenden Gegenüberstellung des ins Feld geführten Grundrechts mit gegenläufigen verfassungsrechtlich anerkannten Belangen. Die vom Bundesverfassungsgericht bevorzugte Abwägung aller Belange geht an der Sache vorbei. Die Rechte des Opfers und die Position des gewalttätigen Störers sind keine vergleichbaren Größen, die in eine Abwägung eingestellt werden könnten. Denn es gibt kein Grundrecht darauf, in den Rechtskreis eines anderen mit Gewalt einzugreifen 133. Der modeme Verfassungsstaat kann eine Relativierung der Friedenspflicht seiner Bürger nicht akzeptieren. Die Friedenspflicht ist "apriorische Pflicht eines jeden Bürgers im demokratischen RechtsVgl. bereits oben S. 67 ff. Abg. Dr. Schmid, in: v. Doemming I Füßlein I Matz, JöR (n.F.) I (1951), S. 47. 129 Dazu bereits oben S. 67 ff. 130 Zu der veränderten Situation vgl. Vesting, in: Grabenwarter/Hammer/PelzllSchulevSteindl/Wiederin (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, S. 9 ff., der allerdings zu anderen Schlußfolgerungen kommt; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 15 f. 131 Vgl. Pirson, FS Frost, S. 383, 388; dazu bereits oben S. 57 mit Fn. 97. 132 Vgl. Isensee, FS Sendler, S. 39, 48; zur Friedenspflicht als ..Kehrseite" des Gewaltmonopols oben S. 209 Fn. 96. Max Weber zählte die Fähigkeit des Staates, andere als staatliche Gewalt auszuschließen, zum Begriff des Staates, den er bekanntlich wie folgt umschrieb: "Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt." (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29). 133 Vgl. Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (22), S. 148, 150; vgl. insoweit auch die grundSätzlichen Überlegungen Pawlowskis, Zur Aufgabe der Rechtsdogmatik im Staat der Glaubensfreiheit, in: Rechtstheorie 19 (1989), S. 409, der - von anderem Ansatz ausgehend - resümierend herausstellt, daß ..Freiheit jedermanns Sache ist und nur Bestand haben wird, wenn jedermann seinen Drang beschränkt, die anderen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen" (S. 441). 127 128
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
staat"134 und daher eine "ursprüngliche Grenze des grundrechtlichen Tatbestandes, nicht seine nachträgliche Einschränkung"l35. Der Staat entzieht daher dem Störer nicht eine grundrechtliehe Freiheit, wenn er die Störung unterbindet, sondern weist ihn in die Schranken seiner Freiheit zurück und stellt zugleich die Freiheit des Opfers wieder her 136 . Das Gewaltverbot begrenzt neben anderen Grundrechten auch und gerade die Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie die Gewissensfreiheit 137 • Matthias Herdegen hat aus rechtsvergleichender Sicht nachgewiesen, daß positivrechtlich verankerte Toleranzgebote nie die mit gewaltsamen Mitteln angestrebte Persönlichkeitsentfaltung oder Veränderung der Staatsordnung erlauben 138 . Keine Rechtsordnung kann es sich leisten, dem einzelnen das Recht zu gewähren, persönlichkeitsbestimmende Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen. Das staatliche Gewaltmonopol macht vor den sog. immateriellen Freiheitsrechten nicht halt. Private Gewaltanwendung, die sich gegen den Körper oder Sachen Dritter richtet, genießt daher nicht den Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG. Dies gilt nicht nur für das vieltraktierte Beispiel des religiös motivierten Mordes, sondern auch für Körperverletzungen, wie Beschneidungen 139 und die Prügelstrafe in Koranschulen, die gewaltsame Durchsetzung von Bekleidungsvorschriften oder die Anwendung physischen Zwangs gegenüber einem austritts willigen Sektenmitglied 140.
134 Kröger, JuS 1984, 172, 173, der sich, S. 176, ausdrücklich gegen eine Abwägung der rechtswidrigen Interessen des Gewalttäters mit den von der Rechtsordnung geschützten Rechtsgütem der Allgemeinheit oder einzelner Bürger wendet; vgl. auch Isensee, DÖV 1982, 609,616. 135 Isensee, FS Send1er, S. 39, 58. 136 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 44. 137 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 198 f.; Alberts, NVwZ 1994, 1150, 1153, mit dem Hinweis, die Grenze religiöser Freiheit sei überschritten, wenn Menschen gegen ihren Willen zu einem bestimmten religiösen Denken oder Handeln gezwungen werden; Merten, in: Randelzhofer I Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, S. 324, 333. 138 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 81 ff., 199. 139 Zum "Beschneiden" von Mädchen im arabischen Kulturkreis vgl. Constanze Stelzenmüller, Schnitt in die Seele, in: Die Zeit Nr. 36 v. 1. 9. 1995, S. 13 ff.; zur Kritik aus der Ärzteschaft vgl. nur die Stellungnahme des Weltärztebundes: Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B2099. Nach einer Meldung der EA.Z. Nr. 198 v. 26. 8. 1996, S. 9, ist in Ägypten unlängst ein vierzehnjähriges Mädchen bei einer Beschneidung gestorben. 140 Vgl. zu den genannten Beispielen Hufen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992,S. 455, 469f m.w.N.
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D. Rechte Dritter als verfassungsimmanente Grenzen grundrechtlicher Freiheit I. Die Menschenwürdegarantie und das Recht auf Leben Das Friedlichkeitsgebot ist nicht die einzige verfassungsimmanente Grenze grundrechtlicher Schutzbereiche. Neben diesem - strafrechtlich gesprochen - täterbezogenen Merkmal muß auch die Rechtsstellung des "Opfers" in den Blick genommen werden. Dies führt zu der Einsicht, daß die Grundrechte Dritter - von der Verfassung nicht ausdrücklich so bezeichnete - Grenzen der grundrechtlichen Schutzbereiche markieren. Für einzelne Grundrechte kann diese Begrenzungsfunktion verhältnismäßig leicht nachgewiesen werden. Sie haben in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes eine derart herausgehobene Stellung, daß Übergriffe in sie nicht vom Grundrechtsschutz umfaßt sein können. Dazu zählt vor allem die Menschenwürde!4!, die nach Art. I Abs. I Satz 1 GG unantastbar ist. Mit dieser Vorschrift, mit der Achtungs- und Schutzverpflichtung aller staatlichen Gewalt nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG und auch mit der Erklärung der Menschenwürde zur Basis der Grundrechte durch das "darum" in Art. 1 Abs. 2 GG hat der Verfassunggeber die Abwägung dieses Belangs mit potentiellen Gegenrechten vorweggenommen. Rein formal läßt sich die Menschenwürdegarantie zwar in das von Rechtsprechung und Lehre favorisierte Abwägungsmodell einstellen. Im Ergebnis wird sie sich auch bei einem solchen Vorgehen als vorrangiges Schutzgut erweisen!42. Richtigerweise muß sie aber als "absolute Schranke,,!43 für die Ausübung eines gegenläufigen Grundrechts angesehen werden!44. Eine Abwägung wäre hier unredlich!45. Ein "unantastbares" Rechtsgut kann nicht mehr einer Abwägung unterworfen werden, um es mit anderen Belangen abzugleichen!46. Die Menschenwürdegarantie eignet sich nicht zur 141 Vgl. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 43 f.; Ehlers, ZevKR 32 (1987), S. 158, 162; Wiegand, NJ 1993, 396, 398, pass.; wohl auch Dietlein, ZG 1995, 131, 135; undeutlich Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, S. 103. 142 Vgl. etwa BVerfGE 75,369, 379f. 143 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 280, der dies allerdings für den Fall betont, daß die Menschenwürde in eine Abwägung mit gegenläufigen Gütern eingestellt wird; darin aber liegt - zumindest im Ansatz - eine Relativierung. Ähnlich wie im Text bereits Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 11, S. 1, 21, der Art. 1 Abs. I GG "absoluten Schutz gegen jedermann und generellen Schutz gegen jeden Eingriff' zuschrieb. Vgl. auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 129, in krit. Auseinandersetzung mit Alexy. 144 A.A.: Rüfner, Festg. BVerfG Bd. 11, S. 453, 466 Fn. 74 m.w.N. 145 Zum allgemeinen "Redlichkeitsargument", mit dem sich lsensee gegen ein weites Verständnis grundrechtlicher Tatbestände ausspricht, vgl. dens., Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 30 f.; dens., FS Sendler, S. 39, 58; krit. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 292 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 180ff.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Herstellung eines "schonendsten Ausgleichs". Die "Unantastbarkeit" entzieht die Würde des Menschen jeglicher Verfügung 147. Wer mit künstlerischen Mitteln die Menschenwürde eines anderen verletzt, kann sich hierfür nicht auf die Freiheit der Kunst aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG berufen l48 . Es soll nicht verkannt werden, daß die Frage, wann ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt, bisweilen nur mit Hilfe einer Abwägung beantwortet werden kann. Nach der für die Praxis am besten handhabbaren Erklärung verbietet die Menschenwürdegarantie, den einzelnen zum Objekt staatlichen Handeins zu machen und seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage zu stellen 149. Diese "Objektformel" macht den Verstoß gegen die Menschenwürde abhängig von einem bestimmten Verhältnis der Behandlung, der der einzelne ausgesetzt ist, zu den mit dieser Behandlung verfolgten Zielen. Die danach erforderliche Abwägung erfolgt auf der Ebene des grundrechtlichen Tatbestands, im Rahmen der Prüfung, ob der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG I50 berührt ist. Dennoch ist die Menschenwürdegarantie als immanente Schranke nicht bedeutungslos. In dieser Funktion stellt sie klar, daß ein Privater nicht durch Grundrechte gerechtfertigt ist, wenn er in sie eingreift. Im übrigen gibt es Fälle, in denen der Menschenwürdeverstoß keinem Zweifel unterliegt l51 . Bei ihnen ist dann jede Abwägung entbehrlich. So ist die Anwendung drastischer, mit der Menschenwürdegarantie unvereinbarer körperlicher Strafen, wie sie von manchen islamischen Gruppen propagiert werden i52 , nicht vom Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 2 GG erfaßt 153 • 146 Vgl. Stern, FS Hübner, S. 815, 825; ders., FS Scupin, S. 627, 636, der unter Hinweis auf die "Unantastbarkeit" der Menschenwürde in jeder Verhaltensweise, auch von Privatpersonen, die dagegen verstößt, unmittelbar einen Verstoß gegen die Verfassungsnorm des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG sieht. Ferner Höfling, JuS 1995, 857, 859; Tettinger, JZ 1983, 317, 320; Kunig, in: v. MünchlKunig, GG Art. 1 Rn. 4; H. Dreier, DÖV 1995, 1036, 1039f.; andere Begründung in BVerfG NJW 1995, 3303, 3304 ("Soldaten sind Mörder"): "die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig". A.A.: Lerche, FS Mahrenholz, S. 515, 518, der allerdings einräumt, daß ein Ausgleich mit gegenläufigen Rechtspositionen kaum Konturen gewinnen dürfte. 147 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 81, die sich, S. 81 ff., mit Recht auch gegen Vorschläge wendet, den jeweiligen Gewährleistungsinhalt der Würdegarantie mittels einer Güterabwägung zu bestimmen. 148 Vgl. BVerfGE 75,369, 379f.; in dieser Richtung auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 5 Abs. I, II Rn. 294a für Meinungs- und Kunstfreiheit. 149 BVerfGE 50, 166, 175; 87, 209, 228; Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 1 Abs. I Rn. 34; zur Kritik vgl. nur H. Hofmann, VerfassungsrechtIiche Perspektiven. Aufsätze aus den Jahren 1980 - 1994, S. 104, 109f. m.w.N., der die bisherigen Interpretationsversuche einer grundlegenden Kritik unterzieht. 150 Zur Grundrechtsqualität der Menschenwürdegarantie vgl. nur Pierothl Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 380 m.w.N. 151 Vgl. Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 1 Abs. I Rn. 30. 152 Dazu Dilger, Diskussionsbeitrag, in: Marrel Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 195; ferner Häberle, FS Josef Esser, S. 49, 69 ff. und die
13. Kap.: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit
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Auch das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz I GG errichtet eine absolute schutzbereichsimmanente Grenze der Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Wer das Leben eines anderen beendet l54 , kann sich hierfür nicht auf Grundrechte berufen. Dies folgt nicht nur aus der engen thematischen Beziehung des Rechts auf Leben zur Menschenwürdegarantie 155 . Es läßt sich darüber hinaus unschwer nachweisen, daß das Recht auf Leben in der Verfassung als eine im besonderen Maße schützens werte, dem Rang der Menschenwürde aus Art. I Abs. I GG zumindest nahekommende Verbürgung vorausgesetzt wird. Ohne Leben kann - vom Sonderfall des postmortalen Persönlichkeitsschutzes 156 einmal abgesehen - kein Grundrecht ausgeübt werden. Das Leben mag "der Güter höchstes nicht" sein l57 . Aber wer nicht lebt, kann auch nicht Grundrechtssubjekt sein. Das Leben wird daher mit Recht als "allgemeinste, elementarste Grundrechtsvoraussetzung"158 angesehen i59 . Von dem eng begrenzten Ausnahmefall der Notwehr bzw. Nothilfe abgesehen l60, ist die Verletzung der Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz I GG nicht Inhalt grundrechtlicher Freiheit. Wer aufgrund einer extremen religiösen Lehre davon
dortigen Nachw.; Tibi, Die Entwestlichung des Rechts. Das Hudud-Strafrecht der islamischen Scharia und der "Krieg" der Zivilisationen, in: EA.Z. Nr. 143 v. 23. 6. 1995, S. 13, 14; Schütt, Zwei Finger sind weg, aber die Seele bleibt, in: Rheinischer Merkur Nr. 39 v. 29. 9. 1995, S. 19; siehe auch den Bericht über die Anwendung des islamischen Strafrechts im Ausland in EA.Z. Nr. 28 v. 2. 2. 1995, S. 2. 153 Vgl. auch BAG NJW 1996, 143, 149 f., wo das Gericht "menschenverachtende" Praktiken der "Church of Scientology" aufführt und abschließend (S. 150) festhält, daß die beklagte Scientology-Organisation mit Methoden, die mit der Menschenwürde gern. Art. I Abs. I GG und dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar sind, den Austritt von Mitgliedern zu verhindern versucht. . 154 Zu Beispielsfäl1en oben S. 65 mit Fn. 27 ff. 155 Vgl. Starck, JZ 1981,457,463, mit dem berechtigten Hinweis darauf, daß der verfassungsrechtliche Würdeschutz ausgehöhlt wird, "wenn der Mensch frei über das Leben eines anderen (wenn auch noch ungeborenen) Menschen verfügen darf'. Verkürzend ist aber die Überlegung, daß Menschenwürde ohne Leben nicht möglich sei, dagegen mit Recht Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 79 Fn. 109; Höfling, JuS 1995, 857, 859; H. Dreier, DÖV 1995, 1036,1037. 156 Dazu vor al1em BVerfGE 30, 173 - Mephisto; BGHZ 107, 384 - Emil Nolde; näher Soehring, NJW 1994, 16f. 157 Auf das Wort Schillers verweist Stern, FS Scupin, S. 627, 633. 158 Kloepfer, Festg. BVerfG, Bd. II, S. 405, 412. 159 Ähnlich - auf der Grundlage einer diskurstheoretischen Begründung der Grundrechte Hartwig, in: Grabenwarter / Hammer / Pelzl / Schulev-Steindl / Wiederin (Hrsg.), Al1gemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesel1schaft, S. 25, 31. 160 Vgl. Falter, FS Geiger, 1989, S. 3, 8ff.; Isensee, FS Sendler, S. 39, 52; krit. Sachs, in: Stern, Staatsrecht 111/2, S. 540; der Kritik von Sachs ist entgegenzuhalten, daß das Gewaltmonopol nur so weit die Grundrechtsausübung begrenzt, wie der Staat in der Lage ist, es durchzusetzen. In einer Notwehrsituation ist dies jedoch gerade nicht möglich. Notwehr genießt daher den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. Falter, FS Geiger, 1989, S. 3, 9 f., der, S. 18, mit Recht im Gewaltmonopol des Staates und dem Selbstschutzrecht des Bürgers "Komplementärbegriffe" sieht.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
überzeugt ist, bestimmte Menschen töten zu müssen 161, bewegt sich außerhalb des Schutzbereichs der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Eines Rückgriffs auf die Schranken bedarf es nicht. Eine andere Sichtweise ist auch nicht in Fällen geboten, in denen sowohl auf seiten des Verletzers wie des Gefährdeten Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf dem Spiel stehen. Es sind dies vor allem die Fälle des Schwangerschaftsabbruchs und der Organexplantation bei himtoten Menschen l62 . Der nasciturus ist, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 28. 5. 1993 163 (deutlicher noch als der Erste Senat in seinem Urteil von 1975 164) herausgestellt hat, Grundrechtsträger l65 . Insbesondere kommt ihm Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ZU 166 . Nach der hier vorgestellten Konzeption ermächtigen Grundrechte nicht zu einem Eingriff in diese Rechte. Weder die schwangere Frau noch der Arzt können sich für einen Abbruch der Schwangerschaft auf Grundrechte berufen. Ebenso vermögen die Grundrechte nicht die Organentnahme bei einem himtoten Menschen zu rechtfertigen, solange nicht feststeht, daß er im Rechtssinne nicht mehr lebt und damit nicht mehr Träger des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist l67 . 161 Daß dies nicht nur ein Lehrbuchbeispiel ist, zeigt der Blick auf islamische Lehren, nach denen Apostaten den Tod verdienen (vgl. dazu bereits die Nachw. oben S. 65 f. mit Fn. 31 u. 37; Muckel, DÖV 1995,311,316 Fn. 79; Häberle, FS JosefEsser, S. 49, 71 Fn. 53; Johansen, in: Marrel Stüting [Hrsg.], Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche [20], S. 12, 45 f.; TIbi, Die Entwestlichung des Rechts. Das Hudud-Strafrecht der islamischen Scharia und der "Krieg" der Zivilisationen, in: F.A.Z. Nr. 143 v. 23. 6. 1995, S. 13, 14; krit. [Scharia nicht mehr gültig]: Falahuddin Khan, Der Koran bei einem Abfall vom Glauben, in: F.A.Z. Nr. 152 v. 4. 7. 1995, S. 6 - Leserbrief; von einer Verhaftung wegen Glaubensabfalls in Malaysia, die allerdings nach richterlicher Haftprüfung zur Freilassung des Apostaten geführt habe, berichtet Mohammed Anwar Khan, in: Gewissen und Freiheit Nr. 42/94, S. 125, 129 f.; zu Gegenbeispielen oben S. 65 f. mit Fn. 31 u. 37). Bereits die prominenten Beispiele Salman Rushdie und Taslima Nasrin zeigen, daß das Problem auch in Westeuropa Bedeutung gewinnen kann (vgl. dazu die neueste Meldung, derzufolge eine iranische Stiftung das "Kopfgeld" auf Rushdie von 2 Mio. Dollar auf 2,5 Mio. Dollar erhöht hat, F.A.Z. Nr. 37 v. 13.2. 1997, S. 1 und 6). 162 Zu dem weiter gefaßten Problemkreis der künstlichen Befruchtung Losch, NJW 1992, 2926 m. umfangr. Nachw. 163 BVerfGE 88, 203. 164 BVerfGE 39, 1. 165 Scharfe Kritik daran, daß das BVerfG auf dieser Grundlage nicht widerspruchsfrei fortfährt, bei Hoerster, JuS 1995, 192, 196: Lebensrecht der einzelnen Leibesfrucht "zwar dem Namen nach, nicht aber der Sache nach"; es werde beim BVerfG "zu einem bloßen Lippenbekenntnis". Mit Blick auf die vom BVerfG herangezogene Menschenwürdegarantie auch H. Dreier, DÖV 1995, 1036, 1039f. Vgl. ferner Tröndle, in: Thomasl Kluth (Hrsg.), Das zumutbare Kind, S. 161, 174 f. 166 BVerfGE 88, 203, 251 ff.; vgl. auch Rüjner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 116 Rn. 17; Kluth, FamRZ 1993, 1381, 1383; ders., in: Thomas 1 Kluth (Hrsg.), Das zumutbare Kind, S. 93, 97; Höfling, ebd., S. 119, 120ff., 125f. einschränkend bezüglich Art. 1 Abs. 1 GG. Gegen eine Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG auch H. Dreier, DÖV 1995, 1036 ff. Zum Zeitpunkt der Entstehung menschlichen Lebens Kluth, ZfP 1992, 195, 202 f.
13. Kap.: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit
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Diese Sichtweise hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 28. 5. 1993 168 bestätigt. Ganz auf der Linie des Abwägungsmodells betont der Zweite Senat zwar, daß der Schutz des Lebens nicht in dem Sinne absolut geboten sei, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genieße 169 . Doch geht das Gericht im folgenden davon aus, daß dem Rechtsgut des (werdenden) Lebens ein so hoher Wert zukomme, daß ein schonender Ausgleich mit den Rechtspositionen der Schwangeren von vornherein nicht möglich sei 170. Der Gesetzgeber müsse den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbieten und der Schwangeren die Pflicht zum Austragen des Kindes auferlegen 171. Das Lebensrecht des Ungeborenen dürfe nicht der rechtlich ungebundenen Entscheidung eines Dritten überantwortet werden 172. Der Gesetzgeber habe zwar bei der Wahl des Schutzkonzepts einen "Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum,,173, er dürfe aber nicht davon ausgehen, daß die Grundrechtsposition der Frau den Rechten des ungeborenen Kindes übergeordnet sei 174. Im Grundsatz 175 behandelt das Bundesverfassungsgericht damit das Recht des Ungeborenen auf Leben als apriorische Grenze der Grundrechte seiner Mutter l76. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei ergänzend auf folgendes hingewiesen: Das Fehlen grundrechtlichen Schutzes für das Handeln der Schwangeren und des Arztes zwingt den Staat nicht zum Ausspruch einer Strafandrohung für alle Fälle des Schwangerschaftsabbruchs. Die fehlende (grundrechtliehe) Rechtfertigung für den Eingriff in Rechte des nasciturus führt zwar notwendig zur Rechtswidrigkeit 167 Vgl. Höfling, JZ 1995,26, 30ff., der allerdings von einem weiten Verständnis grundrechtlieher Tatbestände ausgeht; vgl. auch dens., Frankfurter Rundschau Nr. 184 v. 10.8. 1994, S. 16. 168 BVerfGE 88, 203. 169 BVerfGE 88, 203, 253 f. 170 Vgl. die Analyse Jeand'Heurs, JZ 1995, 161, 164, der insoweit von einer "Paralysierung des Abwägungsvorgangs" spricht. 171 BVerfGE 88, 203 (Ls. 3),253,255,261 f. 172 BVerfGE 88, 203 (Ls. 4). 173 BVerfGE 88, 203, 262. 174 BVerfGE 88,203,267. 175 Zur Kritik Hoersters daran, daß das BVerfG seinen Anknüpfungspunkt nicht konsequent im Auge behält, oben Fn. 165. 176 So auch die - insgesamt kritische - Einschätzung von Hennis, Die Zumutungen eines Urteils, in: Die Zeit Nr. 38 v. 17.9. 1993, S. 9. Bereits in der Entscheidung v. 25. 2. 1975 sah das BVerfG das Lebensrecht des nasciturus als apriorische Grenze des Rechts der Mutter auf freie Entfaltung der Persönlichkeit an, wenn es formulierte, "von vornherein kann es (seil.: das Recht der Frau auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) niemals die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen oder sie gar mit dem Leben selbst zu zerstören, ... " (BVerfGE 39, 1,43). Vgl. die Interpretation Steiners, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, S. 14 m. Fn. 39. Das Gericht kommt aber zu einer anderen Sichtweise, soweit sich der Lebensschutz des nasciturus und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Mutter gegenüber~tehen, BVerfGE 39, 1,48.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
einer jeden Abtreibung 177 . Dies bedeutet aber nicht, daß die Rechte der Frau, insbesondere ihr Recht auf Leben, in jedem Falle zurücktreten müssen 178. Die Verfassung, konkret die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte des nasciturus, verlangt dies nicht. Sie läßt Raum für Zumutbar:keitserwägungen 179, die frei1ich auf der Ebene des einfachen Rechts, namentlich des Strafrechts, nur zum Schuldausschluß, nicht zur Rechtfertigung des Eingriffs führen können.
11. Die Anmaßung fremder Rechtspositionen
Nicht nur aus den besonders bedeutsamen Grundrechten auf Achtung der Menschenwürde gern. Art. 1 Abs. 1 GG und auf Schutz des Lebens aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern auch aus anderen Grundrechten ergeben sich bei näherem Hinsehen verfassungsimmanente Grenzen für jedweden grundrechtlichen Schutzbereich. Günter Dürig bezeichnete bereits im Jahre 1958 die in Art. 2 Abs. 1 GG ausdrücklich genannten ,,Rechte anderer" als eine Schranke, die allen Grundrechten innewohne. "Weil alles Recht auf Gegenseitigkeit beruht", so formulierte Dürig in Anlehnung an Erich Fechner l80 , ,,ist leicht einzusehen, daß jeder seine Freiheit nur soweit gebrauchen darf, als er durch den Gebrauch nicht die Freiheit der Genossen (zu deren gleichem Gebrauch) beeinträchtigt,,181. Man könne ,,in den Rechten anderer eine allen Grundrechten geradezu rechtslogisch immanente Schranke erblicken" 182. Diesem Gedanken, der seither von verschiedenen Autoren aufgegriffen wurde 183 , kann eine grundsätzliche Berechtigung nicht abgesprochen werden. Er beruht auf dem uralten 184 allgemeinen Schädigungsverbot "alterum non laedere,,185. 177 Vgl. R. Esser, Der Arzt im Abtreibungsstrafrecht. Eine verfassungsrechtliche Analyse, S. 71 ff. m.w.N. 178 Mit Recht warnt Kluth, in: Thomas/Kluth (Hrsg.), Das zumutbare Kind, S. 93,104 vor ,juristischen Kurzschlüssen" aus der Grundrechtsträgerschaft des nasciturus und lenkt den Blick auf die Frage nach Maß und Umsetzung der staatlichen Schutzpflicht. 179 BVerfGE 39, 1,48 ff.; 88, 203, 256f., 340; vgl. auch KJuth, in: Thomas/Kluth (Hrsg.), Das zumutbare Kind, S. 93, 112f. 180 Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, S. 3. 181 Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 2 Abs. I Rn. 73. 182 Dürig, in: Maunz I Dürig, GG Art. 2 Abs. I Rn. 73. 183 Vgl. vor allem Kriele, JA 1984,629,636, pass.; Lorenz, FS Lerche, S. 267, 270, pass.; vorher bereits Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. H, S. 453, 459, ausgehend von seinem Ansatz der allgemeinen Gesetze als ungeschriebene Grundrechtsgrenzen. Im Grundsatz auch Suhr, EuGRZ 1984,529,532 f., unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 2 Abs. I GG; ferner ders., in: Schuppert/Tzschadel (Hrsg.), Angewandte Dialektik, S. 96, 99, pass. Zur Kritik: Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 548 ff. mit umfangr. Nachw.; fernerders., JuS 1995,984,986. 184 Zur Geschichte des allgemeinen Schädigungsverbotes Schiemann, JuS 1989, 345 ff., der u. a. auf Überlegungen Ciceros, die Institutionen Justinians sowie auf Grotius, Pufendorf und Kant hinweist.
13. Kap.: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit
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Dieses zeigt sich im freiheitlichen Verfassungsstaat in einem allgemeinen "Freiheitsüberschreitungsverbot,,186, welches als immanente Grenze die grundrechtlich verbürgten Rechte apriori beschränkt 187 . Die Forderung "neminem laede!" ist Ausdruck eines Minimums des von jedem Mitglied der Rechtsgemeinschaft zu erwartenden Respekts vor den Grundrechten anderer, ohne den der Grundrechtsschutz insgesamt nicht denkbar wäre 188 . Das Grundgesetz konstituiert die Freiheitsrechte, um eine Gemeinschaftsordnung der rechtlich begründeten und rechtlich begrenzten, gleichberechtigten Freiheit zu begründen 189 . Schwierigkeiten ergeben sich allerdings - abgesehen von den bereits genannten Rechten auf Schutz der Menschenwürde und des Lebens - bei der näheren Bestimmung der aus Grundrechten Dritter folgenden Grenze grundrechtlicher Schutzbereiche. Denn nicht jeder Übergriff in Grundrechte anderer liegt von vornherein außerhalb des Grundrechtsschutzes. Dies zeigt sich etwa bei dem Konflikt von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz 190. Das Grundgesetz geht nicht davon aus, daß die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. I Satz I GG apriori durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dritter aus Art. 2 Abs. I i. V.m. Art. 1 Abs. I GG begrenzt wird. Gegen eine solche Grenze spricht der Wortlaut der Verfassung, die in Art. 5 Abs. 2 GG das Recht der persönlichen Ehre zu den "Schranken" der Meinungsfreiheit zählt. Gegen das Persönlichkeitsrecht als "apriorische Tatbestandsgrenze,,191 der Grundrechte aus Art. 5 GG spricht zudem, daß die für das freiheitliche Gemeinwesen unerläßliche geistige Auseinandersetzung starre Vorgaben allenfalls begrenzt verträgt. Das Problem besteht darin, diejenigen grundrechtlich geschützten Positionen, aus denen sich verfassungsimmanente Grenzen ergeben, von denjenigen abzugrenzen, in die einzugreifen von einem grundrechtlichen Schutzbereich umfaßt sein kann. Für die Lösung dieses Abgrenzungsproblems hat jüngst Dieter Larenz ein handhabbares Kriterium vorgestellt. Er betont mit Recht, daß nicht schon jede Beeinträchtigung der Rechte Dritter prinzipiell außerhalb des Grundrechtsschutzes liegt l92 • Entscheidend ist nach der von ihm entwickelten Konzeption die rechtliche Zuordnung eines Schutzgutes. "Die Rechtsordnung kann widerspruchsfrei dasselbe 185 Isensee, FS Sendler, S. 39,52, weist auf die Nähe des allgemeinen Schädigungsverbots zum Gewaltverbot (zu ihm oben S. 206ff.) hin. 186 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 10. 187 Isensee, Diskussionsbeitrag, in: KrautscheidtiMarre (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (22), S. 148, 150; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 13 Rn.174. 188 Vgl. Hufen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 455, 470, mit Blick auf religiösen Fundamentalismus. 189 Kriele, JA 1984, 629, 636. 190 Vgl. dazu die Nachw. oben S. 33 f. mit Fn. 51 ff. 191 So die Umschreibung verfassungsimmanenter Grundrechtsgrenzen bei Isensee, FS Sendler, S. 39, 59. 192 Lorenz, FS Lerche, S. 267, 271 m.w.N.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Rechtsgut nicht verschiedenen Rechtsträgem gleichzeitig zuordnen.,,193 Wer die einem anderen zustehende Rechtsrnacht in Anspruch nimmt, verläßt die Basis seiner eigenen Rechtsstellung. Er greift in einen fremden Rechtskreis über und begeht damit "per se eine Rechtsverletzung", die als solche zurückgewiesen werden kann 194. Außerhalb grundrechtlicher Schutzbereiche liegt danach die Anmaßung, fremde Rechtsgüter zu gebrauchen oder über sie zu bestimmen. Wer fremdes Eigentum als Mittel der Meinungsäußerung benutzt 195 oder ihm nicht gehörendes Material für künstlerische oder wissenschaftliche Zwecke verwendet 196, maßt sich eine Verfügungsbefugnis an, die ihm nicht zusteht. Wer einen anderen körperlich verletzt, geriert sich zu Unrecht so, als habe er das Recht, über dessen körperliche Unversehrtheit disponieren zu dürfen. Die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) haben klar abgegrenzte Schutzgüter. Wer sie beeinträchtigt, geriert sich zwangsläufig wie der Rechtsträger selbst. Denn nur dieser ist befugt, an seinem Eigentum oder gar an seiner körperlichen Integrität 197 Einbußen zuzulassen. Wer dagegen im Rahmen einer Meinungsäußerung einen anderen ehrkränkend bloßstellt, geriert sich nicht wie der Träger eines ihm nicht zustehenden Rechtsgutes. Er beeinträchtigt zwar möglicherweise das allgemeine Persönlichkeitsrecht des anderen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Er greift damit aber nicht in eine Rechtssphäre ein, die wie das Eigentum über eindeutige Grenzlinien verfügt, innerhalb derer nur eine Person die Rechtsrnacht ausübt. Die persönliche Ehre ist, wie bereits erwähnt 198 , dem öffentlichen Meinungskampf nicht apriori entzogen. Wer in das Persönlichkeitsrecht eines anderen übergreift, steht nicht von vornherein außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit. Festzuhalten bleibt, daß - von den herausragenden Rechten auf Achtung der Menschenwürde und Schutz des Lebens abgesehen - ein Übergriff in Rechte Dritter nur dann apriori außerhalb des Grundrechtsschutzes liegt, wenn zugleich die dem anderen zustehende Rechtsrnacht in Anspruch genommen wird. Wer sich nicht die Verfügungsbefugnis über fremde Rechtsgüter anmaßt, steht nicht allein wegen des Übergriffs in Rechte anderer von vornherein außerhalb der grundrechtlichen Schutzbereiche.
Lorenz, FS Lerche, S. 267, 270. Lorenz, FS Lerche, S. 267, 270. 195 Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453, 459 f.; anders der Ansatz des BVerfG (BVerfGE 7,230, 234ff.: der Mieter bringt am Haus des Vermieters ein Wahlplakat an), das eine Abwägung vornahm; mit Recht kritisch Ossenbühl, DVBI. 1995,904,907. 1% Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453, 459f.; Kriele, JA 1984, 629, 634f., 636f.; vgl. auch BVerfG NJW 1983, 1293, 1294 (zu dieser Entscheidung bereits oben S. 200 Fn. 28). 197 Vgl. insoweit § 226 a StGB. 198 Oben S. 221 mit Fn. 191. 193
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13. Kap.: Verfassungsimmanente Grenzen der Garantien religiöser Freiheit
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E. Zwischenergebnis Das Grundrecht der Religionsausübung aus Art. 4 Abs. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV sind tatbestandlieh offen. Es lassen sich allerdings Verhaltensweisen aufzeigen, die von vornherein nicht vom Schutz der Grundrechte und damit auch dieser Rechte erfaßt sind. Dies ist die Anwendung von Gewalt, verstanden als physischer Zwang auf Personen oder Sachen, es sind alle Handlungen, die der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG widersprechen oder das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht eines anderen auf Leben vedetzen, und es sind schließlich diejenigen Übergriffe in die (übrigen) Grundrechte Dritter, mit denen der Eingreifende sich die Rechtsrnacht des Rechtsträgers anmaßt. Diese verfassungsimmanenten Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie ergänzen sich, teilweise überschneiden sie sich in ihrer Wirkung 199. Wer etwa mit religiösen Motiven eine ihm nicht gehörende Sache zerstört, bewegt sich aus zwei Gründen außerhalb des Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit: zum einen, weil er Gewalt anwendet, und zum anderen, weil er sich die ihm nicht zustehende Rechtsrnacht des Eigentümers anmaßt. Rechtslogisch sind gegenseitige Ergänzungen immanenter Grenzen des Grundrechtsschutzes unbedenklich. Sie verstärken den Schutz des einzelnen vor Übergriffen im Namen der grundrechtlichen Freiheit, ohne diese unangemessen zu verkürzen.
199 Auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111 Rn. 177, plädiert sowohl für das Gewaltverbot als auch für das Verbot, in Rechte Dritter einzugreifen, als verfassungsimmanente Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche.
Vierzehntes Kapitel
Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte A. Die Schranken der Religionsfreiheit I. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs.l WRV als Gesetzesvorbehalt der Glaubens-, der Bekenntnisund der Religionsausübungsfreiheit Die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG stehen, soweit sie "Religionsfreiheit" gewährleisten, nach dem Wortlaut der Verfassung unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV werden die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Dennoch greift die ganz überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur zur Bestimmung der für die Religionsfreiheit bestehenden Schranken nicht auf diese Vorschrift zurück, sondern begibt sich auf die Suche nach anderen verfassungsrechtlich verbürgten Belangen, die der Religionsfreiheit abwägend gegenübergestellt werden 1. Die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG seien ohne jeden Gesetzesvorbehalt gewährleistet2 • Die - in jüngerer Zeit immer größer werdenden - Schwierigkeiten, zu denen eine derartige Sichtweise führt, wurden bereits angesprochen 3 . Die Geltung einfachrechtlicher Vorgaben, sei es im Bereich des Schulrechts, des Straßenrechts, des Gewerberechts oder des Tierschutzes 4 , hängt davon ab, ob das einschränkende Gesetz sich als Ausdruck eines verfassungsrechtlich anerkannten Belanges darstellt, der gegenüber der Religionsfreiheit den Vorrang genießt5 . I Vgl. dazu bereits die Nachw. oben S. 16 mit Fn. 72ff.; ausdrücklich ablehnend gegenüber Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRVais Gesetzesvorbehalt der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: Hemmrich, in: v. Münch, GG Art. 140 Rn. 7 ff.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG An. 4 Rn. 83; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 90; Trute, Jura 1996, 462, 466; Kind, Die rechtlichen Grenzen der Glaubenswerbung, S. 35 ff., sowie die in den folgenden Fn. Genannten. 2 lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 253 ff.; Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 25 ff., 167 ff., jeweils m. umfangr. Nachw.; ferner Scholler, in: Jb. zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 7 (1995), S. 117 u. 126. 3 Oben S. 17ff. 4 Dazu oben ebd. 5 Besonders deutlich Listl, DÖV 1993, 810, 812, in Auseinandersetzung mit Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V § llO Rn. 69.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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Immer häufiger wird demgegenüber für eine Beschränkung der Glaubens-, der Bekenntnis- und der Religionsausübungsfreiheit auf die Vorschrift des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV verwiesen 6 . Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit der Begründung abgelehnt, der Grundgesetzgeber habe die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus dem Zusammenhang der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung gelöst und ohne jeden Gesetzesvorbehalt in den an der Spitze der Verfassung stehenden Katalog unmittelbar verbindlicher Grundrechte aufgenommen. Art. 136 WRV sei deshalb im Lichte der gegenüber früher erheblich verstärkten Tragweite des Grundrechts 7 der Glaubens- und Gewissensfreiheit auszulegen und werde nach Bedeutung und innerem Gewicht im Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung von Art. 4 Abs. 1 GG überlagert 8 • Davon ausgehend kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluß, welche staatsbürgerlichen Pflichten im Sinne des Art. 136 Abs. 1 WRV gegenüber dem Freiheitsrecht des Art. 4 Abs. 1 GG mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden dürfen, lasse sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes nur nach Maßgabe der in Art. 4 Abs. 1 GG getroffenen Wertentscheidung feststellen 9 . Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRV praktisch für bedeutungslos erklärt lO • Es geht statt dessen über zu einer, äußerst problematischen Abwägungen aller Um6 Aus dem jüngeren Schrifttum: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. I, 2 Rn. 46; Starck, Diskussionsbeitrag, in: Marret Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 189, 190; Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 30; Herdegen, Gewissensfreiheit und Norrnativität des positiven Rechts, S. 288; ders., in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481,496; H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 500 Fn. 121; Brauburger, Diskussionsbeitrag, in: Marre/ Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (20), S. 145, 146; im Grundsatz auch v. Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 136 Rn. 82; ders., in: v. Mango1dt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140/ Art. 136 WRV Rn. 6; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 140/ Art. 136 WRV Rn. 1; nicht ganz eindeutig Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 4 Rn. 17ff., der zwar, Rn. 17, die Religionsfreiheit dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze unterstellen möchte, aber auch, Rn. 19, entsprechend der Rspr. des BVerfG eine Beschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht für möglich hält. Früher schon - durchweg ohne nähere Begründung - v. Mangoldt/ Klein, GG Art. 4 Anm. III 5 (S. 220); Martens, FS Wacke, S. 343, 352; Vater, Die Schranken der Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Bonner Grundgesetzes und Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 50f.; Bettermann, JZ 1964,601,604; ders., Grenzen der Grundrechte, S. 26, der allerdings, ebd., S. 7, Art. 4 GG als Grundrecht ohne jeden Gesetzesvorbehalt bezeichnet; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 128 f.; Müller-Freien/eis, JZ 1964, 344, 346; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 311; Wolf!, Verwaltungsrecht I, § 33 Vb 5 (S. 211); Stolleis, JuS 1974,770,774. 7 Durch die Verwendung des Singulars (auf den auch H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 490 Fn. 68, besonders hinweist) bringt das BVerfG sich in die mit einer Gemengelage von Religions- und Gewissensfreiheit notwendig verbundenen Schwierigkeiten, dazu bereits oben S. 21 f. 8 BVerfGE 33, 23, 30 f.; zur Ungenauigkeit der vorn BVerfG angegebenen w. Nachw. siehe Stolleis, JuS 1974,770,774 Fn. 30. 9 BVerfGE 33, 23, 31. 10 v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140/ Art. 136 Rn. 6.
IS Muckel
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
stände im Einzelfall und umgeht zugleich die schwierige Aufgabe, die verschiedenen Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nach ihrem je eigenen Gewährleistungsgehalt ll voneinander abzugrenzen. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich, indem es Art. 136 Abs. 1 WRV beiseite schiebt, in Widerspruch zu der von ihm selbst mit vollem Recht getroffenen Feststellung, daß die durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung "vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland" geworden sind und gegenüber den anderen Artikeln des Grundgesetzes nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges stehen 12, sondern mit dem Grundgesetz ein organisches Ganzes bilden 13. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 136 Abs. 1 WRV setzt sich über die Verfassung als Einheit!4 hinweg und stuft die inkorporierte Vorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRV zur irrelevanten Verfassungsnorm herab!5. Wenn das Bundesverfassungsgericht darauf verweist, daß "die Glaubens- und Gewissensfreiheit" aus dem Zusammenhang mit den Weimarer Kirchenartikeln gelöst an den Anfang der Verfassung gestellt worden sei!6, so entsteht zu Unrecht der Eindruck, der Verfassunggeber habe sich bewußt gegen einen Gesetzesvorbehalt für die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG normierten Grundrechte entschieden. Das Gegenteil ist richtig: Im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates bestand erkennbar keine völlige Klarheit über die Bedeutung eines eigenen Gesetzesvorbehaltes für Art. 4 GG. Nachdem der vom Herrenchiemseer Konvent vorgeschlagene Allgemeinvorbehalt der Grundrechte (Art. 21 Abs. 3 HehE)!7 im Parlamentarischen Rat nicht aufgegriffen worden war, wurde zunächst über eine Fassung des späteren Art. 4 GG beraten, die die Freiheit der Religionsausübung "im Rahmen der allgemeinen Gesetze" gewährte!8. Als dann im Grundsatzausschuß die Streichung dieses Vorbehaltes beschlossen wurde, folgte die Mehrheit des Ausschusses dem Abgeordneten Dr. Süsterhenn, der für den Wegfall des Gesetzesvorbehaltes plädierte, weil die Freiheit der Religionsausübung ohnehin nur im ,,Rahmen der öffentlichen Ordnung" gewährleistet sei und zugleich den Vorbehalten des Art. 2 Abs. 1 GG unterstehe. Da die Freiheit der Religionsausübung damit nur im Rahmen der verDazu oben 12. Kap. BVerfGE 19,206,219; so für Art. 136 Abs. 1 WRVauch Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 288. 13 BVerfGE 19,226,236; 53, 366, 400; 66,1,22; 70,138,167. 14 Zur Einheit der Verfassung, die das BVerfG als "vomehmstes Interpretationsprinzip" in Fragen der Verfassung bezeichnet hat (BVerfGE 19, 206, 220), bereits oben S. 56 mit Fn. 75 ff. und den dortigen Nachw. 15 Herdegen, in: ListI/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 496. 16 BVerfGE 33, 23, 30f. 17 Abgedruckt u. a. in: Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee v. 10. bis 23. August 1948, S. 63. 18 v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.P. 1 (1951), S. 73 f. 11
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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fassungs mäßigen Ordnung möglich sei, müßten seuchen- und bau polizeiliche Vorschriften auch bei Streichung des Gesetzesvorbehaltes beachtet werden l9 . Allein aus dieser Begründung für den Wegfall der Schrankenklausel in Art. 4 GG läßt sich jedoch verfassungsrechtlich noch kein eindeutiger Schluß ziehen. Denn es bestand bei Erlaß des Grundgesetzes durchaus keine Einmütigkeit über den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG, und zwar weder im Parlamentarischen Rat20 noch im verfassungsrechtlichen Schrifttum der ersten Jahre nach Erlaß des Grundgesetzes 21 . Die Diskussion hierüber kam erst nach dem sog. Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 1. 195722 zum Stillstand. Auch war die Anwendung einer Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG auf die Religionsfreiheit bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht unumstritten 23 . Klarheit brachte erst die wenige Tage vor der Schlußabstimmung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 vom Allgemeinen Redaktionsausschuß 24 befürwortete Ergänzung des Art. 140 GG um die Vorschrift des Art. 136 WRY. Offenbar wurde allerdings weder im Redaktionsausschuß 25 noch im Hauptausschuß, der den Vor19 v. DoemminglFüßleinlMatz, JöR n.P. 1 (1951), S. 74f. Vgl. auch den Schriftlichen Bericht des Abgeordneten Dr. v. Brentano zu den Übergangs- und Schlußbestimmungen im Entwurf des Grundgesetzes. Auch er sah die Religionsfreiheit als unter den in Art. 2 Abs. 1 GG genannten Schranken gewährleistet, sie sei deshalb durch ein ..allgemeines Staatsgesetz" einschränkbar; v. Brentano schloß allerdings eine Anwendung des Art. 136 Abs. I WRV als Gesetzesvorbehalt für Art. 4 GG aus (Parlamentarischer Rat Bonn 1948/49. Anlage zum stenographisehen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949. Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland [Drucksachen Nr. 850, 854], erstattet von den Berichterstattern des Hauptausschusses für das Plenum, S. 61, 75). 20 Vgl. v. DoemminglFüßleinlMatz, JöR n.P. 1 (1951), S. 55 f. 21 Bezeichnend ist insoweit der von v. Mangoldt begründete Kommentar zum GG. Während v. Mangoldt in der 1. Aufl. (1953), Art. 2 Anm. 2 (S. 47), der .. verfassungsmäßigen Ordnung" ,jedes ordnungsgemäß, nach den Vorschriften der Verfassung ergangene Gesetz" zurechnete, bezeichnete Friedrich Klein in der 2. Aufl. (1957) des Kommentars die Unrichtigkeit der Ansicht v. Mangoldts als ..gesicherte Erkenntnis" und verband mit dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung ..nur die elementaren Verfassungsgrundsätze und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers" (v. Mangoldtl Klein, GG Art. 2 Anm. 2 a). 22 BVerfGE 6, 32, wo das BVerfG bekanntlich den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung mit dem der verfassungsmäßigen Rechtsordnung gleichsetzte (ebd. S. 37 f.). 23 Der Abgeordnete Dr. v. Mangoldt lehnte im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates bereits in der Diskussion um die Streichung eines eigenen Gesetzesvorbehalts in Art. 4 GG die Anwendung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG auf die Religionsfreiheit ab, v. Doemmingl Füßlein I Matz, JöR n.P. 1 (1951), S. 75. 24 v. Doemmingl Füßlein I Matz, JöR n.P. I (1951), S. 907. 25 Parlamentarischer Rat, Drucksache 751 v. 2. 5. 1949, fünftletzte Seite, zu Art. 148/ I im damaligen Entwurfsstadium; nicht die Ergänzung der Auflistung von Vorschriften der WRV um deren Art. 136, sondern die Formulierung ..sind Bestandteil dieses Grundgesetzes" ist in dem Änderungsvorschlag des Redaktionsausschusses durch Unterstreichung hervorgehoben.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
schlag billigte 26, über den sachlichen Gehalt dieser Änderung gesprochen, soweit sie den ersten Absatz des Art. 136 WRV betraf27 . Dies kann nur damit erklärt werden, daß man in den mit der Sache befaßten Gremien des Parlamentarischen Rates (mehrheitlich) davon ausging, die allgemeinen Gesetze enthielten ohnehin Schranken der Religionsfreiheit. Ohne die Aufnahme des Art. 136 Abs. 1 WRV in das Grundgesetz wäre dies lediglich eine Rechtsansicht, die von Anfang an umstritten war28 und sich später nicht durchsetzen konnte 29 . Durch Art. 140 GG i. Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV dagegen wurde der Schrankenvorbehalt in der Verfassung festgeschrieben. Damit hat die als deklaratorisch gedachte Vorschrift konstitutive Bedeutung erlangt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sei als eigenständige Grundrechtsverbürgung aus dem Zusammenhang der Weimarer Kirchenartikel gelöst worden3o . Die grundrechtliche Religionsfreiheit und die inkorporierten Artikel der Weimarer Verfassung bilden einen einheitlich zu verstehenden Regelungszusammenhang 31 . Ungeachtet der systematisch verunglückten Aufnahme eines Teils des Staatskirchenrechts in die Übergangs- und Schlußbestimmung des Grundgesetzes und der verfassungstechnisch unschönen 32 Inkorporation von Vorschriften außerhalb des Grundgesetzes behandeln Art. 4 GG in seinen ersten beiden Absätzen und Art. 140 GG mit den einbezogenen Weimarer Vorschriften denselben Sachkomplex: Religion und Weltanschauung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einerseits und Art. 140 GG andererseits lassen sich, was ihren sachlichen Gehalt angeht, nicht nach festen Regeln, wie etwa der, das eine betreffe die individuelle, das andere die kollektiv-institutionelle Seite religiöser Betätigung33 , abgrenzen. Zwischen den Grundrechten des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und den Gewährleistungen aus Art. 140 GG besteht ein "unlösbarer Zusammenhang,,34. Die inkorporierten
26 Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses. Bonn 1948/49,57. Sitzung am 5. 5. 1949, S. 765 (zu Art. 14811 im damaligen Entwurfstadium). 27 Lediglich über die in Art. 136 Abs. 4 WRVenthaltene negative Bekenntnisfreiheit wurde diskutiert mit dem Ergebnis, daß ein gleichlautender Absatz in Art. 4 GG (damals Art. 5 GG) gestrichen wurde, Parlamentarischer Rat. Drucksache Nr. 932, S. 6. 28 Oben Fn. 18 f. 29 V gl. nur Sachs, in: Stern, Staatsrecht III 12, S. 535 f., 550 f. jeweils m. umfangr. Nachw. Insbesondere zur Geltung der allgemeinen Gesetze als - ungeschriebene - Schranke der Gewissensfreiheit unten S. 253 ff. mit Fn. 229 ff. 30 So aber BVerfGE 33, 23, 30 f. 31 Badura, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 211, 241. 32 V gl. nur die ÄUßerung des Abg. Zinn im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates, der von einer "gesetzestechnischen Überrumpelung des Mannes aus dem Volke" sprach, in: Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses. Bonn 1948/49, S. 599. 33 Zum Verhältnis von individueller und kollektiver Religionsfreiheit oben S. 170 ff. 34 Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 138 Rn. 108; zustimmend Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 439, 445; vgl. auch bereits Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 26 (1968), S. 110.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung konkretisieren und verdeutlichen die grundrechtliehe Religionsfreiheit in ihrer ,,komplexen gleichermaßen individualrechtlichen und korporativ-institutionellen Ausprägung,,35, ohne daß den Bestimmungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dabei ein Vorrang zukommt36 . Die Trennung der grundrechtlichen Religionsfreiheit von den anderen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen durch das Grundgesetz steht zudem in einem deutlichen Widerspruch zu einer langen verfassungsgeschichtlichen Tradition, die das Grundrecht der Glaubensfreiheit regelmäßig in einem Abschnitt zusammen mit allgemeinen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat gesehen hae 7 • Diese Tradition, in der auch die Weimarer Reichsverfassung mit ihren Art. 135 ff. noch stand, hätte durch das Grundgesetz ihr definitives Ende gefunden, wenn Art. 140 GG Ausdruck einer bewußten Entscheidung des Verfassunggebers für eine Trennung der beiden Komplexe wäre. In Wahrheit ist die Vorschrift aber eine "Verlegenheitslösung,,38, zu der es deshalb kam, weil der Parlamentarische Rat nicht mehr die Kraft hatte, ein eigenes, neues staatskirchenrechtliches Konzept zu erarbeiten 39 . Der Verfassunggeber entschied sich mit Art. 140 GG gegen eine grundlegende Neuordnung des Weimarer Staatskirchenrechts 40 und brachte mit dieser Vor-
Listl, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2, Bd. I, S. 439, 447. 36 Vgl. Scheuner, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 237, 249f.; ders., DÖV 1967,585,587; Rüfner, NJW 1971, 15, 16; Preuß, AK-GG, Art. 140 Rn. 16; Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 146; a.A.: Fischer, Volkskirche ade! Trennung von Staat und Kirche, S. 47; wohl auch Obermayer, BK, Art. 140 Rn. 73. 37 Hierauf weist mit Recht Scheuner, DÖV 1967, 585, 587, hin. Er verweist beispielhaft auf Art. 5 §§ 144 - 151 der Paulskirchenverfassung. Daneben sind insbesondere zu nennen §§ 1 ff. II 11 PrALR, §§ 9 und 10 der Verfassung des Königreichs Bayern v. 26. 5. 1818 (abgedruckt bei Huber/Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. I, S. 127f.), Art. 11 ff., der oktroyierten preußischen Verfassung von 1848 (Huber/Huber, Bd. II, S. 36) sowie Art. 12ff. der revidierten preußischen Verfassung von 1850 (Huber/Huber, Bd. II, S.37f.). 38 Vgl. statt vieler Hesse, JöR n.F. 10 (1961), S. 3, 17; Rüfner, NJW 1971, 15, 16; v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140 Rn. 7 m.w.N.; a.A.: Link, FS Thieme, S. 95, 108: "mehr als eine Verlegenheitslösung". 39 Vgl. nur die Äußerung des Abg. Dr. Heuß in der 22. Sitzung des Hauptausschusses am 8. 12. 1948; Heuß verwies darauf, daß man das Verhältnis von Staat und Kirche bereits im Grundsatzausschuß behandelt habe, aber die Frage der Auswirkungen einzelner Formulierungen "in dem vorgerückten Stadium der Verhandlungen" in ihrer Tragweite nicht beurteilt werden könne; dieser Gesichtspunkt habe ihn, Heuß, "mit besonderer Wucht bewegt". Schlief, Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche und seine Ausgestaltung im Bonner Grundgesetz, S. 80, sieht in dem Votum von Heuß in der Sitzung des Hauptausschusses vom 8. 12. 1948 den ,,Ausgangspunkt für die spätere endgültige Regelung". 40 Die Entstehungsgeschichte des Art. 140 GG spricht daher auch entscheidend gegen die von Kind, Die rechtlichen Grenzen der Glaubensabwerbung, S. 37, formulierte These, Art. 136 WRV habe bei Übernahme in die neue Verfassung einen Bedeutungswandel erfahren, der ihm allenfalls die Funktion eines Hinweises auf die Notwendigkeit belasse, "daß das religiöse Moment sich in seine säkulare Umwelt einfügen muß". 35
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
schrift und ihrer Einfügung in die Übergangs- und Schlußbestimmungen zugleich das Vorläufige der Regelung zum Ausdruck41 • Nachdem das Staatskirchenrecht aus der Verfassungsreform nach der deutschen Wiedervereinigung unverändert hervorgegangen ist, muß Art. 140 GG nunmehr als Teil einer dauerhaften Regelung des Verfassungsreligionsrechts angesehen werden. Um so mehr ist die Verfassungsinterpretation gehalten, den Akzent nicht auf die eher zufällige Anordnung der einzelnen Vorschriften dieses Regelungskomplexes in der Verfassung zu legen. Sie sollte vielmehr die der Sache nach, von der Entstehungsgeschichte der Vorschriften und der historischen Entwicklung des Staatskirchenrechts nahegelegte Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit des gesamten Staatskirchenrechts der Verfassung betonen, um die unübersehbaren Brüche in der Systematik abzumildern. Ein solches Vorgehen führt nach dem Gesagten dazu, die Vorschrift des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. I WRVais Gesetzesvorbehalt der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG normierten Grundrechte Glaubens-, Bekenntnis- und Re1igionsausübungsfreiheit anzusehen.
11. Der materielle Gehalt des Vorbehalts in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs.l WRV
1. Art. 140 GG i. v'm. Art. 136 Abs. 1 WRVals Vorbehalt der allgemeinen Gesetze Die staatsbürgerlichen Pflichten werden nach Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Zu den "staatsbürgerlichen Pflichten" zählt die als selbstverständlich von der Verfassung vorausgesetzte und hier nur anklingende Pflicht des Staatsbürgers zum Gesetzesgehorsam42 • Danach enthielte Art. 136 Abs. 1 WRVeinen nicht näher spezifizierten, einfachen Gesetzesvorbehalt43 . Dies hätte zur Folge, daß - ähnlich dem auf Art. 8 Abs. 2 GG gestützten Versammlungs gesetz - auch ein staatliches "Gesetz über die Ausübung religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen" oder gar ein "Jugendsektengesetz,,44 zulässig sein könnte. Bereits zu Weimarer Zeiten WUfVgl. Hesse, JöR n.F. 10 (1961), S. 3, 14. Vgl. Mausbach, Kulturfragen der Deutschen Verfassung, S. 55; für die Vorläufervorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRV in Art. 12 Satz 3 Preuß. Verfassung v. 31. 1. 1850 (,,Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen.") auch Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat v. 31. Januar 1850, S. 229. Zur Gesetzesgehorsamspflicht und zu der hier nicht interessierenden Frage, ob es sich bei ihr um eine Grundpflicht handelt, vgl. statt vieler Stern, Staatsrecht ill/2, S. 1027; Bethge, JA 1985,249, 256, jeweils m.w.N. 43 Zum Unterschied zwischen einfachen und qualifizierten Gesetzesvorbehalten Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 27 f., 32 f.; Pierothl Schlink, Grundrechte Staatsrecht 11, Rn. 274ff.; Sachs, JuS 1995,693,696. 44 Beispiel von Müller- Volbehr, DÖV 1995, 301, 309. 41
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
231
de Art. 136 Abs. 1 WRV jedoch als qualifizierter45 Gesetzesvorbehalt gedeutet, der die Ausübung der Religionsfreiheit von der Beachtung der allgemeinen Gesetze abhängig machte. Art. 136 Abs. 1 WRV wurde als Wiederholung des in Art. 135 Satz 3 WRVausdrücklich normierten Vorbehaltes der "allgemeinen Staatsgesetze" angesehen46 . Unter der Geltung des Grundgesetzes hat die Norm keine andere Bedeutung gewonnen. Von einem Bedeutungswandel47 des Art. 136 Abs. 1 WRV könnte nur unter der Voraussetzung ausgegangen werden, daß die übrigen Verfassungsnormen zu einer abweichenden Interpretation zwingen48 . Diese Voraussetzung ist jedoch, wie gesehen49 , nach Aufnahme des Art. 136 Abs. I WRV in das Grundgesetz nicht erfüllt. Auch stünde die Norm, verstanden als einfacher Gesetzesvorbehalt, in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 2 GG. Daß die Religionsfreiheit, die mit der Bekenntnisfreiheit überdies einen Spezialfall der allgemeinen Meinungsfreiheit aufweist, weitergehenden Beschränkungsmöglichkeiten unterliegt als die in Art. 5 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechte, erscheint schlechterdings nicht vorstellbar. Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV stellt die Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, aber auch die gleichfalls zur ,,Religionsfreiheit" zählende religiöse Vereinigungsfreiheit (Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 WRV)50, unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze5!. 2. Der Begriff der allgemeinen Gesetze Allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV sind Gesetze (im formellen und im nur materiellen Sinne52 ), die sich nicht gegen Glauben, Bekenntnis oder Religionsausübung 53 als solche wenden, die also nicht die Ausübung eines der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG54 unterdrücken 55. Zu 45 Zur Einstufung eines Vorbehalts der allgemeinen Gesetze als qualifizierter Gesetzesvorbehalt Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 28 ff. 46 Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, S. 165 f.; Anschütz, WRV Art. 136 Anm. I (S. 623); ders., in: Anschütz/Thoma, HdbDStR, Bd. 11, S. 675, 686. 47 Zu der davon ausgehenden These Kinds, Die rechtlichen Grenzen der Glaubenswerbung, S. 37, bereits oben Fn. 40. 48 Vgl. Starck, FS W. Weber, S. 189, 190 m.w.N. 49 Oben S. 228 ff. mit Fn. 30 ff. 50 Dazu oben S. 163 ff. 51 So im Ergebnis auch v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 46, 47; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 1401 Art. 136 WRV Rn. 4; vgl. i. Ü. die Nachw. oben Fn. 6. 52 Vgl. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 5 Rn. 73 m.w.N.; näher: Schwark, Der Begriff der ,,Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, S. 132; ausführlich zu dem einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt ausfüllenden Gesetz Sachs, in: Stern, Staatsrecht III 12, S. 423 ff. • 53 Für Weltanschauungen gilt aus den oben S. 135 ff. mit Fn. 68 ff. dargelegten Gründen dasselbe. 54 Oder auch des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 2 WRV, siehe bereits oben S. 163 ff.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
den allgemeinen Gesetzen im Sinne des Art. 136 Abs. 1 WRV zählen alle Gesetze, die nicht Sonderrecht gegen die Religionsfreiheit enthalten56 . Entscheidend ist dabei der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck57 . Ein allgemeines Gesetz beschränkt die Religionsfreiheit nicht zum Zwecke der Unterdrückung des religiösen oder weltanschaulichen Inhalts einer Überzeugung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten Gründen58 . Oder kurz: Es darf sich nicht um eine "durch religionspolitische Erwägungen beeinflußte staatliche Regelung,,59 handeln. Dieses in Anlehnung an Kurt Häntzschels Überlegungen zu den Schranken der Meinungsfreiheit nach Art. 118 Abs. 1 Satz 1 WRV60 entwickelte Verständnis entspricht, wie Christian Starck im einzelnen nachgewiesen hat61 , der verfassungsgeschichtlichen Herkunft und Entwicklung der Klausel "allgemeine Gesetze" in Art. 5 Abs. 2 GG. Gegenüber dem von Rudolf Smend bevorzugten "materialen" Verständnis 62 hat die auf Häntzschel zurückgehende sog. Sonderrechtslehre den Vorzug, daß sie den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze als qualifizierten Gesetzesvorbehalt aufrecht erhält. Smends Vorschlag, die "materiale Überwertigkeit,,63 des Grundrechts oder des seiner Einschränkung zugrunde liegenden Belangs zu prüfen, läuft auf eine Abwägung hinaus, wie sie bei jeder Grundrechtseinschränkung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist64 . Smend hat den Be55 Vgl. Häntzschel, in: Anschütz/Thoma, HdbDStR 11, S. 651, 659f. mit Fn. 22, für Art. 118 Abs. I Satz I WRV. 56 Vgl. Häntzschel, AöR n.P. 10 (1926), S. 228, 232, für Art. 118 Abs. 1 Satz I WRV; ferner Stern, FS Hübner, S. 815, 821 m.w.N.; H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 155. 57 Zu den damit verbundenen Problemen (insbesondere Mißbrauchsmöglichkeiten) und ihrer Lösung vgl. Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, S. 131. 58 Vgl. Häntzschel, AöR n.P. 10 (1926), S. 228, 233, im Hinblick auf Art. 118 WRV. 59 Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 11, S. 319, 350. 60 Siehe Fn. 55 ff.; ihm zustimmend vor allem Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), s. 5, 18 f.; Schwark, Der Begriff der ,,Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, S. 130; der Sache nach, allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Häntzschel auch Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 425 f. m.w.N. 61 Starck, FS W. Weber, S. 189ff., insbes. S. 208ff., 213ff.; zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates vgl. auch H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 156ff.; Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 8f.,jeweils m.w.N. 62 Smend, VVDStRL 4 (1928), s. 44, 51 ff.; w. Nachw. zu Zustimmung und Kritik der Sichtweise Smends bei Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, S. 48 ff.; Zustimmung findet die' Ansicht Smends auch bei Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 62 ff., obwohl dieser, in: FS W. Weber, S. 189 ff., nachweist, daß das von Häntzschel vorgetragene Verständnis eher der Herkunft und Entwicklung des Begriffs "allgemeine Gesetze" entspricht (dazu bereits oben Fn. 61). 63 Smend, VVDStRL 4 (1928), s. 44, 52. 64 Mit Recht weisen PierothlSchlink, Grundrechte Staatsrecht 11, Rn. 655 darauf hin, daß der Abwägungslehre im Rahmen des Vorbehaltes der allgemein~n Gesetze "dieselbe Bedeutung" zukommt "wie sonst der Verhältnismäßigkeit Le.S.".
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
233
griff des Allgemeinen so entleert, daß der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze zu einem einfachen Gesetzesvorbehalt wird65 . Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht, das im sog. Lüth-Urteil vom 15. 1. 1958 bei der Interpretation des Art. 5 Abs. 2 GG die Sonderrechtslehre mit dem Abwägungselement Smends verbunden hat66, in seiner jüngeren Rechtsprechung die Abwägung der Meinungsfreiheit mit anderen Rechtspositionen vom Vorbehalt der allgemeinen Gesetze abgetrennt67 . Damit trägt das Gericht (zumindest formal) dem Umstand Rechnung, daß Interessenabwägungen immer nur ein einzelnes Wertungsproblem im Auge haben können68 , während der Begriff des Allgemeinen "Distanz vor allzu punktueller Betrachtung,,69 verlangt70. Der Vorbehalt des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV läßt sich auch nicht als Ausdruck des Gleichheitssatzes verstehen, wie dies in der jüngeren Literatur bisweilen behauptet wird71 • Danach stellt Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 65 Vgl. Starck, FS W. Weber, S. 189,210. Vgl. auch die Kritik von Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 30, der in lier Ansicht Smends die Gefahr begründet sieht, daß die Kompetenzen der zuständigen Organe noch über die in den einfachen Vorbehalten zugestandenen Befugnisse hinausgehen; zum Zusammenhang von Abwägung und Entscheidungskompetenz jüngst Ossenbühl, DVBI. 1995, 904, 909 ff. 66 BVerfGE 7, 198, 209f., wo das Gericht ohne nähere Begründung feststellt, daß als allgemeine Gesetze "alle Gesetze zu verstehen sind, die ,nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten', die vielmehr ,dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen', dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat". 67 BVerfGE 66, 116, 136 - Wallraff, wo das Gericht die Schranken der Pressefreiheit "in den in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Gesetzen" wie auch "unmittelbar aus der Verfassung selbst" folgend erblickt und sodann diese Unterscheidung beibehält, indem es konstatiert, daß kein "allgemeines Gesetz" erkennbar sei, daß aber gleichwohl die "Schranken, die sich aus der Verfassung selbst ergeben", in Betracht zu ziehen seien. Auf der Linie der Sonderrechtslehre liegt es auch, wenn das BVerfG, ebd., S. 138, ohne nähere Begründung und insbesondere ohne eine Abwägung herausstellt, daß §§ 823, 826, 1004 BGB allgemeine Gesetze i. S. d. Art. 5 Abs. 2 GG seien. Näher zu der Rechtsprechungskorrektur Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), S. 52, 90 mit umfangr. Nachw. 68 Vgl. auch Ossenbühl, DVBI. 1995, 904, 907 (,.Abwägung stets einzelfallbezogen ... , wenn sie zu einer Konfliktlösung führen soll"); Roellecke, JZ 1981, 688, der, S. 694, mit Recht herausstellt, daß das BVerfG auf der Grundlage eines "materialen" Verständnisses der Schranken in Art. 5 Abs. 2 GG "nicht der Meinungsfreiheit, sondern bestimmten Meinungen dient". 69 Lerche, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IVIl, S. 447, 474. 70 V gl. auch Henke, Recht und Staat, S. 621, der die Allgemeinheit des Gesetzes u. a. darin begründet sieht, daß sie zu einer "Vereinheitlichung des Fallrechts" führt. 71 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 36 ff.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 83; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 255 (ohne nähere Begründung). Zu Versuchen, den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG als Ausprägung des Gleichheitsgedankens zu interpretieren, vgl. Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, S. 54 f. und die dortigen Nachw.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
WRVeinen speziellen Gleichheitssatz dar, der es verbiete, jemanden gerade wegen der Ausübung der Religionsfreiheit zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Die Religion werde zum unzulässigen Differenzierungskriterium erklärt72 . Zuzugeben ist dieser Sichtweise, daß der Vorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRVallerdings eine ähnliche Regelung, wie sie bereits das besondere Gleichheitsgebot des Art. 33 Abs. 3 GG enthält, entnommen werden kann. Das gilt aber nur, soweit nach Art. 136 Abs. 1 WRV die staatsbürgerlichen ,,Rechte" durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt werden 73. Ihre Funktion als Gesetzesvorbehalt für die religiösen Freiheitsrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gründet sich demgegenüber darauf, daß die Vorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRV auch eine Beschränkung der staatsbürgerlichen "Pflichten" durch die Ausübung der Religionsfreiheit ausschließt. Diesen zweiten Aspekt der Norm blendet aus, wer Art. 136 Abs. 1 WRV nur als "speziellen Gleichheitssatz,,74 lesen möchte. Zu Unrecht wird die Frage aufgeworfen (und verneint), ob ein "Gleichheitsgebot zugleich einen Gesetzesvorbehalt für ein Freiheitsrecht beinhalten kann,,75. In Art. 136 Abs. 1 WRV stehen ein - wegen Art. 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 2 WRV bedeutungsloses - Gleichheitsgebot und ein Gesetzesvorbehalt selbständig nebeneinander. Festzuhalten bleibt: Der aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV folgende Vorbehalt der allgemeinen Gesetze erlaubt - in Anlehnung an Kurt Häntzschels Überlegungen zum Grundrecht der Meinungsfreiheit - gesetzliche Beschränkungen der Religionsfreiheit, die sich nicht gegen einen Glauben, ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis oder eine Form der Religionsausübung als solche wenden. Unzulässig ist dagegen religionspolitisch motiviertes Sonderrecht.
Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 37. So mit Blick auf den Vergleich von Art. 136 Abs. 1 WRV mit der Vorschrift des Art. 136 Abs. 2 WRV, die mit Art. 33 Abs. 3 GG eine deutliche Ähnlichkeit aufweist, Anschütz, WRV Art. 136 Anm. 1 (S. 623). 74 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 37. Soweit Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 255, auf Scheuner, in: Friesenhahn I Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. I, S. 5, 51, verweist, übersieht er, daß Scheuner an der in Bezug genommenen Stelle allein den Gleichheitsaspekt des Art. 136 Abs. 1 WRV im Auge hat, während er an anderer Stelle (ZevKR 15 [1970], S. 242, 251) einem Verständnis von Art. 136 Abs. I WRVals Gesetzesvorbehalt von in Art. 4 GG gewährleisteten Rechten (hier der Gewissensfreiheit) durchaus nicht ablehnend gegenübersteht. 75 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 38, qer auch die Ansicht der von ihm, ebd. Fn. 2, zitierten Autoren verkennt. 72
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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III. Das Spannungsverhältnis zwischen Grundrecht und einschränkendem Gesetz 1. Die" Wechselwirkung" von grundrechtlicher Freiheit und allgemeinem Gesetz
Das sehr formale 76 Verständnis des Gesetzesvorbehalts im Sinne der Sonderrechtslehre führt allerdings dazu, daß Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV im Hinblick auf eine Grundschwierigkeit gesetzlicher Einschränkung von Grundrechten noch keinen Lösungsansatz enthält. Diese Grundschwierigkeit besteht darin, daß der Gesetzgeber einerseits zum "Widerpart,,77 der Grundrechte wird, wenn er von der Möglichkeit eines Gesetzesvorbehaltes Gebrauch macht, andererseits nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist und ihnen infolgedessen in besonderer Weise Rechnung tragen muß 78. Dieses Problem kann nicht dadurch gelöst werden, daß die Stellung des Gesetzgebers als in die Grundrechte eingreifende und Schranken setzende staatliche Gewalt zugunsten seiner - im Grundsatz unbestreitbaren - Aufgabe zur Ausgestaltung und "Prägung,,79 grundrechtlicher Freiheit in den Hintergrund gestellt wird 8o . Der Gesetzgeber wirkt nicht nur im Wege der Ausgestaltung auf die Grundrechte ein, sondern auch mit dem Mittel der Grundrechtsbegrenzung. ,,Er zieht dem Grundrecht Schranken, um seine Wirksamkeit gegenüber anderen Rechtsgütern abzugrenzen,,81. Dabei muß der Gesetzgeber die Rechtsgüter, zu deren Wahrung er grundrechtsbegrenzend tätig wird, dem grundrechtlieh geschützten Belang in einem abwägenden Vergleich gegenüberstellen 82 . Dem83 trägt das Bundesverfassungsgericht - ausdrücklich zunächst nur für die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG 84 - dadurch Rechnung, daß es eine "Wechselwirkung" von allgemeinem Gesetz und Grundrecht fordert, der zufolge die einfachen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, "ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung" des Grundrechts ausgelegt "und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeVgl. Schnapp, JuS 1978,729,732, der insoweit von "fonneller Theorie" spricht. Stern, Staatsrecht I1I11, S. 1299. 78 Stern, Staatsrecht I1I11, S. 1299, spricht im Zusammenhang mit der Bindungsklausel des Art. lAbs. 3 GG davon, daß der Gesetzgeber den Grundrechtsbestimmungen dergestalt unterworfen ist, "daß seine gesamte Tatigkeit im Grundrechtsbereich gesteuert ist". 79 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 37 ff.; grundlegend zu "grundrechtsprägenden Nonnen" bereits ders., Übennaß und Verfassungsrecht, S. 107 ff. 80 Diese Tendenz ist jedoch erkennbar vor allem bei Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 180ff., pass.; Krebs, Vorbehalt der Gesetze und Grundrechte, S. 77 ff.; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 253 f., pass. 81 Stern, Staatsrecht I1I11, S. 1302. 82 V gl. Stern, Staatsrecht III 11, S. 1302f. 83 Zum Zusammenhang von Grundrechtsbindung des Gesetzgebers nach Art. lAbs. 3 GG und "Wechselwirkungstheorie" Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 73 f., 109 f. 84 BVerfGE 7, 198,208 f. - Lüth. 76
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
schränkt werden" müßten85 . Daran anknüpfend hat das Bundesverfassungsgericht ein "Gebot der Abwägung im Einzelfall,,86 aufgestellt: Es sei eine "Güterabwägung" erforderlich, die "aufgrund aller Umstände des Falles" erfolgen müsse87 . Eine solche einzelfallbezogene Abwägung nimmt das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht nur bei Einschränkungen der Meinungsfreiheit gern. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vor, sondern inzwischen bei allen Freiheitsrechten 88 , auch bei den von ihm als vorbehaltlos angesehenen Freiheitsrechten des Art. 4 Abs. 1 und 2 008\l. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß in der Literatur die Anwendung des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRVals Gesetzesvorbehalt "der" Religionsfreiheit häufig mit einem abschwächenden Hinweis verbunden wird: Andere Ergebnisse, als das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung gesetzlicher Einschränkungen der Religionsfreiheit erzielt, seien auch bei Heranziehung des Art. 136 Abs. 1 WRV nicht zu erwarten90, da die "Wechselwirkungstheorie" des Gerichts auch im Bereich des Art. 4 GG beachtet werden müsse91 . Dann aber wäre in der Tat mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt für Art. 4 Abs. 1 und 2 GG "praktisch nicht viel gewonnen,,92. Zu solcher Resignation besteht jedoch bei näherem Hinsehen kein Anlaß. Es ist durchaus nicht zwingend geboten, den Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV auf der Grundlage der gegenwärtigen, eine Abwägung im Einzelfall fordernden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Einschränkungen von Grundrechten zu interpretieren. Im Gegenteil: Gegen diese Rechtsprechung bestehen durchgreifende Bedenken, die es nahelegen, sie zu überdenken. BVerfGE 7, 198,209 - st. Rspr.; aus jüngerer Zeit BVerfGE 90,255,259. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 5 Rn. 75; deutlich: BVerfGE 90,255,259: "fallbezogene Abwägung". 87 BVerfGE 7, 198, 21Of.; w. Nachw. bei Wendt, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 5 Rn. 75; aus der jüngeren Rspr.: BVerfG NJW 1994, 2943; 1995, 3303, 3304 ("Soldaten sind Mörder"). 88 Vgl. den Befund von Schmitt Glaeser, AöR Bd. 97 (1972), S. 276, 280f.; zu Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV unten S. 276 ff. Ausdrückliche Bezugnahme auf die Grundsätze der Lüth-Entscheidung auch in BVerfGE 69, 315, 348 f. - Brokdorf - im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit gern. Art. 8 GG. Verallgemeinernd auch Schnapp, JuS 1983,850, 851 f. 89 Zu den Schranken der Religionsfreiheit in der Rspr. des BVerfG bereits oben S. 16ff. mit Fn. 72 ff. 90 v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 46 (S. 449f.); Stolleis, JuS 1974, 770, 774; H.H. Klein, FS Doehring,' S. 479, 499f. mit Fn. 129; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 311; der Sache nach - allerdings ohne ausdrücklichen Rekurs auf die Wechselwirkungstheorie des BVerfG - auch Schwabe, JuS 1972,380,383. 91 So neben den in Fn. 90 Genannten: Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung), Rn. 89, der folgerichtig in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV ,,keinen uneingeschränkten Gesetzesvorbehalt" sieht; modifizierend auch Vater, Die Schranken der Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Bonner Grundgesetzes und Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 51. 92 So Müller-Volbehr, DÖV 1995,301,309. 85
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2. Keine Interessenabwägung im Einzelfall bei der Bestimmung der Grundrechtsschranken Der Wortlaut der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte deutet durchweg darauf hin, daß nicht die Grundrechte den Gesetzen Schranken ziehen, sondern umgekehrt: die Grundrechte werden durch die vorbehaltenen einfachen Gesetze beschränkt93 . Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt bei seiner Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 2 GG nicht, daß der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze als qualifizierter Gesetzesvorbehalt, als "Vor-Entscheidung" der Verfassung zugunsten einer "unbedingten Präferenz der allgemeinen Gesetze,,94 gedeutet werden könnte mit der Folge, daß für einen zusätzlichen Kontrollmaßstab kein Raum .mehr wäre. Auch kann darauf verwiesen werden, daß die Wechselwirkungstheorie mit den Gesetzen der Logik nicht ohne weiteres vereinbar ist. "Denn eine das Grundrecht beschränkende Norm kann logisch nicht in der Reichweite der Beschränkung wegen der inhaltlichen Wertigkeit des grundrechtlichen Rechtsguts beschränkt werden. ,,95 Gegen derartige, am Wortlaut der Verfassung ansetzende Überlegungen mag eingewendet werden: Daß die Schranken ziehende Gesetzgebung ihrerseits gewissen Begrenzungen unterliege, sei längst eine grundrechtsdogmatische Selbstverständlichkeit. Der Begriff der "Schranken-Schranke,,96 belegt die grundsätzliche Berechtigung dieses Einwands 97 . Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Verfassunggeber bei Erlaß des Grundgesetzes, entsprechend dem viel zitierten Diktum von Karl-August Bettermann, kein festgefügtes Schrankensystem errichtet, sondern einen "Schrankenwirrwarr" angerichtet hat und "es daher hoffnungslos ist, die Schranken der Gruadrechte allein befriedigend aus dem Wortlaut des Grundgesetzes selbst zu ermitteln,,98. Gleichwohl darf der Wortlaut der Verfassung nicht ganz aus dem Blickfeld verschwinden99 . Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Grundrechten mit und ohne 93 So bereits Anschütz, WRV Art. l36 Anm. 1 (S. 623), wenn er betont, daß die Religionsfreiheit nach Art. l35 Satz 3 WRV und Art. l36 Abs. 1 WRV beschränkt werde "nicht umgekehrt"; so auch ders. zur Vorläufervorschrift des Art. l36 Abs. 1 WRV in Art. 12 Satz 3 Preuß. Verfassung v. 31. 1. 1850 (zu ihr bereits oben Fn. 42), in: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat v. 31. 1. 1850, S. 230. Auf den Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 GG verweist auch Kiesel, NVwZ 1992, 1129, dessen Überlegungen aber nicht zu überzeugen vermögen, soweit er den Begriff der "Schranke" hervorhebt. 94 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 284f.; vgl. auch Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 427, der betont, daß der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze "selbst Ausdruck einer bestimmten Rechtsgüterabwägung ist". 95 Hamann/Lenz, GG Art. 5 Anm. 9 (S. 195f.); zustimmend Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280; zu diesem "scheinbaren Zirkelschluß" auch Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 73f. 96 V gl. nur Stern, Staatsrecht III 12, S. 692 f. mit umfangr. Nachw. 97 Zu Recht qualifiziert Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 444, die "Wechselwirkungstheorie" der Sache nach als Schranke-Schranke. 98 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 3; zustimmend etwa Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 78.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Gesetzesvorbehalt. Dem liegen durchaus nicht mehr oder weniger willkürliche Einschätzungen des Verfassunggebers oder redaktionelle Zufälligkeiten zugrunde, die es im Wege der Auslegung zu korrigieren gilt. So erkannte man im Parlamentarischen Rat zum Beispiel, daß nicht das Recht zur Versammlung in geschlossenen Räumen, wohl aber die Veranstaltung von Versammlungen unter freiem Himmel gesetzlicher Reglementierung bedarflOo. Das sagt nichts über eine höhere verfassungsrechtliche Wertigkeit des vorbehaltlos gewährleisteten Rechts 101. Der Grund für den Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG liegt nicht im höheren Rang der Freiheit der Versammlung in geschlossenen Räumen, sondern in deren geringerer Gefährlichkeit 102. Das Vorhandensein eines Gesetzesvorbehaltes zeigt allein, daß das Grundrecht - aus welchen verfassungspolitischen Gründen auch immer - ein-' fachrechtlich begrenzt werden kann. Demgegenüber dürfen Grundrechte ohne Vorbehalt weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch allgemeine Klauseln relativiert werden. "Ihre Grenzen sind nur von der Verfassung zu bestimmen, d. h. durch Auslegung der Grundrechtsvorschrift selbst und durch Auslegung eventueller entgegenstehender Bestimmungen der Verfassung.'''03 Aber auch die Unterschiede der im Grundgesetz vorgesehenen Möglichkeiten zur Grundrechtsbegrenzung lO4 dürfen nicht außer acht gelassen werden. Sie haben eine je verschiedene verfassungsrechtliche Qualität 105 • Mit der "Wechselwirkungstheorie" als für alle 106 Grundrechte maßgeblichem Interpretationsprinzip werden diese Unterschiede ebenso verwischt wie mit jeder anderen Form der Güterabwägung 107 . Nicht nur der Unterschied zwischen Grundrechten mit und ohne Gesetzesvorbehalt, sondern auch alle Besonderheiten qualifi99 Dafür plädiert trotz seines Wortes vom "Schrankenwirrwarr" (Fn. 98) auch Bettermann, Hypotrophie der Grundrechte, S. 7f. (mit Blick auf den "Text des Art. 5"), S. 9 (wo er die Bedeutung grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte betont). 100 Vgl. v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. I (1951), S. 114f. 101 So mit Recht Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 316. Kriele, JA 1984,629 Fn. I, verkennt die Überlegung Hesses, wenn er von der Aussage, daß das Fehlen eines Gesetzesvorbehaltes keine höhere Schutzwürdigkeit des Grundrechts signalisiert, darauf schließt, daß das Vorhandensein eines Gesetzesvorbehaltes verfassungsrechtlich von geringer Bedeutung ist. Hesse bestreitet nicht, daß die Gesetzesvorbehalte "eine Differenzierung in der Intensität des Schutzes der einzelnen Grundrechte" mit sich bringen; er wendet sich allein gegen die These, dies deute eine entsprechend differenzierte Schutzwürdigkeit der Grundrechte an. 102 Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. II, S. 453, 462; eingeschränkte Zustimmung bei Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 438 mit Fn. 118. 103 Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. Ir, S. 453, 461, unter Hinw. auf BVerfGE 28, 243, 259; 30, 173,193. 104 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht III/1, S. 1302, der zwischen Verfassungsvorbehalten, Gesetzesvorbehalten, Regelungsvorbehalten und Ausgestaltungsvorbehalten differenziert. 105 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 372; Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 424ff. 106 Oben S. 201 mit Fn. 36f.; S. 236 mit Fn. 91. 107 Vgl. bereits oben S. 201.
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zierter Vorbehalte werden "weginterpretiert,,108. Bei Art. 5 Abs. 1 und 2 GG etwa geht eine spezifisch eigenständige Funktion des Vorbehalts der "allgemeinen Gesetze" als Schranke gerade der Meinungsfreiheit verloren 109. Der jeweilige Gesetzesvorbehalt wird zugunsten einer Abwägung des Grundrechts mit gegenläufigen Belangen ausgeblendet, ohne daß für diese "Schaukelei"l1o bislang irgendwelche Kriterien gefunden worden wären oder - wie angesichts der Einze1fallorientierung des Bundesverfassungsgerichts vermutet werden muß - gefunden werden könnten 111. Dadurch werden die Gesetzesvorbehalte zu deklaratorischen Klauseln im Verfassungstext. Die Grundrechtsschranken liefern den jeweils zuständigen Stellen Vorgaben bei der Durchsetzung von Gemeinwohlbe1angen 112 zu Lasten der grundrechtlichen Freiheit l13 . Das Gemeinwohl ist, wie ausgeführt 114 , keine feste Größe. Die Belange des Gemeinwohls sind nicht ein für allemal festgelegt. Das Gemeinwohl muß vielmehr immer wieder neu gefunden werden. Diese Situationsbezogenheit führt dazu, daß verschiedene Stellen das Gemeinwohl unterschiedlich bestimmen können. Damit gewinnt die Frage, wer zur Entscheidung berufen ist, entscheidend an Bedeutung 115. Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte deuten darauf hin, daß nach dem Willen der Verfassung im Bereich der Grundrechte vor allem der Gesetzgeber berufen ist, Gemeinwohlbelange wahrzunehmen. Mit seiner (für manche Grundrechte mit dem Stichwort der Wechse1wirkungstheorie verbundenen) einze1fallorientierten Abwägungsjudikatur unterwandert das Bundesverfassungsgericht jedoch das einfache Gesetzesrecht 116, welches durch die grundrechtlichen GesetSchmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280; ders., JZ 1983,95,98, für die "Spezialdes Art. 5 Abs. 3 GG; ders., AöR 113 (1988), S. 52, 93; allgemein: Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 417 ff., insbesondere in Auseinandersetzung mit Schlink und Schwabe. 109 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280 f. 110 Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 8; Tettinger, JZ 1983, 317, 318; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280 ("Schaukeltheorie"); auch Ossenbühl, JZ 1995, 633, 640; Schnur, VVDStRL 22 (1965), S. 101, 122 Fn. 52; Ridder, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 171, 174 ("merkwürdige Schaukel"). III Zur günstigeren Perspektive bei einer rein abstrakten Abwägung unten 3. 112 Zum Gemeinwohl oben 3. Kap. 113 Zur Funktion der Grundrechtsschranken, Gemeinwohlgüter zu schützen, Starck, NJW 1980, 1359, 1362, mit Blick auf die Rundfunkfreiheit; verallgemeinernd ders., JuS 1981,237, 238; insbesondere mit Blick auf die Religionsfreiheit und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV: Vater, Die Schranken der Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Bonner Grundgesetzes und Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 51; Sachs, in: Stern, Staatsrecht IIII2, S. 302, 343 ff. mit umfangr. Nachw. 114 Oben S. 30 mit Fn. 31. 115 Dazu auch Ossenbühl, DVBI. 1995,904, 909ff. 116 Vgl. Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2107, unter Hinweis auf die Rspr. zum Versammlungsrecht; ähnlich jetzt wieder ders., DVBI. 1995, 904, 910. Vgl. auch Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), S. 52, 93, der mit Recht darauf hinweist, daß durch einfache Gesetze wahrgenommene Belange, die nicht zugleich verfassungsrechtlich anerkannt sind, in der vom BVerfG vorgenommenen Abwägung regelmäßig zurücktreten. 108
vorbehalte~'
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3. Teil: Inhalt unp Grenzen religiöser Freiheitsrechte
zesvorhalte verfassungsrechtlich legitimiert ist. Darüber hinaus ,,korrigiert" das Bundesverfassungsgericht den Text der Verfassung ll7 und ihre Entscheidung für eine grundsätzliche Präferenz des Gesetzgebers, indem es an die Stelle der "weginterpretierten" 118 Gesetzesvorbehalte richterlich entstandene Generalklauseln 119 setzt. Diese ermächtigen zu einer Abwägung der in Rede stehenden Interessen (des grundrechtlich geschützten und des gegenläufigen) durch das (Bundesverfassungs-) Gericht und übertragen ihm die Aufgabe festzustellen, welches Interesse 120 Vorrang hat. Dabei wird das Wort "Vorrang" zu einem "unbestimmten Rechtsprechungsbegriff,121, dessen richtige Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz 122 überprüft wird. Aus dem Gesetzesvorbehalt ist ein "Urteilsvorbehalt,,123 geworden. Daß dies eine die Rechtssicherheit vernachlässigende, primär kasuistische Entscheidungsfindung zur Folge hat, wurde bereits als eine notwendige Begleiterscheinung jeder am Einzelfall orientierten Interessenabwägung herausgestellt 124. Darüber hinaus ist zu beachten: Da das Konzept der einzelfallbezogenen Wechselwirkung kaum eingrenzende Funktionen entfaltet, läßt es dem Bundesverfassungsgericht "nahezu völlige Freiheit in der Begründung des gewünschten Ergebnisses,,125. Vor diesem Hintergrund muß es um so bedenklicher erscheinen, daß mit der Umfunktionierung des Gesetzes- in einen "Urteilsvorbehalt,d26 eine beträchtliche Kompetenzverschiebung vom Gesetzgeber auf die Gerichte einhergeht 127 . Die 117 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280; vgl. auch Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 444, der im Zusammenhang mit der Wechselwirkungstheorie des BVerfG von einern ,,'paralegalen' Verfahren" spricht (vgl. auch ebd. S. 445). Rüthers, in: F.A.Z. Nr. 132 v. 9.6. 1995, S. 10, bezeichnet das BVerfG als "ständigen Ausschuß zur Fortbildung der Verfassung" und fragt dann kritisch: "auch zu ihrer Änderung?" Vgl. auch dens., ,Jnstitutionelles Rechtsdenken" im Wandel der Verfassungsepochen, S. 52 ff. 118 Oben Fn. 108. 119 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 281. 120 Zum Unterschied von Interessen- und Güterabwägung Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 281 f. 121 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 281. 122 Zu dem Vorwurf, das BVerfG werde durch die Wechselwirkungstheorie entgegen eigenen Beteuerungen doch zur "Superrevisionsinstanz" unten S. 243 mit Fn. 151. 123 Ausdruck von Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 150; ders., DVBI. 1958,524, 526 Fn. 28; ders., in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V § 122 Rn. 21; mit Bezug zur Wechselwirkungstheorie zustimmend: H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 281 mit Fn. 219. 124 Oben S. 198 f. mit Fn. 17 ff. Vgl. ferner Lorenz, JuS 1993,375,377, der in krit. Auseinandersetzung mit BVerfG NVwZ 1992,53 dem Gericht einen Zirkelschluß vorwirft, "der mit einer unerträglichen Einbuße an Rechtssicherheit verbunden ist". 125 Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 539. 126 Fn.123. 127 Vgl. Kiesel, NVwZ 1992, 1129, 1130ff. mit Blick auf das BVerfG; dazu auch Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 445, der die vorn BVerfG geprüfte "Kompetenzabgrenzungsfor-
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,,individualisierende Güterabwägung,,128 des Bundesverfassungsgerichts führt dazu, daß die Macht des Richters, die Schranken des Grundrechts zu bestimmen, auf Kosten derjenigen des Gesetzgebers ausgedehnt wird 129. Das Bundesverfassungsgericht verengt das Blickfeld auf den Einzelfall, trifft aber Entscheidungen, die in ihrer Wirkung denjenigen des parlamentarischen Gesetzgebers nahekommen (§ 31 BVerfGG). Dabei hat es sich mit seiner "Wechselwirkung" von grundrechtlicher Freiheit und einschränkendem Gesetz in einen ,,heillosen Widerspruch,,130 verstrickt. Einerseits weigert es sich, über die Schranken des Grundrechts den Gesetzgeber und damit letztlich den einfachen Richter entscheiden zu lassen, während "es andererseits ... auf dem Umweg über die Ausdeutung des konkreten zur Entscheidung stehenden Falles dem Richter eine Macht einräumt, die er bei der bloßen Gesetzesauslegung nie und nimmer hätte"l3l. Insgesamt zeigt sich, daß die Bestimmung der Grundrechtsschranken anband einer Interessenabwägung im Einzelfall aufgegeben werden sollte. Entgegen einer in der Literatur häufig vertretenen Ansicht 132 sollte die Wechselwirkungstheorie des Bundesverfassungsgerichts nicht herangezogen werden 133 , um die Schranken der religiösen Freiheitsrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bestimmen zu können.
3. Typisierende Güterabwägung statt Kasuistik Bei aller Kritik darf freilich nicht außer acht gelassen werden, daß die "Wechselwirkungstheorie" des Bundesverfassungsgerichts im Kern ein berechtigtes Anliegen verfolgt 134. Das Bundesverfassungsgericht möchte der Gefahr begegnen, daß verfassungsrechtliche Gewährleistungen dem freien politischen Gestaltungsspielmel einer ,Verletzung spezifischen VeIfassungsrechts'" bei Zugrundelegung der Wechselwirkungstheorie in der Gefahr sieht, ,,zu einer bloßen LeeIformei zu werden"; vgl. dazu auch Ossenbühl, DVBI. 1995,904,908,911, pass. 128 Scheuner, VVDStRL 22 (1965), S. 1,82; aufgegriffen auch von H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154. 129 H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154, mit Blick auf die Rspr. des BVeIfG zur Meinungsfreiheit; vgl. auch den Befund von Kästner, ZevKR 37 (1992), S. 127, 147f., allerdings mit anderer Bewertung. 130 Herzog, in: Maunz I Dürig, GG Art. 5 Abs. I, 11 Rn. 260. 131 Henog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 5 Abs. I, 11 Rn. 260; zustimmend H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 154. 132 Oben Fn. 90 f. 133 Für eine Verabschiedung der Wechselwirkungstheorie auch Stern, FS Hübner, S. 815, 822; kritisch auch: Bettermann, JZ 1964, 601,602; ders., Hypertrophie der Grundrechte, 8, 12; Schnur, VVDStRL 22 (1965), S. 101, 122 Fn. 52; Papier, Festg. BVeIfG, Bd. I, S. 432, 443 ff.; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 280 ff.; ders., JZ 1983, 95, 97 ff.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2107; ders., Der Staat 1971, S. 53, 72 ff.; Isensee, AlP 1993, 619, 626: ,,Diffusionsformel von der Wechselwirkung"; Kiesel, NVwZ 1992, 1129f.; Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 539ff. m.w.N. 134 Vgl. H.H. Klein, Der Staat 1971, S. 145, 152; Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,98.
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raum des Gesetzgebers überantwortet werden l35 . Sein Ziel besteht darin, jede ,,Beschränkungsautomatik" zu vermeiden I36 , zu der es - wie seinerzeit unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung I37 - kommt, wenn der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze formal interpretiert wird und zugleich für Grundrechtseingriffe des Gesetzgebers Schranken-Schranken wie die Wesensgehaltsgarantie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht bestehen 138. Gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bietet heute, unter der Geltung des Grundgesetzes, den Ansatz zu einer angemessenen Lösung des "Dilemmas von Grundrechtsbindung und Gesetzesvorbehalten"I39. Er ist der verfassungsrechtliche Maßstab für die Suche nach einem schonendsten Ausgleich l4o, nach "praktischer Konkordanz,,141 der betroffenen Güter 142. Mit dieser Schranken-Schranke l43 können übermäßige Grundrechtsbeschränkungen abgewehrt und die Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG aktualisiert werden 144. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit benötigt keine Ergänzung oder Präzisierung 145 durch ein weiteres die Tatigkeit des Gesetzgebers begrenzendes Prinzip nach dem Muster der "Wechselwirkungstheorie". Deren Mängel können bei einer Arbeit mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip weitgehend vermieden werden, wenn im Rahmen der Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit i.e.S.)146 eine abstrakte Güterabwägung vorgenommen 135 BVerfGE 7, 198, 208f.; vgl. auch Hartmut Krüger WissR 1986, 1,4; Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 109. 136 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 276, 283; ders., JZ 1983, 95, 98; ders., AöR 113 (1988), S. 52, 91. 137 Vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 5 Abs. I, II Rn. 251. 138 Zu dieser Lehre unter der Geltung der WRV Gusy, Weimar - die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, S. 45 m.w.N. in Fn. 172. Zum Übermaßverbotl Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke vgl. nur Pieroth / Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 299 ff. 139 v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 1 Abs. 3 Rn. 178. 140 Dazu bereits oben S. 17 mit Fn. 81; S. 63 mit Fn. 16. 141 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72, 317ff. 142 Vgl. nur Stern, FS Hübner, S. 812, 827 f. mit umfangr. Nachw. 143 Zur Qualifikation des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranken-Schranke vgl. bereits oben Fn. 138. 144 Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 1 Abs. 3 Rn. 178. 145 Zum - nicht ganz eindeutigen - Verhältnis von Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wechselwirkungstheorie in der Rspr. des BVerfG Stern, Staatsrecht lli / 2, S. 2799 f. 146 Näher zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere zu den einzelnen Prüfungsstufen Stern, Staatsrecht lli/2, S. 762ff., 775ff.; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 48ff.; ders., EuGRZ 1984,457, 459ff.; Kirchhof, FS Lerche, S. 133; Ossenbühl, FS Lerche, S. 151 ff.; Bleckmann, JuS 1994, 177; H. Schneider, Festg. BVerfG, Bd. II, S. 390; Schnapp, JuS 1983,850,852; Jakobs, DVBl. 1985,97, 99f.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 43ff.; Wendt, AöR 104 (1979), S. 414ff.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 7 ff.; Muckei, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. l06f., jeweils m.w.N.
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wird, nicht dagegen eine konkret-individuelle Interessenabwägung l47 . Auswirkungen hat die Beschränkung auf eine "abstrakt-generelle Rechtsgüterabwägung,,148 zunächst bei der Nachprüfung richterlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht. Auf diesem Gebiet hat das Bundesverfassungsgericht ungeachtet aller Beteuerungen, es sei keine "Superrevisionsinstanz,,149 und prüfe nur die Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts,,150, häufig die Einhaltung einfachen Rechts im Auge. In manchen Bereichen, etwa bei Mieterschutzklagen und Eigenbedarfsklagen der Vermieter sowie bei der Bewertung ehrkränkender Äußerungen, hat das Bundesverfassungsgericht sich gar, wie Sendler formuliert, zum "obersten Amtsgericht,,151 erhoben. Zwar mag das Wort von der "unglückseligen Ideologie der Einzelfallgerechtigkeit" 152 allzu wenig Verständnis für die Situation des Richters signalisieren, der stets mit einem konkreten Streitfall konfrontiert ist l53 . Doch sind die Rufe nach einem ,judicial self-restraint"154 des Bundesverfassungsgerichts im Ansatz berechtigt. Die oben formulierten Bedenken gegen die sog. Wechse1wirkungstheorie belegen das. 147 Vgl. Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 76f., 80, der neuerdings (DVBl. 1995, 904, 907) eine zur Konfliktlösung führende Abwägung als "stets einzelfallbezogen" bezeichnet, dabei allerdings, S. 909 f., betont, daß das BVerfG die "Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers" zu respektieren habe; Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 8; Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 541 f.; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 274ff.; Lerche, FS Mahrenholz, S. 515, 524f.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 5 Abs. I, 11 Rn. 260; ihm zustimmend Sendler, ZRP 1994, 343, 346 Fn. 31. Auch Ladeur, AfP 1993,531,536, bemängelt an der Rspr. des BVerfG, daß sie in der Begründung "zu sehr in situativen Abwägungen befangen" ist. Mit Blick auf Grundrechtskollisionen im Bereich des Privatrechts auch Canaris, JuS 1989, 161, 164. 148 Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80. 149 BVerfGE 7, 198,207; ähnlich: BVerfGE 18,85,92. 150 Z.B.: BVerfGE 18, 85, 92 f.; 76, 143, 161; w. Nachw. zu beiden Formulierungen Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 274ff.; Steinwedel, "Spezifisches Verfassungsrecht" und "einfaches Recht", 1976, pass.; insbesondere zur Formel vom "spezifischen Verfassungsrecht" auch Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 26ff.; v. Danwitz, JZ 1996, 481, 488, mit berechtigter Kritik an der jüngeren Entscheidungspraxis des BVerfG. 151 Sendler, ZRP 1994, 343, 346. Vgl. auch die Einschätzung Bettermanns, Hypertrophie der Grundrechte, S. 8, das BVerfG steige oft stärker in den Einzelfall ein, als dem Revisionsrichter gestattet sei. So auch Isensee, AfP 1993,619,629, der konstatiert, das BVerfG sei im Konfliktfeld von Kunst- und Persönlichkeitsschutz nicht mehr "Superrevisionsinstanz", sondern inzwischen sogar "Superberufungsinstanz"; ähnlich Ossenbühl, JZ 1995, 633, 640: "Supertatsacheninstanz"; so auch ders., DVBI. 1995, 904, 911. Zu den Problemen einer Tatsachenfeststellung durch das BVerfG vgl. auch v. Danwitz, JZ 1996,481,488. 152 Ramm, NJW 1989, 1594, 1596; zustimmend Sendler, ZRP 1994, 343, 346; ders., DVBl. 1994, 1089, 1100. 153 Zur Notwendigkeit, dieses Verständnis aufzubringen, Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 76 Fn. 93; F. Czermak, BRAK-Mitt. 2/1995, S. 56, 57. 154 Dazu Schenke, NJW 1979,1321, 1324ff.; Kriele, NJW 1977,777; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 396ff.; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 99; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1706; v. Danwitz, JZ 1996,481 ff.,jeweils mit umfangr. Nachw.
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Diese Bedenken bestehen aber nicht nur, soweit das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung berufen ist, sondern auch gegen die ihm folgende Rechtsprechung der Fachgerichte l55 , insbesondere der Verwaltungsgerichte. Auch sie sollten bei der Prüfung, ob ein einfaches Gesetz Grundrechte übermäßig einschränkt, eine abstrakt-generelle Abwägung vornehmen. Es geht nicht primär um die Frage, ob ein bestimmtes (Rechtsprechungs-) Organ, etwa das Bundesverfassungsgericht, seine Kompetenzen überschreitet l56 , sondern um die Frage, wie die Schranken einzelner Grundrechte zu bestimmen sind. Damit steht zugleich fest, daß eine Lösung des Problems nicht in allgemein gehaltenen Betrachtungen zum Verhältnis ,,Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht"157 mithin in Überlegungen zu funktionell-rechtlichen Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit l58 gefunden werden kann, sondern in einer Beantwortung der genuin materiell-rechtlichen Frage nach einer angemessenen Zuordnung von grundrechtlicher Freiheit und einschränkendem Gesetz l59 . Zwar hat auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Rechtsprechung vielfach Anlaß geboten, eine einzelfallorientierte Prüfung vorzunehmen l60. Eine solche Judikatur zeigt nur, daß inzwischen das Gespür für eine "Begrenzung des Übermaßverbots,,161, die Peter Lerche noch im Jahre 1961 als "zentrale Frage" bezeichnete l62, verlorengegangen zu sein scheint l63 .
155 Zur Rspr. der Fachgerichte zu den Schranken der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG oben S. 17 ff. mit Fn. 75 ff. 156 Anders Ossenbühl, DVBI. 1995,904, 909ff., wo er das Problem auf die Kompetenzfrage verengt. 157 So der Titel der grundlegenden Untersuchung von Gusy, 1985. 158 Für sie plädieren etwa Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 56f., pass.; Hesse, FS H. Huber, S. 261 ff., der, S. 266, mit Blick auf die Grundrechte zu ähnlichen Überlegungen gelangt wie Schuppert; skeptisch dagegen Stern, Staatsrecht III/2, S. 1706; ferner, insbesondere mit Blick auf das Problem der Abwägung, Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 63 ff., der, S. 83, der Formel von den funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit "nur eine beschränkte dogmatische Leistungsflihigkeit" attestiert. Prägnante Umschreibung funktionellrechtlicher Überlegungen im allgemeinen bei Ossenbühl, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR III § 62 Rn. 48, und v. Danwitz, JZ 1996, 481, 488 f. Weitere Nachw. zur Diskussion um funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bei Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472 mit Fn. 24. 159 Für eine ,,Neuorientierung in materiell-rechtlicher Hinsicht" auch Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 453 f. Demgegenüber sieht Schuppert, AöR 103 (1978), S. 42, 62, den Grund für "eine eingeschränkte Nachprüfung fachgerichtlicher Abwägungsergebnisse" in prozessualen Gegebenheiten, letztlich "in der funktionalen Zuordnung von BVerfG und anderen Gerichten". 160 Vgl. Ossenbühl, DVBI. 1995, 904, 905 ff. Zur Rspr. des BVerfG vgl. insoweit Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, S. 3lf., 43 ff. 161 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 250, vgl. auch S. 351. 162 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 250.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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Diese Begrenzung kann nicht durch Radikallösungen wie einem Verzicht auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) und einer Beschränkung der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit des einschränkenden Gesetzes 164 erfolgen. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne mag letztlich nur durch "die Subjektivität des Prüfenden zur Geltung kommen,,165. Sie bleibt dennoch unverzichtbar, da der Verfassung ein "abwägungsfreier, 'absoluter' Grundrechtsschutz,,166 nicht entnommen werden kann 167. Ungeachtet aller Vorbehalte, die mit Recht gegen einen vorschnellen Zugriff auf eine Abwägung geltend gemacht werden l68 , führt doch kein Weg an der Einsicht vorbei, daß ein völliger Verzicht auf Abwägungen den im Grundgesetz angelegten Konfliktlagen nicht gerecht wird 169. Eine sachang~messene Begrenzung findet die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips darin, daß die positiv-rechtlichen Grundlagen der jeweils zu überprüfenden Maßnahme in den Blick genommen werden. Dabei zeigt sich, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Verwaltung eine geschriebene oder ungeschriebene, aber in jedem Falle aus dem einfachen Recht folgende Entscheidungsmaxime ist, eine "gesetzliche Ermessensgrenze,,170. Überschreitet die Verwaltung diese Grenze, handelt sie "gesetzwidrig, nicht direkt verfassungswidrig,,171. So verstößt eine unverhältnismäßige Polizeiverfügung gegen die Vorschrift des betreffenden Polizeigesetzes, die die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit fordert (z. B. § 2 PolG NW), d. h. gegen einfaches Recht, nicht unmittelbar gegen die Verfassung 172. Als originärer Verfassungssatz bindet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur den Gesetzgeber. Dieser hat nicht eine sachgerechte Abwägung im Einzelfall im Auge - dies verbietet ihm schon Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Gesetzgeber kann vielmehr nur "eine generelle, auf eine typisierende Betrachtung abstellende Verhältnismäßigkeit" 173 herstellen. 163 Ein Hinweis aus jüngerer Zeit auf die Überlegungen Lerches aber bei Stern, FS Lerche, S. 165, 175. 164 Für eine solche nur zweistufige Prüfung plädiert Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 79, pass.; ders., EuGRZ 1984,457, 460ff., insbesondere S. 461 f.; siehe auch Pierothl Schlink, Grundrechte Staatsrecht 11, Rn. 310 ff. 165 Schlink, EuGRZ 1984,457,462. 166 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 14. 167 Gegen den Subjektivitätsvorwurf wendet Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 326, mit Recht ein, daß die subjektive Sicht mit der Entscheidungsfindung notwendig verbunden ist. Vgl. auch F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, S. 76. 168 V gl. oben S. 198 f. mit Fn. 17 ff. 169 So bereits oben S. 199. Im Ergebnis auch Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 14 ff., unter Hinweis auf Alexys Regel! Prinzipien-Modell. 170 Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 454. 171 Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 454. 172 Beispiel von Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 454. 173 Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 454.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß aus dieser Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Verwaltung noch nicht eine jeweils unterschiedliche Prüfungsbefugnis der Gerichte folgt l74 . Der Schluß von den Entscheidungsgrundlagen der überprüften Stelle auf die der überprüfenden Instanz zukommende "Kontrolldichte,,175 ist in der Tat "nicht zwingend,,176. Die Forderung nach einer "abstraktgenerellen Rechtsgüterabwägung,,177 bei der Bestimmung der Grundrechtsschranken wird denn auch zu Recht nicht aus einer bestimmten verfassungsrechtlichen Vorgabe abgeleitet. Sie wird vielmehr erhoben, um dem Bundesverfassungsgericht und den ihm folgenden anderen Rechtsanwendern einen Weg zu zeigen, mit dem die aus vielen Gründen 178 unhaltbare einzelfallorientierte Schrankenbestimmung korrigiert werden kann. Das Ergebnis einer eindeutigen verfassungsrechtlichen Dezision ist sie nicht. Die Forderung nach einer abstrakten Güterabwägung setzt bei der gegenwärtigen Kasuistik des Bundesverfassungsgerichts - und ihm folgend der Fachgerichte - an. Die "Abkehr von der rein einze1fallbezogenen Interessenabwägung" soll durch eine "Verfestigung der Kasuistik,,179 zu Falltypen erreicht werden 180. Die abstrakt-generelle Rechtsgüterabwägung füllt eine "Mittelzone zwischen abstrakter Sinndeutung der Grundrechte und Abwägung im konkret-individuellen Einzelfall,,181 aus. Sie orientiert sich an "abstrakt formulierten, falltypischen Entscheidungsmustern,,182. Dies verlangt einen verstärkten Blick auf Präjudizien 183 und die Bereitschaft des (Verfassungs-) Richters, die allgemeingültigen Inhalte früherer Entscheidungen auch in Zukunft zu beachten. Das freilich setzt voraus, daß überhaupt allgemeingültige Maßstäbe entwickelt werden. Die vom Bundesverfassungsgericht wie auch den einfachen Gerichten geübte "Verfassungsrechtsprechung ist nicht nur Subsumtion des Einzelfalls unter das Grundgesetz, .sondern zugleich 174 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 235 f.; kritisch gegenüber der im Text in Anlehnung an Papier, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 432, 453 f., vorgetragenen Unterscheidung auch Schuppert, AöR 103 (1978), S. 43, 54f. 175 Zu diesem Begriff Muckei, WissR 1994, 107 f. und die dortigen Nachw. 176 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 235. Zu der damit anklingenden Unterscheidung von Maßstabsnorm und Kontrollnorm statt vieler Papier, FS Ule, S. 235, 237, 245 ff.; v. Mutius, FS Menger, S. 575, 582 ff. 177 Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80; vgl. Lü. bereits die Nachw. oben Fn. 147. 178 Dazu oben S. 198f.; S. 238ff. 179 Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 541. 180 Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80. Allgemein zur Bedeutung von Falltypen für die Verfassungsinterpretation F. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 160f., 171, 189, pass.; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 80; ders., Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 40f.; ders., Strukturierende Rechtslehre, S. 381. 181 Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80. 182 Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80. 183 Grundlegend dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 164, 243ff., 326f. pass.; ders., NJW 1976, 777, 778 f.; vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 334 ff., 429 f.
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auch, bei Gelegenheit der Entscheidung des Einzelfalls, Präzisierung dessen, was allgemein als Verfassungsrecht gilt. Ein Gericht, das die präjudizielle Wirkung seiner Entscheidung bedenken muß, wird dadurch gezwungen, seinen Blick von adhoc-Erwägungen des Einzelfalls weg auf die Entscheidungsmaxime zu lenken, von der es wollen kann, daß sie zur allgemeinen Maxime werde. ,,184 . Im dogmatischen Ansatz unterscheidet sich die abstrakt-generelle Abwägung mit Hilfe von Fallgruppen nicht wesentlich von der einzelfallbezogenen Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts. Die abstrakte Güterabwägung bedarf in der Prüfung, ob das Grundrecht verletzt ist, keines eigenen Ansatzpunktes, wie ihn die individualisierende Interessenabwägung mit der "Wechselwirkungstheorie" vorfindet. Die abstrahierende Abwägung der gegenläufigen Belange erfolgt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Sie fragt danach, ob das einschränkende Gesetz die grundrechtliche Freiheit übermäßig weit zurückdrängt, und beantwortet diese Frage durch eine wertende Gegenüberstellung auf abstrakter Ebene. Der Unterschied zu der einzelfallbezogenen Sichtweise, die gegenwärtig mit dem Begriff "Wechselwirkungstheorie" verbunden ist, besteht lediglich darin, daß andere, über den konkreten Einzelfall hinausweisende Abwägungsbelange in die Prüfung eingestellt werden. Die Abwägung soll nicht von anderen Instanzen als den bisher mit ihr befaßten vorgenommen werden. Auch zeitigt sie keine grundlegend andere Rechtsfolgen: entweder das fragliche Gesetz erweist sich als verfassungsgemäß, oder es greift zu weit in die grundrechtliehe Freiheit ein und ist verfassungswidrig. Sofern ein Fachgericht dies erkennt, holt es gern. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein. Das Bundesverfassungsgericht kann wie bisher ein die grundrechtliche Freiheit übermäßig einschränkendes Gesetz für nichtig erklären oder seine Unvereinbarkeit mit der Verfassung feststellen und zugleich anordnen, daß das Gesetz auf bestimmte Fallgruppen nicht angewendet werden darf185 •
Ansätze für eine Orientierung an abstrakt-generellen Abwägungsleitlinien sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits erkennbar. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa im Konfliktfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz nach und nach Fallgruppen gebildet, die - ungeachtet ihrer der Sache nach kritikwürdigen Vereinseitigungstendenz zugunsten der Meinungsfreiheit 186 der fachgerichtlichen Rechtsprechung Anhaltspunkte für die Entscheidung konkreter Einzelfälle bieten 187 . Auch hat das Gericht etwa im Bereich der VersarnmlungsKriele, NJW 1976,777, 778f. Die Nichtanwendung eines Gesetzes ordnete das BVerfG etwa im Streit um das nordrhein-westfälische Krankenhausgesetz an (BVerfGE 53, 366, 367 f.), wobei allerdings nicht Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV Prüfungsmaßstab war. 186 Zur Kritik der Rspr. des BVerfG vgl. bereits die Nachw. oben S. 33 f. mit Fn. 51 ff. 187 Vgl. Grimm, NJW 1995,1697, 1702ff., 1704f. mit schematischer Darstellung der Fallgruppen; ferner die Einschätzung von Oeter, AöR 119 (1994), S. 529, 542; anders Sendler, ZRP 1994, 343, 346f., der dem BVerfG vorwirft, im Konflikt von Meinungs- bzw. Kunstfrei184 185
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
freiheit nach Art. 8 GG ausgehend von der Notwendigkeit einer Abwägung 188 eine "Stufentheorie,,189 für den behördlichen Umgang mit Großdemonstrationen entwickelt 19o. Ein weiteres Beispiel bietet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen. Trotz aller berechtigten Kritik, die gegen diese Judikatur vorgebracht worden ist 191 , muß dem Bundesverfassungsgericht konzediert werden, daß es sich schon früh um die Bildung von Fallgruppen, insbesondere zur Beurteilung der Zulässigkeit einer "echten Rückwirkung"l92, bemüht hat 193 . Schließlich kann auf die - gleichfalls auf der Grundlage einer Abwägung ergehenden 194 - sog. Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verwiesen werden. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht sich deutlich um die Ausprägung unterschiedlicher Fallgruppen bemüht 195 . Ein erster Schritt zu einer abstrakten Ermittlung von Grundrechtsschranken wäre getan, wenn die Gerichte, allen voran das Bundesverfassungsgericht, sich um verallgemeinerungsfähige Ergebnisse 196 bemühten. Die "Probe auf die Verallgemeiheit und Ehrenschutz die Kasuistik auf die Spitze getrieben zu haben; dazu bereits oben S. 198 f. Fn. 17. Vorschläge für eine (geänderte) Typisierung von Ehrenschutzfällen bei Tettinger, Die Ehre - ein ungeschütztes Verfassungsgut? S. 37 f. Als Abkehr von der kasuistischen Entscheidungsfindung im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz kann möglicherweise BVerfG NJW 1996, 1529 gedeutet werden (dazu die Analyse von Seitz, Die DGHS-Entscheidung des BVerfG - ein Lichtblick? NJW 1996, 1518); insoweit muß die weitere Rspr. des BVerfG abgewartet werden. 188 BVerfGE 69, 315, 348 f. 189 Langer, JA 1986,46,47. 190 BVerfGE 69,315,316 (Leitsätze 3 und 4), 349ff.; zur gleichwohl berechtigten Kritik an z.T. zu sehr ins einzelne gehenden Vorgaben des BVerfG vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 8 Rn. 20 (S. 548) m.w.N. 191 Dazu Muckei, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 70ff., 73 ff.; ders., JA 1994, 13, 14, jeweils m.w.N. 192 Besonders deutlich BVerfGE 13,261,271 f. 193 Dieses Bemühen dürfte auch der vom Zweiten Senat seit der Entscheidung BVerfGE 72, 200 vertretenen Unterscheidung von "Rückbewirkung von Rechtsfolgen" und "tatbestandliche Rückanknüpfung" zugrunde liegen; zu dieser Variante der Rückwirkungsjudikatur des BVerfG näher Muckei, JA 1994, 13 f. und die dortigen Nachw. 194 Deutlich BVerfGE 85, 386, 401, mit Blick auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für sog. Fangschaltungen: ,,Abwägung zwischen dem verfassungsrechtlichen Mangel, der in dem Fehlen einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage besteht, und dem verfassungsrechtlichen Defizit, das im Fehlen des Persönlichkeits- und Gesundheitsschutzes gegenüber anonymen Anrufen liegt". Zur Notwendigkeit einer Abwägung bei einem grundrechtlich begründeten Regelungsbedarf auch Lorenz, AöR 105 (1980), S. 623, 642 f. 195 Im einzelnen dazu Pestalozza, Festg. BVerfG, Bd. I, S. 519, 540ff.; ders., Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 128 ff.; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 397 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 205 ff.; Rupp-v. Brünneck, FS Gebhard Müller, S. 355 ff., 366ff.; Schulte, DVBI. 1988, 1200, 1201 f., jeweils m.w.N. 196 Sie werden im Konfliktbereich von Meinungs- bzw. Kunstfreiheit einerseits und Ehrenschutz andererseits gefordert von Isensee, AfP 1993, 619, 627 f.; zustimmend: Helle, JZ 1994,416,417; Sendler, ZRP 1994,343,346,349,350.
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nerungsfähigkeit,,197 muß z. B. dazu führen, daß die richtige Bestimmung der Schranken der Meinungsfreiheit unabhängig davon erfolgt, welche Person l98 Gegenstand der Meinungsäußerung war und ob der sich Äußernde eigennützige oder uneigennützige Ziele verfolgte 199. Statt dessen kann berücksichtigt werden, daß unterschiedliche Kommunikationsforen auch je eigenen "Spielregeln" unterliegen2OO. So mag eine Äußerung, die im Rahmen einer Versammlung oder einer Diskussion unter Anwesenden fallt, weniger engen Schranken unterliegen als Erklärungen in ,,institutionalisierten Foren der Öffentlichkeit,,201 wie Presse, Rundfunk, Parteigremien, Parlament etc. Sie sind auf eine größere Beteiligung der Öffentlichkeit angelegt und dürfen deshalb schärferen Anforderungen an die Unterscheidungsfähigkeit ihrer Sprache unterworfen werden202 . Das Beispiel zeigt, daß die Suche nach verallgemeinerungsfähigen Entscheidungen den Rechtsanwender zwangsläufig zu abstrakten Abwägungsgesichtspunkten führt. Die Herausbildung von Fallgruppen mit je typischen Abwägungsgesichtspunkten und Entscheidungsmustern wird niemals zu einem endgültigen Abschluß kommen203 . Ein numerus c1ausus der Argumentationsschemata ist nicht möglich. Stets können neue Konflikte auftreten, auf die die Rechtsanwendung mit der Entwicklung neuer Abwägungsgesichtspunkte oder der Verfeinerung und Abwandlung 204 einer im Grundsatz weiterhin gültigen Lösung reagieren muß 205 . Insgesamt werden bei einer abstrakt-generellen Abwägung die geschilderten 206 Nachteile der herrschenden kasuistischen Methode zur Bestimmung der Grundrechtsschranken vermieden. Die Herausbildung von Fallgruppen ist geeignet, der notwendigen Abwägung von grundrechtlichem Schutzgut und dem mit dem einschränkenden Gesetz verfolgten Anliegen Stringenz und Berechenbarkeit zu verleihen 207 . Der verfassungsrechtliche Standort hierfür ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne). Auf diese Weise wird dem berechtigten Anliegen der Wechselwirkungstheorie des Bundesverfassungsgerichts, das eine automatische Zulässigkeit jedes auf einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt gestützten lsensee, AfP 1993, 619, 627. Vgl. die Beispiele von lsensee, AfP 1993, 619, 627f. 199 Zur Unbeachtlichkeit der Ziele Helle, JZ 1994,416, 417, mit berechtigter Kritik an BGH JZ 1994,413,415 (sub 11.2. b). 200 Ladeur, AfP 1993,531,536. 201 Ladeur, AfP 1993,531,536. 202 Ladeur, AfP 1993, 531, 536. 203 Vgl. Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 80f. m.w.N. 204 Auf diese Möglichkeit weist mit Recht Ossenbühl, Der Staat 1971, S. 53, 77, hin. 205 Auch hier zeigt sich, daß die im Text vorgeschlagene abstrakte Abwägung anhand von Fallgruppen zwischen rein abstrakter Interpretation der Grundrechte und einzelfallorientierten Lösungen steht, vgl. bereits oben mit Fn. 181. 206 Oben S. 198 f.; S. 238 ff. 207 In diese Richtung auch Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 467 f. 197
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Gesetzes vermeiden möchte, in vollem Umfang Rechnung getragen. Zugleich wird die Entbehrlichkeit der "Wechselwirkung" als eigenständige Schranken-Schranke offenkundig.
IV. Einzelne auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs.l WRV gestützte Schranken Der Blick auf die oben dargestellten Konfliktfelder von religiöser Freiheit und einfachem Recht20S zeigt, daß die fraglichen Vorschriften durchweg den Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV in zulässiger Weise ausfüllen. So ergeben sich die beamtenrechtlichen Dienstpflichten aus allgemeinen Gesetzen (vgl. etwa §§ 35 ff. BRRG). Wenn auf sie gestützt einem Lehrer in einer staatlichen Schule verboten wird, eine bestimmte auffällige Kleidung zu tragen 209 , so ist dies ebenso Ausdruck einer nicht zu beanstandenden (abstrakten) Abwägung wie die Entlassung eines Lehrers aus dem Beamtenverhältnis auf Probe wegen religiös motivierter Aktivitäten in einer verfassungsfeindlichen Organisation21O• Das Straßenrecht ist einschließlich der Erlaubnispflicht für Sondernutzungen (vgl. etwa §§ 8 Abs. 1 Satz 2 FStrG, 18 Abs. 1 Satz 2 StrWG NW) ein allgemeines Gesetz21l . Wenn die zuständigen Behörden zu dem Ergebnis kommen, daß das Aufstellen von Informationsständen einer Religionsgemeinschaft212 eine erlaubnispflichtige Sondernutzung darstellt, so ist dies im Grundsatz nicht zu beanstanden. In diesem Bereich können für die abstrakt-generelle Abwägung der Religionsausübungsfreiheit einerseits und der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs andererseits Fallgruppen gebildet werden, an denen sich die Praxis der Behörden und Gerichte fortan orientieren kann. So kann ein Büchertisch, der in geringer Entfernung zu einem Gotteshaus vor und nach den Gottesdiensten aufgestellt werden Oben S. 17 ff. Dazu oben S. 17 mit Fn. 77. Auf das einfache Recht verwies allerdings, soweit ersichtlich, nur OVG Hamburg NVwZ 1986,406 = KirchE 22, 243, 245. Auch dieses Gericht mußte jedoch wie alle anderen (vgl. die Nachw. oben S. 16 mit Fn. 72 f.) sodann dem BVerfG folgend nach einer verfassungsrechtlichen Grundlage der einschränkenden Gesetze suchen. Zu diesem Vorgehen oben S. 17 ff. 210 Vgl. OVG Rh.-Pf. NVwZ 1986,403 = KirchE 23, 279; vgl. auch VG Freiburg NJW 1981,2829 = KirchE 19, 17, betr. die Weigerung, die Belehrung und Erklärung zur Verfassungstreue zu unterschreiben; zur damit zusammenhängenden Eidespflicht als Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes vgl. bereits Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, S. 319, 35l. 2ll Vgl. OVG Hamburg DÖV 1992,37,38 mit Blick auf Art. 5 Abs. 2 GG; insoweit bestätigt durch BVerfG NVwZ 1992, 53, das aber - ausgehend von der Wechselwirkungstheorie und der Notwendigkeit einer einzelfallbezogenen Abwägung - der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des OVG Hamburg als offensichtlich begründet stattgab. Mit Recht kritisch Lorenz, JuS 1993,375,377. 212 Dazu oben S. 18 mit Fn.84ff. 208 209
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soll, anders zu bewerten sein als ein Informationsstand vor einem viel besuchten Kaufhaus an einem Samstagvormittag. Auch das Gewerberecht bietet die Möglichkeit zur Bildung unterschiedlicher Fallgruppen. Die Pflicht zur Anzeige eines Gewerbes 213 richtet sich nicht gegen eine Form der Religionsausübung als solche. § 14 GewO trifft eine religionsneutrale Bestimmung und ist deshalb als allgemeines Gesetz anzusehen, das den Anforderungen des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV genügt. Im Rahmen der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotenen Abwägung stehen sich der von § 14 GewO bezweckte Schutz der Allgemeinheit oder einzelner vor mit bestimmten wirtschaftlichen Betätigungen verbundenen Gefahren214 und das Interesse der Religionsgemeinschaften an einer möglichst unreglementierten Religionsausübung gegenüber. Die Abwägung weist keinen Fehler auf, wenn die rechts anwendenden Organe dem Anliegen des § 14 GewO den Vorrang einräumen. Es bedarf schon deshalb keiner restriktiven Auslegung der Vorschrift zugunsten religiös motivierter Tätigkeit, weil die Religionsgemeinschaften (z. B. 4urch Spenden und Sammlungen215 ) über genügend andere Möglichkeiten verfügen, sich außerhalb des Gewerberechts Einnahmen zu verschaffen. Soweit sie dagegen gewerblich tätig sind, werden sie durch die Anzeigepflicht des § 14 GewO nicht unzumutbar belastet. Auch die Statuierung der Schulpflicht in den Schulgesetzen216 ist Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes gemäß Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV 217 • Die Gesetze bieten, insbesondere wenn sie die Möglichkeit einer partiellen Freistellung vom Unterricht vorsehen 218 , hinreichenden Spielraum zur Bildung unterschiedlicher Fallgruppen 219 • Schließlich ist auch das Tierschutzgesetz mit seinem Verbot, warmblütige Tiere ohne vorherige Betäubung zu töten (§ 4 a Abs. 1 TierSchG) ein allgemeines Gesetz 220 . Zur Rechtfertigung dieses Verbots bedarf es nicht des Nachweises, daß der Dazu oben S. 19 mit Fn. 90f. Zu diesem Zweck des § 14 GewO: BVerwG NVwZ 1995, 473, 474. 215 Die Sammlungsgesetze stellen die Kirchen und Religionsgemeinschaften meist von der Erlaubnispflicht frei, vgl. etwa § 12 SG NW; näher Stolleis, in: Friesenhahnl Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. H, S. 437, 444 ff. 216 Vgl. etwa § 1 SchpflG NW. 217 Dazu bereits Mirbt, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. H, S. 319, 351. 218 Vgl. etwa § 11 Abs. 1 ASchO NW, § 24 Abs. 1 bay. VolksschulO. Keine Möglichkeit der Freistellung sieht z. B. das Schulgesetz Nds. Ld.F. vom 27. 9. 1993 (GVBI. S. 383) vor (§§ 63 ff.). OVG Lüneburg NVwZ 1992, 79, 80, stellt daher auf einen Erlaß des Kultusministeriums (zu §§ 42, 46 - 53 des damaligen SchulG) ab. 219 Zu den Mängeln der gegenwärtigen Rspr. zur Freistellung vom Sportunterricht aus religiösen Gründen oben S. 83 ff. mit Fn. 5 ff. 220 Im Ergebnis kommt auch das BVerwGE 99, 1,7 f., dazu, daß das grundsätzliche Verbot des Schächtens in § 4a Abs. 1 TierSchG mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist; vgl. auch 213
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Tierschutz ein verfassungsrechtlich anerkannter Belang ist221 • Mit der Regelung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG hat schon der Gesetzgeber Fallgruppen gebildet, bei denen die Abwägung von Tierschutz und Religionsausübung zugunsten der letzteren ausfallt. Die Behörde darf nach § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten erteilen, soweit damit den Bedürfnissen solcher Menschen Rechnung getragen wird, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Durch diese begrenzte Ausnahmeregelung wird das Verbot des Schächtens in § 4a Abs. 1 TierSchG nicht zu einer von Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. 1 WRV nicht mehr gedeckten religionsbezogenen Schranke. Es handelt sich vielmehr um eine die Religion begünstigende Vorschrift, die der Gesetzgeber - aufgrund einer fehlerfreien Abwägung der betroffenen Belange - nachträglich eingefügt hat, nachdem er erkannt hatte, daß das Verbot des Schächtens Auswirkungen auf die Freiheit der Religionsausübung hat222 • Eine Aufhebung der Ausnahmeregelung in § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG dagegen ist durch ein allgemeines Gesetz nicht möglich. Das Änderungsgesetz hätte eindeutig religionsbezogenen, einschränkenden Charakter - jedenfalls solange im Geltungsbereich des Tierschutzgesetzes Menschen leben, die die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift erfüllen. V. Zwischenergebnis
Insgesamt wird deutlich, daß die oben223 dargestellten Probleme, vor denen die gegenwärtige Rechtsprechung bei der Bestimmung der Schranken vom Glaubens-, Bekenntrris- und Religionsausübungsfreiheit steht, mit Hilfe des Gesetzesvorbehaltes aus Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. 1 WRV gelöst werden können. Das setzt allerdings voraus, daß die Anwendung der auf diesen Vorbehalt gestützten allgemeinen Gesetze nicht von einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung abhängig gemacht wird. Die Mängel eines solchen Vorgehens lassen sich durch eine abstrakte, an Fallgruppen orientierte Abwägung im Rahmen der Prüfung, ob das Gesetz verhältrrismäßig im engeren Sinne ist, vermeiden. Auf diese Weise wird dem Geltungsanspruch des einfachen Rechts und der Funktion des Gesetzesvorbehaltes, Gemeinwohlbelange gegenüber den grundrechtlichen Schutzgütem durchzusetzen, wirkungsvoller Rechnung getragen als in der gegenwärtigen Rechtsprechung. Zugleich bleibt die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte der Glaubens-, der Bekenntrris- und der Religionsausübungsfreiheit gewahrt. Müller-Volbehr, JuS 1997, 223 ff., der diese Entscheidung des BVerwG in ihren Gründen kritisiert, ihr aber im Ergebnis zustimmt; Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Verbots aus § 4a Abs. 1 TierSchG äuBert Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 38. 221 Zu den in Rspr. und Lit. unternommenen, teilweise mehr als bedenklichen Versuchen, diesen Nachweis zu führen oben S. 19 f. mit Fn. 95 ff. 222 Zur Entstehungsgeschichte des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG vgl. Lorz, Tierschutzgesetz, § 4 a Rn. 1 m.w.N. 223 S. 16ff. mitFn. 72ff.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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B. Die Schranken der Gewissensfreiheit Der Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG LY.m. Art. 136 Abs. 1 WRV könnte jedoch leicht umgangen werden, wenn der einzelne 224 seinem nicht von einem der religiösen Freiheitsrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten Begehren schließlich doch mit Hilfe der Gewissensfreiheit zum Durchbruch verhelfen kann. Zwar muß der - oben im einzelnen erörterte 225 - Schutzbereich dieses Grundrechts deutlich enger gefaßt werden, als es der gegenwärtig h.M. entspricht; die Beschränkung des Grundrechts auf Konfliktsituationen, die dem einzelnen aufgezwungen werden, und das Kriterium der persönlichen Verantwortung für den vom Gewissen mißbilligten Vorgang sind die Merkposten dieser restriktiven Interpretation226 . Doch können nicht alle Probleme auf der Schutzbereichsebene gelöst werden. Bereits das mehrfach genannte Beispiel eines Antrags auf Befreiung vom Sportunterricht macht dies deutlich. Das entsprechende Begehren des Kindes ist vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit erfaßt227 . Ob dem Antrag stattzugeben ist, entscheidet sich erst bei der Prüfung der Grundrechtsschranken.
I. Kein Vorbehalt der allgemeinen Gesetze Um die Schwierigkeiten einer "divergierenden Schrankenziehung,,228 bei Religions- und Gewissensfreiheit zu vermeiden, wird bisweilen auch für die Gewissensfreiheit eine Anwendung des Vorbehaltes der allgemeinen Gesetze 229 aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV postuliert23o . Die Gewissensfreiheit sei ebenso schutzbedürftig und schutzwürdig wie die Bekenntnis-, die Glaubens- und die Religionsausübungsfreiheit. Es handele sich um gleichwertige Freiheiten, die "wegen Gleichheit der Interessenlage" auch den gleichen Schranken unterworfen seien231 . Diese Sichtweise ist jedoch dem Einwand ausgesetzt, daß die Gewissens224 Zur fehlenden Grundrechtsträgerschaft von Personengemeinschaften bei der Gewissensfreiheit oben S. 154 mit Fn. 201. 225 S. 154 ff. 226 Dazu i.e. oben S. 154 ff. bzw. S. 162 ff. 227 Oben S. 161 mit Fn. 250. 228 H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 500. 229 Zum Begriff der allgemeinen Gesetze oben S. 231 ff. mit Fn. 52ff. 230 So bereits Bettermann, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 129 f. (nicht dagegen Bäumlin, ebd., S. 3, 16, 19, der zwar auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV verweist, aber darin einen Ausdruck des Gebots zur Herstellung praktischer Konkordanz zwischen einzelnen Elementen der Verfassung erblickt; insoweit wohl mißverstanden von Scheuner, ZevKR 15 [1970l, S. 242, 251). Neuerdings auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 288; ders., in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 496. Ablehnend etwa v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG Art. 4 Abs. 1,2 Rn. 50; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 137 Rn. 25; Kästner, ZevKR 37 (1992), S. 127, 133; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 90. 231 Bettermann, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 128, 129.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
freiheit ein gegenüber der Religionsfreiheit eigenständiges Grundrecht ist232 und nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht unter einem Schrankenvorbehalt steht233 . Nach Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV werden die staatsbürgerlichen Pflichten nur durch "die Ausübung der Religionsfreiheit" nicht beschränkt. Der Wortlaut der Verfassung wäre nur dann ohne Bedeutung, wenn die Vorschrift sich als Ausdruck eines allgemeinen, auch für das Grundrecht der Gewissensfreiheit geltenden Rechtsgedankens erwiese234 . Einer solchen Überlegung liegt der Gedanke zugrunde, die grundrechtlich geschützte Freiheit habe nicht einen staats- und rechtsfreien Raum individuellen Beliebens zum Gegenstand, sondern sei in Wahrheit gesetzlich durchgebildet. Deshalb hänge es von den Gesetzen ab, "wer in welchen Situationen wem gegenüber welche Rechte und welche Pflichten,,235 innehabe. Die Verfechter einer solchen "gesetzesgemäßen Verfassung,,236 können auf Georg Jellinek verweisen, der formulierte: "Alle Grundrechte verlangen ... nach einer gesetzlichen Regelung ihrer Ausübung. Eine Freiheit schlechthin, in irgendeinem Punkte anerkannt, würde in ihren Konsequenzen geeignet sein, den ganzen Staat zu zerstören." Es sei Sache des Gesetzgebers, den erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen den konkreten Inhalt zu geben 237 . Bei der Behandlung dieses Problemkreises, ist zunächst auf die Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs zu blicken und zu fragen, ob der Gesetzgeber befugt ist, die Substanz der Grundrechte näher zu fixieren 238 . Es ist dies die Frage, nach den "Grundrechten aus der Hand des Gesetzgebers,,239. Bei der Beantwortung dieser Frage beginnt sich die bereits erwähnte 240 Unterscheidung von rechts- und sachgeprägten Grundrechten durchzusetzen 241 . Während die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG), die Verbürgung der Ehe und Familie (Art. 6 GG) und das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) als Paradigmen rechtsgeVgl. oben S. 155 mit Fn. 207. Diesen Einwand sieht auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 289, hält ihn jedoch für nicht durchgreifend. 234 So wohl H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 499 f., der folgerichtig darauf hinweist, daß es auf der Grundlage seiner Sichtweise des Rückgriffs auf Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. I WRV im Grunde nicht bedürfe. 235 Suhr, EuGRZ 1984,529,535 f. 236 Formulierung von Leisner, JZ 1964, 201, 203 (Anführungszeichen im Original); zum Problem auch ders., Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 26 ff. 237 G. lellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 102 f. 238 Dies ist auch der Ansatz Rüjners, Festg. BVerfG, Bd. n, S. 453, 458 f. 239 Herzog, FS Zeidler, Bd. n, S. 1415; Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72. 240 Oben S. 12 mit Fn. 46 u. 50; S. 53 mit Fn. 51. 241 Vgl. Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 83 ff. mit umfangr. Nachw.; ferner Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht? S. 86 ff.; zu der Unterscheidung auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 94ff. 232 233
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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prägter Grundrechte genannt werden242 , wird die Gewissensfreiheit zu den sachgeprägten Grundrechten gezählt243 , die durch eine "geringe rechtliche Formbarkeit,,244 gekennzeichnet sind. Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit kann zwar, wie gezeigt245 , in begrenztem Umfang präzisiert werden. Als weitgehend sachgeprägtes Grundrecht erlaubt es jedoch nicht eine inhaltliche "Prägung,,246 durch den Gesetzgeber. Hat der Gesetzgeber danach im Bereich der Gewissensfreiheit nicht eine Befugnis zu "Ausformung grundrechtlicher Substanz,,247, so könnten aber auf der Ebene der Grundrechtsschranken die allgemeinen Gesetze aufgrund eines von der Verfassung als selbstverständlich vorausgesetzten und deshalb ungeschriebenen Vorbehaltes zum Tragen kommen 248 . Zur Begründung dieser These wird auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Schranken vorbehaltloser Grundrechte verwiesen. Eine Schrankenbestimmung, die nur danach frage, ob der ,,Ausübung des Grundrechts kollidierende Grundrechte Dritter" oder "andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte,,249 entgegenstehen, stoße auf praktische Rechtsprobleme, die verantwortlich nur lösbar seien, wenn die Grundrechtsschranken auf andere Weise ermittelt würden. Wer die genannte Formel des Bundesverfassungsgerichts 250 akzeptiere, sei aus praktischen Gründen gezwungen, sie zu unterlaufen 251 . Jedes beliebige, durch ein einfaches Gesetz geschütztes Rechtsgut müsse als Verfassungsrechtsgut ausgegeben werden. Dies sei zwar theoretisch möglich, führe aber dazu, daß letztlich alles Gesetzesrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht erscheine. Der Unterschied zwischen Verfassung und einfachem Gesetz löse sich auf252 . Richtigerweise müsse der Verfassungsinterpret sich eingeste242 Herzog, FS Zeidler, Bd. II, S. 1415, 1417 f., für Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 1 GG; Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 94, für Ehe und Familie, Eigentum und Erbrecht; modifizierend für die Eigentumsgarantie Wahl, NVwZ 1984,401,404 ff. 243 Nierhaus, AöR 116 (1991), S. 72, 84; Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht? S. 88 ff. 244 Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gestzesrecht? S. 89. 245 Oben S. 154 ff. 246 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 37 ff.; zu dem Begriff der Grundrechtsprägung als "einem weit zu verstehenden, terminologisch großzügigen Oberbegriff für gesetzgeberische Kompetenzen, die grundrechtliche Substanz selbst näher zu fixieren" auch Lerche, ebd., Rn. 2; zu "grundrechtsprägenden Normen" bereits ders., Übermaß und Verfassungsrecht, S. 99 ff. 247 Lerche, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 38. 248 So in jüngerer Zeit vor allem Kriele, JA 1984, 629ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 110 Rn. 69ff.; früher bereits Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 26ff.; mit Blick auf die Gewissensfreiheit auch Herzog, DVBl. 1969,717,720 (sub 4.). 249 BVerfGE 28, 243, 261. 250 BVerfGE 28, 243, 261. 251 Kriele, JA 1984,629,631 (vor 1.). 252 Kriele, JA 1984,629,631; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 110 Rn. 70; vgl. auch Ossenbühl, DVBl. 1995,904,910.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
hen, daß auch die Ausübung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte völlig selbstverständlichen Grenzen unterliege. ,,Jedennann sieht ein, daß dem Musiker nicht erlaubt sein kann, während des Unterrichts Trompete zu blasen oder die Nachtruhe zu stören, daß der Kunstmaler vor dem Rathaus nicht die Umleitung des Verkehrs verlangen kann, daß der Happening-Künstler nicht fremde Autos einbetonieren darf, daß das Straßentheater nicht von den einfachen Regeln des Straßenrechts und der künstlerische Architekt nicht von den Regeln des Baurechts entbunden ist. ,,253 Entsprechendes gelte für die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Man könne sich nicht "unter Berufung auf die Religions- und Gewissensfreiheit ohne weiteres seiner Steuerpflicht entziehen oder sonst den allgemeinen Gesetzesgehorsam verweigern, andere Menschen nötigen und betrügen oder dergleichen,,254. Alle genannten Beispielsfälle lassen sich jedoch auch ohne einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt lösen. Der Musiker, der Kunstmaler und der HappeningKünstler führen durch ihr Verhalten eine Grundrechtskollision 255 herbei. Das entgegenstehende Grundrecht rechtfertigt nach der genannten Fonnel des Bundesverfassungsgerichts, das u. a. auf ,,kollidierende Grundrechte Dritter,,256 abstellt, die Begrenzung der Kunstfreiheit. Der Trompeter muß die körperliche Unversehrtheit seiner Nachbarn (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), der Künstler das von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentum anderer achten. Auch die anderen Beispiele belegen die Notwendigkeit eines allgemeinen, ungeschriebenen Gesetzesvorbehalts nicht: Steuerverweigerung ist regelmäßig schon gar nicht vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfaßt. Wer Steuern unter Hinweis auf bestimmte staatliche Aufgaben, etwa für RÜ5tungszwecke, verweigert, verwe~t auf einen Vorgang außerhalb seines Verantwortungsbereichs 257 . Er kann sich nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Ausschluß bestimmter Verhaltensweisen führe zu einer nicht gerechtfertigten Verengung des grundrechtlichen Schutzbereichs. Bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten dürfte gerade ein Verständnis des Schutzbereichs, das Konflikte zu venneiden sucht, der Verfassung entsprechen. Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt liegt eine Vorstellung des Schutzbereichs zugrunde, die Kollisionen nicht zur Kriele, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 110 Rn. 71 (S. 139). Kriele, ebd., Rn. 72. 255 Dazu bereits oben S. 63 mit Fn. 15. 256 BVerfGE 28, 243, 26l. 257 Vgl. BFH NJW 1992, 1407; bestätigt durch BVerfG NJW 1993,455; beide Gerichte betonen, daß allein das Parlament über die Verwendung der Haushaltsmittel entscheidet ohne Einflußmöglichkeit des Steuerpflichtigen; auf den Gedanken der Verantwortung stellt auch Franke, AöR 114 (1989), S. 7, 36, ab; im Ansatz auch Preuß, AK-GG, Art. 4 Abs. I, 2 Rn. 46, der die Möglichkeit eines Gewissenskonflikts ausschließt. Gegenteiliges Ergebnis auf der Grundlage eines völlig unabgegrenzten Schutzbereichs der Gewissensfreiheit bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, S. 53 ff., 81. Zu dem Krite~ rium des Verantwortungsbereichs oben S. 162 f. mit Fn. 258 ff. 253
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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Regel werden läßt258 . Dies gilt in besonderer Weise für das Grundrecht der Gewissensfreiheit, bei dessen Einfügung in das Grundgesetz dem Verfassunggeber ein geschichtliches Leitbild vorschwebte, das dem Grundrecht nur einen eng begrenzten Schutzbereich beließ 259 . Zwar hat sich längst gezeigt, daß nicht alle Probleme der Gewissensfreiheit auf der Ebene des Schutzbereichs gelöst werden können. Diese Einsicht entbindet jedoch nicht von der - gegenüber dem Blick auf die Schranken vorrangigen - Prüfung, ob das fragliche Begehren überhaupt vom Schutzbereich des Grundrechts erfaßt wird. Gerade bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten muß diese Prüfung vielmehr mit besonderer Sorgfalt durchgeführt werden 260 . Die Geltung der allgemeinen Gesetze in einer dem Gesetzesvorbehalt aus Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. 1 WRVentsprechenden Weise kann im Anwendungsbereich der Gewissensfreiheit auch nicht mit dem Hinweis auf Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG gerechtfertigt werden. Zwar darf nach dieser Vorschrift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen werden. Daraus läßt sich aber nicht mit Blick auf die Gewissensfreiheit der Schluß ziehen, auch der Schutz der "psychischen Unversehrtheit" sei verfassungsrechtlich nur im Rahmen der Gesetze ge'Yährleistet261. Anders als bei der Gewissensfreiheit ging der Verfassunggeber bei dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit davon aus, daß sich Eingriffe, etwa aus medizinischen Gründen 262, als notwendig erweisen könnten. Zugleich trug er mit der Einführung des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 GG dem Umstand Rechnung, daß der Tatbestand des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (noch) weniger Spielraum für unterschiedliche Interpretationen läßt als der der Gewissensfreiheit. Eine nähere Bestimmung des Grundrechtsschutzes auf der Ebene des Schutzbereichs erweist sich bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als noch schwieriger als bei der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG. Aber nicht nur diese strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Grundrechten sprechen gegen eine Gleichbehandlung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 4 Abs. 1 GG. Es erscheint zudem bedenklich, den "Schutz der psychischen Integrität,,263 vornehmlich in Art. 4 Abs. 1 GG zu verorten. Nicht nur die Gewissensfreiheit dient diesem Schutzgut. Auch die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG264 und das Recht auf körVg1. PierothlSchlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 361. Vg1. SchoUer, Die Freiheit des Gewissens, S. 206, der den Schutzbereich der Gewissensfreiheit allerdings allzu eng faßt. 260 Vg1. PierothlSchlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 361, die mit Recht die Notwendigkeit "einer präzisen Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs" betonen. 261 So aber Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 290. 262 Vg1. etwa Abg. Dr. v. Mangoldt, in: v. Doemming I Füßlein I Matz, JöR n.P. 1 (1951), 258
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S.60.
Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 290. Sie macht Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, S. 69, neben den Grundrechten aus Art. 2, 4, 5 GG zur maßgeblichen Grundlage seines "Grundrechts auf innere Geistesfreiheit". 263
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17 Muckel
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
perliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützen vor Eingriffen in die Psyche265 . Die Gewissensfreiheit erfaßt nur einen kleinen Teil des Rechts auf ,,innere Geistesfreiheit,,266, der nicht nur wegen seiner eigenständigen historischen Entwicklung 267 , sondern auch wegen seiner sachlichen Besonderheiten (Stichwort: Gewissenskonflikt268 ) eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Es ist zwar richtig, daß mit Hilfe der Gewissensfreiheit "die speziellen Schranken anderer Grundrechte, insbesondere der Kommunikationsgrundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 GG, überspielt werden,,269 können, wenn nicht auch die Gewissensfreiheit einem Gesetzesvorbehalt unterstellt wird. Doch ist das die notwendige Konsequenz der im Grundgesetz angelegten, abgestuften Möglichkeiten zur Einschränkung der Grundrechte. Die Unterschiede dürfen nicht durch einen "Allgemeinvorbehalt" verdeckt werden 27o . Der Gefahr, daß die Vorbehalte anderer Grundrechte ausgehebelt werden, kann im übrigen dadurch entgegengewirkt werden, daß die im Schutzbereich der Gewissensfreiheit angelegten Grenzen des Grundrechtsschutzes 271 genau beachtet werden. Dann wird sich sehr schnell zeigen, daß die vorbehaltlos gewährleistete Gewissensfreiheit durchaus kein "Supergrundrecht',272 ist, mit dessen Hilfe andere Grundrechte "aus den Angeln gehoben werden,,273 können. Wer die Verfassung ihrem Wortlaut gemäß ernstnehmen will, wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß für das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG ein Gesetzesvorbehalt nicht besteht274 . Die Grenzen der Gewissensfreiheit können nur durch eine möglichst exakte Bestimmung ihres Schutzbereichs und durch die Prüfung aufgezeigt werden, ob andere Gewährleistungen der 265 Vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 2 Rn. 63; dazu auch bereits oben S. 66 mit Fn.34. 266 Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, S. 62, pass. 267 Zur geschichtlichen Entwicklung der Gewissensfreiheit vgl. die ausführlichen Darstellungen von Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 13 ff., und Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 74 ff. 268 Dazu oben S. 154 ff. 269 Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 291. 270 Zur Unzulässigkeit eines Allgemeinvorbehalts vgl. nur Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 531 ff.; Stern, JA 1984, 642ff., 643, 646, 647; zur Gegenmeinung vgl. etwa Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 420, pass. 271 Zu ihnen oben S. 154ff. 272 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 136; den Begriff aufgreifend Herdegen, Gewissensfreiheit und Nonnativität des positiven Rechts, S. 291. 273 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 136, der aber, ebd., gleichwohl zu dem Ergebnis kommt, daß eine "ernstliche Sprengung des Grundrechtsgefüges und darüber hinaus des Gedankens der Rechtsordnung nicht zu befürchten ist". 274 Im Ergebnis auch Kästner, ZevKR 37 (1992), S. 127, 131 m.w.N.; Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 90.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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Verfassung, insbesondere Grundrechte Dritter, der Ausübung des Grundrechts entgegenstehen 275 . Der "allgemeine Gesetzesgehorsam" ist danach freilich kein Gesichtspunkt, der die Gewissensfreiheit zu begrenzen geeignet ist276 .
11. Die Schranke entgegenstehenden Verfassungsrechts
Die Schranken eines Grundrechts nur mit Blick auf ,,kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte,,277 zu bestimmen, wirft allerdings eine Reihe von Schwierigkeiten auf. 1. Gewissen und "schonender Ausgleich" Eine erste Schwierigkeit besteht darin, daß der Konflikt, in den die Gewissensfreiheit mit gegenläufigen Rechtspositionen gerät, meist nicht nach einem für beide Seiten schonenden Ausgleich278 , sondern nur auf einem ,,harten EntwederOder" gelöst werden kann. Das Gewissen duldet regelmäßig keinen Kompromiß279 . Der Staat kann aber dem Gewissen des einzelnen nachgeben und dies an eine Bedingung knüpfen, die das Gewissen schont. Die Gewissensbetätigung, die sich gegen Rechtspflichten wendet, muß nicht kosten-, lasten- und nachteilsfrei sein28o . So können bisweilen Verhaltensalternativen aufgezeigt werden, mit deren Hilfe zwar der Gewissenskonflikt vermieden werden soll, die aber eine andere Belastung mit sich bringen. Beispielhaft ist insoweit das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern zu dürfen (Art. 4 Abs. 3 GG). Wer von diesem Recht Gebrauch macht, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden, Art. 12 a Abs. 2 Satz 1 GG281 . Eine generelle Pflicht des Staates, derartige Alterna275 Vgl. bereits oben S. 238 mit Fn. 103, S. 255 mit Fn. 249; ferner Bethge, in: Isenseel Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 137 Rn. 27ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 4 Rn. 54; kritisch: Lerche, FS Mahrenholz, S. 515, 525 ff. 276 So aber Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 110 Rn. 72 a.E. Mit Recht weist Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 138, darauf hin, daß die Gewissensfreiheit ein ,,Recht zur Gehorsamsverweigerung" gibt. 277 BVerfGE 28, 243, 261. 278 Dazu oben S. 17 mit Fn. 81; S. 63 mit Fn. 16. 279 Vgl. bereits oben S. 22 mit Fn. 113.
280 v. Mutius, ZSR 1983, 683, 682, unter Hinweis auf die vom Grundgesetz vorausgesetzte Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums (dazu oben S. 29; S. 33 mit Fn. 49; S. 57 mit Fn. 93; S. 63 mit Fn. 14); im Ergebnis zustimmend Rüfner, RdA 1992, 1,3; vgl. auch Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 64. 281 Zur Bewertung des Ersatzdienstes als Alternative zu einem von einer Gewissensüberzeugung abgelehnten Wehrdienst BVerfGE 69, 1,34.
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tiven anzubieten, besteht jedoch nicht282 . Sie muß schon daran scheitern, daß als Adressat einer solchen Verpflichtung vor allem der Gesetzgeber in Betracht kommt, wenn Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes gewahrt bleiben sollen283 . Der Gesetzgeber kann jedoch weder alle möglichen Gewissenskonflikte vorhersehen noch kann er im Rahmen der ihm allein möglichen abstrakt-generellen Betrachtungsweise einschätzen, ob denkbare Handlungsalternativen zumutbar sind284 . Soweit es möglich ist, Alternativen aufzuzeigen, bietet sich ein Weg zu einem schonenden Ausgleich. Dem einzelnen wird nicht abverlangt, gegen sein Gewissen zu handeln. Er kann aber auch nicht durch bloße Berufung auf seinen Gewissenskonflikt dem staatlichen Handlungsbefehl entgehen285 . Er muß gewisse Nachteile in Kauf nehmen; ihm wird "nicht ein bequemes Ausweichen,,286 ermöglicht. Die "lästige Alternative" verlangt dem einzelnen ein zumutbares Opfer ab 287 . So kann von ihm verlangt werden, daß er sich zwischen einer Bekenntnis- und einer Gemeinschaftsschule entscheidet288 . Auch erscheint es nicht unzumutbar, jemanden, der bestimmte Arbeiten als mit seinem Gewissen unvereinbar ablehnt und von seinem Arbeitgeber nicht anderweitig sinnvoll eingesetzt werden kann, auf die Möglichkeit zu verweisen, die Arbeitsstelle zu wechseln 289 . Im Rahmen der Gesetzesanwendung besteht zudem ein aus Art. 4 Abs. 1 GG folgendes "Wohlwollensgebot,,290 im Einzelfall. Es führt zu einer gewissensschonenden Rechtsanwendung 291 und ist der Sache nach eine Möglichkeit zur Herstel282 A.A.: Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 199 m.w.N. auch zu der im Text vertretenen Ansicht; zum Problem auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 278ff. mit umfangr. Nachw. in Fn. 7. 283 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 282. 284 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 282; zur Gefahr einer Überforderung des Gesetzgebers durch ein am Selbstverständnis des einzelnen orientiertes Grundrechtsverständnisses bereits oben S. 86 mit Fn. 34. 285 Vgl. Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 137 Rn. 35. 286 Rüfner, RdA 1992, 1,3. 287 Vgl. Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 284; ihm folgend Bäckenfärde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 71; Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1037; kritisch gegenüber dem Gedanken einer "Iästigen Alternative" Preuß, AK-GG Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 45 (a.E.); Bopp, Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit; S. 167 ff., der sich allerdings nur gegen AIternativbelastungen zur Prüfung der Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung wendet; aus anderen Gründen seien "Iästige Alternativen" zulässig, etwa "um der staatsbürgerlichen Lastengleichheit willen oder zur Aufrechterhaltung der staatlichen Friedensordnung"; allein um solche Belange geht es im Text. 288 Beispiel von Herzog, in: Maunz/Dürig, GG Art. 4 Rn. 170. 289 Vgl. Rüfner, RdA 1992, 1, 4ff., 6; Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1038; auch das Beispiel von Luhmann, AöR 90 (1965), S. 257, 284. 290 BVerfGE 23, 127, 134. 291 Herdegen, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 497; näherders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 291 ff.; ferner Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG Art. 4 Rn. 113, 129; SchoUer, in: Jb. zur Staats- und Verwaltungswissenschaft Bd. 7 (1995), S. 117, 123.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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lung eines schonenden Ausgleichs der Gewissensfreiheit mit gegenläufigen verfassungsrechtlich anerkannten Belangen. Das "Wohlwollensgebot" ermöglicht etwa, die Gewissensentscheidung bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Ausübung von Ermessen zu berücksichtigen 292 . Ein wichtiger Anwendungsfall ist die Strafzumessung gegenüber Gewissenstätem293 . Insgesamt zeigt sich, daß die Möglichkeiten, einen schonenden Ausgleich der Gewissensfreiheit mit anderenverfassungsrechtlich anerkannten Rechtswerten herzustellen, begrenzt sind. Gleichwohl muß nicht in jedem Fall der eine Belang auf Kosten des anderen völlig zurücktreten. Der Auferlegung einer Alternativbelastung und das Verständnis der Gewissensfreiheit als "Wohlwollensgebot" auch in Fällen, in denen das Grundrecht zurücktreten muß, können vielfach für eine Entschärfung des Konflikts sorgen.
2. Das der Gewissensfreiheit entgegenstehende Verfassungsrecht Die zweite grundlegende Schwierigkeit bei der Bestimmung der Schranken der Gewissensfreiheit aus anderen Verfassungsbestimmungen tritt bei der Frage auf, wie der Kreis der Vorschriften des Grundgesetzes, die für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte begrenzende Wirkung haben können, bestimmt werden kann. Damit steht die Schrankenbestimmung des Bundesverfassungsgerichts, das auf ,,kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte,,294 abstellt, auf dem Prüfstand.
a) Die Sicherung von Staat und Verfassung Das Grundgesetz erwähnt an verschiedenen Stellen den Staat (z. B. in Art. 20 Abs. I und 2) und seine verfassungsmäßige Ordnung (etwa in Art. 9 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3, Art. 20a, Art. 28 Abs. 1 und 3). Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß - im Sinne der genannten Formel des Bundesverfassungsgerichts - Staat und Verfassung "mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte,,295 sind, die Einschränkungen der Gewissensfreiheit zu rechtfertigen vermögen296 . Das Problem kann auftreten, wenn (möglicherweise aufgrund entsprechender Werbung) "das Herdegen, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 497f. BVerfGE 23, 127, 133f.; Herdegen, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 481, 498; näher dazu Bopp, Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. III ff., 252 ff. 292 293
BVerfGE 28, 243, 261. BVerfGE 28, 243, 261. 296 So Böckenjörde, VVDStRL 28 (1970), S. 33, 59, der den ,,Bestand des Staates" zu den "unüberschreitbaren Grenzen der Gewissensfreiheit" zählt; in dieser Richtung auch v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 4 Rn. 50, der den ,,Bestand des Staates und seine Sicherung nach außen" zu den Schranken der Gewissensfreiheit rechnet. 294 295
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Gewissen zu einem Massenphänomen,,297 wird und weite Kreise der Bevölkerung nicht mehr bereit sind, bestimmten staatlichen Anordnungen Folge zu leisten. Das kann ein Anzeichen dafür sein, daß die Zustimmung der Bürger zu ihrem Staat und seiner Verfassung zu schwinden beginnt298 - im demokratischen Verfassungsstaat ein Alarmsignal. Eine massenhafte Verweigerungshaltung kann sich als politische Aktion erweisen299 , die nicht Ausdruck eines Gewissenskonflikts bei dem einzelnen Bürger ist. Läßt sich dagegen nicht auf diese oder eine andere 300 Weise nachweisen, daß schon der Schutzbereich des Grundrechts nicht betroffen ist, kann sich die Frage stellen, ob der durch die Verweigerungshaltung seiner Bürger in Gefahr geratene Staat und seine Verfassung verfassungsrechtlich anerkannte Belange sind, auf deren Grundlage der Gewissensfreiheit Schranken gezogen werden können 301 . Allein die Existenz des Staates und seine Erwähnung im Grundgesetz sagen jedoch noch nichts darüber, ob zu seiner Sicherung Grundrechte beschränkt werden können 302 . Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte zeigen, daß das Grundgesetz die Notwendigkeit der Schranken grundrechtlicher Freiheit erkannt hat. Es gibt keine schrankenlose Freiheit303 . Auch zeigt die Differenziertheit der verschiedenen Gesetzesvorbehalte und ihr Fehlen bei manchen Grundrechten, daß das Grundgesetz für jedes Grundrecht eigene Schranken festgelegt hat. Bei einem Grundrecht wie der Gewissensfreiheit, das keinen Gesetzesvorbehalt aufweist, können "von außen" an das Grundrecht herangetragene Schranken nur mit größter Behutsamkeit 304 entwickelt werden 305 .
H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 501. Zur Bedeutung, die die Zustimmung für Staat und Verfassung hat, Haverkate, Verfassungslehre, S. 109 f., 130. 299 Auf diese Möglichkeit weist H.H. Klein, FS Doehring, S. 479, 501, mit Recht hin. 300 Zu den Aspekten einer Begrenzung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit bereits oben S. 154ff. Schutzbereichsimmanente Grenzen, die für die Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 2 GG von Bedeutung sind (oben S. 206 ff., S. 215 ff.), greifen dagegen bei der Gewissensfreiheit wegen ihrer fehlenden handlungsrechtlichen Seite (oben S. 156 ff. mit Fn. 220ff.) nicht. 301 Erst die gewaltsame Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung ist von vornherein aus jedwedem grundrechtIichen Schutzbereich ausgegrenzt (oben S. 212 ff. mit Fn. 120 ff.). Wegen der rein abwehrrechtIichen Ausrichtung der Gewissensfreiheit (oben S. 156ff. mit Fn. 220ff.) ist die Anwendung von Gewalt ohnehin niemals vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfaßt. Im folgenden geht es allein um die Frage, ob eine auf die Gewissensfreiheit gestützte Verweigerungshaltung auf der Schrankenebene ausgeschlossen werden kann, weil Staat und Verfassung in Gefahr geraten. 302 V gl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht m /2, S. 573 f. 303 Rüfner, RdA 1992, I; Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1036, jeweils mit Blick auf das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG. 304 Vgl. Kloepfer, JZ 1986, 205, 209, mit Blick auf Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG aufgrund von Kompetenzvorschriften in Art. 73 ff. GG. 297
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Das Grundgesetz trägt dem Umstand, daß die Ausübung einzelner Grundrechte für den Fortbestand des Staates und seiner Verfassung zu einem Risiko werden kann, Rechnung. So steht die Freiheit der Lehre unter dem Vorbehalt der Verfassungstreue (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG). Die Vereinigungsfreiheit unterliegt der Möglichkeit des Verbots von Vereinen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten (Art. 9 Abs. 2 GG). Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie die Freizügigkeit können zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eingeschränkt werden (Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 11 Abs. 2 GG). Demgegenüber gehört die Gewissensfreiheit nicht einmal zu denjenigen Grundrechten, die durch einen Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verwirkt werden können, Art. 18 Satz 1 GG. Die genannten Bestimmungen machen deutlich, daß das Grundgesetz eine Beschränkung von Grundrechten zum Schutze des Staates und seiner Verfassung nur punktuell gestattet306 . Das Grundgesetz geht nicht von dem Gedanken der "Grundrechte nur im Rahmen des Staates" als ausnahmslos geltende Doktrin aus 307 . Die Existenz des Staates als Grundbedingung jedes Grundrechtsschutzes 308 rechtfertigt nicht die Freistellung der staatlichen Gewalt von der Bindung an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG309 . Die Sicherung von Staat und Verfassung 310 vermag Einschränkungen des Grundrechts der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen. b) Kompetenzvorschriften Häufig werden Bestimmungen des Staatsorganisationsrechts, insbesondere die Vorschriften über die Verteilung der Gesetzgebungs- und der Verwaltungskompetenz zwischen Bund und Ländern (Art. 70 ff., Art. 83 ff. GG), als Beleg für den "Verfassungsrang,,311 einzelner Belange herangezogen. So soll die Kompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG für den Tierschutz gesetzliche Schranken der - von der Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur als vorbehaltlos angesehenen 312 - Freiheit der Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG rechtferti305 Zur gerade bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt bestehenden Notwendigkeit einer exakten Prüfung, ob das betr. Begehren dem Schutzbereich unterfällt, bereits oben S. 257 mit Fn.26O. 306 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 576. 307 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 574. 308 Zur Notwendigkeit des Staates für eine normative Geltung der Grundrechte oben S. 57 mit Fn. 97; S. 211 mit Fn. 115; S. 213 mit Fn. 131. 309 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 574. 310 Vgl. insoweit BVerfGE 77, 240, 255, wo das BVerfG für die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz I GG betont, daß die Einschränkung des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts nicht formelhaft mit dem "Schutz der Verfassung" gerechtfertigt werden kann (Anführungszeichen im Original). Bestätigt durch BVerfGE 81, 278, 293. 311 Zum darauf abstellenden Ansatz des BVerfG oben S. 261 mit Fn. 294. 312 Zur Unrichtigkeit dieser Sichtweise oben S. 224 ff.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
gen313 . Die "verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung" in Art. 12 a, Art. 73 Nr. 1, Art. 87 a und Art. 115 b GG verleihe der ,,Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr" verfassungsrechtlichen Rang 314 . Durch die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 a GG315 billige die Verfassung die ,,Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwekken,,316. Aus solchen Kompetenzvorschriften der Verfassung folge eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst; dessen Verfassungsmäßigkeit könne nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden 317 . Zwar hat das Bundesverfassungsgericht, soweit ersichtlich~ im Ergebnis in keinem Fall die Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts allein aufgrund einer Kompetenzvorschrift als gerechtfertigt angesehen 318 . Die Fachgerichte - wie auch Stimmen in der Literatur319 - dagegen haben den Gedanken aufgegriffen und die Verfassungsmäßigkeit von Grundrechtseingriffen bisweilen auch mit Kompetenzvorschriften begründet32o• Ein solches Vorgehen kann nicht generell mit dem Hinweis auf die Einheit der Verfassung321 gerechtfertigt werden, die dazu führe, daß auch Kompetenzbestimmungen auf den Umfang der Grundrechte einwirkten322 . Denn die Einheit der Verfassung sagt nichts über den verfassungsrechtlichen Gehalt und die Funktion einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes. Aus ihr folgt nur, "daß die Verfassung
VgI. dazu die Nachw. oben S. 19 f. BVerfGE 69, 1,21, mit abI. Sondervotum MahrenholzlBöckenförde, in: BVerfGE 69, 57, 58 f.; früher bereits BVerfGE 12,45, 50; 28, 243, 261; 32, 40, 46; 48, 127, 159 f.; ähnlich BVerfGE 77, 170,221, zur ,,Entscheidung für die militärische Landesverteidigung (Art. 24 Abs. 2, 87 a, 115 a ff. GG)" und ihren "Rückwirkungen" auf den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. 315 Damals: Art. 74 Nr. 11 a GG. 316 BVerfGE 53, 30, 56. 317 BVerfGE 53, 30, 56. 313
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318 VgI. den Befund Krieles, JA 1984, 629, 630f.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 110 Rn. 70; vgI. auch BVerfGE 77, 240, 255, wo das Gericht eine Einschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte mit Blick auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, für die der Bund (ohne daß das BVerfG dies herausstellt) nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat, ausschließt. 319 Bleckmann, DÖV 1983, 129, 130f.; ders., DÖV 1983, 808f.; Pestalozza, Der Staat 1972, S. 161, 169ff., 182f.; vgI. Lü. die Nachw. bei Selk, JuS 1990,895,896 Fn. 18. 320 Zum Tierschutz als Belang zur Rechtfertigung einer Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit vgI. bereits oben S. 19f. mit Fn. 92ff. 321 Dazu bereits oben S. 10 f. mit Fn. 34 f.; S. 56 mit Fn. 75 ff.; S. 64 mit Fn. 21. 322 Bleckmann, DÖV 1983, 129; der Sache nach auch Pestalozza, Der Staat 1972, S. 161, 179 ff., der sich, S. 181, mit Recht gegen eine schlagwortartige Verwendung des Begriffs ,,Einheit der Verfassung" wendet. Auch BVerfGE 28, 243, 261, rekurriert zur Begründung der Schrankenfonnel, die nach ,,kollidierenden Grundrechten Dritter und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerten" fragt, auf die Einheit der Verfassung.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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nicht ein Konglomerat zufällig aneinander gereihter Rechtssätze ist, sondern von einer Konzeption, von einer Idee getragen ist, die es unternimmt, ein geschlossenes Ganzes der Ordnung des Staats- und Gemeinschaftslebens zu sein,,323. Unter welchen Voraussetzungen einzelne Bestimmungen der Verfassung in einem Spannungsverhältnis stehen und wie dieses aufzulösen ist, sagt der Gedanke der Einheit der Verfassung nicht324 . Die Einheit der Verfassung ist im Verhältnis von Grundrechten und Kompetenzbestimmungen erst dann betroffen, wenn eine Kompetenznorm nur bei gleichzeitiger Einschränkung eines Grundrechts vom Gesetzgeber aktualisiert werden kann. Wäre in einem solchen Fall die Beschränkung des Grundrechts ausgeschlossen, würde die Kompetenzvorschrift leerlaufen325 . Es kann aber nicht angenommen werden, daß die Verfassung Kompetenzen ausweist, deren Verwirklichung nicht gewollt ist. Das wäre sinnwidrig 326 und widerspräche dem Gedanken der Verfassung als Einheit. Allein die Zuweisung einer bestimmten Aufgabe genügt danach nicht 327 . Sie allein begründet keine Notwendigkeit der Grundrechtseinschränkung bei Wahrnehmung der Gesetzgebungskompetenz. Es muß vielmehr hinzukommen, daß die einzelne 328 Kompetenz (wie im Falle der aufgrund Art. 73 Nr. 1 GG eingeführten Wehrpflicht) nur unter Inkaufnahme einer Grundrechtseinschränkung wahrgenommen werden kann 329 oder daß der betreffenden Kompetenzvorschrift gar (wie im Falle des Art. 87 a Abs. 1 GG330) ein Auftrag zur Schaffung eines Gesetzes, das sich notwendig grundrechtseinschränkend auswirkt, entnommen werden kann 331 . Stern, Staatsrecht I, S. 132. Vgl. Sachs, JuS 1995,984,987. 325 Vgl. Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, S. 780; ferner Wüljing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 118; Menzel, DÖV 1983, 805, 806. 326 Wüljing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 118. 321 Vgl. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 106, 120f.; ihm zustimmend Schnapp, JuS 1978, 729, 734 Fn. 100; vgl. auch Wüljing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 118. 328 Die Notwendigkeit einer gesonderten Prüfung der einzelnen Kompetenzvorschriften auf ihren grundrechtseinschränkenden Gehalt betont mit Recht Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, S. 87. 329 Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 273 f.; wohl auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 586. 330 Zu diesem Beispiel aus der Rspr. des BVerfG (BVerfGE 28, 36, 47) und zur Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 585f.; a.A. im Hinblick auf Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG Mahrenholzl Böckenförde, Sondervotum, in: BVerfGE 69,57,61: "typische Kompetenzregelung" ohne darüber hinausgehenden Gehalt. 331 So bereits MahrenholzlBöckenförde, Sondervotum, in: BVerfGE 69, 57, 60, wenn sie formulieren, daß bundesstaatliche Kompetenzvorschriften bestimmte Gegenstände staatlichen Handeins nicht zu "materiell-rechtlichen Handlungsaufträgen, -geboten oder sonstigen ,Wert'-entscheidungen" erheben. Deutlicher jetzt Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 585; ähnlich ders., JuS 1995,984,987. 323
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Nur in diesen (Sonder-) Fällen können Grundrechtseinschränkungen mit der Zuweisung einer Gesetzgebungskompetenz gerechtfertigt werden. Im übrigen rechtfertigen sie keine Abweichung von dem Grundsatz, daß Gemeinwohlbelange zu Lasten grundrechtlicher Freiheit nur gestützt auf ausdrückliche 332 Gesetzesvorbehalte durchgesetzt werden können 333 . Dem Gemeinwohl dienliches Staatshandeln auf Kosten grundrechtlicher Freiheit ist zwar, soweit Grundrechte keinen Gesetzesvorbehalt aufweisen, nicht gänzlich ausgeschlossen 334, aber doch in weit geringerem Maße möglich als bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt. Sofern Kompetenzvorschriften aber ausnahmsweise die Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte zu rechtfertigen vennögen, wirken sie im Ergebnis wie - thematisch eng begrenzte - Gesetzesvorbehalte und geben dem Gesetzgeber die Befugnis, die Schrankenziehung vorzunehmen. Die Kompetenz des Bundes zum Erlaß von Vorschriften auf dem Gebiet des Tierschutzes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG vennag Einschränkungen vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte nicht zu rechtfertigen. Gestützt auf Art. 74 Abs. I Nr. 20 GG darf weder die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG335 noch die Wissenschafts- 336 oder die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG beschränkt werden. Der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG kann weder der Gedanke, daß ein Tierschutzgesetz notwendig Grundrechtseinschränkungen zur Folge hat, noch ein Auftrag zur Schaffung eines zwangsläufig grundrechtsbegrenzenden Gesetzes entnommen werden. Auch bei extensiver Interpretation der genannten Grundrechte verbleiben Bereiche des Tierschutzes ohne Grundrechtsbezug 337 . Für eine Abwägung von grundrechtlicher Freiheit und Tierschutz ist kein Raum338 .
332 Auf die Differenziertheit des Verfassungstextes verweist mit Recht Kloepfer, JZ 1986, 205, 209; dazu auch bereits oben S. 238 mit Fn. 104 f. 333 Vgl. Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 118; Selk, JuS 1990, 895, 897; siehe auch bereits oben S. 239 mit Fn. 112 ff. 334 Dies zeigen bereits die bei den im Text genannten Fälle zulässiger Grundrechtseinschränkung aufgrund von Kompetenzvorschriften; zum Fall einer Aufgabenbestimmung außerhalb der Art. 73 ff. GG sogleich c, zu dem der Grundrechtskollision d. 335 Gleiches gilt für die Freiheit der Religionsausübung aus Art. 4 Abs. 2 GG, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung (oben S. 224 ff.) die Vorschrift des Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. 1 WRV nicht als Gesetzesvorbehalt für die religiösen Freiheitsrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ansehen möchte, vgl. etwa Trute, Jura 1996, 462, 466 f. 336 Vgl. Kloepfer, JZ 1986, 205, 206ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht illl2, S. 587 m.w.N. 337 So mit Blick auf die Wissenschaftsfreiheit Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, S. 88; Selk, JuS 1990,895,899. 338 Vgl. Kloepfer, JZ 1986, 205, 207 f., 209; kritisch gegenüber der Abwägung, die bei Grundrechtseinschränkungen aufgrund von Kompetenznormen erforderlich wird, Mahrenholz/Böckenförde, Sondervotum, in: BVerfGE 69, 57, 63; ihnen zustimmend Selk, JuS 1990, 895,898; vgl. auch Müller-Volbehr, JuS 1997,223,225 (mit Blick auf die von ihm als vorbehaltlos gewährleistet verstandene Religionsausübungsfreiheit).
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, Auf die Frage, ob Kompetenzvorschriften einem der von ihnen erfaßten Gegenstände Verfassungsrang verleihen 339 , kommt es entgegen des vom Bundesverfassungsgericht gewählten Ansatzes 340 nicht an: 41 . Entscheidend ist allein, ob der Bund die ihm eingeräumte Gesetzgebungskompetenz sinnvoll nur unter Inkaufnahme von Grundrechtseinschränkungen wahrnehmen kann oder ob der betreffenden Kompetenzbestimmung gar ein Auftrag zum Erlaß eines grundrechtsbegrenzenden Gesetzes entnommen werden kann. Der vorschnelle Rückgriff auf Verfassungsbestimmungen, in denen der fragliche Gegenstand ohne ausdrücklichen oder aus der Systematik der Verfassung ableitbaren Bezug zu einem Grundrecht genannt wird, würde dazu führen, daß die nach dem Text des Grundgesetzes vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte einem ungeschriebenen Vorbehalt entgegenstehender ,,mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte" unterstellt würden342 . Dies hätte zur Folge, daß die von der Verfassung als stärkste Freiheitsrechte konzipierten Grundrechte die schwächsten würden, weil für die Ausfüllung des ungeschriebenen Gesetzesvorbehaltes keinerlei Kriterien erkennbar sind 343 . Was alles zum ,,Rechtswert" erklärt werden kann und unter welchen Voraussetzungen ein Rechtswert Verfassungsrang hat, ist bislang nicht geklärt und kann wohl auch abstrake44 nicht geklärt werden 345 . c) Staatsaufgabenbestimmungen außerhalb der Kompetenzkataloge Vereinzelt lassen sich - außerhalb der Kompetenzvorschriften in Art. 70 ff., Art. 83 ff., Art. 105 ff. GG - Bestimmungen aufzeigen, die dem Staat eine Aufgabe zuweisen, deren Erfüllung grundrechtsbegrenzende Wirkung hat. Eine solche Bestimmung findet sich vor allem in Art. 7 Abs. 1 GG346 . Diese Vorschrift überträgt dem Staat einen "Bildungs- und Erziehungsauftrag,,347. Aus der "Aufsicht des Staates" über das Schulwesen folgen nicht nur allgemeine Gestaltungs- und Nor339 Dazu Kloepfer, JZ 1986, 205, 207, der einen Verfassungsrang des Tierschutzes verneint; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, S. 147 f., der sich gegen einen Verfassungsrang von Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wendet; insoweit a.A.: BVerfGE 28, 243, 261; aus der Literatur statt vieler: v. Pollern, JuS 1977,644, 648. 340 Oben Fn. 294. 341 Im Ergebnis auch Schlink, EuGRZ 1984,457,464. 342 Vgl. W Schmidt, NJW 1973,585, 586f.; Selk, JuS 1990,895, 897f. 343 Vgl. W Schmidt, NJW 1973,585, 586f. 344 Zur Notwendigkeit abstrakter Betrachtung der Einschränkbarkeit von Grundrechten oben S. 241 ff. 345 Vgl. W Schmidt, AöR 106 (1981), S. 497, 498. 346 V gl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III /2, S. 594. 347 BVerfGE 47, 46, 71, 72; vgl. auch BVerfGE 34, 165, 183 ("staatlicher Erziehungsauftrag"); ähnlich BVerfGE 93, 1,21; wie im Text auch die Fonnulierung in BVerwGE 94,82, 84.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
mierungsrechte 348 . Art. 7 Abs. 1 GG ist darüber hinaus Grundlage eines allgemeinen Auftrags der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder349. Bei der Erfüllung dieses Auftrags tritt die staatliche Schulaufsicht zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zum Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG350 . Auch kann die Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrags den Grundrechten der Eltern 351 wie auch der Kinder352 aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG widersprechen. In keinem Falle kann die Spannungslage schematisch dadurch gelöst werden, daß das schulische Erziehungsrecht stets zurücktritt353 . Begrenzungen des dem staatlichen Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG widerstreitenden Grundrechts lassen sich nicht apriori ausschließen 354 . Zwar tritt im Beispielsfall der Befreiung schulpflichtiger Kinder vom Sportunterricht aus Gewissensgründen 355 nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zurück, sofern der Unterricht nicht nach Geschlechtern getrennt durchgeführt wird356 . Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht aber mit Recht davon aus, daß Art. 7 Abs. I GG dem Staat eine Aufgabe überträgt, die geeignet ist, eine Einschränkung der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG357 zu rechtfertigen 358 . Sofern man bereit ist, dem Grundgesetz 359 einen "verfassungsrechtlichen Verteidigungsauftrag,,360 zu entnehmen, wird man sich auch der Einsicht nicht verschlie-
Hemmrich, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 7 Rn. 8 (S. 504) m.w.N. Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, S. 104; vgl. auch dens., DÖV 1977,801,807. 350 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht ID/2, S. 594; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig, GG Art. 7 Rn. 14; Erichsen, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung? S. 13 f., 16 ff. 351 Vgl. BVerwG, Urt. v. 25.8.1993 - 6 C 30.92, S. 13f. 352 V gl. BVerwGE 94, 82, 86 f., wo eine Schülerin klagte; ferner Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, S. 62 ff.; Erichsen, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung? S. 20f. 353 Dies konzediert auch Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, S. 110, obwohl er, ebd. und in DÖV 1977, 801, 807 f., dem elterlichen Erziehungsrecht ein qualitatives Übergewicht gegenüber dem staatlichen Erziehungsmandat einräumt. 354 Vgl. Erichsen, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung? S. 18f.; zu "gegenseitigen Einwirkungen" von Art. 7 Abs. 1 GG einerseits und gegenläufigen Grundrechten andererseits Maunz, in: Maunz / Dürig, GG Art. 7 Rn. 4 c. Zu den unterschiedlichen Lösungsmodellen der Spannungslage vgl. Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, S. 107 ff. 355 Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit kann berührt sein, oben S. 161 mit Fn. 250. 356 BVerwGE 94, 82, 88 f. 357 Das BVerwG spricht mehrfach von "Glaubens- und Gewissensfreiheit", dazu bereits oben S. 21 f. 358 Daß das BVerwG der "Glaubens- und Gewissensfreiheit" den Vorrang einräumt, ist insoweit ohne Belang. Zu kritikwürdigen Elementen in der Entscheidungsfindung des BVerwG oben S. 83 ff mit Fn. 5 ff. 348
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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ßen können, daß mit einem solchen Verfassungsauftrag die Einschränkung von Grundrechten notwendig verbunden ist. Das Grundgesetz trägt dem in Art. 17a Rechnung. Aber auch andere, in dieser Vorschrift nicht genannte Grundrechte müssen bei einer Erfüllung des Verteidigungsauftrags mit Hilfe der nach Art. 12a Abs. I GG zulässigen Wehrpflicht beschränkt werden. Für die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ist dies offenkundig 361 . Wer Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ein an den Staat gerichtetes Gebot zur tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen im Berufsleben mit Hilfe von Quoten entnehmen möchte 362 , kommt nicht umhin, Einschränkungen der Berufsfreiheit auf seiten des jeweils benachteiligten Geschlechts hinzunehmen. Insgesamt zeigt sich, daß das Grundgesetz dem Staat mitunter Aufgaben überträgt, deren Erfüllung Grundrechtseinschränkungen mit sich bringen kann. Aufgrund solcher Staatsaufgabenbestimmungen können auch Einschränkungen vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte wie der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden. Die genannten Aufgabenbestimmungen erweisen sich, ähnlich wie manche Kompetenzvorschriften 363 , als thematisch eingegrenzte Gesetzesvorbehalte der Gewissensfreiheit. Der Gesetzgeber ist berufen, die für die Erfüllung der "dem Staat" zugewiesenen Aufgaben die rechtlichen Grundlagen zu schaffen. Er ist es, der, gestützt auf Staatsaufgabenbestimmungen, die Schranken des Grundrechts in ihren Grundzügen festlegt. Die Gerichte haben - nicht grundlegend anders als bei der Arbeit mit den Schranken der religiösen Freiheitsrechte die Aufgabe zu prüfen, ob das einfache Gesetz den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips entspricht. Im Rahmen der dazu erforderlichen Abwägung sollten sie Fallgruppen bilden, um möglichst abstrakte Entscheidungskriterien zu gewinnen 364 • d) Kollidierende Grundrechte Dritter Zu einer Beschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG können ferner Grundrechte Dritter führen 365 • Grundrechtskolli359 Nicht nur Kompetenzbestimmungen, sondern auch Art. 12a, Art. 24 GG, vgl. Scholz, in: Maunz I Dürig, GG Art. 12a Rn. 3 f. 360 Schotz, in: Maunz I Dürig, GG Art. 12a Rn. 5. 361 Vgl. Schotz, in: Maunz I Dürig, GG Art. 12a Rn. 14. 362 Zum Problem Franz Klein, in: Schmidt-Bleibtreu I Klein, GG Art. 3 Rn. 39a m. Nachw. 363 Oben b.
Dazu i.e. bereits oben S. 241 ff. Vgl. BVerfGE 28,243,261; soweit das BVerfG, ebd., daneben auf "andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte" abstellt, kann ihm jedoch, wie dargelegt (oben a - c) in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Aus der Literatur zur Beschränkung von Grundrechten durch Grundrechte Dritter vgl. etwa Sachs, in: Stern, Staatsrecht ill/2, S. 601; Stern, ebd., S. 602ff. mit umfangr. Nachw. 364
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
sionen, bei denen zwei oder mehr für tatsächliche Verhaltensweisen unterschiedlicher Grundrechtsträger in Anspruch genommene Grundrechte gegeneinanderstehen 366 , sind allgegenwärtig 367 . Jede Grundrechtsverwirklichung "prallt", wie Günter Dürig es einmal ausgedrückt hat, "auf die gleichen Rechte der anderen,,368. Das gilt auch für die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG. Wenn etwa der Angestellte sich unter Berufung auf sein Gewissen weigert, eine bestimmte Arbeit zu verrichten, kollidiert seine Gewissensfreiheit mit den Grundrechten seines Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG 369 . Wer sich aus Gewissensgründen weigert, einem anderen Hilfe zu leisten, kann eine Kollision der Gewissensfreiheit mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG herbeiführen 37o . Die Möglichkeit der Grundrechtskollision ist so selbstverständlich, daß an der Eigenschaft kollidierender Grundrechte als Schranken371 vorbehaltlos garantierter Grundrechte im Grundsatz kein Zweifel besteht. Nach wie vor ungeklärt ist dagegen die Frage, wie die Kollisionslage gelöst werden soll und welche Bedeutung dabei der Vorbehaltlosigkeit einzelner Grundrechte zukommt. Das Bundesverfassungsgericht löst Grundrechtskollisionen - ganz auf der Linie des Lüth-Urteils 372 - regelmäßig mit Hilfe einer einzelfallbezogenen Abwägung 373 der widerstreitenden (grundrechtlich geschützten) Belange374 . In der Literatur entwickelte Modelle für eine abstrakte Lösung des Kollisionsproblems 375 sind vom Bundesverfassungsgericht nicht aufgegriffen worden376 . Das Gericht bevorzugt ein offenes, subjektiv eingefärbtes Argumentationsschema377 , welches ihm die Möglichkeit beläßt, eine Lösung aufgrund der Besonderheiten des konkre366 Zur Begriffsbestimmung vgl. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 1 f. mit umfangr. Nachw.; ferner Stern, Staatsrecht III/2, S. 607; zur Vermeidung von Scheinkollisionen präzisierend Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. II, S. 453, 461. Bedenken gegen den Begriff der Grundrechtskollision, soweit die Kollisionslage das Privatrecht betrifft, bei Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 167; Starck, JuS 1981,237, 245. 367 Vgl. Stern, Staatsrecht III / 2, S. 608. 368 Vgl. Dürig, in: Summum ius, summa iniuria, S. 80, 83. 369 Vgl. Rüfner, RdA 1992, 1,4. 370 Vgl. dazu den Fall BVerfGE 32, 98. 371 Zu den Voraussetzungen, unter denen die Grundrechte Dritter sogar verfassungsimmanente Grenzen grundrechtlicher Schutzbereiche darstellen, oben S. 215 ff., 220 ff. 372 Vgl. Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, S. 119, 122 mit umfangr. Nachw. in Fn. 621; zum Lüth-Urteil bereits oben S. 235 mit Fn. 84 ff. 373 Vgl. zu diesem Vorgehen des BVerfG bereits oben S. 201 mit Fn. 37; S. 225 f.; S. 236 mitFn.86. 374 Vgl. die Analyse Sterns, Staatsrecht III/2, S. 615 ff., 620 mit Nachw. 375 Zu ihnen Stern, Staatsrecht III/2, S. 61Off. 376 Vgl. den Befund von Stern, Staatsrecht III/2, S. 615. 377 Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 620.
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ten Falles zu finden. Auf die Probleme, die eine solche Methode aus verfassungsrechtlicher Sicht in sich birgt, wurde bereits hingewiesen 378 . Den richtigen Lösungsansatz dürfte die Einsicht bieten, daß das Grundgesetz Kollisionen gegenläufiger Grundrechte möglichst379 nicht im Sinne eines Entweder-Oder auf der Ebene des Verfassungsrechts gelöst sehen möchte. Es versteht sie als notwendige Folge der Gemeinschaftsbezogenheie so des einzelnen und sieht ihre Lösung vordringlich als Aufgabe der Instanz an, die die Regel für den Alltag der Menschen aufzustellen berufen ist: des Gesetzgebers. Die Lösung von Grundrechtskollisionen ist vor allem eine Aufgabe der Rechtsgestaltung, mithin der Gesetzgebung 381 • Ist der Gesetzgeber allerdings untätig geblieben, nehmen die Behörden und Gerichte eine Abwägung der gegenläufigen grundrechtlichen Belange im Einzelfall vor. Alle Rechtsgebiete, Zivil- und Strafrecht ebenso wie das öffentliche Recht, enthalten Regelungen zur Auflösung von KOllisionslagen 382 . Das Zivilrecht hat es stets mit widerstreitenden Interessen verschiedener Bürger zu tun383 . Es stellt deshalb, nicht anders als das Strafrecht, für Konflikte durchdachte und in langer Tradition erprobte Regeln zur Verfügung 384 . Aber auch das öffentliche Recht mußte Mechanismen zur Konfliktlösung entwickeln. § 80a VwGO ist nur ein Beispiel von vielen 385 . Der Gesetzgeber ist ohne weiteres zur Schaffung solcher Regelungen legitimiert, wenn die hinter dem Konflikt stehenden Grundrechtsnormen ihm durch Gesetzesvorbehalt Regelungsbefugnisse einräumen386 . Daraus folgt jedoch nicht, daß dort, wo ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht (wie die Kunstfreiheit aus Art. 5 Oben S. 237 ff. Zu Ausnahmen, die sich aus verfassungsimmanenten Grenzen der Grundrechte ergeben, oben S. 206 ff., 215 ff. 380 Dazu oben S. 29, S. 33 mit Fn. 49, S. 57, S. 63 mit Fn. 14. 381 Rüfner, Festg. BVerfG, Bd. 11, S. 453, 472; vgl. auch dens., Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 221 f., 223 f.; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 272 ff.; a.A.: Denninger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI § 146 Rn. 41, der nur den "schwierigen Lösungsweg einer unmittelbaren Verfassungsgüterabwägung" für gangbar hält; ähnlich Canaris, JuS 1989, 161, 172 (,,Abwägung auf der Ebene der Verfassung"). 382 Vgl. Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 221 f. mit Beispielen; ausführlich Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 366ff. 383 Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 221. 384 Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215,217. Im Zivilrecht steht das Problem der Grundrechtskollisionen in engem Zusammenhang mit dem der Drittwirkung, vgl. neben dem angeführten Aufsatz von Rüfner: Schnapp, JuS 1978,729, 733; Starck, JuS 1981, 237, 245; mit Blick auf die Praxis des BVerfG Stern, Staatsrecht III/2, S. 647; Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, S. 116. 385 Näher Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 374ff., 384; Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 221. 386 Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 613. 378
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
Abs. 3 Satz 1 GG) mit einem unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrecht (wie der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG)387 kollidiert, gesetzliche Beschränkungen nur des letzteren möglich sind. Die Gesetzesvorbehalte des Grundgesetzes sind, so wie sie formuliert sind, nicht auf die Lösung von Kollisionsfällen zugeschnitten. Der Verfassunggeber ging bei der Formulierung der Grundrechtsvorschriften von einem Verständnis der jeweiligen Gesetzesvorbehalte als Instrumente zur Durchsetzung von Gemeinschaftsinteressen aus 388 . Auch nach Erlaß des Grundgesetzes entsprach es verbreiteter Auffassung, daß die Funktion der Gesetzesvorbehalte vor allem darin besteht, die Ausübung des Grundrechts mit Blick auf ,,höhere Werte der Gemeinschaft,,389 zu beschränken. Erst allmählich setzte sich die Einsicht durch, daß auf grundrechtliche Gesetzesvorbehalte gestützte Rechtsvorschriften auch privaten Interessen dienen 390 und so ein Instrument zur Lösung von Grundrechtskollisionen sein können. Bei der Auflösung eines solchen Konflikts muß die Freiheit des einen wie die des anderen in möglichst weitem Umfang gewahrt werden. Die Aufgabe besteht in einer Zuordnung der gegenläufigen Rechtspositionen im Sinne praktischer Konkordanz 391 . Die Gesetzgebung dient dabei der Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit, nicht primär ihrer Beschränkung. Für die Herstellung praktischer Konkordanz bieten die zu anderen Zwecken konzipierten Gesetzesvorbehalte nicht die allein maßgebliche verfassungsrechtliche Grundlage. Daher steht auch das Fehlen eines Gesetzesvorbehaltes bei einzelnen Grundrechten gesetzlichen Vorgaben zur Lösung der Grundrechtskollision nicht entgegen. Das Grundgesetz enthält ,,keine ausdrückliche Kollisionsauflösungsregel,,392. Eine solche Regel kann auch den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten nicht entnommen werden. Die Lösung einer Grundrechtskollision ist häufig nicht möglich, ohne die Ausübung eines Grundrechts in einer Weise zu beschränken, die als Grundrechtseingriff qualifiziert werden muß oder ihm zumindest nahekommt. Auch ein Eingriff in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte kann erforderlich sein, wie das Beispiel des nächtlichen Trompetensolos 393 , das Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist, zeigt. Aus der Unvermeidbarkeit des Grundrechtseingriffs ergibt sich, welZu diesem Konflikt bereits oben S. 222 mit Fn. 195 f. Vgl. Abg. Dr. v. Mangoldt, in: v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. 1 (1951), S. 177. 389 Harnel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat, S. 33; vgl. auch ebd., S. 44f., 60f.; ferner dens., Deutsches Staatsrecht I. Grundbegriffe, S. 82f.; näher zu diesem Verständnis der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 133 f. 390 So vor allem Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 133,203. 391 Vgl. Rüjner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 224 m.w.N.; zur Herstellung praktischer Konkordanz bereits oben S. 10; S. 63 mit Fn. 17. 392 Stern, Staatsrecht IIII2, S. 635. Vgl. auch die Formulierung des VG Berlin NJW 1995, 2650, 2651, in Fällen von Grundrechtskollisionen müsse die Rechtsordnung "gewissermaßen Vorfahrtsregeln" entwickeln. 393 Vgl. bereits oben S. 256. 387 388
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che staatliche Instanz den Ausgleich 394 der gegenläufig grundrechtlich geschützten Interessen vorzunehmen hat. Der Grundrechtseingriff ruft den Gesetzgeber auf den Plan. Eine staatliche Maßnahme, die einen Grundrechtseingriff darstellt, bedarf einer gesetzlichen Grundlage 395 . Der Vorbehalt des Gesetzes gilt für Eingriffe in Grundrechte, die bereits nach ihrem Wortlaut nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden können (z. B. Art. 12 Abs. 1 GG), wie auch für Grundrechte, deren Wortlaut dies nicht erlaubt (wie die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG)396. Dies wird bei dem in Rechtsprechung und Literatur oft sehr raschen Zugriff auf die Konkordanzformel nicht selten übersehen 397 . Vorbehaltlos normierte Grundrechte unterliegen in Bezug auf Grundrechtseingriffe nicht weniger strengen rechtlichen Sicherungen als unter Gesetzes- oder Regelungsvorbehalt stehende Grundrechte 398 . Der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes deckt sich nicht mit dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt399 . Aber auch unabhängig von dem Gedanken des Grundrechtseingriffs bedarf die Auflösung einer Grundrechtskollision gesetzlicher Vorgaben. Der Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalt400 ist längst nicht mehr nur ein Eingriffsvorbehalt40l . Die sog. Wesentlichkeitstheorie steht für den Gedanken, daß es auch staatliche Entscheidungen geben kann, die, ohne Eingriffe zu sein, weittragende Folgen und Auswirkungen für die Gemeinschaft und den einzelnen haben. Der Gesetzgeber, so lautet diese Doktrin, hat - losgelöst vom Merkmal des Eingriffs - in grundlegenden normativen Bereichen, zumal auf dem Feld der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen402 . Dabei ist im grundrechtsrelevanten Bereich "wesentlich", was "wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" ist403 . Mögen diese Kriterien sich für eine Vielzahl von Problemkonstellationen auch als zu unbestimmt erweisen404 , für die Frage, welche Instanz bei der Auflö394 Zur Notwendigkeit, im Wege der Abwägung einen Ausgleich zu finden, Lübbe-Wolff, Oie Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 168. 395 Vgl. nur Schoch, OVBI. 1991,667,670 mit umfangr. Nachw. 3% Vgl. BVerwGE 90,112,122 (mit Blick auf die nach Ansicht des BVerwG vorbehaltlos gewährleistete Religionsfreiheit); ferner Schoch, OVBI. 1991,667,672 m.w.N. 397 Oaraufweisen mit Recht Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 560 Fn. 74, hin. 398 Schoch,OVBI. 1991,667,672. 399 V gl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 7; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62 Rn. 12. 400 Zu diesem Begriffspaar Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62 Rn. 40 m.w.N. 401 Vgl. nur BVerfGE 47, 46, 78 f.; Ossenbühl, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. JOf.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62 Rn. 22 ff. 402 BVerfGE 49,89, 126f. m.w.N. zur Rspr. des BVerfG. 403 BVerfGE 47,46,79 m.w.N. 404 V gl. nur die Kritik von Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 11; Ossenbühl, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 18; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62 Rn. 38.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
sung von Grundrechtskollisionen die maßgeblichen Entscheidungen zu treffen hat, sind sie tragfähig. Denn hier besteht kein Zweifel darüber, daß die Entscheidung grundrechtsrelevant ist. Sie ist "wesentlich für die Verwirklichung,,405 der beteiligten Grundrechte. In weiten Bereichen, insbesondere im Privatrecht, bestehen längst gesetzliche Vorgaben zur Lösung von Grundrechtskollisionen. Wer einen anderen mit Werbung für ein Kunstwerk überschüttet und dabei dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt, kann analog § 1004 Abs. I BGB einem Anspruch auf Unterlassung ausgesetzt sein, obwohl er sich in dem von Art. 5 Abs. 3 GG geschützten "Wirkbereich" der Kunstfreiheitsgarantie bewegt406 . Der Trompeter muß beim Üben in seiner Wohnung die Vorgaben der §§ 862 Abs. 1,858 Abs. 1 BGB 407 bzw. der §§ 1004, 906 BGB 408 sowie die des öffentlich-rechtlichen Immissionsschutzes409 beachten. Für die Entscheidung des Streits ist zunächst nicht vom Verfassungsrecht, sondern vom einfachen Recht auszugehen 410 . Die Gerichte wenden das einfache Recht an, prüfen aber die vom Gesetzgeber vorgegebene Lösung daraufhin, ob sie auf beiden Seiten der Kollisionslage den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips entspricht. Die dazu erforderliche Abwägung sollten sie wiederum, an Fallgruppen orientiert, abstrakt-generell vornehmen.
Soweit das einfache Recht zur Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte führt, bleibt allerdings der entscheidende Unterschied zur gesetzlichen Einschränkung anderer Grundrechte zu beachten: Während die Einschränkung von Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt nur den üblichen Schranken-Schranken411 , insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt, müssen einfache Gesetze, die die Ausübung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte beschränken, dem Schutz kollidierender Grundrechte Dritter dienen (oder einem anderen Belang, der von Verfassungs wegen die Einschränkung des Grundrechts rechtfertigt412). Der Kreis der verfassungsrechtlich legitimen Gesetzgebungsziele ist wesentlich kleiner als BVerfGE 47, 46, 79. Zum Abwehranspruch gegen Briefkastenwerbung vgl. etwa Palandt-Bassenge, § 1004 Rn. 7 mit umfangr. Nachw. 407 Zu geräuschvoller Nutzung der Wohnung als Besitzstörung vgl. Palandt-Bassenge, BGB § 858 Rn. 6 m.w.N. 408 "Zu Musik als Einwirkung i.S.v. § 906 BGB Palandt-Bassenge, BGB § 906 Rn. 8 m.w.N. 409 In diesem Fall z. B. § 10 LImSchG NW. 410 Gegen eine "Vergrundrechtlichung" des gesamten Rechts Starck, JuS 1981,237,247; vgl. auch Redeker, NJW 1995, 3369, 3370, der bei dem BVerfG den Glauben daran ausgemacht hat, "aus der dünnen Luft der Grundrechtstotalität das Miteinander der Menschen in der sozialen Gemeinschaft lenken und bestimmen zu können" (Hervorhebung nicht im Original); gegen übergroßen Einfluß des Verfassungsrechts auf das Privatrecht Rüjner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215, 230. Nachw. zur Gegenmeinung bereits oben Fn. 381. 411 Dazu bereits oben S. 237 mit Fn. 96; S. 242 mit Fn. 138 u. 143. 412 Dazuoben abis c. 405
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14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt413 • Dieser Besonderheit muß das einfache Recht, das zu Einschränkungen vorbehaltloser Grundrechte führt, Rechnung tragen, wenn nicht der Unterschied zwischen diesen Grundrechten und solchen, die einen Gesetzesvorbehalt aufweisen414 , eingeebnet werden soll. 3. Zwischenergebnis
Die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. I GG unterliegt, obwohl ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet, Einschränkungen, die sich aus anderen Verfassungsbestimmungen ergeben. Zu ihnen zählen einige (wenige) Kompetenzbestimmungen der Art. 73 ff., Art. 83 ff., Art. 105 ff. GG415 , Staatsaufgabenbestimmungen außerhalb der Kompetenzzuweisungen 416 , insbesondere Art. 7 Abs. I GG, und vor allem kollidierende Grundrechte Dritter417 • In jedem Falle ist der Gesetzgeber die primär zuständige Stelle, um die Schranken der Gewissensfreiheit zu bestimmen. Nur wenn das einfache Recht keine Lösung des Konflikts vorsieht, kommt eine Abwägung der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Belange im Einzelfall in Betracht. Der Nachvollzug der von dem Gesetzgeber getroffenen Regelung und der sie ausführenden Entscheidungen der Behörden durch die Gerichte erfolgt nicht anders als bei den unter einem Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechten der Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit. Soweit die Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes in Rede steht, haben die Gerichte eine abstraktgeneralisierende Abwägung vorzunehmen, für die sie sich an - im Laufe der Zeit zu erarbeitenden - Fallgruppen orientieren können4lS • Anders als bei Einschränkungen der Religionsfreiheit müssen die Gerichte aber darauf achten, daß das die Gewissensfreiheit beschränkende einfache Gesetz einem Zweck dient, der von den genannten Verfassungsbestimmungen (Kompetenz- oder Staatsaufgabenbestimmungen, Grundrechte Dritter) getragen ist.
413 Im Grundsatz auch Sachs, JuS 1995, 984, 989, wenn er betont, daß gesetzliche Beschränkungen von Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt "den qualifizierenden Anforderungen, denen die Gesetzgebung dabei genügen muß," unterliegen. 414 Zum Fehlen eines ungeschriebenen Vorbehaltes der allgemeinen Gesetze bei vorbehaltlosen Grundrechten oben S. 253 ff. 415 Oben S. 263 ff. 416 Oben S. 267 ff. 417 Oben S. 269 ff. 418 Vgl. oben S. 241 ff. Dezidiert mit Blick auf Grundrechtskollisionen Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 274 ff.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
C. Die Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften I. Das für alle geltende Gesetz Nicht grundlegend anders als bei den Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sind die Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften 419 gern. Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV zu bestimmen. Wie die Religionsausübungs- und die Gewissensfreiheit weist auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften einen sehr offenen, objektiver Präzisierung nur begrenzt zugänglichen Tatbestand aut20 . Was die Religionsgemeinschaften zu ,,ihren Angelegenheiten" zählen, können - mangels objektiver Interpretationskriterien - nur sie selbst entscheiden 421 • Ähnlich wie die Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 140 GG LY.m. Art. 136 Abs. 1 WRV steht, ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften gern. Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV unter dem Vorbehalt "der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" gewährleistet. Auch das "für alle geltende Gesetz" ist ein allgemeines Gesetz, das Sondergesetze gegen die Religionsgemeinschaften ausschließt422 . Es muß sich um ein Gesetz handeln, das für Religionsgemeinschaften dieselbe Bedeutung hat wie für den Jedermann423 • Die staatlichen Gesetze "mögen beiläufig und unge419 Wiederum nur zur Entlastung des Textes wird darauf verzichtet, gern. Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 7 WRVauch die Weltanschauungsgemeinschaften jeweils als Träger des Selbstbestimmungsrechts anzuführen. 420 Vgl. zur Religionsausübungsfreiheit oben S. 152f., zur Gewissensfreiheit oben S. 154ff., S. 253. 421 Oben S. 192 mit Fn. 474. 422 Vgl. W Weber ,,Allgemeines Gesetz" und "für alle geltendes Gesetz", in: ders., Staat und Kirche in der Gegenwart, S. 340, 347 f. mit umfangr. Nachw.; ferner Preuß, AK-GG, Art. 140 Rn. 28; zum ähnlichen Verständnis des Vorbehaltes aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRVoben S. 231 ff. 423 BVerfGE 42,312,334; 66, 1,20. Vgl. auch Hollerbach, in: Isensee I Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 138 Rn. 117. In der Entscheidung BVerfGE 42,312,333, wendet sich das BVerfG allerdings gegen eine Gleichsetzung des Vorbehaltes aus Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV und Art. 5 Abs. 2 GG; diese mit den besonderen Verhältnissen von Staat und Kirche begründete Sichtweise ist noch deutlich von heute überholten koordinationsrechtlichen Grundgedanken (zur Koordinationstheorie oben S. 77 mit Fn. 45 f.;S. 111 f. mit Fn. 183 ff.) getragen und berücksichtigt nicht hinreichend, daß die Religionsgemeinschaften der staatlichen Rechtshoheit unterstehen wie jeder andere gesellschaftliche Verband, vgl. bereits oben S. 112 mit Fn. 188. Die Formel dient im Text nur der Begriffsbestimmung. Es soll nicht die in BVerfGE 42,312, 333 f. an sie anknüpfende Rspr. rezipiert wj:rden. Der ,Jedermann"-Formel des BVerfG zustimmend: Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Marre I Schümmelfeder I Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), S. 141, 143; ablehnend gegenüber der im Text vorgetragenen Interpretation der Schrankenklausel des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, S. 150 f., 152 f. m. w.N.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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zielt das Selbstbestimmungsrecht von Kirchen und Religionsgemeinschaften beeinträchtigen, aber sie dürfen nicht gezielt und unmittelbar darauf Einfluß nehmen wollen,,424.
11. Die Notwendigkeit abstrakt-typologisch vorgeprägter Abwägung Wie bei der Anwendung des Vorbehaltes der allgemeinen Gesetze aus Art. 5 Abs. 2 GG und des Gesetzesvorbehaltes in Art. 140 GG i.Y.m. Art. 136 Abs. I WRV425 begnügen sich Rechtsprechung und h.L. 426 bei der Bestimmung der Schranken des Selbstbestimmungsrechts nicht mit der Feststellung, daß ein einschränkendes Gesetz ein "für alle geltendes Gesetz" ist. Auch hier wird die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 5 Abs. 2 GG entwickelte sog. Wechselwirkungstheorie angewandt427 . Die Schrankenklausel wird nicht isoliert gesehen, sondern zum Ansatzpunkt einer abwägenden Zuordnung der gegenläufigen Interessen gemacht: der Freiheit der Religionsgemeinschaften einerseits und des Rechtsgutes, welches in dem einschränkenden Gesetz seinen Niederschlag gefunden hat, andererseits428 . Dabei blicken die Gerichte auf das von der betreffenden Gemeinschaft im konkreten Fall verfolgte Interesse429 (etwa die Unterhaltung eines "Bibe1heims" mit Unterkunft und Verpflegung), welchem sie sodann den mit dem ein424 v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG Art. 1401 Art. 137 WRV, Rn. 130 (S. 157), der allerdings, ebd., Rn. 129, die Jedermann-Formel ablehnt; vgl. auch Ehlers, ZevkR 32 (1987), S. 158, 169. 425 Bei der Anwendung dieses Gesetzesvorbehaltes wird die Wechselwirkungstheorie in der Literatur häufig ausdrücklich verlangt, vgl. oben S. 236 mit Fn. 91. Die - nicht auf Art. 136 Abs. 1 WRV zurückgreifende - Rspr. verweist dagegen nicht ausdrücklich auf die Wechselwirkungstheorie, geht aber der Sache nach nicht anders vor, als es auf dem Boden dieser Lehre der Fall wäre. 426 Zur Einschätzung der im folgenden referierten Position als herrschend vgl. v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 1401 Art. 137 WRV Rn. 123. Anders Hesse, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 549, der meint, eine herrschende Auffassung sei kaum auszumachen. 427 BVerfGE 53, 366, 401; 72, 278, 289: "Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck"; vorher bereits M. Heckei, VVDStRL 26 (1968), S. 5, 16: "Beziehung und Wechselwirkung zu dem Freiheitsgehalt der Verfassungsgarantie"; vgl. ferner Hollerbach, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 138 Rn. 119; Zippelius, BK Art. 4 (Drittbearbeitung), Rn. 90; Badura, in: Listl/Pirson (Hrsg.)., HdbStKirchR2 , Bd. I, 211, 244; Link/de Wall, JZ 1992, 1152, 1153 m.w.N. Zu anderen Modellen für eine Begrenzung der Schrankenklausel des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV vgl. den Überblick bei Maurer, FS Menger, 1985, S. 285, 291 f. Zur Wechselwirkungstheorie bereits oben S. 235 f. 428 Hesse, in: ListllPirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, 549ff.; v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 140/ Art. 137 WRV, Rn. 126f. 429 Deutlich bereits BVerfGE 42,312,333 (formal noch auf dem Boden der ,,Jedermann"Formel), wo das Gericht betont, daß "die Schrankenklausel erst in Verbindung mit einem konkreten Sachverhalt ihre besondere Färbung und Aussagekraft erhält". Vgl. auch Hess. VGH NVwZ 1995, 505, 507 m.w.N.: "einzelfallbezogene Güterabwägung".
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
fachen Gesetz (etwa dem Gaststättengesetz)43o verfolgten Zweck gegenüberstellen431. Die einzelfallbezogene Betrachtungsweise bei der Ermittlung der Schranken des Selbstbestimmungsrechts unterliegt denselben Bedenken, wie sie zur Schrankenbestimmung nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Rechtsprechung und h.L. bereits oben formuliert wurden 432 . Darüber hinaus zeigt sich auch bei einer Anwendung der "Wechselwirkungstheorie" auf Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV, daß auf der Grundlage dieser Lehre das Selbstverständnis des Rechtsträgers in die Bestimmung der Schranken einfließt433 . Das Bundesverfassungsgericht spricht dies offen aus, wenn es herausstellt, daß bei der Güterabwägung, die gemäß der "Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck,,434 vorgenommen werden müsse, das Selbstverständnis der Kirchen besondere Bedeutung habe. So hat das Gericht nicht nur betont, daß Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen als auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter gewährleistet. Es hat vielmehr darüber hinaus mehrfach hervorgehoben, daß im Rahmen der erforderlichen Güterabwägung "dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen" sei435 . Dagegen erheben sich Bedenken, weil bei Gewährleistungen wie dem 430 Beispiel nach VGH BW GewArch. 1989,378,379 = KirchE 27, 177, 180f.; deutlich auch die Vorinstanz VG Karlsruhe KirchE 26,211,213: "Die von Verfassungs wegen gebotene Güterabwägung führt in vorliegendem Fall zu dem Ergebnis, daß das Gaststättengesetz auf den Betrieb des ,Haus Felsengrund' keine Anwendung findet." 431 Vgl. die Analyse von Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 248 ("einzelfallbezogene Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck"). 432 S. 237 ff. 433 Im Ergebnis auch Wieland, Der Staat 1986, S. 321, 336; ders., DB 1987, 1633, 1634 f.; ihm zustimmend Kleine, Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 157 f.; vgl. auch Goerlich, JZ 1995,955,956, der mit Blick auf die selbstverständnisorientierte Rspr. des BVerfG zu dem Ergebnis kommt, das Gericht habe "die Schrankenformel des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV jeder Griffigkeit beraubt"; daß das Selbstverständnis auch bei der Bestimmung der Schranken Bedeutung erlangt, wird bestritten von Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 247, pass., der im Rahmen der Güterabwägung auf seiten des einschränkenden Gesetzes das "Selbstverständnis des Staates" verortet; in der Sache kommt Isak dennoch zu einer Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaft auch auf der Schrankenebene, wenn er, ebd. S. 247, dem Selbstbestimmungsrecht (dessen Schutzbereich durch das religiöse Selbstverständnis bestimmt werde) einen "grundsätzlichen Vorrang gegenüber ,nur' einfachgesetzlich geschützten Gütern" einräumt. 434 BVerfGE 66, 1,22. 435 BVerfGE 53, 366,401; 66, 1, 22; 70, 138, 167; vgl. auch BVerwG NJW 1996, 3287, 3288; zustimmend Lücke, EuGRZ 1995, 651, 658; ähnlich Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 438; relativierend Hesse, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 521, der, S. 555 Fn. 112 a.E., die Rspr. des BVerfG insoweit als "nicht bedenkenfrei" be-
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Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, deren Tatbestand weithin vom Selbstverständnis ausgefüllt wird, die der Ausübung des Rechts entgegenstehenden Gemeinwohlbelange 436 vor allem mit Hilfe der Schranken des Rechts durchgesetzt werden müssen. Dies wird aber (zumindest) erheblich erschwert, wenn in der Abwägung des Selbstbestimmungsrechts mit gegenläufigen Belangen von vornherein das Selbstbestimmungsrecht ein besonderes Gewicht hat. Für Abhilfe kann auch bei der Schrankenbestimmung im Bereich des Art. 140 GG LY.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRVeine weniger am Einzelfall orientierte Entscheidungsfindung sorgen437 • Im Rahmen einer abstrakten, an Fallgruppen orientierten Abwägung, ist für eine besondere Beachtung des einzelnen, im konkreten Fall betroffenen Interesses kein Raum. Dann stehen sich nur noch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und der von dem einschränkenden Gesetz geschützte Gemeinwohlbelang als abstrakte, vom Einzelfall unabhängige Güter gegenüber. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich - mehr noch als im Bereich der Grundrechte438 - Ansätze für eine solche abstrakt-typologische Abwägung. So unterscheidet das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Geltung des staatlichen Vereinsrechts (§§ 21 ff. BGB) für religiöse Vereine439 die innere Organisation des Vereins von den nach außen wirkenden Angelegenheiten und Rechtsverhältnissen44o • Während die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, die die Beziehungen des Vereins nach außen regeln, im Interesse der Sicherheit und Klarheit des Rechtsverkehrs 441 auch von religiösen Vereinen einzuhalten sind, sind sie bei der Ausgestaltung ihrer inneren Angelegenheiten und ihren Beziehungen zu einer Religionsgemeinschaft nicht an das staatliche Vereinsrecht gebunden442 • Eine ähnliche Abgrenzung haben die Gerichte zur Beantwortung der Frage gefunden, inwieweit die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften der staatlichen Gerichtsbarkeit unterliegen. Danach sind Rechtsstreitigkeiten, die die innere Organisation der Religionsgemeinschaften einschließlich des selbst gesetzten Amtsrechts betreffen, der Entscheidungskompetenz staatlicher Gezeichnet und vorschlägt, auf die genannte Fonnulierung des BVerfG "zur Venneidung von Mißverständnissen" zu verzichten. Auch lsak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 50 f., 54 f., spricht von einer mißverständlichen Fonnulierung. lsaks, ebd. S. 50 f., vorgenommene Deutung, daß das Selbstbestimmungsrecht im Anwendungsfeld des Art. 4 Abs. 2 GG besondere Bedeutung habe, mag von BVerfGE 53, 366, 401, getragen werden; in den späteren Entscheidungen findet sich der Hinweis auf Art. 4 Abs. 2 GG jedoch, worauf lsak a. a. O. mit Recht hinweist, nicht mehr. 436 Zu ihrer Berücksichtigung oben 3. Kap. 437 Vgl. bereits oben S. 242ff. mit Fn. 147ff.; gegen eine abstrakte, an Verfassungsgütern orientierte Abwägung spricht sich im Hinblick auf die Schranken des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG LV.m. Art. 137 Abs. 3 WRV Lücke, EuGRZ 1995,651,658, aus. 438 Oben S. 242 ff. mit Fn. 147 ff. 439 Zu ihnen bereits oben S. 165 ff. 440 BVerfGE 83, 341, 358. 441 BVerfGE 83, 341, 358. 442 Näher dazu Muckel, in: Listl I Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR2 , Bd. I, S. 827, 837 m.w.N.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
richte entzogen443 . Stets liefert die abstrakte, an Fallgruppen und Präjudizien444 orientierte Abwägung hinreichend deutliche Entscheidungsmaßstäbe zur Lösung des Einzelfalls. Die Aufgabe, mit Hilfe von Fallgruppen einzelfallunabhängige Entscheidungsvorgaben zu entwickeln, ist vor allem den Gerichten (den Fachgerichten ebenso wie dem Bundesverfassungsgericht445 ) übertragen. Sie erarbeiten die typisierten Maßstäbe für die Lösung konkreter Einzelfälle. Für die Zukunft liefern sie damit der eigenen Rechtsprechungsarbeit und den Behörden verläßliche Entscheidungskriterien. Zwar wird auch durch die Orientierung an Fallgruppen die "Möglichkeit des Einfließens subjektiver Vorstellungen,,446 nicht gänzlich ausgeschlossen. Die Anwendung der "Schranken des für alle geltenden Gesetzes" wird aber ein Stück weit objektiviert. Damit steigen die Chancen, das dem Gemeinwohl verpflichtete allgemeine Gesetz gegenüber dem abweichenden Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft durchzusetzen. Zugleich wird der Prozeß der Entscheidungsfindung berechenbarer und transparenter, als es bei einzelfallorientierten Lösungen der Fall ist.
111. Einzelne Fälle abstrakt-typologiscber Scbrankenziehung
Wie bei den Schranken der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG447 seien auch die Überlegungen zu Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) an einigen Beispielen erläutert. Dabei sollen, da die neuartigen religiösen Gemeinschaften und ihre Mitglieder sich bislang vor allem auf Art. 4 GG, nicht aber auf das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV berufen, einige Fälle aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsstellung der christlichen Kirchen beleuchtet werden. Es wird sich zeigen, daß die hier unterbreiteten Vorschläge zur Bestimmung der Schranken des Selbstbestimmungsrechts in ihren Ergebnissen nicht von denjenigen abweichen müssen, zu denen das Bundesverfassungsgericht gelangte. 443 BVerfGE 18, 385, 387 f.; BVerfG NVwZ 1985,105; BVerwGE 66,241,243 ff.; BVerwG NVwZ 1985, 672; vgl. auch Listl, DÖV 1984, 587, 588; ders., DÖV 1989, 409, 410, der, S. 411 ff., Fallgruppen zur weiteren Präzisierung aufzeigt; zu den verschiedenen Fallgruppen auch Maurer, FS Menger, 1985, S. 285, 286 ff.; Rüfner, in: Friesenhahn 1Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR 1, Bd. 11, S. 759, 763 ff.; zur Kritik vgl. statt vieler v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, GG Art. 1401 Art. 137 Rn. 112ff., 225 ff.; Steiner, NJW 1983,2560; M. HeckeI, FS Lerche, S. 213, 220ff.; grundlegend: Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956; Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, 1991. 444 Dazu oben S. 241 ff. 445 Vgl. oben S. 247 den Hinweis, daß die abstrakt-generelle Abwägung nicht von anderen Instanzen vorgenommen werden soll als denjenigen, die gegenwärtig die gegenläufigen Belange zueinander ins Verhältnis setzen. 446 Maurer, FS Menger, 1985, S. 285, 293. 447 Oben S. 250 ff.
14. Kap.: Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte
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In einer Entscheidung vom 25. 3. 1980448 war das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befaßt, ob bestimmte Vorschriften des nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetzes mit Art. 140 GG i.v.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV vereinbar waren. Es handelte sich um Normen über die Organisation der Krankenhäuser im Hinblick auf die Bildung von Rechenzentren, die Leitung des einzelnen Krankenhauses und die Beteiligung ärztlicher Mitarbeiter449 . Mit Recht sah das Bundesverfassungsgericht die von den christlichen Großkirchen nahestehenden Trägern betriebenen Krankenhäuser als Angelegenheiten der Kirchen an450. Eine hinreichend formalisierte Zuordnung des Trägers zur Religionsgemeinschaft451 lag vor. Das Gericht ließ die Frage, ob die angegriffenen Vorschriften des Krankenhausgesetzes ein für alle geltendes Gesetz i.S. des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV sind, offen452 , weil es mit Blick auf die "Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck,,453 zu dem Ergebnis kam, daß die Organisations- und Personalhoheit der Kirchen in unzulässiger Weise eingeschränkt sei454 .
Nach den oben formulierten Überlegungen müssen die erwähnten Vorschriften des nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetzes als ein für alle geltendes Gesetz angesehen werden455 , da sie kein religionspolitisch motiviertes Sonderrecht enthalten. Für die Frage, ob sie in einer dem Verhältnismäßigkeitsprinzip widersprechenden Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen eingreifen, kann auf den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsatz verwiesen werden, daß Vorschriften, die auf die kirchliche Willensbildung und Organisation, auf das ,,Procedere" Einfluß nehmen456 , dem staatlichen Gesetzgeber verwehrt sind. Mit diesem Gedanken hat das Bundesverfassungsgericht die Grundlage für eine Fallgruppe gelegt, an der sich künftige Entscheidungen (aller mit derartigen Fragen befaßten staatlichen Organe) orientieren können. Dies zeigt sich schon daran, daß das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung vom 14. 5. 1986 zur Geltung des Berufsbildungsgesetzes für kirchliche Einrichtungen darauf abstellen konnte, daß das "Procedere" der kirchlichen Arbeit betroffen war457 . Ebenso hätte im Streit um die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes in Einrichtungen der Kirche 458 auf diesen Gedanken abgestellt werden können, wenn das Gesetz nicht schon eine Regelung enthalten hätte, die die Religionsgemeinschaften und 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458
BVerfGE 53, 366. Im einzelnen vgl. BVerfGE 53, 366, 369 ff. BVerfGE 53, 366, 391 ff. Zu diesem Erfordernis oben S. 194 mit Fn. 490ff. BVerfGE 53, 366, 399 f. BVerfGE 53,366,401; vgl. auch ebd. S. 404. BVerfGE 53, 366, 404 f. So auch Rottmann, Sondervotum, in: BVerfGE 53, 408, 414. BVerfGE 53, 366, 402. BVerfGE 72, 278, 294. BVerfGE 46, 73.
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3. Teil: Inhalt und Grenzen religiöser Freiheitsrechte
ihre karitativen sowie erzieherischen Einrichtungen von seiner Anwendung ausnahm459 . Auch der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 6. 1985 zum kirchlichen Arbeitsrecht460 ist im Ergebnis zuzustimmen. Das Bundesverfassungsgericht geht zu Recht davon aus, daß das staatliche Kündigungsschutzrecht nach § 1 KSchG sowie die Vorschrift des § 626 BGB zu dem für alle geltenden Gesetz i.S. des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV gerechnet werden müssen461 • Fraglich kann nur sein, ob die Anwendung des staatlichen Rechts das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, gemessen an den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, übermäßig einschränkt. Diese Wertungsfrage kann mit dem Bundesverfassungsgericht, ungeachtet seiner kritikwürdigen Überlegungen zu einem besonderen Gewicht des kirchlichen Selbstverständnisses462, in der Weise beantwortet werden, daß die Kirche ihren Mitarbeitern besondere Loyalitätsobliegenheiten auferlegen kann, ohne daß sie durch das staatliche Arbeitsrecht in Frage gestellt werden dürfen463 • Das Gericht hat damit abstrakte Grundsätze für die Stellung des ,,kirchlichen Propriums,,464 im Kündigungsschutzrecht aufgestellt, die die einfachen Gerichte in der Folgezeit in einer Vielzahl von Einzelfällen zur Anwendung bringen konnten465 . Nichts anderes gilt, wie gesehen466, auch für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Geltung des staatlichen Vereinsrechts für religiöse Vereine467 . Auch in dieser Entscheidung werden Fallgruppen gebildet, bei deren Beachtung eine Abwägung der gegenläufigen Belange im Einzelfall obsolet ist.
459 Das BVerfG mußte daher nur prüfen, ob das Krankenhaus, dessen Träger Verfassungsbeschwerde erhoben hatte, dieser Ausnahmeklausel unterfieI, BVerfGE 46, 73, 94 ff. 460 BVerfGE 70, 138. 461 BVerfGE 70, 138, 166 f. 462 Dazu oben S. 278 mit Fn. 435. 463 BVerfGE 70, 138, 167. 464 BVerfGE 70, 138, 165. 465 Dazu statt vieler Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, §§ 5 ff. mit umfangr. Nachw. 466 Oben S. 279 f. mit Fn. 439 ff. 467 BVerfGE 83, 341.
Schlußbemerkung Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland zu bilden begonnen hat, macht staatliches Handeln unumgänglich. Der Staat muß anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gegenüber Interessen, die als religiös fundiert bezeichnet werden, Gemeinwohlbelange durchsetzen. Die Notwendigkeit hierzu wird vor allem belegt durch die Aktivitäten der häufig als ,,Jugendsekten" apostrophierten neuartigen (pseudo-) religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften und die vielfältigen Gefahren, die von ihnen ausgehen. Das Grundgesetz schützt Religion und Weltanschauung, bietet aber zugleich den staatlichen Stellen hinreichende Möglichkeiten, ihre Gemeinwohlverantwortung auch in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug wahrzunehmen. Die Verfassung weist .ihnen das Letztentscheidungsrecht auch dann zu, wenn sich ein einzelner oder eine Gemeinschaft auf die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 2, 3 und 7 WRV beruft. Dieses Letztentscheidungsrecht äußert sich auf der Ebene des Schutzbereichs der einzelnen Gewährleistungen darin, daß der Staat für die fraglichen Rechtsbegriffe die Definitionsmacht inne hat. Die Verfassung hält ihn dazu an, diese Definitionsmacht nach der Maxime möglichst objektiver Interpretation auszuüben. Die staatliche Definitionsmacht gibt den jeweils zuständigen Stellen nicht die Befugnis zu freier Bestimmung der Begriffsinhalte. Die staatlichen Instanzen sind vielmehr gehalten, sich um eine objektive Interpretation zu bemühen468 • Gleichwohl werden sie häufig an das Selbstverständnis des Rechtsträgers anknüpfen müssen. Der allein maßgeblich Interpretationstopos ist das Selbstverständnis jedoch nicht. Soweit der Schutzbereich eines dem Schutz von Religion und Weltanschauung dienenden Freiheitsrechts betroffen ist, üben die staatlichen Stellen ihr Letztentscheidungsrecht aus, indem sie von den jeweiligen Gewährleistungsschranken Gebrauch machen und, gestützt auf die Vorgaben des einfachen Rechts, dem religiös oder weltanschaulich begründeten Begehren entgegentreten. Bei allem bleibt die Grundrechtsbindung der staatlichen Stellen unangetastet. Vereinseitigungen zulasten wie zugunsten der Freiheit werden der vom Grundgesetz geformten Verfassungsordnung nicht gerecht. Sie läßt der Religion und den Religionsgemeinschaften weitreichende Freiräume zur Entfaltung in allen Bereichen des Lebens, erlaubt aber zugleich, bestimmten als gemeinwohlschädlich erkannten Aktivitäten wirkungsvoll entgegenzutreten. 468
Vgl. bereits das Zwischenergebnis S. 121 f.
Zusammenfassende Thesen 1. Veränderungen des religiösen Lebens in Deutschland, insbesondere das Aufkommen des Islam und neuartiger (pseudo-) religiöser oder weltanschaulicher Bewegungen, legen die Frage nahe, ob die bisherige, vornehmlich in der Auseinandersetzung mit christlichen Glaubensvorstellungen entwickelte Interpretation der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit überdacht werden muß. Die herrschende, stark dem Selbstverständnis des einzelnen bzw. einer Gemeinschaft verpflichtete Deutung der Gewährleistungen aus Art. 4 Abs. I und 2 GG sowie Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV stößt auf Schwierigkeiten bei der Frage, ob eine bislang unbekannte Lehre als Religion oder Weltanschauung und eine bestimmte Verhaltensweise vom Schutzbereich der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie umfaßt ist. Dieses Problem kann nicht durch eine Aktualisierung der Gewährleistungsschranken umgangen werden. Auf der Grundlage der herrschenden Interpretation religiöser Freiheitsrechte hat der Staat nicht die Möglichkeit, in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug die verbindliche Letztentscheidung zu treffen.
2. Diese Befugnis steht staatlichen Stellen aber aus verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Gründen zu. a) Insoweit ist zunächst die vom Grundgesetz vorausges,:tzte und in ihm angelegte staatliche Verantwortung für das Gemeinwohl zu ne'nnen. Die neuartigen (pseudo-) religiösen Gemeinschaften und ihre Praktiken führen dem Verfassungsinterpreten deutlich vor Augen, daß auch auf die Garantien religiöser Freiheit gestützte Interessen mit Belangen des Gemeinwohls in Einklang gebracht werden müssen. b) Methodischer Ausgangspunkt einer näheren Prüfung des Spannungsverhältnisses von staatlichem Handeln im Interesse des Gemeinwohls und verfassungsrechtlich geschützter religiöser Selbstbestimmung ist die vom staatlichen Recht ausgehende ..staatliche Sicht" der Verfassungsinterpretation. Dabei ist die Reichweite der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit nur auf der Grundlage des geltenden positiven Rechts zu bestimmen. Aus einem vorstaatlichen Menschenrecht der Religionsfreiheit lassen sich für die nähere Interpretation der in Art. 4 Abs. I und 2 GG enthaltenen Gewährleistungen keine Schlußfolgerungen ziehen. c) Die grundrechtstheoretische Basis des staatlichen Letztentscheidungsrechts in Angelegenheiten mit religiösem Bezug ist zum einen die Feststellung, daß die als multifunktional erkannten Grundrechte nicht auf der Grundlage einer bestimm-
Zusammenfassende Thesen
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ten, allein ,,richtigen" Grundrechtstheorie (etwa der sog. Wertetheorie der Grundrechte) interpretiert werden können. Zum anderen bedarf es der Einsicht, daß den Grundrechten kein Gebot zur Maximierung der individuellen Freiheit innewohnt. Die dem individuellen Selbstverständnis verpflichtete Lehre weiter grundrechtlicher Tatbestände führt im Verhältnis zu anderen verfassungsrechtlich anerkannten Belangen zu einer vereinseitigenden Überbetonung des Grundrechtsschutzes. Sie steht in der Gefahr, die Grundrechte als normativ nicht näher konturierte Programmsätze zu deuten, mit der Folge, daß Unklarheit entsteht über die juristische Wirkkraft des jeweiligen Grundrechts und der im Einzelfall gegenläufigen Verfassungsnormen. d) Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates verlangt von staatlichen Stellen nicht den Rückzug von einer näheren Bestimmung der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit. Der Neutralitätsgedanke erschöpft sich nicht in dem an den Staat gerichteten Gebot, sich nicht mit einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Konzeption zu identifizieren. Das Neutralitätsgebot beinhaltet darüber hinaus einen "Aufruf zur Staatlichkeit" (Klaus Schlaich) und erfordert insoweit die staatliche Ordnungsgarantie. Sie äußert sich in der Befugnis des Staates zur Letztentscheidung in Angelegenheiten mit religiösem Bezug. e) Für diese Befugnis spricht auch die religionsrechtliche Parität. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Befreiung schulpflichtiger Kinder vom Sportunterricht macht deutlich, wie leicht eine subjektivistische Grundrechtsinterpretation in einen Widerspruch zum Paritätsgebot geraten kann. Um der Rechtsgleichheit willen muß der Bereich, den die Grundrechtsinterpretation subjektiver Einschätzung überläßt, mit Hilfe objektiver Kriterien eingegrenzt werden. t) Schließlich streitet auch die innere Souveränität des Staates, verstanden als rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft, für ein staatliches Letztentscheidungsrecht im Konflikt zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen. Eine vor allem dem Selbstverständnis verpflichtete Interpretation der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit läuft Gefahr, das Verhältnis von Bürger, Staat und Gesellschaft, wie es dem Grundgesetz zugrunde liegt, auf den Kopf zu stellen.
g) Insgesamt steht dem Staat in Angelegenheiten mit religiösem Bezug in zweierlei Hinsicht die Befugnis verbindlicher Letztentscheidung zu. Zum einen ist er auf der Ebene der grundrechtlichen Tatbestände - verpflichtet, die religiös geprägten Rechtsbegriffe soweit als möglich anhand objektiver Kriterien zu interpretieren. Dm trifft insoweit nicht ein Definitionsverbot, sondern ein Definitionsgebot. Zum anderen ist er - auf der Schrankenebene - gehalten, der Durchsetzung religiös oder weltanschaulich motivierter Interessen gegenläufige Belange entgegenzusetzen. 3. Bei dem Versuch, die Schutzbereiche der verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit möglichst nach objektiven Kriterien zu interpretieren, zeigt sich,
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daß einzelne Bereiche religiöser Freiheit objektiver Bestimmung unzugänglich sind, die Verfassung vielmehr an das religiöse Selbstverständnis des Rechtsträgers anknüpft. Dies ergibt sich aus einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Gewährleistungen. a) Die Verfassung statuiert mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit, das den einzelnen berechtigt, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und so seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Es sind vielmehr die verschiedenen, vom Wortlaut des Grundgesetzes (insbesondere in Art. 4 Abs. 1 und 2) vorgegebenen Garantien zu unterscheiden. b) Alle diese Garantien knüpfen an die Begriffe der Religion und der Weltanschauung an. Der Versuch, (objektive) inhaltliche Anforderungen an eine Religion oder Weltanschauung im Sinne des Grundgesetzes aufzuzeigen, führt jedoch nur begrenzt zum Erfolg. Festgestellt werden kann lediglich, daß Religion bzw. Weltanschauung eine Überzeugung ist, die für den Betroffenen in besonderer Weise verbindlich, mit seiner personalen Identität verknüpft ist. Erhöhte Verbindlichkeit entfaltet eine Überzeugung, wenn sie Fragen nach Herkunft und Ziel des Daseins, der Stellung des Menschen in der Welt und dem abstrakten Sinn des Lebens zum Gegenstand hat. Im übrigen muß die nähere Bestimmung einer Lehre als Religion oder Weltanschauung auf das Selbstverständnis des einzelnen oder der Gemeinschaft zurückgreifen. Von einer Reiigions- oder Weltanschauungs gemeinschaft kann allerdings nicht gesprochen werden, wenn eine bestimmte Lehre nur als Vorwand für wirtschaftliche oder politische Ziele dient. Eine Unterscheidung von Religion und Weltanschauung nach objektiven Kriterien ist verfassungsrechtlich nicht möglich. c) Weitgehend mit Hilfe objektiver Kriterien bestimmbar sind einzelne verfassungsrechtlich geschützte Verhaltensformen religiöser Freiheit. Das gilt für die Schutzbereiche der Glaubensfreiheit, der Bekenntnisfreiheit und der religiösen Vereinigungsfreiheit. Nicht in jeder HInsicht nach feststehenden Kriterien abgrenzbar sind dagegen die Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 2 GG und die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG. Doch können zwei Aspekte zur Eingrenzung der Gewissensfreiheit auf der Ebene des Schutzbereichs aufgezeigt werden. Dies sind das Verständnis dieses Grundrechts als Abwehrrecht gegenüber aufgezwungenen Konflikten (nicht aber als Handlungsrecht zur Beeinflussung der Umwelt nach den Vorstellungen des Rechtsträgers) und das - von Matthias Herdegen herausgestellte - Kriterium der persönlichen Verantwortung für den fraglichen, als unzumutbar empfundenen Vorgang. Eine nähere Prüfung des Verhältnisses von kollektiver Religionsfreiheit und dem grundrechtlichen Schutz des einzelnen zeigt weitere Aspekte zur Präzisierung des individuellen Grundrechtsschutzes auf der Schutzbereichsebene auf. d) Der Tatbestand des durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungsgemein-
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schaften kann nicht durch objektive Merkmale umschrieben werden. Nur die Religionsgemeinschaften können bestimmen, was zu ,,ihren Angelegenheiten" zählt. Entscheidend ist daher ihr Selbstverständnis. 4. Objektive Kriterien zur näheren Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche sind neben den bereits angeführten Gesichtspunkten die sog. verfassungsimmanenten Grenzen der einzelnen Gewährleistungen. Als solche Grenzen erweisen sich das Gewaltverbot sowie einzelne Rechte Dritter, und zwar die Menschenwürdegarantie und das Recht auf Leben. Die Anmaßung, fremde Rechtsgüter zu gebrauchen oder über sie zu bestimmen, liegt insgesamt außerhalb grundrechtlicher Schutzbereiche. Infolgedessen erweisen sich auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz I GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) als verfassungsimmanente Grenzen religiöser Freiheit. 5. Soweit ein Verhalten vom Schutzbereich eines Freiheitsrechts umfaßt ist, bedarf es einer exakten Prüfung der jeweiligen Gewährleistungsschranken. Auch sie sind Ausdruck des staatlichen Letztentscheidungsrechts, ausgeübt durch den Gesetzgeber. a) Die Schranke der Glaubens-, der Bekenntnis- und der Religionsausübungsfreiheit findet sich in Art. 140 GG LV.m. Art. 136 Abs. 1 WRY. Diese Bestimmung stellt die genannten Grundrechte unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze, die sich nicht gegen Glauben, Bekenntnis oder Religionsausübung als solche wenden. Die gesetzliche Schranke darf nicht nach dem Muster der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten "Wechselwirkungstheorie" durch eine Abwägung mit dem grundrechtlichen Schutzgut unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls relativiert werden. Andererseits muß wegen der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte auch das einschränkende allgemeine Gesetz verfassungsrechtlicher Prüfung zugänglich sein. Den Ansatz hierfür bieten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die von ihm ermöglichte Suche nach "praktischer Konkordanz" der betroffenen Belange. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit Le.S.) sollte aber nicht eine am Einzelfall ansetzende Interessenabwägung, sondern eine abstrakt-generelle Güterabwägung vorgenommen werden. Sie orientiert sich nicht an einer (allenfalls nur in Ansätzen nachweisbaren) Rangordnung verfassungsrechtlicher Güter, sondern an "abstrakt formulierten, falltypischen Entscheidungsmustern" (Fritz Ossenbühl). Insoweit können Fallgruppen mit je typischen Abwägungsgesichtspunkten und Entscheidungskriterien gebildet werden. b) In gleicher Weise sind die Schranken des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften aus Art. 140 GG i.Y.m. Art. 137 Abs. 3 WRV zu bestimmen. Auch das "für alle geltende Gesetz" im Sinne dieser Vorschrift kann nur ein allgemeines Gesetz sein, das kein Sonderrecht für Religionsgemeinschaften enthält. Im Rahmen einer abstrakt-typologisch vorgeprägten Abwägung können das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und der von dem allgemeinen Gesetz geschützte Gemeinwohlbelang gegenübergestellt werden.
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c) Demgegenüber steht das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht unter einem Gesetzesvorbehalt. Auch ein ungeschriebener Vorbehalt der allgemeinen Gesetze kann für die Gewissensfreiheit nicht nachgewiesen werden. Die Schranken dieses Grundrechts ergeben sich allein aus anderen Verfassungsnormen. Bei der Bestimmung der die Gewissensfreiheit einschränkenden Vorschriften qmß allerdings größere Sorgfalt angewandt werden als in weiten Bereichen der bisher mit dem Problem befaßten Rechtsprechung und Literatur.
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Sachverzeichnis Absolutismus: 93 f. Abtreibung s. Schwangerschaftsabbruch Abwägung - Abwägungsbelange: 201 f. - Dezisionismus: 198 f. - einfachrechtlich geschützte Belange: 21, 239 einzelfallbezogene: 198 f., 235 ff., 240 ff., 270f., 278 Entwertung der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte: 238 f. - Gewaltanwendung s. Gewaltverbot - kein abwägungsfreier Grundrechtsschutz: 245 - Meinungsfreiheit: 232 f., 235 f. - Menschenwürde s. Menschenwürdegarantie - nicht "alles oder nichts": 10 - Nivellierung von Grundrechtsschranken s. Grundrechtsschranken - praktische Konkordanz s. dort - Probleme: 201 f. - Rechtssicherheit, verminderte: 199,240 - Selbstverständnis des Rechtsträgers: 10, 20 - typisierende Güterabwägung: 241 ff., 274,277ff. - Wechselwirkungstheorie s. dort allgemeine Gesetze - Begriff: 231 ff. - Schranke der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: 230 ff. - Sonderrechtslehre: 232 f. - ungeschriebene Grundrechtsschranken: 228,255ff. Altkleidersarnrn1ung: 14 Anarchismus, religiöser: 211 Apostasie: 65 m. Fn. 31, 66 m. Fn. 37, 218 m. Fn. 161 Arbeitsrecht, kirchliches: 28~
Ausstrahlungswirkung der Grundrechte s. Grundrechte Baha'(-Entscheidung s. Bundesverfassungsgericht Bekenntnisfreiheit - eigenständige Gewährleistung: 127 f. - Kundgabe religiöser Überzeugungen: 145 ff. - negative Seite: 147 - Recht auf Lebensführung gemäß religiösen Überzeugungen: 146 - Weimarer Reichsverfassung: 127 f., 145 f. - Werbung für Religion s. dort Bekenntnisschule: 10 Bereichsscheidungslehre s. Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften Beschneidung s. Gewaltverbot Bhagwan s. Osho Bhagwan-Gruppe s. Osho-Rajneesh-Bewegung Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates: 267f. Bundesverfassungsgericht - Baha'(-Entscheidung: 7 f. m. Fn. 14 - E1fes-Urteil: 227 - judicial self-restraint: 243 - Lüth-Urteil: 233, 270 Kulturvölkerformel s. dort Lumpensammlerfall: 13 f. - spezifisches Verfassungsrecht als Prüfungsmaßstab: 243 Superrevisionsgericht: 243 Church of Scientology s. Scientology Datenschutz: 33 Davidianer: 65 Definitionsgebot: 122, 123
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Sachverzeichnis
Definitionsmacht: 46, s. auch Letztentscheidungsrecht Definitionsverbot: 54, 122 Demokratie, wehrhafte: 207 Demokratisierung der Gesellschaft: 98 Fn.72 Ehe und Familie: 66 Ehrenschutz, Verhältnis zur Meinungsfreiheit: 33 f., 58, 221, 247 einfaches Recht s. Schranken der Grundrechte aus Art. 4 Abs. I und 2 GG Einheit der Rechtsordnung: 11 f. Einheit der Verfassung: 56, 264 Elfes-Urteil s. Bundesverfassungsgericht Episkopalsystem: 108 Ersatzreligionen, säkulare: 4 Febronianismus: 108 flirty fishing s. "Kinder Gottes" Freiheit, s. auch Gemeinwohl - Freiheitssicherung als Staatszweck s. Staatszwecke - und Gleichheit: 86, 88 Freiheitsvennutung: 54 ff. - Gefahr der Vereinseitigung: 55 ff. - in dubio pro libertate: 54 Friedenspflicht der Bürger s. Gewaltverbot Gallikanismus: 108 Gemeinschaftsbezogenheit des einzelnen: 29,33,57,63,271 Gemeinwohl Beeinträchtigung durch neuartige Gemeinschaften: 8 f. - Begriff: 29 f. - Durchsetzung mit Hilfe von Grundrechtsschranken: 239,266 - Grundrechte als Hürden für gemeinwohldienliches Staatshandeln: 23 f. - Interpretation des Art. 4 GG: 8 f. - Konkretisierung: 30 - staatliches Handeln im Interesse des Gemeinwohls: 27ff., 31 ff., 109f. - und Selbstbestimmung des einzelnen: 32ff. - Verantwortung des einzelnen: 30 f.
- Verantwortung des Staates in religiösen Fragen: 34 ff., 283 Gerichtsbarkeit, staatliche über Angelegenheiten von Religionsgemeinschaften: 279f. Gesellschaft - multireligiöse: 144 - Staat und Gesellschaft s. Staat Gewalt im gesellschaftlichen Leben: 58 Gewaltbegriff s. Gewaltverbot Gewaltmonopol s. Gewaltverbot Gewaltverbot - Beschneidung: 214 - Friedenspflicht der Bürger: 213 f. - Gewaltbegriff: 209 ff. - Gewaltmonopol: 209, 210, 212 - Grenze jeder Grundrechtsausübung: 212 ff. - Grenze religiöser Freiheit: 214 - grundlegendes Prinzip der Verfassung: 209 - im Kampf gegen die verfassungsrechtliche Ordnung: 209 - keine Abwägung im Einzelfall: 213 f. - Prügelstrafe: 214 Gewissen - Begriff: 154 - und Rechtsordnung: 159 Gewissensfreiheit - Abwehrrecht gegenüber aufgezwungenen Konflikten: 154 ff. - eigenständiges Grundrecht: 155, 175 - Funktion: 158 f. - Gewissen s. dort Gewissenskonflikt, Substantiierungspflicht: 173 f. - "Glaubens- und Gewissensfreiheit": s. Glaubensfreiheit - historische Entwicklung: 157 f. - im Rahmen des eigenen Verantwortungsbereichs: 162 f. - lästige Alternative: 159 m. Fn. 238, 259 f. - psychische Unversehrtheit: 257 - schonender Ausgleich: 22, 259 ff. - Schranken: 22, 158, 259ff. - entgegenstehendes Verfassungsrecht: 259 ff., 261 ff. - kein Gesetzesvorbehalt: 158, 253 ff.
Sachverzeichnis - Schutzbereich: 22, 154ff. - und allgemeine Handlungsfreiheit: 157 - und Lehre einer Religionsgemeinschaft: 173, 175 f. - Verhältnis zu anderen Grundrechten in Art 4 GG: 155 ff., 161 f., 258 - Verstärkung des Grundrechtsschutzes für religiöse Interessen: 21 f. - Wohlwollensgebot: 260 f. Glauben, Verfassungsbegriff: 5 f. Glaubensfreiheit - eigenständige Gewährleistung: 127, 139 - Gedankenfreiheit: 139 f. - Glauben s. dort "Glaubens- und Gewissensfreiheit": 22, 127, 155, 158 historische Entwicklung: 129 m. Fn. 29 - negative Seite: 140ff. Gleichberechtigung von Mann und Frau: 66 Glockenläuten: 149 Grundpflichten: 31 Grundrechte - Ausdruck der Toleranzidee: 118 - Ausstrahlungswirkung: II - Bestimmtheit: 61 ff. - Freiheitsvermutung s. dort - Grenzen, verfassungsimmanente s. verfassungsimmanente Grenzen - "Grundrechtsdemokratie": 28 - Grundrechtsindividualismus: 56 - Grundrechtsmißbrauch s. dort - Grundrechtsoptimierung: 56, 58 f. - Grundrechtstheorie s. dort - Ideologieanfälligkeit: 46 f. - materiale Elemente: 59 - Maximierung der individuellen Freiheit: 53ff. - Minderheitenschutz: 180 f. - Mißbrauch s. Grundrechtsmißbrauch - Multifunktionalität: 51 - negative Seite: 141 ff., 144 f., 168 f. - objektiv-rechtliche Dimension: 67 f. - Offenheit: 53, 59 - Prinzipien: 53 ff. - rechtsgeprägte: 12, 254 f. - sachgeprägte: 12 f., 53, 254 f:
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- sachlich begrenzte Verbürgungen: 51 ff., 129f. - Schranken s. Grundrechtsschranken - Schutzpflichten: 51, 67ff., 213 - Verwirkung s. Grundrechtsmißbrauch - weite Tatbestandstheorie: 9 Fn. 23 u. 25, 53 ff., 203 f. Grundrechtseingriff: 24 m. Fn. 123, 62, 68f., 272f. - Schutzeingriff: 69 Grundrechtskollision: 63 m. Fn. 15, 104, 256,269ff. Grundrechtskonkurrenz: 155 m. Fn. 212 Grundrechtsmißbrauch - durch neuartige Gemeinschaften: 130 m. Fn. 35, 204 f. - keine allgemeine Grundrechtsschranke: 204ff. - keine eigenständige verfassungsrechtliche Bedeutung: 205 f. - Vermeidbarkeit: 130 - Verwirkung: 31,205,208,263 Grundrechtsschranken - Abwägung s. dort - Gemeinwohlbezug: 239 - Gesetzesvorbehalte - als "Urteilsvorbehalte": 240 - Bedeutung im Vergleich mit Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt: 274 f. - zum Schutz von Privatinteressen: 272 - Grundrechtsmißbrauch s. dort - Kompetenzbestimmungen: 263 ff. - Nivellierung aufgrund von Abwägungen: 201 "Schrankenwirrwarr": 237 Staatsaufgabenbestimmungen: 267 ff. Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse: 248 f. - verfassungsimmanente Grenzen s. dort Wechselwirkungstheorie s. dort Grundrechtsschutz - prima facie: 9 f., 56, 58 Grundrechtstheorie demokratisch-funktio~e: 48,59 Fn. 116 Funktionen: 47,50 - institutionelle: 48 - Kritik: 49 ff. - liberale: 47f.
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Sachverzeichnis
- sozialstaatliche: 48 - Wertetheorie: 48 ff. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit s. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Handlungsfreiheit, allgemeine: 52, s. auch verfassungsmäßige Ordnung i. S. d. Art. 2 Abs. I GG Hare-Krishna: 3 Hedonismus: 4 heiliger Krieg: 211 Individualisierung: 58 Individualismus: 29, 33, 57, 58 f. in dubio pro libertate s. Freiheitsvermutung informationelle Selbstbestimmung: 33 Integrationslehre: 48 ISKON s. Hare-Krishna Islam: 3 - Apostasie s. dort - keine kirchenähnlichen Organisationen: 21,85,174 - körperliche Strafen: 214 - Organisationen und Zentren in Deutschland: 85 Todesurteile: 65 Josephinismus: 108 Jugendsekte: 2 f., s. auch neuartige (pseudo-) religiöse bzw. weltanschauliche Gemeinschaften "Kinder Gottes": 64 f. m. Fn. 25 - flirty fishing: 64 f., 146 Kirche - Akzeptanz: 1 f. - gesellschaftlicher Verband: 112 - Kirchenbindung, Kirchenzugehörigkeit: lf. - Öffentlichkeitsauftrag: 111 Kirchenasyl: 22,110 Fn. 175, 160f. Kirchenregiment, landesherrliches: 108 f. Kollegialismus: 108 Kollektive Religionsfreiheit: 169 ff. - Bekenntnis und Religionsausübung durch Personengemeinschaften: 169 f.
- kollektive positive und individuelle negative Religionsfreiheit: 176 ff., s. auch Kreuz im Schulraum, Schulgebet - Zusammenhang mit Individualrechten: 170ff. Kollektivismus: 29 Körperschaft des öffentlichen Rechts, Verleihung der Körperschaftsrechte: 10 Kompetenzvorschriften als Grundrechtsschranken s. Grundrechtsschranken Konkordanz, praktische s. praktische Konkordanz Koordinationstheorie: 44 Fn. 46, 77, 105 Fn. 132,111 f., 276 Fn. 423 Kopftuch: 13, 146 f. Koran: 83 Kreuz im Schulraum: 119, 154 Fn. 200, 176ff. Kulturvölkerformel: 15, 151 Kultusfreiheit s. Religionsausübungsfreiheit Leben s. Recht auf Leben Letztentscheidung des Staates - durch staatliches Gericht: 24 - in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug: 24 f., 456 f. - Interpretationsprimat: 69, 114 life-sty le: 4 Lüth-Urteil s. Bundesverfassungsgericht Maev: 65 Fn. 27 Materialismus: 4 Meinungsfreiheit, Verhältnis zum Ehrenschutz s. Ehrenschutz Menschenwürde, als Staatszweck s. Staatszwecke Menschenwürdegarantie - nasciturus: 218 Objektformel: 216 Unmöglichkeit der Abwägung im Einzelfall: 215f. verfassungsimmanente Grundrechtsgrenze: 215 ff. Mißbrauch von Grundrechten s. Grundrechtsmißbrauch multireligiöse Gesellschaft s. Gesellschaft Mun, San Myung: 3 Mun-Sekte s. Vereinigungskirche
Sachverzeichnis Naturrecht: 41 ff. neminem laedere: 220 ff. neuartige (pseudo-) religiöse bzw. weltanschauliche Gemeinschaften - Austritt: 66 - Begriff: 2f. m. Fn. 12 - Gefahren: 64 ff. - Selbstverständnis s. dort - Verfassungsprobleme: 5 ff. neue religiöse Phänomene - nicht nur vorübergehende Erscheinungen: 3f. Neutralität des Staates, religiös-weltanschauliche: 71 ff. - Argument für eine selbstverständnisorientierte Grundrechtsinterpretation: 71 - Ausdruck der Säkularität: 40, 80 f. - Grundlage staatlicher Letztentscheidung: 71 ff., 75 ff. - Nichtidentifikation: 75 f., 178 - Verfassungsprinzip: 72 - verfassungsrechtliche Grundlagen: 72 f. - Vieldeutigkeit des Neutralitätsbegriffs: 72ff. Normen, Geltung: 43 Nothilfe: 217 Notwehr: 217 objektiv, Begriff: 25 m. Fn. 126 Okkultismus: 4 Organexplantation: 218 Osho-Rajneesh-Bewegung: 3, 35, 138 Parität, religiös-weltanschauliche - durch staatliche Letztentscheidung: 82 ff., 86ff. Freiheit und Gleichheit s. Freiheit - Gefahren für die Parität: 82 ff. Rechtsgrundlagen: 82 - staatsbürgerliche: 82 - staatskirchenrechtliche: 82 Paßfotos, Pflicht zur Vorlage: 161 Persönlichkeit, freie Entfaltung s. Handlungsfreiheit, allgemeine Persönlichkeitsrecht, allgemeines: 221 f., s. auch Ehrenschutz Pluralismus
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- religiös-weltanschaulicher: 5, 61, 87, 113, 151, 197,283 - verfassungsrechtliche Probleme: 5 ff. politische Ziele von Gemeinschaften s. Religionsgemeinschaften positive Religionspflege: 73 positives Recht: 43 f. praktische Konkordanz: 10, 63, 242, 272, s. auch schonender Ausgleich - Ausdruck des Toleranzgedankens: 120 prima-facie-Schutz s. Grundrechtsschutz Prügelstrafe s. Gewaltverbot Psychotechniken: 139 m. Fn. 92, 146 Recht auf Leben - nasciturus: 218 ff. - verfassungsimmanente Grundrechtsgrenze: 217 ff. Rechtsbegriffe, religiös geprägte: 5 ff. - einheitliche Interpretation: 10 f. - im einfachen Recht: 11 - "offene Flanke der Grundrechtsinterpretation": 6 Rechtsordnung - Einheit der, s. dort - Widerspruchsfreiheit: 12 Religiöse Vereine: 165 ff. - Geltung des staatlichen Vereinsrechts: 166f., 279, 282 - Idealverein: 167 - Träger des Selbstbestimmungsrechts der Religions- und der Weltanschauungs gemeinschaften: 192 ff. - Verbot: 166f. Religiöse Vereinigungsfreiheit - Bildung religiöser Vereine: 165 ff. - Bildung von Religionsgemeinschaften: 164f. - Entstehungsgeschichte: 164 - keine einheitliche verfassungsrechtliche Grundlage: 163 ff. - negative Seite: 167 ff. - Verfassungsbeschwerde: 164 f. Religiöses Leben in Deutschland - Aufarbeitung politisch, soziologisch, religionswissenschaftlich: 5 - Veränderungen: 1 ff.
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Religion - außeIjuristische Deutung: 44 f. - nicht nur Privatsache: 111 Unterschied zur Weltanschauung: 135 ff. Verfassungsbegriff: 5 ff., 131 ff., 152 Religionsausübung Glockenläuten s. dort - in Gemeinschaften: 169f. kein fest umrissener Begriff: 149 ff. - kultische Handlungen: 149 ff. Schächten s. Tierschutz Religionsausübungsfreiheit - eigenständiges Grundrecht: 128 f. - Freiheit der Ausübung von Religion und Weltanschauung: 148 ff. - historische Entwicklung: 128 f. - kein numerus c1ausus der Betätigungsformen: 151 - negative Seite: 153 f. - öffentliche und private Grundrechtsausübung: 129 - Personengemeinschaften: 169 f. - Religionsausübung s. dort - Tradition s. dort - Verhältnis zur Gewissensfreiheit s. Gewissensfreiheit Religionsfreiheit - Bekenntnisfreiheit s. dort - christliche Tradition als Interpretationstopos s. Tradition - Eingrenzungen des Grundrechtsschutzes in Rechtsprechung und Literatur: 14 ff. - einheitliches Grundrecht: 14, 125 ff. - extensive Interpretation: 126 - Glaubensfreiheit s. dort - Grenzen, verfassungsimmanente s. Verfassungsimmanente Grenzen - Interpretation nach objektiven Gesichtspunkten: 24 f. - kollektive s. Kollektive Religionsfreiheit - Kultusfreiheit s. Religionsausübungsfreiheit - Mißbrauch: 15 - negative: 177 ff., s. auch Bekenntnisfreiheit, Glaubensfreiheit, Religiöse Vereinigungsfreiheit, Religionsausübungsfreiheit - Produkt der Aufklärung: 4.,1
- Recht, das gesamte Leben an religiösen Überzeugungen auszurichten: 14, 16, 126, 128 - Religionsausübungsfreiheit s. dort - Schranken s. Schranken der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - Schutzbereich(e) und Schranken: 8 ff., 125 ff., 224 ff. - Vereinigungsfreiheit s. Religiöse Vereinigungsfreiheit - verschiedene Grundrechte: 126 ff. - vor- bzw. überstaatliches Menschenrecht: 41 ff. - Weimarer Reichsverfassung: 127 f. - Zusammenhang mit dem Staatskirchenrecht: 228 ff. Religionsgemeinschaft - Austritt: 167,214 - Grundrechtsträger: 169 f. - politische Ziele: 7, 134 f. - religiöser Konsens: 173 - Verbot: 166 Fn. 284 - Verfassungsbegriff: 5 - Verfassungskonforrnität: 208 f. - wirtschaftliche Betätigung: 7, 132 ff. religionsneutrale Verhaltensweisen: 14 Religionswissenschaft: 44 f. Säkularisierung: 2 säkulare Ersatzreligionen s. Ersatzreligionen Säkularität des Staates s. Staat Schächten s. Tierschutz Schädigungsverbot s. neminem laedere Scharia s. Islam schonender Ausgleich: 63 f., 69, 119 f., 180, 215f., 219, 242, 259ff., s. auch praktische Konkordanz Schranken der Grundrechte s. Grundrechtsschranken Schranken der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und2GG - Abmi1derung des Geltungsanspruchs einfachen Rechts: 20 f. - allgemeine Gesetze s. dort - einfachrechtliche Beschränkungen: 17 ff., 224ff. - Ausländerrecht: 19 - Beamtenrecht: 17, 250
Sachverzeichnis - Gewerberecht: 19,251 - Schulpflicht s. dort - Staatsangehörigkeitsrecht: 18 - Straßemecht: 18, 250 f. - Tierschutzrecht: 19 f., 251 f. - Gesetzesvorbehalt - im geltenden Verfassungsrecht: 224 ff., s. auch allgemeine Gesetze - Vorschlag der Verfassungsänderung: 21 - Gewissensfreiheit s. dort Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: 16, 225 f. Schulgebet: 119, 176ff. Schulkreuz s. Kreuz im Schulraum Schulpflicht - Befreiung vom Sportunterricht: 17, 22, 83 ff., 161, 174 Fn. 340, 253, 268 - Beschränkung der Religionsfreiheit: 17, 251 Schutzpflicht s. Grundrechte Schwangerschaftsabbruch: 218 ff. Scientology: 3, 8 Fn. 19,35, 133 f., 138, 167 Sekten: 2 f., s. neuartige (pseudo-) religiöse bzw. weltanschauliche Gemeinschaften Selbstbestimmung - Ausdruck grundrechtlicher Freiheit: 27 f. - Grenzen: 28 ff. - informationelle: s. dort Selbstbestimmungsrecht der Religions- und der Weltanschauungsgemeinschaften: 23, 181 ff., 276ff. - Ergänzung der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: 172, 183 - Freiheitsrecht: 186f., 190f. - geschichtliche Entwicklung: 187 ff. - Schranken des für alle geltenden Gesetzes: 276ff. - Arbeitsrecht: 282 - Begriff: 276f. - Krankenhausgesetz: 281 - Notwendigkeit abstrakt-typologisch vorgeprägter Abwägungen: 277 ff. - Vereinsrecht: 279,282 - Schutzbereich: 181 ff., 276 - Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften: 122, 186ff., 192f. 23 Muckel
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- Bereichsscheidungslehre: 11 0 Fn. 176, 184f. - Selbstverständnis als maßgeblicher Interpretationstopos: 185 f., 192 - Träger des Selbstbestimmungsrechts: 192 ff. Selbstverständnis - allein nicht maßgeblich: 7 - Begriff: 5 m. Fn. 3 - Berücksichtigung bei Abwägungen s. Abwägung - der neuartigen Gemeinschaften: 6 - des einzelnen im Verhältnis zur Lehre einer Religionsgemeinschaft: 170 ff. - Hypertrophie: 33 - Interpretationstopos: 6, 14, 16, 23 f., 126, 283 Sonnentempler-Sekte: 65 Souveränität des Staates - Aktualiät: 104 f. - Begriff: 90 ff., 99 f. - Grundlage staatlicher Letztentscheidung: 114f. - Kritik: 92 ff. - Legitimität: 99 ff. - und religiöse Freiheitsrechte: 106 ff. Sportunterricht s. Schulpflicht Staat - Friedenseinheit: 213 - ,,Hüter der Toleranz": 117 - Machteinheit: 101 - Neutralität s. dort - nicht Selbstzweck: 206 Offenheit: 81 - organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit: 38, 88, 212 Säkularität: 40, 80 f., 106, 134 f. Souveränität s. Souveränität des Staates - und Gesellschaft: 96 f., 97 ff. - Voraussetzung von Rechten und Freiheit: 114,263 staatliche Letztentscheidung s. Letztentscheidung des Staates "staatliche Sicht" s. Verfassungsinterpretation Staatsaufsicht über die Kirchen: 108 f. Staatskirchemecht - Konflikts- und Kompromißrecht: 74
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- Verlegenheitslösung im Grundgesetz: 229 Staatszwecke: 30 - Freiheitssicherung: 206 f. - Frieden und Sicherheit: 101 ff. - Menschenwürde: 30 Steuerverweigerung: 256 Suggestion: 139f., 144 Territorialismus: 108 Tierschutz: 19 f., 251 f., 263 f., - Schächten: 19f., 84 Fn. 15, 149f., 251 f. Toleranz: 116ff. - Abwägungsleitlinie: 117 f. - Begriff: 116f., 157 - Rechtsprinzip: 116ff. - verfassungsrechtlich ohne eigene Bedeutung: 119 f. Tradition, Topos der Grundrechtsinterpretation: 15 f., 150 ff. Transzendentale Meditation: 3, 35, 138 Trennung von Staat und Kirche: 40, 73, 134f. - hinkende: 108 Tschador: 146f., 161 Unversehrtheit, körperliche: 65 f., 69, 142 f., 222 f., 256 ff., 270 Veränderungen des religiösen Lebens s. religiöses Leben in Deutschland Verbot s. Religionsgemeinschaft, Religiöse Vereine Vereine, religiöse s. Religiöse Vereine Vereinigungsfreiheit s. Religiöse Vereinigungsfreiheit Vereinigungskirche: 3, 35, 138 Vereinsgesetz, Unanwendbarkeit auf Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften: 11 Verfassung - Ausdruck eines Grundkonsenses: 33, 198 - Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit: 10 f., s. auch Einheit der Verfassung - einheitstiftende Funktion: 88 - juristische Basis gegenläufiger Interessen: 29
Kampf gegen die verfassungsrechtliche Ordnung: 207 ff. - Offenheit für unterschiedliche Auffassungen: 79,98 - Ordnung des Zusammenlebens: 79 - rechtliche Grundordnung des Staates: 39 - Verfassungsinterpretation s. dort - Verfassungstreue: 207 ff., 263 verfassunggebende Gewalt: 39 f. verfassungsimmanente Grenzen - Anmaßung fremder Rechtspositionen: 220ff. - Ausdruck eines engen Verständnisses grundrechtlicher Tatbestände: 202 ff. - Begriff: 196 - der Garantien religiöser Freiheit: 196 ff. - Eigentumsgarantie: 222 - Gewaltverbot s. dort - Grundrechtsmißbrauch s. dort - Kritik: 200 ff. - körperliche Unversehrtheit: 222 - Legitimität: 197 ff. - Menschenwürdegarantie s. dort - Offenlegung von Wertungen: 203 - Persönlichkeitsrecht: 221 f. - Recht auf Leben s. dort - Unterschied zur Abwägungslehre: 202 ff. - Verfassungskonformität: 207 ff. Verfassungsinterpretation - ..staatliche Sicht": 38 ff. - Wortlaut als Anknüpfungspunkt: 126 m. Fn. 14,237 f. verfassungsmäßige Ordnung L S. d. Art. 2 Abs. 1 GG: 227 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: 242 ff. - Grundlagen im einfachen Recht: 245 - Schranken-Schranke: 242 - Verhältnismäßigkeit Le.S.: 245 Verteidigungsauftrag, verfassungsrechtlicher: 268 f. Virginia Bill of Rights: 42 Volkstempel-Sekte: 65 Warnungen, staatliche vor sog. Jugendsekten: 35, 63 Wechselwirkungstheorie, s. auch Abwägung - Abwägung im Einzelfall: 235 ff. - Anwendung auf alle Grundrechte: 238
Sachverzeichnis - Ausdruck der Abwägungsdogmatik: 201, 235 ff. - Beschränkung religiöser Freiheit: 235 ff., 277ff. - Legitimität: 241 f. - Schwächung des Gesetzgebers: 239 ff. - typisierende Güterabwägung s. Abwägung - Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck: 277 Fn. 427, 278, 281 Weimarer Kirchenartikel, s. auch Staatskirchenrecht - Inkorporation in das Grundgesetz: 191, 228f. - Sachzusammenhang mit Art. 4 GG: 228ff.
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Weltanschauung - Ausübungsfreiheit: 148 f. - Unterschied zur Religion s. Religion - Verfassungsbegriff: 7, 131 ff. Weltanschauungsgemeinschaft: 173, s. auch Religionsgemeinschaft Weltanschauungsschule: 10 Werbung für Religion: 146 Wertordnung - grundrechtliche: 15,49 - verfassungsrechtliche: 36, 49 Wesentlichkeitstheorie: 273 wirtschaftliche Betätigung von Religionsgemeinschaften s. Religionsgemeinschaften