Sprech-Ton-Kunst: Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770-1933) [Reprint 2013 ed.] 9783110922516, 9783484660359

Starting in the late 18th century a development is observable in which a new theatrical aesthetic of dramatic speech exp

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German Pages 331 [332] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
Vorüberlegungen: Einige Aspekte des Problems »Singen und Sprechen«
1. Kulturelle und historische Divergenzen
2. Systematische Differenz von Singen und Sprechen in historischer Perspektive
3. Einige Positionen des musikalischen Diskurses (Skizze)
I. Der Sprechton: Theorie und Geschichte der Deklamationskunst
1. Historischer Kontext: Sprechkultur im 19. Jahrhundert
1.1. Entstehung einer bürgerlichen Sprechkultur
1.2. Theater als Sprechschule der Nation
2. Vorgeschichte: Bühnendeklamation im 18. Jahrhundert
2.1. Von Gottsched bis zur Hamburger Entreprise
2.2. Veränderungen des Sprechstils mit Beginn der 1770er Jahre
2.3. Die Deklamationsvirtuosin im Melodrama
3. Deklamation am Weimarer Hof theater
3.1. Erprobung einer neuen Theaterästhetik
3.2. Schauspieler als »amphibische« Wesen
3.3. Stimmliche Einrichtung der Rollen auf der Probe
3.4. Wiedereinführung der Verssprache
3.5. Rezitation, Deklamation, Rhythmischer Vortrag
3.6. Deklamation als Modus des ästhetischen Übergangs (Goethe)
Exkurs: Primat der Stimme (Pius Alexander Wolff)
4. Musikalische Elemente der Deklamation ab 1800
4.1. Gustav von Seckendorffs Vorlesungen über Deklamation und Mimik
4.1.1. Erweiterte Perspektiven für das melodramatische Sprechen
5. Einzelaspekte musikalisierter Deklamation in der Theorie ab 1800
5.1. Musikalische Malerei, malende Deklamation
5.2. Melodie der Sprache. Monotonie, Duotonie
5.3. Grundtöne – Tonleitern – Vokaltheorie
5.4. Wahrheit und Schönheit der Deklamation
5.5. Wortsprache und Tonsprache
5.6. Be-Tonung, Akzente
5.7. Portament
5.8. Tempo
5.9. »Gleichwie der Tonsetzer«
5.10. Pathos und Primat der Stimme
6. Stichproben: Gegenpositionen; Fortentwicklung
6.1. Synchrone Gegenpositionen (Wötzel, Iffland)
6.2. Differenzierter Primat der Stimme (Immermann)
6.3. Tradition der Deklamationstheorie in der zweiten Jahrhunderthälfte
6.4. Tonsprachvertrauen und Wortsprachskepsis beim frühen Nietzsche
6.5. Meininger und Naturalismus
II. Das Bühnenmelodrama im 18. Jahrhundert
Terminologisches Vorspiel
1. Melodram avant la lettre
1.1. Jesuitendrama und Parakataloge der altgriechischen Tragödie
1.2. Musikalische Szenenunterlegung in Shakespeares Dramen
2. Rousseaus Pygmalion
3. Bendas Ariadne und Medea als Gattungsmodelle
3.1. Zur dramaturgisch-formalen Anlage
3.2. Zur musikalischen Gestaltung
Exkurs: Deklamation, Musik, Drama: Schubarts Rückblick
3.3. Zeitgenössische Kritik
4. Weiterung, Entgrenzung des Gattungsmodells
III. Gattungsübergreifende Übertragung der melodramatischen Technik
1. Melodramatische Lyrikvertonungen
2. Singspiel und Oper
Exkurs: Theoretischer Zwischenertrag
3. Melodramatische Passage und melodramatische Szene im Dramentext (Schiller und Goethe)
4. Schauspielmusik (Erste Hinweise)
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Sprech-Ton-Kunst: Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770-1933) [Reprint 2013 ed.]
 9783110922516, 9783484660359

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^ffieatron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 35

Ulrich Kühn

Sprech-Ton-Kunst MusikaUsches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770-1933)

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

D19 Philosophische Fakultät für Geschichte und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kühn, Ulrich : Sprech-Ton-Kunst : musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770 - 1933) / Ulrich Kühn. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Theatron; Bd. 35) ISBN 3-484-66035-X

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: epline, Kirchheim unter Teck Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Einleitung Vorüberlegungen: Einige Aspekte des Problems »Singen und Sprechen«...

1 19

1. Kulturelle und historische Divergenzen

21

2. Systematische Differenz von Singen und Sprechen in historischer Perspektive

24

3. Einige Positionen des musikalischen Diskurses (Skizze)

28

I. Der Sprechton: Theorie und Geschichte der Deklamationskunst

37

1. Historischer Kontext: Sprechkultur im 19. Jahrhundert 1.1. Entstehung einer bürgerlichen Sprechkultur 1.2. Theater als Sprechschule der Nation

39 39 41

2. Vorgeschichte: Bühnendeklamation im 18. Jahrhundert 2.1. Von Gottsched bis zur Hamburger Entreprise 2.2. Veränderungen des Sprechstils mit Beginn der 1770er Jahre 2.3. Die Deklamationsvirtuosin im Melodrama

44 44 48 51

3. Deklamation am Weimarer Hoftheater 53 3.1. Erprobung einer neuen Theaterästhetik 53 3.2. Schauspieler als »amphibische« Wesen 55 3.3. Stimmliche Einrichtung der Rollen auf der Probe 57 3.4. Wiedereinführung der Verssprache 59 3.5. Rezitation, Deklamation, Rhythmischer Vortrag 59 3.6. Deklamation als Modus des ästhetischen Ubergangs (Goethe) . 64 Exkurs: Primat der Stimme (Pius Alexander Wolff) 67 4. Musikalische Elemente der Deklamation ab 1800 4.1. Gustav von Seckendorffs Vorlesungen über Deklamation und Mimik 4.1.1. Erweiterte Perspektiven für das melodramatische S p r e c h e n . . . .

70 70 75

5. Einzelaspekte musikalisierter Deklamation in der Theorie ab 1800... 5.1. Musikalische Malerei, malende Deklamation 5.2. Melodie der Sprache. Monotonie, Duotonie 5.3. Grundtöne - Tonleitern - Vokaltheorie 5.4. Wahrheit und Schönheit der Deklamation

76 77 78 80 87

5.5. 5.6. 5.7. 5.8. 5.9. 5.10.

Wortsprache und Tonsprache Be-Tonung, Akzente Portament Tempo »Gleichwie der Tonsetzer« Pathos und Primat der Stimme

6. Stichproben: Gegenpositionen; Fortentwicklung 6.1. Synchrone Gegenpositionen (Wötzel, Iffland) 6.2. Differenzierter Primat der Stimme (Immermann) 6.3. Tradition der Deklamationstheorie in der zweiten Jahrhunderthälfte 6.4. Tonsprachvertrauen und Wortsprachskepsis beim frühen Nietzsche 6.5. Meininger und Naturalismus II. Das Bühnenmelodrama im 18. Jahrhundert Terminologisches Vorspiel

88 90 92 94 95 95 99 100 102 104 105 108 III III

1. Melodram avant la lettre 114 1.1. Jesuitendrama und Parakataloge der altgriechischen Tragödie .. 114 1.2.

Musikalische Szenenunterlegung in Shakespeares Dramen

117

2. Rousseaus Pj/gwjdfo«

119

3. Bendas Ariadne und Medea als Gattungsmodelle 3.1. Zur dramaturgisch-formalen Anlage 3.2. Zur musikalischen Gestaltung Exkurs: Deklamation, Musik, Drama: Schubarts Rückblick 3.3. Zeitgenössische Kritik 4. Weiterung, Entgrenzung des Gattungsmodells

123 124 129 136 137 140

III. Gattungsübergreifende Übertragung der melodramatischen Technik... 145 1. Melodramatische Lyrikvertonungen

145

2. Singspiel und Oper

146

Exkurs: Theoretischer Zwischenertrag

VI

151

3. Melodramatische Passage und melodramatische Szene im Dramentext (Schiller und Goethe)

152

4. Schauspielmusik (Erste Hinweise)

162

IV. Sprechton und Tonkunst: Melodramatische Formen und melodramatische Stimmdramaturgie im 19. Jahrhundert

167

A. Schauspielmusik

167

1. Schauspielmusik in der ersten Jahrhunderthälfte 1.1. Schauspielmusik und melodramatische Szene 1.2. Rhythmisierte Deklamation und melodramatischer Polylog: Webers Musik zu Wolffs Preciosa 1.3. Differenzierungsdramaturgie der Stimme: Radziwills Compositionen zu Göthe's Faust 1.4. Weitere Adaption bis zur Jahrhundertmitte

167 167

2. Ausblick: Zweite Jahrhunderthälfte 2.1. Melodramatische Episode und melodramatischer Chor (Pierson)

184

3. Tendenzen ab 1870: Musik im integralen Inszenierungskonzept

187

170 174 182

186

Exkurs: Edvard Griegs Musik zu Peer Gynt

191

4. Schauspielmusik zu altgriechischen Tragödien

194

B. Oper

203

1. Deutsche Oper in der ersten Jahrhunderthälfte 1.1. Einflußfelder 1.2. Variable Stimmdramaturgie: Melodramatische Technik in der >Deutschen romantischen Oper< (Hoffmann, Weber, Marschner, Lortzing)

203 203

2. Ausblick: Zweite Jahrhunderthälfte

216

3. Sonderfall: Melodramatisches Lesen

220

4. Emotionaler Kontrollverlust - Ausbruch der Stimme aus dem Gesang

220

C. Angrenzende Bereiche

223

1. Operette und Volkstheater

223

2. Konzertmelodram 2.1. Musikalische Verfahren (Hinweise) 2.2. Koordination von Musik und Deklamation 2.3. Popularisierung: Trivialmelodramen, melodramatische Festspiele

228 230 234

208

236

3. Übertragung: Podiumsvortrag als theatrales Grenzphänomen (Kabarett)

240

4. Szenisch-konzertante Formen und szenisches Großformat

243

VII

5. An der Nahtstelle zwischen Schauspiel und Oper, zwischen Sprechen und Singen: Engelbert Humperdincks Königskinder 246 V. Konvergenzen und Umformulierungen: Die melodramatische Stimme im Theater 1900 bis 1930

251

1. Noch einmal: Singen und Sprechen

252

2. Stimme und Musik im Theater Max Reinhardts 2.1. Melodramatische Schauspielmusik bei Reinhardt 2.2.1. Humperdincks Shakespearemusiken 2.2.2. Weingartners /vi«sf-Musik 2.3. Musikalisches Sprechen der Reinhardt-Schauspieler(innen) 3. Zwischen Ausdruck und Distanz: Schönbergs Pierrot lunaire

256 260 261 264 268 271

4. Anti-Illusionismus im Musiktheater und melodramatische Stimme... 4.1. Schönbergs Drama mit Musik Die glückliche Hand 4.2. Der souveräne Harlekin spricht (Sprechstimme bei Busoni) . . . 4.3. Musiktheater ohne Gesang: Strawinskys/Ramuz' Histoire du Soldat 4.4. Melodramatisches Sprechen im antikulinarischen Musiktheater

276 276 278 281 283

5. Der Tanz der Stimme: Mischdramaturgie (der Stimme) in der Operette

287

6. Die melodramatische Stimme in der Literaturoper

291

7. Die Menschenstimme, die nicht singen-und-sagen kann (Schönbergs Moses und Aron)

297

Resümee

299

Literatur

303

VIII

Einleitung

Seit einigen Jahren erfreuen sich stimmhche Spezialitäten im Theater neuer Beliebtheit. Ob Einar Schleef chorische Skansionen zu höchst ambivalenten Exerzitien aufbereitet, ob Christoph Marthaler trainierten deutschen Seelen, inmitten gröberer Verrichtungen, den irritierenden Schmelz romantischen Liedgesangs, die herbe Andacht eines protestantischen Chorals entströmen läßt allgemeine Aufmerksamkeit ist derlei ebenso gewiß wie den Schrei- oder Lacharien in den Arbeiten Robert Wilsons. Längst hat, im Bereich des Musiktheaters, die historische Aufführungspraxis den Stimmfächern des Altus und des Countertenors Terrain zurückgewonnen und neue Sympathien gesichert. Längst auch ist wenigstens ein Fachpublikum mit den im 20. Jahrhundert entwickelten Möglichkeiten vertraut, dem Musiktheater einen Stimmgebrauch zu erschließen, der die gewohnte Dichotomie von Singstimme und Sprechstimme, von gesungener und gesprochener Sprache übergeht. Ab und an werden, szenisch, halbszenisch oder konzertant, alte oder neue Melodramen aufgeführt. Und wie heterogen die Phänomene sein mögen - die Grenzwertigkeit der rhythmischen Sprechgesangsstimme in der Alltagskultur des Rap wird, wenn auch außerhalb des Theaters zuhause, das ihre dazu getan haben, den Blick freizugeben auf eine lange unterschätzte Vielfalt stimmlicher Ausdruckspotentiale Jenseits der gewohnten Trennung von Kunstgesang und künstlerischem Sprechen. Die wissenschaftliche, zumal die theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit Verhältnissen der historischen Bühnenstimme kommt dabei, wie es scheint, erst wieder langsam in Gang.' Daß einmal eine theoretische Spezialliteratur existierte, der es darauf ankam, die Sprechstimme als ein musikalisches Phänomen sui generis kenntlich zu machen und definitorisch zu fassen, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Angesichts der Konjunktur, die stimmliche Grenzphänomene derzeit genießen, dürfte es sich doppelt lohnen, dem auf den Grund zu gehen: Die historische Spur, die, bald mehr, bald weniger verdeckt, hierher führt, wäre nach und nach kenntlich zu machen, und eben nicht allein um ihrer selbst willen. Denn nicht zuletzt der durchaus nicht a priori präformierte, durchaus prekäre Status der menschlichen Stimme innerhalb der Theaterformen ist es, der 1 Die Ausschreibung eines Wettbewerbs >Die Stimme auf der Bühne< 1998 durch die Gesellschaft für Theaterwissenschaft zeugt ebenso von wieder erwachendem Interesse an stimmlichen Spezialfragen wie die >Geschichte der Stimme< von Karl-Heinz Göttert (1998).

1

die eingeschliffenen Sichtweisen auf das Sprechtheater, das Musiktheater als Konventionen qualifiziert; als Konventionen nicht einmal nur einer regional gebundenen theatergeschichtlichen Phase, sondern auch (und vielleicht sogar primär) des Denkens und Redens über sie. Mit anderen Worten: Für einen theatergeschichtlichen Zugang, der die Verhältnisse der Stimme auf der Bühne offen, unter freimütiger Problematisierung der scheinbar klaren Dichotomie von Sprechstimme und Singstimme diskutiert, erscheint in besonderer Weise auch das »Musiktheater als Herausforderung«, wie dies der Titel eines ebenfalls in der vorliegenden Reihe erschienenen Buches pointiert.^ Der Ansatz, den solche Perspektivierung erfordert, ist nicht allein ein interdisziplinärer, insofern versucht wird, Ergebnisse verschiedener Disziplinen zusammenzuführen und auf diese Weise zu ergänzen. Er ist auch, indem er sich einem ästhetischen Grenzphänomen zuwendet, stimmhistorisch eo ipso ein übergreifender: Die Analyse folgt der artistischen Sprechstimme dorthin, wo der Sprechton latent oder explizit die Verbindung zur Tonkunst sucht; dorthin, wo er selbst »musikalisch« zu sein beansprucht. Empfiehlt es sich, diesen Begriff vorerst in Anführungszeichen zu setzen, so erweist die Beschäftigung mit historischen Quellen, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Diskurs Platz greift, der es erlaubt, darauf zu verzichten. Desto genauer wird man zu fragen haben, was die Wendung von einer Musik des Sprechens im einzelnen besagen will. Das Problematische, das ihr stets anhaftete, läßt sich durch Interpretation der Quellen nicht schlechterdings auflösen, ebenso wenig, wie dies den Autoren der Quellen selbst gelingen konnte; denn es resultierte aus Bedingungen, die theoretisch zwar zu identifizieren, ihrer historisch begrenzten Reichweite zum Trotz jedoch nicht zu suspendieren waren. Es ist das ästhetische Phänomen des kunstgerecht erzeugten Stimmklangs selbst, das zur Debatte steht. Die ästhetisch qualifizierte Sprechstimme soll, so ist es nachzulesen, Musik werden, ohne doch Gesang zu sein. Angesichts gegebener und in ihrem Grunde stabiler Voraussetzungen scheint dies indessen ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Die zwölf Halbtöne des Tonsystems, das, abgeleitet aus den Relationen der Obertonreihe, eine unantastbare Ordnung zu repräsentieren scheint, definieren den Rahmen, und am Maß ihrer Ordnung bemißt sich primär, was den Namen Musik verdient.^ Der Raum zwischen den Halbtönen, in dem sich die ungleich nuanciertere Sprechstimme 2 Vgl. jetzt zu Grundlinien eines entsprechenden problemorientierten theaterwissenschaftlichen Zugangs: Hans-Peter Bayerdörfer: Spiel-Räume der Stimme. Kleine Streifzüge zwischen den Fächern. In: Ders. (1999), S. 1 - 3 9 . (Dieser Sammelband mit Beiträgen einer Thurnauer Tagung erschien nach Abschluß der Vorarbeiten zum vorliegenden Buch. Es sei deshalb an dieser Stelle pauschal auf ihn verwiesen.) 3 Nach der musikwissenschaftlichen Basisdefinition ist ein Tonsystem »ein Tonbestand, der ein System von Tonbeziehungen repräsentiert« (Brockhaus Riemann Musiklexikon (1989), Bd. 4, S. 253). Exakt dieser Definition genügen die hinsichtlich ihrer Tonhöhe instabilen Sprechtöne nicht. Carl Dahlhaus zufolge prägt aber die Vorstellung eines fixen Tonsystems bis an die Schwelle der Seriellen Musik den europäischen Musikbegriff. Vgl. Carl Dahlhaus: Musikbegriff und europäische Tradition. In: Ders. und Hans Heinrich Eggebrecht (1985), S. 4 3 - 5 4 . Hier S.44.

zu bewegen vermag, wirkt versiegelt. Andererseits jedoch fordert das Konzept der musikalischen Sprechstimme den Konnex mit der zünftigen Musik heraus: In der melodramatischen Technik des Komponierens und in der Praxis des melodramatischen Sprechens wird er manifest. Dagegen erheben sich massive ästhetische Einwände, deren Essenz man auf die These reduzieren kann, der unmusikalische Sprechton könne nun einmal, und sei er noch so »musikalisch« gemeint, nicht mit jenem unhintergehbaren System der Tonkunst koexistieren. Die Praxis jedoch geht, zunehmend entschlossener, über die Theorie hinweg. Sprechton und Tonkunst kommen sich näher; die Sprechstimme wird rhythmisiert, und sie wird sogar, viel früher schon, als man annehmen möchte, versuchsweise ins harmonische Gefüge eingepaßt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts dann erleben melodramatische Formen einen unvergleichlichen Boom in allen Bereichen der klingenden Künste; zugleich wird die Tonalität an ihre Grenzen hin erweitert, und wenig später wird das tonale Bezugssystem als verpflichtende Größe preisgegeben. Parallel wird der Umgang mit der Stimme kompositorisch freier, die Differenz zwischen gesprochener und gesungener Sprache wird fragwürdig und löst sich schließlich, dem Prinzip nach, auf. 1928 kann Alban Berg in einem längst nicht mehr als schier polemisch zu kennzeichnenden Sinne erklären, selbstverständlich handle es sich bei der melodramatischen Sprechstimme um ein »aus den reinsten Quellen der Musik« geschöpftes Kunstmittel.'' So vernachlässigenswert melodramatische Formgebilde, vergleicht man sie mit den musikalischen Spitzenwerken, unter ausschließlich musikhistorischer Perspektive sein mögen, und so vernachlässigenswert selbst die ästhetisch ausgefeilte Praxis des »musikalischen« und des melodramatischen Sprechens, vergleicht man sie mit der Verführungskraft virtuos versierten Kunstgesangs, manchem erscheinen mag - so unausweichlich schieben sie sich ins Zentrum des Blickfelds, hat man ihre ästhetisch wie historisch verbindende Funktion erkannt. Denn der Prozeß, der jene ästhetischen Möglichkeiten des einstmaligen Sprechgesangs neu erschließt, vollzieht sich in seinen Anfängen unter spezifischen theatergeschichtlichen Vorzeichen: Das Bühnenmelodrama, wie es in den 1770er Jahren entwickelt wird, ist selbst ein Schauspiel und Musiktheater verbindendes Gattungsphänomen. Die melodramatische Technik als Kunstprinzip und die melodramatische Szene als Formmodell, die sich beide zunächst von den frühen Bühnenmelodramen herschreiben, übernehmen sodann eine sowohl stimmästhetische als auch gattungsübergreifende Scharnierfunktion. In ihren melodramatischen Abschnitten kommen die divergenten Formanlagen musiktheatralischer und schauspieltheatralischer Provenienz zur Überlappung; im melodramatischen Übergangsfeld gelangen die musiktheatralische Sing- und die schauspieltheatralische Sprechstimme zu punktueller Konvergenz. Gesprochene Sprache und Musik sind historisch zu Gebilden höchst unterschiedlicher konkreter Gestalt kombiniert worden, die gewöhnlich unter dem Begriff Melodram zusammengefaßt werden. Der gleiche Terminus bezeichnet Alban Berg (1928), S. 350

außerdem ein Genre des populären Theaters im 19. Jahrhundert. Auch innerhalb dieser Theaterform wurden gesprochenes Wort und Musik kombiniert. In welchem Grad und Umfang das im einzelnen Fall geschah, spielt für die Beschreibung dieser als Melodramen klassifizierten Bühnenstücke dabei nicht die entscheidende Rolle, denn hier sind es strukturelle Merkmale und spezifische Momente der Inszenierung, die den Gattungsbegriff prägen.' Die verschiedenen Varianten des französischen und englischen Melodramas des 19. Jahrhunderts, wegen ihrer Bindung an den spezifischen Ort des massenwirksamen Bühnenspektakels meist unter dem Begriff des Boulevardmelodrams zusammengefaßt, bleiben aus der vorliegenden Untersuchung deshalb systematisch ausgespart. Indem man diese grundsätzliche Differenzierung trifft, ist nicht hinreichende Klarheit hergestellt. Der Umstand, daß zwei Bedeutungen eines Terminus sich voneinander abgrenzen lassen, besagt über Triftigkeit und Inhaltlichkeit seiner Varianten wenig; daß der Begriff Melodram, bezieht man ihn ausschließlich auf die ästhetische Verbindung von gesprochener Sprache mit Musik, Schwierigkeiten birgt, die durch definitorische Differenzierungen kaum aus der Welt zu bringen sind, ist nicht zu übersehen. Zunächst: Der Terminus fungiert einerseits als historisch begrenzter Gattungsbegriff, andererseits als Titulierung bestimmter Abschnitte innerhalb größerer musikalischer Formen. Problematisch ist überdies, daß er gleichermaßen ein Prinzip der sogenannten Wort-Ton-Verbindung kennzeichnet wie die (teils selbständigen, teils abhängigen) Formgebilde, denen es zugrunde liegt. Der Sachverhalt, daß ein- und derselbe Terminus analog einem Begriff wie Tragödie und zugleich analog einem Begriff wie Rezitativ Verwendung findet (die verschiedenen Ebenen der Klassifizierung zugehören), fördert Implikationen zutage, die denn doch weniger marginal sind, als es das scheinbare Bezeichnungsproblem vermuten läßt. I. Wenn die musikwissenschaftliche Perspektive lange den Blick auf das Phänomen der melodramatischen Wort-Ton-Kombination bestimmte, dann nicht zuletzt deshalb, weil vordem sämtliche Erscheinungsformen musikalischen Theaters bevorzugt auf musikwissenschaftlicher Basis diskutiert wurden. »Musikwissenschaftliche Methoden«, schrieb Jürgen Schläder 1990, »prägen bislang zu wesentlichen Teilen die Erforschung von Opern, Operetten, Musicals und verwandten Bühnengenres«.' Die Resultate dieser Forschungstradition blieben weitgehend musikgeschichtlichen Spezialfragen verpflichtet und veranschlagten überdies die kulturgeschichtliche Bedeutung musikalischen Theaters unter 5 Johann N . Schmidt (1986), S. 28: »>Melodrama< wäre nach dem Gesagten als populäre Bühnengattung zu definieren, bei der disparate, aus anderen Gattungen oder Präsentationsweisen bezogene Darstellungselemente in stark antithetisch angeordnete Situationen eingehen, die mittels Typisierung, Hyperbolik und Tautologie der Zeichen auf eine sinnhafte Totalität eindeutig definierter affektiver und moralischer Wirkungsreaktionen zielen.« 6 Jürgen Schläder (1990), S. 130

Wert/ Wenn sich diese Situation seit Mitte der 70er Jahre auch entscheidend gewandelt hat - »Opernforschung wurde attraktiv, gleichsam eine wissenschaftliche Mode«, so Schläder weiter^ - , steht doch die zusammenhängende Untersuchung des Melodrams als eines theatralen Phänomens breitester Streuung über die Gattungen und Genres bislang aus. Denn im Verhältnis zu Introduktion, Rezitativ oder Arie, zu Kavatine, Ensemble oder Finale galten melodramatische Passagen in der Oper als zu vernachlässigende Größe, zumal sich die Kombination von Musik und Sprechen im ästhetischen Querstand zur Opernkonvention zu befinden schien. Mit dem erweiterten Blick interdisziplinärer Forschungsansätze wurde und wird zwischenzeitlich das Melodrama des späteren 18. Jahrhunderts gründlich untersucht, und daneben natürlich Gipfelleistungen des avantgardistischen Musiktheaters im frühen 20. Jahrhundert, in denen das melodramatische Verfahren in Verbindung mit der Abkehr vom tonalen Komponieren neue Impulse erhält. Doch bleibt es, aufs Ganze gesehen, bei dieser Betonung markanter Eckdaten; eine Gesamtdarstellung fehlt, und so verwundert es nicht, daß die Verknüpfung fachwissenschaftlicher Einzelergebnisse bislang kein gerundetes Bild ergibt.' Zwischen den historischen Früh- und Spätgipfeln aber bildet sich eine Tradition melodramatischen Komponierens in sämtlichen Bereichen des Theaters heraus. Und dies vollzieht sich im Akkord mit der Tradition einer historisch spezifischen Sprechstilistik, deren Bedeutung für die melodramatischen Formen keineswegs aufgeklärt ist, wiewohl es - wie banal die Einsicht, so weitreichend die Folgen - ohne Sprechstimme ebensowenig Melodramen gibt wie ohne Singstimme Gesangsmusik.'° Nicht zuletzt die etablierte Primärwahrnehmung geschriebener Sprache als eines Sinnträgers, nicht als schriftlichen Substrats von Stimmklängen, verführt dazu, von diesen ganz abzusehen, und dies erweist sich, jenseits ideologischer Auseinandersetzungen, mit Blick auf die Geschichte der ästhetischen Sprechstimme entschieden als ein Manko." Paul Zumthor hat diese Voreinstellung der Sprachperzeption als Folge des abendländischen Logozen-

^ Ebda., S. 132: »Spezifisch musikwissenschaftliche Fragestellungen, in denen man der Instrumental- und vor allem der Kirchenmusik ungleich größere Aufmerksamkeit widmete als dem stets angefeindeten und in seinem ästhetischen Wert heftig umstrittenen musikalischen Theater, verschlossen für Jahrzehnte den Zugang zu einem kulturgeschichtlich bedeutsamen Phänomen.« 8 Ebda. ' Seit den 1980er Jahren ist eine intensivierte, auch fachübergreifende Beschäftigung mit Melodramatischem zu verzeichnen, die sich jedoch nach wie v o r weitgehend auf die Bühnengattung Ende des 18. Jahrhunderts sowie auf die Neue Musik seit Anfang des 20. Jahrhunderts konzentriert. '0 Gemeint sei Musik als Erscheinung klanglicher Phänomene in Zeit und Raum; die Frage, ob Musik nur das ist, was erklingt, oder nicht schon das, was auf dem Papier steht, ist freilich umstritten. Vgl. systematisch Carl Dahlhaus: Musik als Text. In: Günter Schnitzler (1979), S. 1 1 - 2 8 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dagegen die These diskutiert, Dichtung verfüge über intendierte und objektivierbare klangliche Eigenschaften. Vgl. Kapitel V.l.

trismus und als den nach wie vor gegenwärtigen Zustand gekennzeichnet.'^ Doch geht es hier nicht um prinzipielle Fragen nach einem (gar historisch ungebundenen, theoretisch zu postulierenden) Primat mündlicher oder schriftlicher Sprache. Daß indessen melodramatisch komponierter Text auf den Sprechton rechnet, daß er stimmlich-klanglicher Gestaltung bedarf, ist offensichtlich, wird offensichtlich wenigstens dort, wo das Schriftbild in den Partituren partiell Notenbild wird: wenn der Sprechsprache nach dezidiert musikalisch definierten Parametern Rhythmus, Dynamik oder sogar ein bestimmter Tonhöhenverlauf abverlangt werden. Doch daß die Bühnensprache im Schauspieltheater des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts über weitergehende Optionen ihrer Musikalisierung verfügt, auch wenn sie im Notenbild nur punktuell manifest werden, ist kaum entdeckt. Die Bedeutung melodramatischer Formen ist schon deshalb nur in einem Argumentationskontext angemessen sichtbar zu machen, der Fachgrenzen nicht respektiert. II. Keineswegs so peripher, wie eine tradierte Perspektive dies suggeriert, bleibt das melodramatische Phänomen dennoch schwer greifbar. Eine Theorie des Melodrams etwa ließe sich kaum beibringen: Man erhielte sie letztlich um den Preis, keine seiner empirischen Manifestationen zureichend mit ihr zur Deckung bringen zu können; zu heterogen sind die Erscheinungen, die unter dem Begriff subsumiert werden, als daß sich ein Idealtypus sinnvoll konstruieren ließe," und man muß kein terminologischer Pfennigfuchser sein, um das als Hürde zu erkennen. Um es skizzenhaft zusammenzufassen: Melodram oder Melodrama meint (im hier relevanten Sinn des Begriffs) gleichermaßen eine Gattung von Bühnenstücken im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Einlageszenen in verschiedenen Formen der Oper, Abschnitte, Nummern oder Szenenmodelle in Schauspielmusik, (die sich, im Unterschied zu Opernszenen, nicht als Teile einer musikalischen Totalität ausweisen), musikbegleitete Deklamationsstücke (sogenannte Konzertmelodramen) für den Podiumsvortrag, vereinzelte szenisch-konzertante und szenische Großformen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denen wiederum die ästhetische Technik der Wort-Ton-Verbindung den Gattungsbegriff vorgibt; daneben Kleinformen für den häuslichen Gebrauch und schließlich kurze, nicht als selbständige Szenen anzusprechende Übergänge zwischen gesprochenem Dialog und gesungener Szene. Bisweilen auch finden 12 Paul Zumthor (1990), S. 10: »Auf Grund eines alten Vorurteils«, schreibt Zumthor, »das unseren Geschmack leitet, ist jedes Produkt der Sprachkünste ein geschriebenes«. Er verweist darauf, daß in afrikanischen oder asiatischen Traditionen dagegen die »Verwandlungs- oder Heilkraft« der Stimme selbst und ihrer Eigenschaften im Vordergrund stehe (ebda., S. 15). Göttert (1998), S. 16, weist die »Vorstellung von der Überlegenheit der Stimme«, zu deren »Propheten« er Zumthor rechnet, als »Mythos« ab. 13 Dabei ist bedacht, daß, wie Johann N. Schmidt (1986), S.23, ausführt, formale Bestimmungen nicht dazu dienen, »den Entfaltungsreichtum eines Genres auf eine dürre Begrifflichkeit einzuengen, die die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten ausblendet«.

sich innerhalb von Szenen oder Szenenkomplexen - etwa in der Operette melodramatische Passagen oder Einschübe. (Sie können als »Melodramen« betitelt sein, aber auch den Hinweis »Prosa« tragen oder ohne klassifizierende Uberschrift bleiben.) Und zum Uberfluß gibt es »Melodram« genannte Schauspielmusik, die auf den Zauberbühnen der Volkstheater Wiens die schaurig-erregende Begleitmusik zu pantomimischen Geistererscheinungen, Traumbildern, Versenkungen liefert. Läßt sich diese Spielart vom Untersuchungsgegenstand sondern, indem man ausschließt, was Melodram heißen mag, aber nicht Musik und gesprochenen Text verbindet, so bringt diese Prämisse weiteres ins Spiel, das nun nicht explizit melodramatisch heißt, es aber per definitionem ist. Dabei wird klar, daß der Pferdefuß des substantivischen Begriffs nicht allein in seinem inflationären Gebrauch besteht, wenn dieser Befund auch auf die Fährte führt: Was auch immer als Formgebilde oder -teil definiert ist, das sich durch mehr oder weniger gleichzeitige Verwendung von Musik und gesprochener Sprache auszeichnet, ist unter dem Begriff Melodram erfaßt - so weit, so schwierig. Wie aber kennzeichnet man einen als melodramatisch anzusprechenden Stimmgehrauch, der abwechslungshalber eingestreut ist (etwa im kabarettistischen Vortrag) und sich womöglich nur um Haaresbreite, aber doch höchst signifikant vom musikalisch integrierten Singen absetzt? Offenbar steht mit dem melodramatischen Sprechen ein schwer zu spezifizierender, dennoch systematisch eigenständiger Modus des Stimmgebrauchs zur Debatte, der ein vielfältiges stimmdramaturgisches Potential entfaltet. Im Bereich des Musiktheaters, und im Zusammenhang der dramaturgischen Anlage eines Opernganzen, vermag er Varianten und Übergänge herzustellen, die auf seiner zwischen Gesungenem und Gesprochenem vermittelnden Zwischenposition basieren. So sorgen melodramatische Abschnitte der Komposition wie auch der ihnen zugehörige stimmästhetische Modus für zusätzliche Differenzierung der in der Oper gepflegten stilistischen »Diskontinuität«;'"* prinzipiell treten sie dabei zunächst in Konkurrenz zum Rezitativ, insofern sie ebenfalls dem Transport dramatischer Rede dienen. Der junge Nietzsche schlug in diesem Zusammenhang für das Oratorium (das er als »in seiner Musikgattung höher als die Oper« veranschlagte) die vollständige »Ausstoßung« des Rezitativs vor: Es läßt sich nun einmal eine rein unpoetische Erzählung schlechterdings nicht absingen, ohne einen störenden und trennenden Eindruck hervorzubringen. Als entsprechender Ersatz läßt sich auch so eigentlich kein andres Musikstück erdenken. Wenn die Erzählung aber unumgänglich notwendig ist, so müßten nach meiner Meinung die Worte zu der begleitenden Musik gesprochen werden. So träte dann ein neues Element, nämlich das melodramatische, zu dem Oratorium.''

Schläder (1990), S. 133f., erläutert die konträre musikalische Stilistik etwa von Rezitativ (das dramatische Rede transportiert) und geschlossener Form, »deren begründete und strukturell wirksame Verknüpfung in einem Bühnenwerk aber erst die Substanz einer verstehbaren musikalisch-dramatischen Handlung bietet«. Brief Nietzsches vom 14. Januar 1861 an Gustav Krug und Wilhelm Pinder.

Das »melodramatische Element« als Supplement, das aber nicht wirklich ein »andres Musikstück« ist - gerade dies macht die Problematik aus. Denn im Unterschied zum Rezitativ bleibt in der melodramatischen Komposition die Stimme unspezifisch oder kann allenfalls bis an jene Grenze heran spezifiziert werden, jenseits derer das eigentliche Singen beginnt. Wo aber verläuft diese Grenze? Läßt sie sich (systematisch, historisch) präzise angeben? Wann, in welcher Weise und aus welchen Gründen wird sie tangiert, verwischt, negiert? Derartige Fragen stellen sich bei einer Beschäftigung mit der melodramatischen Technik unweigerlich ein. Die scheinbar selbstverständliche Dichotomie Singen versus Sprechen (auf der Einwände gegen und Liebeserklärungen an die Oper gleichermaßen fußen) gerät im Grenzbereich ins Wanken; und die permanente Latenz einer verbindenden Option drängt sich aus theoretischer wie praktischer Sicht auf. Macht man diese Beobachtung zur Grundlage historischer Untersuchung, so zeichnet sich ein komplexer kulturgeschichtlicher Zusammenhang ab, der sich wie folgt skizzieren läßt: In der Ausprägung jener Dichotomie spiegelt sich eine Besonderheit der europäischen Kultur, in der fundamentale Erweiterungsformen artistischer stimmlicher Äußerung vorübergehend zurückgedrängt worden sind. Ein anderes Bild bietet sich beispielsweise im japanischen Kabukitheater, dessen Vorzüge der Opernskeptiker Paul Claudel so beschrieb: Auf dem japanischen Theater ist der Musiker ein Schauspieler. E r folgt dem Drama mit dem Auge und akzentuiert es frei im gewünschten Augenblick mit Hilfe des Instrumentes, irgendeiner Gitarre oder Lyra, wenn Sie wollen, oder eines Hammers, den man ihm in die Hand gedrückt hat, oder einfach mit der Stimme, denn das ist ein großartiges Element des japanischen Theaters [ . . . ] Neben der artikulierten Stimme wird die unartikuliene verwendet, das Brummen, der Ausruf, der Zweifel, die Überraschung, alle menschlichen Gefühle durch einfaches Intonieren ausgedrückt.''

Einhergehend mit dem jahrhundertealten Verzicht auf derartige stimmliche Zwischentöne vollzieht sich in der europäischen Kulturgeschichte das, was Karl-Heinz Göttert in seiner Geschichte der Stimme (1998) als Verlust einer ursprünglich reichen, seit dem Spätmittelalter in die Krise geratenen Kultur der öffendichen Stimme beschreibt.'^ Und der (musik)ästhetische Diskurs, der sich aus einem prekären Wechselverhältnis von kunstpraktischer Empirie und theoretischer Reflexion speist, tendiert aufgrund gewachsener Prämissen dazu, das Spektrum stimmlichen Ausdrucks (trotz aller verbleibenden Vielfalt) normativ zu beschneiden. Andererseits existieren auch im Bereich des europäischen Theaters, und zwar keineswegs allein des musikalischen Theaters, durchaus stimmartistische Zwischen- und Übergangsformen, die angesichts der dominierenden Dichotomie jedoch kaum angemessen wahrgenommen und diskutiert worden sind. Erst Paul Claudel: Drama und Musik. In: Ders. (1962), S. 2 4 5 - 2 5 2 . Das Zitat auf S. 251. Vgl. Karl-Heinz Göttert (1998). Einige Thesen dieser historischen Gesamtdarstellung werden in den nachfolgenden Vorüberlegungen zu Aspekten des Problems »Singen und Sprechen« erörtert.

seit der Wende zum 20. Jahrhundert bahnt sich das Abgedrängte im Bereich des Musiktheaters nunmehr unübersehbar und mit beinahe eruptiver Kraft seinen Weg in die Bühnenpraxis. Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Übertretung unproblematisch, weil die Grenze als solche aufhört zu bestehen. Elmar Budde hat es 1990 so zusammengefaßt: Seit dem Verfall der Tonalität und ihres Sprachcharakters wird in zunehmendem Maße der gesamte Lautbereich der Sprache in die Musik einbezogen. [...] Der Lautbereich der Sprache ist nicht nur in seiner Gesamtheit komponierbar geworden, der sprachliche Lautbereich löst sich insgesamt auch aus dem sprachlichen Bedeutungsbereich und wandelt sich so zum reinen Lautmaterial. [...] Schließlich hebt sich der Vorgang des Komponierens von Sprache, Quasi-Sprache oder Sprachlauten insgesamt auf, indem das Sprechen selbst, wie immer es auch geartet sein mag, bzw. das stimmliche Erzeugen von Lauten als musikalischer Prozeß begriffen wird.''

Weil dies sich mit der Auflösung der Tonalität vorbereitet, wird aus musikwissenschaftlicher Perspektive davon gesprochen, seit dem frühen 20. Jahrhundert halte die »Sprechstimme« Einzug in die Musik und löse dabei das Melodram ab." Doch der Einzug der Sprechstimme vollzieht sich eben, dies die gleichsam verschattete Kehrseite der dominanten Tendenz, auf dem Boden eines nicht erloschenen älteren Diskurses um die Musikalität der sprechenden Stimme. Diese wissenschaftlich heute kaum rezipierte historische Debatte findet allerdings im Einzugsbereich des Schauspieltheaters statt. Wohl steht sie in theoretischer Beziehung mit der literatur- wie musikwissenschaftlich bis heute breit geführten Diskussion um Beziehungen zwischen Dichtung und Musik, Sprache und Musik, doch kommt sie in ihr kaum vor und geht schon gar nicht in ihr auf. Beleuchtet man ihre wesentlichen Aspekte, so gewinnt die Erörterung auch der melodramatischen Option ein breites kulturgeschichtliches Fundament. Auf dieser Basis erscheint dann die Situation im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Kulminationspunkt (wenn auch nicht schon als Abschluß): Die musikalisierte Sprechstimme ist sukzessive von der Musik aufgenommen worden. Das Pathos einer musikalisierten Deklamation, die auf der Schauspielbühne im 19. Jahrhundert, zumal im Trauerspiel, den Ton angegeben hatte, wurde mit der Sprachkrise der Moderne und mit dem Verlust einer Autorität des Wortes (im emphatischen, biblisch geprägten Sinn), die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte an das Paradigma einer von den Inszenierungen einzufordernden »Werktreue« geknüpft hatte,^° problematisch; der Naturalismus zeugt davon. Was sich abzeichnet, ist der Verlust einer prätendierten auratischen Strahlkraft der Sprechstimme; sie droht ihren angestammten (mehr oder weniger latenten) Primat unter den Darstellungsmitteln einzubüßen, wenn ihn auch das Hofthea18 Elmar Budde (1990), S. 1 1 4 Vgl. Monika Schwarz-Danuser (1997), Sp. 93 20 Die Klassiker selbst, deren Dramen man >Werktreue< angedeihen lassen wollte, hingen dem Konzept überhistorischer Gültigkeit und Unantastbarkeit, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliene, nicht an. Vgl. hierzu Walter Hinck (1982), insbes. S. 13 ff. und Erika Fischer-Lichte (1985), passim.

ter, begünstigt durch die rhetorische Verfaßtheit der Öffentlichkeit im Wilhelminismus, scheinbar ungebrochen perpetuiert. Während also zu Beginn des 20. Jahrhunderts die theatrale Sprechstimme an Autorität eingebüßt hat und auch die gelöste Entfaltung der Singstimme fragwürdig geworden ist,^' vermag doch jenes Pathos musikalisierter Deklamation im Sprechtheater und in der populären Kultur sich lange genug noch zu halten, um einen Zeitraum facettenreicher Konvergenz stimmlichen Variationsreichtums zu ermöglichen. Aus dieser vorerst pauschal formulierten Beobachtung ergibt sich, daß der Zeitraum von etwa 1900 bis etwa 1930/33 (als die Nazis die Entfaltung des Neuen in der Kunst gewaltsam unterbinden) perspektivisch als ein erster historischer Zielpunkt ins Zentrum rückt; ihm gilt deshalb das Schlußkapitel dieses Buches. III. Der Blick, der sich allein an Gattungsentwicklungen orientiert, mag abgleiten am Spezifischen von Phänomenen, deren Dynamik über Gattungsgrenzen hinausdrängt. Das scheint nicht allein für melodramatische Formelemente zu gelten, sondern ein generelles Problem der Musiktheaterforschung zu sein, das zum Beispiel die Spielarten des Rezitativs zutage treten lassen: Dramatisch-dialogische Rede in Musik läßt sich nur als spezifischer Stil, nicht aber als musikalische Gattung oder F o r m beschreiben. Mit wachsendem Komplexionsgrad im Verhältnis von dramatischer Rede und musikalischem Ausdruck mehren sich folglich die Probleme der Klassifizierung und Benennung von Teilen der Oper.^^

Gattungsorientierte Historiographie im Musiktheaterbereich sieht sich überdies einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert, und Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring plädieren konsequent dafür, »die methodische Auseinandersetzung um den >Gattungsbegriff< preiszugeben und mit der Analyse bei den empirisch greifbaren Erscheinungen, zuerst den Werken, anzusetzen«.^' Die gängigen historischen Gattungskonstrukte nämlich seien kaum tragfähig, da »die in der Operngeschichtsschreibung allenthalben getroffenen Aussagen über gattungsgeschichtliche Prozesse selten empirisch abgesichert, die Kriterien statt dessen - in Verbindung mit anderen ästhetischen Ideologemen - gattungstheoretischen und anderen Schriften arbiträr entlehnt worden sind«.^'* Es kann nun nicht Aufgabe einer Spezialstudie wie der vorliegenden sein, gängige Gattungscorpora zunächst auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, und entsprechend wird in den dramaturgisch-analytischen Passagen die gattungstheoretische Differenzierung der Ergebnisse grobkörnig ausfallen müssen. Dies noch aus einem weiteren Grund: Das Melodram besteht, nach dem verbreiteten 21 Dieter Schnebel (1984), S. 213, hat diesen Vorgang so akzentuien: »Seit mit dem Zerfall des Individuums auch das Singen dahinschwand, wirkte der Sprechgesang eigentlich nicht mehr als in Musik verwandelte Sprache, eher als musikalisch verfremdetes Sprechen, also grotesk.« 22 Schläder (1990), S. 134 23 Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring (1997), S. 2 24 Ebda.

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Erkenntnisstand, im 19. Jahrhundert hauptsächlich fort als Einlage in verschiedenen Formen der Oper. Wenn auch betont worden ist, das Melodram beziehe »seine Gestaltung ausschließlich aus dem Geist und dem Verlauf des Textes«,^' scheint damit zunächst eine gattungsgeschichtliche Perspektive vorgezeichnet: Die melodramatische Szene ist unter dieser Vorgabe latent hierarchisiert als Szenenmodell im Rahmen diverser Varianten übergeordneter Gattungsspezifik. Dahinter steht (oder stand) ein Werkbegriff, der in der Totalität einer schriftlich niedergelegten Komposition den Ausgangspunkt und das Zentrum der wissenschaftlichen Analyse aufsucht und in der Gattung die Parameter einer Betrachtung ihrer Elemente vorgegeben sieht.^' Theoretische wie praktische Implikationen jener ästhetischen Technik, die melodramatischen Formen essentiell ist, bleiben so unerkannt oder unterbewertet, da doch, wie Oskar Bie schrieb, die melodramatische Wort-Ton-Kombination keine Lösung des »Opernproblems« darstelle, sondern geradezu dessen »Vermeidung«.^^ Das Nachdenken über die eigentlich doch bemerkenswerte Tatsache, daß neben nicht musikalisch begleitetem Sprechen (im Schauspiel) und Singen (im Musiktheater) ein von beiden Theaterformen erschlossenes tertium des Gebrauchs der menschlichen Stimme auf der Bühne schlechthin existiert, ist dann desavouiert, weil die historische Bedeutungslosigkeit dessen dadurch vermeintlich erwiesen ist, daß in sich abgeschlossene große Werke großer Komponisten zu fehlen scheinen. Sähe man aber auch, ungeachtet schon der Frage, wie sich (mit Alfred Einsteins Formulierung) »Größe in der Musik« bestimme, davon ab, daß etliche Größen der Musikgeschichte seit Benda und Mozart melodramatisch komponiert haben (nur eben nicht autonome Werke von gattungskonformer Typik),^® so hätte man doch einzuräumen, daß spätestens für das 20. Jahrhundert die These unhaltbar würde. Mit der aufs jeweilige Ganze musikdramatischer Konzeption sich ausweitenden Erschließung variabelster Valeurs der Stimme durch Komponisten wie Schönberg, Berg, Busoni, Strawinsky, Schoeck und andere entfällt ihre ein wenig fadenscheinige Grundlage. Die Prämisse, daß ein Werk im Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen, der Teile zum Ganzen eine individualisierte Schöpfung vorstelle und daß die Verbindung gesprochener Sprache und Musik sich in diesem Sinne, wie Albert Wellek meinte, als »unorganisch« und »folglich unge-

25 Siegfried G o s l i c h (1975), S. 387 Schläder (1990), S. 132, sieht O p e r n f o r s c h u n g durch eine Fixierung auf die schriftlich niedergelegten K o m p o s i t i o n e n charakterisiert: » O p e r n f o r s c h u n g basiert bis auf den heutigen Tag trotz mannigfacher B e m ü h u n g e n u m theaterspezifische Fragestellungen [...] auf Stil- u n d kompositionsgeschichtlichen, der Musiktheater-Wissenschaft wenig förderlichen Interessen, u n d sie verfolgt teilweise gar konträre wissenschaftliche Ziele, wie D i s k u s s i o n e n etwa über authentische Werkgestalt u n d F a s s u n g e n letzter H a n d bei O p e r n belegen.« 27 O s k a r Bie (1913), S. 37 28 Eine durchaus unvollständige A u f z ä h l u n g könnte diese N a m e n enthalten: Beethoven, Schubert, Weber, Schumann, L o r t z i n g , Spohr, Marschner, Mendelssohn, Meyerbeer, Liszt, Richard Strauss usw.

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rechtfertigt« erwiesen habe,^' müßte konsequent zu der unergiebigen Folgerung führen, daß es sich bei den empirischen Exempeln melodramatischen Komponierens um irrelevante künstlerische Verirrungen gehandelt hätte. Weshalb großen Werken dennoch »unorganische« melodramatische Abschnitte integriert sind,'" die doch, unter solcher Maßgabe, streng genommen den Werkorganismus zerstören müßten, ist eine Frage, die den Erweis vermeintlicher Redundanz der melodramatischen Technik (»in der Sache überflüssig«) im Rahmen seiner eigenen Prämissen suspendiert. IV Ein entscheidender Aspekt der Geschichte melodramatischer ästhetischer Praxis ist durch Einwände wie die zitierten aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen worden: Melodramatische Formgebilde sind von elementarer Bedeutung in den kaum beachteten Schauspielmusiken des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts.'' Weil eine Schauspielmusik kein Werkganzes repräsentiert (und isoliert von einer Inszenierung nicht als zusammenhängendes Werk rezipiert werden kann), hat eine auf das Werk und den Werkbegriff festgelegte Wissenschaft mit dieser »Hilfskunst« des Sprechtheaters wenig anzufangen gewußt.'^ Damit konnte das melodramatische Sprechen als Bestandteil schauspielerischer Praxis nicht ins Bewußtsein gelangen. Seinen bevorzugten Ort hat aber dieser Modus der artistischen Stimme während des 19. Jahrhunderts im musikbegleiteten Schauspieltheater, und melodramatischen Schauspielmusiken gilt deshalb in der vorliegenden Untersuchung besondere Aufmerksamkeit. Hier ist (und bleibt) noch Bemerkenswertes zu entdecken; denn die Geringschätzung von Schauspielmusik hat implizit auch die Annahme verfestigt, erst in den innovativen Entwürfen des 20. Jahrhunderts werde die »Sprechstimme« musikfähig.'' »ExponenAlbert Wellek: Über das Verhältnis von Musik und Poesie. In: Steven Paul Scher (1984) S. 7 1 - 8 3 . Hier S. 79. Exemplarisch: Die Kerkerszene in >Fidelio< und die Wolfsschlucht in >Freischütz.< Monika Schwarz-Danuser (1997) schafft hier insoweit Abhilfe, als in ihrem hervorragenden Stichwortartikel die Breite des Phänomens angemessen thematisiert wird. Einen Beitrag zur grundlegenden Erfassung der historischen Bedeutung von Schauspielmusik hat Hedwig Meier (1999) vorgelegt, dabei auf einläßlichere Analysen melodramatischer Passagen jedoch verzichtet. A u c h frühere monographische Darstellungen zur Schauspielmusik haben traditionelle (und triviale) Hierarchisierungen adaptiert; so Kurt Wolfgang Püllen (1951), S. 1: »Die Stellung der Schauspielmusik als Hilfskunst gibt den Gesetzen des Dramas und des Theaters das Recht auf eine Vormachtstellung, der sich die musikalischen Gesetze unterzuordnen haben.« Auch f ü r Rüdiger Bätz (1924), S. 55f., ist Schauspielmusik »nicht organisches Glied des Ganzen« (weil das Schauspiel sie nicht notwendig »braucht«) und deshalb »nicht selbst Kunst«. Nach geläufigem Forschungsstand geht die Einfügung der Sprechstimme in die musikalische Faktur mittels einer speziellen Notation (»gebundenes Melodram«) auf Engelbert Humperdinck zurück. Doch schon in den >Compositionen zu Göthe's Faust< des Fürsten Radziwill wird mit gebundenem Sprechen (und einer graphisch abgesetzten Notation) experimentiert. Vgl. dazu IV. A . 1.3.

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ten der Moderne«, schreibt etwa Monika Schwarz-Danuser, »reahsierten, mit unterschiedUcher Intensität, die Wende, die vom Melodram des 19. zur Sprechstimme des 20. Jahrhunderts führte.«'"* Diese musiiswissenschaftüche These wäre nun, wie mir scheint, zu modifizieren. Sie schließt implizit eine gattungsoder formgeschichtliche Betrachtungsweise mit einer stimmästhetischen kurz, ohne letzterer gerecht werden zu können: Das Melodram, zunächst dramatische Gattung, dann kompositorisches Modell, kann nicht durch die Sprechstimme, prinzipiell ein Medium der klanglichen Realisierung, abgelöst werden. Jedenfalls wird dadurch ein historischer Umschlag hypostasiert, der so nicht stattgefunden hat. Denn die Sprechstimme ist bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu angedeuteter Festlegung ihrer Tonhöhe der musikalischen Faktur angenähert worden. Homogen wird das Argument hingegen, wenn man darauf verweist, daß im 20. Jahrhundert das melodramatische Sprechen äußerst variabel differenziert und in innovative kompositorische Zusammenhänge eingerückt wird, wobei es sich allerdings entscheidend erweitert und modifiziert. Der eigentliche (spätere) Umschlagpunkt wäre dann weniger am Eindringen der Sprechstimme in die Musik auszumachen als an der Fragmentierung der textlichen Semantik. Erweitert man also das Begriffsset um den systematischen Terminus des melodramatischen Sprechens, so bleibt die Herkunft dieses Modus' der Stimmbehandlung greifbar, und neben das Moment der Ablösung tritt dasjenige der Kontinuität. Sie zu akzentuieren, ist hier beabsichtigt; nicht etwa, um Traditionsbrüche zu überspielen (und dadurch zu verkennen), sondern um im konkreten Fall ästhetische Innovation als dialektische Prozedur von Affirmation und Negation des Vorhandenen begreifen zu können. Und gerade hinsichtlich der Stimmästhetik waltet dabei in der Tat eine gewisse Kontinuität. (Daß musikalische Elemente gesprochener Sprache schwer diskutabel sind, und daß man deshalb geneigt sein könnte, ihre Diskussion in Quellenschriften als obsolet, wo nicht als Unfug abzutun, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß sie mit dem Verlust eines theatralen Sprechstils, der sie zu nutzen wußte, aus dem Sinn gerieten und ihre Erörterung seit den monographischen Arbeiten von Eva Morschel-Wetzke und Irmgard Weithase im großen und ganzen eine schöpferische Pause eingelegt hat.'') Andererseits wurde nicht erst im 20. Jahrhundert an prägnanten Stationen der Musikgeschichte wiederholt eine Neuformulierung der musikalischen Deklamation unternommen. Und wiederholt hat man dies damit begründet, es gelte, die sprachliche Deklamation selbst so naturwahr als möglich durch Musik zu unterstützen (und das heißt, solange Sprache dabei nach musikalischen Parametern vertont wird, Sprache, sei es auch unter der Prämisse des inhaltlich Adäquaten, ins musikalische Tonsystem einzukomponieren). Durch die Autorität Richard Wagners, der das Melodram als »Genre von unerquicklichster

Schwarz-Danuser (1997), Sp. 93 Für die Bühnensprechstimme erneuert Göttert (1998), S. 373ff., die vormals lebhafte Debatte. 13

Gemischtheit« v e r w a r f , w u r d e der Zugang zur melodramatischen Option zunächst erschwert;'^ unter Berufung auf Wagner dann aber sogar ausgeweitet, indem Engelbert Humperdinck sein »gebundenes Melodram«, die diastematisch in der Notation fixierte Sprechstimme, als konsequente Fortsetzung Wagnerscher Ideen verstehen wollte. V Der kulturgeschichtliche Kontext des Themas ist, wenn man ihn weit denkt, komplex: Der frühe, sprachskeptische Friedrich Nietzsche sieht die ursprüngliche Aufgabe der Sprache darin, »über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen«.'' Gegen die moderne Sprache als »Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden«,^' sucht er Möglichkeiten unmittelbaren Ausdrucks, Möglichkeiten wahrhaftiger Sprachlichkeit, und er findet sie im Werk Richard Wagners, der seinerseits eine als pathetisch-hohl empfundene sprechtheatralische Deklamation musikalisch-dramatisch transformieren will.''" Und zum Ende des hier veranschlagten Zeitraums, im Jahr 1932, erscheint eine Anthologie der Schriften von Louise Dumont, die 1905 zusammen mit Gustav Lindemann das Düsseldorfer Schauspielhaus gründete und dort ein sprachzentriertes, ein an das auratische Vermögen der menschlichen Stimme gebundenes Theater zu etablieren suchte.'" Der Band enthält einen Ursprache betitelten, programmatischen Essay. In ihm findet sich der Dumontsche Ansatz auf einen Satz kondensiert: »Was wir erarbeiten müssen, ist aber dieses: wir müssen, gleichwie es in der Musik geschieht, die ihrem tiefsten Wesen nach auch unergründlich ist, den erfaßbaren Teil der Gesetzlichkeit unserer Sprache in lebendige Wirklichkeit umsetzen und hiernach das Theater bilden.«'*^ Dumont wendet sich an der Oberfläche des historisch Synchronen einerseits gegen sogenannte naturalistische Alltagssprache auf dem Theater, andererseits gegen die leerlaufende Pseudomusikalität des Hoftheaterpathos. Ihre Thesen von der deutschen Sprache als 36 Richard Wagner (1983), Bd. 7, S. 122. Wagners Ablehnung gründet auf der These, die Kombination gesprochener Sprache und Musik erschöpfe sich im Additiven und gelange nicht zur aufs »Drama« hingeordneten Synthese. Daß der junge Wagner selbst melodramatische Szenen komponierte, widerspricht dem nicht. (Näheres unter IV. A.1.1.) 38 Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth. In: Ders. (1988), S. 455. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Ders. (1968), S. 102 ••0 Konzise Formulierungen gegen das leere Deklamationspathos, das er als bedenklichste Erscheinung »der theatralischen Darstellungen von Dramen idealer Tendenz« geißelt, finden sich in >Über die Bestimmung der Oper< Vgl. Richard Wagner (1983), Bd. 9, S. 151ff. Eine symptomatische Formulierung Lindemanns: »Die Geist-Offenbarung, die das Theater vermittelt, geschieht durch das Wort. Die Sprache in ihrem tiefsten Gehalt, ihrem Rhythmus, ihrem Klang und ihrer Farbigkeit ist dem Dichter das Material, in dem er seine Visionen formt.« [Zitiert nach Manfred Linke (1969), S. 170] ^^ Louise Dumont: Ursprache. In: Dies. (1932), S. 1 3 - 2 9 . Hier S. 13.

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musikalischer »Ursprache« stützt sie dabei, freihch wenig konkret, auf Herder. In bestimmter Hinsicht nicht zu Unrecht; läßt sich auch Herders Sprachursprungsphilosophie kaum durchgängig auf Dumonts Spekulationen applizieren, so hatte Herder doch 1769 im Vierten Kritischen Wäldchen hergeleitet, daß »die Natur keinen nähern Weg an die menschliche Seele wußte, als durchs Ohr vermittelst der Sprache, und keinen nähern Weg an die Leidenschaft, als durchs Ohr vermittelst der Schälle, der Töne, der Accente«.*" Der Primat des Hörsinns, der sich in dieser Formulierung verbirgt, bedeutet um 1770 eine Umakzentuierung; denn die Aufklärung hatte all ihr Vertrauen in den Sehsinn gesetzt. Peter Utz hat dies dargestellt: Erst Herder kehrt als Opponent gegen das Auge diese Argumentation um. In seiner berühmten Abhandlung Vom Ursprung der Sprache (1771) wird gerade die Nähe, die das O h r zwischen N a t u r und Seele herstellt, zu dessen entscheidender Leistung. Denn sie ist der Ursprung der Sprache: »Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet, und selbst ein Blinder und Stummer, siehet man, müste Sprache erfinden, wenn er nur nicht fühllos und taub i s t . « "

Tatsächlich fällt auffälligerweise die Entstehung des Melodramas gerade in jene Zeit, da Spekulationen über den Ursprung der Sprache wie auch über den Ursprung der Musik das Verhältnis beider zueinander in ein neues Licht rücken. Jean-Jacques Rousseau, dessen Pygmalion als Initialwerk des frühen Melodramas gilt, hat die Sprache, insofern sie primär unmittelbar Ausdruck gewesen sei, als gleichen Ursprungs mit der Musik gedeutet. Dieses ursprünglich Musikalische der Sprache werde in einer entwicklungsgeschichtlich frühen Schicht der modernen Sprachen noch tradiert. Ähnlich dem Herderschen Modell kennt das Rousseausche so etwas wie eine ursprüngliche Gesangssprache: »Sprache, die bei der Empfindung beginnt, ist lebendig und bildhaft und so sehr von lautmalerischen Nachahmungen geprägt, daß das Sprechen eigentlich schon Gesang ist.«"*^ Und im deutschen Sprachraum erkennt Klopstock, zeitgleich zu Herders Ursprungsspekulationen, den »eigentlichen Umfang der Sprache« in deren klanglicher Gestalt, im Unterschied zum schriftlichen Substrat davon: »Der eigentliche Umfang der Sprache ist das was man, ohne den Redenden zu sehn, höret.«'*' Die gesprochene Sprache ist ihm von durchaus musikalischer Qualität, und sie übertrifft den eigentlichen Gesang an Nuancierungsmöglichkeiten.''^ Es wird sich zeigen, daß diese Vorstellung einer musikalischen Vergegenwärtigung der Sprache durch das »Instrument« der menschlichen Sprechstimme bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein im theoretischen Diskurs über Fragen der Büh-

« Johann Gottfried Herder (1987), Bd. 2, S. 153 t-t Peter U t z (1990), S . 2 3 Christine Zimmermann (1995), S. 85 Friedrich Gottlieb Klopstock (1954), S . 3 5 4 Göttert (1998), S. 381: »Die Sprache wird geradezu musikalisch aufgelöst, jedenfalls hängt die Bedeutung wesentlich von den parasprachlichen Mitteln des Klangs und des Rhythmus ab.«

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nenstimme virulent bleibt.''® Angesichts des enormen Zeitraumes versteht es sich dabei, daß geistesgeschichtlich einschlägige Quellen nur punktuell in den Gedankengang einbezogen werden können. Möglich (und nötig) ist es gleichwohl, theoretische Querverbindungen zur Praxis wenigstens in ihren Umrissen kenntlich zu machen: Denn ihnen verdanken die melodramatischen Experimente, über die theater- und musikgeschichtliche Empirie hinaus, ihren kulturgeschichtlich umfassenden Stellenwert. Allerdings lassen sich solche Querverbindungen nicht ohne weiteres auf der Grundlage empirischer Evidenz konstruieren, wie Carl Dahlhaus in einer methodologischen Parenthese notiert hat: »Die empirische Beziehungslosigkeit des geistig Analogen ist das zentrale Problem der Ideengeschichte.«'" Ideengeschichtliche Theorie kann eine Virulenz entfalten, die praktischen Niederschlag zeitigt, ohne daß die Praxis über ihre theoretischen Bedingungen aufgeklärt sein müßte. Mit konkretem Bezug aufs Thema formuliert: Die Vorstellung, daß es eine Sprache des wahrhaftigen Pathos geben müsse, die sich, als Sprache des Theaters, durch einen »musikalischen«, das Pathos beglaubigenden Duktus auszeichne (ohne doch »Musik« im konventionell geläufigen Sinn zu sein), bleibt im Ideenhaushalt lebendig und ist nicht, wie man womöglich glauben könnte, eine alleinige Domäne frühromantischer Kunsttheorie. Die hartnäckige Suche nach einer Sprache, die »einen musikalischen Klang annimmt, der aber nicht ins Singen verfällt«,^" wird in diesem umfassenden Kontext erst verständlich. Und daß noch ein auf Präsenz der menschlichen Stimme bauendes Theater wie das der Louise Dumont sich durch Herder legitimiert sieht, kann als Beleg für die nachhaltige Wirkung im 18. Jahrhundert entwickelter Theoreme gelten: Sie bilden einen bei Bedarf aufzurufenden Traditionsbestand, dessen Kraft sich mitnichten darin erschöpft, daß man ihn etwa als bloßes Argumentations-Surrogat nutzte. Mitunter wird in der anhaltenden historischen Debatte sogar versucht, das sprachmusikalische Ubergangsfeld stimmlicher Ästhetik als Normalfall theatralischer Deklamation zu bestimmen. Es gibt in der Theoriebildung eine teils latente, teils offen sichtbare Tendenz, die dramatische Deklamation einsinnig zu denken, unabhängig von ihrer Bindung an die speziellen Theaterformen des Schauspiels und der Oper. Und mit der (kulturgeschichtlicher Spezifik geschuldeten) scheinbar feststehenden Differenz von Singen und Sprechen, in der doch die differentia specifica von Oper und Sprechtheater gegeben scheint, wird dann, und sei es nur implizit, auch die Dichotomie dieser Theaterformen selbst problematisch.

So sieht noch Carl Hagemann (1916), S. 174f., die Sprechstimme als »geschlossenes Instrument«, das in seinem stufenlosen tonlichen Nuancierungsreichtum »jedes andere Musik-Instrument« übertreffe. Carl Dahlhaus: Musikbegriff und europäische Tradition. In: Dahlhaus und Eggebrecht (1985), S. 4 3 - 5 4 . Das Zitat auf S. 51. 50 Herbert Biehle (1931), Bd. 1, S . 3 4 3 (Hervorhebung von Biehle)

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VI Die Option musikalischen, die Option melodramatischen Sprechens ist vor allem anderem eine Option der menschlichen Stimme: Ihr gilt deshalb in der theatergeschichtlichen Perspektive dieser Arbeit das Hauptaugenmerk; andere Aspekte des Theaterereignisses bleiben weitgehend ausgeblendet. Dies ist freilich nur möglich um den Preis einer Reduktion der Komplexität von Theaterereignissen, derer man sich bewußt zu bleiben hat. Die menschliche Stimme auf der Bühne transportiert zunächst Feinheiten textlicher Semantik und affektive Wirkungen, soweit sie schon textlich vermittelt sind. Doch ist sie zugleich unablösbar an den Körper gebunden. Um Stimme authentisch tönen zu machen, braucht es die Person und ihren Körper, der Stimme erst zeugt. Die Trias des Wirkschemas klassischer Rhetorik - pragmatische Regulation der Rede, Gewährleistung rednerischer Glaubwürdigkeit im Ethos dessen, der spricht, schließlich affektive Übertragung eines handlungsleitenden Impulses durch das wesentliche Wirkmittel des Pathos^' - , sie bündelt sich in der Stimme, die niemals nur Repräsentation eines logisch operierenden Intellekts, stets Manifestation einer komplexen Individualität ist. Die Unauslösbarkeit stimmlicher Äußerung und Repräsentanz des dramatischen Worts aus der Körperlichkeit der Darstellerindividualität ist, solange wenigstens nicht Mikrofon- und Verstärkungstechnik ins Spiel kommen, prinzipiell eine transhistorische Konstante. Helga Finter hat in einem Essay, dessen Titel (Die soufflierte Stimme) schon auf einen Artaud-Derridaschen Diskurszusammenhang verweist, Derridas Formel von der »soufflierten Rede« für die Verhältnisse der Stimme adaptiert und dabei neben Artaud, der Exempelstatus zugewiesen erhält, weitere historische Manifestationen »soufflierter Stimme« diskutiert; darunter melodramatische Arbeiten Schönbergs, Bergs und anderer.'^ Ohne nähere historische Spezifizierung wird dabei auch der hier in Rede stehende Zusammenhang thematisiert und wird die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts als Katalysator einer Umpolung namhaft gemacht: Zwar ist der Glaube an die Macht der Wortsprache erschüttert, aber das ist er seit dem Ende des letzten Jahrhunderts, dafür hat jedoch der moderne Text ihr einen Bereich erschlossen, der eine Seite der Wortsprache, ihre musikalische Qualität, in ihrer Funktion für den Sprechenden zu erforschen sucht. Die Musik, die Stimme des Textes wird dort erfahrbar als ein Grenzbereich zwischen dem Körper und der Wortsprache, als der Bereich, wo der Atem nicht mehr Körper und noch nicht Sinn ist.^'

Was hier als »Musik« oder »Stimme der Textes« erscheint, ist jedoch vor der Sprachkrise der Moderne schon implizit Thema der Deklamationstheorie: Wo sie im Klang der »Tonsprache« - die als vernachlässigtes Komplement und menschheitsgeschichtlicher Urgrund der Sprache, als unmittelbar körperlicher 51 Vgl. Karl-Heinz Göttert (1994), S.23; Gert Ueding und Bernd Steinbrink (1994), S.277 52 Vgl. Helga Finter (1982) 53 Ebda., S. 45

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Selbstausdruck vor aller Semantik nämlich verstanden wird - die Musik des Sprechens zu wecken sucht, da ist implizit der Grenzbereich zwischen Körper und Sinn immer im Spiel.^'* In der methodologischen (und dem Thema geschuldeten) Vorentscheidung zu weitgehender Beschränkung auf Aspekte der Stimme liegt zweifellos die Gefahr einer Überakzentuierung. Doch hat sie den unbestreitbaren Vorzug, einen bislang unterakzentuierten Aspekt der Theatergeschichte deutlicher hervorzukehren. U n d wenn hier die Bedeutung der menschlichen (Sprech)stimme für das Theaterereignis besonders hoch veranschlagt wird; wenn sogar, für das 19. Jahrhundert, ein mehr oder weniger latenter historischer Primat der Stimme unter den theatralischen Darstellungsmitteln erwogen wird, so dürfte das, wie die Dinge liegen, kaum bloß Ausdruck einer für alles andere blindmachenden Verliebtheit ins Thema sein.

Der Begriff Tonsprache meint hier, wie sich im Verlauf der Darstellung weiterhin klären wird, nicht die im 18. Jahrhundert entstandene Vorstellung von der sprachähnlichen und deshalb als »Tonsprache« bezeichneten Musik. (Vgl. zu dieser geläufigeren Variante Carl Dahlhaus (1979), S. 22)

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Vorüberlegungen: Einige Aspekte des Problems »Singen und Sprechen«

Die scheinbar feststehende Dichotomie von Singen und Sprechen ist kuhurell und historisch von begrenzter Tragweite, und auch systematisch ist sie durchaus fragwürdig. Die Probleme würden allerdings, wollte man sie transhistorisch erfassen, rasch unabsehbar, und es wäre ein hybrides Unterfangen, einer historischen Untersuchung eine strenge systematische Analyse voranzustellen, die sich überdies vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand zwangsläufig weit entfernen müßte. Die Schwierigkeiten begännen schon mit der (keineswegs leicht zu beantwortenden) Frage, ob Singen und Sprechen nicht erst apriorisch festzuschreiben wären, sollte der Versuch ihrer Distinktion nicht ohne Gegenstand bleiben. O b es sinnvoll sein könnte, die historischen Phänomene an einem auf dieser Basis gewonnenen Maßstab zu messen, schlösse sich als Folgefrage an. Weiter wäre zu klären, in welcher Weise die Aspekte der Inhaltlichkeit und der Intentionalität des Sprechens und des Singens auseinanderzuhalten seien. Hier zeigte sich dann rasch, daß »Singen« einerseits, »Sprechen« andererseits, als historisch unspezifische Begriffe genommen, je eine Fülle von Phänomenen einschließen, die sich kaum zu dem theoretischen Zweck voneinander sondern lassen, sie unter dem jeweiligen Oberbegriff einander gegenüberzustellen;' allein zwischen rezitativisch sprachgebundenem Gesang und einer im Melisma, mehr noch in der Koloratur sich verselbständigenden Vokalise ließen sich Differenzen aufzeigen, größer als die zwischen gehobenem (als »musikalisch« verstandenem) Sprechen und rezitativischem Vortrag. U n d es führte auch nicht weiter, letzteren als (wie auch immer exakt definierten) »Sprechgesang« und damit als spezifischen Sonderfall abzutun, der sich dem definitorischen Dichotomieproblem entzöge. Denn wie sich zeigen wird, ist der rezitativische Vortrag, gewiß im Berührungsfeld von Singen und Sprechen angesiedelt, gerade unter systematischem Aspekt (und mit guten Gründen) wiederholt explizit und dezidiert als Gesang definiert worden, fügt er sich doch, wenn auch rhythmisch freier, den Vorgaben des Tonsystems ein.^ Wollte man ihn dennoch aufgrund dessen gesondert behandeln, daß er lediglich, wie früher gerne formuliert wurde, der ' Verwiesen sei auf das Phänomen der Ton- oder Klangsprachen, in denen sich Semantik an Tonhöhenrelationen koppelt. Vgl. Ernst Klüsen (1989), S. 60. (Klüsen stützt seinen Versuch eines systematischen Problemaufrisses - ebda., S. 57ff. - auf historisch-empirische Daten.) Mit systematischen Ansätzen u. a. auch (Beiträge in) Gruhn (1978), Schnitzler (1979), Scher (1984), Fecker (1984) und (1989), Sopko (1990). 2 Zur Frage des Tonsystems und seiner historischen Bedeutung für die Distinktion von Singen und Sprechen siehe unten unter 1.

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Sprache, dem Text »diene« - dann, spätestens dann, vervielfältigten sich die Schwierigkeiten. Denn man geriete in das fundamentale Problemgebiet des Verhältnisses von Sprache und Musik hinein und hätte, auf strenge Systematik verwiesen, von jeher diskutierte Thesen zu bedenken wie diejenige von der Sprachähnlichkeit der Musik.' Und um an dieser Stelle nur eine weitere Schwierigkeit einer systematisch ausgerichteten Relationsbestimmung von Singen und Sprechen zu nennen, wäre auf einen möglichen Einsatzpunkt eines solchen Vorhabens hinzuweisen: Er ergäbe sich aus der Feststellung, daß - gleichgültig, zu welchen Distinktionen man am Ende gelangen würde - die gesprochene Sprache, wie der Gesang, ein Klangphänomen unter den Bedingungen von Raum und Zeit ist, das Bestimmungen an sich hat, die man der Musik zuzuschreiben gewöhnt ist: (mehr oder weniger klar spezifizierbare) Tonhöhen, (mehr oder weniger klar definierte) rhythmische Qualitäten, die sich zum Eindruck eines vorherrschenden Metrums oder zu (mehr oder weniger spezifischen) Temporelationen ausprägen können; Lautstärke und ihre dynamische Modulation (ein Parameter, der sich am unproblematischsten universalisieren zu lassen scheint); Prosodie und ihr Verhältnis zur Tonhöhenfolge oder Sprachmelodie, die freilich, hierin am deutlichsten trennend, unter den Bedingungen des Tonsystems zur tonhöhenfixierten Gesangsmelodie gerinnt. Lassen derlei Überlegungen es wenig geraten erscheinen, das Problem ausschließlich theoretisch anzugehen, so bietet sich der Hinweis auf drei Aspekte möglicher Problemformulierungen an, die im gegebenen Rahmen entschieden weiter führen. Der erste betrifft den Aufweis dessen, daß Distinktionen von Sprechen und Singen historisch und kulturell divergieren. Der zweite zeigt am historischen Beispiel, daß systematische Bestimmungen impliziten historischen Prämissen unterliegen können; er wird fruchtbar, indem er ein für die speziellen Zwecke spezialisierter Historiographie brauchbares Kriterium ins Spiel bringt. Der dritte schließlich kehrt vorab die Perspektive des ersten Kapitels dieses Buches um: So, wie die Theorie der sprechsprachlichen Deklamation das Sprechen sub Speele musicae zu denken suchte, so zeigen sich im historischen musikalischen Diskurs reformerische Tendenzen, die komponierte, zünftig vertonte Deklamation von (tatsächlichen oder scheinbaren) Einengungen abgelöst zu denken, welche die Musik - mag sie auch der Sprache zu gesteigertem Ausdruck, zu unvergleichlicher emotionaler Wirkung verhelfen - jeder Sprachvertonung vorgibt, die in den Bedingungen des musikalischen Tonsystems aufgeht.

3 Bereits das alltagssprachliche Verständnis verweist auf vielfältige Weiterungen. Wilfried Gruhn (1978), S. 14: »Der gesamte unter dem Thema >Musik und Sprache« zusammengefaßte Komplex schließt im allgemeinen Sprachgebrauch zwei Aspekte ein: zum einen ist damit die prinzipielle Analogie der Musik zur Sprache, ihre Sprachähnlichkeit und ihr Sprachcharakter, d. h. die sprachliche Dimension der Musik gemeint, zum anderen aber das besondere Verhältnis von Komposition und vertontem Text.« + Ernst Klüsen (1989), S. 60 5 Ebda., S. 61

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1.

Kulturelle und historische Divergenzen

In etlichen Kulturen koppelt sich die Semantik der Sprache an musikalische Parameter ihres Klanges, die sich als musikalisch oder, je nach akzeptiertem Musikbegriff, als potentiell musikalisch qualifizieren lassen: In einigen Teilen der Welt, beispielweise in A f r i k a und China, erhält das Element der Tonhöhe konstitutive Bedeutung für die Sprache, insofern eine bestimmte Silbe auf einem höheren oder tieferen Ton gesprochen etwas anderes aussagt, also die Semantik verändert.''

Latent ist die Berührung von Sprechen und Musik im Sprachklang ubiquitär. Dessen Substrat, seit den Spekulationen über die Ursprünge von Sprache und Musik im 18. Jahrhundert diskutiert, ist der interjektionale, präsemantische Laut: Im Gegensatz zum durchartikulierten W o r t mit rationaler Zweckbestimmung und konkreter semantischer Bedeutung, handelt es sich bei der Interjektion um eine spontane Lautgebärde ohne rational festlegbare Wortstruktur, die einer plötzlichen Emotion unreflektierten Ausdruck gibt.^

Hegel sah in der Interjektion den »Ausgangspunkt« der Musik; erst als »kadenzierte Interjektion« werde sie freilich Kunst.^ Im interjektionalen Moment der Sprache, das auch als ihr »tonsprachlicher« emotionaler Grund verstanden wurde, entdeckte auch die Deklamationstheorie des 19. Jahrhunderts die Legitimation dafür, das Sprechen selbst als eine Musik zu verstehen. Wagner sah, von dem Prinzip nicht allzu weit entfernt, in der Freilegung des »tonsprachlichen« Untergrundes der Sprache, die dadurch eine Unmittelbarkeit nicht rational verstellter menschlicher Verständigung wiedergewinnen sollte, den Einsatzpunkt eines möglichen Wort-Ton-Dramas. Und noch Adorno stützte im Fragment über Musik und Sprache seine These von der Sprachähnlichkeit der Musik auf das Indiz ihres interjektionalen Keims.' Der Laut wird bestimmt als das elementare Gemeinsame, als der präfixierte Urgrund von Sprache und Musik überhaupt. Auf die Basis dieses Theorems hatte man letztlich schon im 18. Jahrhundert das spekulative Modell einer Gleichursprünglichkeit von Sprache und Musik gegründet: »Der erste Artikulationakt des Menschen«, so erläutert es Christine Zimmermann mit Bezug auf Herder, »unwillkürliche physische Aktivität, ist Ursprung von Sprache und Musik zugleich.«^ Daß sich die expressiven und ästhetischen Möglichkeiten der Stimme nicht in den als dichotomisch (miß)verstandenen Stimmspezialitäten des Singens und des Sprechens erschöpfen, bezeichnet kulturell wie historisch keineswegs eine seltene Ausnahme: »Daß in (wahrscheinlich allen) alten Kulturen das Rezitieren 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, Bd. 2 (1985), S . 2 7 3 ^ Theodor W. A d o r n o (1978), S. 251: »Die Sprachähnlichkeit reicht v o m Ganzen, dem organisierten Zusammenhang bedeutender Laute, bis hinab zum einzelnen Laut, dem Ton an der Schwelle zum bloßen Dasein, dem reinen Ausdrucksträger.« 8 Christine Zimmermann (1995), S. 15

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poetischer Texte >halb gesungen< war, steht f e s t . « ' D i e Ausdifferenzierung zweier strikt getrennter M o d i der Stimme ist als Besonderheit zu betrachten, deren (scheinbar selbstverständliche) Prämissen allerdings durchaus problematisch geblieben sind. In europäischen Kulturen spiegelt sich die historische Begrenzung der Tragweite Jener Ausdifferenzierung im Begriffspaar des Singens und Sagens, das nach Ernst Klüsen als stehende Wendung von der Einheitlichkeit eines musikalisierten Vortragsmodus' zeugte: In der frühen Germanistik, bis kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert, nahm man den Ausdruck zunächst als Beschreibung eines einheitlichen Vorgangs, als technische Beschreibung für den Vortrag epischer Lieder, als ein Mittelding zwischen Rede und Gesang, als ein Erzählen mit pathetisch gehobener Stimme, als eine tautologische Verbindung, bei der Singen den musikalischen Vortrag, Sagen seine sprachliche Gestaltung bezeichnete.'" Singen und Sagen deckt im Bereich der mündlich vorgetragenen E p i k »die ganze Skala der Ausdrucksmöglichkeiten, die im Singen, im Sprechen und in Z w i s c h e n f o r m e n beschlossen waren«, a b . " Als Singen und Sagen hebt sich das Sprechen, durch seine Musikalisierung, v o n seiner alltäglichen Verständigungsfunktion ab und wird feierliche Kundgabe; beansprucht j e d o c h nicht, Gesang, nämlich T o n kunst, zu sein. F o l g t man K a r l - H e i n z G ö t t e r t s Darstellung, so erweist sich der mittelalterliche »Sprechgesang«, und mit ihm die einheitliche Präsentationsform des Singens und Sagens, als »das erste O p f e r des Buches bzw. des Lesens«.'^ D e r Untergang der Oralität markiert eine entscheidende »Reduzierung der S t i m m kultur«, nämlich den Verlust eines reichen Ubergangsspektrums

stimmlicher

Varianz, das die Grenzverläufe zwischen den stimmlichen Äußerungsformen fließend hielt. Was das T h e a t e r angeht, war dieser »Sprechgesang« Grundlage des Sprachvortrags im geistlichen Spiel des Mittelalters: Das geistliche Spiel stammt ganz und gar aus der Welt der Oralität. Das Lesen der Texte stellt die Ausnahme dar, nur in Frankreich ist es zu Drucken gekommen. Zur Oralität aber gehört in diesem Falle das Element des Theatralischen, das weder der Prediger noch der Epenrezitator kennt: Sprechen in der vollen Breite aller medialen Möglichkeiten." D e r gehobene Vortrag des Lektionstons wird u m szenische Elemente angereichert.'"' D e r stimmliche Vortrag selbst geht dabei aus den liturgischen R e z i t a 9 10 11 12

Georg Knepler (1977), S. 120 Klüsen (1989), S. 68 Ebda., S. 70 Göttert (1998), S. 197. Der Terminus »Sprechgesang« ist musikwissenschaftlich schwach spezifiziert. Rudolf Stephan in MGG, Bd. 8 (1998), Sp. 1698: »Das Wort Sprechgesang ist die Bezeichnung für eine Vortragsweise zwischen Singen und (gewöhnlichem) Sprechen, sich bald diesem, bald jenem mehr annähernd.« Indem der Begriff das tertium der Stimmgebung neben Singen und Sprechen nur unpräzise erfaßt, zeugt er von der Breite dieses Übergangsbereichs. 13 Karl-Heinz Göttert (1998), S. 199 l"* Vgl. insgesamt die ausführliche Darstellung ebda, S. 190ff. 22

tionsformen hervor; dies gewährleistet die Bindung der Theatralität geistlichen Spiels an seine liturgische Herkunft. Insofern erklärt sich der musikalisierte Sprachklang des Wortes, um das diese Theaterform zentriert ist, nicht allein aus der Notwendigkeit, sich vor einer großen Zuhörerschaft, etwa auf dem Marktplatz, hörbar zu machen, sondern er ist ihr essentiell. Dabei nutzt das geistliche Spiel eine synchron und diachron Variante Palette von Vortragsarten, die nach »dicere« und »cantare« differenziert werden; zwei Termini, die insgesamt ein abgestuftes Set rezitativischer bis melismatischer Vortragsarten bezeichnen.'^ War im frühen Mittelalter der inhaltliche Aspekt des Aussagens (eines geistlichen Inhalts) primär, so wird im Spätmittelalter der technische Aspekt des Vortrags aufgewertet. Erst um 1500 wird der gregorianische Choral in musikwissenschaftlichen Abhandlungen dezidiert als Musik diskutiert; was zuvor als gehobener Verkündigungston dem Sprechen zugeordnet war, gilt nun als Singen. Die Ausprägung des modernen europäischen Verständnisses von Singen und Sprechen vollzieht sich insgesamt offenbar in einem doppelten Paradigmenwechsel, den Göttert so differenziert: 1) In Antike und Mittelalter fällt der als »Sprechgesang« qualifizierte Sprachvortrag unter einen weiten Begriff von Sprechen (der, so ließe sich ergänzen, »Singen und Sagen« als einen einheitlichen Vorgang einschließt). Entscheidend für diese Klassifizierung ist die Zentrierung des Vortrags im feierlichen, mit erhöhter Stimme verkündeten Wort. 2) Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit ergibt sich eine erste Umformung: Was als Kundgabe im Modus eines stilisierten Sprechgesangs vormals zum Sprechen zählte, unterliegt nun der kunstgemäß-technischen Betrachtung und gilt als 3) Seit dem 17. Jahrhundert verfestigt sich, im Zuge einer abermaligen Umformung, der geläufige Sprachgebrauch: Sprechen meint Gespräch, Rede, Rezitieren; Singen meint den Vortrag von Volkslied, Kunstlied, Oper.'' Das Abgrenzungsproblem stellt sich jedoch, nachdem es seit dem beginnenden 17. Jahrhundert fürs erste geklärt scheint, erneut, wenn man sich mit der Geschichte der Deklamationskunst und deren Verbindung mit melodramatischen Formen beschäftigt. In den Schriften zur Deklamationstheorie, die seit dem frühen 19. Jahrhundert das Phänomen eines musikalischen Sprechtons um15 Vgl. die tabellarische Darstellung bei Ulrich Mehler (1981), S . 2 1 6 . Mehler unterscheidet die Gesamtheit von Vortragsarten und textlich festgehaltenen Vortragsbezeichnungen des geistlichen Spiels nach »einfachen« (liturgisches Rezitativ, Antiphonen) und »melodiösen« (Responsorien, Sequenzen) F o r m e n des gregorianischen Chorals sowie nach »>weltlicher< Melodik«. Die Bezeichnung »cantare« scheint erst seit dem Spätmittelalter auch für die einfache F o r m des liturgischen Rezitativs Verwendung gefunden zu haben. Mehler (ebda., S. 2 1 5 ) erläutert mit Blick auf die Praxis des geistlichen Dramas: »Auch die einfacheren gregorianischen Gesänge und das Liturgische Rezitativ werden nun als Gesang verstanden und können (müssen aber nicht) mit >cantare< bzw. >singen< bezeichnet werden.« Vgl. G ö t t e n (1998), S. 172

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kreisen, spiegelt es sich in der obligatorischen Ermahnung, man möge musikalisch sprechen, ohne in eigentlichen Gesang zu verfallen.'' Als entscheidendes Kriterium der Differenz, an dem allerdings zugleich diese Differenz selbst prekär wird, erweist sich im historischen Feld die Tonhöhe in ihrer Verbindung mit der Tondauer. Das gilt aufs Ganze gesehen für den gesamten hier behandelten Zeitraum: Denn das System der zwölf Halbtöne bleibt, trotz der Auflösung der Tonalität und trotz der Entwicklung der Zwölftonmusik, weitestgehend bindend; es wird sogar durch das Verfahren, die gesamte Anlage einer Komposition aus bestimmten Relationen zwölf gleichberechtigter Einzeltöne zu entwikkeln, tendenziell befestigt. Selbst ein vierteltöniges Komponieren, wie es John Herbert Foulds 1898 erstmals in einem Streichquartett praktisch anwandte, höbe die Bedeutung des Kriteriums der Tonhöhe nicht auf." Denn die spezifische Differenz der Sprechstimme zu allen mit fixen Intervallstrukturen arbeitenden musikalischen Tonystemen besteht zunächst in ihrer Fähigkeit, unendlich differenzierte Mikrointervalle zwischen den Tönen eines musikalisch präfixierten Materials wiederzugeben.

2.

Systematische Differenz von Singen und Sprechen in historischer Perspektive

Am hochqualifizierten Kunstgesang orientierte heutige Ansätze, die Differenz von Singen und Sprechen systematisch zu begründen, bleiben auf historisch eingeschränkt tragfähige Kriterien angewiesen. Erkennbar wird dies an der Definition von Peter-Michael Fischer und Karl Hartlieb: Im Gegensatz zur variabel gleitenden Sprechstimme gilt beim Singen eine Folge von festgelegten Tonschritten, deren klangästhetischer Eindruck durch kleine Ungenauigkeiten der Intonation (zu hoch, zu tief) stark beeinträchtigt und korrekturbedürftig empfunden wird. Weiter sind beim Singen die Vokale gedehnt, weil sie sich besonders als Melodieträger eignen. Die rhythmischen, dynamischen und melodischen Eigenschaften des Singens sind von denen des Sprechens qualitativ verschieden.^"

Kein Musiker wird bestreiten, daß möglichst präzise Intonation ein wesentliches Qualifizierungsmerkmal sängerischen Könnens darstellt, sei es für die Musik Monteverdis, sei es für die Rossinis, denen doch ganz unterschiedliche stimmästhetische Idealvorstellungen (und unterschiedliche Stimmungssysteme, also auch unterschiedliche Koordinaten »sauberen« Singens) entsprechen. Bereits

Detaillierte Erläuterungen hierzu finden sich in Kapitel I. der vorliegenden Arbeit. " Weitere Pioniere der Vieneltonmusik waren Richard Stein, Willi von Moellendorff und J. Mager, die zwischen 1906 und 1917 vierteltönig komponierten und bichromatische Instrumente bauten. (Brockhaus Riemann Musiklexikon (1989), Bd. 4, Artikel Vierteltonmusik.) Busoni, Habä und andere interessierte insbesondere die Möglichkeit gegenüber dem herkömmlichen Tonsystem differenzierterer Tonleitern. 20 Peter-Michael Fischer und Karl Hartlieb (1984), S. 123

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das Kriterium der Vokaldehnung wird jedoch mit Bhck auf die historische Praxis der Sprechkunst problematisch, denn Tondehnungen sind ein sprecherisches Kunstmittel bis ins 20. Jahrhundert hinein. Physikalisch meßbar scheinen sich S^rechstimme und Sängersti/nwje dagegen relativ eindeutig durch das Phänomen des »Sängerformanten« zu unterscheiden, das der Phoniater Horst Gundermann so erläutert: Vor allem [ . . . ] ist für das Singen der sog. »Sängerformant« zwischen 2 3 0 0 und 3 2 0 0 H z für alle Vokallaute bedeutsam. E r trägt zur Klarheit und Projektionsfähigkeit der Stimme bei und gestattet Differenzierungen im Timbre. Die erstaunliche Tatsache, daß es trainierten Stimmen gelingt, über das Orchester hinweg hörbar zu bleiben, ist auf diese Schallenergiespitze zurückzuführen.^'

Nicht nur wegen der inzwischen erheblichen Divergenz zwischen (mikrofontauglicher) professioneller Sprechstimme und virtuosem Kunstgesang, sondern auch aufgrund der experimentell erhärteten These, wonach Singstimme und Sprechstimme sich durch den Sängerformanten physikalisch meßbar unterscheiden, droht der ästhetische und akustische Verzahnungsbereich zwischen Singen und Sprechen aus dem Blick zu geraten. Dessen akustische Eigenarten lassen sich hier nicht aufklären, doch legen Tondokumente des frühen 20. Jahrhunderts die Hypothese nahe, daß sich das historische theatrale Sprechen klanglicher Qualitäten der Sängerstimme und damit auch der für sie günstigen Formantbereiche bedient.^^ Im übrigen ist die Unterscheidung von Sprechstimme und Singstimme auch nach heutigem Erkenntnisstand nicht unumstritten, denn es werden bei beiden Äußerungsformen die gleichen Organe eingesetzt, laufen dieselben physiologischen Vorgänge ab. E s besteht keine grundsätzliche Differenz. Was graduell abgrenzt, sind die relativ gleichmäßigen, wenig ausgleitenden Grundtonbewegungen beim Sprechen, w o keine bestimmten Tonstufen oder Tonhöhen vorgeschrieben sind, dagegen beim Singen weiterausholende Tonsprünge auftreten.^'

Selbst die graduelle Abgrenzung, wie sie hier formuliert wird, unterliegt noch unausgesprochenem historischem Vorbehalt: Die genannten »wenig ausgleitenden Grundtonbewegungen« lassen sich für historisches artistisches Sprechen entschieden nicht reklamieren. Der Versuch, über die experimentelle Analyse von Sprech- und Singstimme den Grenzverlauf zwischen Singen und Sprechen womöglich definitiv aufzuklären, erweist sich, wie wichtig der Sängerformant für die belastbare professionelle Sängerstimme und wie stichhaltig die Beschreibung dieses akustischen Phänomens zweifellos sind, unter historischem und ästhetischem Aspekt als nicht ausreichend. 21 H o r s t Gundermann (1994), S. 51. N a c h Fritz Klingholz (1990), S. 96, ist vor allem die Männerstimme auf den Sängerformanten angewiesen, um sich akustisch durchsetzen zu können. Peter-Michael Fischer (1993), S. 75f., erläutert die Existenz eines tiefen wie eines hohen Singformanten für jede Stimmlage; letzterer wird wegen seiner Bedeutung für Tragfähigkeit und Glanz als Sängerformant bezeichnet. Ergebnisse der Auswertung von über 4 0 solcher Tondokumente in Kapitel V. dieser Arbeit. 23 Gundermann (1994), S. 51. Ähnlich Joseph Sopko (1990), S. 67

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Historische Versuche, ein systematisches Kriterium zu gewinnen, sind deshalb im gegebenen Kontext von größerem Gewicht. Sie stecken den Rahmen der Untersuchung von ihrem Anfang und ihrem Ende her ab, und sie werden vor dem Hintergrund eines in bestimmter Hinsicht relativ konstanten Musikbegriffs formuliert. Ihr Gemeinsames nämlich ist nicht von ungefähr, daß sie sich an der Bezugsgröße des Tonsystems ausrichten: Das Tonsystem definiert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die europäische Vorstellung davon, was Musik sei. Carl Dahlhaus spricht vom fundamentalen Sachverhalt, daß es im musikalischen Denken Europas - in der impliziten, in Werken enthaltenen Theorie ebenso wie in der expliziten, in Traktaten ausgesprochenen - immer das Tonsystem - und nicht das rhythmische, orchestische Moment - gewesen ist, daß man als spezifisch »musikalisch« empfand: Noch 1948 als gerade in der seriellen Musik die Aufhebung des Primats der Tonhöhe erprobt wurde - unterschied Jacques Handschin die Tonhöhe als »zentrale« Toneigenschaft von der Dauer, der Intensität und der Klangfarbe als »peripheren« Merkmalen oder Parametern.^'*

Sprechtöne aber bleiben gegenüber dem Tonsystem unspezifisch und scheinen deshalb per se nicht musikalisch im strengen Sinne sein zu können; dies gilt prinzipiell auch für Musik, die sich, wie die Zwölftonmusik, von der (die Tonbeziehungen hierarchisierenden)ro«^ttor gelöst hat, aber am Tonsystem festhält.« Um 1770 formuliert Johann Gottfried Herder ein Differenzkriterium, das sich aus der sprachphilosophischen Spekulation über die Ursprünge von Sprache und Musik in der Unmittelbarkeit des menschlichen Affektausdrucks ergibt. In frühen Stadien der menschhchen Sprachentwicklung, so wird im Vierten Kritischen Wäldchen gesagt, bestimmten »Accente« den Ausdruck von Empfindungen und Bedürfnissen; rauhe Laute, die hoch und langanhaltend tönten. Eben dies, daß es sich um eine Folge »langangehaltner Accente« handelte, führt zu ihrer Prädikatierung als »roher Gesang«; denn wie ist anders Gesang und sprechende Stimme unterschieden, als daß jener nicht so wohl vermischte Schälle, als bestimmtere, länger angehaltne Töne, Accente der Empfindung gibt? Man sang also, indem man sprach^'.

Doch war dieser ursprüngliche Sprachgesang nicht schon Musik: Er hatte nichts minder, als eine annehmliche Folge dieser Töne; da sie vom Bedürfnisse und dem regellosen, heftigen Affekt hervorgestoßen, nur Herz und Seele durchbohren und erschüttern; nicht aber dem Ohre schmeicheln wollten.^' Carl Dahlhaus: Musikbegriff und europäische Tradition. In: Ders. und Hans-Heinrich Eggebrecht (1985), S . 4 3 - 5 4 . Hier S.44 Tonalität gilt prinzipiell als eine »verfestigte funktionale Differenzierung und hierarchische Abstufung von Tönen oder Akkorden«. Brockhaus Riemann Musiklexikon (1989), Bd. 4, S. 248 26 Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen. In: Ders. (1987), S. 162 27 Ebda., S. 162f.

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Zur bewußten Bildung einer »annehmlichen« Tonfolge bedurfte es erst eines Prozesses kultureller Verfeinerung. Die Bezeichnungs- und Ausdrucksfunktion ursprünglicher »Accente der Empfindung« mußte so weit zurückgedrängt, die Entwicklung einer selbständigeren sprachlichen Semantik weit genug vorangeschritten sein, um von der Bezeichnungsfunktion der »Accente« abstrahieren zu können und dann erst »Ton als Ton und Tonfolge als solche zu cultivieren; von dem Augenblick an wäre der Schritt getan zur Tonkunst«.^^ Die Grenze zwischen gesungener und gesprochener Sprache wird hier also diesseits der Differenzierung von Sprache und Musik gezogen; Gesang ist prinzipiell die Phonation länger andauernder Töne auf bestimmbarer Tonhöhe. Zu einem modifizierten, aber in wesentlichen Punkten vergleichbaren Resultat gelangt August Wilhelm Schlegel in den Briefen Uber Poesie, Silbenmaß und Sprache. Er stellt dort fest, daß Tanz, Posie und Musik ursprünglich »ein unteilbares Ganzes« waren; darin hänge zunächst der »rhythmische Gang« der Poesie mit der Musik zusammen.^' Bei den meisten Völkern sei der Zusammenhang so eng, daß sie keine selbständige Instrumentalmusik kennten; und der Mensch bringe das »Werkzeug des Gesanges« bereits mit auf die Welt.^° Verbinde sich jedoch die Stimme mit instrumentaler Musik, so sei sie an den musikalischen Takt gebunden, denn, glaubt Schlegel, es lasse sich »eine Musik von Instrumenten ohne Takt gar nicht denken«.'' Anders sei es im Rezitativ. Hier dürfe sich die Stimme Freiheiten erlauben; und dennoch handele es sich um »Gesang«: Die Kennzeichen, woran das O h r die singende Stimme von der redenden unterscheidet (auf welchem verschiedenen Spiel der Organe die Eigentümlichkeit beider auch beruhen möge), sind ein gewisses Schweben, das den Tönen Dauer verleiht; ihre Besdmmbarkeit in Ansehung der Höhe und Tiefe; und der Übergang von einem zum anderen nach bestimmbaren Zwischenräumen oder Stufen.^^

Schlegel bindet also Gesang nicht allein an die Tonhöhe (deren Bestimmung bei Herder noch vage blieb), sondern zusätzlich an die (dem Intrumentalspiel angepaßte) Intervallstufung und damit implizit an die Sonderentwicklung der europäischen Tradition; denn die These, daß Gesang zwingend aus einer Folge intervallisch klar definierter Einzeltöne bestehe, ist von historisch wie kulturell begrenzter Reichweite. Erwin Stein bezieht sich noch im Jahre 1928 erneut auf das probate Kriterium der längeren Dauer exakt bestimmbarer Tonhöhen; als entscheidendes Merkmal des Singens macht auch er das »Festhalten an der artikulierten Tonhöhe« aus.'' Seine Position ist deshalb von Interesse, weil es ihm darum geht, die Eigenheiten des melodramatischen Sprechens erkennbar zu halten, das dem so 28 Ebda., Zitiert Ebda., 31 Ebda., 32 Ebda. 33 Erwin

S. 164 nach Barbara Naumann (1994), S. 140 S. 145 S. 144 Stein (1928), S. 370

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definierten Gesang inzwischen denkbar nahe gerückt ist - er formuhert sie in derselben Ausgabe der Musikblätter des Anbruch, in der Alban Berg die musikästhetische Relevanz der basalen Differenzierung von Singen und Sprechen durch den Hinweis auf die vollwertigen musikalischen Qualitäten der Sprechstimme implizit für historisch überholt erklärt.'"' Festzuhalten ist: Die spezifische Differenz des Singens bestimmt sich im Zeitraum, der hier zur Diskussion steht, primär am Kriterium der (intervallisch regulierten) und für eine rezeptiv klar zu realisierende Dauer beibehaltenen Tonhöhe. Das schließt jedoch nicht aus, daß die durchs musikalische Tonsystem präformierte Grenze hier und da als einengend empfunden wurde.

3.

Einige Positionen des musikalischen Diskurses (Skizze)

Es bedurfte eines langen Prozesses, der Musik die melodramatische Option so weit aufzuschließen, daß sie schließlich als musikalisch vollwertige Technik Akzeptanz fand.'' Fragt man retrospektiv und ein wenig spekulativ nach Gründen dieser Verzögerung, so wird man sie nicht zuletzt in ebenjener Dominanz des musikalischen Tonsystems finden, in dem die sprechende Stimme quersteht. So sehr Musik Jahrhunderte hindurch des Textes essentiell bedarf - ehe es gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer nachhaltigen Emanzipation der Instrumentalmusik kommt - , so fremd bleibt ihr eine Sprache, die nicht auf distinkte Töne gebracht, mit einem Wort: nicht gesungen ist. Läßt man indessen kursorisch und in skizzierter Form, entlang einer Folge prominenter Namen, einige musikgeschichtliche Stationen Revue passieren, deren Gemeinsamkeit im Versuch besteht, Sprachkomposition als musikalische Uberformung immanenter Sprachmusikalität zu begreifen, so zeigt sich wiederholt eine (freilich latent bleibende) Tendenz zu einer musikalisch-melodramatischen Option auch im musikalisch geprägten Diskurs. Dort, wo dramatische Handlung, oder kurz gesagt, wo das Drama in den Mittelpunkt musiktheatraler Entwürfe rückt, steht die Essenz musikalischen Theaters schlechthin zur Debatte, und damit wird das prekäre Verhältnis von Sprache und Musik, die Frage nämlich des stimmlichen Ausdrucks im Drama, akut. Nicht von ungefähr verbindet sich das häufig mit einem Rekurs auf die Anfänge im altgriechischen Theater, schien dieses doch eine ideale Verbindung von Wort und Musik verwirklicht zu haben, deren Prinzip man zu begreifen und, in welcher Form auch immer, zu restituieren sucht. Dabei liegt schon den Überlegungen der Camerata fiorentina »ein recht vages und unbestimmtes Konzept« einer urspünglichen Sprache zugrunde, die es wiederzubeleben gelte: 3t Vgl. Alban Berg (1928) Zwischen kunstgeschichtlich-empirischen Daten bestehen ästhetikgeschichtliche und ideengeschichtliche Relationen, die es (mir) legitim erscheinen lassen, von »Prozessen« zu sprechen, ohne daß man teleologische oder evolutionistische historische Modelle annehmen müßte.

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Die Sprache war auf natürliche Weise moduliert: Die Musik hatte keine andere Aufgabe, als die der Sprache inneliegende Musikalität aufzuspüren und sie zu unterstreichen, hervorzuheben, zu verstärken; sie sollte keine eigene Sprache erfinden. Die Oper war also nichts als ein Versuch, diese ursprünglichere, dem Menschen urtümlichere Sprache wiederherzustellen, so wie sie von der späten humanistischen Kultur idealisiert wurde: mit dem Wunsch, den Ausdruck einer verlorengegangenen Einheit wiederherzustellen, doch stets unter der Ägide der gesprochenen Sprache."

Das neue Dramma per musica ist gekennzeichnet durch den monodischen Parlandostil (den Stile rappresentativo bzw. recitativo), der durch expressive Sprachdeklamation über einem stützenden Generalbaß eine (notwendig stilisierte) Nachahmung des affektgeladenen Sprechens zu verwirklichen sucht.''' Insbesondere Claudio Monteverdi gibt als Theoretiker wie als Praktiker, paradigmatisch nachvollziehbar am Lamento d'Arianna (1608), der monologischen Zentralszene einer nicht erhaltenen Oper, die entscheidenden Impulse zur Vitalisierung der akademischen Idee, aus der das musikgeschichtlich äußerst einflußreiche monodische Prinzip hervorgeht. Die Individualisierung und expressive semantische Differenzierung des Ausdrucks wird dabei von der Sprachmelodie abgeleitet. Das bedeutet eine Stärkung nicht nur des Wortes und seiner semantischen Qualität innerhalb des musikalischen Gefüges; zugleich gewinnt die Stimme Bedeutung als Trägerin subjektgebundenen Sprach- und Gefühlsausdrucks. Der soliloquentische Rezitativstil bedeutet zweifellos eine Aufwertung des deklamatorischen Moments der Sprache und stellt insofern eine graduelle Annäherung an den Sprachtonfall dar: Der Idee nach prägt nicht die musikalische Struktur die Ordnung der Sprache, sondern Sprache leitet umgekehrt die musikalische Konstruktion. Maßgabe dessen bleibt freilich zuletzt wiederum das musikalische Tonsystem; gleich, wie frei die rezitativischen Formen der Wortvertonung rhythmisch gehandhabt werden. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird indessen die Eintönigkeit beklagt, die der rezitative Stil zeitigt. Was man von ihm erwarten zu können glaubte, unmittelbaren musikalischen Affektausdruck durch Freisetzung des musikalischen Potentials in der Sprache selbst, leistet er auf Dauer nicht oder in zu geringem Maß.'^ Er wird deshalb weitgehend die dramaturgische Funktion übernehmen, den Fortgang der Handlung zu gewährleisten; die Affekte aber, die deren emotionales Substrat bilden, werden in der artifziellen Musik der Arien exponiert. Die Verbindung von Ausdrucksfunktion der Musik und möglichst sprachnahem deklamatorischem Duktus droht sich wieder zu lösen. 36 Enrico Fubini (1997), S. 129.

3'' Ebda., S. 125: »Die melodische Kurve oder, wie man es damals nannte, das recitar cantando, sollte den Akzent der W o n e demütig sekundieren, ihre phonische und semantische Bedeutung unterstreichen und damit ihre Wirkung auf den Zuhörer verstärken.« In den 1630er Jahren schreibt Giovanni Battista Doni im >Trattato sulla musica scenica:< »Dieser moderne Stil ist in vielen Teilen mangelhaft, er läßt nicht zu, daß die Wirkung sich entfaltet, die man in der alten Musik liest, noch vermag er beim Zuhörer Wohlgefallen zu erregen, wie es seine Aufgabe wäre.« [Zitiert nach ebda., S. 131]

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Wurde zum Ende des 16. Jahrhunderts die hypertroph gewordene Polyphonie durch das monodische Prinzip abgelöst, das dem Wort zu seinem Recht verhelfen sollte, indem es die als sprachimmanent verstandene Musikalität zu restituieren suchte, so stellt die Glucksche Opernreform erneut gegen die als überschüssig empfundene barocke Ornamentik der Musik das Wort ins Zentrum. Wesentliche Intentionen des Reformansatzes formuliert Gluck im Vorwort zu seiner am 26. Dezember 1767 uraufgeführten Alceste: Die Poesie zeichnet demnach die Konturen des musiktheatralischen Werks vor; Aufgabe der Musik ist lediglich deren Ausmalung und Perspektivierung;^' die Wahrheit der szenischen Vorgänge setzt ihr das Maß. Glucks Librettist Raniero di Calzabigi, der bedeutenden Anteil an der Reform hat, richtet in einem Brief an den Mercure de France vom August 1784 die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der die Frage des Verhältnisses von Poesie und Musik in der Oper in ihrer tatsächlichen Komplexität erst erkennbar macht. Denn Calzabigi sieht deutlich, daß die Orientierung musikalischer Komposition an der Sprache nicht ohne Anpassung der Sprache an die spezifischen Bedingungen von Musik auskommt: Vor fünfundzwanzig Jahren kam mir der Gedanke, daß nur jene Musik, die sich der natürlichen, belebten und energischen Deklamation so weit wie möglich angleicht, der dramatischen Dichtung und v o r allem der A r i e und jenem Dialog, den wir den Handlungsdialog nennen, angemessen ist; daß die Deklamation selbst nichts anderes ist als eine unvollkommene Musik; daß w i r sie nur dann in ihrer Eigenart notieren können, wenn wir eine genügende Anzahl von Zeichen ersonnen haben, um die vielen Töne, vielen Wendungen, vielen Höhen und Tiefen, sowie die unendlich vielen Nuancen ausdrücken zu können, die die Stimme beim Deklamieren hervorbringt.'"'

Wenn Calzabigi postuliert, »daß die Deklamation selbst nichts anderes ist als eine unvollkommene Musik«, so ist damit die spezifische Differenz der Deklamation zur Musik des Tonsystems bezeichnet. Hier artikuliert sich nicht allein eine ästhetische Position, die im Streit um den Vorrang von Wort oder Musik Partei ergreift; das Zitat zeugt implizit vom Ungenügen an den Möglichkeiten, sprachliche Deklamation, die als eine »unvollendete Musik« verstanden wird, zu einer vollendet musikalischen Deklamation zu komplettieren. Denn Komplettierung um den Preis der Reduktion ist eine Paradoxie; Reduktion aber bedeutet es, »die vielen Töne, vielen Wendungen, vielen Höhen und Tiefen, sowie die unendlich vielfältigen Nuancen«, welche »die Stimme beim Deklamieren hervorbringt«, eben nicht in der Musik und deren konventioneller Notationsform darstellen zu können. Selbst das Seccorezitativ muß auf die unendlichen Zwi39 Christoph Willibald Gluck (1904), o. S.: »Ich wollte die Musik auf ihre wahre Aufgabe beschränken, der Poesie zum Behufe des Ausdruckes und der Situation des Gedichtes zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder durch unnütze und überflüssige Verzierungen zu erkälten, und ich glaubte, sie müsse dasselbe leisten, was die Lebhaftigkeit der Farben bei einer korrekten und wohlangelegten Zeichnung leistet, und der wohlgewählte Kontrast von Licht und Schatten, welcher dazu dient, die Figuren zu beleben, ohne die Umrisse zu verletzen.« (Deutsch von Peter Cornelius) « Zitiert nach Fubini (1997), S. 191

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schentöne der gesprochenen Sprache verzichten. Und daß Portamenti, vibratobedingte individuelle Tonhöhenabweichungen oder improvisierte Verzierungen und Manieren dem stimmlich-musikalischen Ausdruck zur Verfügung stehen, fördert den anrührenden Klang der Singstimme und bereichert und lockert das Klangbild des streng regulierten Tonsystems, hebt es als präskriptiv wirksame Bezugsgröße jedoch mitnichten auf. Der naheliegende Einwand gegen Calzabigis Überlegung wäre, daß die Voraussetzung, auf der sie fußt, falsch sei: Deklamation könne genau deshalb nicht eine »unvollendete Musik« genannt werden, weil sie mit dem Tonsystem der zwölf Halbtöne nichts zu tun habe. Das Argument büßt jedoch dadurch an Triftigkeit ein, daß, wie darzustellen sein wird, nicht erst im 20. Jahrhundert die sprechsprachliche Deklamation keineswegs als strikt kategorial von »der« Musik getrennt diskutiert wurde. Der Komponist und Musikästhetiker Ignaz Franz Mosel, ein entschiedener Anhänger Glucks, gründet Anfang des 19. Jahrhunderts sein Plädoyer für eine Oper aus dem Geist des Dramas (niedergelegt im 1813 erschienenen Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes) auf einleitende Bemerkungen über Deklamation und Musik in der griechischen Tragödie, die für ihn die »Entstehung der Oper« bezeichnet: Alles, was wir über die Schaubühne der alten Griechen in den klassischen Schriftstellern der Vorzeit finden, begründet die Vermutung, daß ihre Trauerspiele gesungen und von Instrumenten begleitet worden sind, daß ihre Rezitation das Mittel zwischen der Rede und dem Gesänge hielt, ihre Episoden und C h ö r e aber auf eine von der Rezitation verschiedene Art, jedoch ebenfalls in Musik, vorgetragen wurden.'"

Mit der These, daß die Rezitation im Tragödientheater »das Mittel zwischen der Rede und dem Gesänge hielt«, ist die instrumental begleitete Parakataloge thematisiert, die als einer der drei Auftrittsmodi des Einzelschauspielers im altgriechischen Theater beschrieben wird."*^ Mit der historischen Perspektive auf die so verstandenen Anfänge der Operngeschichte will Mosel anhand der Werke Glucks eine Orientierung gewinnen, die »zur Vervollkommnung aller Teile des dramatischen Tonsatzes auf den Pfad führen kann«.'" Das Argument läuft auf die Überwindung der Hierarchisierungsverhältnisse von Sprache und Musik hinaus, »denn in der Oper können Poesie und Musik, eine wie die andere, nur durch die engste Vereinigung wirken«.^'* Dazu aber braucht es, auf der Seite der Poesie, Verse, »welche dem musikalischen Rhythmus am angemessensten sind«, und das sind »wohlklingende, schon an sich selbst melodische Verse«.'*' Denn der musikalische Gefühlsausdruck ist per se im Sprachklang schon vorhanden: t» Ignaz Franz Mosel (1910) [zuerst 1813], S. 19 ^^ Vgl. Joachim Latäcz (1993), S. 71. Näheres zur Bedeutung der Parakataloge für den gesamten Diskussionskontext im Kapitel I I . l . « Mosel (1910), S. 18 Ebda., S . 2 4 "5 Ebda., S . 2 6

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Die Bestimmung der dramatischen Musik ist, jene Eindrücke zu verstärken, welche der Dichter auf das Gemüt des Zuhörers zu machen sich vorgesetzt hat. Sie soll daher [...] blos eine erhöhte Deklamation, ein kräftiger, lebhafter, warmer Ausdruck der Gefühle sein, welche in dem Gedichte vorkommen.'"

Wenn Mosel postuliert, daß Oper nur als »dramatische Handlung« in Betracht komme und daß deshalb »die Musik nicht der Zweck, sondern nur das Mittel zum Zwecke der Oper sei«,'*^ so erweist sich der Kommentar von Eugen Schmitz, Mosels Ausführungen kämen mit Wagners Theorien oft nahezu überein, als im Kern kaum übertrieben.'*® So begreift Mosel die (wie er es nennt) schauspielerische Aufgabe des Sängers als unverzichtbaren Bestandteil des musikdramatischen Ganzen. Wichtiger noch sind hier seine Überlegungen zur Sprachvertonung. Da er den Gesang als »seiner Natur nach, blos die lebhafteste, leidenschaftlichste Rede« versteht,'" ist ihm die Musik mit Blick auf die dramatische Substanz der Handlung lediglich »Idiom«: Die Prosodie der Sprache, in welcher das Gedicht geschrieben ist, soll daher auf das Sorgfältigste beobachtet und die Deklamation in allen ihren Accenten und Biegungen möglichst getreu nachgeahmt, folglich das Steigen und Fallen der Töne niemals blos willkürlich angewendet werden^".

Folgerichtig kommt erneut das Calzabigische Ungenügen an der musikalischen Adaptierbarkeit nuancierter Prosodie zum Tragen, freilich mit einer Modifikation, die das Problem notdürftig aufheben soll: Wohl lassen sich die Abstufungen, welche man hierbei in der Rede anwendet, im Gesänge nicht so ganz treu nachahmen, daß dieser nicht um etwas höher oder tiefer schreiten sollte als in der Deklamation geschehen sein würde; allein da der Gesang [...] eine eigene Sprache bildet, genügt es, daß man die musikalischen Intervalle möglichst genau nach denjenigen wähle, welche in der gewöhnlichen Deklamation gebraucht worden wären.''

Insbesondere für das Rezitativ, gleich welcher Form, ergibt sich daraus, »daß es desto gelungener sei, je mehr es sich der gewöhnlichen Deklamation nähert« in idealer Weise dann, wenn man »zweifelhaft bliebe, ob man Deklamation oder Gesang höre«." Die Forderung, den Unterschied zwischen »Deklamation« und »Gesang« im Rezitativ bis zur UnUnterscheidbarkeit zu verwischen, läßt sich allerdings in der Komposition solange nicht verwirklichen, wie Gesang als »eigene Sprache« erhalten werden soll, also an fixe Intervallschritte gebunden bleibt. Die Grenzverwischung (»daß man zweifelhaft bliebe, ob man Deklama*(• Ebda., S . 3 4 Ebda., S. 21 und S. 36 Ebda., S. 7 (Vorwort). Schmitz ist Herausgeber der 1910 erschienenen Neuausgabe von Mosels Schrift. Ebda., S. 37. Die konsequente Forderung lautet: »auf jede Silbe nur eine N o t e « . (Ebda., S. 35) 50 Ebda., S. 37f. 51 Ebda., S. 41 52 Ebda., S. 47 32

tion oder Gesang höre«) gelänge allenfalls einer Ausführung, die sich über diese Bedingung hinwegsetzte, indem sie die musikalischen Intervalle negierte, wenigstens verschleierte. Mosels Theorie löst also 1813 den rezitativischen Sprachton theoretisch gerade so weit von den Vorgaben der intervallischen Musik, daß man ihn von der (zu jener Zeit nicht von ungefähr als ihrerseits musikalisch verstandenen) sprechartistischen Deklamation kaum mehr zu unterscheiden vermag. Fordert Mosel, daß Musik nicht Zweck, sondern »das Mittel zum Zwecke der Oper« zu sein habe, und insistiert er darauf, daß Oper als »dramatische Handlung« zu verstehen sei, so ist der theoretische Schritt zu Richard Wagners Konzeption tatsächlich kleiner, als dies der wirkungsgeschichtliche Abstand suggeriert. Der wesentliche Begriff indessen, der Wagners Theoretisieren mit der auf die Sprechsprache gemünzten, zu Mosels Zeit sich breit entfaltenden Deklamationstheorie verbindet, ist der Begriff der Tonsprache: Das ursprünglichste Äußerungsorgan des inneren Menschen ist aber die Tonsprache, als unwillkürlichster Ausdruck des von außen angeregten inneren Gefühls. Eine ähnliche Ausdrucksweise, wie die, welche noch heute einzig den Tieren zu eigen ist, war jedenfalls auch die erste menschliche; und diese können wir uns jeden Augenblick ihrem Wesen nach vergegenwärtigen, sobald wir aus unsrer Wortsprache die stummen Mitlauter ausscheiden und nur noch die tönenden Laute übriglassen.^'

Dem Deklamationstheoretiker Heinrich August Kerndörffer gilt, wie sich an späterer Stelle zeigen lassen wird, »Tonsprache« im Unterschied zur »Wortsprache« bereits 1833 als substantielles Merkmal klingender Sprache überhaupt.^"* Wagner faßt die Dichotomie schärfer, um sie im Sinne seines eigenen Entwurfs dann aufzulösen. In Oper und Drama mißt er der »ersten Empfindungssprache« als einer »Fügung tönender Ausdruckslaute« naturhafte Melodie, naturhaften Rhythmus, kurz eine rhythmische Melodie zu, die für die Entstehung des Wortverses von so maßgebender Bedeutung gewesen sei, daß man ihn als ursprünglich ihr untergeordnet zu betrachten habe. Denn ursprüngliche reine Tonsprache ist ursprünglicher reiner Gefühlsausdruck. Im sich bildenden Wort dann »sucht sich der tönende Laut der reinen Gefühlssprache [...] zur kenntlichen Unterscheidung zu bringen«'^. Der Drang zur Unterscheidung webt, um es in der Wagnerschen Metaphernterminologie fortzuschreiben, dem tönenden Laut ein »Gewand« aus stummen Konsonanten; die entstehenden Laute sind die eigentlichen »Sprachwurzeln«. (Auf die Bildung solcher »Sprachwurzeln« gründet Wagner seine Stabreimtheorie, die hier außerhalb der Erörterung bleiben kann.®') In der Folge vollzieht sich eine Verselbständigung der Wortsprache: 53 Richard Wagner (1983), Bd. 7 (»Oper und Dramavor unseren Augen sich bewegende Handlung gezeigt werdeGrammatik der Schauspielkunst< versteht.'*' Die Akademie praktiziert in Gestalt von sogenannten Vorlesungen der aufzuführenden Dramen eine als, gemessen an der zeitgenössischen Theaterpraxis, systematisch zu bezeichnende Vorbereitung, die sich nicht im Lesen der Texte erschöpft, sondern theoretische Überlegungen zur Deklamation und zum Spiel insgesamt einschließt; zu Recht ist diese Praxis der Akademie deshalb als Vorläuferin der Weimarer Leseproben interpretiert worden.'® Neben der Alexandrinerdeklamation ist also bereits eine entscheidend modifizierte Praxis des Verssprechens erprobt, ehe man in Weimar daran gehen wird, den Vers, unter erneut geänderten Vorzeichen, auf dem Theater zu reetablieren. Doch ergeben sich zwischenzeitlich bekanntlich weitere Entwicklungen. Im Jahre 1764 kommt die Ackermannsche Schauspieltruppe nach Hamburg; am 31.7.1765 wird am Gänsemarkt der Theaterbau eröffnet, den Akkermann auf eigene Kosten hat errichten lassen. Zwei Jahre lang zeigt die Erfolgskurve des Theaters stetig nach unten, ehe sich 1767 die Hamburger Entreprise, als »Symbol einer neuen Ära der Theatergeschichte«, konstituiert.^' In der Person Johann Friedrich Löwens erhält erstmals anstelle des Prinzipals ein Intellektueller aus der Theaterreformbewegung die Leitung, bleibt dabei freilich von Geldgebern abhängig, die sich gesellschaftlich in einer Außenseiterposition befinden; die Reformpraxis krankt am zuletzt tödlichen Zwang zu finanziellem Erfolg. Immerhin kann dieser erste Versuch, ein deutsches Nationaltheater zu etablieren, sich auf sprecherisch spezifisch vorgebildete Kräfte stützen, denn einige Schauspieler der Ackermannschen Truppe haben an Ekhofs Akademie teilgenommen. Die reformierte Schauspielkunst, die sich in Ekhof exemplarisch verkörperte, findet in Hamburg erneut ein Forum unter intellektueller Begleitung. Für sie steht neben Löwen vor allem Lessing ein, dessen Verbindung von theoretischer Reflexion und praktischer Kritik sich in den Beiträgen der Hamhurgischen Dramaturgie niederschlägt. Lessing ist bereits in der >Ankündigung< der Dramaturgie bemüht, seine Reflexionen auf die Totalität von Theater zu orientieren und insbesondere die Leistung des Schauspielers im Kontext dieser von der dramatischen Dichtung her gedachten Totalität zu erfassen: Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig. Nach dem Bruch zwischen Gottsched und Caroline Neuber wird die Schönemannsche Truppe zunächst ab 1740 (wie Ruedi Graf schreibt, unter Gottscheds »Protektorat«) zum Hauptträger der Reformbestrebungen in jener Zeit. Vgl. Ruedi Graf (1992), S. 299f. 50 Vgl. Weithase (1961), S. 338 5' Graf (1992), S. 309

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aber noch lange nicht seinen Beruf erfüllend! E r muß überall mit dem Dichter denken; er muß da, w o dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn d e n k e n . "

Es mag mit dieser Akzentuierung zusammenhängen, daß die Hamburger Entreprise, kurzlebig genug, hinsichtlich des Sprechens keine entscheidenden Neuerungen erbringt.^' Löwens Plan für eine >theatralische Academie< mag Deklamationsschulung vorsehen; doch dürften die Überlegungen sich eher als eine Fortsetzung der durch Ekhof initiierten Linie denn als Ansatz zur Neuorientierung verstehen.^'' 2.2. Veränderungen der Sprechstils mit Beginn der 1770er Jahre In einer unveröffentlicht gebliebenen Passage der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur erläutert Herder unter der Überschrift Haben wir eine französische Bahnet, weshalb er die Idee eines zentralen deutschen Nationaltheaters, wie Friedrich Nicolai und andere sie propagieren, für prinzipiell verfehlt hält. Ein »Haupttheater«, so schreibt Herder, »streitet völlig mit dem Zustande, mit den Sitten und der Bedürfnis Deutschlands«.'^ Schon deshalb konnte die Übertragung der Spielweise und der Regeln des französischen Theaters nicht fruchten: Sie war als Vehikel eines Theaters, das den deutschen Bedingungen zu entsprechen hätte, inadäquat. Für Herder (wie für Lessing) offenbart sich hierin der Kern auch des französischen Mißverständnisses vom griechischen Theater: Das Regelwerk der aristotelischen Poetik hing von historischen Bedingungen ab; es formulierte am Beispiel dramatischer Gipfelwerke deskriptiv Normen, die nicht transhistorisch-präskriptiv wirksam sein konnten; die Übertragung eines falschen Aristotelismus erscheint deshalb als doppelt fehlgeleitet und unsinnig. Herder folgert in der Fragmenten konsequent: »In der Tat! unser Theater französieret zu sehr«;'' als ob sich Gottscheds Reformbestrebungen exklusiv durchgesetzt hätten, spezifiziert er: »Auch die Versifikation unsrer Bühne ist augenscheinlich französisch«. Dies wiederum habe zum Effekt, daß die Schauspieler die »unerträgliche französische Deklamation« pflegen.'^ Gegen Ende der 1760er Jahre stellt sich die Situation demnach wie folgt dar: Erstens, die durch Ekhof verkörperten Reformansätze werden an theatergeschichtlich exponiertem Ort fortgeführt. Zweitens, die Alexandrinerdeklama52 Lessing (1974), S.278f. Im dritten Stück der >Hamburgischen Dramaturgie< erläutert Lessing im allgemein theatertheoretischen Kontext den Zusammenhang von Verständnis und adäquatem sprecherischem Ausdruck einer Rolle. Ästhetisch zeichnen sich dabei keine erkennbar neuen Aspekte ab. (Vgl. ebda., S. 2 8 7 - 2 9 1 ) Vgl. hierzu auch die knappen Erläuterungen bei Weithase (1961), Bd. 1, S. 342. Dafür sprechen im übrigen auch die rühmenden Worte, die Lessing im zweiten und dritten Stück der >Hamburgischen Dramaturgie« für Ekhof findet. 55 Johann Gottfried Herder (1968), S. 207 56 Ebda., S . 2 1 0 57 Ebda., S . 2 1 2

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tion behauptet sich parallel im Theaterleben. Und drittens; Die Zweifel am Regeltheater werden lauter und unter neuem Aspekt artikuliert. Wurde zur Zeit der Ekhofschen Akademie das Regeltheater angesichts eines veränderten Naturbegriffs als zu schematisch verworfen, so postuliert man nun, daß Regeln sinnvollerweise historisch gebundenen Konstellationen korrespondieren müssen. Der vormals verpönte Shakespeare erfährt, wie bekannt, im Zuge dieser Entwicklung eine Umwertung zum positiven Referenzzentrum der Debatte. Und mit der Umorientierung von einer Wirkungsästhetik, die primär Vermittlung von Moralsätzen zu gewährleisten hatte, zu einer Produktionsästhetik, die den Schaffensprozeß ins Zentrum stellt, schiebt sich das produzierende Subjekt selbst ins Blickfeld. Shakespeare erscheint als die exemplarische Verkörperung des künstlerischen Genies und überdies als Beweis dafür, daß ein originales Theater keineswegs nur im alten Griechenland und keineswegs nur nach aristotelischem Rezept zu haben ist. Adäquate Regeln zur Erschaffung eines dramatischen Mikrokosmos können sich dabei nur aus der jeweiligen »Natur der Sache« ergeben;'® das Genie folgt ihnen in ihrer immanenten Notwendigkeit von selbst. Die »Dichterwelt« unterliegt ihren eigenen Gesetzen, und ihnen unterwirft sich, in einer Dialektik der Produktivität, das schöpferische Genie, indem es sie entwirft: »Im Gange seiner Begebenheit, im ordine succesivorum und simultaneorum s e i n e r Welt, da liegt sein Raum und seine Zeit. Wie, und wo er dich hinreiße? wenn er dich nur hinreißt, da ist seine Welt.«'' Und nicht nur der Renaissance des dramatischen Genies Shakespeare, sondern auch darstellerischem Genie bahnt sich der Weg. Die Figur, die hierfür exemplarisch steht, geht aus der Ackermannschen Truppe hervor: Friedrich Ludwig Schröder, der als einziges prominentes Mitglied dieser Truppe bei Gründung der Entreprise das Haus am Gänsemarkt verläßt. Schröders eminenter Erfolg gründet sich vor allem auf seine Shakespeare-Darstellungen. Gerühmt wird seine Begabung zu einer Wahrscheinlichkeit der Darstellung, die deren Spielcharakter vergessen macht. Der stimmliche Ausdruck spielt dabei eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei seiner Darstellung des König Lear: Und als nun Kordelias Bild immer lebendiger [...] vor ihm wird, als er in den Tönen der kindlichen Liebe immer sprechender, eindringender, ergreifender die alten einst so geliebten Klänge wieder vernimmt, da wird sein Auge heller, da streckt er die für Freude zitternden Arme aus und die Umstehenden freudig, wehmüthig anblickend, ruft er mit schmelzender in Thränen erlöschender Stimme: »Lacht nicht über mich, denn so wahr ich lebe, ich denke diese Lady hier, sey mein Kind Kordelia.« [...] Dann die Szene, wo er mit Kordelias Leiche auftrat. Welche Töne erschütternden Schmerzes, welche Laute des schneidensten Herzenswehes! Das Weh einer ganzen Erde schien in ihm zusammengepreßt!'"

Herder: Shakespeare (dritte Fassung). In: Erich Loewenthal (o.J.), S. 555-578. Hier S. 560 59 Ebda., S. 575 Die Beschreibung stammt von Johann Friedrich Schink: Zeitgenossen. Bd. 3, Leipzig 1818, S.46ff. IHier zitiert nach Fischer-Lichte (1993), S. 134]

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Die Wirkung, die hier der expressiven, die Wahrhaftigkeit der Erschütterung in individuell-unverwechselbaren Tönen beglaubigenden Stimme zukommt, hängt unablösbar zusammen mit der Ausdruckskraft des körperlichen Spiels, das diesen Abschnitt der Theatergeschichte spezifisch prägt: Das Theater nutzt die Erkenntnisse der Erfahrungsseelenkunde; dem Körper- und Gestenspiel, dem proxemischen Element der Darstellung insgesamt wächst dadurch im Konzept einer Theaterkunst, die sich naturwahrem Ausdruck verpflichtet weiß, übergreifende Bedeutung zu, denn man geht von einer unmittelbaren Wirkung psychischer Vorgänge auf körperlich-mimischen Habitus und körperlich-mimische Aktion aus." Von hier aus ergibt sich der Zusammenhang mit der Stimme als einem selbst körperlichen Phänomen; Johann Jakob Engel sieht in seinen Ideen zu einer Mimik Parameter der Stimmführung wie Tempo, Tonhöhe, Lautstärke in einer Analogiebeziehung zur »Veränderung des körperlichen Zustands«, die sich aus dem Wechsel der Leidenschaften ergibt;" jede Änderung des Affekts bringt eine Änderung der Stimmqualität hervor/' Dabei ist in diesem Konzept die Stimmgebung der Willkür des Schauspielers nicht völlig entzogen. Sie läßt sich willentlich modifizieren, »wenn man dem Verstände Hülfen geben oder Affecten erregen und dämpfen will«.''' Höchst aufschlußreich ist Engels Klassifizierung verschiedener »Arten der Declamation«: Die höchste lyrische, ganz bestimmt im Takt und im einzelnen Laut, der hier Ton wird, ist der Gesang; weniger bestimmt, aber doch schon von unverkennbarem Hauptcharakter, ist die Declamation des leidenschaftlichen Redners, des lyrische oder epische Werke hersagenden Rhapsoden; am wenigsten bestimmt, bald völlig ruhig, bald G e müthsbewegungen nur mehr oder minder andeutend, nie aber ausbildend, nie den Ton von irgend einer ganz vollendend oder durchführend, ist die gewöhnliche Sprechart.'^

Strukturell vergleichbare Differenzierungen werden einige Jahre später, systematisch erweitert, den Sprechstil am Weimarer Hoftheater prägen. Bei Engel steht jedoch die Diskussion der Stimme noch ganz im Zeichen der Debatte um den Körperausdruck: Einer neu entdeckten, auf psychologische Genauigkeit orientierten Körperlichkeit der Darstellung korrespondiert eine (expressive) Stimmlichkeit, die sich ihrerseits als unmittelbarer Ausdruck psychischer Regungen wie der körperlichen Vorgänge, die aus ihnen resultieren, artikuliert. Wie es für psychische Zustände sichtbare (körperliche) Entsprechungen gibt, so entsprechen ihnen bestimmte Tonlagen des hörbaren (stimmlichen) Ausdrucks. Die Verssprache ist einstweilen bis an den Rand ihrer Auflösung zurückgedrängt; selbst in Frankreich regt sich zwischenzeitlich Widerspruch gegen die formelhafte Versskansion; in den 1760er Jahren wurde hier die Kontrafaktur der Tradition postuliert: »Wer würd' es ertragen, wenn eine von Blut triefende Königin, deren Inneres von Wut zerrüttet, von Gewissensbissen gepeinigt « " 64 65

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Vgl. ausführlich die Detailanalysen im Standardwerk von Fischer-Lichte (^1994), Bd. 2. Johann J a k o b Engel (1804) [1785/6], Bd. 2, S. 144 Ebda., S. 153 Ebda., S. 144 Ebda., S. 160f.

wird, die den Orkus vor Augen geöffnet sieht, noch im Tode nach dem Silbenmaaß deklamirte?«'^ In Deutschland ist der nach und nach sich manifestierende Verlust der Fähigkeit, Verse als solche hörbar zu sprechen, so dramatisch, daß sich in späteren Jahren viele Schauspieler ihre Rollen, wenn sie in gebundener Rede verfaßt sind, zunächst einmal in Prosa übersetzen, um sie sprecherisch bewältigen zu können. Daß Goethes Monodrama Proserpina, entstanden in der Hochzeit der Versfeindschaft - die zugleich die Hochzeit des frühen Mono- oder Melodramas ist - zunächst in Prosa abgefaßt und später erst, als der antimetrische Affekt abebbt, in freie Rhythmen gebracht wird, ist in diesem Kontext von durchaus symptomatischer Bedeutung. Daß der Sinnakzent dem metrischen Akzent sprecherisch vorzuordnen sei, ist die weitverbreitete Ansicht noch in den 1780er Jahren: »Jener ist [...] der beste Vorleser, der ein gereimtes Gedicht schier wie Prosa vorlesen kann; und jener ist [...] der elendeste Schauspieler, dem man es am meisten abmerken kann, wenn er ein gereimtes Gedicht deklamirt.«^'' Zwar erscheint 1779 mit Lessings Nathan der Weise ein Drama, dessen Blankverse ein später durchschlagendes Modell dramatischer Sprache bereitstellen.^® Doch noch 1788 bedauert etwa Alois Wilhelm Schreiber in seinem Tagebuch der Mainzer Schaubühne, »daß es überhaupt noch Verse auf der Bühne gibt«.^' Die Jahre der einsetzenden Shakespeare-Renaissance und des Hervortretens darstellerischer Individualisten wie Schröder treffen nicht zufällig mit dem Erfolg der ersten, in ihrem Bemühen um psychologische Feinzeichnung so überaus zeitgemäßen Melodramen zusammen. Beides steht im Zusammenhang mit der (an späterer Stelle zu erörternden) monodramatischen Anlage dieser Gattung und mit einer Praxis der Prosadeklamation, die den Ausdruck extremer und komplexer Gefühle intendiert und dafür das Exaltierte in Kauf nimmt; allerdings auch der Gefahr nicht entgeht, in stereotype Manier umzuschlagen und die Freiheit zur Ich-Produktion im betäubenden Klang ihrer Schreie zu ersticken. 2.3. Die Deklamationsvirtuosin im Melodrama Das Bühnenmelodrama, das als theatergeschichtliche Novität in den 1770er Jahren zu großem Erfolg gelangt, lebt zu guten Teilen von dem Zusammenspiel eines hoch expressiven Körperspiels und einer nicht minder expressiven Stimm^^ Claude Joseph Dorat: Über die Deklamation. Aus dem Französischen übertragen von A . E . Schreiber. (Dramaturgische Blätter. 2. Quartal, 1788), S.215f. [Original: C . J . D . : Sur la declamation theätrale. Poeme didactique en 4 chants, Paris 1766. Zitiert nach Winkler (1931), S. 37.] ^^ Johann Joseph Kausch: Ästhetische Gespräche über die größesten dichterischen Kunstvorurtheile, Maschinenwerk, Reim und Sylbenmaaß, Breslau und Leipzig 1786. [Zitiert nach Winkler (1931), S. 43f.] Christoph Martin Wieland verwandte den Blankvers bereits 1758 in >Lady Johanna GrayBekanntmachung an die Schauspieler< vom 22.10.1796 mahnt Goethe an: »Auch sehe ich mich bey dieser Gelegenheit genöthigt eine deutliche wohl artikulirte Sprache abermals zu empfehlen und besonders einen Theil der Frauenzimmer aufmerksam zu machen, daß die hohen und klingenden Töne keineswegs zur Deutlichkeit beytragen, eben so wenig als ein abgestoßener und unzusammenhängender Vortrag den Schauspieler verständlich macht.« [Zitiert nach Kröll (1973), S. 106] 98 Genaue Darstellung der Entstehungsgeschichte im Kommentarteil der Münchner Ausgabe von Goethes Werken, Bd. 11.2, München 1994, S. 1192ff. Ich zitiere die »Regeln für Schauspieler< nach dieser Ausgabe in der vollständigen von Eckermann erstellten Fassung, S. 7 2 5 - 7 4 5 , im folgenden unter der Angabe: Goethe: Regeln (1994).

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weiteren künstlerischen Vortrags ist; so ist auch in der Schauspielkunst der Grund aller höheren Rezitation und Deklamation die reine und vollständige Ansprache jedes einzelnen Worts.«" Doch was hier als didaktisch-veranschaulichender Vergleich daherkommt, erweist sich bald als mehr. Goethe erarbeitet die sprachliche Darstellungsebene von den ersten Leseproben an unter musikalischen Vorzeichen: »Zuerst diente die Leseprobe der Erarbeitung des Textes, wobei Stimmhöhe und Tonfall in der Art eines musikalischen Ablaufs festgelegt wurden. Hierbei sollten sich auch schon die der Interpretation dienlichen Hauptgesten ergeben.«'"" Die Reihenfolge der inszenatorischen Vorentscheidungen, die hier angedeutet ist, läßt auf einen gewissen (zunächst pragmatischen, nicht systematisch unumstößlichen) Primat der Stimme unter den Darstellungsmitteln schließen. In welchem Maße in der Tat die sprachlich-stimmliche Einrichtung, und an ihr das musikalische (oder quasi-musikalische) Moment, den Vorgang der Einstudierung prägt, bezeugt einer der intimsten Kenner Goethescher Theaterpraxis, Pius Alexander Wolff. In seinem Aufsatz Ueber den Vortrag im Trauerspiele ist zu lesen: Die Weise, wie Goethe eine dramatische Dichtung auf die Bühne brachte, war ganz die eines Kapellmeisters, und er liebte es, bei den Regeln, die er festsetzte, die Musik zum Vorbild zu nehmen, und gleichnissweise von ihr bei allen seinen Anordnungen zu sprechen. D e r Vortrag wurde von ihm auf den Proben ganz in der Art geleitet, wie eine O p e r eingeübt wird.'"'

Daß es sich, wenn hier mit musikalischem Vokabular operiert wird, nicht um bloß vergleichende oder metaphorische Rede handelt, geht aus einer anderen Passage desselben Aufsatzes hervor: Der Declaraator muß seine Aufgabe wie der Sänger behandeln. E r muss sich seine Reden auf N o t e n setzen, die Worte von grösserem Gewicht, die herauszuheben sind, unterstreichen, auf welche die Kraft eines bestimmten Accentes oder einer Empfindung zu legen ist, doppeh, dreifach unterstreichen.'"^

Falls Wolff hier die konventionelle musikalische Notenschrift im Sinn hat, dann als einen nicht zureichenden Behelf, der bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht ersetzt werden wird'°^ - bereits seit dem 18. Jahrhundert gab es verschiedentlich Versuche, der deklamierten Sprache ein spezifisches Aufzeichnungssystem zu Goethe: Regeln (1994), S. 726 100 Kröll (1973), S . l l O 101 Pius Alexander Wolff (1827b), S. 234. Wolff darf als herausragender Gewährsmann gelten; Goethe schrieb über ihn: »So viel ich auch ins Ganze gewirkt habe, und so manches durch mich angeregt worden ist, so kann ich doch nur einen Menschen, der sich ganz nach meinem Sinne von Grund auf gebildet hat, nennen: das war der Schauspieler Wolff.« [Zitiert nach Kröll (1973), S. 188] 102 Ebda., S . 2 2 9 103 Die Formulierung Wolffs gibt darüber nicht hinreichend Aufschluß. (Es ist insgesamt nicht auszuschließen, daß der Zugriff aufs konventionelle Notationssystem die Musikalisierungstendenzen der deklamatorischen Schauspielersprache vorgeprägt hat, sei es, wie teilweise aus den Quellen abzuleiten ist, ex negativo, sei es - noch in den 1920er Jahren - im Sinne einer Angleichung an musikalisch notierte Tonhöhen.) 58

schaffen, das der Besonderheit gesprochener Sprache Rechnung trüge.'"'' Zweifellos geht es Wolff (und mit ihm vielen anderen) darum, daß ein gehobenes Sprechen musikalische Elemente in sich aufnehmen soll, auch wenn die dezidiert musikalische Notation nur als Behelf dienen kann. Zweierlei begünstigt dies: Die Wiedereinführung des Verses in die Theaterpraxis erfordert ein besonderes stimmlich-sprecherisches Vermögen. Und dem entsprechen Begriff und Kontur der theatralischen Deklamation, die Goethe als einen spezifischen Basismodus künstlerischer Sprachgestaltung profiliert. 3.4. Wiedereinführung der Verssprache Wenn Erika Fischer-Lichte betont, daß in Weimar zum erstenmal in der Theatergeschichte Europas eine neue Theaterform »in experimenteller Erprobung verschiedener, im Laufe der europäischen Theatergeschichte verwirklichter Möglichkeiten« entsteht,'"^ so fügt es sich auf den ersten Blick dazu, daß die Weimarer Theaterästhetik prinzipiell bereits auf Elemente musikalisierender Sprechstile zurückgreifen kann. Indem aber Verssprache, und mit ihr die hörbare Kenntlichmachung des Verses, in Weimar wieder bühnenfähig werden soll, sieht sich Goethe einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert: Einerseits taugt die überkommene Alexandrinerdeklamation schon ihres formalen Manierismus wegen (der sich an das eine Versmaß bindet) nur eingeschränkt und keinesfalls unmittelbar zum Vorbild. Und andererseits hat sich, als Goethe 1791 die Leitung des Weimarer Hoftheaters übernimmt, zwischenzeitlich ein Sprechstil ausgeprägt, der unter vollkommen anderen theatertheoretischen Prämissen entstanden ist. Verse werden, wo man sie nicht schon in der Bühneneinrichtung der Dramen in Prosa auflöst, unhörbar gemacht; und wo man immerhin Verse dennoch als Verse spricht, ist das Skandieren alter Prägung unmöglich, jedenfalls ästhetisch verdächtig geworden. 3.5. Rezitation, Deklamation, Rhythmischer Vortrag Die im Verbund mit der regenerierten Verssprache eingeführte Unterscheidung zwischen Rezitation und Deklamation, wie sie in den Regeln für Schauspieler vorgenommen wird, berührt die theatertheoretische Kernfrage, ob und inwieweit Darsteller zwischen ihrer Individualität und der Rollenfigur, die sie reprälO"* Auch die musikalische Notenschrift wurde bereits im 18. Jahrhundert für reformbedürftig befunden, ohne daß Alternativen sich hätten durchsetzen können. Erst im 20. Jahrhundert entsteht eine Vielfalt alternativer Aufzeichnungsverfahren, die einem erweiterten Musikbegriff Rechnung tragen, indem beispielsweise nur ungefähre Zeitverhältnisse oder annähernde Sprachmelodieverläufe angedeutet (nicht präzise vorgeschrieben) werden. Vgl. hierzu ausführlich Erhard Karkoschka (1966) mit zahlreichen grafischen Beispielen sowie Wilfried Gruhn (1978). 105 Fischer-Lichte (1993), S. 148

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sentieren, Übereinstimmung herzustellen oder Distanz zu wahren haben. In diesem Kontext relativiert, so scheint es, Goethes Begriff der Deklamation die »antiillusionistische Stoßrichtung der neuen Theaterästhetik«'®' (ohne sie doch grundsätzlich zu beeinträchtigen). Der Kernsatz, der den Antiillusionismus produktionsästhetisch begründet, findet sich im 38. Paragraphen der Regeln. Er lautet: »Denn der Schauspieler muß stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist.«'®' Aus dieser Maxime werden Anweisungen für die Präsentation des Körpers auf der Bühne abgeleitet; den Darstellern soll jederzeit bewußt bleiben, daß sie vor einem Publikum und für ein Publikum spielen, und das schließt aus, daß sie sich von den Gefühlen überwältigen lassen, denen die Rollenfiguren ausgesetzt sind, die sie repräsentieren. Daß die Forderung nach antiillusionistischem Spiel kaum im Sinne eines konsistenten Systems zu interpretieren ist, zeigt sich Jedoch in jenen Abschnitten der Regeln, die von Rezitation und Deklamation handeln. Eine scheinbar technische Erläuterung steht am Anfang: »Unter Rezitation wird ein solcher Vortrag verstanden, wie er, ohne leidenschaftliche Tonerhebung, doch auch nicht ganz ohne Tonveränderung, zwischen der kalten ruhigen und der höchst aufgeregten Sprache in der Mitte liegt.«'°® Dieser produktionsästhetische Aspekt wird sogleich wirkungsästhetisch umgesetzt: »Der Zuhörer fühle immer daß hier von einem dritten Objekte die Rede sei.« Die Grenzen der stimmlichen Modulation bestimmen sich entlang der individuellen Erregungsschwelle, unterhalb derer gewährleistet ist, daß der Sprecher zu den Begebenheiten und zu den Figuren, deren Empfindungen er vermittelt, erkennbar Distanz hält. Der Rezitierende, und mit ihm seine Stimme, übernimmt die Funktion eines Instrumentes, das, in seinem individuellen Klang, den notierten Text repräsentiert. Verglichen wird das, der Polyphonie der darzustellenden Gefühle wegen, mit der komprimierten Wiedergabe einer Partitur auf dem Klavier: Die Passage, welche ich vortrage, zwingt mich durch ihre Komposition zwar, das forte oder piano, dolce oder furioso zu beobachten; dieses geschieht aber, ohne daß ich mich der Mutationen bediene welche das Instrument besitzt, sondern es ist bloß der Übergang der Seele in die Finger, welche durch ihr Nachgeben, stärkeres oder schwächeres Aufdrücken und Berühren der Tasten den Geist der Komposition in die Passage legen und dadurch die Empfindungen erregen, welche durch ihren Inhalt hervorgebracht werden k ö n n e n . " "

Indem der rezitierte Text erklingt, wird er in jedem Fall »Empfindungen erregen«, von denen er handelt. Doch soll zugleich, im Sinne ästhetischer Distanz, das Bewußtsein der Relation zwischen Rezitierendem und Rezitiertem sowie zwischen Rezitierendem und Publikum auf beiden Seiten präsent bleiben. Insofern schon die Rezitation in gewissem Maß Affekte transportiert, bedeutet die Deklamation zunächst nur ihre Intensivierung; folgerichtig wird von 106 107 108 109

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Ebda., S. 150 Goethe: Regeln (1994), S. 735 Ebda., S. 729 Ebda.

der Deklamation als von einer »gesteigerten Rezitation« gesprochen. Sie fordert ein erhöhtes Maß an Verwandlungsfähigkeit oder Einfühlung; dennoch bleibt zuletzt das schauspielerische Paradox maßgeblich, wonach in der Hingabe zugleich Kontrolle herrschen soll: Hier muß ich meinen angeborenen Charakter verlassen, mein Naturell verleugnen und mich ganz in die Rolle und Stimmung desjenigen versetzen, dessen Rolle ich deklamiere. Die Worte welche ich ausspreche müssen mit Energie und dem lebendigsten Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede leidenschafdiche Regung als würklich gegenwärtig mit zu empfinden scheine.

Das Spezifische auch dieser Vortragsweise wird durch den Vergleich mit dem Instrumentalspiel illustriert: Hier bedient sich der Spieler auf dem Fortepiano der Dämpfung und aller Mutationen welche das Instrument besitzt. Werden sie mit Geschmack, jedes an seiner Stelle, gehörig benutzt, und hat der Spieler zuvor mit Geist und Fleiß die Anwendung und den Effekt, welchen man durch sie hervorbringen kann, studiert, so kann er auch der schönsten und vollkommensten Wirkung gewiß sein."°

Die zuvor einheitlich auf ästhetische Distanz gerichteten Faktoren, der produktionsästhetische und der wirkungsästhetische, fallen auseinander: Einerseits scheint (fürs Publikum) der Deklamierende selbst und mit aller Leidenschaft den affektiven Gehalt seiner erregten Rede zu empfinden; andererseits ist er, so die Forderung, nach wie vor Souverän eines Instruments, das er kontrolliert und nach klaren Vorgaben bedient. Insoweit ist die Bedingung, daß der Künstler die Darstellung jederzeit als Darstellung erkennbar halte, aufgehoben. Sieht man allerdings die Anweisungen zur Deklamation im Gesamtkontext der Regeln für Schauspieler, so relativiert sich der Eindruck, die »antiillusionistische Stoßrichtung« der in ihnen niedergelegten Theaterästhetik werde durch das deklamatorische Element der Aufführungen unterlaufen. Goethe wollte die Deklamation unter ein strenges, ^««ifgerechtes Maß gebracht wissen. Dies wird in §21 der Regeln deutlich, wo die Deklamierkunst mit einer zentralen Formulierung als »prosaische Tonkunst« bezeichnet wird. Im Unterschied zur Musik, die »ihren selbst eigenen Zwecken gemäß« erklingt, ist die Deklamation jedoch einem fremden Zweck unterworfen. Die Möglichkeiten eines musikalisierten Sprechens sind dadurch beschränkt, sind doch drei mögliche Hauptfehler zu vermeiden: »wechselt er [der Deklamierende] die Töne zu schnell, spricht er entweder zu tief oder zu hoch, oder durch zu viele Halbtöne, so kommt er in das Singen, im entgegengesetzten Fall aber gerät er in Monotonie, die selbst in der einfachen Rezitation fehlerhaft ist. Zwei Klippen, eine so gefährlich wie die andere, zwischen denen noch eine dritte verborgen liegt, nämlich der Predigerton. Derlei Warnungen sind gerade für eine musikalisierte Sprachgestaltung kennzeichnend; ein Mißverständnis wäre es, wollte man sie als Beleg gegen die These von einer historischen Theorie und Praxis musikalischen Sprechens inter110 Beide Zitate ebda., S. 730 111 Ebda., S.730

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pretieren. Daß bereits im onomatopoetischen Anteil der Sprache ein Moment der sprechsprachlichen Musikalisierung vorliegt, indem die klangsinnliche Komponente von Wörtern oder Sätzen als deren Sinn selbst aufgefaßt wird, verdeutlichen die Anweisungen des §22 der Regeln: Wenn ich zunächst den Sinn der Worte ganz verstehe und vollkommen inne habe, so muß ich suchen solche mit dem gehörigen Ton der Stimme zu begleiten und sie mit der Kraft oder Schwäche, so geschwind oder langsam aussprechen, wie es der Sinn jedes Satzes selbst verlangt. Z. B. Völker verrauschen, - muß halblaut rauschend, N a m e n verklingen, - muß heller, klingender [ . . . ] gesprochen werden."^

Auf Basis des zitierten Vergleichs mit dem Fortepiano wird der »Sinn der Worte« implizit als Anweisung zur quasi instrumentalen Umsetzung nach Dynamik, Tempo und klanglicher Differenzierung verstanden; solche Versinnlichung im Sprechton wird als Maxime in der Stimmästhetik bis ins 20. Jahrhundert hinein formuliert. Den zwölf Paragraphen zur Deklamation folgen lediglich drei kurze Paragraphen zum Verssprechen, dem sogenannten »rhythmischen Vortrag« ( § 3 1 33). Die Erläuterungen zur Jambendeklamation kann man als auffällig unspektakulär bezeichnen, bedenkt man, daß in jener Zeit das Verssprechen auf dem Theater erst mit Mühe wieder heimisch zu machen war."' Grundlage des rhythmischen Vortrags sind prinzipiell die Anweisungen zur Deklamation; sein Spezifikum dabei, »daß er mit noch mehr erhöhtem, pathetischen Ausdruck deklamiert sein will.«"'' (Mit dem Pathos ist hier ein Begriff eingeführt, der in den historischen Quellenschriften weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird.) 1802 hält Goethe in seinem Aufsatz Weimarisches Hoftheater nach elf Jahren Rückschau."^ Als entscheidend hat sich herausgestellt, daß man auf »wohlbedachte Maximen« zurückgreifen kann, zu deren wesentlichen zählt, daß der Schauspieler lernt, »in gewissen Rollen, seine Individualität unkenntlich zu machen«. Im Rückbezug auf die Regeln für Schauspieler läßt sich folgern: In diesen Rollen braucht es Deklamation oder rhythmischen Vortrag. Die Künstlichkeit, der hörbare Widerstreit des theatralischen Klangbildes mit dem der Konversationssprache ist Bestandteil der Kunstwahrheit. Geht man davon aus, daß ein Trauerspiel wie die Blankvers-//>/7jge«/e der klassischen Ästhetik gemäß auf einen einheitlichen Ton gestimmt ist, so kann man den rhythmischen Vortrag, den die jambische Sprache des Dramas verlangt, als Bedingung der Kunstwahrheit und Kunstwahrscheinlichkeit im theatralen Gebilde einer Inszenierung des Dramas (im Sinne Goethescher Ästhetik) begreifen; so, wie Gesang die

112 Ebda., S . 7 3 1 113 Erläutert wird, daß trotz Beachtung des »Sylbenbaus« der Zusammenhang zu beachten sei - »wie in Prosa« - und daß bei der Jambendeklamation, die ja durch die Dramen der Klassiker erst im Theater etabliert wurde, der Versanfang jeweils »durch ein kleines kaum merkbares Innehalten« kenntlich zu machen sei. 11'* Ebda., S. 734 [Hervorhebung von mir] 115 Goethe: Weimarisches Hoftheater. In: Oers. (1988), S. 6 9 2 - 7 0 3

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Identität des Opernkunstwerks gewährleistet."' Bedenkt man diese Grundvoraussetzung der Stimmästhetik innerhalb der theaterästhetischen Konzeption, so wird plausibel, daß Deklamation und rhythmischer Vortrag im Verhältnis zur Rezitation, als deren Steigerung sie formal beschrieben werden, nicht einfach eine Erhöhung des Erregungsgrades bezeichnen; man hat sie sich in der Tat als in eminenter Weise musikalisch stilisiert vorzustellen. Dabei werden die Vortragsformen differenziert gewählt. Ein Mißverständnis wäre es, ginge man von einem Weimarischen Deklamationsstereotyp aus, wie es später - das Original existierte nicht mehr - gerne und häufig attackiert wurde."^ So erläutert Goethe etwa, daß Schillers Maria Stuart «die Behandlung lyrischer Stellen foderte, wodurch der theatralischen Rezitation ein ganz neues Feld eröffnet ward«."® Nimmt man die Unterscheidung verschiedener Vortragsmodi ernst, so bedingt die »Rezitation« lyrischer Stellen ein gewisses Hervortreten der Individualität des Schauspielers gegenüber leidenschaftlich-deklamatorischen Momenten der Selbstentäußerung; ein Moment kalmierender Reflexion, die den Zuschauern erneut vor Augen führt, daß »hier von einem dritten Objekte die Rede sei«."' Rezitation, so verstanden, fungiert innerhalb des Ganzen einer dramatischen Aufführung als antiillusionistisches Korrigens. Und mit Lessings Nathan bringt Goethe weiterhin ein Drama ins Spiel, das seines eher diskursiven Charakters wegen der einsichtigen Darlegung und Entwicklung von Gedanken bedürfe: »In diesem Stücke, wo der Verstand fast allein spricht, war eine klare, auseinandersetzende Rezitation die vorzüglichste Obliegenheit der Schauspieler, welche denn auch meist glücklich erfüllt w u r d e . U n d nicht einmal Verssprache bedingt per se ihre deklamatorische Gestaltung; Schauspieler(innen), die hervorragend zu differenzieren verstehen, sind deshalb in Weimar hoch geschätzt.'^' Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird sich der Begriff Rezitation allerdings signifikant modifizieren: Er dient dann der Bezeichnung öffentlicher Auftritte von Vorlesern, besonders von Dramenvorlesern (deren prominentester Ludwig Tieck ist), bezeichnet also nicht mehr einen Modus innerhalb künstlerischen Sprechens überhaupt, sondern ist an eine Veranstaltungsform gebunden. 116 Vgl. Goethe: >Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der KunstwerkeSaat von Göthe gesät am Tage der Garben zu reifen< (1808) den Kenntnisstand späterer Generationen beeinflußt und negativ geprägt hat. 118 Goethe: Weimarisches Hoftheater (1988), S. 694 119 Goethe: Regeln (1994), S. 729 120 Ebda. 121 In Lessings >NathanDeklamatorik,< Bd. 1, S. 36: »Rezitieren [ . . . ] ist heutzutage in Gebrauch von einer A r t deklamatorischen Vorlesung, welche, namentlich mit Schauspielen, in einem Zuhörerkreise von Vortragskünstlern geschieht.«

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3.6. Deklamation als Modus des ästhetischen Übergangs (Goethe) Daß Goethe das gehobene, das deklamatorische Sprechen als gesangsaffin betrachtete, als vorbereitende Stufe zum Singen selbst, läßt sich einer Passage in Wilhelm Meisters Wanderjahre entnehmen. Wilhelm ist in der Pädagogischen Provinz unterwegs und wird vom Vorsteher in den Bezirk der bildenden Kunst geführt. Dort gelangt man in einen großen Saal, in dem etliche Künstler sich um ein Kunstwerk (eine »kolossale Gruppe«) versammelt haben; sie arbeiten an Nachbildungen einzelner Aspekte dieses Werks, und einer von ihnen fertigt eine Nachbildung, die alle Detailaspekte in sich aufnehmen soll und nun, auf Bitte des Vorstehers, von einem der Anwesenden gepriesen wird: Namentlich aufgefordert von allen, verließ ein schöner Jüngling seine Arbeit und begann heraustretend einen ruhigen Vortrag, worin er das gegenwärtige Kunstwerk nur zu beschreiben schien, bald aber warf er sich in die eigentliche Region der Dichtkunst, tauchte sich in die Mitte der Handlung und beherrschte dies Element zur Bewunderung; nach und nach steigerte sich seine Darstellung durch herrliche Deklamation auf einen solchen Grad, daß wirklich die starre Gruppe sich um ihre Achse zu bewegen und die Zahl der Figuren daran verdoppelt und verdreifacht schien. Wilhelm stand entzückt und rief zuletzt: »Wer will sich hier noch enthalten, zum eigentlichen Gesang und zum rhythmischen Lied überzugehen!«'^'

Der Übergang zum »eigentlichen Gesang« erscheint als konsequente und höchste Steigerungsstufe des Vortrags. Bezogen auf die Regeln für Schauspieler hieße das: Die Deklamation als gesteigerte Rezitation und selbst der rhythmische Vortrag, der »mit noch mehr erhöhtem, pathetischen Ausdruck deklamiert sein will«, stehen noch nicht am oberen Ende der stimmästhetischen Pathosskala; erst im »eigentlichen Gesang« wird die Sprache von sämtlichen musikalischen Parametern, also auch der fixen Tonhöhe und Intervallstufung, erfaßt, ohne sich allerdings in der Musik zu verlieren.'^'' Bestimmten Vorbehalten zum Trotz, steht Goethe der Musik stets aufgeschlossen gegenüber. In Ansätzen zu einer »Tonlehre«, die er zunächst 1790/91 mit Reichardt und erneut 1810 mit Zelter plant, soll das Phänomen der Musik als »donum naturae«, als »Gegebenes in der Erfahrung«, einer grundlegenden Klärung zugeführt werden.'^' 1815 ist ein »Tonlehre«-Schema entworfen, eine Skizze, die, unter anderem, die Stellung der menschlichen Stimme zwischen Sprache und Musik aufklären soll.'^^ Musik Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, zweites Buch, achtes Kapitel. H A , Bd. 8, S. 254 Wolfram Huschke (1982), S. 53: »Für Goethe blieb Musik eine dienende Kunst, vor allem in der Beziehung zur Dichtung. Sie hatte jene zu tragen, und zwar keineswegs gleichberechtigt.« 125 Vgl. hierzu ausführlich Ernst-Jürgen Dreyer (1976). Die im Duktus missionarische Arbeit Dreyers will auf den Spuren Goethes das Phänomen der Musik grundsätzlicher Reflexion öffnen. 126 Goethe sandte das Schema 1826 an Zelter und erhielt es nach mehrmaliger Bitte erst 1829 zurück. Zelters konservativ-konventionelle Position dürfte, bei aller handwerklichen Solidität (und durch den Goethe-Zelterschen Briefwechsel bezeugten Souveränität) Zelters, nicht die geeignete Hilfe zu diesem Vorhaben geboten haben.

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ist ihr zufolge »organisch« oder »subjektiv«, insofern sich »aus und an dem Menschen selbst die Tonwelt offenbaret«, und das heißt, »hervortritt in der Stimme, zurückkehrt durch's Ohr, aufregend zur Begleitung den ganzen Körper«.^^^ Bezogen auf die menschliche Stimme, sind Instrumente »Surrogat«, das indessen durch »gefühlte und geistreiche Behandlung« auf eine Stufe mit ihr gebracht werden kann. Der Mensch erlebt die Musik an ihm selbst in der stimmlichen Produktion prinzipiell unabhängig von seinem sprachlichen Vermögen: »Der Gesang ist völlig productiv an sich.« Kunst, die sich das musikalische Vermögen der Stimme zunutze macht, ist jedoch an Sprache gebunden, mit der sie nicht zur Deckung kommt: »Verbindung mit der Sprache beim Gesang überhaupt, besonders beim Canto fermo, Recitativ und Quasi parlando. Scheidung von der Sprache durch eine Art Register und Ubergang zu derselben und also zur Vernunft (Verstand).« Den verblosen Satzfragmenten läßt sich entnehmen, daß zwischen dem produktiven musikalischen Vermögen des Menschen an sich sowie dem vernunftgebundenen Vermögen der Sprache eine Kluft bleibt, die, so scheint es, ästhetisch überbrückt werden kann; »eine Art Register und Übergang« führt hinüber zu ihr. Es scheint, daß die Deklamation als »prosaische Tonkunst« schon in diesem Übergangsbereich angesiedelt ist. Folgt man Wolfram Huschke, so ging es Goethe, »von Herder inspiriert, vor allem um den Rhythmus und Klang der Sprache selbst, um das Durchdringen der Poesie mit musikalischem C h a r a k t e r « . I n diesem Sinne findet Herders Einfluß, vermittelt über Goethes Praxis, Eingang in die Theatergeschichte der menschlichen Stimme. Die Option einer musikalisierten - und zwar dezidiert als »prosaische Tonkunst« musikalisierten - Deklamation und eines aus ihr hervorgehenden, der Musik weiter angenäherten rhythmischen Vortrags wäre der theaterästhetische Niederschlag dessen. Und die Offenheit gegenüber dem Übergangs-Register (vom Gesang als produktivem Vermögen an sich zur vernunftgebundenen Sprache, die im musikalisierten Sprechen am organisch-subjektiven Element der Tonlehre teilhat) spiegelt sich in einer Vorliebe für alle Varianten, die diesem Bereich zugehören, indem sie übergangsschaffend wirken. Zu diesen Varianten gehört das melodramatische Sprechen: Weitere Auffüllung des Zwischenraums zur eigentlichen Musik durch Hinzufügung instrumentaler Musik. Daß Goethe, obgleich er sich gelegentlich gesprächsweise explizit gegen das (unaufgelöste) »Sprechen zur Musik« gewandt haben soll,'^' der melodramatischen Option in der Skala stimmästhetischer Möglichkeiten eine zum Gesang hin vermittelnde Position zudenkt, ist aus Bemerkungen von 1815 zu seinem Vgl. hier wie im folgenden die Wiedergabe in Tafelform bei Dreyer (1976), S. 229 128 Huschke (1982), S. 52 129 Im Gespräch mit Riemer am 3.12.1808: »Gegen das Sprechen zur Musik erklärte sich G. so: Musik sei die reine Unvernunft, und die Sprache habe es nur mit der Vernunft zu tun. [...] Schiller hatte besonders den Tic bei Musik sprechen zu lassen, z . B . die Jungfrau von Orleans. Goethen war das immer zuwider, wie er oft genug äußene.« (Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. v. Flodoard Frhr. von Biedermann, Bd. 2, Leipzig 1909, S. 8)

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Monodrama Proserpina ersichtlich. Er wirbt hier für die (zwischenzeitlich wieder außer Mode gekommene) Gattung des Melodramas. Der Musik weist er dabei eine dreifache Funktion zu: »a. indem sie die Rede begleitet, b. indem sie zu malerischen Bewegungen auffordert, c. indem sie den Chor melodisch eintreten läßt.«''° 1814 hat Carl Eberwein (auf Pius Alexander Wolffs Anregung hin) Goethe um Erlaubnis gebeten, das Monodrama zu vertonen, und sie erhalten;''' im Februar 1815 wird in Weimar Proserpina mit Eberweins Musik erneut aufgeführt; Amalie Wolff spielt die Titelrolle. In dem Monodrama tritt zum Ende ein Chor der Parzen auf; unsichtbar wendet er sich an Proserpina, um ihr mitzuteilen, daß sie in der Unterwelt zu bleiben habe."^ Dies wird, nachdem die Erregung Proserpinas angesichts ihres Schicksals sich zu heftiger Deklamation gesteigert hat, in Eberweins Vertonung zunächst a cappella, in knappem Satz, gesungen. Doch Proserpina, die mit ihrem Los hadert, schleudert, unterbrochen von musikalischen Zwischensätzen, den Parzen ihren Haß entgegen. Die reagieren insistierend, schließlich orchestral begleitet und in eine große Schlußwirkung einmündend mit der Unerbittlichkeit von Mächten, mit denen man nicht diskutiert: »Unser! unser! hohe Königin!« Goethe merkt zu dieser dramatisch-ästhetischen Aufgipfelung an: Eine geforderte und um desto willkommenere Wirkung tut das Chor der Parzen, welches mit Gesang eintritt, und das ganze rezitativartig gehaltne Melodram rhythmisch-melodisch abrundet: denn es ist nicht zu leugnen, daß die melodramatische Behandlung sich zuletzt in Gesang auflösen und dadurch erst volle Befriedigung gewähren m u ß . ' "

Die Formulierung ist prinzipiell. Man kann ihr, ohne daß es dafür einer forcierten Lesart bedürfte, entnehmen, daß die melodramatische Deklamation als vermittelndes Moment zwischen die »prosaische Tonkunst« und die eigentliche Tonkunst tritt. Deklamation und dazwischengefügte, später ihr unterlegte Musik drängen zur Vereinigung im Gesang, der nicht nur als dramaturgischer Effekt von suggestiver Wirkung ist, sondern im ästhetischen Gefüge als Steigerungsmodus höchster Ordnung fungiert. Deklamation und Musik entzünden sich und elektrisieren sich aneinander durch permanenten Wechsel, bis die gesammelte Spannung sich im Gesang entlädt. Daß im konkreten Fall des Proierpin^t-Monodramas mit der Gegenüberstellung von singendem Chor und deklamierender Heldin der Übergang sich vollzieht, indem sich eine konträre Dialogsituation herstellt, hindert Goethe nicht, die »Auflösung« der melodramatischen Sprechsituation in Gesang als folgerichtig zu beschreiben. Was die 130 H A , Bd. 4, S. 662 131 «Die Freundlichkeit, womit er mir mein Gesuch gewährte, überzeugte mich, daß es ihm erwünscht kam, >Proserpina< in jugendlicher Frische dem Publikum vorzuführen.« [Zitiert nach H A , Bd. 4, S. 660] 132 «Du bist unser!/ Ist der Ratschluß deines Ahnherrn:/ Nüchtern solltest wiederkehren;/ Und der Biß des Apfels macht dich unser!/ Königin, wir ehren dich!« (HA, Bd. 4, S.461) 133 H A , Bd. 4, S.663

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Dialogsituation auf der Ebene dramatischer Struktur stimmdramaturgisch sinnfällig abbildet - hier die unwidersprechlichen göttlichen Mächte, singend; dort die aussichtslos widersprechende Proserpina, deklamierend - , das ist auf der Ebene ästhetischer Wirkung als folgerichtiger Schlußeffekt plaziert.'''' Wiederholt wird in zeitgenössischen Schriften die melodramatische Option theoretisch als Bindeglied zwischen gesprochener Sprache und Gesang beschrieben. Für das Theater, für eine nicht nur reichhaltigere, sondern elaboriertere Stimmästhetik und Stimmdramaturgie >tönender< Schaubühnen, verspräche es, empfiehlt etwa der Dramatiker Ludwig Robert, Gewinn, das Melodram systematisch »zum Bindungsmittel zwischen Rede und Gesang« ausbauen."^ Gleichwohl, die von Johann Friedrich Rochlitz in einem Brief an Goethe erörterte Problematik, »einen Ubergang von der Deklamation zur eigentlichen Musik zu finden«, bleibt auch weiterhin prekär: »Wie geschickt man es auch mache, es bleibt ein Sprung, wenigstens ein Ruck.«"'

Exkurs: Primat der Stimme (Pius Alexander Wolff) Daß die musikalisierte Deklamation ein wesentliches Element der Weimarer Theaterästhetik war, ist eine der tragenden Thesen dieses Kapitels; und vielfach ist, zumal in älterer Literatur, dem klassischen Drama selbst eine eigene »Musikalität« bescheinigt worden, die auch der Schauspielkunst ihr Gepräge verliehen habe."' Den neueren Forschungsstand resümierend, hat Erika Fischer-Lichte aber auch hervorgehoben, daß für die Weimarer Inszenierungen neben musikalischen Prinzipien vor allem »malerische« genutzt wurden, um den Eindruck eines harmonischen Ganzen zu vermitteln, das unabhängig von unmittelbar lebenspraktischen Bezügen Bestand hatte."® Nach Lage der Dinge läßt sich dennoch, wie mir scheint, die These von einem Primat der Stimme vertreten, der sich, vermittelt, aus dem aufklärerischen Impetus der Gottschedschen Reformbühne fortschreibt und das 19. Jahrhundert hindurch unter der Vorgabe eines musikalisierten Sprechstils von entscheidendem Einfluß bleibt. Der Schlüssel zur Begründung dessen liegt zunächst in einer simplen Feststellung: Literarisches Theater, Bildungstheater muß (auch) verstandesmäßig erfaßbar sein. Deswegen begründet Pius Alexander Wolff sein Postulat eines Primats der Stimme vorderhand pragmatisch und nur scheinbar trivial: »Die erste Bedingung auf der Bühne ist, sich verständlich zu machen, das edelste und kostbarste aller Organe für den Schauspieler ist deshalb die Stimme.«"'

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Das ästhetisch letzte Wort hat, nachdem die Parzen ihren Sieg vokaliter besiegelt haben, das Orchester mit einer instrumentalen Schlußfloskel. Ludwig Robert (1827), S.274 Brief von Rochlitz an Goethe vom 1.12.1802. [Zitiert nach Mörschel-Wetzke (1956), S. 23] Vgl. z. B. Morschel-Wetzke (1956), S. 13f. Vgl. Fischer-Lichte (1993), insbes. S. 153f. und S. 155 Pius Alexander Wolff (1827a), S. 9

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Die schiere Selbstverständlichkeit, daß eine verbalsprachliche Kommunikation (auf der dialogisches Drama wesentlich beruht) ohne Stimme nicht stattfinden kann, kompliziert sich durch die Einsicht, daß Stimme nicht ohne Körper existiert. In ihrer Bindung an den Körper, aus dem sie hervorgeht, ist ihre zweifache Funktion gegründet: Stimme ist das Medium verbalsprachlicher Formulierung und Mitteilung; zugleich dient sie dem Ausdruck körperlich-seelischen Empfindens. In ihr verwirklicht sich radikal die Dialektik des Subjektiven und Objektiven am Begriff des Individuums, das zugleich Persona ist: tönende Maske seiner selbst. Durch den Klang der Stimme gibt sich die dramatis persona zu erkennen als das, was sie immer auch ist: Individuelle Körperlichkeit, die sich zwar zur Trägerin einer Rollenfigur wandelt, indem sie sich als deren Instrument definiert; die aber in ihrer Materialität stets unaufhebbar sie selbst bleibt. So ist die Stimme, zwar Medium von Gedanken prinzipiell beliebiger zeitlicher und personaler Herkunft, als körperliche Produktion doch an die sterbliche Individualität gebunden; ihr Klang trägt das Subjekt über seine Körperlichkeit hinaus, die ihr doch zugleich Bedingung ist. In der Stimme als Ausdrucksträgerin verbalsprachlicher Kommunikation ist jeder Dualismus von Emotion und Ratio, Psyche und Physis, Körper und Geist suspendiert. Die sprechende Stimme ist, so verstanden, wesentlich human. Unter Annahme dieser Voraussetzungen zurück zu Wolffs Funktionsbestimmung der Stimme für das Theater. Nachdem er ihre Kommunikationsleistung hervorgehoben hat, fährt Wolff fort: Durch sie offenbaren wir alle unsere Empfindungen, drücken wir alle die verschiedenen Gefühle aus, die uns bewegen. Die Stimme ist die Dolmetscherin der Leidenschaften, das Echo unserer Gedanken, sie muß ihnen jederzeit zu Gebote stehen, und nach unserm Gefallen dieselben in der Seele des Zuhörers rege machen. [...] Die Gewalt der Stimme ist so zauberisch, dass sie den Zuhörer in unsere Willkür giebt, sie reisst ihn mit uns fort, sie zwingt ihn zum Ernst und zum Frohsinn, zum Schmerz und zur Freude, sie entlockt ihm Thränen und trocknet sie.*''"

Als »Dolmetscherin« der Leidenschaften gewährleistet die Stimme deren affektiven Nachvollzug, gewährleistet so auch das Mitleiden, jene »Meta-Tugend« (Karl Eibl) im Sinne Lessings, die am Menschen die besten Seiten rege macht; ihr Klang, der als solcher unmittelbar verständlich ist, stiftet Verständigung; eine womöglich direktere, als es der Anblick des fremden Gesichts vermag: »Der Klang der Stimme gräbt sich oft tiefer in unser Gedächtniss ein, als die Gesichtszüge.«''" In entscheidenden Momenten enthüllt die Stimme, was Habitus und gesellschaftliche Maske (durch die hindurch sie tönt) verbergen; für die Dar1+0 Ebda. Ebda. Man kann diese Umakzentuierung der verbindenden Kraft verbaler Kommunikation auf die des Stimmklangs als Nachwirkung des Postulats v o m Primat des Hörsinns unter den Sinnesorganen deuten, wie es sich etwa an Klopstocks Ode >Das Gehör< nachvollziehen läßt, die das Gehör als den eigendich kommunikationsstiftenden Sinn und implizit die Stimme als das eigentlich kommunikationsstiftende humane Medium gegenüber dem Sehsinn favorisiert. Vgl. Klopstock (1954), S. 63f.

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Stellung einer dramatis persona gilt deshalb, daß die Stimme des Schauspielers ganz auf den darzustellenden Charakter eingestellt werden muß: »Die Kunst des Schauspielers ist es, nebst dem Aeusseren und den angemessenen Bewegungen, auch die Stimme zu wählen, die dem Alter, der Stärke und dem Ausdruck des darzustellenden Karakters angemessen ist.«'"'^ Maß dessen bleibt die Harmonie der Darstellung insgesamt; die eigene Rede ist stets so auf die Dialogpartner abzustimmen, daß keine »Dissonanzen« entstehen können.'''^ Mit dieser Forderung liegt Wolff ganz auf Goethescher Linie: In den Regeln für Schauspieler wird großer Wert auf das (auch optische) harmonische Wechselspiel der Dialogpartner gelegt.''*'' Die Stimme, wie Wolff sie begreift, übernimmt mithin auf dem Theater mehrfache Funktion: Zum ersten ist sie als Element einer Ästhetik des harmonischen Kunstwahren bestimmt. Zum zweiten verbürgt sie als humanes Spezifikum die Totalität menschlicher Verständigung auf emotionaler wie rationaler Ebene. U n d zum dritten ist sie der adäquate Indikator als konsistent verstandener, individueller charakterlicher Konstitution. Deshalb kann Wolff Conrad Ekhof doppelt als Vorbild reklamieren: Der exemplarische Charakterdarsteller habe mit seiner sowohl ausgeglichen-schönen als auch enorm wandlungsfähigen Stimme seine äußerlichen Handicaps vergessen lassen.'"" Wie fügt sich zur Forderung nach stimmiger Charakterdarstellung die Praxis der (musikalisierten) Deklamation in Weimar? Deklamation muß wahr sein: kunstwahr im Sinne des Gelingens theatralischer Täuschung, nicht naturwahr im Sinne einer imitatio naturae. Maß der Deklamation ist, daß sie das kommunikative Dreieck zwischen den handelnden Personen sowie zwischen Bühne und Publikum nicht behindert: »Eine leere und hochtrabende Declamation«, schreibt Wolff, »ist nur ein hohler Pomp der Stimme ohne Wahrheit, der an der Stelle des Gedankens nur Worte und Reime ertönen lässt.«'"*^ Dabei ist mitunter das Verhältnis zwischen Wahrheit und klanglicher Wirkung der Stimme diffizil auszutarieren: Auch giebt es Gelegenheiten, w o es mehr eines gewissen Zaubers der Declamation, als der einfachen Innigkeit bedarf, um die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen. D i e Anrede an ein ganzes Volk zum Beispiel im Munde eines Beauftragten [...], der nicht 1 « Wolff (1827a), S. 16 1 « Ebda., S.18 In welchem Maße dabei Harmonie-Postulat und Praxis der Inszenierung nach musikalischen Vorgaben koinzidieren, zeigt Wolffs Bericht von Übungslesungen, die Goethe anhand der Homerübersetzung Voss' durchführte: »Die Stimmen dieser kleineren Partien schlössen sich so bestimmt an die der Hauptpersonen, die Intonirungen waren so richtig und sicher, dass alle, wie die reingestimmten Instrumente eines Orchester [sie] in einander griffen.« (Wolff (1827b), S. 232) l'ts Vgl. Wolff (1827a), S. 10. Für die Rollendarstellung auf dem Theater ergibt sich aus der Forderung nach stimmlicher Anpassung an die Charakterdisposition der Rolle ein von Wolff nicht reflektiertes Spannungsfeld von verkörpernder und verkörperter Individualität. Wolff (1827b), S . 2 2 5

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nach eigener gefühlter Ueberzeugung spricht, verlangt ein gewisses Pathos in der Declamation, doch darf es nicht zu weit getrieben werden, und muss dem Vortrage nur eine feste, Achtung und Ehrfurcht einflössende gehaltene Würde leihen, ohne in Gesang und hohle Worteprahlerei a u s z u a r t e n . " '

Wo die Stimme gehobene Wirkungen vermitteln soll, da hat sie sich, als eigentliche Trägerin des Pathos (das Wolff hier, darin von anderen unterschieden, für äußerlich reproduzierbar hält) im stilistischen Duktus eines genus gründe zu bewegen.''*^ Doch die Legitimation zur Musikalisierung der Deklamation im Interesse pathetischer Wirkung bemißt sich gemäß der Grenze, jenseits derer der Klang sich vom Sinn abspalten würde (»Gesang«) und die Sprachform als Hülse nur mehr sich selbst übermittelte: als »hohle Worteprahlerei« Medium ohne Botschaft würde.''"

4.

Musikalische Elemente der Deklamation ab 1800

Wenn Goethe in den Regeln für Schauspieler hervorhebt, daß die Deklamierkunst »überhaupt mit der Musik sehr viel Analoges hat«,'^° so ist die Richtung gewiesen: Schriften, die sich ab 1800 in zunehmendem Maß mit Deklamation und deren verschiedenen Aspekten beschäftigen, untersuchen in der Tat die Deklamierkunst als eine spezifische »Tonkunst«. Und mitunter wird dabei der von Goethe geltend gemachte Unterschied, wonach die Deklamation, anders als die Musik, einem »fremden Zwecke unterworfen« sei,'^' ausgeblendet oder negiert, und es wird versucht, die Deklamation als Musik sui generis zu beschreiben. 4.1. Gustav von Seckendorffs Vorlesungen über Deklamation

und Mimik

Gustav Freiherr von Seckendorff ist zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Vorlesungen über Deklamation und Mimik (1816) Professor für Philosophie und Ästhetik am Kollegium Karolinum in Braunschweig. Nicht allein, weil die Vorlesungen richtungweisende Gedanken über das Potential melodramatischen Sprechens enthalten, lohnt es, sie ausführlicher vorzustellen: Extrem von Zuschnitt, führen sie doch in Grundzüge der historischen Debatte über die Kunst eines Sprechens ein, das als eine Musik sui generis verstanden wird.'^^ SekEbda., S . 2 2 7 '"'S Die Dinge liegen kompliziert: Wenn der »Beauftragte« des Beispiels nicht nach eigener Überzeugung spricht, so ist die Rollenfigur gemeint; ob ein Darsteller, der das Pathos einer Rollenfigur erlebbar macht, die selbst leidenschaftlich affiziert ist, seinerseits pathetisch erregt zu sein habe oder nicht, ist damit nicht geklärt. Spricht man von Pathos (im Sinne der Rhetorik) auf dem Theater, so hat man diese Komplizierung der Verhältnisse mitzubedenken. Zur Bedeutung des Pathos in der Deklamationstheorie vgl. auch unten unter 1.5.10. 150 Goethe: Regeln (1994), S. 730 151 Ebda.

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kendorff entwirft seine Theorie der Deklamation auf naturwissenschaftlichempirischer Grundlage. Diese Fundierung soll, so der Anspruch, die moderne Wiederbelebung einer öffentlichen Redekultur, wie sie in der Antike ideal verwirklicht gewesen sei, auf eine systematisch gesicherte Basis stellen. Wiederbelebung deshalb, weil der Erfolg der »Buchdruckerkunst« den Niedergang der Vortragskunst zur Kehrseite gehabt habe. Mit dem Siegeszug der Buchkultur, so Seckendorffs historische Synopsis, wurde die öffentliche Rede in ein Reservat abgedrängt, in dem nur mehr Mönche und vereinzelte Redner sich tummelten. Erst das Theater vermochte einen gewissen Ausgleich zu bieten, allerdings in Formen, die Seckendorff im Sinne der aufklärerischen Reformtradition als »sittenlos« bezeichnet. Die gegenwärtige Situation stellt sich grundsätzlich verändert dar, seit es gelang, musikalische Qualitäten gesprochener Sprache wieder bewußt zu machen; der Name Klopstocks soll das Vorhaben in diesem Sinne respektabel machen.'^' Daß nun Seckendorff einen Rückgang in die Theatergeschichte unternimmt, zeigt exemplarisch, daß in der Tat die Grundlagen deklamatorischer Kunst mit Bezugnahme auf historisch gewordene Sprechstile des Schauspieltheaters diskutiert werden. Konstatiert wird ein Phänomen der Ungleichzeitigkeit: Auch vor Klopstock wußte man auf dem Theater von Deklamation; doch wurde sie »von den besten Künstlern« (genannt werden Ekhof und Schröder) »als etwas unnatürliches verworfen.« Die reformierte Schauspielkunst hatte aber, meint Sekkendorff, in dem Begriff ein Zerrbild vor Augen: Das Gesetz, den Versbau im Vortrage zu unterdrücken, war allgemein, dessen ungeachtet deklamirte man, sobald sich das Gemüth aus der Gewöhnlichkeit erhub, nur nannte man es nicht so, weil die Deklamation mit dem schwerfälligen, gemüthlosen Pathos verwechselt wurde, welcher [!] damals auf der französischen Bühne, noch gewaltiger als jetzt, herrschte und durch seine Anhänger zu uns verpflanzt werden

sollte.!'" Seckendorffs Argumentation zielt auf einen erweiterten Begriff von Deklamation, der sie von der Bindung an die Verssprache befreien soll; entgegen der Goetheschen Differenzierung von Rezitation und Deklamation wird Deklamation zum sprechästhetischen Universalbegriff aufgewertet. Seckendorff hat im Sinn, ein »höheres, musikalisches Gesetz« der Sprechsprache aufzufinden, dem etwa der Magister Schocher in seiner 1791 erschienenen Schrift Soll die Rede auf ewig ein dunkler Gesang bleiben... bereits von ferne auf der Spur gewesen sei.'^^ Die keineswegs neue Einsicht, »dass Sprechen 152 Christian Winkler (1931), S. 187, bezeichnet die >Vorlesungen< zutreffend als »Höhepunkt der musikalisch gerichteten Vortragstheorien«. Seckendorff (1816), S. 12: »Erst mit Klopstock wurde die musikalische Ausbildung unserer Sprache ein wichtiger Gegenstand wissenschaftlicher Begründung und künstlerischer Darstellungen.« 154 Ebda., S. 13 155 Seckendorff verweist auf die Vorläuferschaft der Arbeit von Christian Gotthold Schocher (1791). Goethe zollte dieser Schrift en passant skeptisches Lob. (Brief vom

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eine Musik sei«, soll dadurch systematischer Grundlegung zugänglich werDie Differenz von zunächst rohem, später noch so elaboriertem »Sprachgesange« (wie ihn Herder beschrieben hatte) und eigentlicher Musik sucht Sekkendorff aufzuheben, indem er den Musikbegriff von der Vorgabe löst, wonach erst Töne, die unabhängig von einem sprachlichen Ausdruckssubstrat als »Tonkunst« in geregelte Folge gebracht werden können, Musik seien. Die Pointe des Ansatzes besteht darin, daß hier versucht wird, musikalische Elemente der gesprochenen Sprache in Abkehr vom Musikbegriff der europäischen Tradition zu erfassen und so den konventionellen ästhetischen Hiatus zwischen gesprochener Sprache und Musik zu marginalisieren. Die Argumentation wird deshalb zunächst außerhalb ästhetischer Prämissen auf physikalischer Grundlage aufgebaut.''' Dem bis in Details zu folgen, ist nicht notwendig; einiger Hinweise bedarf es jedoch: Vorauszusetzen ist, daß Worte, gesprochene wie gesungene, einerseits aus Vokalen bestehen (Seckendorff nennt sie »Töne«), andererseits aus Konsonanten (»Lauten«). Beide seien Schall; und Schall sei Bewegung.'^' Darin gleichen sich Singen und Sprechen prinzipiell, darin seien sie aber im Konkreten unterschieden: »Es kommt also, um das Sprechen und Singen vergleichen zu können, darauf an zu wissen: Was an der einfachen Bewegung wahrgenommen werden kann.«'" Zu jedem Schall gehöre eine spezifische Form der Bewegung, ein spezifischer Raum der Bewegung. Auf der Grundlage ihrer Bewegung im Raum lassen sich dann verschiedene Schälle vergleichen. So bestimme die Geschwindigkeit der Bewegung, meint Seckendorff, die Lautstärke, die Größe der Bewegungsformen die Tonhöhe.'^" Vermuten ließe sich demnach, Seckendorff wollte den Musikcharakter der gesprochenen Sprache auf generelle Eigenschaften der Grundformen von Schall reduzieren, wie sie auch instrumental erzeugte Töne aufweisen. Doch um die spezifische Qualität von Musik nicht völlig zu verfehlen (indem sie prinzipiell, als an die Bedingungen von Zeit und Raum gebundener Schall, dem Schlag einer Axt oder dem Knallen einer Tür gleichgesetzt wäre), wird nun das ästhetische Kriterium der Schönheit eingeführt:

2 5 . 7 . 1 7 9 4 an Schiller: »Sie erhalten hierbei die Schocherische Abhandlung mit Dank zurück; das, was ich davon verstehe, gefällt mir recht wohl, das übrige wird er mit der Zeit ja wohl aufklären.«) Fichte ließ sich von Schocher in Deklamation unterrichten. Vgl. Weithase (1961), S. 398 Seckendorff (1816), S. 16. Der Anspielungskontext dieser Passagen verweist zurück auf die Sprachursprungsdiskussion des 18. Jahrhunderts. Seckendorffs Anspruch auf exakte Begründung bedingt (neben dem eigenwilligen Beweisziel), daß ihm eine Berufung auf die vielfältigen engen und engsten Beziehungen, die sich ästhetisch und kunstphilosophisch seit den Schriften Wackenroders, Hoffmanns und anderer frühromantischer Theoretiker ergeben haben, nicht genügen kann. Seckendorff (1816), S. 17: »Jede Veränderung am Räume erfolgt in der Zeit, darum heisst sie Bewegung.« '59 Ebda. '60 Vgl. ebda., S.26f. 72

Schönheit ist die Uebereinstimmung absoluter und relatifer Beziehungen der Theile unter sich und zum Ganzen, mithin, wenn diese Uebereinstimmung im Schall stattfindet, wenn der Schall schön ist, nennt man ihn musikalisch. Schönheit der hörbaren Bewegung ist das Kennzeichen der Musik im weitesten Sinn des W o r t e s . ' "

Die physikalische Argumentation (deren Stichhaltigkeit deswegen hier nicht zu interessieren braucht) dient letztlich als Vehikel, die Barriere zu umgehen, die der herrschende Musikbegriff aufrichtet, insofern er impliziert, Musik beruhe wesentlich auf einem Tonsystem aus zwölf bezeichneten Halbtönen. Polt man Seckendorffs Argument um auf die Wahrnehmungsperspektive, so besagt es: Musik ist, was als Schallphänomen durch »Uebereinstimmung absoluter und relatifer Beziehungen der Theile unter sich und zum Ganzen« als harmonisch und deshalb als schön empfunden wird.'^^ Damit ist prinzipiell die gesprochene Sprache einem erweiterten Musikbegriff erschlossen, und die Dichotomie von Singen und Sprechen läßt sich auflösen, indem die Differenz zwischen beiden als eine lediglich graduelle gekennzeichnet wird. Wenn aber aller Schall, der schön ist, Musik ist, und wenn der »Gesangton«, wie Seckendorff ausführt, physikalisch nichts anderes ist als der verstärkte »Sprachton«,"' so vollzieht sich der Ubergang von der gesprochenen zur gesungenen Sprache ohne prinzipiellen ästhetischen Bruch. Klammert man das Kriterium der Schönheit aus, so weist der weite, allein auf dem Phänomen des Schalls aufgebaute Musikbegriff Seckendorffs in seinen Implikationen von ferne auf Elemente musikalischer Praxis im 20. Jahrhundert voraus: »Es will scheinen«, schreibt Elmar Budde, »daß das Verhältnis von Musik und Sprache [...] sich in unserem Jahrhundert nicht nur zum Verhältnis Musik und Sprechen gewandelt hat, sondern, daß es sich aufhebt in der Identität von Musik und Sprechklang. [...] Die Grenzen der Künste sind endgültig verwischt.«"'* Andererseits ist selbstverständlich die annähernde zeitliche Koinzidenz mit romantischem Synästhesiedenken augenfällig. Der latente Konnex mit musikgeschichtlich viel späteren Entwicklungen, der sich aus dieser Konstellation ergibt, wird greifbarer, wenn man bedenkt, daß etwa ins Programmheft zur Uraufführung des Pierrot lunaire von Schönberg (16.10.1912 in Berlin) ein Text von Novalis aufgenommen war:

161 Ebda., S . 2 8 162 Die Bestimmung von Schönheit erweist sich als Frage des ästhetischen Urteils: Schönheit bemesse sich nach Ideen, die den Menschen innewohnen, und nach dem >individuellen< Maß der Empfindung von Übereinstimmung oder Widerspruch zwischen Idee der Schönheit und Wahrnehmung (im vorliegenden Fall: Wahrnehmung eines Schalles). 163 Seckendorff (1816), S. 54f. Ebenso nochmals auf S. 56. Als empirischer Beleg dazu wird auf S. 55 beigebracht, »daß man weit leiser sprechen als singen, nie so laut sprechen als singen kann, dass man die Singenden noch in der Ferne hört, wenn man von den Sprechenden lange nichts mehr zu vernehmen im Stande ist«. l^"! Elmar Budde (1990), S. 114. Diese Grenzverwischung wird nun dadurch begünstigt, daß Schönheit ihre vormalige Bedeutung als ästhetisches Kriterium eingebüßt hat. 165 Zitiert nach ebda., S. 115

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Es lassen sich Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Traum, denken - Gedichte, die bloß wohlklingend und voll schöner Worte sind, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einige Strophen verständlich, wie Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen. Diese wahre Poesie kann höchstens einen allegorischen Sinn und eine indirekte Wirkung wie Musik haben.'"

Unter durchaus verschiedenen Aspekten (denn Seckendorffs Theorie wäre als ein romantisches Konzept nicht zutreffend beschrieben) wird also zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Grenzverwischung zwischen den Künsten denkbar, die aus dem Rückgang auf deren gemeinsames klangliches Substrat gewonnen ist. Die Ansätze dazu liegen in den Sprachursprungsspekulationen des 18. Jahrhunderts und in der Wiederentdeckung der latenten Musikalität des Sprachklangs. Mit Seckendorffs Versuch, der Rede von der Musik des Sprechens ein physikalisch begründetes Fundament zu schaffen, kommt eine neue Qualität ins Spiel, indem konsequent der konventionelle Musikbegriff aufgesprengt werden soll, um die verfestigte Dichotomie von Sprache und Musik - präziser gesagt: von Sprechen und Musik - systematisch zu überwinden. Gleichwohl löst Seckendorff, widersprüchlich genug, das Problem nicht auf; ein »wahrer Uebergang« zwischen »Sprechton« und Gesangton« sei, postuliert er, bei maximaler Annäherung doch »unmöglich«,''' und die Erklärung dessen führt zu einer Restituierung des konventionellen Musikbegriffs, in dessen Konstanten sich Seckendorff verfängt: Man hat zeither der Sprache ganz anders gestaltete Töne, als dem Gesänge zugeschrieben, weil man nur sogenannte halbe Töne zu singen vermag, während die Sprache weit zartere Verhältnisse berührt, eine weit reichere Oktave besitzt, und deshalb weit weniger Oktaven bedarf um das Gemüth zu enthüllen.

Nicht etwa, daß sich das Tonsystem aus der natürlichen Obertonreihe ergebe, dient als Argument; sondern daß die singende Stimme nur Halbtöne zu singen vermag. Die Anwort auf die Frage, weshalb dies so sei, gerät kurios: »Mich dünkt, weil die mehrere Anstrengung beim Gesänge unsere Gewalt über unsere Organe schmälert.«''^ Zwischen Sprechton und Gesangton bliebe also, wenig plausibel begründet, eine dennoch nicht zu überwindende Kluft physiologischer - aber nicht mehr eine ästhetischer Genese.''^ Deklamation ist dabei wesentlich durch eine Verschiebung auf der Achse von semantischer und emotioneller Vermittlung ausgezeichnet; deklamierter Text, prinzipiell für Seckendorff dem »musikalischen Gesetz« der Melodie verpflichtet, lädt sich zur musikalischen Sprachmelodie auf, indem er Töne über das alltagssprachlich gebräuchliche Maß hinaus ausdrucksvoll dehnt. Dies sieht Sekkendorff (mittelbar wiederum auf die Herdersche Tradition rekurrierend) einer Art von musikalisch-ursprachlichem Prinzip stimmlichen Gefühlsausdrucks ge166 Vgl. Seckendorff (1816), S. 56 167 Ebda., S. 56f. 168 Musik sind gleichwohl beide: »Sind Sprache und Gesang nur durch die mehrere Stärke des Gesangtons und der hieraus folgenden, weitschrittigern Tonleiter des Gesanges verschieden, so müssen sie auch gleichen musikalischen Gesetzen unterworfen sein.« (Ebda., S. 58f.) 74

schuldet: »Die allgemeine Sprache ist daher auch die sinnlich-geistige Mutter aller Sprachen und der Kern der Deklamation in allen Sprachen.«''' Man geht kaum fehl, wenn man hier, mit der gebotenen Behutsamkeit, eine imaginäre Linie zu späteren (noch zu besprechenden) Versuchen vorgezeichnet sieht, die unmittelbar authentische Ursprache durch eine restituierte Vokal-Musik, eine Musik der per se musikalischen Ur-Vokale, wiederzugewinnen. 4.1.1. Erweiterte Perspektiven für das melodramatische Sprechen Seckendorffs Theorieansatz ermöglicht ihm ein undogmatisches Nachdenken über die Möglichkeiten auch melodramatischen Sprechens. Hier liege Potential brach, weil melodramatische Musik sich zu stark an der Sprachesemantik ausrichte, statt den ästhetischen Konnex zu suchen: Wie viel höher aber müsste die Wirkung eines Melodraraa's seyn, wenn Sprache und Musik, im engeren Sinne dieses Wortes, im innigsten Zusammenhange stünden; wenn die Schauspieler in den Akkorden und Harmonien sprächen, in welchen das Orchester fortschreitet; w e n n die Komponisten auf die allgemeinen, musikalischen Gesetze, und auf die der Sprache insbesondere, mehr Rücksicht nähmen; wenn die Sprache allmälig und von Musik begleitet, bis zum höchsten lyrischen Erguss, den [sie] Gesang stiege; wenn nach gleichen Gesetzen, Sprach- und Gesang-Chor wechselten und ineinander übergingen?""

Das Bemerkenswerte an dem ebenso ambitionierten wie partiell (scheinbar) bizarren Entwurf Seckendorffs ist, noch einmal, daß er in einigen Momenten weit vorausweist. Ein in Akkorden sprechender Chor etwa wird erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, in Humperdincks Königskindern, und dann im 20. Jahrhundert konsequent eingesetzt werden. (Schönberg komponiert im Drama mit Musik Die glückliche Hand »den Akkord mehrerer Sprechverläufe«. Spräche im »Sprach-Chor« jeder auf beliebiger Tonhöhe, so werde, erläutert Seckendorff, der Chor »nur ein unharmonisches Ganzes bleiben«, sei er auch noch so präzise synchronisiert. Bisherige Bemühungen ums Chorsprechen seien deshalb unvollständig: Die Chöre in Schillers Braut von Messina habe man anfangs nur rhythmisch synchronisiert, später dann die Einzelstimmen nach ihrem »Konversationston« (heute würde man sagen: nach ihrer Indifferenzlage) vage chorisch zueinander geordnet.'^^ Die Frage, wie man sich eine Harmonisierung des Chorsprechens vorzustellen hat, beantwortet Seckendorff mit ebenso probater wie argumentativ zirkulärer Legitimationsstrategie: Er beruft sich aufs antike Vorbild. ' ' ' 169 Ebda., S. 70 170 Ebda., S . 3 3 3 171 Dieter Schnebel (1984), S . 2 1 2 Vgl. unter III.3. in dieser Arbeit. 173 Seckendorff (1816), S. 330: »So nur kann der Sprach-Chor der Griechen gewesen seyn, denn nur so ist Deutlichkeit möglich, und diese w a r gewiss erreicht, sonst hätte der Sprach-Chor auf den grossen Theatern die hohe Wirkung nicht hervorbringen können, die er doch hervorbrachte.«

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Bis hierher sollte greifbar geworden sein, daß die These von der historischen Praxis musikalisierter sprechsprachlicher Deklamation sich auf immerhin präzisere Vorgaben stützen kann, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Und eine Theorie, die das Sprechen in jedem einzelnen seiner Elemente als Musik begreift, die unter eigenen musikalischen »Gesetzmäßigkeiten« steht, kann »deklamatorische Musik« und instrumentale Musik plausibel in anderer Weise melodramatisch kombinieren, als eine Ästhetik es vermag, die ihre Vorgaben allein aus Hörgewohnheiten, Vorurteilen und geschichtlich gewachsenen Bedingungen der Praxis bezieht. Voraussetzung dessen ist allerdings, daß die begleitende Musik den spezifischen Ausdruckscharakter der Deklamation berücksichtigt. Dann wird umgekehrt die suggestive Wirkung der Musik die Wirkung der Sprache erhöhen, wie Seckendorff anhand einer gegebenen Vorlage illustriert: Wenn wir die Jungfrau von Orleans in dem bekannten Monolog: >die Waffen ruhn u. s. w.< hören, und nun die sanfte Musik hinter der Szene einfällt, ganz nach dieser und den Modulationen derselben, so ist die harmonische Wirkung der Sprach- und Instrumental-Musik unbeschreiblich schön."''

Der Hebel setzt an zwei Punkten an: Melodramatische Passagen im Schauspiel bedürfen geeigneter instrumentaler Begleitung, also spezifisch auf sie abgestimmter Schauspielmusik; sie bedürfen außerdem einer als selbst musikalisch begriffenen Deklamation und der wechselseitigen ästhetischen Abstimmung auf sie; ein Gedanke, der bis ins 20. Jahrhundert hinein Aktualität behalten wird.'^^

5.

Einzelaspekte musikalisierter Deklamation in der Theorie ab 1 8 0 0

Seckendorffs Vorlesungen kranken, wie vergleichbare zeitgenössische Versuch auch, an der Schwierigkeit, daß trotz erheblichen theoretischen Aufwands das gewünschte oder gemeinte Klangbild diffus bleibt. Dieses Defizit ist nicht allein eines der historischen Darstellung, sondern es ist den Theoretikern schmerzlich bewußt: Eine geeignete Notation für das Klangbild gesprochener Sprache fehlt. Nicht immer sind andererseits Hinweise auf inkommensurabel bleibende Momente künstlerischen Sprechens Ausdruck theoretischer Resignation. Zumal beim Stand der frühromantischen (Musik-)Ästhetik zu Anfang des 19. Jahrhunderts leuchtet ein, daß eine Musik des Sprechens, also eine Hervorkehrung der Klanglichkeit der Sprache, systematischer Beschreibung einen unerklärbaren Rest vorenthält. Wer mit einem entsprechenden Sensorium begabt sei, könne, so Seckendorff und andere, bereits bei stummem Lesen das adäquate Klangbild eines Textes erfassen.'^' 174 Ebda., S. 333 175 Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel V.2. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Seckendorff (1816), S. 134: Seckendorff ist überzeugt, »dass selbst in dem nicht laut Lesenden die deklamatorische Musik waltet, so bald er wirklich mitzuempfinden

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Im Rahmen ambivalenter Vorgaben wie der, wonach einerseits die geschriebene Sprache eine »deklamatorische Musik« erfordere, indem sie ihr schon immanent sei, wonach andererseits Deklamation einer handwerklichen Vermittlung bedürfe, die zur Auffassung jener Klanggestalt wie auch zu den Möglichkeiten ihrer stimmlichen Hervorbringung erst befähige, wonach schließlich noch so kundige Vermittlung auf »Geheimnisse« der Wirkung gesprochener Sprache allenfalls hinzuweisen vermöge, bewegen sich die Deklamationsschriften des frühen 19. Jahrhunderts. Dieses relativierende Moment ist der folgenden Analyse spezifischer Einzelaspekte jener Theorien hinzuzudenken. 5.1. Musikalische Malerei, malende Deklamation Stimm- oder Tonmalerei, klangliche Mimesis, ist probates Mittel einer Stimmästhetik, die sich als Instrumentierung von Texten versteht.^^^ Nicht von ungefähr wird die Tonmalerei der Musik im späten 18. Jahrhundert mit demselben Terminus erfaßt, »musikalische Malerei«, der auch auf die deklamatorische Musik Anwendung findet.'^® Die Übereinstimmungen reichen bis ins Detail: Die Differenzierung der »musikalischen Malerei« in »treue Nachahmung des Hörbaren« einerseits, »Nachahmung einer, nur hörbar gedachten Erscheinung, welche mit einer von andern Sinnen wahrnehmbaren Erscheinung verbunden seyn könnte«'^' andererseits geht (mutatis mutandis) parallel mit der entsprechenden musikalischen Differenzierung.'^" In der Idee einer musikalischen Malerei, deren sowohl die menschliche Sprechstimme als auch die instrumentale Musik fähig sei, verflüssigt sich erneut der Gegensatz von Sprechstimme und Musik. U n d insofern musikalische Malerei austariert, was nach der Vorstellung der Zeit im menschlichen Ausdrucksbedürfnis als »Wortsprache« und »Tonsprache« in latentem Widerspruch koexistiert; insofern Sprachen Naturlaute nachahmen, also als Wortsprache per se und ihrem Ursprung nach zugleich Tonsprache sind; insofern Deklamation primär Gemütsausdruck ist - insofern ist musikalische Malerei, im Sinne Seckendorffs, als »höheres Gesetz« künstlerischer sprechsprachlicher Deklamation zu beschreiben. Sie ist der >be-tonten< Wortsprache essentiell:

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beginnt.« Die Frage, ob Dichtung ein objektivierbares Klangbild immanent sei, spielt um 1900 erneut eine Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion. (Vgl. unter V.l.) Vgl. Eva Morschel-Wetzke (1956), S. 10: » E s ist eine Sprechweise, die durch die Stimme die akustischen Merkmale wiedergibt, die dem Inhalt der gerade gesprochenen Worte entsprechen.« Ulrike Küster (1994), S. 55: »Unter >Tonmalerei< oder >rausikalischer MalereiAnleitung zur gründlichen Bildung der öffentlichen Beredsamkeit< die menschliche Stimme zurückhaltender »als das Vermögen die Regsamkeit des Inneren durch Laute und Töne zu äußern« bestimmen. Kerndörffer (1833), S. 105 Kerndörffer 0 8 1 3 ) , S. 19 Schon indem Kerndörffer einräumt, daß im Falle der »Redestimme« fließende, also unendlich kleine Übergänge vorliegen, zeigt sich im Terminus »Ton/ejter«, der eine Metapher ist, die später offenbar werdende Fragwürdigkeit der terminologischen Übertragung. Kerndörffer (1813), S. 20 Allerdings ohne erkennbare Konsequenz: Z u m Vokal U sollen die Tonfolgen A - C - E A sowie Fis-Cis-Eis-Ais gehören; zum O der H - D u r - A k k o r d H - D i s - F i s - H sowie Gis-Dis-Fis-His, zu E Cis-Dur sowie A - F - A - C (also plötzlich schlichtes F - D u r ) etc.

möchte; seine Konzeption läuft sich in der Begrifflichkeit, sogar in der Schichtungssystematik des musikalischen Tonsystems fest. Weiterführend ist das Modell dennoch: Die sogenannten Haupt- oder Grundtöne werden als »Urlaute« verstanden, und zwar insofern sie sich »auf fünf besondere, jeder menschlichen Stimme eigene Kehlpunkte beziehen und Laute in sich begreifen, welche den verschiedenen Zuständen des Gemüths angehören«. So sei grauenvolles Zurückschaudern auf den Vokal U gestimmt (etwa »uh!« oder »huhu!«), feierliche, erhabene Empfindungen verlangen das O, freies Aufatmen das A, überspannte Affekte das I. Das E fehlt in der Reihe; als sogenannter Ton der Mittelstimme besetzt es unspezifisch die Zentralposition.^"' Die angenommenen EmpfindungsTonarten erweisen sich mithin als ein Set ursprünglich-kreatürlicher Interjektionen, die auf den Zentralvokal E abgetönt sind. Auf ihnen baut sich die spezifische deklamatorische Tonleiter auf, die man sich in diesem Sinn als ontogenetisch individualisierte Variation eines phylogenetisch uralten Musters vorzustellen hat. Der Nutzen für die Deklamationskunst ergibt sich durch Ableitungen aus dem Modell für die ästhetische Durchformung; die (in sich willkürliche) Zuordnung von Akkordtönen zu den Vokalen erhält dadurch erst ihren spezifischen Sinn. Das U zum Beispiel gilt als sogenannter Geisterton, und das meint theaterpraktisch, daß es bei Geistererscheinungen als deklamatorische Klangsubstanz eingesetzt werden soll. Das O eignet sich hingegen, als Gebetton, für Oden, Gebete, Selbstgespräche. (Auch als Götterton dient es, dies allerdings nur, wenn es sich um eine männliche Gottheit handelt; weibliche Gottheiten äußern sich im I-Bereich, wo sich »Überspannung der Gefühle« Laut schafft Diejenigen Töne nun, welche durch »Biegungen der Stimme« (also durch melodische Stimmführung) hervorgebracht werden, verhalten sich »als einzelne Töne zu einem Ganzen«; sie seien, meint Kerndörffer, als Bestandteile eines Akkords zu betrachten. Hat man innerhalb eines Gedichts, als dessen Grundton das A auszumachen ist, passagenweise zum U-Ton zu wechseln, so möge man das nicht durch eine Umschaltung zum tiefen Grundton U selbst bewerkstelligen, sondern durch einen im Grundton U gleichsam obertönig mitschwingenden Akkordton, der dem Grundton A näher benachbart Dies soll die spezifische Harmonie des deklamatorischen Tongebildes verbürgen, und wenn man die Konstruktion für den Augenblick akzeptiert, gewinnt Kerndörffers Forderung, schon der Dichter möge bei der Abfassung seiner Werke kompositorisch vorgehen, mit Blick auf die deklamatorische Realisierung ihren vollen Sinn. Allerdings muß Kerndörffer einräumen, daß seine Skalen nicht alle Nuancen der Sprechstimme 207 Kerndörffer (1813), S. 21 208 Ebda., S. 24ff. Daß Frauen eine anders beschaffene Skala stimmlicher Äußerung zugestanden oder zugemutet wird, wäre womöglich genauerer Untersuchung wert. »Die Stimme des Mannes«, schreibt Pius Alexander Wolff, »ist alle Affekte vom Erhabenen bis zum niedrig-komischen auszudrücken fähig, doch nur das weibliche Organ vermag die ganze chromatische Tonleiter derselben zu durchlaufen und alle die halben Töne und leisen Schattirungen des Gefühls und des Verstandes herauszuheben, die oft, dem Dichter selbst unbekannt, in seinem Liede verborgen sind.« Wolff (1827a), S.21 209 Kerndörffer (1813), S.27f.

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erfassen; die systematische Aufschlüsselung wird deshalb mit leichter Hand der Intuition preisgegeben dort, wo sie an ihre engen Grenzen stößt und damit auf ihre eigene Fadenscheinigkeit verwiesen wird.^'" Irritierend daran bleibt, daß gerade das Kernproblem der spezifischen Differenz - die engeren Tonabstände - wie nebenbei in ein außersystematisches Nebelland von Intuition und Versenkung ausgelagert wird. Daß es naheliegende Einwände gegen die Annahme der faktischen Existenz von Vokal- oder Sprachtonleitern gebe, bleibt anderen Theoretikern keineswegs verborgen. Thürnagel lehnt in der 1836 erschienenen Theorie der Schauspielkunst die Aufstellung solcher Tonleitern mit demselben Einwand ab, vor dem Kerndörffer stillschweigend kapituliert. »Da die Töne«, schreibt Thürnagel, »welche ihr [der Sprechstimme] zu Gebote stehen, ungleich näher beisammen liegen, als beim Gesänge, so ist die Aufstellung einer vollkommenen, deklamatorischen Tonleiter etwas Unmögliches.«^" Auch er geht jedoch modellhaft von Haupt- oder Grundtönen aus, und auch er sieht zwischen als Grundtönen verstandenen Vokalen und ihnen entsprechenden Empfindungsbereichen einen Konnex, den er physiologisch begründet (womit er den Resonanzlokalisationen mancher späterer Stimmbildungsschulen vorgreift).^^^ Die weit ausholenden Überlegungen Heinrich Theodor Rötschers schließlich münden in eine Vokaltheorie, die auf umfassendere Zusammenhänge verweist. Rötscher setzt das A zentral, als den angeblich ursprünglich-interjektionalen musikalischen Laut: »A ist der reine, ungehemmte Ton, er ist also die natürliche Grundlage, auf der sich auf- und absteigend die übrigen Vokale entwickeln.«^'' Wer über ein regulär organisiertes Gehör verfügt, so Rötscher apodiktisch, ist in der Lage, dies zu verifizieren; denn Vokale sind »vom Drange der Seele erzeugte Elemente«. Rein artikuliert, bringen sie Empfindungsgehalte unmittelbar sinnlich hervor und bewirken auf diese Weise beim Rezipienten genau bestimmte Empfindungen. Musik ist für Rötscher per se Empfindungsausdruck, den die Vokale innersprachlich als genuin musikalisches Element der Sprache verbürgen.^''' Wenn aber Musik Empfindungsausdruck ist, so ist auch die empfindungsübermittelnde Vokalsprache als Musik der Sprache zu charakterisieren, ohne daß erst Momente des Musikalischen wie Rhythmus, Tonhöhe, Tempo erörtert werden müßten: »Je heller und reiner ihr Klang vernommen wird, deto gesteigerter erscheint dem Hörer die Musik der Sprache, desto klarer rauscht ihm der Strom der Empfindungen entgegen«.^" Es ist eine ursprüngliche 210 Vgl. ebda., S . 2 8 211 E. Thürnagel (1836), S. 55 212 Das A zu bilden, setze eine Erweiterung der Kehle voraus - der Vokal stehe deshalb für Empfindungen wie Freude oder Entzücken, »welche eine Erhebung und Erweiterung der Brust bewirken« etc. 213 Heinrich Theodor Rötscher (1919) [zuerst 1841], S. 85 ( E und I seien oberhalb, O und U unterhalb des A angeordnet.) 21t Vgl. ebda., S. 86 215 Ebda. [Hervorhebung von mir.]

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»interjektionale Kraft«, die in der musikalischen Kraft des Vokals fortwirkt. Die Interjektion als Empfindungslaut aber ist vorsprachlicher Genese; sie ist deshalb das »völlig Unbestimmte, mithin das unendlich Bestimmbare«, und der A-Vokal ist »der reine, menschliche Ton in seiner einfachsten Offenbarung«.^'^ (Die Anlehnung an Hegel, der mit der bekannten Formel die »kadenzierte Interjektion« als Urzelle der Musik bestimmte, ist auch in anderen Momenten der Rötscherschen Schrift spürbar.^'') Derartige Vorstellungen bleiben in der sprachphilosophischen Diskussion des 19. Jahrhunderts virulent, z . B . beim jungen Friedrich Nietzsche: »Ursache des Tons. Eine Sprache des Affekts. [...] Die Interjektion und das Wort. Ersteres schon musikalisch. Beim Wort ist das Musikalische (das Klangliche) verkümmert, aber sobald der Affekt kommt, tritt es hervor.«^'^ Auch Musiker haben das Theorem vom Vokal als dem anfänglich musikalischen Element der Sprache längst in ihre Überlegungen zur Sprachvertonung einbezogen.^" Und Novalis nennt in seinen Fragmenten, in einer Sprachphilosophie und Poetik zusammenführenden Verdichtung, Vokale »die tönenden Saiten, oder Luftstäbe«; durch sie klang die frühere musikalische poetische Sprache: »Unsre Sprache - sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt - so enttönt. Es ist jetzt mehr Schallen geworden - Laut, wenn man dieses schöne Wort so erniedrigen will. Sie muß wieder Gesang werden. Die Consonanten verwandeln den Ton in Schall. An die These von der Prosaisierung der Sprache knüpft Rötscher mittelbar an. Der Konsonant sorgt für Fassung und Plastizität des artikulierten Lauts; er ist »Repräsentant der Reflexion, der Bestimmtheit des Begriffs«.^^' Während das Wort einen Abstraktionsgrad erreicht hat, der die ursprünglich abbildende Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant verschleiert, wo nicht suspendiert, kommt es für die künstlerische Darstellung darauf an, das »symbolische Ele-

216 Ebda., S. 84f. 217 Hegel: Ästhetik (1985). Dritter Teil: Die Musik, S. 273: »So machen die Interjektionen wohl den Ausgangspunkt der Musik, doch sie selbst ist erst Kunst als die kadenzierte Interjektion und hat sich in dieser Rücksicht ihr sinnliches Material in höherem Grade als die Malerei und Poesie künstlerisch zuzubereiten, ehe dasselbe befähigt wird, in kunstgemäßer Weise den Inhalt des Geistes auszudrücken.« 218 Friedrich Nietzsche (1994b), S. 351 219 Im >Freundschaftlichen Brief über die musikalische Poesie< bestimmte Johann Friedrich Reichardt den Vokal als den Empfindungsausdruck tragendes, deshalb eigentlich musikalisches (und deshalb zur Vertonung prädestinierendes) Moment der Sprache. F ü r Dichtung, die zur Vertonung taugen soll, gilt darum: »Die Sprache des musikalischen Dichters sey überhaupt die natürliche Sprache der Empfindungen und Leidenschaften.« Johann Friedrich Reichardt (1974) [1774], S. 112 220 Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen. In: Barbara Naumann (1994), S.192 221 Rötscher (1919), S. 88. Historisch vollzieht sich für Rötscher die Entwicklung vom vokalisch-musikalisch-empfindenden zum konsonantisch-reflexiv-bestimmenden Ausdruck: von der Poesie zur Prosa.

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ment«, wo immer es im Wortklang noch zu fassen ist, dem »symbolischen Sinn« anschaulich werden zu lassen: E s ist eine ursprüngliche Verwandtschaft zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten notwendig vorhanden, denn alle Sprachbildung ist davon ausgegangen, den Eindruck des Objekts auch im Laute wieder zu geben, so daß im Grunde jeder Laut ursprünglich als ein Produkt der Seele aufzufassen ist, in welchem der Mensch den innerlich erlebten Eindruck, die Anschauung des Gegenstandes auch zu verkörpern trachtete."^

Der Schauspieler hat in diesem Sinn eine größtmögliche Anschauungsfülle zu vermitteln. Er erreicht das, indem er den Vokal bei seiner ursprünglichen musikalischen Kraft nimmt, oder, mit der schlagenden Wendung Rötschers, indem er sein Stimminstrument die ursprüngliche Musik der Sprache hörbar zu machen lehrt. Die Legitimation des sogenannten symbolischen Akzents, dessen es dazu bedarf, ergibt sich für den Darsteller nicht aus der (von Rötscher als entwicklungsgeschichtlich überholt erkannten) lautmalerisch-mimetischen Potenz eines Wortes sondern daraus, »daß er das in den Kreis der sinnlichen Anschauung Fallende durch den Ton zu versinnlichen strebt«.^^^ Der symbolische Akzent, und damit das musikalische Moment der Sprache, soll ursprüngliche haptische Sinneserfahrungen, die menschheitsgeschichtlich auf »analoge Eindrücke anderer Sinne, endlich auf geistige und sittliche Eigenschaften« übertragen wurden, revozieren. Er soll darüber hinaus das Prozeßhafte des »Naturlebens« in den Metaphern, die es benennen, wieder sinnlich erfahrbar machen. Und er vermag sogar, so das Postulat, das »Ubersinnliche, die Welt der Begriffe, durch den Ton zu symbolisieren und gleichsam den Gedanken durch die Energie des Tons in die Anschauung hinüberzuführen«. Die Überlastung, der sich eine dergestalt befrachtete deklamatorische Veranschaulichungskunst ausgesetzt sieht, gibt sich vollends in Rötschers Zusatz zu erkennen, Worte, die übersinnliche Erscheinungen ausdrücken, seien abstrakte Zeichen, »welche nach der Seite des Lauts wenig oder gar keine Verwandtschaft mehr mit dem Sinne darbieten, den sie ausdrücken«.Der Versuch, gesprochene Sprache zu symbolischer Wirkung zu führen, indem man sie bei ihrer vokalisch-interjektionalen Wurzel packt, muß dort an Grenzen gelangen (oder in den Bereich spekulativer Philosophie übergehen), wo in der Relation von Zeichen und Bezeichnetem die Stelle des Bezeichneten notwendig unanschaulich bleibt. Roderich Benedix wird später vom musikalischen Konzept der Vokalerfassung abgehen und auch dem Begriff des Grundtons seine musikalische Anschärfung nehmen: »Die Tonhöhe, in der ein ganzer Satz gesprochen wird, nennen wir den Grundton.^^' Er ergebe sich sowohl durch die stimmliche Indifferenz-

222 Ebda., S. 90 (Zu weiteren Einzelheiten vgl. ebda., S. 90ff. Rötscher bezieht sich insbesondere auf Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie.) 223 Ebda., S . 1 1 9 224 Ebda., S. 120 225 Roderich Benedix (1913), S. 45

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läge wie durch aktuelle Emotionen. Ähnliche implizite Skepsis gegen das Konzept musikalischen Deklamierens artikuliert sich auch früher schon; noch nach Benedix wird, andererseits, das Deklamieren immer wieder am Maß der Musik ausgerichtet. Die Traditionsstränge verlaufen uneinheitlich; auch Benedix greift auf heterogene Vorstellungen zurück. Er spricht von Tonfarben und meint damit »Klangfarben«, die bestimmten Gefühlen wie Zärtlichkeit, Zorn, Mitleid entsprechen sollen.^^' Obwohl prinzipiell eine unübersehbare Fülle von Tonfarben möglich sei, lassen sich doch einige »Grundtonfarben« angeben, deren Mischungsverhältnis unendliche Nuancen produziert.^^^ (Benedix zehrt offensichtlich, es sei en passant vermerkt, von einem weiteren Analogiemodell, das er Jedoch, wie das musikalische, zur Metapher verblassen läßt. Versuche, systematische Vokalordnungen zu erstellen, hatten nicht allein das Tonleiter-Modell hervorgebracht; August Wilhelm Schlegel etwa hatte in den Betrachtungen über Metrik eine Vokal-Farbenleiter entworfen und den Vokalfarben Ausdrucksäquivalenzen zugewiesen.^^') 5.4. Wahrheit und Schönheit der Deklamation In seinem dreibändigen Handbuch der Declamation (1813 in Leipzig erschienen) bindet Heinrich August Kerndörffer den Klang der Sprache (ähnlich wie Rötscher es drei Jahrzehnte später im Rahmen seiner Vokaltheorie tut) bereits an die Übermittlung von Ideen und Empfindungen. Maß des Gelingens ist dabei die Schönheit der Deklamation; sie wird im Gang der Argumentation nach absoluter und relativer Qualität unterschieden: Unter absoluter Schönheit verstehen wir diejenige, welche der Declamation ohne Rücksicht auf den Inhalt der Rede zukommt; diejenige, welche ihr in Beziehung auf den Inhalt der Rede angehört, nennen wir relative Schönheit.

Die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs, wonach sich, wie es hier suggeriert wird, Deklamation doch auch als sinnbefreite Sprachmusik denken lasse, ergibt sich aus der Einsicht, daß absolute Schönheit lediglich eine Bedingung guter Deklamation ist: Deklamation kann schön, muß dann aber nicht schon kunstgerecht sein; Deklamation, die nicht schön ist, kann indessen nicht kunst226 Ebda., S. 108 227 Allerdings: »Beansprucht etwas Vorzutragendes hauptsächlich die Anwendung nur einer Tonfarbe, so nennt man das auch Tonart.« Benedix kann die Terminologien vergleichsweise unproblematisch mischen, da sie ihm nur metaphorischen Anhalt bieten. (Ebda., S. 109) 228 A zum Beispiel sei der rote, lichthelle Vokal, geeignet Jugend, Freude, Glanz auszudrücken; O sei purpurner, I himmelblauer Farbe etc. In anderen synästhetischen Modellen wiederum galt das A als schwarz, das O als blau, das U als rot undsofort.Vgl. Weithase (1940), S. 77f. 229 Kerndörffer (1813), S. 3: »Die Declamation besteht in der Kunst des vollkommnen mündlichen Ausdrucks gewisser vorgezeichneter Ideen und Empfindungen.« 230 E b d a . , S. 5f.

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gerecht sein. Das Moment absoluter Schönheit ist von glättender, das Dissonante ausschließender Wirkung, die man sich im Grundsatz dadurch wird erklären können, daß hier die klassische Ästhetik fortwirkt: Der Künstler würde daher einen Gegenstand der Natur treu und wahr darstellen können, und gleichwohl würde seine Darstellung keineswegs den Forderungen der Kunst entsprechen, wenn er dabei [...] nur die rohe Natur mit all ihren Mängeln und wilden Auswüchsen und nicht eine veredelte Natur darstellte, wenn er, mit einem Worte, vernachlässigte, die Wahrheit seiner Darstellung mit ästhetischer Schönheit zu verbinden und sie dadurch zu einem idealisch schönen Kunstprodukt zu erheben.^^'

Sprechkunst bedarf zu ihrer Legitimation des idealischen, vom empirischen Ausdrucksinhalt selbst losgelösten Gegenhalts; sie bedarf absoluter Schönheit.^'^ Die zur gleichen Zeit noch Triumphe feiernde Kunst Ifflands oder die charakterisierende Stimmkunst Ekhofs von einst sind mit solcher Wendung abgedrängt. 1836 dann wird Thürnagel von der Schauspielkunst zwar verlangen, daß »eine absolute Täuschung hervorgebracht werde«, ihr aber zugleich als Maß setzen, »die Natur stets getreu, jedoch unter Beobachtung der Gesetze der Schönheit, w i e d e r z u g e b e n « . D a n a c h bemißt sich auch hier die Wahrheit der Darstellung. Aufgabe des Schauspielers ist es dabei, seine eigene Persönlichkeit »verschwinden zu lassen, wo es darauf ankömmt, den vorzutragenden Gegenstand auf eine, den Grundsätzen des Schönen zugleich entsprechende Weise, nach Kräften zu versinnlichen«. 5.5. Wortsprache und Tonsprache Zwanzig Jahre, nachdem sein Handbuch der Deklamation erschienen ist, veröffentlicht Kerndörffer unter dem Titel Anleitung zur gründlichen Bildung der Beredsamkeit erneut ein deklamatorisches Kompendium. Im achten Abschnitt dieses Werks bestimmt er die Deklamation als »Beredsamkeit der Tonsprache«.^'' Die Tonsprache gilt hier als Grundprinzip der Deklamation. Denn der Ausdruck von Empfindung und Gefühl realisiert sich nicht in wortsprachlichsemantischer Formung, sondern allein in den Tönen, die als sogenannte Sprache des Herzens und als »allgemein verständliche Ursprache der Natur« Menschen wie Tieren die Kommunikationsbasis schafft. In diesem Sinne gehen Ton- wie Gebärdensprache der Wortsprache (als der Sprache des Verstandes) voraus; von dieser Grundlage ausgehend, verweist Rötscher auf den »musikalischen Werth« , den die Deklamationskunst an Sprache zu respektieren und klanglich zu realisieren habe.^'' 231 Ebda., S. 13 232 Für heutige Begriffe stellt sich die Frage, wie dieser Deklamationslehrer Heinrich von Kleist wohl den Vortrag der >Familie Schroffenstein< verbessern half. 233 Thürnagel (1836), S.2 234 Ebda., S. 40 235 Heinrich August Kerndörffer (1833), S. 116 236 Vgl. ebda., S. 121

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In der Gegensetzung von logischen (wortsprachlichen) und klanglich-musikalischen (tonsprachlichen) Elementen wird der Gegensatz von Logozentrismus und absoluter Musik, der inzwischen musiktheoretisch Kontur gewonnen hat, in die Sprache selbst verlagert. Insofern absolute Musik, wie sie bei E. T. A. Hoffmann entworfen wird, die unbekannte Sprache eines »wunderbaren Geisterreiches« ist, das als »Reich des Unendlichen« der Verbalsprache (und das heißt: dem begrifflichen Denken) nicht zugänglich ist,^''' gewinnt gesprochene Sprache, die in ihrer Klanglichkeit selbst absolute Schönheit realisiert, was sonst der Musik vorbehalten bleibt. Auf dieser Basis bindet Kerndörffer das Tonsprachentheorem in ein idealistisches Kunstkonzept ein. Quelle der Kunst ist zunächst »Natur«, verstanden als »Inbegriff seiner [des Menschen] sämtlichen innewohnenden Ideen und Empfindungen«. Das Prinzip der Deklamation ist darum »in jener allgemeinen Sprache der Natur, der Tonsprache oder der Sprache der Empfindungen enthalten, wonach die wesentlichen Grundregeln der Declamation zu entnehmen sind«. Im wesentlichen sind es klanglich-musikalische Merkmale, die dadurch zu Haupteigenschaften avancieren, aus denen sich der regelgerechte Stimmgebrauch ableitet: Tonstärke, Tonhöhe, Modulation, Rhythmus.^'® So ist das »Gesetz der Wahrheit« mit dem »Gesetze der Schönheit« zu verschmelzen - in einer Kunst, die insgesamt auf das »Ideal« oder »Urbild der Vollkommenheit« gerichtet ist. »Wahrheit der Tonsprache«, und mit ihr Wahrheit der Kunst, realisiert sich dann als »relative reale Vollkommenheit der Deklamation«; das Erhabene, »das aus der Erscheinung des Unendlichen in dem Endlichen, des Uebersinnlichen in dem Sinnlichen hervorgeht«, rückt ins Zentrum.^'' Und die erneut (wie schon in der Schrift von 1813) thematisierte deklamatorische Tonleiter hat in der zwischenzeitlich erweiterten Konzeption die kunstgerechte Verknüpfung tonsprachlicher Seelentöne zu gewährleisten, indem sich die Stimme in melodischer und harmonischer Schönheit von einer Tonlage zur anderen fortbewegt, entsprechend der Bewegung der Seele, die von einer Idee oder Vorstellung in »wohlgeregeltem Gang« zur nächsten übergeht.^'*" Kerndörffer ordnet die Vokale nun unterschiedlichen Seelenvermögen zu; die Einbildungskraft äußere sich im Klang des Vokals A, dem Verstand entspreche das E, der Urteilskraft das O , der Vernunft das U, der Phantasie schließlich das I. Die Unterscheidung von Wortsprache und Tonsprache dient etlichen Deklamationsschriften als ein bald mehr, bald weniger explizites Theoriepotential. Thürnagel etwa, um ein Beispiel noch anzuführen, fordert im Sinne eines klassischen Balance- oder Ausgleichsmodells eine »harmonische« Vereinigung von Wortsprache und Tonsprache im deklamatorischen Vortrag.^'*' Und wenn es 237 Vgl. E. I . A . Hoffmann: Beethovens Instrumentalmusik. In: Ders. (1983), S. 2 6 - 3 7 238 Kerndörffer (1833), S. 123 239 Vgl. ebda., S. 127 und 129 2'»0 Vgl. ebda., S. 141ff. 2'tl D e r deklamierende Schauspieler wird, schreibt Thürnagel, »indem er der Wortsprache die Tonsprache vermählt, welche seinen Gefühlen die bestimmteren Bezeichnungen

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auch nicht sinnvoll wäre, Kerndörffers, Thürnagels oder anderer Deklamationstheoretiker Entwürfe mit der Drama-Konzeption Richard Wagners unmittelbar vergleichen zu wollen, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß das Begriffspaar von Wortsprache und Tonsprache bei Wagner der Entwicklung des integralen Entwurfes vom Wort-Ton-Drama insgesamt dient. Wagner sucht das verlorene »natürliche Band der Wort- und Tonsprache wiederzugewinnen«, nachdem die Tonsprache, als gattungsgeschichtlich frühes Stadium der Menschheitsentwicklung, der Wortsprache so weit gewichen ist, daß ein unmittelbares Sprechen des Gefühls zum Gefühl nicht mehr möglich scheint. Ein bloßes InMusik-Setzen wortsprachlicher Dramatik kann, so die Fluchtlinie der Argumentation, nicht genügen; die »von vornherein anzustimmende Tonsprache« soll Drama wieder zum unmittelbar verständlichen Ausdruck befähigen.^''^ 5.6. Be-Tonung, Akzente Im historischen Sprachgebrauch, der dazu neigt, das Wort »Betonung« nicht allein als akzentuierende Hervorhebung, sondern als Hervorkehren der tonsprachlichen Substanz gefühlstragender Wörter zu begreifen, spiegeln sich die Vorstellung einer Zweiwertigkeit der gesprochenen Sprache und zugleich das Postulat der (künstlerischen) Notwendigkeit, durch eine Aufwertung der paralinguistischen Komponente der Sprache Unmittelbarkeit der Bedeutungsübertragung zu erreichen. So versteht Roderich Benedix unter »Betonung im weiteren Sinne« die »Anwendung dieser eigentümlichen Töne, welche Gefühle oder Gemütsstimmungen ausdrücken«, und er fügt hinzu: »Diese Art der Betonung ist recht eigentlich die künstlerische Aufgabe des Vortrags. Wie einerseits die Gefühlswörter be-tont werden, wie sie ihren tonsprachlichen Urklang zurückerhalten sollen, kennt andererseits die Theorie auch die heute geläufige Bedeutung von Betonung. Die Sinnkomponenten des Wortes hängen voneinander ab: Den Ton auf ein bestimmtes Wort legen, heißt, es mit einem Nachdruck versehen, aus dem die spezifischen tonlichen Qualitäten solcher Akzentuierung sich ableiten, sei es eine hervorgehobene Tonhöhe, sei es eine Steigerung der Lautstärke oder auch, ein Spezifikum historischer Deklamationspraxis, die ausgeprägte Dehnung jeder einzelnen Silbe eines Akzentworts. Der grammatische Sinnakzent bietet dabei, wie sich ahnen läßt, nicht die einzige Markierungsvorgabe im Satzgefüge. In der Theorie ist, in vielfältiger Differenzierung, die Rede von musikalischen, von melodischen, auch von emphatischen oder pathetischen Akzenten.

verleihet, auf diese Art ein Ganzes liefern, in welchem Geist, Gemüth und Phantasie [...] die Schöpfer derjenigen schönen Harmonie werden, welche zur Vollendung eines Kunstwerks nothwendig ist.« Thürnagel (1836), S. 43 242 Vgl. Richard Wagner (1983), Bd. 7 (>Oper und DramaGriechischen Musikdrama< ist Nietzsche noch zu sehr mit den Wagnerischen Thesen beschäftigt, und das behindert eine eigenständige Auslegung.« 312 Ebda., S. 529 313 Peter Utz (1990), S. 15 31-» Nietzsche (1988), S. 530f. 315 Nietzsche ^988), S. 545

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durch: »hier die Macht der Musik, dort die der Dialektik«.^'^ Euripides zieht nur noch die Konsequenz, und die neuere attische Komödie schließhch bringt den Entzweiungsprozeß bei »totaler Vernichtung des einen Wettkämpfers, der Musik«, zum schlechten Ende.'^^ Die moderne Sprache als begriffliche Dialektik krankt an den Nachwirkungen des »Sokratismus«, der die Tragödie als Musikdrama aufrieb. »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzung des Nichtgleichen«, so drückt sich Nietzsches Skepsis aus in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Die Wortsprache der Begriffe taugt nicht zur Erkenntnis: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen«.''^ Was die Sprache hingegen einmal vermochte und elementar zu leisten hätte - »über die einfachsten Lebensnöte die Leidenden miteinander zu verständigen«, wie es in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung h e i ß t ' " - , das vermag sie infolge ihrer Konventionalisierung und Verwissenschaftlichung nicht mehr; soll es aber, so die Hoffnung, im Werk Richard Wagners wiederum vermögen, der mit seinen Dramen der Sprache ihren natürlichen Tonwert zurückgibt.'^" Mit der Sprachskepsis und der Sprachkrise der Moderne, wie sie sich in Hofmannsthals Chandos-V>nt{ formuliert findet (und durch ein Werk wie Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache bekräftigt wird), ist dem Konzept des theatralen Logozentrismus und damit des Primats und des Pathos der Stimme im literarisch gebundenen Theater ein Widerhaken eingepflanzt, der sich ohne Verletzung nicht mehr wird lösen lassen. Damit scheint der Anfang einer Entwicklung eingeleitet, die, theoretisch wenigstens und auf der Basis eines differenzierten Bekenntnisses zum tonsprachlichen Anteil der Sprache, das H o f theaterpathos in die Krise bringt. Dem widerspricht die Beobachtung nicht, daß das tradierte Wortsprach-Vertrauen seine scheinbare Entsprechung weiterhin im tradierten deklamatorischen pathetischen Stil findet. Kennzeichnend wird vielmehr eine Parallelität der Entwicklung zunehmend divergierender Sprechstile. Der musikalisch-pathetische Stil, so scheint es, dominiert zwar die Praxis, gerät aber tendenziell in eine Defensive, der nicht nur theoretischer Zweifel, sondern ab 1889/90 auch der ästhetisch-praktische Einspruch des Naturalismus Dauer verheißt. Nach 1918/19 bricht mit dem Ende der Hoftheater dem traditionellen Stil die institutionelle Basis weg: Im demokratisch und im revolutionär gesinn316 Ebda., S. 546 317 Ebda. 318 Nietzsche (1968), S. 102. Vgl. die Darstellung von Ernst Behler (1996), S. 300: »Das in >Illusionen und Traumbilder< eingetauchte Auge des Menschen gleitet nur auf der >Oberfläche der Dinge< herum und muß sich damit begnügen, >Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge< zu spielen.« 319 Nietzsche (1988), S. 455. Wagner habe, führt Nietzsche aus, als erster die moderne Erkrankung der Sprache konsequent diagnostiziert. 320 Ernst Behler (1996), S. 299f., faßt den Impetus der frühen Schriften so zusammen: »Hier erfolgt bei Nietzsche eine Mythisierung der Musik als einer Art Ursprache, noch vor der Posie.«

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ten politischen Theater hält nun der nach alter Manier musikalisierte Sprechton eine Position unter anderen besetzt; der überlieferte Sprechduktus gewinnt für avancierte Unternehmungen den Status prinzipiell (und experimentell) verfügbaren Materials. Zugleich scheint nach der >nationalen Katastrophe< auf kultureller tabula rasa Platz geschaffen für eine erneut auratische Stimme, die der deutschen Sprache (der »Ursprache«) und ihrem geheiligten Wort, dem »Tabernakel des Geistes«, zum Klang verhelfen soll, so daß etwa eine Louise Dumont ein spezifisches Theaterverständnis im neuen Einklang mit Reformbestrebungen anderer formulieren kann.'^' 6.5. Meininger und Naturalismus Eine umfassendere Untersuchung des Stimmgebrauchs im Theater des 19. Jahrhunderts hätte, unter anderem, einzukalkulieren, daß mit Erteilung der Gewerbefreiheit für das Theater im Jahr 1869 das »kommerziell betriebene Unterhaltungstheater« einen ungeheuren Aufschwung erlebt.^^^ Inwieweit dabei Stilrichtungen theatraler Deklamation zum Zuge kommen und sich womöglich neu ausprägen, läßt sich hier nicht diskutieren; einige Hinweise zur Verbindung von Sprechstimme und Musik in populären Theaterformen finden sich an späterer Stelle dieser Arbeit. Zwei theatergeschichtliche Strömungen, die sich der Kommerzialisierung entziehen, fordern indessen wenigstens einige summarische Ergänzungen. Mit exklusivem Blick auf die Historie theatralen Sprechens kann man sich dabei vielleicht auf die folgende Pointierung zu heuristischen Zwecken verständigen: Während der Historismus der Meininger wesentliche Veränderungen des Inszenierungskonzeptes insgesamt hervorbringt, die deklamatorische Tradition aber in entscheidenden Punkten beibehält, ist die radikale Abkehr von der tradierten Form stimmlichen Pathos' dem Naturalismus essentiell. Das Konzept der Meininger, das der Ausstattung einen bis dahin nicht gekannten Wert beimißt, führt zu einer Zurückstufung der Bedeutung der Diktion und zu einer Relativierung des (mehr oder weniger latenten) Primats der Stimme. Zwar rückt das Drama als dichterisches Werk wieder in den Vordergrund. Dies jedoch nicht auf der Basis der Wörtlichkeit dramatischer Dichtung (und ihres Klanges), sondern nunmehr im Sinne authentischer Beglaubigung des historischen Ambientes, das der sozialen, historischen Realität der im Drama ausgebreiteten Handlung den Rahmen gibt.'^' Zwar knüpfen, wie Erika Fischer-Lichte ausführt, diese »Vertreter einer realistischen Kunstauffassung in gewisser Weise wieder an das bürgerliche Theater der Aufklärung an«, indem sie auf dem Theater »eine möglichst vollständige Vgl. Louise Dumont (1932), S. 1 3 - 2 9 . Ihr programmatischer Aufsatz >Ursprache< nimmt Bezug auf Felix Emmels Proklamation eines »Ekstatischen Theaters«. 322 Fischer-Lichte (1993), S . 2 3 2 323 Ebda., S. 223: »Die Dichtung in den Mittelpunkt zu stellen, hieß f ü r die Meininger, ihrer spezifischen Historizität szenische Gestalt zu verleihen.«

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und perfekte Illusion von Wirklichkeit« herzustellen bestrebt sind.'^"* D o c h dies eben auf eine Weise, die der Stimme keine bevorzugte Stellung mehr vorbehält.'^^ U n d überdies favorisieren die Meininger das Ensembleprinzip: D e r Verzicht auf den großen Schauspielervirtuosen drängt mit dem Virtuosen dessen stimmliches Effektrepertoire zurück.'^^ D i e Meininger bieten Jedenfalls, so kann man es an dieser Stelle knapp zusammenfassen, den Gegnern ihres historischen Realismus zuwenig deklamatorische Bravour; denjenigen hingegen, die deklamatorischen P o m p überhaupt verabschiedet wünschen, noch zu viel. ™ D e r Naturalismus ist konsequent. D a s Prinzip der vierten Wand, schon von den Meiningern im G r u n d s a t z praktiziert, schließt bekanntlich ein, daß die Figuren, die sich auf der Bühne durchs Leben mühen, auch sprechen wie zwischen ihren vier Wänden. N i c h t nur die D i k t i o n des dramatischen Dialogs ändert sich deshalb im Naturalismus radikal. D a s alltagsmimetische Darstellungskonzept führt zur vollständigen Verabschiedung der etablierten, die musikalischen Elemente der Sprache hervorkehrenden, womöglich noch, im Sinne idealistischer Konzepte, die Sprache klanglich z u m Symbolträger auffüllenden und die Bühnendeklamation durchgängig stilisierend überformenden Pathosvariante alter Prägung. D e r Naturalismus zerschlägt programmatisch den Traditionsstrang, dessen Anfänge in Weimar auszumachen sind und der als durchgängige Fortschreibung eines vermeintlich Weimarischen >Formalismus< verstanden und verworfen wird: schlechte Saat von Garben

zu reifen

Goethe

gesäet

am Tage

der

(1808), wie der Zeitgenosse Carl Wilhelm Reinhold, ehedem

Angehöriger der Weimarer Bühne und nach deren Leipziger Gastspiel entlassen, sein folgenreiches, das kritische Bild v o m Weimarer Hoftheater beeinflussendes Pamphlet überschrieben hatte. E s ist kennzeichnend, daß Gerhart H a u p t m a n n Goethes Spielkonzeption über die Verzerrungen jener zunächst anonym (und lange vor Goethes Regeln für Schauspieler)

erschienenen Reinholdschen Pole-

mik zur Kenntnis nahm, und zwar über den U m w e g eines Aufsatzes v o n Richard M . Meyer im Band X X I des Goethe-Jahrbuches von 1910 über » G o e t h e s Regeln

für

Schauspieler«.

Dieter Borchmeyer hat dies in allen Einzelheiten

dargestellt.'^® So fußt die amüsante Persiflage des Weimarer Deklamationspathos

324 Ebda., S.228 325 Die Meiniger setzten die Stimme in ein Umfeld von Geräuschen, die den intendierten Realismus fördern sollten. 326 Allerdings gehört diesem Ensemble immerhin ein Schauspieler wie Josef Kainz an, dessen eminentes sprecherisches Talent seiner späteren Arbeit bei Max Reinhardt nützen und seine große Prominenz befördern wird. 327 Fischer-Lichte (1993), S. 233: » D a die Meininger in der Ausstattung einem rigorosen historischen Realismus folgten, in der Schauspielkunst jedoch - vor allem in der Deklamation - einem idealistischen Konzept anhingen, boten sie für die Vertreter beider Kunstbegriffe eine Fülle von Angriffspunkten.« 328 Vgl. Dieter Borchmeyer (1992), passim. Die oben gegebenen Informationen zu Reinhold finden sich ebda., S. 264; weiteres zur Person auf S. 267ff. Reinhold verschleierte die Autorschaft seiner Schrift, indem er auch über sich selbst in der dritten Person schrieb - dies allerdings positiv.

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im dritten Akt von Hauptmanns »Beriiner Tragikomödie« Die Ratten aus dem Jahr 1911 auf einem mutwilligen (und von Hauptmann übernommenen) Mißverständnis der Weimarer Praxis; die Berufung auf angebliche Anweisungen in Goethes Regeln für Schauspieler (die sich darin nicht finden) auf offenbar nur flüchtiger Lektüre des Aufsatzes von Meyer durch Hauptmann.'^' Der fiktive Zwist zwischen dem Theaterdirektor Hassenreuther und Spitta in den Ratten zeigt gleichwohl, welche Vorbehalte gegen eine Sprechweise bestehen (und sich im naturalistischen Theater ausformen), die sich auf die Tradition des Weimarer Stils bezieht, die aber nicht wirklich repräsentativ ist für die Goethesche Theaterkonzeption.''° Nach gut hundert Jahren ist eine der Zeit zwischen 1770 und 1800 partiell vergleichbare Situation eingetreten, die der Zeitzeuge Carl Hagemann in seinem Werk Moderne Bühnenknnst so charakterisiert: Früher skandierte man die Jambenfolge pathetisch herunter, bis der Naturalismus seiner ganzen Tendenz nach ins Extrem geriet, alle Bande rhythmischer Gliederung löste und auch die Verse möglichst wie Prosa behandeln ließ.'"

Die Gleichzeitigkeit des naturalistischen Sprechstils und der keineswegs vollständig unterbrochenen Deklamationstradition, die sich um 1900 mit einer Flut melodramatischer Kompositionen verbindet, dazu die Neuformulierung des melodramatischen Sprechens durch Engelbert Humperdincks diastematisch notiertes »gebundenes Melodram«'^^ und die anhaltende Diskussion um Möglichkeiten des Musikdramas nach Wagner provozieren eine Idee, die, überleitend zur weit früher schon einsetzenden Geschichte melodramatischer Formen, eine kurze Erwähnung verdient. 1902 veröffentlicht Ernst Otto Nodnagel sein Buch Jenseits von Wagner und Liszt. Darin fordert er das »naturalistische Melodram«: Humperdinck glaubte das Problem gelöst, wenn er eine gut deklamierte Gesangsmelodie mit »Sprechnoten« notierte; so ist ihm gelungen, an seine »Königskinder« eine prinzipielle Diskussion zu knüpfen, die zu dem künstlerischen Wert seines mißlungenen Experimentes in gar keinem Verhältnis steht. A b e r das Problem eines naturalistischen Musikdramas, das also ein naturalistisch gestaltetes und naturalistisch zu sprechendes Melodram sein müßte, ist noch ungelöst. Seine Lösung wird die nächste Entwickelungsstufe des deutschen Dramas sein, wenn die Kunstgeschichte logisch sich entwickelt.'^'

Das Prinzip, das Nodnagel, diffus genug, vorgeschwebt haben mag, ist gut zwei Jahrzehnte später als integrales Element einer nach feinsten Stufungen differenzierenden Stimmdramaturgie musikalisch-theatralisch belebt worden - in den >naturalistischSigismundus< mitgewirkt. Vgl. Dirk Richerdt (1986), S. 97. Andrew McCredie (1993), S. 779: »Hier handelte es sich um eine Aufführungstradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht.« Der Einbruch des interjektionalen Untergrunds der artikulierten Sprache ins Gehege ihrer musikalischen Überformung hat später seine theatergeschichdich weitaus prominentere und elaboriertere Wiederauflage in der veristischen Oper erlebt. Vgl. Johann N . Schmidt (1986), S. 91 17 Richerdt (1986), S. 14. Nach Plutarch, >De musicaungleichmäßig< (avo|ia>.E(;) war, vermutlich ein musikalisch begleiteter Sprechvortrag, der als besonders das Gefühl bewegend (itaÖTiTiKOv) empfunden wurde.« 115

Bleibt die ästhetische Gestalt der Parakataloge (zumal angesichts der besonderen Verhältnisse der quantitierenden griechischen Versmaße) auch undeutlich,'^ hat man doch im 18. Jahrhundert die theatralische Deklamation im Kontext der altgriechischen Praxis diskutiert. Jean Baptiste Dubos gelangte in seinen Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture zu der These, die theatralische Deklamation der Griechen sei komponiert und »in Noten gesetzt« worden »so daß diejenigen, welche recitirten, durch ein Accompagnement unterstützt werden k o n n t e n « . D i e im 18. Jahrhundert einsetzende Suche nach einem Notationssystem für die gesprochene Sprache hängt mit dem Interesse an jenem Mischmodus zwischen Rede und Gesang wenigstens mittelbar zusammen. Und daß bis ins späte 19. Jahrhundert das Modell der Parakataloge als der historische, den Bedingungen der griechischen Musik gemäße Ubergangsmodus zwischen Deklamation und Gesang im Bewußtsein blieb, hat in diesem Kontext besonderes Gewicht: Die Geschichte der melodramatischen Technik ist unterfüttert davon. Symptomatisch ist, daß jenes Modell, welches schließlich die Zusammenführung von gesprochener Sprache und Musik unmittelbar zum Diskussionsgegenstand machte und eine bald vom Vorbild sich lösende Produktion anregte, Rousseaus >Scene lyrique< Pygmalion, von Zeitgenossen als Renaissance-Versuch antiker Deklamation verstanden wurde.^' Rousseau selbst hingegen interpretierte bereits das vermeintliche altgriechische Vorbild divergent: »Denn die Textstellen der Griechen über ihre Art zu rezitieren lassen sich nur verstehen, wenn man annimmt, daß die Tonfälle der Rede in feierlicher Deklamation musikalische und deutlich wahrnehmbare Intervalle bildeten; so kann man sagen, daß ihre Theaterstücke eine Art von Opern waren, und genau aus diesem Grunde konnte es eine Oper im strengen Sinne bei ihnen nicht geben.«^^

Richerdt bezieht sich in der Hauptsache auf die einzige monographische Untersuchung zur Parakataloge von Wolfram Christ (1875). Daß das Phänomen der Parakataloge (oder des griechischen >MelodramasPygmalion< eine »opera« und erläutert: »II est en prose sans musique vocale. C'est une declamation forte et prononcee dans le goüt des drames anciens«. [Zitiert nach Istel (1901), S. 19] Istel zufolge ist dies die erste einer Reihe entsprechender (Fehl-)Einschätzungen. 22 Rousseau: Dictionnaire de Musique, Artikel >Opera.< [Zitiert nach Dahlhaus und Zimmermann (1984), S. 87]

116

1.2. Musikalische Szenenunterlegung in Shakespeares Dramen Begreift man die Parakataloge als eine halb- oder quasimusikalische Deklamation zu instrumentaler Begleitung, so stellt sich gleichwohl der Zusammenhang mit dem Melodrama der 1770er Jahre plausibel über die poetologische Antikenrezeption her, insoweit sie von Klopstock und von Herder gegebene Anregungen aufgriff, und in späterer Literatur ist dementsprechend das frühe Melodrama unter dem Aspekt des speziellen Wort-Ton-Verhältnisses diskutiert worden, insofern es als neuartiger Reflex auf die operngeschichtlich alte Suche nach einem griechischen Ideal in Frage kam. So schien das Phänomen einer (gräzisierenden) Ubergangsgattung zwischen Schauspiel und Musiktheater sauber aus zwei getrennten Bereichen bestückt: Aus dem der Oper, die in gattungsspezifische Aporien geraten schien und nach neuen Modellen verlangte, und aus dem des Schauspiels, das die Deklamation beisteuerte. Daß ein reines Sprechtheater, wie Jörg Krämer in seiner 1998 erschienen umfassenden Untersuchung dargestellt hat, im 18. Jahrhundert praktisch nicht existierte, wurde weitgehend ignoriert.^^ Und überdies übersah man, daß die melodramatische Technik ihrem Prinzip nach und avant la lettre auch vor dem 18. Jahrhundert schon in szenenbegleitender Schauspielmusik zum Einsatz kam. Dies exemplarisch zu veranschaulichen, genügt ein Blick in Dramen Shakespeares. Nur in einem einzigen der erhaltenen Schauspiele Shakespeares, so wurde nachgewiesen, finden sich keinerlei Hinweise auf die Musik. Vom inzidenzmusikalischen Schlachtensignal über das Lied zur klanglich-musikalischen Ausmalung landschaftlicher Charakteristik, von der magischen Auftrittsmusik über den Rundgesang der Narren bis zum musikphilosophischen Diskurs aus gegebenem klingendem Anlaß reicht, ohne Anspruch auf Vollzähligkeit der Aufzählung, die Bandbreite musikalischer Momente in den Dramen. Das Publikum erwartete und liebte derlei; der Beifall soll »bei den abschließenden Tänzen und der ausgezeichneten Musik« nach zeitgenössischen Berichten stets besonders stark gewesen sein.^"* In The Merchant of Venice entwickelt sich im fünften Akt ein musikalisch grundierter Dialog zwischen Lorenzo und Jessica. Die Musik nimmt hier eine Doppelfunktion wahr: Die ästhetische Wirkung ihrer Verbindung mit dem gesprochenen Dialog beeinflußt die Perzeption, und dies vermutlich in dem Sinn, in dem Lorenzo und Jessica sich ihr selbst auszusetzen gedenken: »Here will we sit, and let the sounds of music/ Creep in our ears - soft stillness and the night/ Become the touches of sweet harmony«.^^ Das Spiel der auftretenden Musikanten soll zugleich, erklärt Lorenzo weiter, dazu dienen, Portia nach Hause, nach 23 Jörg Krämer (1998), Bd. 1, S. 29: »Das deutsche Musiktheater und das deutsche Sprechtheater bilden im 18. Jahrhundert weitgehend eine Einheit - nicht nur im Bereich der Distribution, sondern auch in Produktion und Rezeption sowie in einer gegenseitigen, inhaltlichen wie strukturellen Beeinflussung und Abstoßung.« Vgl. Helmut Schmidt-Garre (1979), S. 12 25 William Shakespeare (1975), S. 156

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Belmont zu >ziehen< (»And draw her home with music«). Es ist dies dem Prinzip nach das später häufig wiederholte Beispiel einer szenisch motivierten melodramatischen Szenenunterlegung. Hier ist jedoch zugleich die Wirkung von Musik schlechthin thematisiert, und damit implizit die Rezeptionssteuerung, die das eigentümliche happy ending dieses Dramas plausibel machen soll: »The man that hath no music in himself,/ Nor is not moved with concord of sweet sounds,/ Is fit for treasons, stratagems, and spoils,/ The motions of his spirit are dull as night,/ And his affections dar as Erebus:/ Let no such man be trusted: - mark the music.« Die (melodramatisch die Szene grundierende) Musik soll, so sieht es aus, wiederum Harmonie stiften.^^ Im Tempest hat man sich die Auftritte des musikalischen Luftgeists Ariel mitunter melodramatisch musikalisiert zu denken, und es scheint, daß Shakespeare auch die ästhetische Spezialität des Übergangs vom reinen Sprechen über das melodramatische Sprechen zum Gesang einkalkulierte. So in der ersten Szene des zweiten Aktes, wo man zunächst Antonio und Sebastian im verschwörerischen Dialog (ohne Musik) erlebt, ehe Ariel erscheint: »Re-enter Ariel, invisible, with music and song.« Erst spricht er, offensichtlich während der seinen Auftritt begleitenden Musik, also melodramatisch: »My master through his Art foresees the danger/ That you, his friends, are in...« Dann singt er in Gonzalos Ohr: »While you here do snoring lie,/ Open-ey'd conspiracy/ His time doth take.«^' In der dritten Szene des dritten Akts begibt sich eine melodramatische Erscheinung Prosperos (die auf die Technik der oft als Melodramen annoncierten musikalisch-pantomimischen Zaubererscheinungen des Volkstheaters vorausweist). Der Nebentext verlangt: »Solemn and stränge music; and Prospero on the top, invisible. Enter several stränge shapes, bringing in a banquet; and dance about with gentle actions of salutations; and inviting the King, etc., to eat, they depart.« Alonsos Reaktion, ganz offensichtlich noch während der die Szenerie atmosphärisch bestimmenden Musik gesprochen, gilt diesen Klängen: »What harmony is this? My good friends, hark!«^^ Derlei fügt sich zur generellen musikalischen Praxis in Shakespeares Dramen: »Wie im Liedvortrag können auch sonst der Sprachklang und die Mitteilungskraft des Worts intensiviert werden durch Musik; martialische Aufforderungen werden durch >drums and trumpetsMelodramen< annoncieren, und es wäre unsinnig, die Berechtigung dieser Praxis unter der Prämisse in Frage zu stellen, melodramatische Technik hätte etwa den Konnex von Musik und Text in einer ganz bestimmten Weise als ästhetisch kalkuliert auszuweisen. Insofern läßt sich auch die Shakespearesche Praxis unproblematisch als melodramatische Praxis avant la lettre charakterisieren; das Maß der möglichen ästhetischen Bindung von Deklamation und Musik wäre allenfalls im Zusammenhang einer einläßlicheren Diskussion der Deklamationspraxis auf dem elisabethanischen Theater zu erörtern. Die intensive Shakespeare-Renaissance im Deutschland der 1770er Jahre mag ihr Teil dazu beigetragen haben, die Möglichkeit musikalischer Szenengestaltung im Schauspieltheater mit einer Dignität auszustatten, für die das in der Theaterpraxis verbreitete zeitgenössische Musiktheater so nicht einzustehen vermochte. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß bereits der letzte Akt von Goethes Trauerspiel Clavigo monodramatisch-melodramatische Züge aufweist."

2.

Rousseaus Pygmalion

Für gewöhnlich wird die eigentliche »Erfindung« des Melodramas Jean-Jacques Rousseau zugeschrieben.'^ Ist die Fixierung des Initialdatums einer Gattung in sich problematisch genug,'' so läßt sich dasjenige, was weiterhin die melodramatische Technik essentiell ausmachen wird, schwerlich als Erfindung Rousseaus prädikatieren, denn Rousseau lehnte die simultane Verbindung von Musik und gesprochener Sprache mit dem Argument ab, das später stereotyp von den Gegnern melodramatischer Technik vorgebracht wurde: »Da die Tonhöhen der Sprechstimme weder fest noch harmonisch sind, entziehen sie sich der deutlichen Wahrnehmung und können sich folglich mit den Tönen der Singstimme und der Instrumente nicht auf angenehme Weise verbinden, wenigstens nicht in Vgl. ebda., S. 134: »Solemn music«. Dazu Auftritt Ariels, Alonsos, Gonzales etc. Prospero beginnt zu sprechen: »A solemn air, and the best comforter/ To an unsettled fancy, eure thy brains...« Näheres dazu unter III.3. ' 2 Vgl. Peter Gülke (1984), S. 145 "

Carl Dahlhaus (1983), S. 199: »Von Anfängen zu sprechen, die sich datieren lassen, ist allerdings in der Geschichtsschreibung fast immer prekär, wie denn überhaupt die Gewohnheit, eine Entwicklung als geschlossenen Zusammenhang mit Anfang, Mitte und Ende zu schildern, weniger in der geschichtlichen Entwicklung begründet ist, als daß sie aus der Technik des Romans stammt.«

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unseren vom musikalischen Charakter allzu entfernten Sprachen.«^"* (Edgar Istel hielt die Zuschreibung der Erfindung an Rousseau deshalb für »grundfalsch«.'^) U m welches Werk geht es? 1762 verfaßte Rousseau Pygmalion, eine konzise »Scene lyrique« monodramatischen Zuschnitts. Sie zeigt den einsamen Bildhauer in seiner Werkstatt mit der vollendet schönen Frauenplastik von seiner Hand; einem Wesen, das er liebt, obwohl es noch keines ist, und um dessen Belebung er deshalb bittet. Er wird, wie bekannt, erhört, und am Ende der Rousseauschen Szene begegnen sich Pygmalion und die Galathea, beide ihrer Individualität (und zugleich ihrer Geschlechterdifferenz) inne werdend. Im Zentrum des Entwurfs stehen die Emotionen Pygmalions: Zunächst wegen des Erlahmens seiner künstlerischen Kraft verzweifelt und unstet mit verschiedenen Arbeiten sporadisch beschäftigt, nähert er sich schließlich seinem besten, hinter einem Vorhang noch verborgenen Werk. Dessen Anblick überwältigt ihn; kaum kann er glauben, daß es sich nur um Stein handelt: Die Galathea scheint ihm eine Göttin zu sein, der zur Vollendung nur Atem, Stimme, Seele noch fehlen. Der monologische Faden, an dem entlang die wechselnden Regungen Pygmalions abgesponnen werden, wird an genau bezeichneten Stellen durch musikalische Versatzstücke verbunden; die Wünsche und Zweifel Pygmalions äußern sich währenddessen nonverbal-expressiv, in pantomimischer Aktion.^' Zu simultaner Begleitung des gesprochenen Wortes kommt es nicht; Rousseaus theoretische Erwägungen führen dezidiert zur sukzessiven Kombination von Musik und Sprache: Im Buffonistenstreit ein Parteigänger der italienischen Musik, zeigt sich Rousseau an der Frage der Vertonbarkeit der französischen Sprache interessiert. Daß er sie, im Unterschied zum Italienischen, für unmusikalisch und deshalb für nicht gesangstauglich hält, ist (in wohl durchaus polemischer Absicht) im Brief über die französische Musik {Lettre sur la musique frangaise) niedergelegt: »Wahr ist allerdings, daß ich unsere Sprache [...] nur wenig für Dichtung geeignet halte und überhaupt nicht tauglich für Musik. Die Grundlagen der Harmonie, so leitet Rousseau seine Begründung ein, sind naturgegeben; Melodie hingegen prägt sich variabel aus: »Deshalb darf man den besonderen Charakter einer nationalen Musik nur aus der Melodie herleiten, umso mehr, als dieser Charakter grundsätzlich von der Sprache her vorgegeben ist«.'^ Die Komponisten verlegen sich deshalb bei der Vertonung unmusikalischer Sprachen auf harmonische Kunststücke: »Statt guter Musik würden sie sich gelehrte ausdenken, und um der Melodie aufzuhelfen, würden sie die Begleitung

^^ Jean-Jacques Rousseau: Dictionnaire de Musique, Paris 1768, Arikel »Opera«. [Zitiert nach Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann (1984), S. 87] Istel (1901), S. 72. »Grundfalsch« ist sie dann allerdings nicht, wenn man zwischen Melodrama und melodramatischer Technik unterscheidet. Mitunter übernimmt die Musik auch szenisch unterstützende Funktion: So werden die ersten Bewegungen der Galathea durch Akkordschläge markiert, die zwischen Pygmalions Monologtext gesetzt sind. Jean-Jacques Rousseau (1984), S. 48 38 Ebda., S. 51

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verstärken«.'' Infolge der angenommenen entwicklungsgeschichtlichen Präexistenz der Vokalmusik vor der Instrumentalmusik bezieht die Musik insgesamt Melodie und Taktmaß aus der nationalen sprachlichen Prosodie.''° Verfügt nun eine Sprache über eine nur »schlecht ausgebildete, wenig markierte und ungenaue Prosodie« und über ungeregelte Verhältnisse der Silbenmaße, so läßt sich aus ihr keine melodische Vokalmusik zustande bringen.'*' Die Kombination einer solchen Nationalsprache mit Musik, zum Beispiel in der Oper, ist, so scheint es, unter diesen Vorzeichen undenkbar.''^ Die Möglichkeit, ein musikalisches Theater versuchsweise dadurch zu schaffen, daß man es bei gesprochener Sprache beläßt, sie aber gleichwohl im sukzessiven Dialog mit Instrumentalmusik, und in Verbindung mit dem gestisch-pantomimischen Element, zu einem einheitlichen Ganzen zu verfugen sucht, liegt nicht fern; ein gattungsprägendes Muster will Rousseau mit dem Pygmalion gleichwohl offensichtlich nicht vorlegen.'" Jedenfalls hat er die Szene nicht als solches propagiert, und man kann wohl, unbeschadet der Ernsthaftigkeit des Entwurfes (der sich als musik- und theatergeschichtlicher Wurf entpuppen wird), Peter Gülke zustimmen, der das experimentelle Moment dieser versuchsweisen Neuanordnung von Sprache und Musik unterstreicht. Die Anfänge des Melodramas im 18. Jahrhundert verströmen mithin dezente Düfte von Theorie und Labor und provozieren in dieser Hinsicht den Vergleich mit der Frühphase der Oper.'''* 1770 wird Pygmalion erstmals mit Musik aufgeführt, in Lyon. Die Zeugnisse darüber sind spärlich.'*' Die Musik stammt zu geringen Teilen von Rousseau selbst, zu größeren Teilen von Horace Coignet, einem musikbegeisterten »Musterzeichner für Gewänder, dann Sticker«,'*^ der in Komposition dilettiert. An der weiteren Aufführungsgeschichte des Pygmalion ist bemerkenswert, daß er 39 Ebda., S. 52 Ein Argument Chabanons kehrt Rousseaus Theorem gegen seinen Urheber: »Die Instrumentalmusik ist der Vokalmusik zwangsläufig vorausgegangen; denn wenn die Stimme ohne Worte singt, ist sie nicht mehr als ein Instrument.« [Zitiert nach Claude Levi-Strauss (1995), S. 91] -*! Rousseau (1984), S. 54 Ebda., S. 55f.: »Das Orchester würde im Takt spielen; weil aber gleichzeitig der Gesang sich keinerlei Zwang anbequemen würde, müßte man oft anhören, daß Darsteller und Orchester in den gleichen N u m m e r n auseinandergeraten und einander behindern; derlei Unsicherheiten und die Vermischung der beiden Musikarten hätten in der Begleitung eine Gefühllosigkeit und Laschheit zur Folge, an die die Musiker sich so sehr gewöhnen würden, daß sie, selbst wenn sie gute [Instrumental-] Musik spielten, nicht mehr imstande wären, ihr Kraft und Nachdruck zu verleihen.« Gülke (1984), S. 146: »Rousseau hat nichts weniger im Auge gehabt als eine neue Gattung, wie man schon anhand der Terminologie ersehen kann: Er hielt es nicht für nötig, seiner Schöpfung einen eigenen Namen zu geben; derjenige, den sie erhielt, stammt in der uns geläufigen Bedeutung nicht von ihm.« '*'* Vgl. ebda., S. 148 (Daß die spätere »Aneignung in der Oper« das Melodram(a) erst in seiner wirklichen Gestalt konkretisiert habe, ist allerdings eine These Gülkes, die man kaum wird mitvollziehen müssen.) '•5 Vgl. noch immer am ausführlichsten Istel (1901), S. ISff. M G G (1989), Bd. 2, Sp. 1536

121

bald auch im deutschsprachigen Raum zu sehen ist, und zwar in neuen musikaHschen Fassungen: 1772 gibt es das Stück sowohl in Weimar (mit Musik von A n t o n Schweitzer) als auch in Wien (mit Musik von Franz Aspelmayr). A u c h Benda verfaßt später eine Komposition zu Rousseaus E n t w u r f und nimmt sich die Freiheit, weitere musikalische Abschnitte einzufügen.''^ D e m Text der Wiener Ausgabe von 1772 lassen sich für die Konstitution der späteren Melodramen typisch werdende Strukturmomente entnehmen/® D e r Stoff aus dem zehnten Buch von Ovids Metamorphosen

bietet die prototypische

Ausgangssituation für ein monodramatisches Szenar: Das beherrschende Strukturmerkmal der weitaus meisten frühen Melodramen ist das monodramatische oder duodramatische Arrangement einer antiken Mythe.'" Die monologische Situation der mythischen Figur -

seit Benda dann meist eine Frauengestalt

-

in extremer psychischer Spannung ergibt insgesamt den wesentlichen Topos der Basisformulierung melodramatischer Entwürfe des frühen Typs: Monolog entzündet sich an inneren Komplexionen, die zur Expression drängen; expressive Pantomime unterbricht ihn, etwa dann, wenn äußere Handlungs- oder innere Erregungsmomente die verbalsprachliche Formulierungskraft überfordern. Gedacht ist, wie der Nebentext belegt, an hoch differenziertes gestisch-pantomimisches Spiel, das Prinzipien des Noverreschen Ballet d'action nahekommt.^" D o c h wird auch die musikalische

Darstellung nur innerlich bleibender, nicht

pantomimisch sichtbar gemachter Seelenregungen eingefordert. Die Musik soll selbständig »sprechende« Funktion gewinnen: Er schweigt einen Moment, bewahrt aber in seinem Verhalten das Feuer der Empfindung, die er soeben zum Ausdruck gebracht hat; einen Augenblick stützt er sich auf den Tisch, um sich dann plötzlich wieder aufzurichten. Die Musik spricht; sie verleiht den widerstreitenden Gefühlen mit viel Kraft, Intensität und Vehemenz Ausdruck (einige Sekunden) »Entzücken, Qualen, Wünsche, Sehnsüchte, Raserei, Ohnmacht, schreckliche, tödliche Liebe! ... O die ganze Hölle tut sich in meinem gequälten Herzen auf.«^' UA am 20. September 1779 im Gothaer Hoftheater Ich beziehe mich auf die Ausgabe in Gülke (1984), S. 169-178. Sie orientiert sich am 1878 in Genf erschienenen Nachdruck der Wiener Kurzböck-Ausgabe von 1772 sowie an der Ausgabe >Aux Deux Ponts,< 1782, Bd.XV. ••9 Neben Ariadne und Medea finden sich z. B. Andromache, Elektra, Iphigenie, lo, Niobe, Proserpina, Sophonisbe (diese allerdings im Rahmen atypischer handlungsdramaturgischer Anlage), Lampedo als Titelheldinnen. Auch die duodramatische Konzeption ist mitunter durch eine Figurenpaarung im Titel angezeigt: Andromeda und Perseus, Antonius und Cleopatra, Cephalus und Prokris usw. Bereits van der Veen (1955), S. 50, konstatierte an Bendas Melodramen unmittelbare Einflüsse Noverres: »Comme Noverre a amene plusieurs compositeurs allemands ä ecroire des musiques de ballet d'un style qui se rapproche beaucoups de celui du melodrame, il n'est pas exagere de parier ici de son influence sur ce dernier genre.« Ebda., S. 175. Die verbale Kennzeichnung der mitunter schon dreifach - deklamatorisch, musikalisch, pantomimisch - indizierten Gefühle bleibt eines der erstaunlichen Kennzeichen des frühen Melodramas. Erklären läßt es sich am überzeugendsten dadurch, daß beim Stand der zeitgenössischen Ästhetik in jedem Falle auch das verbalsprachlich vermittelte Verständnis der inneren Vorgänge sichergestellt werden sollte.

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Rousseaus Konzeption ist an dramatischer Einheitlichkeit orientiert und nimmt auf musikalische Bauprinzipien primär unter dieser Maßgabe Rücksicht. Dabei ist, wie sich den beigefügten Beschreibungen im Nebentext entnehmen läßt, die Wirkung der Musik semantisch kalkuliert - und, wenigstens in der überlieferten Druckversion von 1772, mitunter sogar durch detaillierte Zeitangaben abgesichert. Daß sie in Aufführungen entsprechend der textlichen Vorgabe umgesetzt wurde, belegen zeitgenössische Berichte." Kritiker bezweifelten allerdings den Sinn einer als semantisch unpräzise bzw. tautologisch bewerteten musikalischen Bekräftigung des zuvor Deklamierten.^'

3.

Bendas Ariadne und Medea als Gattungsmodelle

Die Melodramen Jiri Antonm Bendas, ursprünglich ein Theaterereignis am Gothaer Hof, stiften eine gewisse Vermittlung zwischen der höfischen und der bürgerlichen Theaterpraxis und besetzen in dieser Hinsicht eine nicht allein theaterpraktische, sondern auch sozialgeschichtliche Verfugungsposition zwischen den höfischen Opernimporten und dem musiktheatralischen Spielbetrieb der Wanderbühnen. Dafür stehen der dramaturgisch-formalen Anlage geschuldete aufführungspraktische Vorzüge ein: Die Aufwendungen an Personal sind gering, die Ausstattung läßt sich auf ein Minimum beschränken, variable Streichorchester-, Streichquartett- oder Tasteninstrumentfassungen erlauben eine situationsangepaßte Ausgestaltung des musikalischen Parts: »Die Folge war, daß man Melodramen in allen Bereichen, in denen es Theateraufführungen gab, antrifft.«^'' Selbst eine als Konzert deklarierte Aufführung kommt von Fall zu Fall in Betracht: Konzerte sind von der Theaterzensur nicht erfaßt, und in den Universitätsstädten läßt sich so die Barriere umgehen, die vor jedem Theaterspielbetrieb aufgerichtet ist, indem hier die Professorenschaft den Schauspieltruppen eine Konzession zu erteilen hat; ein Melodrama als »Konzert« hingegen kann bisweilen (als trojanisches Pferd späterer Schauspieldarbietungen) ins Innere der akademisch behüteten Mauern geschleust werden.'^ Die anfängliche Entstehung im höfischen Kontext bedeutet ein relativierendes Moment der etwa von Ulrike Küster vorgenommenen Zuordnung des Melodramas zu Tendenzen des Sturm und Drang.®' Folgt man Küster, so bildet das Melodrama sogar ein Paradigma des Sturm und Drang schlechthin, insofern Friedrich Melchior Grimm in Correspendance litteraire, 15.1.1771: »Der Darsteller recitiert, und die Musik ist nur verwandt, um mit verschiedenen Zwischenspielen die Rede des Schauspielers zu unterbrechen, und um sein Geberdenspiel sowie die verschiedenartigen, ihn erregenden Gemütsbewegungen zum Ausdruck zu bringen.« [Zitiert nach Istel (1901), S . 2 1 ] 53 Vgl. die Darstellung bei Gülke (1984), hier insbes.S. 150f. 5t Wolfgang Schimpf (1988), S . 4 0 55 Vgl. ebda., S. 42f., mit Erläuterung konkreter Beispiele. 56 Vgl. Küster (1994), S . 2 7 9

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sich in ihm unter den Bedingungen des für diese Bewegung kennzeichnenden Aufbegehrens-Impulses die Schwesternkünste gleichberechtigt neu zusammenfinden.^^ Auch Jörg Krämer hat darauf verwiesen, daß die Aufnahme des Schrecklichen und Erhabenen ins Stoffreservoir der Melodramen die konventionellen ethisch-moralischen Grenzen der Tragödie ausweitet, und er hat damit das zentrale Argument der Studie von Küsters gestützt: Im Kontrast zu zwei topisch verwandten Motiven der Ästhetik des Schönen, dem locus amoenus und der »empfindsamen Zärtlichkeit«, ist nach Küster der Motivhaushalt der Melodramen ansonsten auschließlich mit Topik des »Nicht-mehr-Schönen« bestückt.®' Doch seien, so Krämer, die Differenzen zwischen Melodrama und Sturm und Drang letztlich »größer als ihr Gemeinsames«. Sei etwa im Melodrama der Kindsmord durchaus akzeptabel, so gerate Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderinn (1776) zum »Skandalwerk«." Und der sozialkritische Impetus, der die Dramatik des Sturm und Drang auszeichnet, geht jedenfalls, so wäre hinzuzufügen, den Melodramen ab. 3.1. Zur dramaturgisch-formalen Anlage Dramaturgisch ist die Verteilung der Motivbereiche, von denen Küster spricht, relativ einfach polar gesetzt: der locus amoenus und die »empfindsame Zärtlichkeit« werden retrospektiv beschworen, häufig bereits einleitend, in der dramaturgisch-strukturellen Absicht, ein expositionelles Plateau zu schaffen, auf dem die gegenwärtige monologische Verzweiflung der Hauptfigur desto erschütternder zur Geltung kommt. So bereits im ersten Melodrama Bendas, Ariadne auf Naxos, uraufgeführt im Januar 1775 in Gotha. Nach der Zahl der Hauptfiguren (Theseus und Ariadne) eigentlich ein Duodrama, erweist sich das Stück gleichsam als Addition zweier Monodramen, eines kleinen und eines größeren: Während Theseus seinen bevorstehenden Abschied quasi-monologisch umkreist, schläft Ariadne; als die erwachte Ariadne ihr Los beklagt, ist sie allein, und ihre monodramatische Szene macht die Essenz des Ganzen aus. Prototypisch erklärt sich die Heldin im Text von Johann Christian Brandes: »Ohne dich, Geliebter, welch ein schauervoller Aufenthalt! Hier glänzt kein stiller Sommertag, wie in den königlichen Gärten meines Vaters, hier blühen keine Rosensträuche, unter deren Schatten uns die Liebe verbarg; kein Zephyr spielt mit unsern Locken; keine Sängerin der Nacht weckt uns zu neuen Freuden! Alles ist hier wild, fürchterlich!« Die Dramaturgie des auf dramatisches Format gespannten Augenblicks elementarer Bedrängnis zentriert sich um die Ebda., S. 118: »Wie durch einen Gewaltstreich wurde der gefühlserregenden Musik ihr authentisches Existenzrecht gesichert, neben und im Bunde mit der emphatischen Ideensprache der Dichtung, ohne daß dieser etwas von ihrer deklamatorischen Deutlichkeit und poetischen >Würde< genommen wurde.« 58 Ebda., S. 184 Krämer (1998), Bd. 1, S. 349

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psychischen Reaktionen auf den Entzug dessen, was vormals (im locus amoenus, im Erlebnis ungebrochener Liebe) Glück bedeutete: Der dramatische Keim des Melodramas sind die Stationen innerpsychischer Polarität (zwischen Hoffen und Bangen, Liebe und Haß, Antrieb und Hemmung). Hier finden sich Strukturmerkmale, die in der Dramengeschichte des 19. Jahrhunderts erneut relevant werden: In der Theorie des modernen Dramas analysiert Peter Szondi den Einakter als einen der »Rettungsversuche«, die auf die Krise des Dramas antworteten. Modell des modernen Einakters ist die »dramatische Szene«, dramaturgisches Initialmoment damit statt der Handlung die Situation: Weil der Einakter die Spannung nicht mehr aus dem zwischenmenschlichen Geschehen bezieht, muß sie bereits in der Situation verankert sein [...] die Situation hat hier selber alles zu geben. Deshalb wählt sie der Einakter, wenn er auf Spannung nicht ganz verzichtet, immer als Grenzsituation, als Situation vor der Katastrophe, die schon bevorsteht, wenn der Vorhang sich hebt, und im folgenden nicht mehr abgewendet werden kann.'"

Daß Mitte der 1770er Jahre an einem sozial- wie ästhetikgeschichtlichen Scheitelpunkt schon einmal wesentliche Punkte dieser formalen Bestimmung im Formmodell der frühen Melodramen verwirklicht sind, stiftet eine gattungsund spartenübergreifende periodische >Kontinuität< am eindrucksvollen Exempel: Denn schon der neuzeitliche Prototyp der expressiven monodramatischen Szene ist mit Claudio Monteverdis Lamento d'Arianna (1608) am Beginn einer Neubestimmung des theatralischen Selbstverständnisses und der dramatischen Verhältnisse situiert;'' nicht von ungefähr tritt dann erneut die Gestalt der verlassenen Frau zum theater- wie musikgeschichtlich exponierten Zeitpunkt Mitte der 1770er Jahre im monodramatischen Entwurf auf; und nicht von ungefähr vereint sich das traditionsbewußte mit einem eminent zukunftsweisenden Moment in einem Entwurf wie Schönbergs Monodram Erwartung (mit dem Text Marie Pappenheims) nochmals an einer musikgeschichtlichen Nahtstelle: Nur daß im letzten Falle die Prototypik des szenischen Modells zeitgemäß überformt und radikalisiert ist, indem nun nicht mehr die Mythe zum Muster dient, sondern die Namenlosigkeit der »Frau« die Figur womöghch zu einer Chiffre »des« modernen (weiblichen) Bewußtseins umwidmet. Die »Symptomatik des Monodramatischen« (Hans-Peter Bayerdörfer) verweist allem Anschein nach auf »paradigmatische Wechsel, die eine Verschiebung der Grenzen zwischen Theaterbereichen und Theatergattungen bedeuten«.^^ Eine gewisse Parallelität läßt sich zunächst simpel bezüglich der Makrostruktur konstatieren. Auch beim Monodrama des 18. Jahrhunderts handelt es sich in der Regel um Einakter, die zur Konvention querstehen.'' Hinsichtlich der spe«•0 Peter Szondi (1963), S. 92 Daß dieses >Lamento< Bestandteil einer bis heute verschollenen Oper war, ändert nichts an seiner musikgeschichtlichen Bedeutung. « Hans-Peter Bayerdörfer (1995), S.244 Schimpf (1988), S. 108: »Waren für das regelmäßige Trauerspiel fünf Akte vorgeschrieben, für die Oper drei, so ist bei den Melodramen schon das zweiaktige Stück die

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zifischen Inhaltlichkeit tritt auf zweiter Stufe eine weitere Parallele hervor: Schon die Zeitgenossen bemerkten (und kritisierten mitunter) am Melodrama, daß es einer Tragödienszene oder einem Tragödienakt gleiche (meist dem letzten, katastrophischen Akt). Und weiter: Johann Christian Brandes' Text zur Bendaschen Ariadne präsentiert in der Tat die Heldin bereits in der »Grenzsituation«, in der »Situation vor der Katastrophe«, wie dies Szondi analog für den modernen Einakter konstatiert hat. Nicht in jedem Falle muß die Vorgeschichte dabei monologisch-analytisch nachgeholt werden: Dem Melodrama Sophonisbe von Neefe etwa ist ein >historischer Prolog< des Textverfassers August Gottlieb Meissner vorangestellt;^'' in Bendas und Brandes' Ariadne bereiten, wie erwähnt, die Theseus-Passagen die Dramaturgie der monodramatischen Kernszene inhaltlich vor. Des Theseus letzter Nach-Ruf an Ariadne, ehe er abgeht, weckt sie, und nun ist sie die Einsame, die suchend nach ihm ruft (wie die Frau in Schönbergs Erwartung den Geliebten suchen wird). Ein Gewitter zieht herauf, das den Horizont katastrophisch einfärbt (auch in der Musik spiegelt sich dies); und die Stimme der Oreade hinter den Felsen bringt den dramaturgisch-analytischen Nachtrag ans Ziel: Ariadne erfährt nun, was der Zuschauer längst weiß: daß sie von Theseus verlassen ist. Die wechselnden Affekte, die aus der Unsicherheit über seinen Verbleib hervorgegangen waren, werden abgelöst: Klage, zärtliche Erinnerung an die Zeit mit dem Geliebten, Wut, Rachephantasie, nochmals Erinnerung, weiter zurück nun, an die glückliche Zeit mit der Mutter - all dies wird zu je momentanen Affekt-Facetten in zeitlicher Aufeinanderfolge aufgefächert und expressiv ausdeklamiert. Das Gewitter verdichtet sich unterdessen, die Schicksalsstimme der Oreade erklingt erneut und mischt sich mit den Wetterklängen zur suggestiven Forderung: »Geschwinde, geschwinde vom Felsen, vom Felsen hinab« - und in Abwandlung der geläufigen Version des Mythos, die Ariadne dem begehrenden Bacchus in die Arme führt, erfüllt sich die Tragödie: Ein Blitz fährt auf Ariadne zu, und im Schrecken stürzt sie vom Felsen ins Meer. Wenn durch Wolfgang Schimpf (und im Anschluß an ihn durch Ulrike Küster) einerseits die Kürze als Strukturprinzip des Melodramas beschrieben worden ist, so wäre dessen Struktur am Paradigma der Ariadne andererseits als Resultat einer zum selbständigen Einakterformat erst gedehnten szenischen Parzelle zu charakterisieren: Präsentiert sich das Melodrama als komprimierte dramatische Form, als »Kurztragödie«'', so ist die exzessive Uberdehnung der Monologsituation deren wesentliches Konstituens. Das Melodrama gewinnt so seine eigenständige formal-dramaturgische Kontur: Von Opern, die tragische Ausnahme. Die große Mehrheit aller Texte hat bloß eine Gliederung in Auftritte oder kommt ganz ohne Szeneneinteilung aus.« ^^ In den Aufführungen verzichtete man, ausweislich eines Vorberichts im historischen Klavierauszug, mitunter auf die Wiedergabe des Prologs, mit dem Effekt, daß »durch diese Weglassung das ganze Monodram für viele Zuschauer unverständlich gemacht« war. « Vgl. Küster (1994), S. HOff.

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Sujets behandeln, unterscheidet es sich durch den Verzicht aufs heto fine." Von Singspiel-Formen zudem durch den durchbrochen-raschen Wechsel von deklamiertem Monolog und musikalischen Zwischensätzen. Vom bürgerlichen Trauerspiel, das den avancierten Stand der ernsten dramatischen Kunst repräsentiert, durch die divergente soziale und historische Verortung des tragischen Sujets. Vom Drama des Sturm und Drang, das seinerseits Tendenzen der Monologisierung aufweist und im Sprachlichen - semantisch wie syntaktisch wie auch in der regulären Prosaform - mit den Melodramen vergleichbare Züge ausprägt, durch die Stoffwahl wie durch die spezifische ambivalente »Kürze«.'^ Als »gattungsspezifische Psychologisierungskunst« (Küster) kommt das Moment des raschen und konstrastierenden Wechsels der Empfindungen hinzu, deren Ausdruck und Übertragung sich als der eigentliche Zweck der »Kurztragödie« erweist. Daß die Affekte der Verzweiflung sukzessive in ungeahnter Breite ausgespielt werden, ist die Kehrseite des Wunsches, die empfundene Vielfalt in einem Punkt totaler Übereinstimmung zu konzentrieren, der die zersplitterte Wahrnehmung des dissoziierten Subjekts zu heilen vermöchte:'' Insofern ließe sich das Melodrama unter dramaturgisch-strukturellem Aspekt als ein Differenzierungspendant zur konventionellen Opernarie beschreiben, das unter den Bedingungen eines umakzentuierten Affektverständnisses entsteht. Wo vormals der zentrale Affekt die Handlung in der Arie, die ihn versinnlichte, zum Stehen brachte, dehnt sich das innerpsychische Affektkonglomerat in den deklamatorisch-musikalisch-pantomimischen Gesamtausdruck seiner Facetten. Das Subjekt tritt als konkret individuiertes hervor; es wird eine einsträngig subjektive dramatische Perspektive eingerichtet, die zu größtmöglicher Identifikation einlädt, mit der tendenziell aporetischen Besonderheit, daß die Introspektion nicht allein zu einem Höchstmaß an emotionaler Expressivität führt, sondern der eingefügten Erläuterung bedarf, um in jedem Moment auch verstandesgemäß rezipierbar zu bleiben.'' Das Melodrama nähme also seinen Ausgang in dieser Hinsicht weniger beim Rezitativ (als deren ästhetische Alternative die melodramatische Technik mitunVereinzelte Ausnahmen wie Johann Carl Wezeis >Zelmor und Ermide< (Ein musikalisches Schauspiel) von 1779 bestätigen zwar nicht die Regel, setzen aber auch nicht ihre Gültigkeit außer Kraft. Exklamatorische, elliptische, aposiopetische Satzgebilde sowie Interjektionen, die sämtlich auf eine verbale Ausdrucksnot hindeuten mögen, begegnen in den Melodramentexten als dichtungssprachliche Grundschemata. Sie arbeiten der kompositorischen Strukturierung durch musikalische Zwischensätze in die Hände. L e n z schreibt in den >Anmerkungen übers Theater:< »Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers successiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist - so viel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder succesiv zu erkennen, noch zu wollen.« Die Aposiopese, die zur Aussparung des Begründungsversuchs führt, wird man als impliziten Eintrag der Poetik in die Grammatik deuten können. Jakob Michael Reinhold Lenz (1992), S. 432f. Küster (1994), S. 194: »Die Sprache der Melodramen, der ja die Aufgabe zufällt, die Geschehnisse auf der Bühne, aber vor allem auch im Innern der handelnden Personen klar und deutlich zu benennen, bleibt häufig in diagnostischer Rhetorik stecken, welche echtes Mitfühlen verhindert.«

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ter reklamiert wurde) als bei der Arie, der es die immanent offene Form und damit die Möglichkeit zur nuancierteren Darstellung auch komplexer seelischer Regungen voraushat. Insgesamt zeigt sich das Melodrama bereits in seinen Anfängen als freier und zusammenführender Transfer opern- wie schauspielgeschichtlicher Strömungen, und es kann bei der anhaltenden Bewunderung der Zeit für das >Gesamtkunstwerk< der griechischen Tragödie nicht verwundern, daß es alsbald als deren möglicher neuzeitlicher Wiedergänger Gegenstand der Spekulation wird,'" so etwa in der Vorrede zur Ubersetzung des Pygmalion durch Gemmingen (1778): Dort heißt es, Rousseau habe versucht, »nach der Gewohnheit der Griechen die Deklamation durch Musik zu begleiten und zu erheben«/' Im Einzelfall werden später sogar handlungsbegleitende Chöre ins Melodrama integriert (in Reichardts Des Herkules Tod). Auf der Ebene der szenischen Realisierung, im Melodrama in eminenter Weise konstitutiv bereits für die dramaturgisch-formale Anlage, ist das pantomimische Moment der expressiven Geste maßgeblich, deren die Textsemantik überbietende Koinzidenz mit der intermittierenden Musik bereits Kirsten Gram Holmstroem anschaulich erläutert hat: When passion has reached such an intensity that the words no longer suffice, the declamation must be broken off and the violent emotion expressed pantomiraically to the accompaniment of expressive music/^

Daß dabei in gräzisierenden Kostümen agiert wird, katalysiert nicht nur die Assoziationen der Kritik an das vermeinte altgriechische Vorbild; der Verzicht aufs Rokoko-Kostüm verhilft auch der natürlichen Körperlichkeit zur Geltung und trägt so zur Unmittelbarkeit des leidenschaftlichen Aus- und Eindrucks bei. Hat man die antikisierende Anmutung des Ganzen akzeptiert, müssen Deklamation, pantomimische Aktion und Kostüm, die zudem auf die Beglaubigungskraft der Musik rechnen können, nicht per se befremdlich wirken. (Daß sie es gleichwohl häufig tun, wird aus zeitgenössischen Zeugnissen ersichtlich.) Und überdies ist die malerisch-statuarische expressive Geste ein Kennzeichen auch der sogenannten Attitüden und tableaux vivants der Zeit, in denen plastische Kunstwerke gestisch, mimisch und mit entsprechender Kostümierung nachgestellt w e r d e n / ' Tanz und Musikbegleitung kommen, im Sinne einer tendenziellen Theatralisierung des Genres, hinzu, und die Praxis der Attitüden findet Eingang in die zeitgenössische Reflexion über Probleme des Theatralischen.^'' 70 Wolfgang Schimpf (1988), S. 59, kommentiert: »Dem 18. Jahrhundert [...] genügte schon der Anschein analoger Phänomene, um dem Melodrama die Weihe der antiken Tragödie zu verleihen.« 71 Zitiert nach Istel (1901), S.29 72 Kirsten Gram Holmstroem (1967), S.40 73 Vgl. Sybille Demmer (1982), S. 38 7't Kirsten Gram Holmström (1967), S. 110: »Lady Hamilton's attitudes played an important part in influencing contemporary German writing on the aesthetics of the theatre.«

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Lady Hamilton machte im 18. Jahrhundert diese Gattung populär. Deutlicher noch verweisen die Versuche ihrer Konkurrentin Ida Brun auf die melodramatische Pantomime, auf die mimisch-gestischen Stationen während der musikalischen Zwischensätze also: Bei Brun wird aus der »der dramatischen Bilderfolge [...] eine dramatische Szenenfolge«." 3.2. Zur musikalischen Gestaltung In welchem Maß die musikalischen Elemente der Deklamation historisch Bedeutung gewannen, ist im ersten Kapitel dieses Buches dargestellt. Es spricht einiges dafür, daß auch Benda nicht zuletzt von dem Interesse geleitet ist, die klangliche Nuancierung der gesprochenen Sprache nicht ihrer Einpassung ins musikalische Schema zu opfern. »Benda kritisiert am Secco-Rezitativ«, faßt Richerdt zusammen, »die Ungereimtheiten, die regelmäßig dadurch entstünden, daß die Akteure selbst bei alltäglichsten Verrichtungen und belanglosen Unterredungen in fixierten Intervallen singen müssen.«^' Der offenbare Zusammenhang mit späteren Bemühungen, die Deklamation als musikalisch aus eigenem Recht auszuweisen, gipfelt in Bendas Formulierung: »Die Music verliert selbst, wo man ihr alles aufopfert.«^^ Bendas Unbehagen am Secco-Rezitativ artikuliert sich aus der Einsicht heraus, daß hier größtmögliche Orientierung an der Prosodie vorgegeben, durch die musikalisch-intervallische Fixierung aber de facto nicht realisiert wird. Anzunehmen, der Komponist Benda offenbarte einen geheimen antimusikalischen Affekt, wäre unsinnig. Wohl aber geht es ihm darum, der handlungsorientierten Dialogsprache zu besserer Geltung zu verhelfen und so das rezeptive Bewußtsein aufs dramatische Ganze zu lenken, während das Secco-Rezitativ, eigentlich Transporteur von Dialog und Handlung, häufig genug als Aufforderung zum beiläufigen Publikumsgespräch mißdeutet wird. Das Melodrama bietet hier erkennbare Vorteile: Statt die Deklamation (nur) musikalisch zu überformen, wohl auch emotional zu stützen oder zu heben, vermag die motivische Strukturierung durch intermittierende Musik den deklamierten Monolog dramaturgisch zu gliedern und semantisch zu strukturieren. Und tatsächlich verhält es sich so, »daß der Musik im Melodrama in bestimmten Situationen eine sehr selbständige, dramaturgisch wesentliche Rolle zugedacht wurde«.^' Der Idee nach soll Musik den Zusammenhalt des realisierten theatralen Gebildes gewährleisten, indem sie den Monolog, der dabei in pantomimische Aktion einmündet, durch akustische Fortsetzung im anderen Medium sowohl expressiv verstärkt als auch semantisch lockert: Die verbalsprachliche Bestimmtheit, wie ausdrucksstark auch immer, wird akustisch in die weniger bestimmte 75 Demmer (1982), S. 40 Dirk Richerdt (1986), S. 91. Richerdt bezieht sich insbesondere auf Bendas Aufsatz >Ueber das einfache Rezitativ< in C. F. Cramers >Magazin der Musik.< Zilien nach ebda., S. 92 78 Schimpf (1988), S. 81

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Gefühlssprache der Musik übersetzt; die expressive Klanggestik der erregten Stimme, selbst ein körperliches Phänomen, verlängert sich in die Geste des Körpers, dessen Ausdruck nach den Vorstellungen der Zeit Spiegel der Psyche ist. Daraus resultiert nicht zuletzt der Wunsch nach einer verstärkten Zusammenarbeit von Komponist, Librettist und Schauspieler/' Andererseits zeigt sich an den Partituren, daß die Komponisten dazu neigen, der Musik hier und da den Zügel schießen zu lassen und dadurch die dramaturgische Balance wieder zu gefährden.80 Bedingung dessen ist die um 1775 zwar erweiterte, doch nach wie vor gültige Annahme von der Sprachähnlichkeit der Musik, von ihrer syntaktischen und semantischen Potenz; sie erst erlaubt die musikalisch-inhaltliche Deutung verbalsprachlich nicht adäquat zu erfassender Seelenregungen, die sich in der pantomimischen Aktion zusätzlich sichtbaren Ausdruck verschaffen. In der Musikästhetik des früheren 18. Jahrhunderts war Musik weitgehend noch als eine textdeterminierte Affekt-Kunst bestimmt: »Die Uberzeugung, daß die Sprache ein fester Bestandteil der Musik und nicht ein >außermusikalischer< Zusatz sei, war bis zum 18. Jahrhundert - trotz eines schwankenden, den Text teils einund teils ausschließenden Gebrauchs des Wortes >Musik< - so selbstverständlich, daß sie nicht expliziert zu werden brauchte.«^' Die im Verlauf des 18. Jahrhunderts sich vollziehende »Emanzipation« der Instrumentalmusik bezieht ihren Impuls zunächst aus der Vorstellung, Musik könne Affekte (vorläufig noch: bestimmte Affekte) auch ohne Hilfe der Sprache verständlich ausdrücken. Daß sie in Musik darstellbar seien, ohne verbalsprachlicher Determinierung zu bedürfen, legitimiert die These von der Musik als einer »Sprache« sui generis: Daß Johann Mattheson 1739 die Instrumentalmusik als »Ton-Sprache oder KlangRede« charakterisierte, besagt, daß er die Stütze der Sprache für entbehrlich hielt, weil die Instrumentalmusik selbst zu einer Sprache, und zwar einer Affektsprache geworden sei. Sie sei insofern ästhetisch selbständig, als sie den Zweck der Musik, Gefühle darzustellen und hervorzurufen, auch ohne Text erreiche'^.

Der Untergrund einer geregelten Semantik der Affekte gewährleistet also die auf konventionalisierten Bedeutungen basierende Rhetorizität musikalischer Affektfiguren: »Es ist der - in der Regel metaphorisch umschriebene - Begriff des Zorns, der die musikalisch dargestellte heftige Bewegung, die als solche zu extrem verschiedenen Gefühlen gehören könnte, mit einem bestimmten Affekt ^^ Vgl. Johann Ludwig Huber (1791), S. 96f. Der Komponist der >Tamira< schreibt: »Ich glaube, unser Drama ist von der Art, daß die Communication des Dichters mit dem Tonsezer, und beider mit dem Schauspieler unumgänglich nothwendig ist, wenns auch nur um die Bestimmung der musicalischen Einschnitte, und ihrer Länge und Kürze zu thun war.« Vgl. die prägnante (und wie in vielen anderen Punkten überzeugendste) Darstellung bei Schimpf (1988), S. 85ff. 81 Carl Dahlhaus: Was heißt »außermusikalisch«? In: Dahlhaus und Eggebrecht (1985), S. 5 5 - 6 6 . Das Zitat auf S. 56. 82 Ebda., S. 57

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verknüpft.«" Indem Leidenschaften zu musikalisch-rhetorischen Topoi gerinnen, stehen der Musik fungible Affektsubstrate zur Verfügung. Und indem die Vorstellung von einer objektiven Existenz der Affekte, in einem Analogieschluß, den die herrschende Nachahmungsästhetik nahelegt, den Glauben an deren auch musikalisch bestimmte Darstellbarkeit stützt, wird der Musik ein Maß an Bedeutungsklarheit zuteil, das heute der Sprache längst nicht einmal dort mehr zugebilligt wird, wo man sie systematisch von der semantisch unterdeterminierten Musik abgrenzt.®'' Denn die alte Affektlehre ordnet nicht allein musikalischen Signifikanten und außermusikalisches Signifikat eindeutig zueinander, sondern setzt zugleich jedes Bezeichnete als ein objektiv Gegebenes; die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Sprache und Musik wird mit Bezug auf ein Drittes, in den Affekten und ihrer feststehenden Natur immer schon Existentes gedacht, dem die nachahmende musikalische Formulierung ebenso zu entsprechen vermag wie die sprachliche. Wird allerdings diese Prämisse preisgegeben, so ist der musikalischen Affektrhetorik der Gegenhalt entzogen. Die Identifizierbarkeit musikalisch vermittelter Gehalte hängt dann von der Existenz eines konventionell verständlichen und verfügbaren musikalischen Vokabulars ab. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts werden vermehrt Zweifel am objektivistischen Konzept der Nachahmungsästhetik vorgetragen; die lineare Zueinanderordnung von Affekt und musikalischem Topos wird problematisch. Zwar bleibt deutlicher Sinn, sprechender Ausdruck »ohne Dunkelheit oder Zweideutigkeit« das Ideal - »doch auf ein paar deutliche Ausdrucksweisen«, konzediert Charles Batteux nun, »kommen tausend andere, deren Gegenstand man nicht angeben kann«.®' Die Einsicht in die Komplexität psychischer Vorgänge macht deren musikalische Darstellung prekär. Dies spiegelt sich auch am Rand des musikästhetischen Diskurses, nämlich in der Reflexion über den Einsatz von Musik im Schauspiel. Deren theoretische Neupositionierung unternimmt, im Anschluß an Johann Adolph Scheibes Critischen Musicus, Lessing im 26. und 27. Stück der Hamburgischen Dramaturgie.^'' Schauspielmusik, so lautet das Kernpostulat, müsse inhaltlich auf das jeweils gespielte Drama abgestimmt sein. Die inzwischen weitgehend vollzogene Abwendung von der reinen Nachahmungsästhetik reflektiert sich in Lessings Skepsis gegenüber der Präzision instrumentalmusikalischer Affektdarstellung; die Intrumentalmusik, so Lessing, sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen macht. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer dieje-

83 Ebda-, S . 5 8 So z. B. Detlef Müller-Henning in Steven Paul Scher (1984), S. 314: »Die Sprache ist gekennzeichnet durch ein logisch-rationales Element, während die Musik eher emotional-affektiven Kräften Raum gibt.« Charles Batteux: Les Beaux Arts reduits ä un meme principe, Paris 1746 [Zitiert nach Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann (1984), S. 33 und 35] Vgl. Johann A d o l p h Scheibe (1745), S. 6 1 1 f f . (67. Stück des >Critischen Musicus< v o m Dezember 1739)

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nigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfterer hören, wir werden sie öfterer miteinander vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.®'

Es bedarf also prozeßhafter Ausbildung eines konventionellen musikalischen Vokabulars im Wechselspiel von kompositorischer Fertigkeit und an ihr geschulter ästhetischer Kompetenz - die Voraussetzungen zur Semantisierung musikalischen Ausdrucks sind je erst zu schaffen. Dies bezeichnet in groben Umrissen, und mit Blick auf die Bedingungen des Theaters, den Stand der musikalischen Ästhetik zur Zeit Bendas: »Die früher rational hergestellte Verbindung zwischen Sprache und Musik ist [...] aufgehoben, an ihre Stelle tritt als vermittelnde Instanz das schöpferische Vermögen des Komponisten, seine vom Text evozierten Gefühle sind nun Gegenstand musikalischer Nachahmung: der Vorgang der Vertonung wird vom mimetischen zum poietischen Verfahren.«'^ Damit einher geht eine ambivalente Neubewertung der Instrumentalmusik, deren Existenzrecht dadurch Stärkung erfährt, daß sie individuellen Empfindungsausdruck frei von textlichen Determinanten erlaubt, während zugleich die Fähigkeit der Musik zweifelhaft wird, unabhängig von der Verbalsprache überhaupt fixe Bedeutungen zu konstituieren. Daß Musik nicht autonom über konkrete semantische Potentiale verfüge, ist etwa negativ die These der folgenden Passage aus Johann Jakob Engels Schrift Über die musikalische Malerei (1780), die den Bogen zurück zu Benda schlägt: Setzen Sie, daß [...] ein Bendaisches Duodram ohne die Rollen, bloß vom Orchester ausgeführt werde; was würden Sie in dem besten, mit dem feinsten Geschmack und der richtigsten Beurtheilung geschriebenen, Stücke zu hören glauben? Ganz gewiß die wilden Phantasien eines Fieberkranken.®'

Greift man zu Medea, dem zweiten Bendaschen Melodrama von 1775, zeigt sich allerdings, daß Musik als Handlungsindikator irrt dramatischen Kontext unmißverständliche Wirkungen zu zeitigen vermag.'" Benda und der Textdichter Friedrich Wilhelm Gotter lösen das dramaturgische Problem, den Vorgang des Kindermords nicht auf dem Theater ad oculos demonstrieren zu können, indem er, bei völlig leerer Bühne, musikalisch indiziert wird. Nach großem Wahnsinnsmonolog stürzt Medea unter Triumphgeschrei und mit gezücktem Dolch in den Palast. Es ist dunkel; die einsetzende >Symphonie< (ein vergleichsweise ausgedehnter Zwischensatz) evoziert, mit einem bevorzugten Kunstmittel der frühen Melodramen, tonmalerisch eine Gewitterstimmung. Die Musik, semantisch durch den Monolog darauf vorbereitet, bekräftigt im transmedialen Bedeutungstransfer Medeas Mordbeschluß und beschwört die unsichtbaren Vorgänge im Palast verständlich genug. Schließlich verflüchtigt sich das »Ungewitter« aus der Gotthold Ephraim Lessing (1974), S. 384 88 Schimpf (1988), S.76 89 Johann Jakob Engel (1971), S.322 Sei es nun, daß die entsprechende Wahrnehmungskompetenz des Publikums langwierig erworben war, sei es, daß sie durch gute Kenntnis des Medea-Mythos abgesichert war, sei es, daß sie ad hoc entstand.

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Musik; der dramatische Höhepunkt ist überwunden, die Tat scheint getan. Medea, bleich, atemlos, mit zerrissenem Haar, kehrt aufs Theater zurück und bestätigt es nun auch verbaliter. Mit dieser musikalischen Teichoskopie bei leerer Bühne hat Benda die semantischen Möglichkeiten der Musik aufs äußerste strapaziert; offenbar mit Erfolg.'' Ein weiteres zukunftsträchtiges Kennzeichen der Bendaschen Melodramen ist die außerordentlich geschickte Verwendung personen- oder handlungsbezogener charakteristischer Motivbildungen. Die terminologischen Feinheiten der Unterscheidung von Erinnerungsmotiv und Leitmotiv (und deren historische Konkretisierung) brauchen in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren.'^ (Meist wurde die Technik, wie Benda sie nutzt, als Erinnerungsmotivik identifiziert, und aufschlußreich ist nebenbei die Beobachtung, daß Edgar Istel, der seinen Gegenstand, nicht ganz uneigennützig, zu einer Vorstufe des Wagnerschen Musikdramas zu adeln gedachte, dezidiert »leitmotivische Bildungen« in den Bendaschen Melodramen ausfindig machte.") Gemeint ist in jedem Fall, daß es Benda gelingt, motivisches Material einzuführen und an signifikanten Punkten der Handlung, bzw. in psychologisch entscheidenden Momenten monologischer Figurenrede, so zu zitieren, daß sich Zusammenhänge auf zweiter Ebene herstellen. Motivische Arbeit erweist sich überdies bei der fragmentierten und meist kleinteiligen Beschaffenheit der musikalischen »Zwischensätze« als zusammenhangstiftende musikalische Technik schlechthin.'"* Häufig kommt dabei die »harte Fügung« harmonisch kaum verbundener Motivpartikel zum Einsatz, wenn man so will, ein Äquivalent dichtungssprachlicher Techniken der Zeit. Bedeutsam ist dabei mit Blick auf die gattungsüberschreitenden Valenzen des Melodramas, daß die Erinnerungsmotivik vorab schon in der Ouvertüre

Schimpf (1988), S. 82: »Doch gaben die Reaktionen des Publikums ihm recht; selbst in Berlin, w o man die Kühnheit seiner Dramaturgie durch Einschaltung eines Furientanzes in traditioneller Manier abfangen wollte, verlor die Szene kaum an Ausdruckskraft.« In ähnlicher Weise Vorgänge bei leerer Bühne musikalisch schildernd, verfuhr Reichardt im siebten Auftritt von >Ino.< Die These, die Leitmotivtechnik sei ein Spezifikum des Wagnerschen Musikdramas, erweist sich nach heutigem Stand der Forschung als eine Verkürzung: »Nicht in der Entwicklung der Leitmotivtechnik als bloßer Technik, die lediglich Fortführung von bereits Vorhandenem war, vielmehr in der Begründung einer durch sie ermöglichten neuen Ästhetik bestand Wagners Beitrag zum Musiktheater unter gattungsspezifischem Aspekt.« Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring (1997), S. 279 Vgl. Istel (1906), S. 32 und anschaulich S. 15f.: »Ein Schritt nur - nämlich vom gesprochenen Wort zum gesungenen - und Benda wäre der Schöpfer des modernen Musikdramas geworden.« Auch Ulrike Küster, die ebenfalls eine entwicklungsgeschichtliche Linie von Benda über Beethoven zu Wagner skizziert, untersucht Bendas »Leitmotivik«. Vgl. Küster (1994), S . 2 8 0 und 216ff. Dirk Richerdt (1986), S. 107, erläutert mit Bezug auf die >AriadneVorlesungen über Deklamation und Mimik< in dieser Arbeit. 132 Vgl. Schimpf (1988), S. 66. Knigge distanzierte sich später in seinen >Dramaturgischen Blättern< pauschal von diesem Aufsatz. Vgl. Knigge (1978), S. 197f. 133 Vortragsanweisung in der Originalpartitur: »Während der Musik nach dem Text, aber nicht gesungen«. In der Kopierpartitur: »Unter der Musik und so viel als möglich nach dem Zeitmass, ohngefähr so, wie der Wert der drüber stehenden Noten anzeigt.« Im wesentlichen werden Tonrepetitionen aneinandergereiht, die an bestimmten Textstellen chromatisch wechseln.

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III. Gattungsübergreifende Übertragung der melodramatischen Technik

Die Tendenz zum Experiment mit der neuen Technik, die Entdeckung überhaupt der ästhetischen Variante der Wort-Ton-Kombination, die insgesamt lose gefügten Begrenzungen zwischen den Gattungen und zumal der spartenübergreifende Austausch von Darstellern und Darstellungstechniken, schließlich die Praxis, an ein und demselben Theaterabend auf ein und derselben Bühne Schauspiel und Singspiel oder Oper zu kombinieren - all dies ermöglicht nicht allein Weiterung und tendenzielle Auflösung des Gattungsmodells, sondern auch die Übernahme der melodramatischen Technik in diverse Formgebilde, die mit dem Melodrama nicht übereinkommen. Ausläufer der Gattung reichen zwar bis ins 19. Jahrhundert hinein; doch einige Werke, die bisher in diesem Zusammenhang genannt wurden, lassen sich nach neuer Forschung eher dem Kontext des aus Frankreich adaptierten Boulevardmelodrams zurechnen, das zwar die melodramatische Technik kennt, sich aber struktukturell vom Melodrama Bendascher Prägung klar unterscheiden läßt.^ (Dazu gehören im deutschen Sprachraum Werke wie Seyfrieds Ahraham, Lindpaintners Moses Errettung oder E. T. A. Hoffmanns Saul, König in Israel, die alle in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstehen.) Bereits parallel zum Boom der Gattung Jedenfalls setzt die Nutzung ihres ästhetischen Extrakts in verschiedenen Theaterbereichen und auf dem Podium ein. Und im Laufe des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wird sich die melodramatische Gestaltung, die zwischenzeitlich zu einer musik- und theaterästhetischen Basistechnik avanciert ist, auch in solchen Theaterformen bewähren, die mit der alten Gattung des Melodramas wenig oder nichts mehr gemein haben.

1.

Melodramatische Lyrikvertonungen

Einen Sonderfall dieser Entwicklung stellt vorab die melodramatische Lyrikvertonung dar. Daß sie bereits ab den 1770er Jahren belegbar ist, verweist erneut

1 Frühere Forschung hatte den Typus des Boulevardmelodrams durch die Bezeichnung »literarisches Melodrama« v o m sogenannten »musikalischen« Melodrama Bendas etc. zu unterscheiden versucht. So van der Veen (1955), auch noch Heyter-Rauland (1993). Vgl. dagegen die differenzierte Darstellung von Johann N. Schmidt (1986). Monika Schwarz-Danuser (1997) hat das durch Guilbert de Pixerecourt begründete Boulevardmelodram in ihre historische Synopse zum Melodram aufgenommen.

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auf kulturgeschichtlich enge Verbindungen mit dem Paradigmenwechsel in Sinnesdiskurs und Dichtungstheorie, den Herder und Klopstock maßgeblich prägten: Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier wird 1777 Sujet der ersten nachweisbaren melodramatischen Bearbeitung eines selbständigen lyrischen Texts. Daß Dichtung ursprünglich Lied war, und daß sie im (musikalischen) Klang erst realisiert sei, ist das Postulat der Herderzeit gewesen; daß ein nichtlibrettistischer Text (ohnehin ja auch Gegenstand von Liedvertonungen) musikalisch bearbeitet wird, ist deshalb so erstaunlich nicht.^ Mit der Frühlingsfeier des siebzehnjährigen Johann Rudolph Zumsteeg entsteht ein Gebilde, das lyrischen Text durch »Zwischensätze« musikalisiert und nach Art des Melodramas musikalischer Deutung oder Umdeutung unterzieht. Speziell Klopstocks Neuformulierungen des deutschen Verses regen ähnliche Kompositionen an; so richtet Johann Friedrich Hugo von Dalberg Passagen aus dem Messias für musikalisch begleitete Deklamation ein.' Eine erste melodramatische Balladenvertonung konnte Wolfgang Schimpf für das Jahr 1783 nachweisen; sie stammt von Carl Ludwig Junker.'' Und 1788 nimmt sich Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen eines melodramatisch besonders ergiebigen Sujets an, des Initialwerks nämlich der deutschen Kunstballade und Wiedergängerballade schlechthin: In einer Mischung gesungener und melodramatischer Anteile vertont er Gottfried August Bürgers Lenore? Die Form des lyrischen Konzertmelodrams entfaltet dann im 19. Jahrhundert eine ebenso enorme wie geradezu erstaunliche Wirkung.

2.

Singspiel und Oper

Die Auslösung der melodramatischen Technik aus dem Melodrama geht Hand in Hand mit allgemeinen Weiterungs- und Entgrenzungstendenzen des Melodramas: »Die [...] Gattungsentwicklung«, konstatiert Wolfgang Schimpf, »führte in allen ihren Varianten zu einer Reduzierung des Melodramatischen auf die Einzelszene. 2 Wolfgang Schimpf (1988), S. 72, hat es dagegen als einen » A k t sehr eigenwilliger Interpretation« gedeutet, daß der jugendliche Zumsteeg, Mitschüler Schillers an der herzoglichen Akademie, seine gründliche Kenntnis der Melodramen Bendas auf diese Weise »an einem nichtlibrettistischen, das heißt: für die Mitwirkung der Musik nicht vorgesehenen und nicht auf sie angewiesenen Text« erprobte. ' Eva's Klagen bei dem Anblick des sterbenden Messias für Declamation mit musikalischer Begleitung. Aus Klopstocks Messiade, 8ter Gesang, Speier 1784/85 ^ Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Ballade >Genofeva im Thurm«. In: Blumenlese für Klavier-Liebhaber, hrsg. v. H . P. Bossler, Bd. 1, Speyer 1783. Von Junker ist außerdem eine weitere melodramatische Arbeit nachgewiesen worden: Die Nacht. Von Zachariä, als musikalische Deklamation gesetzt für's Klavier, Darmstadt 1794 [Zitiert nach M G G (1989), Bd. 7, Sp. 389] 5 Franz Liszts spätere Version der >Lenore< ist die vielleicht gelungenste melodramatische Balladenkomposition überhaupt. ^ Vgl. zum folgenden insbesondere Schimpf (1988), S. 67ff. Schimpf hat hinsichtlich der Frage der Gattungsentgrenzung entscheidende Impulse gegeben, beschränkte sich al-

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Benda präsentiert nicht allein das prägende Gattungsmodell, sondern er paßt die melodramatische Technik, auf szenisches Format reduziert, auch in geläufige Formmuster ein: Seine Singspiele (als »Schauspiele mit Gesang« ausgewiesen) Romeo und Julie (1779) und Das tartarische Gesetz (ebenfalls 1779) enthalten melodramatische Szenen. Ahnlich dann Johann Andres Schauspiel mit Gesang Laura Rosetti, ähnlich Dittersdorffs Vertonung von Eberls Komischem Singspiel Betrug durch Aberglauben usw. Die Idee, daß mit der melodramatischen Technik ein Modus des Ubergangs zur Verfügung steht, der den abrupten Wechsel von Dialog und Gesang geschmeidiger und ästhetisch überzeugender zu vollziehen gestatte, wird, wie gezeigt, mitunter explizit auf der Basis der Vorstellung formuliert, daß Gesang die höchste Steigerungsstufe einer per se variablen Ausdrucksskala darstelle, die durch den Ubergangsmodus des melodramatischen Sprechens erst komplettiert werde. Reichardt empfiehlt in diesem Sinn, den Gesang bereits durch dialogbegleitende Instrumentalmusik vorzubereiten, »zu den letzten gesprochenen leidenschaftlichen Worten, oft auch zu ganzen Monologen«; von diesem Plateau soll sich als letzte emotionale Uberbietungsoption, wenn man so will: als eine ultima emotio, die singende Stimme erheben.^ Einen genaueren Blick lohnen in diesem Zusammenhang Mozarts melodramatische Szenen im Singspiel Zaide. Mozarts Enthusiasmus für das Melodrama ist durch einen Brief vom 12. November 1778 an seinen Vater bezeugt. Die einschlägigen Passagen, in der Literatur zum Melodrama klassisch geworden, sind ein schönes Beispiel sprechender Mozartscher Briefkunst: [...] diese art Drama zu schreiben habe ich mir immer gewunschen; [...] ich habe damals hier ein solch stück 2 mahl mit den grösten vergnügen auführen gesehen! in der that - mich hat noch niemal etwas so surprenirt! - denn, ich bildete mir immer ein so was würde keinen Effect machen! - sie wissen wohl, daß da nicht gesungen, sondern Declamirt wird - und die Musique wie ein obligirtes Recitativ ist - bisweilen wird auch unter der Musique gesprochen, welches alsdann die herrlichste wirckung thut«.

Bemerkenswert ist, daß Mozart die ganze »art Drama zu schreiben« begrüßt. Der Auftrag Dalbergs an ihn, für die in Mannheim gastierende Seylersche Schauspieltruppe ein Melodrama Semiramis zu komponieren, kommt da gelegen, wenngleich die Arbeit nicht zu Ende geführt wird (vermutlich deshalb, weil

lerdings darauf, »Erscheinungsformen des Melodramatischen außerhalb des Melodramas« zu beschreiben, ohne die in der vorliegenden Untersuchung angedeuteten systematischen Schlüsse (die eine diachrone Ausweitung der Themenstellung provozieren) zu ziehen. ^ Johann Friedrich Reichardt: Liebe nur beglückt. Ein deutsches Singeschauspiel, Berlin 1781, S.X. Die Vorschläge kommen prinzipiell mit den von Goethe formulierten überein. (Vgl. unter 1.3.6.) 8 Mozart (1962), S. 505f. Mozarts Vergnügen am Komponisten der >MedeaBenda< unter den lutherischen Kapellmeistern immer mein liebling war« (ebda.).

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Finanzverhandlungen mit Dalberg fehlschlagen).' Doch Mozart erkennt auch das inhärente Potential der Technik. Sie scheint die ideale DifferenzierungsmögUchkeit zum verbrauchten Rezitativ zu bieten: »wissen sie«, teilt er dem Vater mit, »wissen sie, was meine meinung wäre? - man solle die meisten Recitativ auf solche art in der opera tractiren - und nur bisweilen, wenn die wörter gut in der Musick auszudrücken sind, das Recitativ singen«'". 1780 vertont Mozart eine (verlorene) Textvorlage von Johann Andreas Schachtner unter dem Titel Das Serail. Die nicht zum Abschluß gebrachte Komposition wird erstmals 1838 mit Dialogen von Friedrich Carl Gollmick unter dem (vom Herausgeber Johann Anton Andre erfundenen) Titel Zaide erscheinen und 1866 am Opernhaus in Frankfurt am Main uraufgeführt werden." Zwei melodramatische Monologszenen (als »Melologe« bezeichnet) sind darin enthalten. Der prinzipiellen Arbeitsweise nach am Vorbild Bendas orientiert, werden in ihnen verschiedene Affektkonstellationen im raschen Wechsel auseinandergelegt; wo die Sprachsemantik affektiv nicht hinreicht oder eindimensional wird, tritt Musik kommentierend und komplettierend hinzu, und dies mit großem Raffinement. Gibt eine Figur wie der rachedurstige Sultan ihrem Zorn verbaliter Ausdruck, so fügt die Musik im motivischen Rückgriff die Motivation dieses Affekts hinzu: Sie verleiht der Figurenpsychologie Tiefenschärfe. An den Aktanfängen plaziert, übernehmen die melodramatischen Szenen die Funktion der Figurenexposition: Im ersten Akt erlebt man den versklavten Protagonisten Gomatz in Verzweiflung über seine Situation; im zweiten Akt den Sultan Soliman im Zorn über die Flucht der gefangenen Christen. Besonders der Gomatz-Monolog orientiert sich an der Arbeitsweise Bendas: Epische Rückblenden wechseln mit dramatischen Passagen ab, in denen gegenwärtige Empfindungen (die sich aus vergangenen Erlebnissen speisen) in den Vordergrund treten. Die wechselseitige Bezugnahme von Musik und Sprache ist offensichtlich, und es kommt zu intermedialen semantischen Transfers. Erkennbar ist dies daran, daß unabgeschlossene Gedanken und unaufgelöste musikalische Fortschreibungen ineinander verzahnt w e r d e n . I m Vergleich zum Rezitativ (auch zum Akkompagnato-Rezitativ) ist die Lizenz auf ' Vgl. Siegfried Mauser (1986), S. 18. Weder ist der immerhin angekündigte erste A k t erhalten, noch sind weitere Arbeiten Mozarts an >Semiramis< nachzuweisen. Mozart (1962), S. 506. Derlei fügt sich zu der von Komponisten, Librettisten, Musikschriftstellern verschiedentlich formulierten Unzufriedenheit mit dem Rezitativ, das, wie sehr am Text orientien es auch gearbeitet sein mochte, die W ö r t e r eben doch »in der Musick« ausdrückte. (Vgl. die Vorüberlegungen, unter 2.) " Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München 1991, Artikel >Zaide< von Christoph-Hellmut Mahling (S. 291ff.) Das Singspiel ist wohl für Salzburg bestimmt; womöglich ist aber auch an das >Nationalsingspiel< Josephs II. gedacht. A n die Stelle der >Zaide< tritt dann die >Entführung aus dem Seraih. Mauser (1986), S. 20, betont demgegenüber die Selbständigkeit von Mozarts Verfahren: »Eine derartige Technik musikdramatischer Verklammerung hat nicht bei Benda ihr Vorbild, sondern antizipiert bereits Mozartsche Verfahren, die später in den großen Opern bedeutsam werden.«

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dramatische Verweisfunktion der Musik ausgeweitet: G o m a t z ' Leben ist am Tiefpunkt, beinahe scheint er zum Selbstmord bereit, doch etwas häk ihn zurück: Erinnerungen. Zwei überleitende Takte führen in eine t/o/ce-Passage: eine ruhige Achtelbewegung zunächst, die dann auf Abschluß drängt, sich synkopisch beunruhigt, crescendiert, um in resignativer Wendung in eine Seufzerfigur zu münden: N u n spricht Gomatz von der hoffnungsvollen Zeit, als »ein zartes Mädchen« sein Schicksal zu verstehen schien - die den Monolog einleitenden Adagio-Takte werden zitiert, mit dem charakteristischen Motiv eines abwärts geführten Septimsprungs. Die Szene gewinnt im Wechsel von sprachlicher Formulierung und nonverbal-musikalischer Vertiefung ihre dramatische Rundung; unmittelbare affektrhetorische Übersetzungen der ausdeklamierten Empfindungen in die Sprache der Musik verstärken zeitgemäß die Wirkung. H o f f nung und Hoffnungsverlust, Vertrauen und Mißtrauen sind in der Psyche des G o m a t z wie Erinnerung und Gegenwart ineinander verschränkt, und es ist die spezifische Leistung der Verbindung von Sprache und Musik in dieser melodramatischen Szene, sie in ihrer Komplexität zu zeigen." Die zweite melodramatische Szene zeigt sich hingegen weniger selbständig. Sie ist offensichtlicher an den Gegebenheiten des Rezitativs orientiert, als dessen Ersatz sie hier fungiert, und Siegfried Mauser hat deshalb »eine inhaltliche Vorbereitung der nachfolgenden, textlich stark allegorisch gehaltenen Arie« als maßgebliches Gestaltungsmoment ausgemacht (also exakt das, was etwa Reichardt postulierte).''* Freilich bietet diese melodramatische Musik in ihrer hocherregt-kleinteihgen Klangsprache dem Zorn des Soliman eine kongeniale musikalische Folie; es ist ein Zorn, der in seiner affetuosen Wucht geradezu in die Musik auszubrechen scheint. U n d beide melodramatische Szenen erfahren eine sinnfällige dramaturgische Verfugung: H a t sich doch auch Soliman in Zaide verliebt, und kommen doch auch ihm die mühsam verdrängten weicheren Gefühle nun in die Quere. D o c h die Rachegelüste schlagen schließlich durch, und rhythmische Akzentuierung des wiederauflebenden Zorns führt ohne Wechsel der Tonart (D-Dur) in die Arie hinüber, die Figurierungen des Akkompagnements von zuvor aufgreift und sie im Sinne des nun ungehemmt durchschlagenden Affekts umdeutet." Aus dem melodramatisch differenzierten emotionalen Wechselspiel schält sich ein beherrschender Zentralaffekt heraus, der das semantische Material zur Arie bereitstellt. U n d die Arie gewinnt, indem ihre Entstehung ab ovo und im

Die wenigen Überlappungen von Text und Musik spielen dabei nicht die entscheidende Rolle; lediglich an einer Stelle findet sich ein »konturiertes Klanggebilde« (Mauser) unmittelbar dem Text unterlegt, sonst wird allenfalls in liegende Klänge oder Schlußkadenzen hinein gesprochen, it Ebda., S.21 Als es im Melolog heißt: »Schon fast zu weit hatt' ich ihr nachgegeben!«, erscheinen eine spezifische Achtelfigur und dazu in Sechzehnteln rhythmisierte Wechselnoten im Oktavabstand. In der Arie ( » U n d sänkst du mir zu Füßen! D e n H o c h m u t sollst du büßen«) ist dies zu wütenden Oktavfiguren im Baß umgedeutet, die paarig im Abstand einer kleinen Sekund alternieren, während die Achtel in die Oberstimme wandern.

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Detail musikalisch-textlich nachvollziehbar wird, an affektiver Kontur noch hinzu. Zur Ergänzung der These vom Flottieren melodramatischer Technik zwischen den Gattungen sei ein scheinbar unspezifisches Beispiel angefügt: Gegen die Jahrhundertwende vertont Reichardt Gotters beliebte Tew^eji-Adaption Die Geister-Insel als dreiaktiges Singspiel (1796). Neben bühnenmusikalischen Spezialitäten wie einer »Musik von blasenden Instrumenten zur Erscheinung Ariels« enthält es zur Erscheinung der Hexe Sycorax eine ausgedehnte Pantomime, die eine exakt gesteuerte Koordination von Musik und szenischem Verlauf vorsieht. Formalisierte Elemente des Bühnenmelodramas (die Pantomime mit raschem Wechsel musikalischer Charaktere) und Elemente des pantomimischen Szenentyps der (Geister-)Erscheinung im Volkstheater finden hier exemplarisch zusammen.'^ Was die Anfänge melodramatischer Technik in der Oper anlangt, stellt sich die Situation angesichts der problematischen Gattungsdistinktion vergleichsweise unklar dar. U m hier zu präzisen Aussagen zu gelangen, bedürfte es einer operngeschichtlichen Spezialuntersuchung (um die es hier nicht gehen kann) auf breiter Materialbasis. Die panoramatisch angelegte theatergeschichtliche Doppelperspektive, an der diese Arbeit sich ausrichtet, läßt lediglich punktuelle Anmerkungen zu: Die Tragedie lyrique wie auch die Opera comique kennen bereits in den 1780er Jahren den melodramatischen Übergang als Überlappung des gesprochenen Dialogs mit den letzten Takten des Nachspiels bzw. Ritornells von Arie oder Ensemble. (Dieser Dynamisierungsseffekt wird später ein beliebter Kunstgriff der Operettendramaturgie.) Beispiele liegen etwa in Gretrys L'Epreuve villageoise (1784) und Guillaume Teil (1791) vor oder auch in Mehuls Ariodante (1799). In Mehuls Oper Phrosine et Melidor findet sich die umgekehrte Übergangsfolge: Hier leitet im dritten Akt melodramatisches Sprechen zum Rezitativ über. An der chronologischen Scheide zum 19. Jahrhundert ist Cherubinis Le deux journees (1800) angesiedelt. Diese dreiaktige Oper, von Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring neben Mehuls Joseph als beispielhaft für die Opera comique am Beginn der Restaurationsepoche analysiert, enthält drei melodramatische Szenen (Nr. 7, 8, 12). Am Ende der beiden letzten bleibt jeweils die harmonische Fortschreibung unaufgelöst; wie ein Doppelpunkt verhält die Musik vor den anschheßenden Sprechdialogen. Das kompositorische Verfahren der Erinnerungsmotivik schafft auch hier die dramaturgische Verbindung der melodramatischen Technik mit der Textvertonung anderer SzeDie musikgeschichtlich wichtige Position dieser gattungsgeschichtlichen Übertragung hat Siegfried Mauser (1986), S. 23, hervorgehoben; bei Skepsis gegenüber der Adäquatheit des melodramatischen Verfahrens als »Rezitativersatz«. Als >Melodram< bezeichnete pantomimische Szenen oder Passagen finden sich in der Oper des 19. Jahrhunderts wieder, beispielsweise in Aubers >Maurer und Schlosser (Le Mason)< (1825). Auch der prototypische >Ariadne-Slurm< seinen Abdruck hinterlassen: »Unter Blitz und Donner stürzt sich Caliban ins Meer«.

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nen.'® Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entsteht dann im Bereich der Oper eine Vielzahl melodramatischer Szenengestaltungen, darunter so berühmte wie die Kerkerszene in Fidelio oder die Wolfsschlucht im Freischütz.^'' Exkurs: Theoretischer Zwischenertrag Im einzelnen die Elemente der Uberschneidung und Berührung von Sparten und Gattungen im späteren 18. Jahrhundert zu analysieren oder auch nur nachzuvollziehen, ist hier weder möglich noch nötig.^° Doch zeichnet sich ab, daß präzise die musikalische Ausstattung der verschiedenen Theaterformen Grenzziehungen zwischen den Sparten erschwert. Fragt man nach einer verbindenden Nahtstelle, so findet man sie in melodramatischer Szene und melodramatischer Technik: Als gemeinsame Bestandteile von Singspiel, Oper, Schauspiel formen sie eine Schnittmenge spartenübergreifender Konvergenz. Und auch das melodramatische Sprechen auf dem Theater schafft Übergänge, indem es Grenzen verwischt: Wird es als ästhetisches Scharnier zwischen gesprochenen Dialog und musikalische Gesangsnummer plaziert, so vermittelt es durch die zur gesprochenen Sprache hinzutretende Musik. Geht es einher mit einer musikalisierten sprechsprachlichen Deklamation, und gibt es ihr womöglich weitere und exaktere musikalische Parameter vor (Rhythmisierung, Festlegung von Tonhöhen), so sorgt es für eine weitgehende klangästhetische Verfugung von gesprochener und gesungener Sprache. Wie der Gesang bereits ins gattungsmäßig gelockerte Melodrama Eingang findet, so lockern melodramatische Szene und melodramatische Technik wie auch der Stimmklang des musikalisierten Sprechens Formen des musikalischen Theaters. Das vermeintlich primäre Distinktionskriterium für die Unterscheidung von »Musiktheater« und »Sprechtheater«, nämlich die Verwendung von Musik, läßt sich in der pauschalen Formulierung nicht halten, da die Verwendung von Musik in Sprechstücken des Schauspiels historisch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein eine (mal mehr, mal weniger geliebte) Praxis war. Und das zweite scheinbar elementare Kriterium, die distinkte Verwendung der Stimme, ist ohnehin problematisch genug: Wenigstens das Singspiel, die Opera buffa, die Volkstheatertradition sind suh Speele vocis auf Anhieb als genera mixta zu erkennen: Hier wird sowohl gesprochen als auch gesungen. Gesangseinlagen Döhring und Henze-Döhring (1997), S. 70: »Als Mikeli mit seinem Wasserkarren, in dem Armand versteckt ist, ans Stadttor kommt und Constance und Antonio in Gefahr sieht, von Soldaten in der Stadt zurückgehalten zu werden, signalisiert das fragmentarische Zitat von >Guide me pas< als melodramatische Untermalung seines Dialogs mit Constance Mikelis verborgene Gefühle in ihrer Mischung aus Angst und Gottvertrauen.« Die Autoren kommentieren: »Entsprach eine solcherart differenzierte Motivtechnik in dramatischer Hinsicht durchaus dem zeitgenössischen Standard der Opera comique, so bedeutete ihre Beziehung auf einen werkimmanenten Ideenkontext allerdings ein gattungsgeschichtliches Novum.« (Ebda., S. 71) Siehe im einzelnen das historische Anschlußkapitel zu melodramatischen Formen im 19. Jahrhundert. Vgl. zur Situation im deutschsprachigen Theater detailliert Jörg Krämer (1998), passim.

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finden sich auch im ernsten Sprechdrama genug; und das Eindringen der Sprechstimme in die Oper qua Melodram führt die großen Theatersparten gerade an Jenem Punkt zur punktuellen Konvergenz, an dem sie noch am striktesten unterschieden scheinen. Schließlich: Die Unterscheidung von Sing- und Sprechstimme (von »Gesang« und »Deklamation«) ist historisch weitaus diffiziler, der ästhetische Schnitt zwischen beiden durchaus weniger klar gezogen, als eine Hörgewohnheit es vermuten ließe, der die technische Verstärkung und dadurch die klangliche Verknappung der Sprechstimme durch die Möglichkeiten der Mikrofontechnik längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

3.

Melodramatische Passage und melodramatische Szene im Dramentext (Schiller und Goethe)

Gleichgültig, ob man der hier vorgeschlagenen Hypothese folgen möchte, spezifische musikalische Elemente in Shakespeares Dramen als Symptome melodramatischer Praxis avant la lettre zu deuten: Spätestens im 18. Jahrhundert dringt die melodramatische Szenengestaltung zweifellos auf die konzeptionelle Ebene des schriftlichen dramatischen Entwurfs vor. Und es sind nicht zufällig die späteren Weimarer Dioskuren, an deren dramatischen Arbeiten sich dies bereits früh zeigt. Zu fragen wäre einleitend anhand von Schillers Räubern, ob eine auf Pathoswirkungen abstellende Rhetorik die Mittel nicht allein der Deklamationsstimme, sondern dazu der ins Schauspiel kalkuliert integrierten Musik nicht geradezu herausforderte. Im Jahre 1785 konstatiert Schiller in Über das gegenwärtige teutsche Theater: »Deklamation ist immer die erste Klippe, woran unsere mehreste Schauspieler scheitern gehen, und Deklamation wirkt immer zwei Dritteile der ganzen Illusion. Der Weg des Ohres ist der gangbarste und nächste zu unsern Herzen. - Musik hat den rauhen Eroberer Bagdads bezwungen, wo Mengs und Correggio alle Malerkraft vergebens erschöpft hätten.«^' In den stürmischen Räubern (anonym zuerst 1781) sind die Postulate auf stimmlichkörperliches Pathos im Nebentext Legion, und allein schon die Vielzahl derartiger Anweisungen für die Deklamation kann Signifikanz beanspruchen. »Auffahrend« äußert sich der alte Moor (S. 13),^^ dann aber wiederum auch »zärtlich« (S. 15); »auf den Boden stampfend« (S. 20) bringt Karl seine Flüche vor; Spiegelberg wiederum reagiert »hitzig« und »sich vorn Kopf schlagend«, dann noch 21 Schiller (1962), S. 817. Gemessen am klassischen Augenzeugenbericht von der Uraufführung 1782 in Mannheim, hat das deklamatorische Pathos der >Räuber< eine exzeptionelle pathetische Wirkung zustande gebracht: »Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Thüre.« Zitate nach den Seitenzahlen der Einzelausgabe, Stuttgart (1969), auf Basis der >Sämtlichen Werke« (hrsg. v. Fricke und Göpfert), Bd. 1, München ''1965 152

»hitziger« (S. 24); »mit beschwörendem Ton« versucht er seine Freunde zum Leben im Wald zu überreden^'; »giftig« geht er den zögerhchen Roller an (S. 30).^'' Nach all den deklamatorischen Exaltationen wirkt die Szene II, 2 in des alten Moor Schlafzimmer wie eine stille Insel, auf die das Gewitter sich erst zubewegt. »Schwärmend« spricht Amalia hier von der Süße des Todes, der »von dem Gesang des Geliebten« begleitet wird. Sie geht ans Klavier und - singt? rezitiert? - »spielt« jedenfalls zum Lied: »Willst dich, Hektor, ewig mir entreißen...« (S. 47). Der alte Moor lobt es und bittet, sie möge es ihm vor seinem Tod erneut »vorspielen«. Zweimal vermerkt der Nebentext: sie »spielt fort« (nicht: singt fort). Immerhin plausibel wäre, daß hier in der Tat nicht an Gesang, sondern an lyrisch-melodramatische Rezitation gedacht ist.^' Daß in Schillers Dramen die gesellschaftlich privilegierte Stellung von dramatis personae mitunter an deren musikalischer Praxis manifest wird, zeigt Kabale und Liebe (1784). Der Lady Milford ist es vorbehalten, im »reizenden Neglige« zum Beginn des zweiten Aktes am Flügel zu phantasieren; die Klänge ihres Spiels überlappen sich offenbar mit dem Beginn des Dialogs. Es ergibt sich ein melodramatischer Effekt im technischen Sinn der momentanen Synchronizität von Sprache und Musik. Ähnlich in Dom Karlos. Infant von Spanien (1787): In der Szene 11,7 und zu Beginn der Szene 11,8 sieht man die Eboli in ihr Lautenspiel (scheinbar) versunken, und auch hier ist an eine beiläufige Überlappung mit dem gesprochenen Szenenbeginn zu denken. In der romantischen Tragödie Die Jungfrau von Orleans (1801) wird die melodramatische Gestaltung dann offensichtlich. Der große Johanna-Monolog im vierten Akt des Dramas ist gelegentlich wie ein »Rezitativ zu den weichen Klängen hinter der Szene« empfunden worden.^' In dieser Szene, der ersten des vierten Akts, ist die Musik, wiewohl szenisch außerhalb des Monologs motiviert, erkennbar auf dessen Aufbau abgestimmt: Johanna reagiert auf Veränderungen des musikalischen Duktus (die bei Licht betrachtet keinem anderen Zweck dienen, als diese Reaktionen auszulösen). Sie ist allein im festlich geschmückten Saal - »hinter der Szene Flöten und Hoboen«. Während alle Welt 23 «Wenn noch ein Tropfen deutschen Heldenbluts in euren Adern rinnt (S.27)

kommt!«

In dieser A n geht es weiter: Karl M o o r stößt »in wilder Bewegung« und »heftig« aufund niedergehend sein »Menschen! falsche, heuchlerische Krokodilbrut!« heraus (S. 31). Amalia zeigt sich »bewegt«, dann »auffahrend«, dann »aufgebracht«, dann »heftig« in kürzester Folge (S. 35). Franz, anfangs beherrscht, verliert die Contenance; »mit den Füßen stampfend« droht er ihr. Im zweiten Akt flucht Hermann »wild«, »stampft auf den Boden« (S. 43), beteuert seine Treue zu Franz »in Hitze« (S. 44). 25 Ausdrücklich gesungen wird später auch, z. B. in der folgenden Räuberszene im Wald. Allerdings läßt der Wortlaut des Dramas noch an einigen musikalischen Stellen die Lizenz zum melodramatischen Vortrag prinzipiell offen. 2^ Vgl. Schmidt-Garre (1979), S. 90. D e r Hinweis auf eine gewisse Parallelität zum Rezitativ, versteht man ihn nicht im Sinne einer funktionalen Analogie zu den Formteilen der Oper, geht nicht fehl, denn der Idee nach befördert das melodramatische Sprechen den Text in einer F o r m , die, wie das Rezitativ, den Eigenheiten der Prosodie Rechnung trägt.

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die Waffenruhe feiert, ist sie unruhig mit sich selbst beschäftigt, hat sie doch ihr Gelübde gebrochen und einen Engländer im Kampf verschont. Statt am allgemeinen Glück teilzuhaben, ist ihr »das Herz verwandelt und gewendet«, zu Lionel nämlich, zum Feind, »Ins brit'sche Lager hingewendet«. (S. 86)^^ Sie versucht, sich gegen ihr Gefühl zu wehren, jedoch: »Die Musik hinter der Szene geht in eine weiche, schmelzende Melodie über.« Und ihr ohnehin geöffnetes Herz reagiert mit Empfindung auf musikalischen Schmelz: »Wehe! Weh mir! Welche Töne!/ Wie verführen sie mein Ohr!/ Jeder ruft mir seine Stimme,/ Zaubert mir sein Bild hervor! [...] Diese Stimmen, diese Töne,/ Wie umstricken sie mein Herz,/ Jede Kraft in meinem Busen/ Lösen sie in weichem Sehnen,/ Schmelzen sie in Wehmuts-Tränen!« (S. 87) Nochmals strukturiert die Musik: »Die Flöten wiederholen, sie versinkt in eine stille Wehmut.« (S. 88) Ihr Kriegerinnendasein ist Johanna durch das Lionel-Erlebnis fremd geworden; die musikalisch aufgelöste Stimmung bringt es ihr zum Bewußtsein.^® Der stimmliche Grenzgang im Bereich der gehobenen Deklamation fordert eine Entscheidung besonderer Art heraus, als die Realisierung der Chöre in der Braut von Messina (UA 1803) ansteht. Hier geht es in der Tat um den Versuch einer Aktualisierung der antiken Tragödie, und insofern steht die Deklamationspraxis prinzipiell zur Diskussion. Der Chor soll, wie Schiller im Aufsatz im Aufsatz Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie schrieb, gegen den »Naturalismus in der Kunst« als eine »lebendige Mauer« wirken, »die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen«.^' Einerseits ist er das Element an der Tragödie, das Reflexion und Handlung sondert, indem es der Reflexion eine von den handelnden dramatis personae abgelöste Repräsentanz (als »ideale Person«) schafft. Ihrer erforderlichen Wirkung halber muß andererseits die Reflexion, »was ihr an sinnlichem Leben fehlt, durch den Vortrag wieder gewinnen«.'" Aus dieser Dialektik von illusionsbrechender Distanzierung und ihrer dramatisch-theatralischen Versinnlichung schienen sich die Bedingungen der inszenatorischen Umsetzung zu ergeben: D e r C h o r verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten [...]. Aber er tut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht - und er tut es von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.''

Zitate nach der Einzelausgabe auf Basis der Säkularausgabe in sechzehn Bänden, Stuttgart 1983 28 Bernhard Anselm Weber hat eine melodramatische Komposition zu diesem Monolog verfaßt, die sich auch als Konzertmelodram großer Beliebtheit erfreute. Vgl. SchwarzDanuser (1997), Sp. 81 29 Schiller: Ü b e r den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: Ders. (1996), S. 10 30 Ebda., S. 12 31 Ebda., S. 13

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Schiller leitet so aus der Anwesenheit des Chors im Drama die Notwendigkeit ab, das Personal des Dramas insgesamt deklamatorisch »auf den Kothurn zu stellen«, und fordert ein exorbitantes deklamatorisches Pathos ein: »Nur der Chor berechtiget den tragischen Dichter zu dieser Erhebung des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das ganze Gemüt erweitert.«'^ Deklamationsgeschichtlich betrachtet, erweist sich Die Braut von Messina als der theoretisch konsequente Versuch, ein deklamatorisches genus grande für die Bühne zurückzugewinnen, indem die Regeneration der antiken Tragödie unter den Bedingungen Schillerscher Ästhetik den hohen Ton zwingend in die absolute Wirklichkeit des Dramas zurückbringe. Die praktische Ausführung verursacht allerdings Schwierigkeiten. Am 24. Februar 1803, knapp einen Monat vor der Uraufführung, schreibt Schiller an Iffland: »Die Darstellung wird nicht schwer seyn, da die Reden des Chors nicht mit Musik begleitet werden, ein etwas feierlicherer und pathetischerer Vortrag der lyrischen Stellen [...] möchte das wesentlichste seyn.«^' Doch die Realisierung läßt zu wünschen übrig. In einem Brief an Cotta vom 13. März 1803 teilt Schiller dann mit, er habe den Chor »in specifische Personen aufgelößt« und sie mit Namen versehen. Dadurch wird eine individuelle Zuteilung einzelner Parts möglich, doch nach wie vor ohne Musik: »Die Reden werden bloß mit einer pathetischen Declamation recitiert, nicht gesungen noch mit Musik begleitet.«'"' Der Widerspruch zum oben zitierten Postulat, wonach der Chor »von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet« zu agieren habe, wird sich daraus erklären lassen, daß die Abhandlung Uber den Gebrauch des Chors in der Tragödie erst im Mai und Juni 1803, also nach der Uraufführung entsteht.'^ "Wilhelm Teil beginnt mit Musik: »Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut der Herdenglocken, welches sich auch bei eröffneter Szene noch eine Zeitlang fortsetzt.« (S. 5)'^ Der Fischerknabe im Kahn auf dem Vierwaldstättersee nimmt die Melodie des Kuhreihens auf, der Hirt vom Berg und später der Alpenjäger variieren sie. So wird die Schweizerwelt einleitend vorgestellt;'^ und so wird sie, als eine Welt der gewon32 Ebda. Zitiert nach Matthias Luserke: Nachwort zu >Die Braut von Messina.< In: Schiller (1996), S . 1 5 9 3't Zitien nach ebda., S. 162 Spätere Vertonungsversuche wie der von Constanz Berneker haben in einer Mischung von deklamierten, melodramatischen und gesungenen Chor- wie Dialogpassagen einen Ausweg gesucht. Chorgesänge aus Schillers Braut von Messina. Für Männerchor, Soli und Orchester. Komponiert von Constanz Berneker. Gesellschaft zur Verbreitung der Werke Constanz Bernekers, o. O., o. J. [Bleistifthandschrift auf dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München 2 Mus.pr. 6438: »Bayreuth, Giessel jr. (1910)«] Zitate nach der Einzelausgabe auf Basis der Säkular-Ausgabe in sechzehn Bänden, Stuttgart (1981) Das Lied spricht davon, daß dem am grünen Gestade schlafenden Knaben unversehens die »Wasser [...] um die Brust« spülen; daß es im Lande nicht so harmonisch zu geht,

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nenen Freiheit, am Ende des dramatischen Prozesses nochmals gezeigt: In pantomimischer Umarmung wird Teil, der »Schütz und Erretter«, gefeiert (S. Ulf.): »Die Musik vom Berge begleitet diese stumme Szene.« Die Absolutheit des Dramas (Peter Szondi) ist durch die musikalische Rahmung verbürgt: »Indem die Musik von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang.« (S. 112) Derlei gehörte indessen kaum hierher, fände sich nicht im Drama selbst an zwei signifikanten Positionen weitere Musik. Die dramaturgisch-inhaltlich zentrale Stellung der großen Schwurszene (11,2) wird zum Ende durch die Verbindung von Musik und charakteristischem Landschaftsbild bekräftigt.'® Und ein weiteres Mal erfährt die schweizerische Freiheitsliebe musikalische Affirmation: Die dritte Szene des vierten Akts zeigt Teil in der hohlen Gasse bei Küßnacht. Sein Entschluß, den Landvogt zu töten, steht fest; da wird von fern »eine heitre Musik, welche sich nähert«, hörbar. Sie kommt vom Hochzeitszug, der sich im Hintergrund zeigt, und sie grundiert später die gewaltsamen Vorgänge auf der Szene, als die verzweifelte Armgard sich mit ihren Kindern vor dem Pferd Geßlers niederwirft: »Man hört die vorige Musik wieder auf der Höhe des Wegs, aber gedämpft.« (S. 93) Der gesprochene Dialog wird unterdessen fortgesetzt und spitzt den melodramatisch erzeugten Kontrasteffekt signifikant zu: Während die musikalische Bekundung der Eheschließung vom unprätentiösen Glücksverlangen des Volkes zeugt, verkündet im Vordergrund der Landvogt, er wolle den »kekken Geist der Freiheit« vollends beugen (S. 94). In diesem Moment trifft ihn von der Höhe Teils, des Freiheitsrepräsentanten, Geschoß; Teil gibt sich auf der Höhe zu erkennen, das Volk stürzt herbei, und all dies unter andauernder Hochzeitsmusik: »Indem die vordersten von dem Brautzug auf die Szene kommen, sind die hintersten noch auf der Höhe und die Musik geht fort.« (S. 94) Die kontrastierenden Momente werden nun verbaliter, und explizit in ihrer Unvereinbarkeit, einander konfrontiert: »Rast dieses Volk«, ruft Geßlers Stallmeister, »Daß es dem Mord Musik macht? Laßt sie schweigen.« Das Bild klärt sich zur Eindeutigkeit: »Die Musik bricht plötzlich ab« (S. 95). Still wird das Volk Zeuge, wie Geßler stirbt. Am Ende auch dieser Schlüsselszene aber ist Musik: Barmherzige Brüder verabschieden den toten Tyrannen mit ernstem Choralgesang. (S.96) Die Grenzen zwischen szenisch motivierter Schauspielmusik oder Inzidenzmusik und ästhetisch suggestiver melodramatischer Gestaltung können, wie sich zeigt, fließend sein. Doch hat hier die Rede von melodramatischer Gestaltung jedenfalls ihren Sinn: Kennt das monodramatische Melodrama die Möglichkeit, dem verbalen Empfindungsausdruck musikalisch komplexe Tiefenschärfe zu verleihen, etwa durch den entsprechenden Einsatz von Erinnerungsmotiven,

wie es sollte, symbolisiert überdies das in der ersten Szene schon losbrechende G e witter. 38 «Indem sie zu drei verschiedenen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen.« (S. 51) 156

und wirkt es in diesem Sinne in den betreffenden Passagen gerade nicht tautologisch-illustrativ, so ist die Modifikation solchen Verfahrens hin zur offenen Kontrastbildung (wie in der Geßler-Szene) ebenfalls denkbar und dramaturgisch evident wirkungsvoll. Wieweit sich bei alldem der Stimmklang ästhetisch der (je erst hinzu zu komponierenden) Musik angleicht, ist abstrakt nicht zu entscheiden; im speziellen Fall der Geßler-Szene wird man indessen davon ausgehen müssen, daß sich, im Sinne der dramatischen Funktion der Musik, eine ästhetische Angleichungsbeziehung gar nicht herstellen dürfte. Schlagendere Belege für dezidiert melodramatische Szenengestaltungen bieten Dramen Goethes. Bereits in Clavigo (1774) finden sich Ansätze melodramatischer Struktur. Benedikt Holtbernd hat sie als solche kenntlich gemacht (jedoch nicht den chronologisch interessanten Konnex zur Gattungsentwicklung des Melodramas hergestellt) und den Gedanken formuliert, daß in den melodramatischen Schlußszenen einiger Dramen Goethes »das eigentliche Kategorisierungsmerkmal, daß im Schauspiel gesprochen, im Singspiel gesungen wird, durch das Melodram aufgehoben ist«.^' Dem wäre die banale Feststellung entgegenzuhalten, daß weder im Singspiel ausschließlich gesungen noch im Schauspiel ausschließlich gesprochen wird; das Singspiel kennt gesprochenen Dialog, das Schauspiel die Liedeinlage. Doch läßt sich die Beobachtung dahingehend bestätigen, daß in der Tat die melodramatische Szene als ästhetisches und gattungssystematisches Scharnier fungiert. (Wenn Holtbernd es für fraglich hält, ob aus wenigen Goetheschen Schauspielen »eine allgemeine Regel abgeleitet werden kann«, so kann man angesichts der Fülle von Theaterphänomenen des 18. Jahrhunderts, deren Zuordnung zu Musik- oder Schauspieltheater schwankend, wenn nicht unmöglich ist, die These in der modifizierten Form durchaus aufrechterhalten.) Im fünften Akt von Clavigo bricht der Titelheld in monologische Klage um Marie aus: »Es ergreift mich mit allem Schauer der Nacht das Gefühl: sie ist tot!«'*" Hatte er früher »durch eben diese Straße mit Saitenspiel und Gesang in goldnen Phantasieen hinschweben« dürfen, so hört er jetzt den »Grabgesang« voraus. Nach verzweifelten Exklamationen (»Marie! Marie« nimm mich mit dir! nimm mich mit dir!«) verlangt der Nebentext: »Eine traurige Musik tönt einige Laute von innen.« (S. 303) Für Clavigo ist es das Signal, daß die Leichenträger ihren Weg zum Grab beginnen. Er will ins Haus, um sie daran zu hindern, schreckt dann aber zurück, aus Angst davor, denen unter die Augen zu treten, die ihn für Maries Tod verantwortlich machen müßten. Das handlungshemmende psychische Wechselbad ist, wenn auch Teil des Schlußaktes eines fünfaktigen Dramas, von monodramatischem Gepräge. Während Clavigo zaudert, beginnt aufs neue die Musik. Zwar hat sie, als Einstimmung auf den Leichenzug, eine evidente dramaturgische Funktion. Aber die Subjektivität von Wahrneh39 Benedikt Holtbernd (1992), S. 141 ••0 H A , Bd. 4, S. 303. Die Seitenzahlen im laufenden Text nach dieser Ausgabe.

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mung und Empfindung dieses Dramenhelden der 1770er Jahre filtert andere Klänge aus und treibt die Verzweiflung auf die Spitze: »Sie ruft mir! sie ruft mir! Ich komme! - Welche Angst umgibt mich! Welches Beben hält mich zurück!« (S. 304)'" Und für den Fortgang der Szene ergibt sich eine melodramatische Unterlegung, deren Ende offen bleibt: »Die Musik fängt zum dritten Male an und fährt fort. Die Fackeln bewegen sich vor der Tür, es treten noch drei andere zu ihnen, die sich in Ordnung reihen, um den Leichenzug einzufassen, der aus dem Hause kommt.« (S. 304) Das monodramatische Einschiebsel endet, von nun an beschleunigen sich die Dinge zum rasanten Finale: Clavigos Handlungsunfähigkeit wird durch die Handlung selbst suspendiert; die Leichenträger mit dem Sarg Maries treten aus dem Haus, und er versucht, sie aufzuhalten. Unversehens kommt Beaumarchais hinzu, begreift, daß Marie tot ist, verliert im Entsetzen das Bewußtsein, erholt sich aber, zieht den Degen und trifft Clavigo tödlich.« Sieht man von Shakespeare, Mendelssohn und der Sommernachtstraum-Mnsik ab, so hat Goethes Egmont vielleicht die erfolgreichste Verbindung eines dramatischen Klassikers mit einer zeitüberdauernden Schauspielmusik provoziert (wenn sich die Prominenz der Kompositionen auch auf Ausschnitte beschränkt In Egmont liegt, wie mir scheint, der Fall vor, daß Musik konstitutiv wird für mögliche Deutungen des Dramenganzen. Und dafür stehen weniger die bekannten Lieder Klärchens als der umstrittene melodramatische Schluß des 1775 begonnenen, 1787 abgeschlossenen Dramas.'*'' Zum Ende der vorletzten Szene des fünften Akts gewinnt die Musik als dramatisches Konstituens Kontur. Klärchen, die weiß, daß Egmont sterben wird, trinkt Gift, um sich zu töten; Brackenburg, der dies miterlebt, geht daraufhin ab. Dann heißt es: »Eine Musik, Klärchens Tod bezeichnend, beginnt; die Lampe, welche Brackenburg auszulöschen vergessen, flammt noch einigemal

••1 «Gerade durch diese spezifische Kombination von Sprache und Musik im Melodrama«, kommentiert Hohbernd (1992), S. 143, plausibel, »wird die Differenz zwischen Realität und Scheinwelt des Helden deutlich, ohne daß aber seine Wahrnehmungsweise lächerlich würde.« Hohbernd hat in der musikalischen Aufbereitung dieser abschließenden Szene gar eine Analogie zum lieto fine der O p e r ausgemacht, mit der Begründung: »Sowohl Clavigo als auch E g m o n t werden im eigenen Tod erlöst.« (Ebda., S. 141) Mittels verbindender, den Sinnzusammenhang herstellender Zwischentexte sind allerdings schon früh auch komplette Schauspielmusiken konzerttauglich gemacht worden. Der Meininger Konsistorialrat und Schriftsteller Friedrich Mosengeil etwa bearbeitete Beethovens >EgmontEgmontFausts Monolog« in W A I, 14, S.321 Wolfgang Schimpf (1987), S. 348 und ähnlich in der gedruckten Fassung seiner Dissertation, vgl. Schimpf (1988). 50 Ebda., S. 348 51 Den nachgereichten Versen merkt man allerdings an, daß sie, ganz im Unterschied zur >FaustEntführung aus dem Seraih schlug alles nieder«. Während Goethes Direktion werden am Weimarer Hoftheater über 300raal Werke Mozarts gespielt. Beste, nach Quelleneinsicht zu bekräftigende Darstellung der in erster Fassung (1773) noch nicht enthaltenen melodramatischen Szene bei Schimpf (1988), S. 69f. Kompositionsdaten waren nicht sicher zu ermitteln. Nach MGG (1989), Bd. 12, Sp.249 komponiert 1 7 8 3 - 8 6 . (Aufgeführt 1785 in Rheinsberg und 1786 im Corsicaschen Konzertsaal in Berlin mit hinzukomponierten Zwischenaktmusiken.) Theater-Zeitung für Deutschland 1798, S. 201 [Zitiert nach Franz Mirow (1927), S. 127] Schwarz-Danuser (1997), Sp. 81

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- ein Pendant zu den Ouvertüren und Liedern, die sich, Bestandteile von Schauspielmusiken, unabhängig vom dramatischen Zusammenhang im Konzertsaal behaupten können. Besonders Szenen mit metaphysischer Konnotation und solche, in denen das Unheimliche Thema wird, sind seit dem späten 18. Jahrhundert und bleiben im 19. Jahrhundert prädestiniert für melodramatische Gestaltungen. So bieten sich die Hexenszenen aus Macbeth, schon wegen ihrer Gewitteratmosphäre (1,1, 1,3, 111,5, IV,1), melodramatischem Zugriff an.'^ (Melodramatische Gewitterszenen in Schauspielmusik lassen sich unmittelbar aus der Gattungskonstitution des Melodramas ableiten: Seit Ariadne und Medea ist ein Gewitter nahezu obligatorischer Bestandteil der Gattung.) Reichardt komponiert Einige Hexenscenen aus Schackespear's Macbeth (1787); sie verlangen von der menschlichen Stimme einen Grenzgang besonderer Art: Zu den drei Hexen dacht' ich mir drei starke, durchdringende Weiberstiraraen, die sich durchschreien könnten, durch das immerwährende Tosen und Toben des Orchesters, das die Unholde unaufhörlich umgibt, wie Sausen und Brausen des Sturmes und Rasseln und Prasseln des Donners, mit Heulen und Wimmern unseliger Geisterstimmen in den Lüften darüber.^'

Ein weiteres Beispiel für melodramatische Hexenszenen liegt etwa vor in der Macbeth-Mnsik des Theaterkapellmeisters und Komponisten Johann Gallus Mederitsch, die 1796 am Wiednertheater in Wien gespielt wird.^^ Die schauspielmusikalische Adaption der melodramatischen Technik bleibt insgesamt keineswegs eng auf bestimmte Szenentypen beschränkt. Das folgende Kapitel wird Gelegenheit bieten, dies genauer darzustellen, vor allem auch solche Schauspielmusiken in Einzelanalysen zu präsentieren, die bereits am Notenbild Zusammenhänge mit der Sprechstilistik des 19. Jahrhunderts zu erkennen geben.

^^ Zum Ende der Szene 111,5 ist schon im Dramentext Gesang hinter der Szene gefordert. Die Erscheinungen in IV,1 mögen ähnliche musikalische Behandlung provoziert haben wie entsprechende Szenen der Volkstheater- und Singspieltradition. Zitiert nach Adolf A b e r (1926), S. 57 68 Mederitsch schreibt neben weiteren Schauspielmusiken u. a. auch Entr'actes und C h ö re zu Shakespeares >Sturm< und >Hamlet.< U m die Jahrhundertwende ist er Klavierlehrer Franz Grillparzers, in dessen Dramatik und Librettistik sich ebenfalls melodramatische Monologszenen finden werden.

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IV. Sprechton und Tonkunst: Melodramatische Formen und melodramatische Stimmdramaturgie im 19. Jahrhundert

A.

SCHAUSPIELMUSIK

1.

Schauspielmusik in der ersten Jahrhunderthälfte

1.1. Schauspielmusik und melodramatische Szene Das seit Scheibe und Lessing eingeführte Postulat, Schauspielmusik habe inhaltlich aufs Drama abgestimmt zu sein, findet zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend Beachtung in der Debatte, und der Dissens zwischen Scheibe und Lessing hinsichtlich des vor- bzw. nachbereitenden Charakters von Zwischenaktmusik liefert den Autoren dabei eine Folie zur Stellungnahme.' Wie weitgehend die Praxis in der Breite und auf Dauer den Manifestationen reformerischen Ehrgeizes entspricht, muß allerdings fraglich bleiben. (Der Umstand, daß »zahlreiche Theoretiker und Musiker um die Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend die Vorzüge einer Abschaffung der Zwischenaktmusik erörtern«,^ deutet auf eine seit langem fortschwelende Krise schauspielmusikalischer Praxis hin.) Sicher ist, daß Schauspielmusik, sei sie im Einzelfall nach inhaltlichen Kriterien gewählt oder nicht, zu Anfang des Jahrhunderts selbstverständlicher Bestandteil des Theaterabends ist, und fest steht, daß die melodramatische Szene oder Episode in ihr prinzipiell, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall, ihren Platz hat. Melodramatische Szenen (im Rahmen von Schauspielmusiken als Nummern bezeichnet) finden sich zum Beispiel in Beethovens Musiken zu Kotzebues Vorspiel König Stephan oder Ungarns erster Wohltäter und zum Nachspiel Die Ruinen von Athen, beide komponiert zur Eröffnung des Deutschen Theaters in Pest 1812 (die Ruinen-Musik übernimmt Beethoven dann für Carl Meisls Festspiel Die Weihe des Hauses zur Eröffnung des Josephstädter Theaters 1824); ebenso in Beethovens Musik zu Dunckers Leonore Prohaska (1815). Bevorzugt handelt es sich bei melodramatischer Schauspielmusik jener Jahre (die darin dem Einfluß des Bühnenmelodramas verpflichtet bleibt) um die selbständige Monologszene, und mit ihr (und ihrer musikalischen Überhöhung) zugleich um einen

1 Hinweise bei Hedwig Meier (1999), S. 80f. Verglichen mit den allgemeinen musikästhetischen und theatertheoretischen Debatten, und verglichen selbst mit dem speziellen Feld der Deklamationstheorie, bleibt der schauspielmusikalische Diskurs allerdings rudimentär. 2 Ebda., S. 84

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expressiven Höhepunkt, der mitunter die Gestalt einer mehr oder weniger kuhnarisch zu rezipierenden klangvirtuosen Sprecharie angenommen haben muß.' Einen Sonderfall im Rahmen dieser Vorgaben stellt zweifellos die Schauspielmusik zu Egmont (1810) dar, die von musikwissenschaftlicher Seite als »Paradigma der Schauspielmusik schlechthin« bezeichnet worden ist."* In Egmont ist die Musik, nach der oben ausgeführten Interpretation, konstitutiver Bestandteil des Dramas als Ganzen; zudem wird hier der Monolog zur visionären Traumszene erweitert. E. T. A. Hoffmann rezensiert Beethovens Komposition, und dies, bei all seiner Beethoven-Verehrung, durchaus nicht in blinder Begeisterung. Die Vertonungen der Lieder Klärchens hält er wegen der »Mitwirkung des Orchesters« für unverhältnismäßig kunstvoll.' Der melodramatische Schluß hingegegen findet seine uneingeschränkte Zustimmung,^ und auch die abschließende Siegessymphonie begrüßt er als ganz »in dem Sinne des Dichters«. Daß hier der Wirkungsbereich der Schauspielmusik ansatzweise mit der frühromantischen Gedankenfigur von einer selbst poetischen Musik erfaßt wird, daß sie also ihrer von Lessing postulierten strengen Abhängigkeit von der Textsemantik interpretatorisch enthoben ist, zeigt sich deutlicher noch als bei Hoffmann bei Ludwig Tieck. Tieck plädiert für abschließende Symphonien statt der Ouvertüren, für exklusive poetische Nachbereitung und Fortspinnung statt einstimmender Vorbereitung. Die Musik in Egmont versteht er »als Erklärung, als Vollendung des Ganzen«. Deshalb sieht er für einen Komponisten, der Musik als selbständige (wo nicht schon autonome) Kunst zu begreifen vermag, mit der Siegessymphonie eine ideale Aufgabe vorliegen, denn hier könne der Musiker »den Dichter auf die würdigste Art begleiten«.^ (Der intentionale Gleichklang der Künste unter dem Signum der Poesie und im Sinne des Dramas wäre in der Tat geeignet, das von Schiller monierte Manko an Leidenschaft, Verwicklung, dramatischem Plan in Egmont aufzuheben.) Franz Liszt wiederum deutet später die £gmow£-Musik in seinem Sinne als Schritt auf dem Wege zu jener alliance plus intime von Musik und Poesie, die sein Credo ist, und proklamiert: »Wir sehen hier eines der ersten Beispiele moderner Zeiten, daß ein großer Tonkünstler unmittelbar aus dem Werk eines großen Dichters seine Begeisterung 3 Verwiesen sei nochmals auf Bernhard Anselm Webers Musik zur Monologszene IV,1 aus Schillers J u n g f r a u von OrIeansBerlioz und seine Harold-SymphonieVerdikt< entgegenschleudern wird (s. u.), in jungen Jahren melodramatisch experimentiert, mag abgesehen vom erheblichen Zeitabstand und abgesehen vom Umstand, daß Wagner Anfang der 1830er Jahre nicht über ein eigenständiges ästhetisches Konzept verfügt, auch daraus zu erklären sein, daß Schauspielmusik als Experimentierfeld begriffen wird, auf dem jenseits kanonischer Gattungsformeln unverbindlich Neuformulierungen zu erproben sind. 1.2. Rhythmisierte Deklamation und melodramatischer Polylog: Webers Musik zu Wolffs Preciosa Ob seine Sappho-Muslk authentisch ist, ob nicht - Carl Maria von Weber gehört zur Reihe prominenter Komponisten, die Schauspielmusiken nicht ausschließlich als lästige Routineaufgaben betrachten. In seine Musik zu Müllners Trauerspiel König Yngurd (1817) integriert er ein (unbegleitetes) Wiegenlied, Vgl. den Abdruck bei Draheim (1987), S. 180. Draheim weist außerdem drei weitere Schauspielmusiken zu >SapphoOde der Sappho< später als Klaviermelodram (posthum erschienen 1922). Und mit einer an Webers Modell angelehnten Musik existiert eine historische Tonaufnahme der Szene mit Hedwig Bleibtreu, die in der Tat einen »parlanten, rezitierenden Gesang« praktiziert (ausweislich der Archivierung durch das Deutsche Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main entstanden ca. 1940). Franz Grillparzer: Melusina. Romantische Oper in drei Aufzügen. In: Ders.: (1960), S. 1167-1202 Vgl. einläßlichere Erläuterungen und Kommentar bei Rüdiger Bätz (1924), S. 27f.

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dessen Realisierang in einem Grenzbereich gesungener und gesprochener Darstellung der Prosodie siedeln soll.^® Wichtiger noch für die Entwicklung der melodramatischen Sprechstimme ist freilich seine Preciosa-Mxxs)k (1820), über die er an den Grafen Brühl schreibt: »Das ist ein schwer und bedeutend Stück Arbeit, über eine halbe Oper«.*' Wenn verschiedentlich darauf hingewiesen wurde, daß hier ausweislich der Notation erstmals in einer Schauspielmusik die Stimme rhythmisch der Musik angeglichen wird, so ist dies insoweit zu korrigieren, als, erstens, im früheren Melodrama derlei bereits vorlag und als, zweitens, nicht mit Gewißheit zu sagen ist, ob nicht in weiteren (nicht entdeckten oder verschollenen) Musiken dieses Verfahren schon angewandt wurde. Drittens bleibt offen, ob nicht Weber lediglich etwas notiert, was in der deklamatorischen Praxis längst gängig ist.^° Diese Einschränkungen schmälern das Interesse mitnichten, im Gegenteil. Pius Alexander Wolff war nicht nur ein Lieblingsschüler des Theaterleiters Goethe und ein hervorragender und geachteter Schauspieler, sondern er trat auch als Dramenautor hervor. Sein vieraktiges Schauspiel Preciosa verdient dabei nicht allein der Musik Webers wegen Aufmerksamkeit,^' sondern deshalb schon, weil ihm ein Stimmphänomen als dramaturgische Keimzelle dient. Daß es Wolff ist, der sich solchen Stoff wählt, leuchtet ein, weiß man um seinen Enthusiasmus für die Stimme als das universale menschliche Verständigungsmedium.^^ In dem Drama ist die Titelheldin, ein junges Mädchen unbekannter Herkunft, das mit Zigeunern durchs Land zieht, Gegenstand allgemeiner Bewunderung, und zwar einer unvergleichlichen Stimme wegen: »Wie mit Blüthe, wie mit Perlen / Spielt der Lippe Purpurwelle, / Und aus unentweihter Quelle / Hebt ihr Lied Euch zu den Sternen. / Wehmut faßt uns im Gesänge - « (S. 66) Nachdem sie so eingeführt ist, erscheint Preciosa mit dem Zigeunertrupp auf der Szene. Man stellt ihrem musischen Talent eine Aufgabe; sie soll das Lob der Kinderliebe singen. Preciosa nimmt eine Zither und improvisiert eine Rhapsodie auf das traurige Schicksal von Waisenkindern: »Lächelnd sinkt der Abend nieder, / Rings erschallen Jubellieder...« Weber komponiert dies als Melodram, nach kurzer Einleitung den Text zunächst sehr sparsam mit quasi secco-rezita»Die Melodie will nur die musikalischen Umrisse oder Grenzlinien angeben, in denen die vortragende Künstlerin sich zu bewegen hat; denn es versteht sich von selbst, daß es nicht im gewöhnlichen Sinne gesungen werden darf. Vielleicht ist es gut, erst bei + den Ton vorherrschen zu lassen, am bestimmtesten aber bei ++.« (Müllner wollte die Rede an späterer Stelle als von Weber vorgesehen in Gesang überführen. Vgl. zu Webers Auseinandersetzung mit dem Dichter in: Carl Maria von Weber: Sämtliche Schriften. Kritische Ausgabe, hrsg. v. G. Kaiser, Berlin und Leipzig 1908, S. 3 6 8 - 3 7 7 ) Brief v o m 8. Mai 1820. (Briefe an den Grafen K. v. Brühl, hrsg. v. G. Kaiser, Leipzig 1 9 1 1 , S.23) Preciosa. Romantisches Schauspiel mit Gesang und Tanz in vier Acten. Musik von C. M. von Weber, Klavierauszug mit Text von Fr. Brissler, Leipzig o. J. Pius Alexander Wolff: Preciosa. Schauspiel in vier Aufzügen. In: Dramatische Spiele von Pius Alexander Wolff. Erster Band, Beriin 1823, S. 5 9 - 2 0 0 Vgl. die Ausführungen zu Wolff im ersten Hauptkapitel dieser Arbeit.

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tivischen Akkorden gliedernd, ihn später durch akkompagnierende Klänge stützend, deren Wechsel »der Declamation folgend« auszuführen sind. Die Musik wird reichhaltiger und nimmt ein prägnantes Thema auf; die Improvisation wird also nach und nach suggestiv >musikalisiertHans Sachs< (s. u.) Zur historischen Bedeutung der Begriffe Dehnung, Portament, Gefühlsakzent innerhalb der Debatte u m eine musikalisierte Deklamation vergleiche die unter 1.5. gegebenen Erläuterungen. Carl Maria von Weber (1977), S. 87. Zum Dirigenten als Koordinierungsinstanz gehören insbesondere in späteren Jahren, als Schauspielmusik zunehmend integrales Element von Inszenierungen wird, sogenannte Kapellmeisterbücher, die Hedwig Meier ausfindig gemacht hat. Näheres dazu im Abschnitt über Entwicklungstendenzen ab 1870.

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soll. Zwei verbindungsstiftende Komponenten prägen die Musik: Das auffällige Thema, das bereits den mittleren Abschnitt des ersten Melodrams prägte, wird wiederum aufgegriffen; und an signifikanter Stelle ist die Deklamation erneut rhythmisiert: »Mich fasst der Sturm, und Licht und Sonne flieht, mein Herz, mein dankbar Herz bleibt hier zurück.« Das erste »Herz« ist diesmal - im gleichen Tempobereich Allegro wie zuvor - sogar auf eine halbe Note gedehnt. Der zweite Akt, im Zigeunerlager spielend, beginnt mit einem Zigeunerchor. Man hat beschlossen, nach Valencia aufzubrechen, und in einem Lied (Nr. 6) besingt Preciosa ihre Einsamkeit, die um den geliebten Don Alonzo kreist. Der möchte, da sie die Zigeuner nicht verlassen will, mit ihnen fahren, um seine Liebe unter Beweis zu stellen. Im folgenden Akt spitzen sich die Dinge zu: Don Alonzo läßt sich durch den zum valencianischen Hof gehörenden und an Preciosa interessierten Eugenio provozieren und wird verhaftet. In einem (von Weber nicht vertonten) Monolog faßt daraufhin Preciosa, mit ihrer Zither sich tröstend, den Entschluß, den Mann aus dem Schloß zu retten. Gegen alle Widrigkeiten gelangt sie dorthin: vierter Akt. Der zufällige Besuch seines Vaters deckt die wahre Identität Alonzos auf. Und Preciosa ist, wie sich trefflich fügt, die Tochter des Hauses, seinerzeit in der Nähe des Schlosses »hülflos unterwegs liegend« vom fahrenden Volk aufgefunden und großgezogen. Der Heirat von Alonzo und Preciosa steht, nachdem die Standesbarriere keineswegs überwunden, sondern lediglich der korrekte Standort der Beteiligten diesseits oder jenseits von ihr aufgeklärt ist, nichts im Wege. Die alten Erinnerungen Preciosas ans Schloß leben unter Zitherklängen wieder auf: Weber formt dies als drittes Melodram. Man hat es mit dem Fall eines melodramatisch gestalteten Polylogs zu tun, der in eine opernhafte Finalwirkung mündet; es ist, pointiert formuliert, melodramatisch-musikalisches Schauspiel mit opernhaftem lieto fine. Die rhythmische melodramatische Deklamation, wie überhaupt die melodramatische Szene in der Schauspielmusik, provoziert Kritik. E. T. A. Hoffmann reflektiert über beides in seiner Besprechung eines (Boulevard-)Melodrams von Caigniez, Le Jugement de Salomon, zu dem Adrien Quaisin die Musik schrieb. Nur solange die musikalische Begleitung szenisch motiviert sei, hält Hoffmann sie für sinnvoll - »ohne ein solches Motiv ist aber jene Einrichtung höchst geschmacklos und ungereimt«.^^ Wo die Musik keinen anderen Zweck verfolge, als ausschließlich die Deklamation zu unterstützen, erzwinge sie deren rhythmische Angleichung: Hier steht die Musik mit der Rede in unmittelbarer Berührung weshalb der Deklamator genötigt ist seine Rede den Rhythmen der Musik genau anzupassen, wodurch denn die Rede selbst einen rhythmischen Verhalt bekommt der an die Grenze des Gesanges Vgl. E . T. A. Hoffmann: Schriften zur Musik. Aufsätze und Rezensionen, München o. J., S. 17. Hoffmanns Reflexionen entstammen einem Brief an den Grafen Soden v o m 2 3 . 4 . 1 8 0 8 . D e r schickte sie an die Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung, w o sie unter dem Titel >Ueber Salomons Urtheil (Musik von Quaisin) nebst einigen Bemerkungen über das Melodram überhaupt, und über die C h ö r e in der Tragödie< erschienen (17. und 20. Mai 1808).

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anstreift ohne die Bedingnisse des Wohllauts durch den Tonfall zu erreichen. Musik und Rede beides verlien durcheinander und nebeneinander, weil man es gedrungen als zusammen existierend, wie Gesang und Instrumentalbegl[eitung] beachten muß.^'

Immerhin ist dies ein Hinweis darauf, daß Webers Notationsweise vielleicht neu, der aus ihr abzuleitende Praxiseffekt für das melodramatische Sprechen jedoch kaum originell ist. Die pragmatische Angleichung der Deklamation an die Musik ist freilich ebensowenig wie ihre rhythmische Regulierung durch die musikalische Komposition bereits das Maximum dessen, was an melodramatischer Sprachdifferenzierung im ersten Jahrhundertdrittel realisiert wird. 1.3. Differenzierungsdramaturgie der Stimme: Radziwills Compositionen zu Göthe's Faust Anton Heinrich Radziwills Compositionen zu Göthe's Faust zeigen ihren Komponisten als subtilen Dramaturgen eines ästhetisch differenzierten theatralen Stimmgebrauchs. Grenzgängen der Stimme auf der Spur, wird man den Stellenwert dieser Komposition hoch veranschlagen müssen, unbeschadet des Umstands, daß sie keine kontinuierliche Rezeption erfahren hat und musikgeschichtlich peripher blieb. Seit 1808 arbeitet Radziwill an der /k«j£-Musik. Bereits 1811 läßt Goethe sich einiges daraus vorstellen.^® Am I.April 1814 trägt Radziwill bei einem Besuch in Weimar Teile der Komposition vor;^' anschließend übersendet Goethe einige musikalisch nützliche zusätzliche Verse, bleibt aber, ausweislich der Tagund Jahreshefte, skeptisch, ob diese Musik, die er immerhin »glücklich mit fortreissend« findet, im Verbund mit dem Faust ein Bühnenleben haben kann.'" Bis zu seinem Tod 1833 setzt Radziwill die Arbeit an den Compositionen fort; es scheint, daß er, wie spätere ^'^««jf-Komponisten auch, von der Auseinandersetzung mit der Dichtung oder wenigstens dem Stoff nicht wieder loskam.'' 1819 findet eine erste, während drei Jahren vorbereitete PrivatEbda., S. 18 Einzelne Stücke der >Compositionen< waren bereits ein Jahr zuvor von der Berliner Singakademie gesungen worden. Radziwill soll sich selbst auf einem Stradivari-Cello begleitet haben. Vgl. Franz Ulbrich (1912), S. 199 30 Rüdiger Bätz (1924), S. 11 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Berlioz setzte zweimal an (>Huit Scenes de Faust< 1829, >La Damnation de Faust< 1846). Der achtzehnjährige Wagner schrieb 1831 sieben schauspielmusikalische Faust-Szenen, darunter die melodramatische Szene >Gretchens Gebet;< 1839/40 entstand, als Teil einer geplanten, nicht ausgeführten Symphonie, die spätere Faust-Ouvertüre. Spohr schuf zwei Fassungen seiner >Faust-Szenen aus Goethes »FaustMefistofele< gründlich revidieren, um sieben Jahre später eine langsam sich steigernde Erfolgsgeschichte der Oper in Gang setzen zu können. Busoni konzipierte wohl ab 1906, arbeitete spätestens ab 1 9 1 4 an seinem >Doktor FaustArmonicaSeid nüchtern und wachetHistoria von D. Johann Fausten< nach dem Spies-Volksbuch. 32 Vgl. A m Z , 37.Jg., Sp. 800ff. Franz August Brandstäter (1848), S. 7: »Will man die Wirkung der einfachsten A c c o r den-Begleitung ohne Melodie in einem Melodram beobachten, so kann man es hier.«

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nen Klängen, die textangepaßt dynamische Wechsel vollziehen. Die Deklamation wird erregter, und das heißt hier getragener, gedehnter?* Bald ist nur noch ein Vers pro Takt notiert (wobei die Länge der Takte nicht metronomisch exakt zu verstehen ist); dann werden sogar Pausen im Text verlangt: Ab den Worten »Es wölkt sich über mir«, die ein Paukenwirbel, stereotypes Mittel melodramatischer Geisterromantik, untermalt, sind an den Taktanfängen Viertelpausen im Text notiert; hier soll offensichtlich mit der Deklamation jeweils bis zum Eintritt des Akkordwechsels abgewartet werden.'' Ein neues Motiv wird eingeführt, eine gebundene kleine Sekunde, wohl als chromatisches Geister-Requisit; synkopisch gesetzt, dient es dazu, entstehende atmosphärische Unruhe zu evozieren. Alles steuert steigernd auf eine erneute, wiederum einen Spannungshöhepunkt markierende Fermate hin. Crescendo und Auflösung der Klänge in die gravitätische Bewegung energischer Doppelpunktierungen schaffen Zielrichtung; zu den Worten »du mußt! und kostet es mein Leben!« ist die Fermate erreicht. Die Erscheinung des Geistes selbst ist melodramatisch unterlegter pantomimischer Einschub, mit absteigender Chromatik und Paukenwirbel, dann über gehaltenem Klang bei dynamischer Steigerung bis forte: »Wer ruft mir?« Musikalisch bleibt dies, sparsam, knisternd genug; kommende Entladung läßt sich ahnen. Während des einsetzenden Dialogs verharrt die Musik nahezu regungslos. Dann erfolgt über textleerem Takt eine äußerst rasche Raffung des Espressivo, und bei des Geistes Selbstinstallation vor Fausts Angesicht (»Da bin ich!«) schließlich Entladung: Unter teilweise dissonanten, stets fp die Taktwechsel akzentuierenden Tremoli oder 32stel-Wechselnoten (die den diabolischen Tritonus traktieren) begibt sich Fausts Verhöhnung durch den Geist. Und daß dieser Erdgeist aus einer anderen Sphäre herstammt, klärt sich vollends auf, als er die begrenzten Gefilde der Deklamation verläßt - und zu singen beginnt. Fausts Replik, als er seine Charakterisierung als »furchtsam weggekrümmter Wurm« hinzunehmen hat, lautet bekanntlich: »Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen!« Die Antwort des Geistes meint, in der Essenz: Das eben bist du nicht. Er singt sie - rhythmisiert, auf harmoniegerechte Töne gesetzt. Dahin aber reicht Faust nicht: »Geschäftiger Geist, wie nah' fühl ich mich dir«. Er darf es zwar behaupten, sprechen; doch der Geist bescheidet ihn singend: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!« Und verschwindet. Der Aufführungsbericht von Schmidt schildert die Realisierung dessen folgendermaßen: Hr. Zschiesche [als Erdgeist] sprach diesen mit kräftigem, tief gestimmtem Organ durchweg im Tact, von der Musik ausdrucksvoll begleitet, bis von den Worten ab: >In Lebensfluthen, im Thatensturm/ Wall ich auf und ab< der Geist fast eintönig singt, worauf die Erscheinung mit dem ff. E s - D u r - A k k o r d unter Paukendonner verschwin-

det.3'

Vgl. erneut im Kapitel I. die Erläuterungen zum Portament. Ahnlich wird dies später etwa Liszt in seinem Konzertmelodram >Lenore< nach Bürger handhaben. A m Z , a. a. O . , Sp. 802f.

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Sieht man davon ab, daß die Notation nur zu Anfang »fast eintönig« bleibt, so entspricht dies genau den Vorgaben des Klavierauszugs. Auch das zweite Melodram dient der Beglaubigung metaphysischer Macht. Es setzt ein, als im Dialog Fausts mit Wagner der Pudel ins Blickfeld gerät. In langem, leisem Oboenton erscheint auch Musik zunächst wie von weitem; erst als der schwarze H u n d Gegenstand des Gesprächs wird, entsteht explizit melodramatische musikalische Erregung. Faust spricht nun »lebhaft im Takt«: »Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen?« Im Text sind exakt rhythmisierte Pausen verzeichnet; er ist syllabisch einzelnen Tönen zugeordnet, so daß sich, wenigstens der Intention nach, ein genau rhythmisiertes Deklamieren ergibt. Radziwill verfährt nicht ohne Raffinement: Denn Wagner, der in dem Pudel nichts als einen gewöhnlichen H u n d zu erkennen vermag, spricht ungebunden, zu lediglich gehaltenen Bläsertönen oder -oktaven, also ohne den inneren Rhythmus der Szene zu erfassen (»Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel«). U n d gegen Ende der Szene löst sich auch Fausts Sprechen wieder vom musikalischen Rhythmus ab, und zwar signifikant dort, wo er Wagners Ansicht zuneigt: » D u hast wohl Recht; ich finde nicht die Spur/ Von einem Geist, und alles ist Dressur.« Auch die Bibelübersetzung ist (wie von Goethe getadelt) melodramatisch durchgeführt; in technischer Hinsicht scheinbar nach dem Muster des alten Melodramas, das heißt alternierend zwischen Text und musikalischen »Zwischensätzen«. Diese erweisen sich allerdings als in vier Teile zergliederte Choralharmonisierung, zwischen die Fausts Anläufe zur adäquaten Logos-Übersetzung der »Im Anfang war...«-Passage aus dem Johannes-Evangelium plaziert sind. Als er die geeignete gefunden hat (»Im Anfang war die That«), wird er durch das tonmalerisch nachempfundene Heulen des Pudels (im Halbtonabstand alternierende Triolenfiguren) unterbrochen.'^ Melodramatisch wird sodann Fausts Pudelbeschwörung fortgeführt, mit Effekten, die für eine solche Beschwörungsszene als typisch gelten können: Trombe-e-corni-Akkorde, Paukenwirbel, Staccato-Einsprengsel - so werden die Elementargeister beschworen. Auch die eigentliche Verwandlung vom Pudel zum Teufel begleitet melodramatisch Probates: Kleine, gleichsam einen Klanghintergrund skizzierende Notenwerte in tiefer Lage, im Abstand einer kleinen Sekunde wechselnd, dazu Tremolandi, hingeworfene Staccati der Bläser, eruptive Effekte durch abrupt einsetzende punktierte Figurierung in dynamisch extremen Bereichen, amelodisches Insistieren auf Akkorden, dann wiederum flächenhafte Unterlegung der Deklamation durch simple Halteklänge - diese Elemente, in ihrer Folge und Dichte variiert, stammen aus dem Vorrat des melodramatisch-musikalischen Arsenals. Zum Höhepunkt hin wird eine gewissermaßen verflüssigende Wir-

Wenn diese Szene auch nicht ohne dramaturgischen Detailprägnanz gearbeitet ist (die Musik bleibt im weiteren horizontal durch diesen Halbtonwechsel beherrscht), läßt sich Goethes Vorbehalt gegenüber solch illustrativer Kleinteiligkeit der Ausdeutung doch nachvollziehen.

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kung erzielt durch Einfügung triolischer Figuren in hoher Tonlage, die in eine Schluß Wirkung einmünden. Solcherart aufwendig eingeführt, läßt sich Mephisto erstmals hören, in ironischem Kontrasteffekt bei völliger Abwesenheit von Musik ( » N B Nachdem der letzte Accord ausgetönt hat«): »Wozu der Lärm? was steht dem Herrn zu Diensten?« In der Nr. IX, »Beschwörung« betitelt, ist Mephisto damit beschäftigt, den lästigen Drudenfuß aus dem Wege zu schaffen. Eine schlichte Streicherbegleitung liefert einen kontinuierlichen rhythmischen Grundimpuls, über dem er, ebenfalls rhythmisch, spricht. Er wechselt sich dabei mit einer nicht näher gekennzeichneten >Stimme< in Tenorlage ab, die auf bezeichneten Tonhöhen den Beschwörungstext, ihn jeweils mit letzter Silbe von Mephisto übernehmend, wiederholt. Das Spiel mit der Auseinanderlegung des Mephisto-Textes auf die rhythmisierte Sprechstimme des real anwesenden Mephistopheles und die Singstimme, die nicht allein räumliche Effektwirkung entfaltet, sondern zugleich Mephistos Jenseitige Herkunft symbolisiert, ist gedanklich durchaus konsequent. Die sphärische Doppelheit (oder doppelte Sphärenzugehörigkeit) des Teufels, der einerseits abstrakt-zeitenthobene Entität, andererseits in einer Gestalt auf Zeit konkretisierte Individualität ist, wird so mit einfachen Mitteln in einer musikalisch-szenischen Gesamtwirkung eingefangen. Der >Geister-Chor< der Nr. X (»Weh! weh! du hast sie zerstört, die schöne Weit...«) verschiebt dann die Anlage der Komposition in Richtung auf die Oper. Im Chorsatz herrscht homophon-deklamatorischer Duktus vor, mit Textrepetitionen und symmetrischen Gliederungsprinzipien der musikalischen Faktur. Häufige musikalische Charakterwechsel verhindern zunächst die Entstehung eines einheitlichen Satzes; sie sind dem Prinzip geschuldet, die Gesangsdeklamation ganz den Erfordernissen des Textes unterzuordnen. Eine Aufspaltung des Chorsatzes zur Doppelchörigkeit führt dann zur Verselbständigung des Chors, und damit präsentiert sich die Radziwillsche Fa^jt-Musik in opernhafter, wenigstens oratorischer Dimension. Auch das Orchester erhält Platz zur Entfaltung eingeräumt, und eine solistische Violine umspielt die Motivik des Chorsatzes und formuliert sie virtuos aus. Doppelchörig bleibt anschließend ebenfalls der >Geister-Chor< Nr. X I a (S. 98) ff. auf einen eingelegten Text Goethes.'® Es ist im Grunde ein Opernchor, als retardierend-reflexives Element eingesetzt; und der folgende >Geister-Chor< Nr. X l b (S. 104ff.) wird konsequent den ersten Teil der Compositionen im Stil eines Chorfinales beenden, das dem Orchester teilweise virtuose Leistungen abverlangt. Durch originellen Einsatz stimmlicher Mittel empfiehlt sich weiterhin das Weinwunder Mephistos in Auerbachs Keller. War es zuvor, in der >Beschwörung< (Nr. IX), eine namenlose >StimmeUnsichtbare Stimmen< mit zum Ambiente passender Groteskwirkung: Ein Altus, der falsettieren soll, ein »Nasentenor« und ein »Gurgelbaß« fügen Mephistos Zauberformeln ein getripeltes übersinnliches Echo hinzu. Das Prinzip hält sich: Nachdem die Vorspiegelung eines fremden Ortes für die vier Säufer melodramatisch eingeleitet war und die vier, in Mephistos irrealem Reich, ihre Eindrücke in gesungenen Rephken geschildert haben, hebt Mephisto den Zauber melodramatisch sprechend auf: »Irrthum, lass los der Augen Band! Und merkt euch wie der Teufel spasse.«^' Die Gretchenhandlung führt dann die Compositionen noch näher an Bereiche der Oper heran. Neben der Liebe Fausts und Gretchens geben Mephisto und Marthe das kontrastierende Buffo-Paar. Die überaus freie Handhabung im Wechsel und Ubergang von Sprechsprache und Gesang in den teils melodramatischen, teils ariosen, teils rezitativischen Szenen(komplexen) ist von einer Varianz und stellenweise irritierenden Unverbundenheit der musikalischen Fortschreibung, die sich kaum allein durch den >Dilettantismus< des Komponisten erklären läßt."*" Hier wird vielmehr, so jedenfalls die erkennbare Intention, flexibel entlang den Erfordernissen eines musikalisch zu gestaltenden Textes gearbeitet, dessen Substanz nicht librettistischem Schema entspricht. Das Bemühen, Formgebilde zu entwerfen, die der dramatischen Substanz adäquat sind, ist unverkennbar; so gibt es Passagen musikalischer >ProsaCorapositionen< nicht im Sinne organischer Ganzheit und Einheitlichkeit der Gattung zu überformen. Der Begriff musikalischer >Prosa< soll hier lediglich als metaphorische Hilfskonstruktion dienen, um die zeitweilige Preisgabe des symmetrischen musikalischen Periodenbaus zu veranschaulichen.

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sehen Sprechstimme zur Gesangsstimme: Unmittelbar aus dem melodramatischen Liebesdialog geht ein gesungenes Liebesduett hervor (im Klavierauszug als »Duo« annonciert), das im vielfach repetierten »ewig, ewig« unisono zu seinem Höhepunkt gelangt/^ Auch Mephisto und Marthe bekommen ihr Liebesduett: Ihr Dialog beginnt zunächst rezitativisch gesungen (Marthe: »Die Nacht bricht an«; Mephisto: »Ja, und wir wollen fort«), wird dann von Marthe quasi parlando fortgeführt, geht (»Und unser Pärchen?«) in melodramatisches Sprechen über, um, nach absichtsvoll verkehrter Steigerungsfolge, in kurzem, wenig aussagekräftigem Duett die Geschichte des Buffo-Pärchens zu runden; am Ende wächst sich die Szene zum veritablen Ensemble beider Paare aus. Nachdem bereits nahezu alle stimmlichen Modi im Sinne einer hoch differenzierten Dramaturgie der Bühnenstimme genutzt sind, lotet Radziwill zuletzt jene indefinite Grauzone aus, die innerhalb der Geschichte melodramatischer Technik und innerhalb des hier zur Debatte stehenden Zeitraumes, hält man sich an die bekannte notierte Überlieferung, erstmals (und andeutend) von Neefe im Melodrama Sophonisbe erkundet wurde: musikalische Tonhöhennotation der Sprechstimme. Ein weites Feld kluger Stimmdramaturgie nämlich eröffnet die Szene >Seelenamt im Dom< (Nr. XXIII). Radziwill komponiert sie als Largo in f-moll, in drei Vierteln zunächst, nach vierzehn Einleitungstakten dann in vier Vierteln im Duktus eines Trauermarschs, mit vierstimmigem Chor: »Requiem aeternam...« Als der Chor an der Textstelle »Et lux perpetua...« angelangt ist, mengt sich der Böse Geist ein.'*' Die Gestaltung ist in ihrer Einkreisung der Ubergangslage von gesungener und gesprochener Sprache bis dahin singulär (und zu dieser Zeit vielleicht nur an einem musikgeschichtlichen Ort möglich, der als solcher gar nicht in Betracht zu kommen scheint). Angemerkt ist vor der Zeile des Notensytems, die den Text notiert: Die folgenden Noten deuten die Länge und K ü r z e der Sylben an und werden im Takte und im Tone des Accords gesprochen. (S. 207f*

Im Klavierauszug sind die entsprechenden Noten im normalen Druckbild von Gesangsnoten notiert, jedoch kleiner als diese.'" Anfangs handelt es sich um eine (im Wortsinn) monotone Deklamation, gleichbleibend auf dem Ton as, der zunächst als akkordtragender Grundton von As-Dur erscheint und ebenfalls in

Die stimmlichen Anforderungen sind nicht eben gering; beiden Darstellern wird ein hohes B abverlangt. Brandstäter (1848), S. 16, berichtet von Skepsis, meint aber: »Warum nun Z[elter] dagegen eifert, daß hier die gesprochenen Worte in eine Todtenmesse eingeflochten sind, ist eben nicht abzusehn sobald man jene quasi-religiösen Bedenklichkeiten abgethan hat, und der ganze Vorwurf träfe auch eigentlich den Dichter.« In einer am Ende des Klavierauszugs angefügten Szene Hexenküche (Radziwill hatte sie nur als Skizze hinterlassen) haben die Tiere sogar »im Chore singend zu sprechen«. In der Partitur wird statt der kleineren eine graphisch divergente Darstellung der Sprechnoten verwendet (weiße Noten); das Prinzip ist dasselbe.

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den Bässen und Tenören der Gesangsstimme erklingt. Mit entscheidender M o dulation nach F - D u r übernimmt die Sprechstimme

den neuen G r u n d t o n F, be-

hält diesen bei, als v o n F - D u r nach B - D u r gewechselt wird, und zeigt erstmals prosodischen Ausschlag bei den Worten »Welche Missethat?«: Punktiert rhythmisierte Stilisierung des syllabischen Rhythmus, Q u a r t s p r u n g von »Welche« (F) nach » M i s « (B), Sekundfall nach »-sethat« (As). D i e Sprechstimme bewegt sich, diastematisch notiert, selbständig innerhalb der musikalischen Faktur und fügt ihr semantisch wirksames Material hinzu: D a s B auf die Silbe »Mis[sethat]« ist, keineswegs zufällig, akkordfremd. War bisher die instrumentale Begleitung durch große, dem C h o r angepaßte N o t e n w e r t e geprägt, so gibt sie nun einen pulsenden Untergrund in Sechzehntelnoten repetierter Harmonien, und darüber singt eine Solostimme » a m Altar dem C h o r gegenüber« in Tenorlage das »Te decet h y m n u s « in psalmodierend-parlandohaftem Gestus mit sehr engem A m bitus. D i e Sprechstimme des Geistes legt sich verzerrend, überlagernd darüber, indem sie die gleichen T ö n e eben nicht singt, sondern »im Tone des A c c o r d s « spricht. D a s Verfahren ist weniger simpel, als es scheinen mag, dient es doch psychologischer Feinzeichnung. D e n n die M u s i k der Singstimme und die G e genmusik der Sprechstimme sind gleichermaßen aus der Perspektive Gretchens genommen: D e r B ö s e Geist erweist sich als inneres verzerrendes E c h o der f r o m m e n Klänge, die in Gretchen das schlechte Gewissen rege machen. Zusätzlich werden sinnfällige diastematische Irritationen gesetzt. Auf die Silbe » - u s « des Wortes D e u s weicht die Singstimme, melodisch einleuchtend, von ges nach as aus, während der B ö s e Geist auf ges verbleibt. D i e Silbe, die im Text des B ö s e n Geistes mit der Tonabweichung zusammenfällt, gehört z u m Wort » M u t ter«: Radziwill bildet unmittelbar musikalisch (und sei es z u m eigenen Vergnügen, da kaum merklich) ab, was sich nur umständlich beschreiben läßt: D i e Versündigung Gretchens gegen das götdiche G e b o t verdichtet sich symbolisch im Zusammenprall der Worte » G o t t « und » M u t t e r « - für deren T o d der B ö s e Geist Gretchen die Verantwortung zuspricht. Zwar ist die diastematische Bewegung nirgendwo auch nur annähernd so weitgehend ausgeschrieben wie später etwa in Schönbergs Pierrot

lunaire-, ein

Vergleich beider K o m p o s i t i o n e n wäre ohnehin und zweifellos unsinnig. Eine partielle Vorwegnahme dessen jedoch,was H u m p e r d i n c k in der melodramatischen Königskinder-Vi.ssxm'g

als gebundenes Melodram ausführen wird, läßt

sich ebenso zweifellos konstatieren."'' Unter dramaturgischem A s p e k t ist dabei Radziwills Dramaturgie der S t i m m - M o d i entschieden die differenziertere. A u c h Gretchen übernimmt diesen neuartigen M o d u s : Als der C h o r in raschem T e m p o (Viertel = 104) das » D i e s irae« intoniert, geht sie mit langgezognen »Weh!«R u f e n dazwischen, u m dann, so zeigt es die kleiner gestochene Notenschrift, sprechgesanglich weiter zu klagen: » W ä r ' ich der Gedanken los, die mir herüber und hinüber gehn wider mich!« So fällt auch der B ö s e Geist wieder ein: » G r i m m Ausführliche Informationen zu Humperdincks >KönigskinLa Jeunesse de Goethe« (um 1860). Vgl. Schwarz-Danuser (1997), Sp. 81 In letzter Zeit ist derlei vermehrt auf C D dokumentiert worden. Vgl. z. B. die Aufnahme der >Sommernachtstraum-HexenkücheFaust. Der Tragödie Dritter Theil< einem gewissen Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch M y stifizinsky zugeschrieben. Daß sich hier ebenfalls Musik die Menge findet, ist allerdings kaum als freundliches Entgegenkommen Vischers zu deuten; wenn Mephistopheles im dritten Auftritt mit dem Taktstock den Gesang der Geister dirigiert oder >Harfentöne von oben< den fünften Auftritt einleiten, so ist dies eher eine unfreundliche Entgegnung auf den, für Vischer, allzu musikalisch geratenen >Faust II.< Vgl. Magda Marx-Weber: Die Lieder Eduard Lassens. In: Constantin Floros u. a. (1977), S. 1 4 7 - 1 7 7 Ergänzende Beispiele: Tschaikowsky: >Der Wojewode< (1869); Bizet: >L'Arlesienne< (1872); Massenet: >Les Erinnyes< (1873)

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Exkurs: Edvard Griegs Musik zu Peer Gynt Im Jahr der Faust-lnsztmtnm^ in der Version Devrient/Lassen kommt in Christiana Ibsens Peer Gynt mit der Musik von Edvard Grieg zur Aufführung. Auch Grieg nutzt, naheliegend bei diesem Stoff und Drama, melodramatische Techniken in der inzwischen verbreiteten freien und variablen Weise. In der Szene mit den Säterinnen (Nr. 5) ist der Gesang der Säterinnen ganz vom deklamatorischen Rufduktus her gedacht: »Mit ganz freiem Vortrag«, über einer eigentlich typisch melodramatischen Begleitung (Tremolo, Halteakkorde in den Bläsern) wenden sie sich in aufstrebenden Quartsprüngen, eine nach der anderen, an die erhofften Liebhaber, die Trolle. Die Bizarrerie der Trollsphäre flackert in raschen Tonleitern der Flöten und Piccoli auf. Nachdem Peer sich eingeschaltet hat, geht es »streng im Takt« weiter, doch bald werden Gesangsrufe und melodramatisches Sprechen Peers ineinandergespielt, zu einem schmissig-tänzerischen Allegro vivace: Man bewegt sich in beiderseitigem Interesse aufeinander zu, bis Peer Gynt mit den drei Damen tanzt, die beiläufig »schreien und singen«. Als Peer sich wieder vernehmen läßt, wird er durch scharfe gedoppelte Sechzehntelfiguren unterbrochen, ff und molto pesante: »Diese Repliken müssen sich der Musik möglichst schnell anschließen und in wilder Ekstase hinaus geschleudert werden.«®'* Eine Presto-Passage sorgt für weitere Dynamik, mit wilder, abwechselnd triolischer und synkopischer Figurierung und bis zum dreifachen forte. Denn nun tanzt man »mit immer wilderem Ungestüm über die Höhe« und allmählich aus dem Blickfeld der Zuschauer hinaus, ehe der Vorhang fällt. Es ist eine groß dimensionierte, musikalisch stilisiertes Rufen und Schreien, Singen, unbegleitetes und melodramatisches Sprechen und auch ekstatischen Tanz integrierende, auf eine überwältigende Schlußwirkung zielende musikalische Szene von knapp 170 Takten Umfang; die Tendenz der Schauspielmusik zu musikdramatischen Formen wird auch hier erkennbar. Ähnlich interessant in dieser Hinsicht ist die siebte Nummer, >In der Halle des Bergkönigscrescendo molto< herandräuendes melodramatisches Tremolo hinweg sich erkundigt, ob Peer nun am Spieß zu braten oder besser zu schmoren sei - was die Trolleschar mit finalem Schlacht-Ruf quittiert. Da aber erfolgt, ohne alle Musik, »langsam und mit höchster Kraft«, die Intervention des Dovre-Alten, des Bergkönigs: »Eis euch ins Blut.« Mit dem Machtwort ernüchtert sich der Spuk zum gewöhnlichen Dialog. Nochmals aber bieten später die Trolle eine melodramatische Groteske: Peer Gynt wird von Trollen gejagt (Nr. 9a). Eine Hetzmusik, presto und ff in den Streichern einsetzend, unterstützt die Treibjagd auf der Szene. Wiederum werden Repliken über Pausenfermaten gesprochen, die kürzestmöglich andauern sollen; in leicht abgewandelter, dem 3/ 8-Takt angepaßter und diminuierter Gestalt herrscht das Thema der Nr. 7 vor eine zusätzliche Dynamisierung der von Beginn an die Bergkönig-Sequenz prägenden bedrohlichen Atmosphäre. Diese große melodramatische Groteskszene ist im Detail eindrucksvoll gebaut; im Kontext erweist sie sich als Erfassung dramatischer Struktur im musikalischen Medium, die mit nur illustrativer Unterlegung kaum mehr etwas gemein hat. So versteht es Grieg z. B., in dem scheinbaren Sieg der Trollwelt zugleich schon deren späteres Ende aufklingen zu lassen; ein Beleg, wenn er denn noch ausstünde, daß melodramatische Schauspielmusik selbst da, wo sie in eminentem Maße (auch) auf theatralische Wirkung abstellt, sich im Illustrativen nicht erschöpfen muß.®' Die Musik durchmischt sich im übrigen mit der kollektiven Deklamationsstimme des Trollchors zu einem Klangamalgam auf gleicherweise hohem Erregungsniveau: Als die

Die eigentliche Aufgipfelung der Hätz wird eingeleitet durch einen großen chromatischen Abgang in den tiefen Stimmen über acht Takte und annähernd zwei Oktaven hinweg. Ebensolche chromatische Fortschreibungen werden am Ende der Szene, über 16 Takte hinweg, den Einsturz und Hingang der Spukwelt bezeichnen.

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Trolle Peer Gynt an die Augen wollen, gewinnt sie ekstatische Qualität, aufs äußerste insistierend, lautstark, in höchsten Tonbereichen. Grieg merkt an: »Fortwährendes Geschrei und Getöse auf der Bühne bis zur nächsten Replik Peer Gynts« - dies alles über 36 Takte hinweg. Und über pp-Tremoli der Celli und Bässe klagt, im tiefsten Kontrast, Peer Gynt sodann: »Hilf, Mutter, ich sterbe!« Daß Grieg auch die Szene mit dem >Krummen< (Nr. 9b) - klassischen melodramatischen Geisterszenen verwandt - zunächst mit nahezu nur geräuschhafter Melodramatik unterfüttert, um dann gesprochene Passagen (des >Großen KrummenUnsichtbaren Chors< hinter der Bühne) im Wechsel zu führen; daß er die berühmte Musik zu Äses Tod (Nr. 12) zweimal spielen läßt, nämlich einmal vorausdeutend im Orchesterraum vor Beginn der Szene in Äses Stube, das zweite Mal während dieser Szene pp und hinter der Bühne; daß er (Nr. 21) eine Nachtszene als Melodrama mit Chor mit typisch schaurigen Tremoli, Bläserakkorden, hohen Streichern im Pianissimo einleitet dies sind weitere Belege für die etablierte (und bis ins 20. Jahrhundert hinein unvermindert genutzte) Bandbreite dieser schauspielmusikalischen Basistechnik.8' Stofflich und strukturell dürfte es nicht von ungefähr kommen, daß mit dem >dramatischen Gedicht< Peer Gynt im großen Stil eine »Mischform der dramatischen Gattungen« schauspielmusikalisch komplettiert wird,®^ ein Drama überdies, das Anklänge an Motivik und Struktur (besonders des zweiten Teiles) von Faust aufweist. Der epische Zug des Dramas mit einem Subtext vielfältiger Bezüge und Verweise dürfte ebenso wie die Ausweitung der Handlung ins Phantastische und Mythische eine solche Musikalisierung provoziert haben. Daß Robert Schumann sich mit Byrons Manfred eine Vorlage zur musikalisch-melodramatischen Bearbeitung wählte, die ebenfalls in einer traditionellen Gattungsschemata entgehenden Form eine Ausnahmeindividualität ins Zentrum rückt, fügt sich ergänzend in dieses Bild. Wenn es an dieser Stelle weiterer Belege für die nicht versiegende melodramatische Produktion bedürfte, so lieferten sie, zum Beispiel, Peter Erasmus Lange-Müllers Musik zu Ibsens Gildet paa Solhaug (Das Fest auf Solhaug), aufgeführt am Königlichen Theater in Kopenhagen (und von Ibsen freudig begrüßt^®), oder Robert Volkmanns inszenierungsgerecht verfertigte Musik zu Shakespeares Richard III, die, wie es sich beinahe von selbst versteht, eine Das Verlöschen des >Krummen > (»schwindet zu nichts zusammen«) wird im übrigen (in der revidierten Fassung von 1891) von einer >Orgel< hinter der Bühne begleitet. 87 Vgl. das Nachwort von Ruprecht Volz in: Ibsen (1982), S. 150ff. A m 22.3.1886 schreibt Ibsen an die Übersetzerin Emma Klingenfeld: »Etliche Personen, meist Kapellmeister, haben seinerzeit Musik zu dem Stuck komponiert, doch nichts von alledem hat einen besonderen Wert. Es ist darum besonders gut, daß Herr Lange-Müller sich für die Sache interessiert.« Und 1897 weist er anläßlich einer bevorstehenden Neueinstudierung erneut auf Lange-Müllers inzwischen verfügbare Musik hin. Vgl. Verner Arpe (1972), S. 52f.

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melodramatische Geistererscheinung zu bieten hat (Nr. 11), mit teilweise auf fixer Tonhöhe notierter Figurenrede.®' Daß diese Kompositionen keine nennenswerten Neuerungen aufzuweisen haben, ändert nichts am theaterhistorischen Befund, daß man es mit einer verbreiteten Praxis zu tun hat; daß die Praxis verbreitet war, besagt indessen nicht, daß sie die Regel darstellte. 1926 konstatierte Adolf Aber auf empirischer Basis und unter Berücksichtigung zahlreicher Quellen einen »Verfall der Schauspielmusik« im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Er konnte die These auf ein Statement stützen, das Albert Schäfer 1886 formuliert hatte: »Alles wird gekürzt, verhunzt, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, so daß die dargebotene musikalische Beigabe eher zur Verunglimpfung als zur Erhebung und Verschönerung des Dramas beizutragen vermag. Nur an wenigen Theatern stellt man das volle Orchester zur Verfügung und wendet der Musik die nötige Aufmerksamkeit zu.«'° Man wird vorerst von einer ambivalenten Entwicklung ausgehen müssen: Während einerseits die avancierten schauspielmusikalischen Entwürfe immer opulentere Formen annehmen, scheint, bei obligatorischem Einsatz von Musik im Schauspiel, jene Krise, über die seit der Jahrhundertmitt beredte Klage geführt wurde, keineswegs auf breiter Basis behoben worden zu sein.

4.

Schauspielmusik zu altgriechischen Tragödien

Eine Untersuchung der Geschichte melodramatischer Technik und melodramatischen Sprechens kommt nicht darum herum, schauspielmusikalische Bearbeitungen antiker Tragödien zur Kenntnis zu nehmen: Waren es doch Stoffe der griechischen Mythologie, an denen sich die melodramatische Gattung im späteren 18. Jahrhundert formte. Daß demgegenüber die schauspielmusikalische Rezeption nicht der Stoffe, sondern der Tragödien selbst staunenswert spät einsetzt, hat Gründe, die sich primär weder musik- noch theatergeschichtlich erklären lassen. Ungeachtet des Interesses an der historischen Verfaßtheit des antiken Theaterereignisses erfreuten sich die altgriechischen Dramen offenbar gerade deshalb besonderer Beliebtheit in der neuzeitlichen Musikgeschichte, weil sie eine gewisse Freiheit zum Experiment boten:"

In einer Vorbemerkung im Klavierauszug führt Volkmann aus: »Bei der Composition dieser Musikstücke hatte der Autor eine scenische Einrichtung der Tragödie im Auge, welche von der Einrichtung des Originals öfter abweicht, wie betreffendenorts zu sehen ist.« Aber (1926), S. 148 Im Bereich der O p e r sind allein »weit über hundert Opern mit einer thematischen Entsprechung der griechischen Tragödie gegenüber, darunter über zwanzig >AntigonehurtigFaniska< 1806 in Wien uraufgeführt wurde. Die Nr. 10 dieser Oper ist eine Kombination eines (allerdings nur wenig Sprechtext enthahenden) Melodrams und eines Duetts.

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weilig schöner L i c h t k o n t u r . S o beschrieb Oskar Bie die Kerkerszene aus Fidelio. Und er fügte an: »Aber nun begibt sich ein Wunder, Beethoven übermannt die reine, schöne Musik. Die beiden hurtigen Graber finden sich mit Florestan im Terzett«. Gerade so, als ob das gesprochene Kerkermelodram vom Komponisten noch intellektuell kontrolliert werden konnte, ehe er vom eigenen Stoff und Medium überwältigt wurde. Dazu paßt allerdings kaum, daß Beethoven die melodramatische Szene erst in dritter Fassung anstelle gesprochenen Dialogs einarbeitet; offensichtlich deshalb, weil sie ihm als gegebene Lösung erscheint, die kaum verhohlene Beklemmung Leonores in diesem Verlies darzustellen. Fidelio gilt heute als ein Nachzügler der Rettungsoper, zugleich aber sowohl hinsichtlich der kompositorischen Anlage wie auch inhaltlich als Beispiel dafür, daß »die Adaption einer französischen Vorlage eine Werkgestalt zum Ergebnis haben konnte, für die es in Frankreich kein Vorbild gab«.'^' Die Einfügung des Melodrams erst im Jahr 1814 bleibt historisch ambivalent: O b es eine Reminiszenz an entsprechende Szenen französischer Opern ist, ob es mit der sich ausbreitenden Vorliebe für Opernmelodramen in Kontexten des Grausigen verbunden zu denken ist oder ob nicht auch Wiener Theaterpraxis eine wichtige Rolle gespielt hat, wird sich kaum mit Gewißheit sagen lassen. Denn zu den französischen Einwirkungen auf die melodramatische Gestaltung von Opernnummern kommt der anhaltende Einfluß der deutschen Singspieltradition. Paul Wranitzkys Oheron (1789) kann als früheres Beispiel dafür dienen; Joseph Weigls Die Schweizerfamilie (1809), der Wiener Singspieltradition zugehörig, als eines, das im chronologischen Uberlappungsbereich mit den ersten fic/e/jo-Fassungen angesiedelt ist.'^^ Dem (insgesamt heterogenen ) Einflußfeld zuzurechnen sind ferner die französischen Boulevardmelodramen. In ihnen spielt das Melodram nicht allein als Verbindung von Wort und Musik eine Rolle, sondern auch in der pantomimischen Spielart. Daß sich hier Gattungskreuzungen ergeben, zeigen nicht nur die an früherer Stelle erwähnten biblischen Melo- oder Monodramen von Hoffmann, Lindpaintner, Seyfried und anderen. Auch als Melodramen bezeichnete pantomimische Szenen wie in Webers Silvana (1810) weisen auf Einflüsse des Boulevardmelodrams hin. (Dieser Szenentypus bleibt dann während des 19. Jahrhunderts erhalten.'^') Mehraktige französische Boulevardmelodramen

125 Oskar Bie (1980) [zuerst 1913], S. 226 126 Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring (1997), S. 92 '27 Döhring und Henze-Döhring (1997) erläutern, wie in der >Schweizerfamilie< die Technik des Erinnerungsmotivs in die melodramatische Singspielszene eingeführt wird: »Der Monolog wird mit einer erinnerungsmotivisch verwandten Musik sowie mit einer Melodie verknüpft, bei deren Erklingen für Emmeline zur Gewißheit werden muß, daß Jacob zurückgekehrt ist. Die reminiszenzartig verwandte Melodie ist die nämliche, welche Emmelines Reaktion beim Anblick der vermeintlich heimatlichen Alpenhütte und ihres getreu kopierten Berggartens kommentiert.« (S. 96) 128 Ahnliches findet sich im ersten Jahrhundertdrittel z. B. in Aubers >Le Ma9on< und >La Muette de Portici* und zum Jahrhundertende in Kienzls >Der Evangelimann.
Sammler< wird hingegen moniert, der Komponist wisse nicht, »wie man in anderen Sterblichen durch überirdische Macht Gefühle erregt«. Das wäre in der Tat ein großes Manko, denn einem schlechten Spiel, das noch dazu alles auf den Effekt übersinnlicher Erscheinungen setzt, hätte gute Musik immerhin aufhelfen können. Statt dessen geraten die Melodramen ins Visier, allerdings nicht allein ihrer musikalischen Anlage wegen: So auch gibt es in der Sprache der musikalischen Zauberei ganz abenteuerlich gestaltete Interpunktionszeichen, die sehr genau beachtet werden müssen, z. B. Komma, Punktum, Fragezeichen, Ausrufungszeichen [ . . . ] Diese Interpunktionszeichen sind bei dem Melodrama von der allergrößten Wichtigkeit. Denn bei dem möglichen Falle, den man sich der Sicherheit wegen doch denken muß, daß z. B. ein Schauspieler sich während des melodramatischen Musikeinschiebsels nicht gleich recht besinnen könnte auf das, was er zu sagen hat, und er sagte nun etwas anderes [...], so ist es immer gut, wenn die Musik dann wenigstens fragt, damit doch der Zuhörer seine Hälfte des zu Leistenden bekommt und nicht ganz leer ausgeht. Auch ist ja dies gerade der Grund, warum Schauspieler so eine ausnehmende Zärtlichkeit für Melodramas haben [...] denn erstens schöpft man während des Musikeinschiebsels Atem, zweitens Worte [ . . . ] drittens nimmt man einen Rand, um wieder ein paar Gebärden zu machen"^.

Gegenüber solcher enervierten Süffisanz fällt der andernorts vorgetragene Einwand, Schuberts ohnehin unbedeutende Musik könne »durch die zerstückelten, 129 Vgl. zum folgenden die Ausführungen von Ulrich Schreiber in Walther Dürr und Andreas Krause (1997), insbes. S. 322ff. 130 Vgl. hierzu detailliert: Johann Hüttner (1975), passim. 131 Vgl. Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert von O t t o Erich Deutsch, Kassel/Basel/Paris/London/New Y o r k 1964, S. 101 132 Zitiert nach ebda., S. 104f.

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melodramatischen Phrasen auch keinen Vorteil gewinnen«, noch moderat a u s . " ' U n d über einen Monat nach der Aufführung wartet die Dresdener >Abendzeitung< mit einer differenzierten Besprechung auf. Dort heißt es, Schubert habe »die Worte sehr passend zu begleiten gewußt«; höchstens sei ihm vorzuwerfen, »daß er die Rede z« oft mit Musik unterbrochen habe«.'^'* Ergibt sich aus diesen Urteilen auch kein repräsentatives Bild, so fällt doch auf, mit welcher Selbstverständlichkeit die melodramatische Unterstützung der Deklamation als Bestandteil eines solchen Zauberspiels in die Kritik Eingang findet, und sei es in einem ironisch absprechenden Duktus. Die Musikwissenschaft hat inzwischen betont, daß Schubert keineswegs so willkürlich und planlos verfuhr, wie es den zeitgenössischen Rezipienten im Wirrwarr der mißglückten Aufführung erschien, sondern daß er vielmehr versuchte, mittels motivischer Verbindungen und gestisch wirksamer Floskeln eine Semantik zu gewinnen, die das (noch so chaotische) Stück musiktheatralisch verklammern sollte. So erfährt das durch eine allzu routinierte Theaterpraxis beförderte Vorurteil gegenüber dieser Spielart melodramatischer Bühnenmusik anhand der musikalischen Faktur eine späte Rehabilitierung. Zuvor hat Schubert das Melodram bereits in Des Teufels Lustschloß verwendet; hier erklingt Marschmusik zur Deklamation. U n d in seiner letzten Oper, Fierabras, die als besonders evidentes Beispiel der gattungsgeschichtlichen »Verzahnung« von Singspiel, Rettungsoper und romantischer Oper (mit Tendenz zur Durchkomposition) kenntlich gemacht w u r d e , " ' finden sich erneut sechs Melodramen, die der Librettist Kuppelwieser in größere Szenenzusammenhänge eingearbeitet h a t . " ' Das zweite Aktfinal weist sogar eine melodramatische Teichoskopie auf; derlei hat um ein Jahrhundert später Othmar Schoeck in seiner Penthesilea-OpcT unter ganz anderen Vorzeichen perfektioniert. Festzuhalten bleibt außerdem, daß noch im frühen 19. Jahrhundert vereinzelte Ausläuferwerke des Melodramas im Gattungsformat produziert werden; eines der spätesten liegt wohl mit Bernhard Anselm Webers Sappho (Text von Friedrich Wilhelm Gubitz) aus dem Jahr 1816 vor. Bis in die 1830er Jahre hinein erfahren außerdem die robusten Klassiker der Gattung eine (allerdings stark vermindert) fortdauernde Bühnenrezeption. U n d last but not least: Der ebenfalls bis in die dreißiger Jahre hinein andauernde theaterpraktische Austausch zwischen Schauspiel und Oper, die amphibische Tätigkeit der Darstellerinnen und Darsteller, dürfte den Kreuzverkehr melodramatischer Technik sehr begünstigt haben: Waren doch die Sänger sprecherisch befähigt und die Schauspieler in Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode. [Zitiert nach ebda., S. 106] Zitiert nach ebda., S. 108. Die melodramatische Musik der >Zauberharfe< besteht überwiegend aus kurzen Zwischensätzen; nur vereinzelt wird über Tremoli oder Akkorden gesprochen. 135 Vgl. Peter Ackermann (1998), Sp. 509. >Fierabras< konnte, da erst 1897 in Karlsruhe uraufgeführt, keine entsprechende Wirkung entfalten. Die melodramatisch-musikalische Verklammerung von Szenenkomplexen läßt sich auch für das Wiener Volkstheater nachweisen, etwa bei Raimund und Nestroy.

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der Lage, mit musikalisch geschultem Ohr ihre ohnehin an einem musikalisierenden Sprechstil orientierte melodramatische Deklamation auf die begleitende Musik abzustimmen.^'' Im Einzelfall würde es sich demnach als außerordentlich schwierig (und am Ende womöglich müßig) erweisen, definitiv entscheiden zu wollen, woher sich die Adaption der Technik, dem Komponisten mehr oder weniger bewußt, speist. Die Variabilität dieser spezifischen Verbindung von Sprache und Musik bringt es mit sich, daß von einem festen Szenentypus in den verschiedenen Gattungstraditionen allenfalls bedingt gesprochen werden kann. Bedenkt man außerdem, daß ganze Werkcorpora hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Zusammenfassung zu Gattungsmodellen bis heute in der Musikwissenschaft umstritten geblieben sind, so stellt sich die Frage, ob es sinnvoll sein kann, etwa >die< melodramatische Szene in >der< deutschen romantischen Oper definieren oder gar präzis auf diese oder Jene Einflüsse zurückführen zu wollen.'^® 1.2. Variable Stimmdramaturgie: Melodramatische Technik in der >Deutschen romantischen Oper< (Hoffmann, Weber, Marschner, Lortzing) Daß eine »deutsche romantische Oper« als eine musiktheatralische Gattung sui generis, wie sie Siegfried Goslich dargestellt hat, jemals existiert habe, wird bestritten.''' Die These, die dieser zunächst von Carl Dahlhaus pointierten Revision zugrunde liegt, macht den Zusammenhang des entsprechenden Werkcorpus, an dessen Anfang Spohrs Faust und Hoffmanns Undine stehen, als ein historiographisches Konstrukt k e n n t l i c h . D e r Versuch, die repertoirebeherrschenden italienischen und französischen Opern zu verdrängen, blieb erfolglos, und die deutschen Beiträge zur Operngeschichte jener Jahre erweisen sich als heterogene Neuformulierungen auf der Basis von Vorgaben, die das Singspiel und die gefestigten italienischen und französischen Operntraditionen boten. Während zwischen Frankreich und Italien ein Kulturaustausch stattfand, der 137 V g l . unter 1.3.2. Zu den Spezialisierungstendenzen, die verstärkt seit den 1820er Jahren einsetzen, vgl. neuerdings Thomas Seedorf (1998), Sp. 1806. 138 Vgl. die unten skizzierte Diskussion um die >deutsche romantische Oper< oder auch die um das Singspiel: » O b der Begriff Singspiel als musikdramatischer Gattungsbegriff überhaupt sinnvoll anwendbar sei, ist in der Forschung bis heute umstritten.« Joachim Reiber (1998), Sp. 1486 Vgl. Siegfried Goslich (1937) und (1975). Die spätere Arbeit fußt auf der Dissertation von 1937 und beanspruchte lange den Rang eines Standardwerks. Goslich war seit 1936 Orchesterreferent des Verbandes für Volksmusik in der Reichsmusikkammer. Nach dem Krieg veranstaltete er Konzerte mit zeitgenössischer Musik, darunter U r a u f f ü h rungen von Distler, Fortner, Henze, Reutter u.a. Vgl. M G G (1989), Bd. 5, S. 536 [Goslich über sich selbst!] Vgl. Carl Dahlhaus: Die romantische Oper als Idee und Gattung. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1983, Göttingen 1984 und Sieghart D ö h ring und Sabine Henze-Döhring (1997), S. 8

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sich u. a. in der Etablierung einer Institution wie des Pariser Theätre Italien (seit 1801) manifestierte, waren deutsche Komponisten - im Hauptberuf in der Regel Kapellmeister - auf ästhetische Anregungen von außen angewiesen. Dabei ergab sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine verstärkte Orientierung an französischen Einflüssen, und bereits der Umstand, daß man so divergente Werke wie Spohrs Faust, Hoffmanns Undine und Webers Freischütz als gattungsbegründend nebeneinander rückte, wird inzwischen als Zeugnis einer dem Wunsch nach nationaler und originärer Operntradition geschuldeten historiographischen Willkür gedeutet,''*' wenngleich auch diese Forschungsposition nicht unwidersprochen geblieben ist.'"*^ Ungeachtet der Gattungsquerelen ist es interessant, da ergiebig, einige der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Prototypen deutscher romantischer Oper unter der Fragestellung zu untersuchen, wie in ihnen melodramatisch gearbeitet wird. Denn daß diese Werke melodramatische Szenen oder Passagen enthalten, rechtfertigt allein zwar nicht ihre Subsumierung unter dem Gattungsbegriff, erhellt aber immerhin an prominenten Beispielen einen Ausschnitt der Praxis melodramatischer Operntechnik in der ersten Jahrhunderthälfte."' Was sie aufs Ganze gesehen gemeinsam haben, ist wohl vor allem der Stoffbereich, aus dem sie sich bedienen. Himmel und Hölle, Gutes und Böses, Menschen und Geister - eine kontradiktorische Ästhetik des Sinnlichen und Ubersinnlichen, der höchsten und tiefsten Werte bestimmt die meisten ihrer Sujets, und dies prägt ihr Repertoire des melodramatischen Spiels mit der Stimme. Eine melodramatische Erscheinungsepisode der besonderen Art hat bereits E. T. A. Hoffmann der Seena Nr. 8 im zweiten Akt der Undine (1816) integriert. Nach gesprochenem Dialog zwischen Berthaida und Undine steigt Kühleborn aus dem Brunnen herauf. Dabei hilft ihm eine über eine None hinweg aufsteigende musikalische Leiter, die später gegenläufig Kühleborns Rückkehr ins Wasser unterstützt. Zunächst alterniert die Musik mit weiterhin gesprochenem Dialog der beiden Frauen, ehe die Szene mit Gesang von Kühleborn und Undine in Musik aufgeht. Goslich hat sie als einen »Meilenstein« auf dem Weg »zum durchkomponierten musikalischen Drama und zur Leitmotivik« interpretiert, die Hoffmann in Undine geradezu »antizipiert« habe."'' Allerdings ist, wie Vgl. Döhring und Henze-Döhring (1997), S. 5ff. und 97f. Joachim Reiber (1998), Sp. 1486: Webers »innovative, neue Dimensionen eröffnende Tonsprache« lasse »eine Bindung des Werks an den älteren, auf kleinere Größen zugeschnittenen Begriff des Singspiels unangemessen erscheinen«. Dem wird entgegengehalten, daß die »katalysatorische Wirkung« des >Freischütz< bei weitem geringer war als von der späteren Operngeschichte suggeriert. Vgl. Döhring und Henze-Döhring (1997), S.S. Das Innovative des >Freischütz< sehen aber auch diese Autoren differenziert in der Kompositionstechnik. Vgl. ebda., S. 103f. Versuche, das Melodram zum spezifisch gattungskonstituierenden Merkmal präzis der deutschen romantischen Oper zu stilisieren, können nicht überzeugen. Vgl. insbes. Ackermann (1998), Sp. 509 und Goslich (1975), S. 390 In: E. T. A. Hoffmann: Undine. Zauberoper in drei Akten. Text von Friedrich H. K. de la Motte-Fouque. Hrsg. v. Karl Peter Pietsch, Klavierauszug von Eugene Hartzell, Wien und München 1975. Vorwort, o. S.

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die neuere Opernforschung unterstreicht, Hoffmanns erinnerungsmotivische Arbeit nichts prinzipiell Neues, und das von Goslich hervorgehobene Verfahren, eine melodramatische Szene musikalisch unaufgelöst zu lassen (und erst nach intermittierendem Dialog aufzulösen), nutzte auch Cherubini schon in Les Deux Journees. Und ferner haben, wie gezeigt, melodramatische Überschneidungen von Dialog und Musiknummer auch in früheren Opern schon die strenge Einteilung unterlaufen.^'*^ In der dramaturgisch umgekehrten Folge wird im dritten Akt das Terzetto Nr. 16 zum Dialog zurückgebaut: Huldbrand bleibt allein zurück, und nachdem er zuvor gesungen hatte, spricht er nun, in monologischer Situation, zwischen der und zur Musik; als Heilmann hinzukommt, vollzieht sich der Übergang zum rein gesprochenen Dialog. Diese Technik werden Komponisten wie Heinrich Marschner oder Albert Lortzing elaborierter und dramaturgisch differenzierter handhaben. Schon der Rückgriff auf den melodramatischen Topos des locus terribilis würde die berühmte Wolfsschluchtszene aus Webers Freischütz als außerordentlich eindrucksvolle, doch in Verbindung mit melodramatischer Technik nicht ganz originelle Erfindung kennzeichnen.'"" Auch der Gewittersturm am Ende der Szene ist, isoliert betrachtet, ein stereotypes Versatzstück des Melodramatischen von Beginn an.'"*^ Und aus den Schreckensopern der französischen Revolutionszeit ist die »Atmosphäre romantischen Grausens« in Höhlen, Kerkern, nächtlich dunklen Schluchten als typisches Sujet eines melodramatischen Zugriffs ebenfalls verbürgt.'"*® Dennoch ist die Wolfsschlucht, ganz abgesehen von ihrer kunstvollen musikalischen Gestalt und großen dramatischen Wirkung, als Besonderheit in der Reihe melodramatischer Opernszenen zu verzeichnen, gibt sie doch ein frühes Beispiel für die konsequente stimmdramaturgische Nutzung des melodramatischen Sprechens innerhalb eines umfassenden dramatischen Kontextes.'"" Denn die Sprechstimme wird hier, als Kennzeichen des Dämonischen, dezidiert gegen das in den musikalischen Teilen des Freischütz sonst exklusive Singen gesetzt; Von dem Moment an, da er sich die Position Samiels, des niemals singenden Teufels, in dessen Bereich zu eigen macht, spricht Caspar, '"'S In >Les deux jouriiees< ragt das melodramatische Sprechen der Constanze aus dem Melodram Nr. 12 in die Ensemblenummer 13 hinein, die also durch einen melodramatischen Übergang eingebunden wird. Zum Topos des locus terribilis als Manifestation der Ästhetik des Erhabenen im Melodrama vgl. Ulrike Küster (1994), S. 158ff. Der Hinweis auf die vollkommen diverse stoffliche Ausrichtung und strukturelle Gesamtanlage des frühen Melodramas hebt die formale Detailparallele nicht auf: Als musikdramatische Folie provozieren das antikisierende und das romantische Gewitter gleichermaßen das melodramatische Szenar. '•ts Vgl. Hermann Danuser (1975), S.46 '"" Die unmittelbare zeitliche Nachbarschaft mit Webers melodramatisch ausgefeilter Schauspielmusik zu >Preciosa< und den darin enthaltenen melodramatischen Passagen ist zu evident, als daß man sie mit einem Hinweis auf den aus damaliger Sicht ästhetisch minderen Rang heteronomer Schauspielmusik als irrelevant abtun sollte.

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der zuvor sang. Und Max verstummt in der dämonischen Sphäre des metaphysischen Gegenprinzips: Erst ganz am Ende schreit auch er, wie Caspar es tut, nach Samiel - der sogleich erscheint und mit furchtbarer Stimme kundtut: »Hier bin ich!« Das Melodram der Wolfsschlucht bezeichnet präzis den Bezirk der dunklen Kräfte, in dem vom Menschen nichts mehr gesungen wird. (Der Gesang der wilden Jagd ist Gesang der anderen Sphäre.) So spitzt sich das Geschehen zu auf Max' implizite (unbewußte) Einverständniserklärung in den Pakt mit dem Bösen.'50 Als in den 1830er Jahren der Freischütz in Paris aufgeführt wurde, komponierte Hector Berlioz neue Rezitative hinzu - »als Ersatz für den an der >Oper< durch eine Vorschrift verbotenen gesprochenen Dialog des Originals«. Samiel indes läßt er dennoch sprechen, empfindet er Webers Intention doch als »zu bestimmt«, als daß sie ruiniert werden dürfte. Und eine melodramatische Episode solchen Zuschnitts ist offensichtlich, da musikalisch hinlänglich ausgewiesen, tolerabel: »Die Vorschrift, welche an der >Oper< den gesprochenen Dialog verbietet, ist nicht so streng, daß sie einige, auf solche Weise angebrachte Worte, in einer musikalischen Szene nicht zuließe, und man hat gern diese relative Freiheit benutzt, um der Absicht des Komponisten auch hier gerecht zu werden.«'" Sowohl Hoffmanns Übergangsbildungen als auch Webers stimmdramaturgische Differenzierung finden sich den Opern Heinrich Marschners wieder. Lange Zeit galt Marschner als Vermittler zwischen deutscher romantischer Oper und Wagner; nach revidierter Einschätzung repräsentieren seine Werke abschließend einen als >Romantische Oper< bezeichneten Typus des Singspiels.''^ Wo sie melodramatisch gearbeitet sind, wäre das dementsprechend als fortgeführte Ableitung aus der alten Singspieltradition zu werten. Die spezifische Stoffwahl mit ihrer Konfrontation begünstigt jedenfalls die weitere Differenzierung melodramatisch angereicherter Stimmdramaturgie. In Der Vampyr nutzt Marschner melodramatische Technik erstens episodisch als unterlinierendes Pathos-Signal im Sinne der Hervorhebung eines kurzen, dramaturgisch zentral exponierten Auftritts. Zweitens fügt er sie, ähnlich wie Hoffmann in Undine, vermittelnd zwischen Musik und unbegleiteten Dialog. Die Oper wartet in der Introduktion mit einer Hexen- und Geisterszene auf, die mehrere zur Melodramatik prädestinierende Ingredienzen aufweist: Hexen und Geister (1) treten auf, »in abentheuerlichen Gestalten« (2), bei Mondschein und flackernden Irrlichtern (3). Sie kündigen den »Meister« an. Die Musik sammelt sich piano auf einem Halteton, der in einen melodramatischen Abschnitt hinüberleitet. Ein Crescendotakt führt aufs neue musikalische Bewegung herbei, dazu heißt es im Nebentext: »Hier tritt unter starkem Donner '50 Robert Braunmüller (1994), S. 163: »Im Unterschied zum Zuschauer, der die Szene zwischen Caspar und Samiel am Anfang des Wolfsschlucht-Bildes gesehen und gehört hat, ist Max unbekannt, daß die letzte Kugel des Teufels ist.« D a Max nicht wirklich weiß, was er tut, wird seine Freikugel kein Unheil anrichten. 151 Hector Berlioz (1912), S. 198 211

und Blitz (4) der Meister auf, Lord Ruthven an der Hand führend. Ein gelbroter Schein erhellt beim Erscheinen des Meisters das Theater. Der Mond verfinstert sich (5).« Die kurzfristig in Sechzehntelkaskaden Fahrt gewinnende Auftrittsmusik beruhigt sich nach wenigen Takten, und die eigentlich melodramatische Passage beginnt. Uber leisen Akkorden und Paukentremoli benennt der Meister konzis die Bedingung, die das dramatische Material der Oper exponiert. Die dramaturgisch entscheidende Information, conditio sine qua non der anschließenden Handlung, ist ins (atmosphärisch dichte) Melodram innerhalb der gesungenen Introduktion verlegt; der melodramatische Modus, der den stimmlichen Auftritt im Verhältnis zur Musik veschiebt und im wörtlichen Sinn aus dem (musikalischen) Rahmen hebt, tut ein übriges an exponierender Wirkung.'^^ (Die Darstellung dessen im zeittypischen genus grande eines aus musikalischem Sprechen gespeisten Pathos erscheint geradezu zwingend.) Ohne Pause findet sich die zuvor als Allegro feroce anstürmende Musik in ein Andante sostenuto hinein, in dem Lord Ruthven, nun singend, schwört, die Bedingung zu erfüllen. Eine weitere melodramatische Passage enthält die vierte Nummer des Vampyr (Chor mit Soli). Man sucht nach Janthe, der Tochter des Sir Berkley, und gelangt vor die Vampyrhöhle. Hinter der Szene sind Janthes Rufe zu hören. >Stringendo il tempoMelodram und LiedChanson und Melodram< zeigt Zuniga und Don Jose im Dialog, zu dessen Ende Zuniga sich an Carmen wendet, mit der Aufforderung, sie möge sprechen. Sie trällert und singt statt dessen, worauf er sie, melodramatisch sprechend, zurechtweist: »Ce ne sont pas des chansons que je te demande, c'est une response.« (Schon weil er sie plötzlich schroff duzt, ist das melodramatische Sprechen und ist die melodramatische Fassung der Szene wirkungsvoller als die spätere Rezitativfassung von Ernest Guirand.) Es ist ein handlungsbezogen dynamisches Melodram, in dessen weiterem Verlauf mehrere Frauen schreiend die Postenkette durchbrechen, bevor Carmen unter fortwährend höhnischen gesprochenen Kommentaren des Zuniga schließlich festgenommen wird; all dies wird instrumental grundiert durch Carmens ChansonMotiv.'" Um schließlich ein weiteres französisches Beispiel zu nennen: Jules Massenet - der in seinen späteren mythologischen Opern, etwa in Ariane (1906) oder in Bacchus (1909), mit einem melodramatischen Prolog, vielfach melodramatisch arbeitet - behandelt in Manon den gesprochenen Dialog in sämtlichen fünf Akten durchweg episodisch als melodramatischen Einschub, also eingebunden in musikalische Verläufe zwischen gesungenen Ensemblepassagen. So ist der Heiratsantrag Grieux' an Manon ein melodramatischer Dialog, der beim Auftritt Lescauts wie selbstverständlich durch gesungene Töne abgelöst wird. (Formaliter ähnelt dieses Verfahren dem, das in Operetten häufiger Verwendung finden wird.) In Deutschland bewirkt der Einfluß der von Wagner geforderten »Versmelodie« eine Tendenz zur Modifikation der Gesangsdeklamation in Richtung auf einen (von Wagner selbst nicht mit diesem Terminus belegten) »Sprechge165 Vgl. ebda., p.l88f. 166 A u c h in der Nr. 12 >Chor und Ensemble< wird zunächst in melodramatischem Polylog gesprochen. Die Strophen des berühmten Couplets des Escamillo sind durch kurze gesprochene Dialogeinschiebsel verbunden.

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sang«.''^ Indem dabei eine weitgehende, wenngleich stets stilisierte Annäherung der spezifisch musikalischen Gesangsdeklamation an die, ihrerseits als stark musikalisiert vorzustellende, sprechsprachliche Bühnendeklamation entsteht, ist zugleich implizit und folgerichtig der Modus auch des melodramatischen Sprechens im Duktus des »Sprechgesangs« aufgehoben. Dennoch verschwindet das dezidierte melodramatische Sprechen nicht aus deutschen Opern. So präsentiert Victor E. Nessler in seiner 1879 in Leipzig uraufgeführten Oper Der Rattenfänger von Hameln eine melodramatische Prolog-Szene. Ist es in Offenbachs Orphee aux enfers die >Offentliche MeinungDeutsche Sage< in einer Adresse ad spectatores das Publikum vorab mit der Handlung bekannt zu machen; graphische Unterstreichungen bestimmter Wörter im Notentext koordinieren dabei punktuell die Sprache und den Wechsel sie stützender Akkorde. Wilhelm Kienzls >musikalisches Schauspiel< Der Evangelimann (1895) integriert den nonverbalen Ableger der melodramatischen Technik, einen >stummen Monolog« (1,4). Kienzl notiert: »Die Darstellerin der Martha hat diese ihre Seelenstimmung schildernde melodramatische Musik in maassvollster, aber in einer dem Charakter der musikalischen Phrasen entsprechenden Weise mimisch auszufüllen«.Kienzls etwa späterer Don Quixote (1897) wartet dagegen mit einer deklamierten Briefszene auf, einem schon älteren Sondertypus der melodramatischen Szene. Eugen d'Alberts Oper Kain, 1900 in Berlin uraufgeführt, mag abschließend belegen, daß die Einfügung melodramatischer Momente ins musikdramatische Gefüge nicht mehr nur in Szenenform oder zur Herstellung von Ubergängen, sondern vermehrt als stimmlich variablere Technik an Selbstverständlichkeit gewinnt. In Kain ist die >Stimme des HerrnSprechgesangOper und DramaLa Belle Helene< durch Korngold und Reinhardt - zum Ende des hier veranschlagten Untersuchungszeitraums - nicht zuletzt von ausgiebiger N u t z u n g der weiter elaborierten melodramatischen Technik leben wird. 180 Vgl. Erika Fischer Lichte (1993), S. 167ff.

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oder Melodrama die Massentheater füllt."' Nochmals sei deshalb darauf verwiesen, daß in der Theaterform des Boulevardmelodrams Musik eine wichtige Rolle spielt und daß dabei auch melodramatische Untermalung der (oft höchst leidenschaftlichen) Dialogführung praktiziert wird."^ Melodramatische Musik ist dem Volkstheaterpublikum also schon aus dieser Quelle vertraut. Doch auch in die verschiedenen Formen der Posse finden melodramatische Verfahren Eingang. Vom Zwang befreit, die Psychologie des dramatischen Personals an der Kategorie des Wahrscheinlichen auszurichten, ist das Volkstheater in jedem Moment auf Zauber und komische Entlarvung einzustellen. Gegen reichen Einsatz von Musik bestehen insofern keine theoretischen oder praktischen Einwände; ein wichtiger Grund für den anhaltenden Publikumserfolg nicht allein der Theaterform als solcher, sondern auch ihrer Protagonisten, die durch darstellerische Virtuosität glänzen - besonders durch ihren zwischen Singen und Sprechen changierenden Coupletvortrag.'®' Zu Ferdinand Raimunds Original-Zaubermärchen in drei Aufzügen Der Verschwender liegt eine Komposition von Konrad Kreutzer vor (1834), die dieses Stück musikalisch verschwenderisch ausstattet. Vier der 18 Nummern sind oder enthalten explizit Melodramen. Die Nr. 4 (Melodram) beginnt mit Musik, während der Vorhang sich öffnet. In Raimunds Text ist dazu angemerkt: »Dann unter rauschender Musik Verwandlung in eine goldene Feenhalle« (S. 528).'®'* Hier wie im weiteren Verlauf richtet sich Kreutzers Musik genau nach den Szenenanweisungen des Nebentextes. Azur, der perlen- und zaubergeborene Geist, stellt sich zunächst mit zwei unbegleiteten Versen vor. Dann folgt dialogischer Austausch mit Cheristane über liegenden leisen Akkorden. Azur wird aus »des Schicksals Buch« das Fatum Flotwells verkünden. Raimund verlangt: »Jetzt folgt eine zitternde Musik darunter.« (S. 529) Und ausweislich des Klavierauszugs zittern denn auch Kreutzersche Tremoli. Auch das folgende Melodram siedelt im Bereich von Zauber, Geistern und Verwandlung. Unter Musik verwandelt sich Cheristane in ein Bauernmädchen (vgl. S. 532). Zwei Takte huschender Sechzehntel, zwei einer aufstrebenden Achtelbewegung und zwei abschließende Akkorde genügen dazu. Hier ist das Melodram gemäß dem Vgl. Johann Hüttner (1975). Insofern das Boulevardmelodram sich nach der einschlägigen Darstellung von Johann N. Schmidt (1986), S. 108ff., als »Volkstragödie« charakterisieren läßt, hätte demnach das Volkstheater neben den »Volkskomödien« tatsächlich eine in einem entscheidenden Punkt differierende Darstellungsform gekannt. '82 Daß Musik hier integraler Bestandteil des Ganzen ist, in dem sie rezeptionspsychologisch aufgeht, erläuten Johann N. Schmidt (1986), S. 28. Schmidt führt aus, daß der Musikanteil im Boulevardmelodram »zwar dem Melodrama >Rhythmus< und >Melodie< verleiht, seine Qualität als akustisch wahrnehmbares Merkmal jedoch zugunsten raumzeitlicher Vorstellungswerte aufgehoben sein kann«. Das Couplet wird in einem zum Sprechgesang oder melodramatischen Sprechen, also zur Verschiebung der Gesangsstimme gegen die musikalische Faktur, tendierenden Duktus vorgetragen. Zitate nach: Ferdinand Raimund: Der Verschwender. Original-Zaubermärchen in drei Aufzügen. In: Ders. (1960), S. 5 0 7 - 5 9 8 225

Raimundschen Text szenenübergreifend gebaut: Der Dialog von Flotwell und Cheristane (1,13, S. 533ff.), zunächst unbegleitet, ist weiterhin Bestandteil des melodramatischen Szenenkomplexes. Als dann ein roter Adler sich zeigt und Cheristane von Nebelgestalten bedroht wird, begleitet Musik diese übernatürlichen Erscheinungen und den fortlaufenden Dialog. Die stofflichen Vorgaben, die Melodramatisches auch in romantischen Opern prägen (übernatürliche Erscheinung, Verwandlungsmotiv) kommen zum Zuge: Das Melodram Nr. 13 ist eine Sturm- und Gewitterszene. Insofern ist das melodramatische Verfahren ein weiteres Mal als prinzipielles musikalisches Äquivalent zu stofflichen Uberschneidungen der Gattungsmuster zu kennzeichnen.'®' Und erneut sei am Beispiel Raimund/Kreutzer auch das Moment des melodramatischen Übergangs thematisiert, das sich vollends als ein gattungs- und spartenübergreifend wirksames entpuppt. In der Szene 11,11 heißt es: »Diese Worte spricht Flotwell schon unter der leise beginnenden Musik. - Zugleich: Chor von Gästen: >0 seht doch dieses schöne Tal...«Fünf modernen Melodramen mit Klavierbegleitung op. 86:< »So schmiegsam natürlich der Klavierspielende dem Wort zu folgen hat - in der Hauptsache wird doch der Sprechende sich dem Takt der Musik anpassen müssen; er darf dies getrost, da die Rhythmik der Klavierpartie durchaus auf der des Gedichtes sich aufbaut.« Uhl: >Die Wallfahrt nach KevlaarTrauermarschs< (den er mit einem Text von Ujejski unterlegte) sind Silben in solch hoher Frequenz unterstrichen, daß ein quasi-rhythmisiertes Sprechen entsteht; hier wird die Musik das Sprechtempo nach Einzelworten oder syllabisch definieren. (In diesem Fall einleuchtend, da es widersinnig wäre, den >Trauermarsch< zu einer mit dem Text gehenden Illustrationsmusik umzuwidmen.) 21'' Exemplarisch: Max Schillings rhythmisiert in allen seinen Melodramen den Text über weite Strecken.

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lären Compositionen zu Göthe's Faust ab, seit Humperdincks Königskindern und seit Schönbergs Gurreliedern in anderen Gattungen praktiziert - scheint erstmals 1913 in Oskar Frieds Die Auswanderer versucht worden zu sein. Relationen der Lautstärke zwischen Sprache und Musik ergeben sich jeweils aus der Dynamik und Dichte des begleitenden Parts: In der Regel wird er sich in dynamisch zurückgenommenen Bereichen bewegen, so daß der Deklamation relative dynamische Freiheit eingeräumt ist, aber es ergeben sich durchaus auch musikalisch forcierte Forte-Effekte der Deklamation, wenn der Klavieroder Orchesterpart zu entsprechenden Lautstärkegraden vordringt. Bei alldem ist stets vom gehobenen und per se musikalisierten Sprechton der inzwischen konventionellen theatralen Deklamationspraxis auszugehen. Denn nicht zuletzt sind Balladen in melodramatischer Aufbereitung ein Glanzstück berühmter Schauspieler und Deklamationsvirtuosen. Viele Konzertmelodramen sind Widmungsstücke, mögen sie von bekannten Komponisten stammen (die mitunter von den Deklamatoren darum gebeten werden) oder von unbekannteren (die sich durch eine solche Widmung womöglich einen gewissen Zuwachs an Renomee versprechen).^'^ Seine Bearbeitung von Dräsekes Helges Treu widmet Liszt dem Schauspieler Bogumil Dawison. Lenore ist Maria Seebach gewidmet, die das Stück jedoch nicht aufführen mag.^'^ Die prominenteste Position in der Reihe der Widmungsstücke nehmen dann um die Wende zum 20. Jahrhundert jene Vertonungen ein, die Ernst von Possart als Sprecher aus der Taufe hebt. Gleichzeitig zu Humperdincks Königskindem komponiert Richard Strauss 1897 das monumentale Melodram Enoch Arden auf eine Ballade von Alfred Tennyson in deutscher Nachdichtung. Mit Possart als Sprecher geht er damit 1897/98 auf Tournee.^'' Und 1902 führt ebenfalls Possart ein weiteres außergewöhnlich umfangreiches Melodram ins Konzertleben ein, Ernst von Wildenbruchs Hexenlied, das Max Schillings in einer eigens für den melodramatischen Vortrag eingerichteten Bearbeitung des Dichters aufwendig vertont hat.^'® Eine der wohl Im Klavierauszug zu Schillings' >KassandraKassandra< und >Eleusisches Fest< verdanken ihre Entstehung und formale Gestaltung der Anregung des H e r r n Intendanten Ernst von Possart.« Ein in zweiter Reihe stehender (von Zeitgenossen wie Schumann und Liszt geachteter) K o m ponist wie Carl Reinecke widmet das Melodram >Der Mutter Gebet« (Woldemar Alberti) der berühmten Hofschauspielerin und Sprechvirtuosin Clara Ziegler. Seebach, über eine ausgebildete Singstimme verfügend, soll »wunderbar gehauchte Töne [ . . . ] zwischen Rede und Gesang liegend« produziert haben. Vgl. Herbert Biehle (1931), S. 273. Die Aufführung lehnt sie angeblich mit der Begründung an, »das G e dicht mit dieser Begleitung nicht sprechen zu können«; Franziska Wagner-Ritter hingegen kann es: »Ihre Accente waren ergreifend, erschütternd und verbanden sich mit der Musik zu einer, wie gleichzeitig geborenen Einheit dramatischen Lebens. Die >Lenore< zündete«. Auf diesen Erfolg hin komponiert Liszt für sie, nach einem Text ihrer Wahl, Lenaus >Der traurige MönchHexenliedesLieder und Balladen« befindet, ist von mir selbst für H e r r n M a x Schillings vorgenommen worden und darf nur

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ungewöhnlichsten Figuren auf den deutschen Theaterbühnen und Konzertpodien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt sich dann ab 1903 des Hexenlieds an: der Lied- und Opernsänger, Schauspieler (u. a. bei Reinhardt und am Burgtheater), Dirigent, Violinist und ebenso eigenwillige wie exzellente Rezitator und Deklamator Dr. phil. Ludwig Wüllner. Nachdem er in etlichen deutschen Städten mit dem Hexenlied aufgetreten ist, macht er es durch eine Tournee auch in N e w York, Boston, Philadelphia bekannt.^'' Wüllners noch 1933 mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung des Komponisten eingespielte Aufnahme dieses Werks zeugt davon, wie weitgehend deklamatorischer Vortrag im Konzertmelodram unter den Prämissen jenes musikalischen Deklamationsstils steht, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert etabliert hatte. Mit Klängen, die heutigen Ohren völlig fremd geworden sind, bedient Wüllner die ganze Klaviatur der Tonmalerei, des Portaments, der schleifenden und tremolierenden Tongebung, des Brust- und des Kopfregisters, vereinheitlichender vokalischer Färbungen ganzer Textpassagen, und wo es ihm passend erscheint, vollzieht er umstandslos den Ubergang zum harmonisch in die musikalische Faktur eingepaßten Gesang - wenngleich Schillings lediglich Rhythmisierungen der Sprechstimme, jedoch keine Tonhöhen notiert.^^" Wüllner setzt sich im übrigen auch mit Erfolg für die Aufführung schwierig zu realisierender melodramatischer Werke wie Robert Schumanns Manfred oder Hector Berlioz' Lelio ein. In solchen Grenzformen zwischen musikalisch-konzertanter und rezitatorischer Darbietung einerseits, musiktheatralischer und mimisch-deklamatorischer Darstellung andererseits findet dieser künstlerische Grenzgänger ein ideales Medium. 2.3. Popularisierung: Trivialmelodramen, melodramatische Festspiele Deklamation wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem sämthche Ebenen des kulturellen Lebens erfassenden Breitenphänomen.^^' Nicht nur in den verschiedenen Theaterformen und im professionellen Podiumsauftritt wird deklamiert, auch in der Schule, im häuslichen Kreis, in den Vereinstheatern und bei verschiedenen Anlässen des öffentlichen Lebens.^^^ Konstitutiv für diese Praxis

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mit der von ihm dazu verfassten Musik zum öffentlichen Vortrag gebracht werden. Ernst von Wildenbruch.« Es scheint, daß weniger die große Orchesterfassung als die (für den Hausgebrauch adaptierbare) Klavierfassung dem Stück seine Popularität sicherte. Vgl. Franz Ludwig (1931), S.206f. Als entsprechendes zeitgenössisches Zeugnis vgl. ebda., S. 205f.: »Er spricht und deklamiert, singt, psalmodiert, er nimmt den musikalischen Rhythmus auch in das gesprochene Wort herüber und dient in allem der Musik, ohne der klaren Prägung des Wones Abbruch zu tun«. Vgl. zu den verschiedenen Formen die einleitenden Passagen im Hauptkapitel I. dieser Arbeit. Vgl. nochmals die eindrucksvolle Fülle der Deklamatorien und Anthologien, die Günter Häntzschel ermittel hat: Häntzschel (1985), S. 206f.

ist, daß sie dazu tendiert, die Grenzen zwischen ästhetischer Welt (der Kunst) und nichtästhetischer Welt (der Gesellschaft) zu negieren. Diese Feststellung hat zwei für den vorliegenden Zusammenhang relevante Aspekte: Zum einen dringen mit der Deklamation das melodramatische Sprechen und melodramatische Formen in die populäre oder triviale Kultur vor. (Damit sei hier gemeint, daß einer nicht professionell ausgeübten Praxis eine spezifische melodramatische Produktion entspricht.) Zum anderen finden Melodramen Eingang in die Festspielkultur, und damit in eine F o r m der Ästhetisierung öffentlichen Lebens, die per se die Scheide zwischen Kunstpraxis und Rezeption unterläuft. Was den ersten Aspekt betrifft, so erweisen sich die Grenzen als fließend, denn keineswegs in allen Fällen läßt sich unterscheiden, ob eine Komposition primär für den Podiumsvortrag gedacht ist oder für die häusliche oder sonstige halböffentliche Aufführung.^^' Zahlreiche Verlagsanzeigen zeugen von einer sehr regen, zur Jahrhundertwende hin sich ausweitenden Produktion, die offensichtlich einer intensiven privaten Nachfrage entspricht. Neben Vertonungen bekannter Lyrik nach dem Muster des Konzertmelodrams finden sich zahlreiche variierte Spielarten, deren Textvorlagen als Gebrauchsliteratur zu bezeichnen sind. D a z u gehören zum Beispiel Weihnachtsspiele, als Weihnachts-Melodramen, Weihnachts-Festakte, Weihnachtsfestspiele deklariert; sie lassen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nachweisen. A n ihnen sind, wie an den weiteren populären Formvarianten, meist auch solistische Sänger und Chöre beteiligt, und selbst die aus dem 18. Jahrhundert stammende Spezialität des tableau vivant erfährt hier eine kulturgeschichtlich bemerkenswerte Wiederauflage.^^'' Auch abgelegenere religiöse Sujets werden bearbeitet, mit fließenden Übergängen zwischen melodramatischen und angrenzenden Formen mit Deklamation oder »mit verbindender Deklamation«.^^^ Daneben gibt es Märchenspiele in verschiedenen Besetzungen, die auf szenische oder halbszenische Spielformen schließen 223 H ä u f i g sind es unbekannt geblieben Komponisten, die sich Sujets der verschiedensten Art wählen; selbst humoristische sind dabei. Beispiel: Der Fluch der Kröte von Gustav Meyrink. Begleitende Musik von Arnold Winternitz. Für Klavier (mit vollständigem Text), Leipzig o.J ^^^ Beispiele: C . Haass: Bethlehem. Weihnachtsfestspiel für Frauen- oder Kinderchor, Altoder Mezzosopransolo, melodramatische Scenen, lebende oder Licht-Bilder mit Klavierbegleitung und Deklamation. Text von Ferdinande Schmidt, op.34, Regensburg 1903. - Josef Deschermeier: Engelsläuten oder D a s Gebet der Mutter. Ein Weihnachts-Melodram für Deklamation, Chöre (gem. Männer- oder Frauenchor) und Pianofortebegleitung, Regensburg 1908. - Otto Gauß: Bethlehem. Weihnachts-Festakt für Chor, Soli und Deklamation, verbunden mit lebenden Bildern, Regensburg 1930 225 Max Welcker: Marienfreud, Marienleid, ein Blumenkranz der Gottesmaid. Kantate nach den freudenreichen Geheimnissen des heiligen Rosenkranzes. Für Soli und dreistimmigen Frauenchor mit Harmonium-Begleitung, Deklamation und lebenden Bildern nach deutschen Meistern, Dichtung von M. Xaveria Geßel, J. B. M. V. op.l25. August Reiser: Der Geiger von Gmünd. Religiöses Singspiel in fünf Abteilungen nach der gleichnamigen Legende von Justinus Kerner. Frei gedichtet von Elise Miller Für Soli, Chor, Melodramen, Kinderstimmen, Violine und Klavier [=Katholische Dilettantenbühne. 158.Heft], Kempten o . J .

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lassen.^^^ Andere Melodramen richten sich explizit an ein jugendliches Publikum, oder sie sind ausdrücklich für den schulischen Gebrauch bestimmt.^^^ Die melodramatische Praxis setzt sich auf dieser Ebene ungebrochen ins 20. Jahrhundert fort. Während des Ersten Weltkrieges und danach kommt, wie das z u m Pathos geneigte Genre es nahelegt, ein neues Sujet hinzu, indem nun konkret der Krieg z u m Stoff patriotischer Melodramatik wird. Im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main finden sich Tonaufnahmen solcher Stükke, die belegen, daß hier die Deklamation auf hohem Kothurn als sprechstilistisches genus

gründe

an der Grenze zur Selbstparodie daherkommt.

Unter

wirkungsästhetischem Aspekt gewinnt die Verknüpfung der nationalen Sache mit christlich-religiösen Konnotationen innerhalb der melodramatischen F o r m dadurch Bedeutung, daß mitunter Harmonium, Orgel, Blechbläser oder Glokken die Instrumentierung bestimmen.^^® D e r Pathos-Effekt eines Appells an das gekränkte Nationalgefühl bildet sich in den zwanziger Jahren auf textlicher Ebene ab, wenn Melodramen mit antifranzösischem oder dezidiert antidemokratischem Affekt mit dem Gesang des Deutschlandlieds enden.^^' U n d als sich die Situation der Republik erneut krisenhaft zuzuspitzen beginnt, regt sich in einem Melodram mit Blasorchester, Chor, Orgel und Glocken mung

Rheinlandräu-

der religiös verbrämte Ruf nach dem Führer.^'"

Was, zweitens, die Einbeziehung melodramatischer F o r m e n in die Festspielkultur angeht, so mögen einige Ergänzungen gewisse stoffliche und strukturelle Überschneidungen erweisen. D e r Appellcharakter der genannten Kriegsmelo^^^ C. Haass: Gretel im Feen-Reich. Musikalisch-melodramatisches Märchenspiel für Kinderreigen und weiblichen Chor, Sopransolo, Deklamation und Klavierbegleitung. Text von Ferdinande Schmidt, Regensburg 1904. - C. Haass: Frieder und Trudel. Musikalisch-melodramatisches Wald-Märchen für Sopran- und Alt-Soli, weiblichen Chor, Kinderreigen, Deklamation und Klavierbegleitung, Regensburg 1907 227 Der Peter in der Fremde. Melodrama. Gedicht von Eberhard. Für Declamation mit Pianofortebegleitung. Eingerichtet und jungen Declamatoren gewidmet von Rudolph Böhringer, Magdeburg o. J. - Simon Breu: Wielands Flug. Dichtung von M.Waldeck. Für Knaben-, Männer- und gemischten Chor, Bariton- und Baßsolo mit Begleitung des Pianoforte und verbindender Deklamation. 228 Landwehrmanns Weihnachtstraum. Großes Weihnachtsmelodram (Sprecher: Charles Lindemann) [Mit Knabenchor, Harmonium, Kirchenglocken] (Aufnahme 1914. D R A Archiv-Nr. 1560102) 229 Hermann Mestrum/Hubert Ebeler: Der Legionär. (Sprecher: Karl Zander) (DRA Band-Nr. 78 U 3616/4). - Carl de Vogt nach Heinrich Seidel: Hofmusikanten. Melodram (Carl de Vogt mit Ensemble) (DRA Band-Nr. 82 U 2407/7). Es ist davon auszugehen, daß hier das Publikum einbezogen wurde, daß also, ähnlich wie bei nationalen Festspielen, ein verbindendes Gemeinschaftserlebnis mit Handlungsimpuls intendiert war. 230 Josef Snaga: Rheinlandräumung (Aufnahme 1929. D R A Band-Nr. 73 U 3129/4) Textauszug: »Aus tiefer Not schrei ich zu dir... Herr Gott, erhör mein Rufen... Herrgott, den Führer sende, der meinen Kummer bände mit mächtigem Gebot. Erwecke doch den Helden, der stark in aller Not sein Deutschland mächtig rühret, sein Deutschland gläubig führet ins junge Morgenrot.« 238

dramen etwa ist auch im Bereich des patriotischen Festspiels von Bedeutung: »Die Integration der Zuschauer und die Befestigung ihrer kollektiven Identität«, schreibt Peter Sprengel, »ist eine grundlegende Funktion des Festpiels.«^'' Infolgedessen, so Sprengel weiter, spiele die intentionale Adresse der Spieler an die zu Mitakteuren aufgewerteten Zuschauer eine entscheidende Rolle. Auch Festspiele sind ferner Bestandteil der Laienkultur und dringen, wie Ulrich Schroeder gezeigt hat, in die Schulen vor; ab 1851 übernehmen sie dort eine staatlich verordnete, politisch affirmative Erziehungsfunktion.^'^ Bevorzugte Anlässe für Festspiele sind seit den deutschen Nationalfesten von 1813/14 patriotische Feierlichkeiten und Geburtstage der herausragenden Repräsentanten des Staates; nach 1870 sind dies Gelegenheiten wie der Sedan-Tag und der Geburtstag des Kaisers, die Sprengel beide »auf den Typ des vormärzlichen Nationalfestes« zurückführt.^'' Auf der anderen Seite besteht eine proletarische Festkultur, die »dramatische Vorträge« und lebende Bilder integriert. Hier verdichten sich die Zusammenhänge mit den populären melodramatischen Formen, die aufgrund ihrer offenen Anlage ebenfalls zu halbszenischen Ausprägungen neigen und eine Praxis wie das tableau vivant in sich aufnehmen. Sowohl patriotische Festspiele der öffentlichen >Erwachsenenkultur< als auch solche, die an den Schulen Verwendung finden, bedienen sich melodramatischer Gestaltungen.^''* Melodramatische Szenen lassen sich ebenso nachweisen wie die spezifische Verwendung melodramatischen Ubergangs: In Friedrich Hofmanns Festspiel zum deutschen Nationalsiegesfest Drei Kämpfer (1872) wird am Ende melodramatisch übergeleitet in einen gemeinschaftlichen Gesang der Akteure und des Publikums.^'' Das zeitliche Zusammenfallen einer Konjunktur des Melodrams mit einer des Festspiels während des Wilhelminismus ist ebenso wie die Aufnahme melodramatischer Elemente in Formen des Festpiels von besonderer Signifikanz, akzeptiert man die These vom sprechstilistischen genus gründe, das im Modus 231 232 233 234

Peter Sprengel (1991), S. 19 Vgl. Ulrich Schroeder (1990), S. 9 Sprengel (1991), S. 50 Ad 1: Julius Rodenberg: Die Heimkehr. Ein Festspiel zum feierlichen Einzug der Truppen in Berlin (1871). [Abdruck in Sprengel (1991), S. 127ff.] - Otto von Reichert: Der deutsche Krieg 1870. Melodram, Amberg 1871. Vgl. Sprengel (1991), S. 54. - Ad 2: G. Taute: Die Leipziger Schlacht. Melodramatische Dichtung für zweistimmigen Kinderchor mit Klavierbegleitung und verbindender Deklamation. Musik von Th. Hagedorn, op.30, Leipzig 1912 [Abdruck der melodramatischen Nr. 4 bei Schroeder (1990), S. 356] - Simon Breu: Bilder aus der Kriegszeit. Ein vaterländisches Festspiel für Schulen und Vereine. Gedicht von M. L. Knabl. Für Solostimmen, Melodram, Violinsolo, gem. Chor oder l - 3 s t g . Kinder- (Frauen-) Chor mit Klavier-Begleitung (Harmonium ad libitum) und verbindender Deklamation, Würzburg 1918 (Enthält Chöre auf die »starke deutsche Eiche«, ein Abschiedsmelodram zum Auszug eines jungen Gefreiten, ein Heimwehmelodram (>Im FeldTod eines HeldenDer Streik in der Schmiede« [...] in der Schiller-Akademie am 10. Mai 1870 erschien Lewinsky in der Maske eines Schmiedegesellen in blauer Bluse, die Mütze in der Hand, mit gramdurchfurchten Zügen und sprach seine erschütternde Rede ins Parkett, als säßen dort die Geschwornen«.

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Hände in einer bestimmten Art bewege, den gedachten Dreispitz unter den Arm klemme und d o n festhalte.^''^ Die Texte ihrer Chansons begreift Guilbert als Sujets, die es plastisch zu machen gelte, und dazu dient neben der gestisch-mimischen Andeutung primär die stimmliche Gestaltung: Wir sind in der Tat Maler, Bildner, und unser Organ ist gleichsam unsere Palette. Durch den gemischten Einsatz der Sprech- und Gesangsstimme und durch die Vielfalt der »Nuancen« bringen wir Farbe in das Chanson, beleuchten wir unsere Gestalten, die Sujets, ihre Atmosphäre und die Epoche.^'" In erster Linie, so Guilbert, sei sie nicht eine Sängerin, sondern eine Schauspielerin mit einem, wie sie es nennt, literarisch-musikalischen Anliegen: Texte in einer Weise zu gestalten, die ihr den Ruf eintragen, eine Diseuse zu sein, eine Künstlerin, die ihre Chansons mehr sagt als singt. Vom Rezitieren her entwikkelt sie den geeigneten Duktus und musikalisiert ihn je nach Erfordernis. Der Rollengestus kann dabei unmittelbar aus der Klanglichkeit einzelner Sprachoder Sprechelemente evoziert werden; innerhalb der blutrünstigen vom

Heiligen

Nikolaus

Legende

etwa hat der Erzähler folgende Verse mit belegter

Stimme zu artikulieren: »Quand le boucher entendit 9a, / Hors de sa porte il s'enfuya!« Guilbert erläutert: Hier bietet sich dem Vortragenden die einmalige Gelegenheit, unter Ausnutzung der Musik den Klang zu kolorieren, indem er die Vokale >a< in dem Wort >s'enfuya< effektvoll dehnt: aaaaaaaaaa! und auf diese Weise einen langgezogenen Angstschrei erzeugt, den der Schlächter ausstößt, als er sein Verbrechen durch den Heiligen entdeckt sieht.2« U m die bedeutungsstiftend umzumünzende Differenz der Stimme zur Musik zu gewährleisten, entwickelt Guilbert eine Technik, die sie als Kunst der »Ubergangsrhythmen« bezeichnet: Es ging darum, den musikalischen Rhythmus zu verlassen und ihn durch das rhythmisierte Wort zu ersetzen, und dies den Betonungen und Anforderungen des Textes gemäß. [...] Die Schwierigkeit, vor die sich viele Gesangsschülerinnen oder Nachahmerinnen gestellt sahen, bestand nicht darin, den Rhythmus der Melodie zu verlassen, sondern darin, genau an der richtigen Stelle zu ihm zurückzukehren. Der Übergangsrhythmus verleiht der Kunst der Diseuse eine erstaunliche Ausdruckskraft.^"*^ 2 « Yvette Guilbert (1981), S. 82 2 « Ebda., S.44 Ebda., S. 47. Für diese >Legende< wird eine äußerst farbenreiche Palette entworfen. Einige Beispiele: Ein Erzähler trägt zunächst »mit neutraler Stimme« die Geschichte v o r Ein Kind kommt »mit tonloser, flehender Sprechstimme« ins Spiel; ein Schlächter »mit harter, rauher Stimme« lädt die Kinder zu sich. In der folgenden Strophe packt den Erzähler selbst das Grauen - »er spricht daher mit bebender, durch die grausame Tat des Schlächters erschütterter Stimme; und voller Schrecken wird seine Stimme am Ende des Verses anschwellen.« Später schaltet sich Nikolaus ein, »mit edler, gesetzter und tiefer, aus der Brust hervorgeholter Sprechstimme - sogenannter >roter StimmeMonodrame lyrique avec orchestre, choeur et soli invisible< mit dem Haupttitel Lelio ou Le retour a. la vie. Als Fortsetzung der Symphonie fantastique gedacht, wird es 1832 zunächst konzertant aufgeführt als >Melologue< Le retour a la vie. Die Handlung auch der späteren szenischen Fassung schließt in der Tat an das Programm der Symphonie an. Wolfgang Dömling analysiert Lelio als »ein Stück, das man geradezu eine Apotheose der Mehrdeutigkeit und des Montageprinzips nennen kann; es spielt mit Handlungsebenen und Zeitschichten, dem Changieren zwischen Illusion und Realität, dem Verfließen von Monolog und monologue interieuri:.^*'^ Nicht von ungefähr bezeichnet Berlioz die Symphonie als >drame instrumental, denn in Lelio wird das Drama verbaliter und zugleich imaginär fortgeführt. Zwischen die gesprochenen Monologe Lelios fügt Berlioz fünfmal Musik. Lelio sitzt während der Symphonie (die sein Seelenleben illustriert) an der Rampe vor geschlossenem Vorhang; Soli, Chor und Orchester befinden sich dahinter, »invisible«, wie es der Untertitel besagt. Der >artisteDramatischem Gedicht< Manfred überzuleiten. Es wird von Robert Schumann vertont, in einer Ouvertüre und fünfzehn Szenen, davon zehn melodramatisch oder mit melodramatischen Teilen.^'' Den Wortlaut der Übersetzung von SukHaschen (1989), S. 133 Wolfgang Dömling (1986), S. 50 250 Ebda., S. 75 251 Melodramatisch sind im einzelnen: Nr. 2 >Erscheinung eines ZauberbildesA1penkuhreigenRufung der AlpenfeeBeschwörung der AstarteManfreds Ansprache an AstarteAbschied von der Sonne«. Nr. 14 (mit rhythmisiert sprechendem bösem Genius und rhythmisiert sprechendem Manfred). Nr. 15 Schluß-Szene >Klostergesang< (Abt und Manfred sprechen rhythmisiert, während der Chor hinter der Szene das »Requiem aeternam...« singt).

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kow behält Schumann bei und steUt lediglich einige Szenen um. Allerdings macht die Byronsche Dichtung dabei eine »Metamorphose« d u r c h , d i e wesentlich darin besteht, daß am Ende hinter der Szene ein chorisches Requiem erklingt. Die melodramatischen Nummern und Passagen sind von vielfältiger Gestalt; sie führen Musik und Deklamation mitunter in fixiertem Rhythmus zusammen. Denkt man sich den Deklamationsstil des 19. Jahrhunderts hinzu, so leuchtet die Wahl Schumanns unmittelbar ein, denn schon Goethe empfahl in Über Kunst und Altertum einen der Manfred-Monologe »allen Freunden der Deklamation zur bedeutenden Übung«. Man werde dabei feststellen, »daß ein gewisser heftiger, ja exzentrischer Ausdruck nötig ist, um die Intention des Dichters darzustellen«."3

Es fällt auf, daß große und aus dem Rahmen der Gattungen fallende melodramatische Arbeiten des 19. Jahrhunderts, Lelio, Manfred und (mit Einschränkungen hierher gehörig) auch Radziwills Compositionen zu Göthe's Faust oder Griegs Musik zu Peer Gynt, Sujets traktieren, die sich auf eine monodramatische Keimzelle zurückführen lassen. Insofern wären die mythologischen, in ausweglose Schicksale verstrickten Heldinnen der frühen Bühnenmelodramen durch männliche Prototypen problematischer moderner Individualität abgelöst worden. Dem steht immerhin mit Zdenek Fibichs Hippodamie ein singuläres Werk entgegen, das nun nochmals, und nochmals am mythologischen Stoff, eine Frauenfigur ins Zentrum rückt; diesmal im Großformat einer melodramatischen Trilogie {Hippodamie. Melodramatickä trilogie). Die drei Teile des Werks sind jeweils sogenannte Szenische Melodramen in vier Aufzügen: Pelop's Brautwerbung (UA 21.2.1890), Tantalos' Sühne (UA 6.6.1891) und Hippodamias Tod (UA 8.11.1891). ^st Fibich hat sich eingehend mit Melodramatischem befaßt: 1875 führte er am Interimstheater in Prag als zweiter Kapellmeister Bendas Ariadne und Medea in tschechischer Sprache auf. Und er hat sechs Konzertmelodramen komponiert, teilweise auf Texte von Jaroslav Vrchlicky, der auch die fast durchweg in Blankversen gehaltene Hippodamie verfaßt hat. Die Trilogie stößt auf Resonanz und regt weitere tschechische Bühnenmelodramen an.^^^ Mit Tonmalerei, Tremolo-Unterlegungen des Unheimlichen und erinnerungs- und leitmotivischer Verwendung von Personal- und Situationsmotiven haben auch in diese (musikalisch offenbar durch Wagner beeinflußte) Großform szenisch bewährte melodramatische Gestaltungsmittel Eingang gefunden. Inzidenzmusikalische Elemente wie Märsche o. ä. verweisen zumal auf eine Zwischenposition, die dieses Werk zwischen dem (musikbegleiteten) Schauspiel und dem Musik252 Vgl. dazu Luisa Zanconelli (1981), passim 253 Goethe: Über Kunst und Altertum. Zweiten Bandes zweites Heft, 1820. [Zitiert nach Gert Ueding (Hrsg.): Lord Byron. Ein Lesebuch mit Texten, Dokumenten und farbigen Abbildungen, Frankfun am Main 1988, S. 327] Über die Handlung informiert einläßlich Peter Andraschke in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (1987), S.200ff. Zu >Hippodamie< vgl. außerdem u.a.: Jaroslav Jiranek (1973), V. Hudec (1984) 255 Josef Suk: Radüz a Mahulena (Szenisches Melodram in vier Akten) op.l3 (1898)

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drama einnimmt, dessen Sprachdeklamation, wie im folgenden Abschnitt zu erläutern sein wird, nicht von ungefähr als möglicher Fingerzeig in Richtung Melodram verstanden wird. Mit dem Modell der melodramatischen szenischen Großform ist, wenn man so will, die Lücke zwischen Schauspielmusiken, die sich auf ganze Inszenierungen ausgedehnt haben, und den verschiedenen Opernformen geschlossen.^'^ Unter analogem theoretischem Aspekt fehlt stimmgeschichtlich die entsprechend konsequente Übertragung der von Radziwill bereits punktuell genutzten, nach Tonhöhen notierten Sprechstimme in ein szenisches Großformat. Für sie steht Engelbert Humperdincks Königskinder-Ntnonung ein.

5.

An der Nahtstelle zwischen Schauspiel und Oper, zwischen Sprechen und Singen: Engelbert Humperdincks Königskinder

»Ich beabsichtige weder die Oper auszurotten noch dem Schauspiel den Krieg zu erklären«.^'^ So verteidigt Humperdinck seine vielfach angefeindete melodramatische Musik zu dem Märchenspiel Königskinder von Ernst Rosmer (eigentlich: Ehsabeth Bernstein Porges), die er im Jahr 1897 beendet. Die Komposition ist als Bühnenmusik für die Aufführung der Märchendichtung am Münchner Hoftheater konzipiert, dessen Intendant der Schauspieler und Sprechvirtuose Ernst von Possart ist.^^' Der Entschluß, die Komposition aufs Format eines großen szenischen Melodrams zu bringen, scheint erst während der Arbeit entstanden zu sein.^'' Nicht allein der Besonderheit wegen, daß in ihr erstmals eine melodramatische Sprechnotation, das sogenannte »gebundene Melodram«, systematisch ausgearbeitet wird, nimmt die Komposition in der Geschichte melodramatischer Formen eine theaterhistorische Schlüsselstellung ein. An ihr verdichten sich in einem vorläufigen Höhepunkt die bereits skizzierten Konvergenzbewegungen zwischen Schauspiel und Oper. Historisch entscheidend ist dabei nicht, ob etwa Wagners Werk oder Theorie (gegen Wagners Willen) faktisch einen Weg in Richtung auf die melodramatische Sprachkomposition gewiesen habe oder

256 Damit soll nicht eine durchschlagende Praxiswirkung der >Hippodamie< behauptet sein; das Argument ist ein systematisches. 257 Notizen von EH zum Thema »Melodram«. In: Eva Humperdinck (1992), S. 1 6 0 - 1 6 6 . Hier S. 160. 258 Wolfram Humperdinck (1965), S.231: »Mitte Dezember hatte ihn [E.H.] Heinrich Porges [...] gebeten, Musik zu der Märchendichtung seiner Tochter Elsa, die unter dem Pseudonym Ernst Rosmer schrieb, zu komponieren. Er berief sich dabei auf den Intendanten Ernst von Possart, der das Werk für München angenommen habe und die Rolle des Spielmanns übernehmen wolle.« 259 Nach Eva Humperdinck (1992), S. 8, während einer Italienreise im Frühjahr 1895. 246

wohl aber, daß Wagner in Anspruch genommen wird, um die Entwicklung einer musikdramatischen Form zu legitimieren, deren Konstituens die musikalische Notation nicht gesungener Sprachmelodien ist.^'^ Die Handlung des Königskinder-MÄTc)\tns spielt eine periphere Rolle gegenüber der spezifischen Behandlung der Sprache in der Komposition: Humperdinck notiert sogenannte »Sprechnoten«, Notenhälse mit diagonal gekreuzten Linien anstelle der übUchen runden Köpfchen. Über weite Strecken wird der Dialog des Stücks auf diese Weise sprachmelodisch fixiert. Daneben gibt es unbegleiteten Dialog, gesungene Liedsätze und, besonders hevorzuheben, an einigen Stellen in die Sprechnotation eingestreute gesungene Episoden. Auch die Technik der Übergangsbildung von melodramatischen Sprechtönen zum Gesang erweitert Humperdinck konsequent. (»Von hier steigert sich die [in Sprechnoten notierte] Rede des Spielmanns immer mehr bis zum Gesang.«)^" Humperdinck schwebt offenbar vor, was später Alban Berg, unter musikalisch wie dramatisch ganz anderen Vorzeichen, als Kontinuum einer aller Spielarten des Ausdrucks fähigen artistischen Universalstimme realisieren wird. Denn es finden sich weitere differenzierende Vortragsbezeichnungen. So ist einigen konventionell als Gesang notierten Phrasen hinzugefügt: »halb singend«; und umgekehrt finden sich Sprechnoten, die nach dem Wunsch des Komponisten »fast singend« oder solche, die »aufschreiend« vorzutragen sind. Selbst Chorpassagen hat Humperdinck gebunden melodramatisch notiert; und welcher dramaturgische Funke sich aus der Idee der Sprechnotation schlagen läßt, zeigt der Versuch, ein polylog-sprechchorisches Durcheinander präzise musikalisch zu erfassen, ähnlich der gesungenen Ensembleszene einer Oper. Hier erreicht Humperdinck auf der Ebene der Partitur eine Vorstrukturierung inszenatorischer Prägnanz, die jenes Defizit beseitigen soll, das an gesprochener Sprache stets beklagt wurde, nämlich, daß sie sich nicht präzise notieren lasse.^^' Woran Humperdinck dem Prinzip nach bei alldem denkt, zeigt zunächst ein Brief an Ernst von Possart vom 25.7.1895:

260 Die spezifische Deklamation (im Sinne musikalischer Textvertonung) des aus den »Wurzelwörtern« abgeleiteten Stabreims spräche wohl dafür, falls man sie außerhalb ihrer programmatischen Prämissen betrachtet: Daß Wagner sowohl Arie als auch Rezitativ ablehnte, verweist auf ein tertium der Sprachkomposition, das, wie die weitere Operngeschichte eindrucksvoll erweisen sollte, mit der melodramatischen Sprechstimme prinzipiell ebenfalls zur Verfügung stand. 261 »Die ganze Entwicklung der Kunst drängt mit RW (Richard Wagner) zum Melodram«. (Notizen von EH., a. a. O., S. 160) In einem Brief an Arthur Seidel vom 12.12.1900 entwirft Humperdinck eine schematische »neue Formel für die Szene«, die, beim Dialog einsetzend, über das Melodram zum Gesang, dann zurück zum Melodram und wieder zum unbegleiteten Dialog führen soll. Abgesehen von der neuen Notation existiert derlei seit langem als variables Dispositiv in Schauspiel und Oper. 263 Die Sprechnotation ist hinsichtlich der absoluten Tonhöhe freilich nicht völlig präzise, will es gar nicht sein. Doch erreicht wird die gleichsam choreographisch exakte Koordination simultaner, aber nicht synchroner sprachlicher Verläufe.

247

Diese Noten sollen nicht etwa gesungen werden, sondern nur als ein Fingerzeig dienen, wie die Verse annähernd in der Tonhöhe und ziemlich genau im Rhythmus gesprochen werden sollen^".

Im übrigen orientiere sich die instrumentale Begleitung an den Bedürfnissen der fixierten Sprachmelodie. Im Klavierauszug von 1897 gibt dann eine Vorbemerkung »Zur Einführung« weitere Auskunft: Die in den melodramatischen Sätzen angewandten »Sprechnoten« sind dazu bestimmt, Rhythmus und Tonfall der gesteigenen Rede (Melodie des Sprachverses) mit der begleitenden Musik in Einklang zu setzen. Für die vorkommenden Liedsätze gelten die üblichen Musiknoten.

Maßgeblich ist, der Idee nach, die Prosodie der gesprochenen Sprache und deren Überformung zur musikalisch »gesteigerten Rede«; sprachrhythmisch ist dies in der Komposition einleuchtend realisiert, diastematisch hingegen weniger.^'® Zur Unterstützung geht häufig eine Orchesterstimme colla voce mit dem melodramatischen Sprechen. Wenn dabei über das alltägliche Maß der Sprache hinaus gedehnte Notenwerte verlangt werden, so weicht das nicht von der Bühnensprache der Hoftheater ab; doch es wirft die Frage auf, ob die Sprachsilben dann auf gleichbleibender Tonhöhe ausgehalten (also eigentlich gesungen) oder wie sonst sie mit den folgenden verbunden werden sollen. Die praktische Umsetzung bereitet entsprechende Schwierigkeiten. Für Mitte Januar 1897 ist die Uraufführung am Münchner Hoftheater angesetzt; die Bühnenproben geraten aufgeregt: »Die befürchteten Schwierigkeiten waren eingetreten: die Ausführenden erwiesen sich trotz besten Willens zum Teil als wenig geeignet für die subtile musikalische Diktion.«^'' Zwar soll Humperdinck alle Beteiligten schließlich davon überzeugt haben, die Dichtung gelange erst dann zur Wirkung, »wenn auf ihren Höhepunkten Musik in sie glitt, die Führung der gesteigerten Sprache übernahm und sie in irreale Sphären führte«.^^^ Doch in der Praxis läuft es darauf hinaus, daß sich die Darsteller an den (leicht zu realisierenden) fixierten Rhythmus halten, die Tonhöhen hingegen kaum beachten.^'^ Dies bessert sich, als bei einer Frankfurter Auffüh26t In: Eva Humperdinck (1992), S. 34 265 Humperdinck nimmt traditionelle musikalische Symbolik in die Prosodie auf; die zwei Silben des Wortes »leiden« werden durch einen abwärts gerichteten Tritonussprung dargestellt u.a. 266 Wolfram Humperdinck (1965), S.236 267 Ebda. Zwischenzeitlich hat Humperdinck angesichts der fortschreitenden Schwierigkeiten jede Verantwortung abgelehnt und in einem Brief an Possart sogar verlangt, seinen Namen auf dem Theaterzettel fortzulassen, da die Musik »ja doch bei der hiesigen Aufführung als nebensächlich kaum in Betracht kommt«. Brief an Possart vom 21.1.1897. In: Eva Humperdinck (1992), S. 71 268 Aus den Tagebüchern des Musikverlegers Max Brockhaus: »Unmittelbar vor der Generalprobe kam es zu einem Krach zwischen Humperdinck und Possart, wohl wegen der Nichtbefolgung von Humperdincks Vorschriften über die Sprechnoten. Die Darsteller sprachen die melodramatischen Worte rhythmisch richtig, ignorierten aber die durch die Sprechnoten festgelegte Tonhöhe«. In: Eva Humperdinck (1992), S. 72

248

rung Hedwig Schacko, eine Opernsängerin, die im Schauspiel begonnen hat, die weibhche Hauptrolle übernimmt. Doch nur vereinzelt gelingen solche Aufführungen, die Humperdincks Verleger Brockhaus, der die Rezeption aufmerksam verfolgt, für akzeptabel hält.^^' Am 6.2.1897 wendet sich Humperdinck brieflich an Ludwig Wüllner, in der Hoffnung, mit diesem melodramatisch bestens versierten Sänger und Sprecher einen überzeugenden Darsteller für die männliche Hauptrolle zu gewinnen. Es gehe darum, so erläutert er, »die verschiedensten Abstufungen des Sprechgesangs - vom einfachsten Sprechton bis zum wirklichen Singen - miteinander in Verbindung zu bringen und so dem Darsteller die Möglichkeit zu gewähren, in Hinsicht auf die feineren Ubergänge zwischen Sprache und Gesang gewissermaßen selbstschöpferisch zu wirken«.^''" Aufschlußreich ist dieser Hinweis deswegen, weil man einwandte, das »gebundene Melodram« beschränke die Freiheit der Schauspieler. Humperdinck räumt dies in privaten Notizen ein, hält aber dagegen, auch der Sänger begebe sich weitgehend, keineswegs aber vollständig der Gestaltungsfreiheit.^^' Ausweislich der Briefe von Brockhaus an Humperdinck, aber auch Humperdincks eigener Einschätzung zufolge, fehlt es häufig an der Fähigkeit oder dem Willen, die Deklamation überhaupt an der gebundenen Sprachmelodie auszurichten. Humperdinck erklärt sich das aus einer unzureichenden musikalischen Veranlagung vieler Schauspieler, und umgekehrt, falls Sänger an den Partien scheitern, aus deren fehlendem sprecherischem Geschick.^^^ Trotz allem reüssiert die Königskinder-MMsi\i-, 130 Bühnenabschlüsse sollen zustande gekommen sein.^^^ Geradezu wegen dieses anhaltenden Erfolges wird Humperdincks Arbeit von Gegnern melodramatischer Sprachkomposition heftig befehdet, »mit dem Stecken statt dem Hute in der Hand«, wie Richard Batka, ein Parteigänger pro Melodram, vermerkt. Insbesondere wendet man sich gegen die Ansicht, man habe es hier mit der konsequenten Vollendung Wagnerscher Absichten zu tun habe.^^"* So entsteht ein ausgedehnter Streit, der hauptsächlich

Vgl. Dokumente dazu in Eva Humperdinck (1992), S. llOff. 270 Zilien nach Eva Humperdinck (1992), S. 93 271 Notizen von E H zum Thema »Melodram«. In: Eva Humperdinck (1992), S. 160-166. Hier S. 161. 272 Ebda-, S. 164 273 £va Humperdinck (1992), S. 9. Symptomatisch dafür, daß dieses Experiment in der Theaterwirklichkeit quersteht, sind die Unstimmigkeiten zwischen Humperdinck und Possart wegen der Honorierung. Humperdinck lehnt die angebotene Einmalzahlung ab. Possart ist bereit, Tantiemen mit einer erhöhten Quote zu zahlen, will aber keinesfalls ein Extrahonorar einräumen, da »Ihre herrliche Komposition nicht als ein selbständiges musikalisches Werk betrachtet werden kann«. Brief Possarts vom 21.9.1896. In: Ebda., S. 56 27't Ebda., S. 67. Vgl. auch einen Brief von Alfred Brüggemann vom 9.9.1899 an Humperdinck: »Weder dem Drama noch der Musik war also mit dieser [der Wagnerschen] Intervall-Intoniererei gedient [...] Auf solche Weise [durch das gebundene Melodram, U. K.] ist also der natürlich nicht alienhalben so scharf hervortretende Mangel des ersten musikdramatischen Amalgams beseitigt«. In: Ebda., S. 148f.

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auf den Seiten der in Berlin erscheinenden >Allgemeinen Musikzeitung< ausgetragen wird.^^^ Humperdinck zieht sich schließUch von seinem Königskinder-MtXodrzm zurück: indem er es ab Dezember 1907 zur Gesangsoper umarbeitet.^^' In seinen Notizen hat er allerdings ein Postulat formuliert, das sich im nachhinein als hellsichtig erweisen wird: Die Zukunft des gebundenen Melodrams wird sich in einer Feinheit der Tonabstufungen im Vortrage kundgeben, von dem wir heute kaum eine Ahnung haben. Was bis jetzt nur einzelnen besonders begnadeten Individuen möglich war, das musikalische Sprechen, modulationsreicher Audruck in der Stimme, wird späteren Geschlechtern vermöge der exakten schriftlichen Fixierung durch den Tonsetzer ebenso leicht zugänglich gemacht werden wie der rein musikalische Ausdruck in Tonwerken.^"

»Musikalisches Sprechen« ist keine Erfindung Engelbert Humperdincks, und daß die geschilderten Schwierigkeiten bestehen, eine vorgeschriebene Sprachmelodie zu realisieren, ist nicht als Indiz dafür mißzuverstehen, daß dem ein naturalistischer Sprechstil entgegengestanden hätte. Doch ist hier, vor dem Hintergrund der alten Hierarchiedebatten um das Wort-Ton-Verhältnis, der Anspruch formuliert, dem musikalischen Ausdruck der Tonkunst und der Musikalität des Sprechtons dadurch Balance zu schaffen, daß letzterer in die musikalische Faktur integriert wird und so erst sein musikalisches Potential voll ausgeschöpft werden kann. Insofern ist Humperdincks Komposition gerade in dem Punkt, der ihr die heftigste Kritik eintrug, von antizipatorischer Substanz.

275 Vgl. zu Details Max Steinitzer (1919), S. 6 5 - 6 9 276 U A 28.12.1910 N e w York, Metropolitan Opera. Cosima Wagner hatte Humperdinck bereits am 15.2.1897, also wenige Wochen nach der Uraufführung, brieflich zur U m arbeitung geraten. Die Oper, die ihrerseits keine musikgeschichtlich vorausweisende Bedeutung für sich reklamieren kann, etabliert sich statt des Melodrams in den Spielplänen.

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V. Konvergenzen und Umformulierungen: Die melodramatische Stimme im Theater 1900 bis 1930

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts ist die Zeit der historischen Avantgarde, die eine TheatraUsierung oder Retheatralisierung des Theaters auf ihre Fahne geschrieben hat. Detailliert nach der Rolle zu fragen, die der Stimme in den verschiedenen Reformkonzeptionen zukommt, wäre interessant genug, ginge aber über das Vorhaben dieses Buches hinaus. Statt dessen seien die bisher entfalteten Aspekte perspektivisch zusammengeführt, um diachron den Traditionsanschluß und synchron theater- und kulturgeschichtliche Verbindungen sichtbar zu machen, unter deren Bedingungen die (melodramatische) Sprechstimme sich im Schauspieltheater behauptet und in Werken der musikalischen Avantgarde Furore macht. Die kontinuierlichen und die innovativen Adaptionen der Sprechstimme durch das Theater des frühen 20. Jahrhunderts, das Schauspiel- wie das Musiktheater, stehen, aufs Ganze betrachtet, etwa unter den folgenden Prämissen: 1. U m 1900 wird erneut eine rege wissenschaftliche Diskussion um die Ursprünge der Musik und der Sprache und, damit zusammenhängend, um Aspekte der stets problematisch gebliebenen Distinktion von Singen und Sprechen geführt. 2. Praxis und Theoreme einer sich als musikalisch oder musikaffin verstehenden Deklamationskunst, wie sie auf dem Theater im 19. Jahrhundert tonangebend war, sind keineswegs obsolet geworden. 3. Die Geschichte der melodramatischen Formen wirkt als lebendige Überlieferung auf die Praxis der verschiedenen Theaterformen ein, und sie dient darüber hinaus als eminentes Potential für Neuformulierungen der Oper, aber auch des literarisch gebundenen Theaters. 4. In den verschiedenen Theaterformen hat sich im 19. Jahrhundert bereits eine Vielzahl variabler stimmdramaturgischer Differenzierungsoptionen ausgeprägt, an die sich in der Praxis anschließen läßt. 5. Die Aufnahme melodramatischer Formen und melodramatischen Sprechens in halbtheatrale Präsentationsformen des Konzertpodiums und der Kabarettbühne bietet erweiterte Anknüpfungsmöglichkeiten mit innovativem Potential. 6. Im engeren Bereich des Musiktheaters verbindet sich die Adaption des musikalischen Sprechens mit einer gattungsgeschichtlich zur Konvergenz tendierenden Entwicklungslinie, die, nach Carl Dahlhaus, ihren exemplarischen

251

Zielpunkt in der Literaturoper und namentlich in Alban Bergs Wozzeck findet.' 7. Schließlich wirkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Diskussion um den Sinn oder Unsinn melodramatischer Formen und der melodramatischen Verbindung von Sprache und Musik nach, die sich an Humperdincks Versuch entzündet hat, die integrale Schnittstelle von Schauspiel und Oper, von Singen und Sprechen durch das Experiment des »gebundenen Melodrams« paradigmatisch zu besetzen. Die Aspekte gehen ineinander über, und in den diversen theatergeschichtlichen Zusammenhängen überschneiden sie sich. Sie mögen in ihrer Gesamtheit als roter Faden der Darstellung dienen - arbeitete man sie systematisch und Punkt für Punkt ab, käme es zu wenig sinnvollen schematischen Reduktionen einerseits, zu Redundanzen andererseits. Eine Einschränkung sei vorweg gemacht, die sich im Grunde von selbst versteht: Etliche theater- und musikgeschichtlich wichtige Aspekte dieses höchst bewegten Zeitraums lassen sich nur streifen, jedenfalls nicht so eingehend würdigen, wie es wohl wünschenswert wäre. Der Fokus ist und bleibt selektiv, und insofern er das ist, kann nur ein Panorama entstehen, das seinerseits einen Ausschnitt darstellt.

1.

Noch einmal: Singen und Sprechen

Elemente des Musikalischen in der Sprache und das Verhältnis von Singen und Sprechen werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich auf breiter Basis diskutiert. Carl Stumpf, Philosophieprofessor und Begründer der sogenannten »Tonpsychologie«, erforscht mit phonographischen Aufzeichnungen und in Anlehnung an Erkenntnisse der Völkerkunde Intonation, Klanglichkeit, Melodik der Sprachen exotischer und vermeintlich ursprungsnäherer Kulturen. Erneut stellt sich hier die Frage nach den (eventuell gemeinsamen) Ursprüngen von Musik und Sprache. In seiner zuerst 1909 erschienenen Schrift Die Anfänge der Musik verweist Stumpf auf die Theorien von Herder und Rousseau.^ Sein Kriterium für eine Unterscheidung des natürlichen »Sprachgesangs« von eigentlicher Musik ist sinngemäß dasjenige Herders: »Wir nennen Musik nicht das Hervorbringen von Tönen überhaupt, sondern von gewissen Anordnungen der Töne, seien sie noch so einfach.«^ Musik ist an Intervalle gebunden, an »feste Stufen«, und insofern ist sie für Stumpf, nicht anders als für Herder, August Wilhelm Schlegel u. a., vom prämusikalischen Sprachgesang systematisch unter1 Vgl. Carl Dahlhaus (1990), S. 21 2 Carl Stumpf (1979, nach der Ausgabe Leipzig 1 9 1 1 ) [Zuerst erschienen in: Internationale Wochenschrift III, München 1909]. Nach den Erkenntnissen Herders und Rousseaus, so faßt es Stumpf zusammen, entstehe »Musik aus den Akzenten und Tonfällen der menschlichen Sprache«. (S. 15) 3 Ebda., S. 10

252

schieden.'' Sprechtöne, so kann Stumpf unter Verweis auf experimentelle Messungen zeigen, zeichnen sich durch beträchtliche Tonhöhenschwankungen schon auf Einzelsilben aus; musikalisch wäre das »ein grober Fehler«.^ Hier nun bringt Stumpf den Sprechstil des Theaters ins Spiel, den er als partiell gesanglich beschreibt: Bei Schauspielern wird man allerdings öfters auch eine ganz unveränderte Tonhöhe auf einer Silbe, ja auf ganzen Sätzen beobachten, wenn ein besonderer Effekt beabsichtigt ist.'

Dabei ergebe sich, so der systematische und theaterhistorisch relevante Schluß, »schon ein singendes Sprechen, ohne stetig gleitende Tonbewegung«; ästhetisch unbefriedigend sei dies allerdings, wenn »auch in der Aufeinanderfolge der Tonhöhen öfters feste musikalische Intervalle gebraucht werden, ohne daß doch wirklich gesungen würde«.^ Damit ist exakt ein Gegenstand der deklamationstheoretischen Debatte im frühen 19. Jahrhundert erneut thematisiert: Das monotone und duotone Sprechen, in der Praxis relevant, wenn auch von theoretischen und ästhetischen Einwänden begleitet. Mit anderen Worten: Diese Praxis besteht fort. Die inzwischen möglichen experimentellen Messungen tragen dabei der Unterscheidung von Singen und Sprechen ein zusätzliches Moment der Relativierung ein, indem sich gezeigt hat, daß auch der gesungene Ton in sich instabil bleibt; dennoch konstatiert Stumpf, mit dem intentionalen Bezug auf das Tonsystem sei der kategoriale Unterschied von Singen und Sprechen ausreichend abgesichert.^ Die implizite Prämisse dessen, die Gleichsetzung von intervallischem Singen und Musik, ist zu dieser Zeit in Wahrheit längst prekär. Indem systematisch das Sprechen aus der Musik ausgeschieden werden soll (die per se feste Tonhöhenordnungen verlange), wäre eine musikalische Sprechstimme wie in Humperdincks Königskindern eine contradictio in adjecto. Die Musikgeschichte hat jedenfalls lange begonnen, über diese Kategorisierungen hinwegzugehen, um schließlich die am Tonsystem haftende systematische Unterscheidung (die für den gegebenen Zeitraum sinnvoll bleibt, da hier die zwölf Halbtöne des alten Tonsystems das musikalische Intervallmaterial bereitstellen) zu überholen. Stumpf erörtert auch das Argument, wonach sich - bei Akzeptanz der Voraussetzung, daß Musik sich durch Stufenintervalle auszeichne - dennoch die Möglichkeit einer musikalischen »Wiedergabe« des Sprechtons behaupten lasse. Derlei sei schon deshalb unmöglich, so Stumpf, weil es an »allgemeinen und

Vgl. die Vorüberlegungen zu Singen und Sprechen in der vorliegenden Arbeit. 5 Ebda., S. 16 (Stumpf bezieht sich auf E.W. Scripture: Researches in Experimental Phonetics. The Study of Speech Curves, 1906, p.63) 6 Ebda., S. 17f. 7 Ebda., S. 19 8 »Dennoch ist kein Zweifel: das Gesetz und der Geist der Tonkunst verlangen prinzipiell feste Tonhöhen und Intervalle, und auf ihre Erzeugung ist die Intention des Sängers und Spielers, abgesehen von Ausnahmefällen, gerichtet.« (Ebda., S. 19) 253

genauen Regeln« fehle, also keine reproduzierbare Anordnung der Sprechtöne gewährleistet und damit die basale Voraussetzung aller Musik nicht gegeben sei.' Stumpf bezieht sich dabei auf die zeitgenössische Rezeption der Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt. Wundt diskutiert sprachphilosophische Differenzierungen, die der musik- und deklamationstheoretische Diskurs im 19. Jahrhundert in die Stimmästhetik übernahm, unter sprachgenetischem Aspekt. Er unterscheidet zwei Klassen von Wortbildungen: In der ersten hat der Sprachlaut »unmittelbare Ähnlichkeit mit dem objektiven Lautvorgang«; die zweite erfaßt daneben Wörter, die einen per se nicht mit einem bestimmten Klangbild verbundenen Sachverhalt wiedergeben, indem sie etwa optische Sinneseindrücke in adäquate Lautübertragungen transformieren.'" Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und außerhalb ästhetischer Zusammenhänge, wird also die gesprochene Sprache dadurch als zur Musik hin geöffnet verstanden, daß auf ihre ursprünglichen klanglichen Impulse rekurriert wird. Sukzessive schließt sich der Bogen zurück zur Ästhetik: Ottmar Rutz untersucht 1911 Musik, Wort und Körper als Gemütsausdruck. In einem Abschnitt >Sprachmusikalisches< behauptet er, daß es bei der Wiedergabe von Sprachwerken [...] nicht auf den Wortsinn, nicht auf das Logische der Sprache, ihre Aufgabe, Verständigungsmittel zu sein, nicht auf Charaktereigenschaften, Weltanschauung, sittliche Werte ankommt, sondern auf das Musikalische der Sprache im allgemeinen Sinn, auf das, was in der Musik und im Gesang am vollkommensten besteht: Melodie, also Unterschiede in der Tonhöhe und in der Tonlage, Unterschiede in der Zeit, also Tempo, Takt, Agogik, Rhythmus."

Indem es um Wiedergabe von »Sprachwerken« geht, stellt sich die Frage, woher die Parameter ihrer Musikalisierung zu nehmen sind. Nach Rutz erfährt man sie durch Nachfühlen der Intention des jeweiligen »Schöpfers«.'^ (Auch die Deklamationstheorie eines Seckendorff, daran wird man hier erinnert, sah das Klangbild impHzit im Text angelegt.") Die Querverbindungen reichen von der empirisch begründeten Musikpsychologie über Völkerpsychologie und ausdruckspsychologische Spekulation bis zu Germanistik und Sprachwissenschaft. In einem Aufsatz Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses rekapituliert der Germanist und ' Stumpf diskutiert dies (ebda., S. 83f.) mit Bezug auf Pater Schmidt: Über Wundts Völkerpsychologie. Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien, Bd. 33, S. 365f. Die Existenz der musikalischen Intervalle, argumentiert Stumpf, ergebe sich nicht erst aus dem zum Ruf gesteigerten Sprechton; der Rufton »kann nicht erst die Entstehung von festen Intervallen begreiflich machen« (ebda., S. 84). Die Entdeckung der verstärkenden Qualität (präexistenter) simultaner intervallischer Konsonanzen beim gemeinschaftlichen Rufen stehe vielmehr am Anfang der Musik. (Ebda., S. 29) Wilhelm Wundt (1900), S. 312f. Dieses Argument liegt in nur wenig modifizierter Form bereits der deklamationstheoretischen Bestimmung musikalischer Malerei oder Tonmalerei im frühen 19. Jahrhunden zugrunde. Vgl. unter 1.5.1. I' Ottmar Rutz (1911), S.43 12 Vgl. ebda., S. 103 13 Vgl. unter 1.5. 254

Phonetiker Eduard Sievers 1894 den angeblich unzweifelhaften common sense, »daß alle Dichtung ursprünglich Gesang war«.*'* In seiner Rede zur Übernahme des Rektorats der Leipziger Universität formuliert er 1901 ein Programm, das nichts anderes beansprucht, als die (von Seckendorff vormals sogenannte) »deklamatorische Musik« zu objektivieren; allerdings dürfe man dabei »nur relative Tonverhältnisse zu finden erwarten, nicht die festen Verhältnisse der Musik«." Ausgehend von der empirischen Beobachtung, daß, wenngleich prinzipiell jeder Sprecher jeden Text willkürlich intonieren könne, die Mehrheit sogenannter naiver Leser identische Texte in nahezu gleicher Weise melodisiere, gelangt Sievers zu der These, daß jedes Stück Dichtung ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften besitzt, die zwar in der Schrift nicht mit symbolisiert sind, aber v o m Leser doch aus dem Ganzen heraus empfunden und beim Vortrag entsprechend reproduziert werden. U n d kann es dann zweifelhaft sein, daß diese Eigenschaften v o m Dichter selbst herrühren, daß sie von ihm in sein Werk hineingelegt worden s i n d ? "

Als Referenz dient ein in der späteren sprechkundlichen und sprechwissenschaftlichen Literatur bis zum Überdruß repetiertes Schiller-Zitat aus einem Brief an Körner: »Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich kaum mit mir einig bin.«'^ Und die immanent plausible Konsequenz der These ist die Erneuerung des Wunsches, eine Notation oder objektivierte Festschreibung dichterisch intendierter klanglicher »Eigenschaften« von Dichtung zu erreichen. Möglich sei das für folgende Parameter: die »spezifische Tonlage, d. h. die Frage, ob ein Stück beim Vortrag hohe, mittlere, tiefe usw. Stimmlage erfordert«; die »spezifische Intervallgröße, d.h. ob der Dichter mit großen, mittleren, kleinen Intervallen arbeitet«; die »spezifische Tonführung, welche ihrerseits frei oder gebunden ist«; die »Anwendung spezifischer Tonschritte an charakteristischen Stellen des Verses«; und schließlich stelle sich die »Frage nach den spezifischen Trägern der Melodie«." Ungeachtet seiner Stichhaltigkeit oder seines Widersinns fügt sich das Vorhaben in den komplexen kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext, dem die theoretische Auseinandersetzung mit ästhetisch-praktischen Aspekten künstlerischen Sprechens zugehört. Dies läßt sich, um den Bogen nun zu schließen, an Eduard Sievers: Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses. In: Oers. (1912), S. 3 6 - 5 5 . Hier S . 4 0 Eduard Sievers: Ü b e r Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung. In: Ders. (1912), S. 5 6 - 7 7 . Hier S. 57 Ebda., S. 58 Schiller an Körner, 25. Mai 1792. [Zitiert nach ebda., S. 59] Das Zitat findet sich zum Beispiel im Reclamheft >Sprechen - Vortragen - Reden< von Fritz Geratewohl (1973) [1955], S. 42. Der Band basiert auf einem Buch von 1929. »Die vorliegende Schrift«, so kündigt der A u t o r im typischen sprechkundlichen Stil an, »soll das Gefilde umreißen, das von der wissenschaftlichen Sprechkunde umgepflügt und besät und von der praktischen Sprecherziehung abgeerntet wird.« (Ebda., S. 3) 18 Sievers (1912), S. 66

255

der weitverbreiteten Schrift Moderne Bühnenkunst von Carl Hagemann demonstrieren. Der sprechende Schauspieler, so heißt es darin, soll mit einer »abgetönten Skala der verschiedenen Register« arbeiten: Wenn man es richtig verstehen [...] will, so könnte man wohl sagen, daß sich der Schauspieler seine Rede gleichsam instrumentiert - ähnlich wie es der Organist mit einer Fuge macht. Allerdings in sekundärer Weise, denn der Ton der menschlichen Stimme ist und bleibt letzten Sinnes ja doch etwas Homogenes: ein geschlossenes Instrument. Die fabelhafteste Beweglichkeit der menschlichen Sprechstimme in der Abfolge verschiedenster Klangnuancen läßt das sekundäre Instrumentieren [...] eben zu. Sie übertrifft da jedes andere Musikinstrument, auch die menschliche Singstimme bei weitem."

Die Parallele zu den Forderungen des früheren 19. Jahrhunderts ist frappierend.^° Und jedenfalls für eine Praxis, die sich selbst als traditionsverbunden versteht, bleibt derlei noch in den 1920er Jahren relevant: Der Schauspieler Arnim, Darsteller des Geistes in Hamlet bei Max Reinhardt, verfaßt zu der Rolle eine stimmtechnische Studie. Die Worte des Geistes versteht er als »Musik«, als einen »einzigen, lang hinhallenden Klageton«, den er, rhythmisiert und mit der dynamischen Bezeichnung mezzoforte versehen, im Baßschlüssel auf dem Ton D notiert, um ihn an markanter Stelle (»räch' seinen schnöden unerhörten Mord!«) zunächst akzentuiert um einen Quartsprung aufwärts wechseln und dann chromatisch wieder absteigen zu lassen. Arnims Kommentar schlägt Originalton des 19. Jahrhunderts an: »Die Erscheinung des Geistes ist letzten Endes nur Stimme; und wehe dem Darsteller, dem die Natur nicht Musik in seine Stimme gegeben hat!«^'

2.

Stimme und Musik im Theater Max Reinhardts Ich weiß, daß ich von den Reinhardtschen Vorstellungen stets eine Art musikalischen Eindruck nach Hause trug. Ich sagte mir oft: ich habe eine versteckte Oper genossen und dieser Mann wäre der Rechte, unsere Oper in eine fruchtbare Regie zu bringen.^^

Selbst im und am Naturalismus geschult, löst sich Max Reinhardt entschieden von dessen tragenden Prinzipien. Schon die Beschreibung des Titelhelden seiner Gerhart-Hauptmann-Parodie Karle, Diebskomödie für das Schall und RauchProgramm 1901 deutet auf erworbene Skepsis hin: »Er hat flackernde, unsichere Bewegungen und spricht, als ob er Sägespane im Munde hätte.«^^ Reinhardts Schauspielertheater dagegen will ein Theater (auch) der Stimme sein: Carl Hagemann (1916), S.288 20 Vgl. unter 1.5.9. Diese Musik, schreibt Arnim weiter, dürfe nicht in ein »Singen ausarten, das unerträglich wirkt und auf einem falschen Grundton, seelisch wie physisch, beruht.« [Zidert nach Herbert Biehle (1931), S. 207f.] Arnims Studie erscheint in >Stimmwan II, Heft 1Vehmgericht< sieht, beugt sie das Knie vor ihm: »Mein hoher H e r r ! « Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. In: Ders. (1987), S. 4 2 9 - 5 3 1 . Hier S.441 Kaysslers Habitus wird als »schwer, gehemmt, besonnen« charakterisiert. Marcus Biehr (1989), S. 121 Heinrich Huesmann (1983), Inszenierungsregister, Nr. 277 tt Vgl. Kurt Wolfgang Füllen (1951), S. 74 Zu den Meinungsverschiedenheiten, die z. B. entstehen, wenn Reinhardt noch kurz vor der Premiere die Partitur »mit dem Rotstift bearbeiten« läßt, vgl. ebda., S. 29.

261

hardts Wünschen orientiert, eigenen Vorstellungen entsprechend realisiert zu wissen. Wo Reinhardt etwa aus inszenatorischen Gründen ein unsichtbar bleibendes (gar hinter der Bühne positioniertes) Orchester wünscht, sieht Humperdinck seine Musik gefährdet.''^ Humperdinck schreibt drei Shakespearemusiken für Reinhardt; eine vierte (zum Tempest) entsteht zunächst für August Halms Neues Schauspielhaus am Nollendorff-Platz; Reinhardt übernimmt sie in seine späteren Stwnw-Inszenierungen.''^ Einiges spricht dafür, daß die frühe Kooperation mit einem Komponisten, der sich mit den Möglichkeiten melodramatischen Komponierens innovativ auseinandergesetzt und sie erweitert hat, Reinhardts weiteren Umgang mit Musik auf dem Theater wesentlich prägt. Wenige Wochen nach der Kdthchen-Kuliühnmg hat Der Kaufmann von Venedig Premiere.'*' In Reinhardts Regiebuch finden sich zahlreiche Anweisungen zur Musik, die allerdings zum Teil erst nach der Erstaufführung von 1905 entstehen.'" Vor Beginn der Szene 11,6 ist, beispielsweise, das Szenar mit den folgenden Sätzen skizziert: »Uber die Brücken rückwärts gehen Menschen mit Fackeln, Windlichtern und Laternen. Durch die Kanäle gleiten Gondeln, die mit bunten Lampions geschmückt sind. Die Musik wird lauter und erfüllt die Bühne als ein Klingen, Singen und Summen und Brausen.«'" Humperdincks Komposition zum Drama besteht aus sieben Nummern. Melodramatisch ist sie dort, wo Shakespeare es vorsieht, also im fünften Akt.'' Das Regiebuch enthält zu Beginn des Aktes, noch ehe im Text Musik gefordert wird, den Vermerk: »Melodramatische Musik (als Höhepunkt) durch die Hälfte, erste, des Aktes gehend, lyrisch die schimmernde Mondnacht darstellend«. Entsprechend setzt Humperdincks Musik mit dem Aktbeginn ein; Streicher und Harfen geben eine atmosphärische Vorlage, ehe der Vorhang sich öffnet und Lorenzo und Jessica auftreten. Aufsteigende Skalen führen eine Solovioline zu einem sehr hohen Halteton, während zu Harfenarpeggien im pianissimo Lorenzo spricht: »Der Mond scheint hell...« Die Musik wird motivisch, wie zuvor in der Einleitung, und steigert und belebt sich während des Dialogs. Als der Dialog die Musik thematisiert, ist sie längst da, verhält jetzt aber auf Tremolosuggestionen und Flötenakkorden, mit eingestreuten Harfenklängen; AkkordMit Bezug auf das >Wintermärchen< erläutert Kahane, Reinhardt wünsche sich die Musik wie im Bayreuther Vorbild »unsichtbar und überirdisch«. Vgl. Brief Kahanes vom 10.9.1906 an Humperdinck. In: Füllen (1951), S. 30, Anm. 65 Z . B . 1915 im Rahmen des großen Shakespeare-Zyklus. Vgl. Heinrich Huesmann (1983), Inszenierungsregister, Nr. 811 '•8 Die Inszenierung wird zwischen 1905 und 1911 an 206 Abenden gespielt. Vgl. ebda., Inszenierungsregister, Nr. 282 Problematisch laut Revisionsbericht von Manfred Großmann (1966a), Bd. 2, ist die Datierung verschiedener »Schichten« der Eintragungen in dieses Regiebuch. Denkbar ist, daß Reinhardt für Wiederaufnahmeproben oder Umsetzungen der Inszenierung in andere Häuser die teilweise disponible Musik im Regiebuch umarrangierte. 50 Zitiert nach Großmann (1966a), Bd. 1, S. 78 Vgl. die Erläuterungen unter II.1.2.

262

Wechsel folgen dem Text, gehen also (wie dies Liszt in seinem Lewore-Melodram vorgeführt hatte) Schritt für Schritt mit dem Dialog. Es geht nicht um die Erfassung offenbarer oder geheimer Seelenregungen, auch nicht um eine Verklammerung des Geschehens durch musikalische Detailarbeit. Dennoch steht die Musik mit der gesprochenen Sprache insofern in einem engen Konnex, als sie ihr zu der beabsichtigten lyrischen Wirkung verhilft. Solche suggestive Wirkungsverstärkung ist nicht zu unterschätzen, und das Verfahren einer schließlich ins dreifache piano sich verflüchtigenden, gewissermaßen langsam ausgeblendeten musikalischen Auskleidung des theatralen Raums macht erkennbar, daß am Reinhardtschen Theater akustisch späteren filmischen Techniken vorgegriffen wird. Im Herbst 1906 kommt das Wintermärchen mit Humperdincks Musik heraus. Neben Liedern, Tänzen, Märschen und melodramatischen Dialogunterlegungen (IV, 1) ist hier der wiederum überaus suggestive melodramatische Schluß hervorzuheben, »Hermiones Erweckung«: Über pulsenden Bässen, einem sich chromatisch aufbauenden Motiv und dissonanten Klängen wird die Statue beschworen, nun »nicht mehr Stein« zu sein. Nachdem Hermione erweckt ist, wechseln verschiedene melodramatische Gestaltungsmodi; Alternieren von Dialog und Musik kommt ebenso vor wie ein (gegen Ende auch rhythmisiertes) Sprechen zur Musik. Siegfried Jacobsohn gewann diesem melodramatischen Schluß einen eigenen Reiz ab. Er hielt die Inszenierung für mißlungen und war deshalb »froh, endlich zu der Schlußszene zu kommen, die freilich zum ersten Mal nicht wie eine Farce, sondern fast wie ein Gottesdienst gewirkt hat. Wie da Bild, Dichtung, Musik und eine schlichte und gefühlsdurchtränkte Schauspielkunst ineinander griffen: das machte einen weihevollen Eindruck. Ein Jahr später inszeniert Reinhardt am Deutschen Theater Was ihr wollt (Premiere am 17.10.1907). Ende Mai teilt Reinhardts Dramaturg Kahane in einem Brief an Humperdinck erste Anweisungen für die Musik mit. (Unter anderem bittet er um ein Lied für den Narren: Alexander Moissi werde ihn spielen, »der sehr musikalisch ist, ganz hübsch singt und sich selbst auf der Laute begleiten will; daher darf natürlich die Begleitung nicht allzu schwer sein«.'') Die fertiggestellte Komposition sorgt dann für einen melodramatischen Auftakt der Inszenierung: Nachdem unter Musik mit Streichern und Harfe der Vorhang sich geöffnet hat, beginnt der Herzog zum Klang eines »mit zartem Ausdruck« melodisch geführten Cellos zu sprechen: »Wenn die Musik der Liebe Nahrung gibt...« Die umfangreichste seiner Shakespearemusiken (18 Nummern, darunter etliche Chöre, Tänze und auch stumme >MelodramenMelodram und Chor< Nr. 28) wäre insofern als traditionell zu klassifizieren, als hier eine unsichtbar-metaphysische >Stimmlichkeitmelodischen< Verlauf der Sprechstimme eine differenzierte Akzentabstufung zu entnehmen, die einen Parameter der Artikulation fixiert, worin sich das Dilemma der Sprechmelodie bei Schönberg löste.« 8^ An Einspielungen läßt sich feststellen, daß der Versuch, die geforderten Tonhöhen präzis zu realisieren, einen in der Schwebe verharrenden Sprechton eher verhindert, als daß er entstünde. 87 >Münchner Neueste NachrichtenPierrot lunaire< d'Arnold Schönberg, Geneve 1985, S.25

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hin. Differenzierter fällt die Beurteilung durch einen Rezensenten aus, der Schönbergs Verfahren als Amplifikation des gebundenen Melodrams erkennt, der atonalen Musik gegenüber skeptisch bleibt und gleichwohl Pierrot für ein »unerhört kühnes Werk« hält, daß er »lieben lernen« werde.®^ (Später wird die Sprechpartie mit Erfolg auch von Sängerinnen und Sängern übernommen, unter anderen von Marie Gutheil-Schoder, die 1924 auch die Uraufführung der Erwartung singen wird.®') 4. Bemerkenswerter noch ist ein weiterer Aspekt der Rezeption, den der Stimmhistoriker Herbert Biehle 1931 formulierte. Biehle ist der (irrigen) Ansicht, Schönbergs Sprechmelodien seien »der Alltagssprache aufs Feinste abgelauscht«. Man hatte bereits untersucht, inwieweit Schönbergs Tonhöhenvorschriften realisierbar seien:'° Biehle resümiert, »daß die versuchte Lösung Schönbergs weder wissenschaftlich noch künstlerisch glücklich genannt werden kann, namentlich deshalb, weil die rhythmisch-metrische Gebundenheit, die gerade dem persönlichen Sprechrhythmus zu einer Hemmung werden kann, allen lebendigen phonetischen Fluß zerstört«." Die Lösung des Rätsels, das die seltsame Prämisse (»Alltagssprache aufs Feinste abgelauscht«) sowie die Wahl des merkwürdigen Beurteilungskriteriums (»wissenschaftlich« nicht überzeugend) bedeutet, ergibt sich aus dem Hinweis, daß Biehle die Arbeiten Eduard Sievers' kannte.'^ So war er im Sinne von Sievers überzeugt, daß »die Sprache selbst eine Melodie in sich trägt«; traditionsgemäß glaubte er, daß Gesang »tonerweiterte Rede« sei und daß den Vokalen »eine musikalische Klangfarbe« innewohne. Es hätte unter diesen Voraussetzungen gegolten, wenn denn Schönberg sich tatsächlich am alltäglichen Sprechen hätte orientieren wollen, die Sprachmelodie (im Sinne des von Sievers formulierten Forschungsvorhabens) zu notieren. Das hätte, wäre die Lösung »wissenschaftlich« überzeugend ausgefallen, eine Novität bedeutet, waren doch »die Gesetze, nach denen die Tonhöhenbewegung in der Sprachmusik abläuft, bisher noch unentdeckt geblieben«." Daß dies 1931 so formuliert wird, spricht vor dem Hintergrund der theoretischen Diskussion um »Gesetze« der »Musik des Sprechens« oder »Sprachmusik«, wie sie seit dem frühen 19. Jahrhundert intensiv geführt wurde, für sich.

Siegmund Pisling in der >Berliner National Zeitunglogoslogos< zum Protagonisten wurde, scheint auf ihrem Höhe- und Endpunkt angelangt zu sein.« Zu den vielfältigen monodramatischen Formen, die dieser Krise respondierten, vgl. ebda., passim.

275

Spitze getrieben, ohne sich in die relative Freiheit des melodramatischen Sprechens ablösen zu können; denn hier gewinnt die Dialektik von authentischer Emotionalität und deren (nach Adorno) >protokollarischer< Aufzeichnung Leben in der expressiven G e s a n g s s t i m m e . H ä l t man diese Interpretation für plausibel, so gelangt man zu dem Schluß, daß in der Erwartung in fixierten Tonhöhen gesungen werden mußte: Im Sinne eines in die protokollarisch feststellende Form gebannten Sprechens auf dem Niveau höchster Emphase.'"'

4.

Anti-Illusionismus im Musiktheater und melodramatische Stimme

Das melodramatische Sprechen, in der vorgängigen Theatergeschichte meist ein Pathosinstrument, wird im Musiktheater des 20. Jahrhunderts zunehmend Mittel auch nichtillusionistischer, pathetische und illusionistische Wirkungen brechender T h e a t e r k o n z e p t i o n e n . D i e melodramatische Stimme im kabarettistischen Auftritt steht bereits dafür ein, daß die kalkulierte Verschiebung zwischen musikalischer Faktur und Stimmklang sich dazu eignet, einen Differenzraum zwischen Sprache und Musik zu erzeugen, in den das distanzierende Reflexionsbewußtsein einzudringen vermag. Das Musiktheater macht sich dies zunutze. 4.1. Schönbergs Drama mit Musik Die glückliche

Hand

Die melodramatisch verschobene Stimme kann von dem Bruch zwischen der Sprache und ihrer Kraft zur Mitteilung und Verständigung zeugen, der mit dem Stichwort der »Sprachkrise« beschrieben wird: Der Vertrauensverlust, den der moderne Mensch gegenüber der Sprache erlitt, führte dazu, daß er sich ihr nicht mehr vorbehaltlos im Gesang anvertraute. So hat es Dieter Schnebel mit Bezug auf Schönbergs Die glückliche Hand (1910-1913) interpretiert.'"' Bereits im Eingangschor wird in dem einaktigen >Drama mit Musik< in verschiedensten

'O® Theodor W. Adorno (1995), S. 44: »Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert, sondern im Medium der Musik unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata registriert. [...] Die ersten atonalen Werke sind Protokolle im Sinn von psychoanalytischen Traumprotokollen.« Der seismographischen Aufzeichnung kleinster Regungen (denen sich auch das Bühnenmelodrama im 18. Jahrhundert verschrieben hatte), entspricht die musikalische »Momentform« der >Erwartung.< Vgl. Laborda (1981), S. 167ff. Ich beziehe mich bei der Verwendung des Begriffs »Anti-Illusionismus im Musiktheater« auf die einschlägige Arbeit von Sebastian Kämmerer (1990). 2 u r Entstehung vgl. die Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs »Drama mit Musik« >Die glückliche Hand« von Michael Mäckelmann. In: Constantin Floros u. a. (1988), S. 7ff. Eine ausführliche dramaturgische und musikalische Analyse unter dem Signum »Illusionsverzicht« bei Sebastian Kämmerer (1990), S. 47-70.

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Abstufungen geflüstert und gesprochen,'"'' und auch Geräuschhaftigkeit des Sprachklangs wird in die Skala des Stimmausdrucks aufgenommen. Schnebel schreibt dazu: »Aus solcher Musik spricht nichts Gutes. Die so reden, haben keine Töne mehr: Gesang ist zum Sprechen geschrumpft. Das signalisiert Verkümmerung derer, die einst sangen.«'"' Während die Deklamation des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts den Vokal dehnt, ihn dadurch >be-tont< und sich so dem Pathos der menschlichen Stimme anvertraut, scheint hier der Konsonantismus der Wortsprache sich gegen die Sprache selbst zu kehren. Denn der Chor zischt den >MannTonsprache< ist Anfang und Ende der Wortsprache«; Tonsprache ist das »ursprünglichste Äußerungsorgan des Menschen«. Der konsequent nächste Schritt wäre die komponierte Sprachstörung. Schnebel (1984), S. 219, beschreibt sie: »Mauricio Kagels >Phonophonie< ist eine auskomponierte Sprachstörung: Versprechen, Stottern, Artikulationsschwierigkeiten bilden musikalische Verläufe.« Der dann nächste Schritt wäre der Übergang zum semantisch unbestimmten Stimmgeräusch. Vgl. Michael Mäckelmann in Floros (1988), S . 2 5 Vgl. Sebastian Kämmerer (1990), S . 4 8 Ebda., S . 4 9 Ebda., S . 7 0

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Das relativierende Moment der Distanz, das der sprechende (flüsternde, zischelnde) Chor in die Handlung einspielt, konterkariert die extreme Subjektbezogenheit der Handlung selbst und verunmöglicht ihre ungebrochenen Rezeption.

4.2. Der souveräne Harlekin spricht (Sprechstimme bei Busoni) Busoni nutzt melodramatisches Sprechen in allen basalen Spielarten: frei, rhythmisch fixiert, rhythmisch und diastematisch fixiert."^ Bereits in der 1911 abgeschlossenen Brautwahl finden sich außerdem Anweisungen wie »fast gesprochen« oder »gesprochen« auch über gewöhnlicher Notenschrift. Mit Reihungen beispielsweise von »fast gesprochenem« und »gesungenem« Text kommt melodramatische Übergangs- oder Steigerungstechnik zum Einsatz; nach Monika Schwarz-Danusers These entwirft Busoni sogar ein »abgestuftes Kontinuum von Sprache und Gesang«.'" In Turandot (11,7) wird melodramatisches Sprechen als »Mittel dramatischer Steigerung« eingesetzt. Dabei bedient sich Busoni eines der Tradition geläufigen Aufbaumodells: »Adelmas Rede, stets im Dialog mit Turandots Gesangspartie, geht aus von frei gesprochenem Textvortrag über gehaltenen Akkorden, schreitet in intensiviertem Dialog fort zu knappen, nun gesungenen Dialogphrasen und kulminiert schließlich dort, wo sie um ihre Freiheit bittet, in ariosem Gesang.«"'' Auch Wechsel von unbegleitet gesprochenem Dialog und musikalischen Passagen finden sich hier, wie dann auch in Arlecchino. Im gegebenen Kontext ist Turandot überdies deshalb von Bedeutung, weil diese Oper nicht von vornherein eine war. Busoni komponiert zunächst eine Schauspielmusik zu Gozzis Märchen, in der Absicht, erstmals »ein italienisches Schauspiel musikalisch zu >illustrierenspiele< - er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und Feinschmecken.«'^^ Denn die Oper kann sich eo ipso der Bedingung ihrer Unwahrscheinlichkeit nicht entziehen: Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher Personen singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche gestellt sein müssen; auf daß eine Unmöglichkeit die andere stütze, und so beide möglich und annehmbar werden.'^'

Es bedarf im Grunde keiner weiteren Erläuterung, daß in einer solchen Opernästhetik nicht allein das Singen, sondern auch das zur Musik scheinbar querstehende melodramatische Sprechen in jeder Abschattierung prinzipiell seinen Platz findet. Diese Prämissen prägen weitgehend, jedoch nicht im Sinne reiner Lehre, das einaktige (in vier Sätze unterteilte) »theatralische Capriccio« Arlecchino und die Fenster, das im Bergamo des 18. Jahrhunderts spielt.'^'' Einleitend spricht nach vier trockenen, den burlesken Grundton des Werks anschlagenden Takten Arlecchino einen Prolog, an dessen Ende er sich auffordernd an den Kapellmeister wendet: »Maestro?« Die Musik beginnt, das Spiel beginnt. Dabei ist mit der im Prolog ausgesprochenen Aufforderung, man möge es »nicht völlig a la lettre deuten«, dem Geschehen der Hinweis auf Bedeutung(en) neben der unmittelbar einsichtigen vorangestellt; zugleich auch der Vorbehalt spielerisch-ironischer Distanz, denn immerhin handelt es sich um eine an die alte Commedia angelehnte Handlung. Auf diese Ambivalenz hat Busoni selbst verwiesen; »Arlecchino« ist ein dramatisienes Bekenntnis, und darum [...] mein völlig eigenes Werk. Es ist zugleich eine leichte Verspottung des Lebens und auch der Bühne, aufrichtigste Haltung, bei aller Anspruchslosigkeit und Komik ernst gemeint, und mit liebevollster Besorgtheit um die künstlerische Form unternommen.'^'

122 123 12^

125

Busoni: Die Einheit der Musik und die Möglichkeiten der Oper. In: Ders. (1956), S. 1 0 - 3 0 . Hier S. 19 Busoni: Von der Zukunft der Oper. In: Ders. (1956), S. 6 1 - 6 4 . Hier S. 63 Ebda., S. 61f. Eine gewisse Relativierung des opernästhetischen Ansatzes bedeutet schon das Libretto. War es zunächst (1913) gemäß Busonis Idee angelegt, die Oper solle ein »Lachoder Zauberspiegel« sein, sorgt der Einfluß des Ersten Weltkriegs für eine Änderung der Konzeption, die sich nun in Richtung eines Bekenntnisses gegen die Barbarei des Kriegs modifiziert. Vgl. Busoni: Zu Arlecchinos Deutung. In: Ders. (1956), S. 99 und Claudia Feldhege (1996), S. 130 Busoni: Arlecchinos Werdegang. In: Ders. (1956), S. 9 4 - 9 8 . Hier S. 95.

280

In der Titelfigur fallen handelnde Person, Fädenzieher und Kommentator ineins. Dieser grundsätzliche und unhintergehbare Illusionsbruch bildet sich in der stimmlichen Ordnung ab: Arlecchinos Part, bei der Uraufführung vom musikalisch versierten Alexander Moissi gespielt, ist in einer rhythmisch gebundenen melodramatischen Sprache ins Stück eingepaßt.'^^ Diese Ebene der Stimmdramaturgie hat Arlecchino weitgehend, wenn auch nicht exklusiv, für sich. N u r Colombina, seine Frau, bricht einmal plötzlich aus innigstem Liebesduett mit Leandro »völlig unberührt« ins gesprochene aparte aus: »Wüßt' ich nur, daß Arlecchino dies ärgern könntPhilosophie der neuen Musikc »Die organisch-ästhetische Einheit ist dissoziiert. Sprecher, Bühnenvorgang und sichtbares Kammerorchester werden nebeneinander gestellt und damit die Identität des tragenden ästhetischen Subjekts selbst herausgefordert. Der anorganische Aspekt verhindert jede Einfühlung und Identifikation.« Theodor W. Adorno (1978), S. 160 Im klassischen >Handbuch der Oper< von Kloiber und Konoid (1994) [zuerst 1951], S. 826, wird die »stilistische Stellung« des Werks ohne Hinweis auf diese Besonderheit erläutert. 130 »Indem der Gesang sich mehr und mehr mit dem Wort verband, wurde er schließlich ein Lückenbüßer und gestand damit selbst seinen Niedergang ein.« [Zitate nach Trapp (1978), S. 222f., aus >Musikalische Poetik< sowie aus >Gespräche mit Robert Craft.romantischen< Liebesschwurs bewerkstelligt die melodramatische Einleitung des Liebeslieds zwischen Polly und Macheath im Pferdestall (Nr. 8). Als Verbindung vom Volkstheater überkommener und kabarettistischer Vortragsformen wiederum wird man das allmähliche melodramatische Hineinfinden des Macheath in die Ballade vom angenehmen Leben (Nr. 14) bezeichnen können; erst als die Refrain-Pointe gesprochen präludiert worden ist (»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«), gerät die Musik in Fahrt, und mit ihr der nahe am quasimelodramatischen Sprechgesang verbleibende Gesang des Macheath. Daß Schauspieler-Sängerinnen wie Lotte Lenya und am kabarettistischen Vortrag geschulte Darstellerinnen wie Rosa Valetti oder Kate Kühl die Uraufführung prägen, ist sinnlich-äußeres Symptom dafür, wie weitgehend die Umformulierung des alten melodramatischen Sprechens unter dem Vorzeichen gewisser Konvergenzen von Schauspiel, Oper(ette), Kabarett und anderen Vortragsformen des Podiums (wie der Moritat oder dem Song) dem neuartigen epischen Theater zugute kommen konnte; wie weitgehend demnach ein Theater, das sich »eine Durchdringung des ganzen Theaterkomplexes, als eine Belebung aller seiner Elemente, des Schauspiels und der Oper, der Posse und der Operette« vorgenommen hatte,''' sich auf eine vermittelnde Stimmästhetik sprechgesanglicher Valeurs stützen konnte. Eingeblendet sei an dieser Stelle auch der Hinweis auf eine Besonderheit, die nicht unmittelbar mit dem antikulinarischen (Musik-)Theater zu tun hat, aber die melodramatische Stimme mit einer stimmgeschichtlich einschneidenden technischen Neuerung in Verbindung bringt.''*" 1929 soll auf dem Baden-Badener Musikfest »Originalmusik für Rundfunk« präsentiert werden. Gemeinsam Brecht: Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater. In: Ders. (1997), Bd. 6, S. 216-224. Hier S.216 Ebda., S. 219: »Praktisch gesprochen, ist gestische Musik eine Musik, die dem Schauspieler ermöglicht, gewisse Grundgesten vorzuführen. Die sogenannte billige Musik ist besonders in Kabarett und Operette schon seit geraumer Zeit eine Art gestischer Musik.« Vgl. auch ebda., S. 278: »Es ist ein vorzügliches Kriterium gegenüber einem Musikstück mit Text, vorzuführen, in welcher Haltung, mit welchem Gestus der Vortragende die einzelnen Partien bringen muß, höflich oder zornig, demütig oder verächtlich, zustimmend oder ablehnend, listig oder ohne Berechnung.« 138 Ebda., S.217 Herbert Ihering: Brecht und Weill: Dreigroschenoper. Das Werk. In: >Musikblätter des Anbruch XDer Scheinwerfer< (Essen), hrsg. v. Hannes Küpper, V. Jg. 1932, 18./19. H. vom Juni, S . 9 - 1 1 . [Zitiert nach Voigt (1980), S . 2 1 3 f . ] 1 « Kämmerer (1990), S. 164

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Phase« gekennzeichnet worden ist.'"" Sie bedient sich nahezu sämtlicher melodramatischer Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und kombiniert sie nach Gusto. Melodramatische Szenen, melodramatische Übergänge, melodramatische Episoden und Passagen innerhalb größerer Nummern (zumal innerhalb von Ensembles) und melodramatische Aktfinals werden in vielfältigen individuellen Ausformungen dramaturgisch fungibel gemacht. Melodramatisches Sprechen ist häufig, wenn auch keineswegs ausschließlich, dort anzutreffen, wo es beiläufig zugeht, wo in Konversation gemacht wird, wo zwischen Tür und Angel eine Ankunft gemeldet oder eine Nachricht überbracht wird. Solche Passagen sind geeignet, das Geschehen voranzutreiben - oder aber aus dem elegischen oder entfesselten Tanz der singenden Stimmen heraus- und auf einen Moment beiseite zu treten, um desto entfesselter wieder aufs Parkett des Gesangs zurückzukehren. Ein Vorrecht auf die Kombination stimmlicher Mittel in jeder erdenklichen Vielfalt gewinnt die Operette schon dann, wenn man sie mit Karl Kraus als die unwahrscheinliche und daher an keinen Zwang zur Motivierung gebundene Kunstform begreift: Denn die Operette setzt eine Welt voraus, in der die Ursächlichkeit aufgehoben ist, nach den Gesetzen des Chaos, aus dem die andere Welt erschaffen wurde, munter fortgelebt wird und der Gesang als Verständigungsmittel beglaubigt ist. [ . . . ] In der Operette ist die Absurdität vorweg gegeben.

Nach Durchsicht einiger repräsentativer Operetten erscheint eine strikte Klassifizierung der melodramatischen Vielfalt nicht sinnvoll; diverse Berührungen zwischen den Varianten sind augenfällig.'^' Grob unterscheiden lassen sich, anhand einiger Beispiele: -

-

das Entree als melodramatische Exposition {Land des Lächelns, Nr. 1: Introduktion und Entree); der melodramatisch eingeleitete Auftritt {Ball im Savoy, melodramatischer Dialog zum Anfang des zweiten Akts. Die lustige Witwe, Akt I, Nr. 3; das Bauprinzip hier: Ubergang vom gesprochenen Dialog über melodramatischen Dialog, retardierenden melodramatisch-monologischen Kommentar und pantomimische Sequenz zum Gesang, der zur großen Ensemblewirkung hinleitet); die melodramatische Überleitung oder Überlappung {Die lustige Witwe, Nr. 4: Auftrittslied des Danilo mit kurzer melodramatischer Überleitung;

Volker Klotz (1991), S. 150: »Sie [die zweite Phase] läßt sich weniger aus der inneren Entwicklung der Gattung als von außen her begreifen. Daraus, daß die Operette inzwischen eine eigenständige Kunst von öffentlichem, freilich zwiespältigem Rang jetzt einen Gegenwirbel aufrührt zu allgemeinen Strömungen zeitgenössischer Ästhetik.« 150 Karl Kraus ( o . J . ) , Bd. 1, S . 2 0 8 Folgende Operetten wurden hauptsächlich berücksichtigt (in alphabetischer Folge nach Komponistennamen): Paul Abraham: >Ball im SavoyDie BajadereDer Vetter aus DingsdaDas Land des LächelnsDie lustige WitweLysistrataProsa< annoncierte melodramatische Passage {Die lustige Witwe, im Finale des zweiten Akts; Lysistrata, Finale des ersten Akts); die melodramatische Episode, die oft musikalisch abgesetzt im typischen Stil melodramatischer Untermalung (Tremoli, Fermate auf ausgehaltenen Klängen) im größeren musikalischen Zusammenhang erscheint {Land des Lächelns, zweites Finale^®', drittes Finale; Der Vetter aus Dingsda, erstes Finale); die längere melodramatische Passage innerhalb größerer musikalischer Zusammenhänge {Land des Lächelns, drittes Finale'^^); 152 Sou-Chong fährt Lisa singend an: »Ich bin dein Herr!« Sie echot, »gesprochen ironisch«: »Herr?« Darauf Sou-Chong: »In China ist es so!« Darauf sie, in andeutenden Sprechnoten und »wegwerfend«: »Was kümmerts mich!« An hervorgehobener Stelle geht dann auch Sou-Chong ins Halbgesprochene über, um ihr zu zeigen, was es sie kümmern muß: »Bei uns kann der Mann das Weib [in Sprechnoten:] selbst köpfen lassen.« 153 Die gesungene Unterhaltung dreht sich verzückt im Kreise, man macht sich gegenseitig Komplimente und berauscht sich an der Nähe des Exotisch-Fremden. Die Poesie des aus der Alltagsprosa herausgehobenen Moments fällt in diese zurück: Lisa: »Hoheit! Noch eine Tasse Tee?« Prinz: »O, ich danke!« Lisa: »Jetzt kann ich sie aber nicht länger der Gesellschaft vorenthalten.« 154 Nachdem Lisa die aparte Andersartigkeit des Prinzen besungen hat, folgt zunächst dramatischer Kommentar der Musik; in die relative Stille eines gehaltenen Oktavklangs hinein resümiert Sou-Chong: »Ich passe nicht in ihre Welt hinein.« Dies ist zugleich der Übergang zum komplementären zweiten dramaturgischen Höhepunkt des Finales; Sou-Chong räsoniert singend über die Notwendigkeit, Verzicht zu leisten (»Lächelnd entsagen...«). Im gesungenen Zwiegespräch kann Lisa sich vergewissern, daß sie das »Liebste« ist, das er zurücklassen will - und kann, melodramatisch sprechend, die scheinbare Peripetie und Lösung verkünden: »Ich ginge mit ihnen bis ans Ende der Welt!« 155 Melodramatische Konversation und ihre emphatische Überbietung durch den Gesang alternieren hier fließend und überlappen sich dabei. 156 Viertaktige Episode, zu der Lisa spricht: »Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht! Ich hasse dich!« 157 Der Abschied ist innerhalb dieses Finales in dieser Art gestaltet.

289

-

das a u s g e w i e s e n e >Melodram< in A k t f i n a l s {Der Vetter aus

-

bruchloses {Land

-

Pendeln

des Lächelns,

zwischen

melodramatischem

drittes Finale'®': Die lustige

Dingsda}^^)-,

Sprechen

Witwe,

und

Gesang

zweites Finale''");

die V e r b i n d u n g v o n m e l o d r a m a t i s c h e m D i a l o g u n d g e s u n g e n e m E i n s c h u b {Die lustige

Witwe,

N r . 10, II.: A l l e g r o m o d e r a t o , m i t D i a l o g u n d g e s u n g e n e r

Reminiszenz); -

die m e l o d r a m a t i s c h e R e m i n i s z e n z {Ball

im Savoy,

N r . l a : >Eingang

zum

ersten A k t < " ' ) ; -

d e r m e l o d r a m a t i s c h e >Sprech-Chorus< {Ball im Savoy,

N r . 12; in r h y t h m i -

schen Sprechnoten mit K r e u z k ö p f c h e n notiert''^). D i e O p e r e t t e n i m m t , w a s i m m e r an m e l o d r a m a t i s c h e n O p t i o n e n e r r e i c h b a r ist, u n d sie b a u t sich ihre eigenen M o d e l l e . D a b e i v e r l e u g n e t sie n i c h t ihre H e r k u n f t aus d e n T r a d i t i o n e n des Singspiels, d e r O p e r a c o m i q u e u n d des W i e n e r Volkst h e a t e r s , die s ä m t l i c h m i t m e l o d r a m a t i s c h e n T e c h n i k e n a r b e i t e t e n . " ' A u f f ä l l i g ist die vielfältige V e r w e n d u n g in d e n g r o ß e n A k t f i n a l s , in die h ä u f i g o h n e h i n eine Vielzahl v o n N u m m e r n t y p e n integriert w i r d . W a s aus d e r F r e i h e i t d e r O p e r e t t e u n t e r d e n B e d i n g u n g e n einer i n z w i s c h e n m i t allen W a s s e r n g e w a s c h e n e n m e l o d r a m a t i s c h e n S t i m m d r a m a t u r g i e z u m a c h e n ist, zeigt beispielhaft die

Alle drei Aktfinals sind außergewöhnlich umfangreich, und alle drei enthalten als Melodramen deklarierte Passagen. Sieht man von wenigen gesprochenen Einwürfen ab, sind es die einzigen dieser Operette, die also speziell ihre Finalwirkungen aus der Wechselwirkung von Gesang und melodramatischem, mit der handlungsfördernden Informationsvergabe betrautem Dialog bezieht. In melodramatisch-melancholischem Ausklang wird die Quintessenz gemäß dem Motto der Operette gezogen. Mi spricht leise: »Mein Bruder, du trägst es so leicht?« Dann singt sie: »Unser Schicksal bleibt doch:« Sou-Chong fällt ein, sprechend: »Immer nur lächeln und immer vergnügt... [darunter Solovioline mit der zugehörigen Melodie; Sou-Chong nimmt den Faden auf und singt weiter:] lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen. Doch wie's da drin aussieht, geht niemand was an!« Inmitten des großen Finalensembles tobt Danilo, der die Beherrschung verliert, »wüthend« (in tonhöhenunspezifischen Sprechnoten notiert): »In mir tobt es, in mir bebt es, in mir zuckt es, in mir juckt es! [geht in Singen über:] Halt's nicht aus! Es muss heraus!« Etc. Angemerkt ist dazu: »Diese Szene muss abwechselnd gesungen und gesprochen werden, oft ganz ohne Rhythmus, mit höchster Leidenschaftlichkeit vorgetragen.« Bereits in Vorspiel und Nr. 1: >Bist du mir treu?« wird gesungen [mit der Vortragsanweisung: nach Gefühl manche Stellen parlando]: »Bist du mir treu, von Herzen treu?« Dann beginnt der erste Akt mit der als Melodram aufgenommenen Reminiszenz »Bist du mir treu?« Text: »Blonde Damen, schwarze Damen, braune Damen, rote Damen...«. Die Vortragsanweisung: »Dieser Refrain wird von Daisy und Mustapha Bei zur Musik gesprochen. Die wichtigste Bedingung zum Vortrag ist, daß der Text absolut verständlich, deutlich und von beiden ganz exakt zusammen - und zwar im schnellen (normalen) Tempo - gesprochen werden muß. Das Orchester muß hingegen ganz leise, zurückhaltend - eher nur eine Stütze des Rhythmus sein.« 163 Vgl. M G G (1994ff.), Bd. 7 (1997), S. 706ff. Neben den genannten Vorläufern werden hier außerdem die English Bailad Opera und das Vaudeville genannt. 290

1931 aufgeführte Bearbeitung von Offenbachs Belle Helene durch Erich Wolfgang Korngold und Max Reinhardt.'^"' Die Sprechnotation findet hier Aufnahme in die Operette, zum Beispiel, um der (bigotten) Erregung von Juno und Minerva Luft zu schaffen, als die Konkurrentin um des Paris Gunst, Venus, zur List greift, vor Paris lächelnd und stumm ihr Gewand niedergleiten zu lassen. Auch in Stabnotation festgelegter Sprechchor gehört zum Aufwand, ebenso ein durchkalkuliertes Gestotter von Kriegsparolen der beiden Ajaxe. Helena wiederum bedient sich im Duett mit Paris eines frivolen, scheinbar seine Avancen abwehrenden Sprechgesangs (rhythmisch und nach Tonhöhen festgelegt, Anweisung »mehr gesprochen«), der vom Gesang des Paris sich abhebt. Und ein Abschnitt >Rhythmische Prosa< führt konsequent steigernd von unbegleiteter, rhythmisch fixierter Sprache über eine unbegleitete, dann instrumental begleitete gebunden melodramatische Passage zum Gesang, schließlich zum chorischen Gesang. Die Vorlage, Offenbachs Mythentravestie von 1864, kannte derlei noch nicht; der mit Humperdinck zusammenarbeitende Reinhardt und Korngold, früherer Schüler des Schönberg-Lehrers Zemlinsky, hingegen sehr gut.

6.

Die melodramatische Stimme in der Literaturoper

In der Literaturoper, die das Libretto durch eine literarische Vorlage ersetzt, hat in den 1920er Jahren die Sprechstimme in allen Schattierungen den Ort ihrer differenziertesten Entfaltung gefunden. Drei solcher Opern können exemplarisch dafür einstehen. Von fundamentaler Bedeutung sind, das versteht sich von selbst, Alban Bergs Wozzeck und Lulu. Und Othmar Schoecks Penthesilea zeigt, daß nicht nur für die musikalisch bewältigte offene Form der Büchnerschen Vorlage, nicht nur für das (zwölftönig umgesetzte) ironisch gebrochene Sujet der Wedekind-Dramen sondern auch für die höchst expressiv musikalisierte Adaption der exorbitanten Kleistschen Tragödie melodramatisches Sprechen wichtige stimmdramaturgische Differenzierungsoptionen bietet. Die offene Form der Büchnerschen Woyzeck-Szenen, die Alban Berg gemäß dem Titel der Uraufführung von 1913 als Wozzeck kennenlernte,'^^ erforderte das Gegengewicht einer musikalischen Formgebung. So wird es in der musikwissenschaftlichen Literatur vielfach dargestellt, und hinzugefügt wird, etwa von Carl Dahlhaus, daß die strenge Formgebung durch musikalische, an traditionellen Mustern orientierte Formen zugleich ein Gegengewicht zu der äußerst freien Führung der Gesangs- bzw. Sprechstimme bedeutet. Zwischen geschwungenen Kantilenen, wie sie in den Liedern zum Einsatz kommen (Wiegenlieder

Premiere im Berliner Theater am Kurfürstendamm am 1 5 . 6 . 1 9 3 1 u. a. mit Hans Moser als Menelaus, Egon Friedell als Merkur, Jarmila N o v o t n a als Helena. Die (glättende, die Szenen in eine handlungsdramaturgische Abfolge bringende) Erstausgabe durch Karl Emil Franzos von 1878 trug den Titel >Wozzeck. Ein TrauerspielFragmentEwigMusikblätter des Anbruch Xoffenen< F o r m des Dramas gelten darf, nahezu unverändert einem musikalischen Werk zugrundegelegt wurde, das aus der Tradition des Musikdramas stammt."''

Wenn an diesem Punkt exzeptioneller Konvergenz theatraler Gattungen zugleich Singen und Sprechen dadurch entgrenzt werden, daß sie in dramaturgisch differenziert verwendbare Nuancen aufgelöst sind,'^' so steht diese spezifische Verwendung der Stimme exponiert für bereits im 19. Jahrhundert sich abzeichnende Überlappungen von Schauspiel und Oper ein. Eine Gleichsetzung beider wäre empirisch unsinnig. Doch läßt sich behaupten, daß mit einem Werk wie Wozzeck das latente Modell eines in der Totalität der Stimmvaleurs begründeten musikalisch-literarischen Theaters in der Praxis sichtbar wird. Der Hinweis darauf, daß sich nach heutiger Erkenntnis die Sängerstimme durch den sogenannten Sängerformanten signifikant von der Sprechstimme unterscheidet,würde diese These nicht aufheben können: Nicht ob die Stimme sprungweise oder ob sie im Gegenteil graduell''^ vom Sprechen zum Singen übergeht, ist entscheidend, sondern daß die Gesamtheit ihres Ausdrucksspektrums auf das Theater gelangt, wie auch immer dies in den Abstufungen stimmtechnisch oder physiologisch realisiert wird. Bergs anfängliche Bedenken, ob derlei akustisch praktikabel sei, ob nämlich »die menschliche Sprechstimme, trotz zartester Instrumentation, für ein Bühnenhaus ausreicht«, zeugen im übrigen davon, daß der stimmtechnische Aspekt keineswegs negiert wurde.''® Erwin Stein sah mit Schönbergs und Bergs Modifizierung des melodramatischen Sprechens den alten Widerspruch zwischen Musik und Deklamation aufgehoben; er repetierte dabei nochmals das alte Argument derer, die das Melodram ablehnten, weil es heterogene Eindrücke vermittle, da Sprechen und Musik »nebeneinander standen und nicht in eine gemeinsame Form vereinigt waren«.''' Doch spätestens Sprecher wie Ludwig Wüllner oder Alexander Moissi '74 Carl Dahlhaus (1990), S.21 Rudolf Stephan (1960), S. 189 hat dieses »Kontinuum« so genannt und (1979) am Beispiel von >Lulu< ausführlich dargestellt. 176 Vgl., lesbar als Plädoyer für klare Scheidung beider, die Grundthese von Peter-Michael Fischer (1993) 177 Vgl. Horst Gundermann (1994), S . 5 1 178 Brief an Anton Webern vom 19. August 1918. [Zitiert nach Ploebsch (1968), S. 86] Bezeichnend auch die Stufung in der Bibelszene mit Marie, w o zunächst gesprochen, dann »mit etwas Gesangsstimme phoniert«, dann »ganz gesungen« werden soll. 179 Erwin Stein (1928), S. 370

294

hatten es meisterhaft verstanden, den Eindruck des Heterogenen durch ein musikalisches Sprechen zu suspendieren. Wie problematisch die theoretische Bestimmung der Sprechmelodie und ihrer Beziehung zur Musik durch Schönberg im Vorwort des Pierrot lunaire auch bleiben wird - spätestens mit Wbzzeck ist offensichtlich, daß diverse, sogar divergente Aspekte zeitgenössischer Sprechästhetik - der des Schauspieltheaters und des Konzertpodiums wie der des Kabaretts - sich mit überzeugenden ästhetischen Ergebnissen durch die avancierte Musik adaptieren lassen. In LUIH (begonnen 1929, nicht vollendet, UA 1937) differenziert Berg das in Wozzeck entwickelte Spektrum weiter. Peter Petersen hat sämtliche in der Notation erfaßten Schattierungen einläßlich analysiert, mit folgendem Ergebnis: In Wirklichkeit gibt es keine festen Grenzen innerhalb des komplexen Systems der Stimmgebungen, und diese sind auch nicht von Berg angestrebt. Vielmehr darf gelten, daß Bergs notationsmäßige Differenzierung mit einer künstlerischen Praxis rechnet, die zu einer noch weiteren Verfeinerung der vokalen Ausdrucksformen führt, wodurch die hier eruierte Skala von 65 Abstufungen zwischen Singen und Sprechen um ein Vielfaches erweitert würde.""

Die Nuancierung ist so weit getrieben, daß es kaum länger sinnvoll bleibt, prinzipiell zwischen Singen und Sprechen zu unterscheiden, wenngleich sich das Kriterium der gleichbleibend ausgehaltenen Tonhöhe als differentia specifica in dieser zwölftönigen Komposition per se durchaus noch anwenden ließe. Doch führt Berg selbst die Tonhöhendifferenzierung der Stimme so weit, daß er an bestimmten Stellen Verläufe nur graphisch andeutet (ohne die Tonhöhe mit Notenköpfen oder -kreuzköpfchen festzulegen). Die Stimme kann und soll alles: Nicht nur flüstern, leiern, johlen, schreien, stimmlos sprechen, gewöhnlich sprechen, rhythmisch sprechen, halb singen, schwach singen, singen und bei alledem auch das Falsett nutzen usw., sie soll überdies (asemantisch) keuchen, atmen, husten. Und wichtig mit Blick auf die Herkunft der Sprechästhetik, die in die musikalische Konzeption Eingang findet: An etlichen Stellen soll »glissando« oder »tremolo glissando« gesprochen werden, auch »legato« und »portamento« am Übergang von Sprechen und Gesang. Neben die Weisen des Sprechens und des Singens treten verschiedene Arten des Rezitativs, die teilweise, wie Rudolf Stephan schreibt, »an wesentlichen Stellen« der Handlung erscheinen.'^' Das Problem, das musikgeschichthch wiederholt zu Unbehagen am (angeblich ganz der Sprache dienenden) Rezitativ führte,'" wird in der Gegenüberstellung von Rezitativ und rhythmisch fixierter Deklamation offenbar, scheint aber als Problem zugleich irrelevant zu werden: Das Rezitativ ist [...] in gewisser Weise das Gegenteil des rhythmisierten Sprechens. Ist bei diesem nur der Rhythmus, nicht aber die Tonhöhe fixiert, so ist es beim Rezitativ

180 Vgl. ausführiich zu Musik und Stimme im >Wozzeck:< Peter Petersen (1985), S. 73ff. 181 Rudolf Stephan (1979), S. 247. Stephan nennt die zentrale Stelle der Salonszene im dritten Akt. 182 Vgl. die Vorüberlegungen zu Singen und Sprechen unter 2. 295

umgekehrt: die Tonhöhe ist absolut verbindlich - daher die Gesangsnotation Rhythmus, wie eigens von Berg notiert wird, sehr frei}"

der

Die Stimme kann sich inzwischen, losgelöst vom Zwang der absolut verbindlichen Tonhöhe, bald mehr, bald weniger selbständig, selbst in einer zwölftönigen Komposition bewegen, ohne deren musikalische Faktur anzutasten, als jederzeit und auch dort »vollwertiges Mittel«, wo sie nicht den Vorgaben des Tonsystems entsprechend vertont, auf Noten gesetzt, in Musik gesetzt ist. In Othmar Schoecks Penthesilea (1923/25) wird erstmals »Wortlaut« eines Kleistschen Dramas als Oper vertont.'®"* Nicht nur Goethes seinerzeit vernichtendes Urteil dürfte zuvor einer Opernkomposition im Wege gestanden haben, sondern auch die extreme und schwer auf Libretto-Format zu bringende Sprache. Eine gewisse Konjunktur von Stoffen, in deren Zentrum wahnsinnige oder psychisch höchst bedrängte Frauengestalten stehen (zu denken wäre an Strauss' Salome und Elektra oder an Schönbergs Erwartung) kommt nun der Annäherung an den PenthesileaStoii und an das Drama entgegen. Schoeck arbeitet dabei mit zwei konträren Stilhaltungen, die Jürg Stenzl als lyrische »Zustandsmusik« und prosaische »Handlungsmusik« gekennzeichnet hat.'®' Der prosaische Stil ist weitgehend durch den Verzicht auf herkömmliche Gesangsmelodik geprägt; an ihre Stelle treten expressiver Sprechgesang und melodramatische Abschnitte, in denen frei oder rhythmisiert zur Musik gesprochen wird.'®*" Hier herrscht eine »dissonante Kombinationsharmonik mit großer harmonischer Dichte« (Stenzl), während die lyrische Musik sich an einem tonalen Zentrum ausrichtet. Mit vorwärts oder rückwärts gerichteten Pfeilen deutet Schoeck in den freien melodramatischen Passagen ein rasches oder langsames Sprechtempo an. Stabnotation (ohne Notenköpfe) fixiert stellenweise den Rhythmus. Vereinzelt zeigen Noten mit gekreuzten Köpfen die Sprechtonhöhe an. Oft wird auf gleichbleibender Tonhöhe sprechgesanglich deklamiert, oder es wird (ebenfalls auf gleichbleibender Tonhöhe) »frei, wie geflüstert« der Stimmklang kaum erkennbar be-tont. Vortragsbezeichnungen wie »mit gehobener Stimme« (sowohl bei gesprochenem als auch bei gesungenem Text eingesetzt), »gedehnt« (dito) oder »wie ein Hauch« erweitern das Spektrum. Als dramaturgische Besonderheit ist ferner ein melodramatisch ausgeführtes Nachholen erwähnenswert, wie es zu Anfang im Bericht Meroes über Penthesileas erste Begegnung mit Achill vorkommt. Und eine Spezialität stellen die teichoskopischen Passagen dar. Inner183 Rudolf Stephan (1979), S.249 Jürg Stenzl (1979), S. 228. Zunächst arbeitet Hans Corrodi das Drama zu einem Libretto um; Schoeck akzeptiert es nicht, und seine Frau kürzt das Drama gemeinsam mit Schoecks Vetter Leon Oswald nach Schoecks Angaben; Schoecks Bruder Paul glättet diese Fassung mithilfe Kleistscher Verse. 185 Ebda., S.231f. 186 Schoeck sprach vom »Penthesilea-Stil«: »Der >Penthesilea-Stil< ist für mich das wahre Musikdrama; bei Wagner ist mir noch zu viel Musik dabei!« Werner Vogel: Othmar Schoeck im Gespräch. Tagebuchaufzeichnungen, Zürich 1965, S. 106

296

halb von Opern ist Teichoskopie eine Besonderheit;'^'' Schoeck setzt sie melodramatisch um. Insgesamt fallen abrupte, dramaturgisch oft kaum zu spezifizierende Wechsel stimmlicher Modi innerhalb einzelner Repliken auf; eine Beobachtung, die, wie mir scheint, die These vom Gegeneinander lyrisch-gesanglicher und prosaisch-melodramatischer Passagen r e l a t i v i e r t . S c h o e c k s Oper bedeutet insgesamt keine prinzipielle Weiterentwicklung melodramatischer Technik oder melodramatischen Sprechens; doch deren freie Handhabung in einem Werk ungebrochener Expressivität zeichnet Penthesilea in dieser Hinsicht gewissermaßen als einen Kontrapunkt zu den wirkungsmächtigeren Bergschen Literaturopern aus.

7.

Die Menschenstimme, die nicht singen-und-sagen kann (Schönbergs Moses und Aron)

N u r wenige Bemerkungen noch zu Schönbergs Moses und Aron (I. und II. Akt 1930-1932). Auch diese Oper wird als Paradigma gattungsübergreifender Konvergenz beschrieben: Die Vielfalt und Breite der musikalischen Ausdrucksmittel in Moses und Aron sind wesentlich darauf zurückzuführen, daß die Komposition die Grenzen der herkömmlichen Gattungen überspannt. Sie korrespondiert damit exakt ihrem Standort und trägt - zu ihrem Vorteil - der Entwicklung zur Auflösung der Gattungsnormen Rechnung, die sich spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts - schon Wagner wollte Oper und Symphonie im Musikdrama >aufheben< - vollzogen hatte.'"

Sind in Wozzeck und in Penthesilea unterschiedliche stimmliche Valeurs eher lose dramaturgischen Bereichen zugeordnet, so ist Schönbergs unvollendete Oper geradezu auf dem Gegensatz von singender und sprechender Stimme aufgebaut. Moses sagt über sich: »Meine Zunge ist ungelenk: ich kann denken, aber nicht reden.« (1,1) Die Stimme aus dem Dornbusch, chorisch gesprochen und zugleich von sechs Solostimmen gesungen, verkündet ihm eingangs, sein Bruder Aron solle sein Mund sein; aus Aron solle Moses' Stimme sprechen. Und Aron verfügt über Gesang, der sich als eine rhetorische Qualität erweist. Er ist überzeugungsmächtig, er weiß seine Worte zu setzen: er kann singen."® Dies ist der tragende Konflikt der Oper: Moses hat den Auftrag zur Mission; doch er kann vom einzigen, ewigen, allgegenwärtigen und unvorstellbaren Gott nicht singen und sagen.'" Aron hingegen verfügt über die Möglichkeit, durch popu187 Vgl. Carl Dahlhaus (1990), S.22 Ein weiteres Indiz zu dieser These: Der Dialog Achill - Penthesilea nach der Gefangennahme Penthesileas ist auch dort, wo die Begleitung lyrisch wird, meist rhythmisiert melodramatisch gehalten. 189 Christian Martin Schmidt (1988), S. 112. Schmidt analysiert auch die dramaturgische Opposition von Singen und Sprechen in dieser Oper. (Vgl. insbes. S. 114) Mit jeweils einer Ausnahme ad libitum wird dies strikt durchgeführt. 191 Es sind die ersten anikulierten Worte der Oper, von Moses »möglichst langsam«, fast

297

läre Manifestationen Gottes für das menschlich faßbare Bild von Gott, nicht für die Wahrheit Gottes, zu werben."^ Das melodramatische Sprechen des Moses ist der zerbrochene Spiegel des ungehemmt fließenden Wortes, das belcantistisch aus Aron strömt. Der in Moses zum Sprechen umgebrochene Gesang zeugt, als per se fragmentierter Ausdruck, im Medium selbst vom Unzureichenden des Aussagenwollens der Wahrheit. Von der hochfahrenden Geniegeste des »So macht man Schmuck«, mit der in Die glückliche Hand der Künstler sich zum Schöpfer stilisierte, weiß der wahrheitsgemäß stammelnde Gotteskünder nichts mehr. So wenig das Ohr des Volks, an den Gesang des Kultus gewöhnt, das göttliche Wort zu vernehmen vermag, so wenig vermag der Mund Moses' es wahrhaft zu sagen. Die Wahrheit erscheint in der Welt, insofern sie eine Welt der Sprache ist, nicht als Wahrheit selbst. Das im Pathetischen wurzelnde melodramatische Sprechen ist dem verzweifelten Pathos des Nichtsagenkönnens ganz gemäß. Am Ende des dritten, von Schönberg nicht mehr vertonten Aktes klagt Moses das Denken der Sprache dafür an, daß es nicht absoluter Gedanke werden will: »O Wort, du Wort, das mir fehlt!«

ohne diastematische Bewegung, vorgetragen: »Einziger, ewiger, allgegenwärtiger unsichtbarer und unvorstellbarer Gott.« 192 Vgl. Odil Johannes Steck (1981), S . 4 3

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Resümee

Zwischen den Bühnenmelodramen der 1770er Jahre und der Aufnahme der melodramatischen Sprechstimme in die Neue Musik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts scheint eine Lücke zu klaffen, so groß, daß man kaum auf die Idee verfallen mag, sie ließe sich schließen. Geht man die Sache historisch an, so zeigt sich, daß der zeitliche Abstand naturgemäß gleich bleibt, daß aber verbindende Linien auszumachen sind, an denen entlang die Sprechkunst einerseits, die Tonkunst andererseits dorthin finden, wo sie so weitgehend ineinander verzahnt werden können, daß zuletzt die Differenz von Singen und Sprechen sich aufzulösen scheint. Um dies sichtbar machen zu können, bot sich die Wahl einer doppelten Perspektive an, denn nicht allein das Melodrama des 18. Jahrhunderts, nicht allein die dramaturgische Funktion melodramatischer Abschnitte innerhalb von Opern und innerhalb von Schauspielmusiken war zu bedenken - sondern der Zusammenhang einer spezifischen theatralen Sprechästhetik, insgesamt einer Sprechkultur, die sich im 19. Jahrhundert erst wieder auf breiter Basis entfalten und etablieren konnte, mit den wenig erschlossenen melodramatischen Formen. Wesentliche Impulse der Entwicklung rührten aus der Zeit um 1770 her, und wiederholt sind deshalb in den deklamationstheoretischen Schriften des frühen 19. Jahrhunderts Theoreme greifbar, die Rousseau, Herder oder Klopstock anregten: Die Vorstellung, daß Sprache wie Musik in einem ursprünglichen elementaren Ausdrucksimpuls ihren Ursprung haben, dessen Substrat der noch ungeformte elementare Ton ist, spielt bald mehr, bald weniger explizit eine tragende Rolle bei den Versuchen der Deklamationstheoretiker, das Konzept eines musikalischen Sprechens zu entwickeln. Gleichzeitig prägt sich in der Oper, aber auch in der Schauspielmusik etwas aus, das in diesem Buch mit dem Begriff einer kalkulierten »Stimmdramaturgie« gekennzeichnet wird: Die dramaturgischen Qualitäten zunehmend differenzierterer stimmlicher Modi werden erkannt und genutzt - das melodramatische Sprechen als prinzipielles tertium zwischen Gesang und unbegleitetem Dialog ist dabei von tragender Bedeutung. Die Sprechstimme wird rhythmisiert und früh schon versuchsweise nach ihrer Tonhöhe bestimmt, ein Experiment, dem der verbreitete Wunsch der Deklamationstheorie nach einem adäquaten Aufzeichnungssystem für die gesprochene Sprache korrespondiert. Die Elemente dieser Entwicklung, zu denen sich schließlich eine verstärkte Annäherung schauspielmusikalischer Großformen an die zum Musikdrama sich verändernde Oper fügt, konvergieren exemplarisch um die Jahrhundertwende: Humperdincks Königskinder-MxL^\\i besetzt mit dem Versuch, ein »gebundenes Melodram« als Alter299

native zum Musikdrama auf der Schauspielbühne durchzusetzen, symptomatisch die Schnitt- oder Nahtstelle von Schauspiel und Oper, von Singen und Sprechen. Der Weg dahin, so weit er sich hier nachzeichnen ließ, war freilich nicht ganz kurz und auch nicht umweglos. So versteht es sich denn von selbst, daß die relative Fülle der ausgewerteten und genannten Quellen nur einen kleinen Ausschnitt repräsentiert. Das gilt insbesondere (ausdrücklich sei es wiederholt) für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts, das hier vor dem Hintergrund eben jener doppelperspektivischen diachronen Darstellung sehr selektiv allein unter dem Aspekt konvergierender theater- und musikgeschichtlicher Entwicklungen in Betracht kam. Die melodramatische Sprechstimme erscheint in dieser Phase nicht nur in äußerst subtilen Abschattierungen, denen die als eminent antizipatorisch einzuschätzende Humperdincksche Sprechnotation gehörigen Schub auf den Weg gab, sondern auch in einer Vielzahl origineller Kompositionen. Ließ sich schon zu Schlüsselwerken der Musikgeschichte, der Themenstellung entsprechend, weniger sagen, als zu sagen wäre, so mußte ein Werk wie Schönbergs mit doppeltem Sprechchor arbeitendes Oratorium Die Jakobsleiter ebenso ausgespart bleiben wie etwa Oskar Frieds Die Auswanderer für eine >SprechtonstimmeUmsetzung< im modernen Schauspieltheater. In: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache, Tübingen und Basel 1995, S. 242-290 Ders. (Hrsg.): Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theaterund Musikwissenschaft, Tübingen 1999 Behler, Ernst: Friedrich Nietzsche (1844-1900). In: Tilman Borsche (1996), S. 291ff. Bekker, Paul: Das Operntheater, Leipzig 1931 Bellen, E. C. van: Les origines du melodrame, Utrecht 1927 Bender, Wolfgang (Hrsg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. 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